H. Dörfler, W. Eisenmenger, H.-D. Lippert, U. Wandl Medizinische Gutachten
Hans Dörfler Wolfgang Eisenmenger Hans-Die...
796 downloads
8075 Views
6MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
H. Dörfler, W. Eisenmenger, H.-D. Lippert, U. Wandl Medizinische Gutachten
Hans Dörfler Wolfgang Eisenmenger Hans-Dieter Lippert Ursula Wandl (Hrsg.)
Medizinische Gutachten Mit 52 Abbildungen
1 23
Prof. Dr. Hans Dörfler
1
Innere Medizin/Gutachten Paganinistr. 84 81247 München
2 Prof. Dr. Wolfgang Eisenmenger
3 4
Institut für Rechtsmedizin Nußbaumstr. 26 80336 München
Dr. Hans-Dieter Lippert
5
Institut für Rechtsmedizin Prittwitzstr. 6 89075 Ulm
6
PD Dr. (I) Ursula Wandl
7
Swiss Re Germany AG Dieselstraße 11 85774 Unterföhring bei München
8 9 ISBN-13
10 11
978-3-540-72351-6
Springer Medizin Verlag Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
13
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
14
Springer Medizin Verlag springer.de
12
15 16 17 18 19
© Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Projektmanagement: Ulrike Niesel, Heidelberg Copy-Editing: Michaela Mallwitz, Tairnbach Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin; rechtes Titelbild: © Monkey Business - Fotolia.com Satz: medionet Publishing Services Ltd., Berlin SPIN 11877394
20
Gedruckt auf säurefreiem Papier
22/2122/UN – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Schauen Sie als Gutachter über den Tellerrand!
Gerichte, Behörden wie auch Versicherungen sind bei der Erfüllung ihrer Aufgaben auf fachliches Wissen anderer angewiesen und müssen dabei von Sachverständigen aller Fachgebiete unterstützt werden. Auch medizinische Fragen lassen sich in vielen Fällen und vor vielen unterschiedlichen Gerichten nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen beurteilen und letztlich klären. Für den Arzt als medizinischen Sachverständigen gibt es für die Begutachtung eine Fülle von Werken, die jedoch nur entlang von Erkrankungen medizinische Fragen „abarbeiten“ oder gar Teilaspekte dafür anbieten. Wir als Herausgeber wollen mit diesem Buch bewusst einen anderen Weg einschlagen: 5 Ehemals als Loseblattwerk konzipiert, hat es – wo dies medizinisch möglich und sinnvoll erschien – die relevanten medizinischen Fragen für den Sachverständigen anhand der einzelnen Organe des Menschen dargestellt. 5 Für die Buchversion wurden alle Kapitel auf den neuesten Stand der medizinisch - wissenschaftlichen Erkenntnisse gebracht und die Struktur einem einheitlichen Schema angepasst. Damit ist sichergestellt, dass bei Rechtsstreitigkeiten jedweder Art der Gutachter dem Juristen die relevanten medizinischen Fragen beantworten kann. 5 Häufig ist es nötig, dass bei einer Begutachtung Sachverständige aus verschiedenen Disziplinen tätig werden. Auch hier wird der Leser im Buch fündig werden und Entscheidungen und Sichtweisen eines Kollegen aus einem anderen Fachgebiet nachvollziehen können. 5 Nachdem der Bereich der privaten Versicherungen zunehmend an Bedeutung gewinnt, wird auch dieser in all seinen Facetten berücksichtigt. So wurde in das Team der Herausgeber Frau Privatdozentin Dr. med. Ursula Wandl aufgenommen, die für den Sektor der privaten Versicherungen verantwortlich ist. Das Werk ist auf dem Stand vom Frühjahr 2008; dies gilt insbesondere für die Gesetzgebung. Den Nutzer des Werkes enthebt es damit nicht der Verpflichtung, den jeweiligen Stand der Gesetzgebung kritisch zu hinterfragen. An dieser Stelle möchten wir allen Autoren sehr danken, die ihre Kapitel nochmals oder sogar mehrmals überarbeitet haben, bis sie unseren Ansprüchen als Herausgebern gerecht wurden. Verlagsseitig hat Frau Ulrike Hartmann die Betreuung des Buches übernommen. Ihrer profunden Erfahrung ist es zuzuschreiben, dass die Umstellung des Werkes von einer Loseblattsammlung zum gebundenen Buch erfolgreich bewerkstelligt werden konnte. Wir wünschen dem Buch eine weite Verbreitung und wünschen allen Nutzern des Buches, dass sie auf ihre Fragen immer eine hilfreiche und zufrieden stellende Antwort erhalten mögen. Wo dies einmal nicht der Fall sein sollte, werden wir uns bemühen, entsprechende Anregungen aus dem Kreis der Leser aufzugreifen und umzusetzen. München/Ulm, im Sommer 2008 Prof. Dr. med. Hans Dörfler, München Dr. iur. Hans-Dieter Lippert, Ulm
Prof. Dr. med. Wolfgang Eisenmenger, München PD Dr. med. (I) Ursula Wandl, München
VII
Inhaltsverzeichnis I 1
Grundlagen Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-D. Lippert Grundbegriffe der Begutachtung . . . . . . . . . . . W. Eisenmenger, H.-D. Lippert, U. Wandl Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-D. Lippert, W. Eisenmenger
2 3
3
III System- bzw. nicht organbezogene Krankheiten und ihre Begutachtung
21 16 47
17 18
II Organe und die Begutachtung ihrer Krankheiten 4 5
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Bewegungsapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 A. Nigg, J. Hausdorf, S. Schewe Herz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 H. Schmitz, M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, V. Klauss , H. Gross, E. Kreuzer Periphere Gefäße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 A. Dohmen, T. Layher Respirationstrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 X. Baur, R. Huber Leber – Gallenwege – Pankreas . . . . . . . . . . . . 249 G. Jäger, R. Zachoval Gastrointestinaltrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 W. Zoller, T. Heubach Haut und Hautanhangsgebilde . . . . . . . . . . . . 287 P. Schulze Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 C.J.G. Lang, H. Stefan Sinnesorgane. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 B. Lachenmayr, K.-F. Hamann Endokrine Organe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 B. Böhm Nierenkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 U. Winkler, F. Keller Weibliche Geschlechtsorgane . . . . . . . . . . . . . 433 H.L. Sommer
19
20
Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . H. Dörfler, M. Haslbeck Hypertonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Bönner Psychiatrische Begutachtung . . . . . . . C. Stadtland, N. Nedopil Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen . C. Clemm, D. Pouget-Schors, U. Wandl
. . . . . . 459 . . . . . . 475 . . . . . . 487
. . . . . . 521
Anhang: Auszüge aus der Fahrerlaubnisverordnung . . . . . . . . . . . . . . . 537
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541
IX
Autorenverzeichnis Baur, Xaver, Prof. Dr.
Jäger, Gundula, Dr.
Ordinariat für Arbeitsmedizin, Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin Seewartenstr. 10, 20459 Hamburg
Max-von-Pettenkofer-Institut für Hygiene und medizinische Mikrobiologie, Lehrstuhl Virologie der Universität München Pettenkoferstr. 9a, 80336 München
Böhm, Bernhard, Prof. Dr. Zentrum für Innere Medizin, Klinik Innere Medizin I, Schwerpunkt Endokrinologie, Universitätsklinik Ulm Robert-Koch-Str. 8, 89070 Ulm
Keller, Frieder, Prof. Dr. Medizinische Klinik, Nephrologie, Universitätsklinikum Ulm Robert-Koch-Str. 8, 89070 Ulm
Bönner, Gerd, Prof. Dr. Klinik Lazariterhof/Klinik Baden, MEDIAN Kliniken Bad Krozingen Herbert-Hellmann-Allee 44, 79189 Bad Krozingen
Klauss, Volker, Prof. Dr. Med. Poliklinik Innenstadt – Kardiologie, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Ziemssenstr. 1, 80336 München
Clemm, Christoph, Prof. Dr. Onkologische Praxis Ismaninger Straße 22, 81675 München
Dohmen, Arndt, Dr.
Kreuzer, Eckhart, Prof. Dr. Herzchirurgische Klinik, Klinikum Großhadern, Universität München Marchioninistr. 15, 81377 München
Hochrhein-Eggbergklinik, Fachklinik für Angiologie und Diabetologie Bergseestraße 57, 79713 Bad Säckingen
Lachenmayr, Bernhard, Prof. Dr. Dr.
Dörfler, Hans, Prof. Dr.
Lang, Christoph J. G., Prof. Dr.
Innere Medizin/Gutachten Paganinistr. 84, 81247 München
Neurologische Universitätsklinik – Poliklinik – Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen
Eisenmenger, Wolfgang, Prof. Dr.
Layher, Trudbert, Dr.
Institut für Rechtsmedizin Nußbaumstr. 26, 80336 München
Abteilung Innere Medizin, Krankenhaus Bad Säckingen, Hegau-Bodensee-Hochrhein-Kliniken GmbH Postfach 13 35, 79713 Bad Säckingen
Neuhauserstr. 23, 80331 München
Gross, Hagen, Dr. Med. Poliklinik Innenstadt – Kardiologie, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Ziemssenstr. 1, 80336 München
Lippert, Hans-Dieter, Dr.
Hamann, Karl-Friedrich, Prof. Dr.
Nedopil, Norbert, Prof. Dr.
HNO-Klinik am Klinikum Rechts der Isar, Technische Universität München Ismaninger Str. 22, 81675 München
Abteilung für forensische Psychiatrie, Psychiatrische Klinik, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Nussbaumstr. 7, 80336 München
Institut für Rechtsmedizin Prittwitzstr. 6, 89075 Ulm
Haslbeck, Manfred, Prof. Dr. Forschergruppe Diabetes e. V. am Helmholtz-Zentrum München Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Oberschleißheim und Internistische Praxisgemeinschaft, Humboldtstr. 27, 81543 München
Nöhrer, Conny, Dr. Radiologische Praxis Dr. Ute Lellig Kolbermoorerstr. 72, 83042 Bad Aibling
Nigg, Axel, Dr. Huber, Rudolf, Prof. Dr. Medizinische Klinik Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Ziemssenstr. 1, 80336 München
Rheuma-Einheit, Medizinische Poliklinik, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Pettenkoferstr. 8a, 80336 München
Pouget-Schors, Doris, Dr. Hausdorf, Jörg, Dr. Orthopädische Klinik und Poliklinik, Campus Großhadern, Klinikum der Universität München Marchioninistr. 15, 81377 München
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sektion Psychoonkologie, Technische Universität München Langerstraße 3, 81675 München
Reinitzhuber, Marion, Dr. Heubach, Tobias, Dr. Zentrum für Innere Medizin, Katharinenhospital Kriegsbergstr. 60, 70174 Stuttgart
Nordsee Reha-Klinik II Wohldweg 7, 25826 St. Peter-Ording
X
Autorenverzeichnis
Schewe, Stefan, Prof. Dr.
1 2
Rheuma-Einheit, Medizinische Poliklinik, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Pettenkoferstr. 8a, 80336 München
Schmitz, Helmut, Prof. Dr.
3
Bayerwaldklinik, Fachklinik für Innere Medizin Klinikstr. 22, 93413 Cham/Windischbergerdorf
Schulze, Peter, PD Dr.
4 5 6
Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Charité Universitätsmedizin Berlin Charitéplatz 1, 10117 Berlin
Sommer, Harald L., Prof. Dr. Gynäkologische Onkologie, I. Universitäts-Frauenklinik, Ludwig-Maximilans-Universität München Maistr. 11, 80337 München
Stadtland, Cornelis, PD Dr.
7 8
Abteilung für forensische Psychiatrie, Psychiatrische Klinik, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München Nussbaumstr. 7, 80336 München
Stefan, Hermann, Prof. Dr. Neurologische Universitätsklinik – Poliklinik Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen
9 10
Wandl, Ursula, PD Dr. (I) Swiss Re Germany AG Dieselstraße 11, 85774 Unterföhring bei München
Winkler, Ulrike, Dr.
11
Medizinische Klinik, Nephrologie, Universitätsklinikum Ulm Robert-Koch-Str. 8, 89070 Ulm
12
Zachoval, Reinhard, Prof. Dr. Medizinische Klinik 2, Klinikum der Universität München-Großhadern Marchioninistr. 15, 81377 München
13
Zoller, Wolfram, Prof. Dr.
14
Zentrum für Innere Medizin, Katharinenhospital Kriegsbergstr. 60, 70174 Stuttgart
15 16 17 18 19 20
XI
Abkürzungsverzeichnis ABI ACG ACR ACS ADA ADL aG AGO AHA AHI AHP AI AIS AK ANA ANCA AO APS ARAS ArbGG ARDS ARVC ASH ASR AUB AV bzw. av BAG BAG AP
BAGE BAL BASDAI BASFI BAT BBG BdL BERA BES bG
»ankle-brachial-index« (Knöchel-Arm-Index) Akromyoklavikulargelenk American College of Radiology akutes Koronarsyndrom American Diabetes Association »activities of daily living« (Alltagsaktivitäten) außergewöhnliche Gehbehinderung Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie American Heart Association Apnoe-Hypopnoe-Index Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit Aorteninsuffizienz Abbreviated Injury Scale Antikörper antinukleäre Antikörper antineutrophile zytoplasmatische Antikörper Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen Antiphospholipidsyndrom aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem Arbeitsgerichtsgesetz »acute respiratory distress syndrome« arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie alkoholische Steatohepatitis Achillessehenreflex Allgemeine Unfallversicherungs-Bedingungen arteriovenös Bundesarbeitsgericht Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts (Gesetzesstelle und Entscheidungsnummer) Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bronchoalveoläre Lavage Bath Ankylosing Spondylitis Disease Activity Index Bath Ankylosing Spondylitis Functional Index Bundesangestelltentarifvertrag Bundesbeamtengesetz Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit brain stem evoked response audiometry (Hirnstammaudiometrie) binokulares Einfachsehfeld beidäugige Gesamtsehschärfe
BG BGAT BGB BGBl BGH BGHSt BGHZ BK BKS BKV BMI BNTV BOOP BPPV BRRG BSG
BSGE BSS
BtMG BU BUZ BV BVerfG BVerfGE BVerwG BVG CDLE CED CFS CIDP CIN CML CMV COPD CPAP CR
Berufsgenossenschaft »blood glucose awareness training« (Blutglukosewahrnehmungstraining) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen in Strafsachen des Bundesgerichtshofs Entscheidungen in Zivilsachen des Bundesgerichtshofs Berufskrankheit Blutkörperchensenkung Berufskrankheitenverordnung Body-Mass-Index Bundesnebentätigkeitsverordnung Bronchiolitis obliterans mit organisierender Pneumonie »benign paroxysmal positioning vertigo« (gutartiger Lagerungsschwindel) Beamtenrechtsrahmengesetz Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit bzw. Bundessozialgericht (je nach Zusammenhang) Entscheidungen des Bundessozialgerichts Beeinträchtigungsschwere-Score von Schepank; Instrument zur Beurteilung neurotischer Störungen Betäubungsmittelgesetz Berufsunfähigkeit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung Berufsunfähigkeitsversicherung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Bundesversorgungsgesetz chronisch-diskoider Lupus erythematodes chronisch entzündliche Darmerkrankung »chronic fatigue syndrome« chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie noninvasive Neoplasie chronisch-myeloische Leukämie Zytomegalievirus »chronic obstructive pulmonary disease« (chronische obstruktive Lungenerkrankung) »continuous positive airway pressure« (kontinuierlicher Atemwegsüberdruck) komplette Remission
XII
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Abkürzungsverzeichnis
CRESTSyndrom Calcinosis cutus/Raynaud-Syndrom/Ösophagusbeteiligungs/Sklerodaktylie/Teleangiektasien CRH Corticotropin-releasing-Hormon CRP C-reaktives Protein CRPS »complex regional pain syndrome« (früher Morbus Sudeck) Computertomographie CT CTS Karpaltunnelsyndrom CU Colitis ulcerosa CVI chronisch venöse Insuffizienz DAI »diffuse axonal injury« (diffuse axonale Hirnschädigung) DDG Deutsche Diabetes-Gesellschaft DGK Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung e. V. DGN Deutsche Gesellschaft für Neurologie DGRh Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie DIPGelenk distales Interphalangealgelenk DPOAE Distorsionsprodukt otoakustischer Emissionen DSA digitale Subtraktionsangiographie DSM IV-TR The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4th edn.; Text Revision) EBV Epstein-Barr-Virus EEG Elektroenzephalographie EF Ejektionsfraktion EMG Elektromyographie ENG Elektroneurographie bzw. Elektronystagmographie (je nach Zusammenhang) EP evozierte Potenziale ERD erosive Refluxkrankheit EU erwerbsunfähig bzw. EU = Europäische Union (je nach Zusammenhang) EuGH Europäischer Gerichtshof FAEP frühe akustisch evozierte Potenziale FamRZ »Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht« (juristische Fachzeitschrift) FEV1 1-Sekunden-Kapazität FGG Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit FKDS farbkodierte Duplexsonographie FNP Feinnadelpunktion FRC funktionelle Residualkapazität FSME Frühsommermeningoenzephalitis GB gehbehindert GBS Guillain-Barré-Syndrom GCS Glasgow Coma Scale GdB Grad der Behinderung GDM Gestationsdiabetes
GDS GERD GewO GFR GG GKV GN GoA GOÄ GOS GRH GRUR
Global Deterioration Scale gastroösophageale Refluxkrankheit Gewerbeordnung glomeruläre Filtrationsrate Grundgesetz gesetzliche Krankenversicherung Glomerulonephritiden Geschäftsführung ohne Auftrag Gebührenordnung für Ärzte Glasgow Outcome Scale Gonadotropin-releasing-Hormon »Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht« (juristische Fachzeitschrift) GUV gesetzliche Unfallversicherung GVG Gerichtsverfassungsgesetz GvH Graft-vs.-host-Reaktion HAI histologischer Aktivitätsindex HandwO Handwerksordnung HAQ Health Assessment Questionnaire HAV Hepatitis-A-Virus HBV Hepatitis-B-Virus HCC hepatozelluläres Karzinom HCV Hepatitis-C-Virus HDV Hepatitis-D-Virus HE hepatische Enzephalopathie HEV Hepatitis-E-Virus HGB Handelsgesetzbuch HHL Hypophysenhinterlappen HI Hirninfarkt HITS »high intensity transient signal« HMSN hereditäre motorisch-sensible Neuropathie HNPCC »hereditary non-polyposis colon cancer« HNPP hereditary neuropathy with liability to pressure palsies HNTVO Hochschulnebentätigkeitsverordnung HP Helicobacter pylori HPT Hyperparathyreoidismus HPV humanes Papillomavirus HRT Hormonersatztherapie HSV Herpes-simplex-Virus HVL Hypophysenvorderlappen HVT Hirnvenenthrombose HWS Halswirbelsäule HZV Herzzeitvolumen i.a. intraarteriell ICD International Statistical Classification of Diseases (derzeit gültige Version: ICD-10) bzw. implantierbarer Kardioverter/Defibrillator (je nach Zusammenhang) ICF International Classification of Functioning, Disability and Health IDDM insulinabhängiger Diabetes IDF International Diabetes Federatio IEI »idiopathic environmental intolerance« IEN intraepitheliale Neoplasie
XIII Abkürzungsverzeichnis
IFG IFN IfSG IG Ig IGT INH IQ IUD IZB JRA JÜR JVEG KHK LA
LADA
LBG bw LE LG LH LNTVO LPR LV LVAD LVED LVEDD LVEDP LVOT MAK MALT
MC MCPGelenk MCS MCTD MdE MdG MDK MDR MedR MEN MI MK
»impaired fasting glucose« (abnorme Nüchternglukose) Interferon Infektionsschutzgesetz Invaliditätsgrad Immunglobulin »impaired glucose tolerance« (abnorme Glukosetoleranz) Isoniazid (Isonicotinsäurehydrazid) Intelligenzquotient Intrauterinspirale intrazerebrale Blutung juvenile rheumatoide Arthrtis (5-)Jahres-Überlebensrate Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz koronare Herzkrankheit linkes Atrium bzw. Lupusantikoagulans (je nach Zusammenhang) »latent autoimmune diabetes with onset in adults« (spät auftretende und milde Form eines Typ-1-Diabetes im Erwachsenenalter) Landesbeamtengesetz Baden-Württemberg Lupus erythematodes Landgericht Lutinisierendes Hormon Landesnebentätigkeitsverordnung laryngopharyngialer Reflux linksventrikulär »left ventricular assist device« linksventrikulärer Druck linksventrikulärer enddiastolischer Durchmesser linksventrikulärer enddiastolischer Druck »left ventricular outflow tract« maximale Arbeitsplatzkonzentration Münchner Alkoholismustest bzw. »muscosa associated lymphoid tissue« (je nach Zusammenhang) Morbus Crohn Metakarpalgelenk »multiple chemical sensitivity« »mixed connective tissue disease« Minderung der Erwerbsfähigkeit Minderung der Gebrauchsfähigkeit (eines oder beider Augen) Medizinischer Dienst der Krankenkassen Monatschrift für Deutsches Recht (juristische Fachzeitschrift) Medizinrecht (juristische Fachzeitschrift) multiple endokrine Neoplasie Mitralinsuffizienz Mammakarzinom
MRT MUP NAIRS NASH NC NCEP NERD NHL NIDDM NJW NLG NNR NSAID NSIP NYHA NZS ODTS OEG OEP OGTT OLG OMF OSA OSG p PAPm pAVK PBC PCOS PCP PCR PCWP PD PEF PEG PEI PET PflRi PFO pHPT PID PIPGelenk PKV PM PMR PND
Magnetresonanztomographie »motor unit potential« National Athletic Injury Recording System nichtalkoholische Steatohepatitis »no change« (unveränderter Befund) National Cholesterol Education Program nichterosive Refluxkrankheit Non-Hodgkin-Lymphom nichtinsulinabhängiger Diabetes Neue Juristische Wochenschrift (jur. Fachzeitschrift) Nervenleitgeschwindigkeit Nebennierenrinde »non-steroidal anti-inflammatory drugs« (nichtsteroidale Antiphlogistika) unspezifische interstitielle Pneumonie New York Heart Association Neue Zeitschrift für Sozialrecht (juristische Fachzeitschrift) »organic dust toxic syndrome« Opferentschädigungsgesetz olfaktorisch evozierter Potenziale oraler Glukosetoleranztest Oberlandesgericht Osteomyelofibrose obstruktive Schlafapnoe oberes Sprunggelenk Druck Pulmonalarterienmitteldruck periphere arterielle Verschlusskrankheit primäre biliäre Zirrhose polyzystisches Ovarialsyndrom »pulmonary capilarry pressure« (pulmonaler Kapillardruck) »polymerase chain reaction« (Polymerasekettenreaktion) pulmonal-kapillärer Verschlussdruck »progressive disease« (Fortschreiten der Krankheit) Peak Exspiratory Flow (Lungenfunktion) perkutane Gastroenterostomie perkutane Alkoholinjektion Positronenemissions-Computertomographie Pflegebedürftigkeitsrichtlinien persistierendes Foramen ovale primärer Hyperparathyreoidismus »pelvic inflammatory disease« proximales Interphalangealgelenk(Fingermittelgelenk) private Krankenversicherung Punctum maximum Polymyalgia rheumatica »post nasal drip«
XIV
1 2 3 4
Abkürzungsverzeichnis
PNP PolG bw PR PRA PRIND PRL PSA PSC PTA
5
PTBS PTCA
6
PTSD
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
PUV RA RADS RAP RDI RF RFA RG RGZ RIND RH RM RPGN rt-PA Rz. sA SAB SAE SBS SchwBG SDA SEP SGB SGG sHPT SHT SIRT SISI-Test SLE SPECT SSR STD STEMI
Polyneuropathie Polizeigesetz für Baden-Württemberg partielle Remission Plasma-Renin-Aktivität prolongiertes reversibles ischämisches neurologisches Defizit Prolaktin prostataspezifisches Antigen primär sklerosierende Cholangitis perkutane transluminale Angioplastie bzw. posttraumatische Amnesie (je nach Zusammenhang) posttraumatische Belastungsstörung perkutane transluminale Koronarangioplastie »posttraumatic stress disorder« (posttraumatische Belastungsstörung) private Unfallversicherung rheumatoide Arthritis »reactive airways dysfunction syndrome« Reizantwortpotenzial Respiratory-disturbance-Index Rollstuhlfahrer bzw. Rheumafaktor (je nach Zusammenhang) Radiofrequenzablation Reichsgericht Reichsgericht in Zivilsachen (Entscheidungssammlung) reversibles ischämisches Defizit Releasinghormon Rotatorenmanschette rapid progressive Glomerulonephritis »recombinant tissue plasmonigen activator« Randziffer Sehschärfe des schlechteren Auges Subarachnoidalblutung arteriosklerotische Enzephalopathie »sick building syndrome« Schwerbehindertengesetz simultane Doppelbildaufzeichnung sensibel evozierte Potenziale Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz sekundärer Hyperparathyreoidismus Schädel-Hirn-Trauma selektive interne Radiotherapie »short increment sensivity index« systemischer Lupus erythematodes Single-Photonenemissions-Computertomographie sympathische Hautantwort »sexually transmitted disease« (sexuell übertragbare Krankheit) »ST-elevated myocardial infarction« (ST-Hebungsinfarkt)
StGB StPO StVO SUS SVG SVT TACE TEA TEOAE
Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Straßenverkehrsordnung Sulcus-ulnaris-Syndrom Soldatenversorgungsgesetz Sinusvenenthrombose transarterielle Chemoembolisation Thrombendarteriektomie transitorische evozierte otoakustische Emissionen TEP Totalendoprothese TGA transitorische globale Amnesie TIA transitorische ischämische Attacke TNF Tumornekrosefaktor TRH Thyrotropin-releasing-Hormon TVöD Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (hat BAT abgelöst) TVT tiefe Venenthrombose bzw. »tension-free vaginal tape« (je nach Zusammenhang) UICC International Union against Cancer (früher Union Internationale contre le Cancer) UIP »usual interstitial pneumonia« UÖS unterer Ösophagussphinkter UrhG Urheberrechtsgesetz VC Vitalkapazität VCD »vocal cord dysfunction« VECP visuell evozierte kortikale Potenziale VEMP vestibulär evozierte myogene Potenziale VEP visuell evozierte Potenziale VersR Versicherungsrecht (juristische Fachzeitschrift) VIN vulväre intraepitheliale Neoplasie VT ventrikuläre Tachykardie VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVerfG Verwaltungsverfahrensgesetz ZDG Zivildienstgesetz ZPO Zivilprozessordnung
1
Grundlagen 1
Rechtliche Grundlagen H.-D. Lippert
–3
2
Grundbegriffe der Begutachtung – 21 W. Eisenmenger, H.-D. Lippert, U. Wandl
3
Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen H.-D. Lippert, W. Eisenmenger
– 47
1I
3
Rechtliche Grundlagen H.-D. Lippert
1.1
Gutachten, Befundbericht, Attest – Definition – 4
1.1.1 1.1.2 1.1.3
Gutachten – 4 Befundbericht – 4 Attest – 4
1.2
Sachverständiger, sachverständiger Zeuge
–5
1.3
Der Kreis der Sachverständigen
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
Öffentlich bestellte Sachverständige – 5 Öffentlich bestellten Sachverständigen gleichzustellende Personen – 6 Sachverständige mit hoheitlichen Prüfungsaufgaben – 6 Freie Sachverständige – 6 Angehörige des öffentlichen Dienstes als gerichtliche Sachverständige – 6
–5
1.4
Der Sachverständige und sein Gutachten
1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.8 1.4.9 1.4.10
Gerichtsgutachten, Verwaltungsgutachten, Privatgutachten – 10 Der Sachverständige – 10 Stellung des Sachverständigen zu Gericht, Prozessbeteiligten und Verwaltungsbehörde – 12 Anleitung des Sachverständigen durch das Gericht – 13 Qualifikation des Sachverständigen – 14 Sanktionen gegen den Sachverständigen – 14 Ablehnung des Sachverständigen – 14 Verantwortlichkeit des Sachverständigen – 15 Probleme der Schweigepflicht und des Datenschutzes – 16 Verwertung des Gutachtens – 17
1.5
Mitwirkung des zu Begutachtenden
1.5.1 1.5.2
Untersuchung mit Einwilligung – 17 Ärztliche Untersuchung ohne Einwilligung
Literatur
– 18
– 10
– 17 – 17
1
4
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
))
1
In diesem Kapitel werden die rechtlichen Grundlagen für die Tätigkeit des Sachverständigen (wie er in den Prozessordnungen genannt wird) dargelegt und die einschlägigen Begriffe erläutert. Die Rechte und Pflichten des Sachverständigen im Verhältnis zu Gericht und den Prozessbeteiligten werden besprochen.
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
kenhausärzte in Krankenhäusern öffentlicher Träger im Geltungsbereich des BAT.
1.1
Gutachten, Befundbericht, Attest – Definition
1.1.1 Gutachten
Das ärztliche Gutachten lässt sich definieren als die Anwendung medizinischer Erkenntnisse und Erfahrungen auf einen Einzelfall im Hinblick auf eine (oft aus rechtlichen Gründen notwendige) Fragestellung, wobei der Arzt aus Tatsachen oder Zuständen, die er selbst oder ein anderer wahrgenommen hat, mit Hilfe seiner Sachkunde Schlüsse zieht. Wesensmerkmal des Gutachtens ist, dass es eine wissenschaftliche Schlussfolgerung enthält. Dies unterscheidet es vom Befundbericht und vom Attest. Jedoch gilt nicht für alle relevanten Rechtsgebiete ein einheitlicher Gutachtenbegriff, sosehr dies erstaunen mag. So geht etwa das ärztliche Gebührenrecht von einem engeren Gutachtenbegriff aus, wenn es bei der Honorierung von Gutachten nach Schwierigkeit und Arbeitsaufwand differenzieren muss. Ein Befundbericht mit kritischer Stellungnahme nach Ziffer 15 GOÄ erfüllt demnach nicht die gebührenrechtliche Voraussetzung eines Gutachtens nach den Ziffern 20 ff. GOÄ. Von zentraler Bedeutung ist der Gutachtenbegriff indessen für das Nebentätigkeitsrecht der beamteten Hochschullehrer (Professoren), der sonstigen Beamten und der Angestellten. Bei beamteten Hochschullehrern (Professoren) ist die mit Forschung und Lehre zusammenhängende Gutachtertätigkeit zwar nicht genehmigungspflichtig; wird sie jedoch entgeltlich durchgeführt, so ist sie unter Angabe des Umfangs vor Aufnahme anzuzeigen. Werden zur Gutachtenerstattung Personal, Räume und Sachmittel des Dienstherrn in Anspruch genommen, so richtet sich das Genehmigungsverfahren nach den Vorschriften über die Nebentätigkeit. Für die Inanspruchnahme ist ein Nutzungsentgelt zu entrichten. Der Dienstherr kann von seinen beamteten Hochschullehrern (Professoren), Beamten und Angestellten die Erstattung von Gutachten für dienstliche Zwecke im Rahmen der Dienstaufgaben fordern. Diese Vorschriften gelten für Leitende Krankenhausärzte, die Beamte oder beamtete Hochschullehrer (Professoren) sind, wie auch für nachgeordnete beamtete Krankenhausärzte. Über § 11 BAT = § 3 Abs. 3 TVöD gelten diese Vorschriften auch für angestellte Kran-
Kommentar Das Bundesarbeitsgericht qualifiziert die Leichenschau wie auch die Dokumentation im Rahmen der Blutentnahme zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration als Befundberichte, auf die Nr. 5 SR 2c BAT = § 42 TVöD BT nicht anwendbar seien. Somit haben Krankenhausärzte diese Papiere im Rahmen der Dienstaufgaben auszustellen, ohne dass sie hierfür liquidieren dürfen. Für den Fall der Durchführung der Leichenschau durch den Krankenhausarzt im Notarztdienst erscheint diese Auffassung zweifelhaft.
1.1.2 Befundbericht
Vom Gutachten unterscheidet sich der Befundbericht dadurch, dass er Sachverhalte oder Tatsachen mit technischen Mitteln, aufgrund von Laboratoriumsuntersuchungen nach geläufigen Methoden oder von Besichtigungen feststellt, die üblicherweise Angestellten im Laboratoriumsdienst obliegen. Sobald wissenschaftliche Schlussfolgerungen oder diagnostische Beurteilungen erforderlich sind, handelt es sich im Rechtssinn um ein Gutachten (Rieger Rz. 733).
1.1.3 Attest
Das ärztliche Attest ist eine schriftliche Bescheinigung ärztlichen Inhalts. Ein ärztliches Attest liegt vor, wenn das Ergebnis einer ärztlichen Feststellung oder Untersuchung schriftlich niedergelegt ist, gleichgültig, ob es sich um die Untersuchung eines einzelnen Organs, die zusammenfassende ärztliche Beurteilung mehrerer Untersuchungsergebnisse oder um die Gesamtbewertung eines Krankheitsbildes handelt Der Unterschied zum Gutachten besteht darin, dass das Attest eine auf der ärztlichen Fachkunde beruhende Aussage über einen tatsächlichen Zustand darstellt, während im Gutachten darüber hinaus auf der Grundlage tatsächlicher Feststellungen wissenschaftliche Schlussfolgerungen gezogen werden (Rieger Rz. 245). > Seiner Rechtsnatur nach ist das ärztliche Attest eine Privaturkunde im Sinne von § 416 ZPO und ein Gesundheitszeugnis im Sinne von § 278 StGB.
Ärztliche Atteste sind z. B. Bescheinigungen über die Arbeitsunfähigkeit, über krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit, Bescheinigungen zur Befreiung vom schulischen
5 1.3 Der Kreis der Sachverständigen
Sportunterricht, Diätbescheinigungen für das Finanzamt, Bescheinigungen für Führerscheinbewerber und Todesbescheinigungen. Für vorsätzlich unrichtig erstellte Atteste (Gefälligkeitsatteste) ist der Arzt nach § 278 StGB verantwortlich. Entsteht durch das ärztliche Attest Schaden, so ist der Arzt dem Patienten und/oder Dritten gegenüber zivilrechtlich zu dessen Ersatz verpflichtet, sei es aus dem Arztvertrag, sei es aus unerlaubter Handlung. Bei Vertragsärzten kann die Ausstellung unrichtiger Atteste überdies zu berufsrechtlichen Maßnahmen führen.
1.2
Sachverständiger, sachverständiger Zeuge
Sachverständiger. Der Sachverständige vermittelt Kennt-
nisse, die seinem Auftraggeber fehlen, die dieser aber zu seiner Entscheidungsfindung benötigt. Insoweit teilt er seinem Auftraggeber – einem Gericht, einer Behörde, Berufsgenossenschaft, Versicherung etc. – Erfahrungssätze mit oder stellt mittels seiner Sachkunde Tatsachen fest oder bewertet bestimmte Tatsachen mit Hilfe der Erfahrungssätze seines Wissensgebietes. Der Sachverständige ist insoweit nicht Herr des Geschehens, sondern Gehilfe seines Auftraggebers, insbesondere des Gerichts. Demzufolge hat er nicht das Gesamtergebnis der Beweisaufnahme vor Gericht zu würdigen, sondern sich auf die Bewertung der Umstände zu beschränken, auf die sich sein Fachwissen bezieht. Nicht er entscheidet, sondern das Gericht mit seiner Hilfe. Zeuge. Vom Sachverständigen zu unterscheiden ist der Zeuge, der kein Gutachten erstattet, sondern Erlebtes berichtet. Er war bei dem entscheidenden Vorgang anwesend, wurde nicht erst nachträglich damit befasst. Sachverständiger Zeuge. Zeuge bleibt auch der Arzt, der seine Wahrnehmung nur aufgrund seiner besonderen Sachkunde machen konnte. Er ist sachverständiger Zeuge und kann als solcher exakter und detaillierter das Wahrgenommene berichten als ein anderer Zeuge. Ärzte kommen als sachverständige Zeugen in Betracht, um etwa über einen intraoperativen Fehler, der einem Kollegen unterlaufen ist, oder über den Inhalt eines Aufklärungsgespräches auszusagen. Bei einer Klage gegen den Krankenhausträger kann auch der Arzt, um dessen Fehlverhalten es sich handelt, als Zeuge benannt werden. > Ärzte dürfen aber nur als Zeuge vor Gericht aussagen, wenn der Patient sie von der Schweigepflicht entbunden hat.
Die Unterscheidung zwischen einem Sachverständigen und einem sachverständigen Zeugen ist nicht nur tatsächlich von Bedeutung, insoweit unterschiedliche Anforde-
rungen an den Arzt gestellt werden, sondern auch rechtlich. 5 Der Sachverständige kann unter gewissen Umständen sowohl die Erstattung des Gutachtens ablehnen als auch als Gutachter abgelehnt werden. 5 Ein Zeuge hingegen kann weder abgelehnt werden noch seinerseits ablehnen. 5 Auch fallen die Entschädigungen vor Gericht unterschiedlich aus. Es besteht daher Veranlassung für den Hinweis, dass der Arzt vor Gericht seine Stellung vorab genau feststellen lässt, damit es nach dem Auftritt zu keinem peinlichen Gezerre über die Entschädigung kommt. 5 Auch die Vorschriften über die Vereidigung weichen voneinander ab. Zudem steht dem Zeugen ggf. ein Zeugnisverweigerungsrecht zu, dem Sachverständigen im konkreten Fall dagegen nicht.
1.3
Der Kreis der Sachverständigen
Grundsätzlich zu differenzieren ist zwischen den Sachverständigen im gerichtlichen Verfahren und denjenigen im Verwaltungsverfahren. In beiden Verfahren können natürliche Personen im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches mit entsprechender Sachkunde als Sachverständige in Betracht kommen. Im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren, bei dem darüber hinaus nur Behörden und sonstige öffentliche Stellen für die Erstattung von Gutachten in Betracht kommen, können im Verwaltungsverfahren auch private Organisationen Gutachten erstellen. Der Kreis der natürlichen Personen, die Sachverständiger sein können, umfasst zum einen die öffentlich bestellten Sachverständigen sowie diesen gleichzustellende Personen, zum anderen Sachverständige mit hoheitlichen Aufgaben und freie Sachverständige (Jessnitzer, Ulrich Rz. 31).
1.3.1 Öffentlich bestellte Sachverständige
Dies sind Personen, die aufgrund gesetzlicher Vorschriften durch Verwaltungsakt der dafür zuständigen Behörde für bestimmte Sachgebiete ausdrücklich zum Sachverständigen »öffentlich bestellt« worden sind. Hierzu gehören im einzelnen: 5 Die nach § 36 Abs. 1 GewO öffentlich bestellten Sachverständigen. Sie werden durch die von den Ländern festgelegten Stellen für bestimmte Sachgebiete öffentlich bestellt und vereidigt. Mit Ausnahme Bremens ist die Industrie- und Handelskammer die zuständige Stelle für Bestellung und Vereidigung. 5 Die nach § 91 Abs. 1 Nr. 8 HandwO von den Handwerkskammern öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen zur Erstattung von Gutachten
1
6
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
über die Güte der von Handwerkern gelieferten Waren oder bewirkten Leistungen und über die Angemessenheit der Preise dafür. Sie müssen nicht Handwerker sein. Der öffentlich bestellte Sachverständige hat über die allgemeinen, alle Sachverständigen treffenden Pflichten hinaus weitere Pflichten, die sich aus seiner gesetzlichen Sonderstellung ergeben (Jessnitzer, Ulrich Rz. 42). Rechtsgrundlage ist neben den gesetzlichen Vorschriften die Sachverständigenordnung der jeweiligen Kammer. Neben den Pflichten zur Unparteilichkeit, zur Übernahme der gerichtlichen Aufträge, zur gewissenhaften und persönlichen Gutachtenerstattung sowie der Pflicht zur Verschwiegenheit enthalten die einzelnen Ordnungen zusätzliche Pflichten: die Pflicht, Aufzeichnungen zu führen, sich fortzubilden, die Residenzpflicht, die Anzeige- und Auskunftspflicht gegenüber der Kammer sowie das aus anderen Berufsgruppen (z. B. Ärzte, Rechtsanwälte etc.) bekannte obligatorische Verbot unangemessener Werbung.
8 1.3.2 Öffentlich bestellten Sachverständigen
9 10
gleichzustellende Personen Es sind dies einmal die Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer, öffentliche bestellte Vermessungsingenieure sowie die bayerischen Landgerichtsärzte.
11 1.3.3 Sachverständige mit hoheitlichen
12 13 14 15 16
Prüfungsaufgaben Diesem Kreis unterfallen insbesondere die amtlichen oder amtlich anerkannten Sachverständigen zur Prüfung überwachungsbedürftiger Anlagen, die durch die technischen Überwachungsvereine und ähnliche Organisationen gestellt werden, sowie die amtlich anerkannten Sachverständigen für den Kraftfahrzeugverkehr.
1.3.4 Freie Sachverständige
17
Unter diese Gruppe fallen alle Sachverständigen, die vorstehend nicht genannt werden; einerlei, ob sie freiberuflich oder in abhängiger Stellung als Sachverständige tätig sind.
18
1.3.5 Angehörige des öffentlichen Dienstes als
gerichtliche Sachverständige
19 20
Im medizinischen Bereich gehört die überwiegende Zahl der Sachverständigen in ihrer Eigenschaft als Chefärzte oder Professoren der Medizin dem öffentlichen Dienst
an. Auf sie sind die Vorschriften des BBG, der Landesbeamtengesetze sowie der BAT (jetzt: TVöD) anzuwenden. Diese Sachverständigen müssen sich grundsätzlich dafür entscheiden, ob sie als Sachverständige im Rahmen ihrer Dienstaufgaben tätig werden wollen oder in Nebentätigkeit.
Dienstaufgaben Erstattet ein Beamter (oder Angestellter) Gutachten im Rahmen seiner Dienstaufgaben, so hat er zu prüfen, ob er durch die Erfüllung des Gutachtenauftrages seine Pflichten zur Amtsverschwiegenheit verletzt. Gutachten darf er auch nur erstatten, soweit dies nicht dienstlichen Interessen zuwiderläuft. In diesen Fällen kann der Dienstherr nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderliche Genehmigung versagen (§§ 40 BeamtStG, 62 BBG, 80 LBG bw, 11 BAT = § 3 Abs. 3 TVöD). Dies gilt insbesondere dann, wenn durch die Gutachtenerstattung Interessenskonflikte mit den Dienstaufgaben entstehen können (Günther, ZBR 1989, 164), oder wenn der Beamte/Angestellte zeitlich überbelastet wird. Sind Interessen oder Belange des Dienstherrn nicht verletzt, dann hat der Beamte/Angestellte einen Rechtsanspruch auf die Genehmigung. Ergeben sich nach der Genehmigung Gründe, die zu einer Versagung der Genehmigung führen müssen, so ist die Genehmigung zu widerrufen oder einzuschränken, wenn dies zur Beseitigung der Gründe führt. Gegen die Versagung kann der Beamte den Rechtsweg beschreiten (Jessnitzer, Ulrich Rz. 65 ff.).
Nebentätigkeit Begriffsbestimmung Nebentätigkeit ist der Oberbegriff für eine Tätigkeit im Nebenamt und für eine Nebenbeschäftigung innerhalb oder außerhalb des öffentlichen Dienstes. Werden Aufgaben, die nicht zum Hauptamt gehören, aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnisses wahrgenommen, liegt ein Nebenamt vor. Nebenbeschäftigung ist jede sonstige, nicht zu einem Hauptamt gehörende Tätigkeit innerhalb oder außerhalb des öffentlichen Dienstes. Die Abgrenzung von Haupt-, Nebenamt und Nebenbeschäftigung – die wiederum unterteilt wird in Nebenbeschäftigung innerhalb und außerhalb des öffentlichen Dienstes – in allgemein genehmigte, genehmigungsfreie bzw. genehmigungspflichtige Nebentätigkeiten wirft immer wieder Zweifelsfragen auf. Dass die Leitung einer Klinik für den Hochschullehrer Teil seines Hauptamtes (oder eines zweiten, unentgeltlich ausgeübten Hauptamtes) ist, ist inzwischen herrschende Auffassung. Die Stellung eines »alleinigen Institutsdirektors« behandelt das Bundesverfassungsgericht als Nebenamt in der Wissenschaftsverwaltung. Abgrenzungsprobleme ergeben sich z. B. bei der Frage, wie die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, die Erstattung von Gutachten
7 1.3 Der Kreis der Sachverständigen
für Behörden, Gerichte oder für den überweisenden Arzt, die Erstellung eines Schlussberichts, die klinische Prüfung von Arzneimitteln oder Medizinprodukten oder die Drittmitttelforschung zu bewerten sind. > Für die in der Praxis der Hochschullehrer bedeutsame selbstständige Gutachtertätigkeit, die mit Lehr- oder Forschungsaufgaben zusammenhängt, ist dies entschieden: Sie ist Nebentätigkeit, wenn auch genehmigungsfreie.
Einzig für Professoren gelten Sondervorschriften. Bei ihnen ist die selbstständige Gutachtenerstattung, die mit Lehr- und Forschungsaufgaben zusammenhängt, Nebentätigkeit, und zwar genehmigungsfreie, aber anzeigepflichtige, wenn entgeltlich ausgeübt. Für sonstige angestellte oder beamtete Ärzte kann die Mitwirkung an der Erstattung von Gutachten der Professoren – einerlei, ob es sich bei den zu Begutachtenden um Privat- oder um Kassenpatienten handelt – oder die Gutachtenerstellung selbst zur Dienstaufgabe erklärt werden, und zwar durch Nebenabrede (Nr. 5 SR 2c BAT= § 42 TVöD BT, § 82 LBG bw). Geregelt ist diese Materie in §§ 40 BeamtStG, 64 ff. BBG samt Bundesnebentätigkeitsverordnung (BNTV) sowie in den Landesbeamtengesetzen, z. B. §§ 82 ff. LBGbw LNTVO, HNTVO (speziell für Professoren an den Universitäten und den sonstigen Hochschulen des Landes Baden-Württemberg) Für die Angestellten gelten diese Regelungen wieder über § 11 BAT (jetzt: § 3 Abs. 3 TVöD). Ob die Nebentätigkeit rechtlich als Nebenamt oder als Nebenbeschäftigung innerhalb oder außerhalb des öffentlichen Dienstes zu qualifizieren ist, richtet sich – soweit normative Regelungen fehlen – nach den konkreten Bestimmungen, die der Dienstherr kraft seiner Organisationsgewalt getroffen hat. In Zweifelsfällen ist dies durch Auslegung der getroffenen Vereinbarungen und der einschlägigen Regelungen zu ermitteln.
Verpflichtung zur Nebentätigkeit Zur Übernahme einer Nebentätigkeit im öffentlichen Dienst kann der Hochschullehrer nach Maßgabe der einschlägigen landesrechtlichen Bestimmungen verpflichtet werden, sofern ein Zusammenhang mit den Aufgaben in Forschung und Lehre besteht. Das am 01.03.1985 in Kraft getretene Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetz gilt auch für nachgeordnete Ärzte, seien sie Beamte oder Angestellte. § 42 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit S. 3 BRRG, der wieder über § 11 BAT (= § 3 Abs. 3 TVöD) auch für angestellte nachgeordnete Ärzte anwendbar ist, stellt die Vermutung auf, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der dienstlichen Pflichten behindert ist, sofern die zeitliche Beanspruchung durch eine oder mehrere Nebentätigkeiten in der Woche 8 Stunden übersteigt.
Genehmigung einer Nebentätigkeit Im Bundesbereich sind erteilte Nebentätigkeitsgenehmigungen zum 01.09.1985 nach Art. 4 des Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetzes erloschen und mussten neu beantragt werden. Der Antragsteller muss die Vermutung des § 65 Abs. 2 Nr. 1 in Verbindung mit Abs. 3 BBG (die Nebentätigkeiten hinderten ihn an der Erfüllung seiner Dienstaufgaben) widerlegen. In den Bundesländern sind erteilte Nebentätigkeitsgenehmigungen 6 Monate nach Inkrafttreten der dem § 42 BRRG entsprechenden landesrechtlichen Regelungen erloschen. Die Regelung gilt auch für Hochschullehrer als nachgeordnete Ärzte, deren dienstlicher Aufgabenbereich eine regelmäßige und planmäßige Arbeitszeit erfordert. Auch ihre Nebentätigkeiten, zu denen die Teilnahme an den Nebentätigkeiten der Leitenden Ärzte gehört, erfüllen die Vermutung, die Ausübung dienstlicher Pflichten zu beeinträchtigen, sofern sie 8 Stunden pro Woche überschreiten. Nebentätigkeiten wecken Neid. Nebentätigkeitsrecht ist Neidrecht. In schöner Regelmäßigkeit führen spektakuläre oder weniger spektakuläre Einzelfälle zu einer Verschärfung der gesetzlichen Vorschriften des Nebentätigkeitsrechts. Auslöser für die letzte Verschärfung waren der Fall des ehemaligen OLG-Präsidenten in Frankfurt und sein Gutachten für die Gewerkschaft sowie der Fall des Abteilungsleiters in einem Finanzministerium, der sein Wissen in Vorträgen vor Steuerberatern preisgegeben haben soll. Im 2. Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetz (Gesetz vom 9.9.1997 BGBl. I S. 2294), in dessen Folge die Bundesländer ihre Beamtengesetze entsprechend geändert haben, ist nunmehr u. a. geregelt, dass auch nicht genehmigungspflichtige Nebentätigkeiten, also die Erstattung von Gutachten für Gerichte und sonstige Auftraggeber, sowie die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit oder Vortragstätigkeit anzuzeigen ist, und zwar unter Bezifferung des Entgelts oder des geldwerten Vorteils. Im begründeten Einzelfall kann der Dienstherr die genannten Auskünfte schriftlich von seinen Beamten einfordern. Für Professoren als Sachverständige ist dies also bereits geltendes Recht und somit keine Änderung. Fachleute des Nebentätigkeitsrechts (zu denen sich der Autor dieser Zeilen nicht zählen mag) haben die Notwendigkeit der Neuregelung bestritten: Die Fälle hätten auch mit dem geltenden Recht gelöst werden können. Für die Verschärfung des Nebentätigkeitsrechtes muss mit schöner Regelmäßigkeit als politische Alibibegründung die Legion von Arbeitslosen herhalten, die durch das Unterbleiben der Nebentätigkeiten in Brot und Arbeit gesetzt werden könnte. Dabei wird oft vergessen, dass viele Nebentätigkeiten aus dem wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich, aber auch die mit Forschung und Lehre zusammenhängende Gutachtertätigkeit kaum zu neuen Arbeitsplätzen führt, weil der für sie erforderliche Zeit-
1
8
1 2 3 4
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
aufwand sowie deren Entschädigung diese gar nicht tragen würde. Letztlich profitiert der Auftraggeber vom Know-how des medizinischen Sachverständigen, das sich dieser über seine (langjährige) Tätigkeit in der kurativen Medizin erworben hat. Eine Trennung von gutachterlicher Tätigkeit und kurativer Medizin ist zwar theoretisch in einigen Bereichen möglich. Sie würde in der gutachterlichen Praxis aber zu einem erheblichen Qualitätsverlust der medizinischen Sachverständigentätigkeit führen. Andere Bereiche der Sachverständigentätigkeit mögen sich besser eignen und dafür anbieten.
5 Kommentar
6 7 8 9 10 11 12
Nur zu gern wird bei den hastigen Änderungen und Neuregelungen vergessen, dass der Beamte (oder Angestellte) im öffentlichen Dienst einen Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Nebentätigkeitsgenehmigung hat, sofern keine gesetzlich geregelten Versagungsgründe vorliegen.
Dieser Rechtsanspruch folgt aus Art. 12 GG, was ebenso gerne übersehen wird. Nutzen Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst Einrichtungen des Dienstherrn bei der Ausübung einer Nebentätigkeit, so haben sie ein Nutzungsentgelt zu entrichten, denn der Staat als Dienstherr hat nichts zu verschenken. > Gutachtenerstattung ist Nebentätigkeit.
Ressourcen des Dienstherrn
13 14 15 16 17 18 19 20
Briefkopf des Dienstherrn. Unabhängig davon, ob der medizinische Sachverständige Ressourcen seines Dienstherrn oder Arbeitgebers nutzt, steht eines fest: Er darf den offiziellen Briefbogen der Klinik oder Abteilung nicht benutzen. Ausnahmsweise gilt anderes, wenn die Einrichtung mit der Erstattung des Gutachtens beauftragt worden sein sollte. Dann darf der Briefkopf verwendet werden. Bei dieser Fallgestaltung kann allerdings auch zweifelhaft sein, ob nicht eine angeordnete Nebentätigkeit vorliegt. Nutzungsentgelt für Ressourcen des Dienstherrn. Nutzungsentgelt haben angestellte und beamtete Ärzte zu entrichten, die bei der Ausübung einer liquidationsberechtigten Tätigkeit Einrichtungen, Personal und Sachmittel des Dienstherrn tatsächlich in Anspruch nehmen. Zu unterscheiden ist dabei, ob es sich um beamtete Leitende Ärzte oder um angestellte Leitende Ärzte handelt. Die Verpflichtung zur Zahlung des Nutzungsentgelts ist die Rechtsfolge der Inanspruchnahme. Der Anspruch entsteht nur bei tatsächlicher Inanspruchnahme. Der Hö-
he nach bemisst sich das Nutzungsentgelt nach dem Wert der Inanspruchnahme. Das Entgelt bemisst sich nach den dem Dienstherrn entstehenden Kosten und muss den besonderen Vorteil berücksichtigen, der dem Beamten durch die Inanspruchnahme erwächst. Die Kriterien, nach denen das Nutzungsentgelt zu bemessen ist, aber auch der Rang der Bemessungskriterien sind nach § 42 BRRG bundesrechtlich festgelegt: 5 das Kostendeckungs- und 5 das Vorteilsausgleichsprinzip. > Werden zur Gutachtenerstattung Personal, Räume und Sachmittel in Anspruch genommen, so bedarf dies der Genehmigung durch den Dienstherrn (§§ 9, 10 LNTVO, 8, 11 HNTVO). Ziehen Leitende Ärzte (Professoren) nachgeordnete Ärzte zur Gutachtenerstattung hinzu, so ist für sie Nutzungsentgelt zu entrichten.
Ein Nutzungsentgelt kann nur dann nicht erhoben werden, wenn das Gutachten außerhalb der Dienstzeit und ohne Inanspruchnahme erstellt wurde, weil dann Ressourcen des Dienstherrn nicht in Anspruch genommen worden sind. Die Inanspruchnahme universitären Potenzials wird gelegentlich nur beamteten Professoren und habilitierten Oberärzten und auch nur dann genehmigt, wenn an der Nebentätigkeit ein öffentliches oder wissenschaftliches Interesse besteht. Die Inanspruchnahme von Ressourcen des Dienstherrn für Gutachten, die eine stationäre Aufnahme des zu Begutachtenden erfordert, wird nur den Ärztlichen Direktoren bettenführender Abteilungen erlaubt. Die Erlaubnis wird von der ausdrücklichen Zustimmung des Vorstandes der betroffenen Klinik abhängig gemacht. Für Rechnungsstellung und den Einzug des Honorars darf das Potenzial des Dienstherrn nicht in Anspruch genommen werden. Der Beamte ist verpflichtet, auf Verlangen seines Dienstherrn eine Nebentätigkeit (Nebenamt, Nebenbeschäftigung) im öffentlichen Dienst zu übernehmen, sofern diese Tätigkeit seiner Vorbildung entspricht und sie ihn nicht über Gebühr in Anspruch nimmt. Dies könnte auch die Tätigkeit als medizinischer Sachverständiger vor Gericht sein (vgl. z. B. § 82 LBG bw). Diese Vorschrift kann auf Angestellte nicht entsprechend angewendet werden. Die Übertragung einer Nebentätigkeit bedarf nach Nr. 5 SR 2c BAT (§ 42 Abs. 1 TVöD BT) einer Nebenabrede. Ziehen ärztliche Sachverständige nachgeordnete Ärzte bei der Gutachtenerstellung hinzu, so haben sie diese nach Standesrecht und teilweise auch nach landesrechtlichen Vorschriften am Erlös angemessen zu beteiligen (Lippert, Kern, Stichworte Nebentätigkeit, Nutzungsentgelt, Mitarbeiterbeteiligung). Bei angestellten Leitenden Ärzten (Chefärzten) außerhalb der Universitätskliniken ist der Dienstvertrag mit
9 1.3 Der Kreis der Sachverständigen
dem Träger Rechtsgrundlage für die Entrichtung eines Nutzungsentgelts. Bei Leitenden Ärzten, die liquidationsberechtigt sind und auf deren Dienstverhältnisse der BAT angewendet werden kann, gilt Nr. 5 Abs. 3 SR 2c BAT(jetzt: § 42 TVöD BT). Danach hat der Arzt, der für eine Nebentätigkeit Personal, Räume und Sachmittel des Arbeitgebers in Anspruch nimmt, dem Arbeitgeber die Kosten hierfür zu erstatten, soweit sie nicht von anderer Seite zu erstatten sind. Auch für angestellte Leitende Ärzte gilt, dass ein Nutzungsentgelt nur für eine tatsächliche Inanspruchnahme gefordert werden kann. Für die Bemessung des Nutzungsentgeltes gelten das Kostendeckungsund das Vorteilsausgleichsprinzip. Wird dem Beamten oder Angestellten die Erstattung des Gutachtens versagt, sei es unter dem Gesichtspunkt der Wahrung des Dienstgeheimnisses oder dem Gesichtspunkt der Genehmigung einer genehmigungspflichtigen Nebentätigkeit (wenn der Gutachter kein Professor ist), so ist er zur Erstattung des Gutachtens rechtlich nicht in der Lage und daher tatsächlich nicht zur Erstattung verpflichtet, obwohl eine Begutachtungspflicht nach §§ 407 ZPO, 75 StPO besteht.
Gutachtenerstellung durch Behörden und sonstige öffentliche Stellen Die Verfahrensordnungen der einzelnen Gerichtsbarkeiten gehen im Grundsatz davon aus, dass nur natürliche Personen als Sachverständige in Betracht kommen. Ausnahmsweise können Gerichte aber auch Behörden und sonstige öffentliche Stellen mit der Erstellung von Gutachten beauftragen (§ 1 Abs. 2 JVEG). Behörde ist nach der Definition des § 1 Abs. 4 VwVerfG jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Unter den Begriff der sonstigen öffentlichen Stellen fallen alle Einrichtungen, die nicht Behörden sind. Sie müssen einer rechtsfähigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts angehören. Hierunter fallen z. B. die Kammern (IHK, Handwerkskammer, Notarkammer, Rechtsanwaltskammer, Kammern der Heilberufe, Architektenkammer). Im Bereich der medizinischen Begutachtung spielen hier v. a. die Universitätskliniken eine bedeutende Rolle, sofern sie als Einrichtungen mit der Erstattung medizinischer Gutachten beauftragt werden und nicht ein einzelnes Mitglied der Universität.
Gutachten privater Organisationen Verschwiegenheit. Der Gutachter hat auch berufsrecht-
liche Pflichten zur Verschwiegenheit zu beachten und muss sich ggf. etwa von der ärztlichen Schweigepflicht befreien lassen.
Gutachten im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung Ärzte haben während der Facharztausbildung je nach Fachgebiet in unterschiedlichem Umfang den Nachweis darüber zu führen, dass sie eine bestimmte Anzahl von Gutachten erstattet haben. Unter weiterbildungsrechtlichen Aspekten kann damit nicht nur die Mitarbeit an Gutachten des zur Weiterbildung ermächtigten Arztes gemeint sein. Vielmehr muss der in Weiterbildung stehende Arzt die für die Anerkennung als Facharzt notwendige Anzahl von Gutachten selbst erarbeiten und, sofern es sich um Gerichtsgutachten handelt, diese auch vor Gericht vertreten haben. In diesen Fällen muss der vom Gericht bestellte (ermächtigte) Arzt als Gutachter dafür sorgen, dass das Gericht den in Weiterbildung stehenden Arzt, der das Gutachten letztlich erstellen muss, auch als Gutachter bestellt. Die von der Ärzteklammer zur Weiterbildung zugelassenen Einrichtungen oder die Universitätskliniken als gesetzlich zugelassene Weiterbildungsstätten dürfen durch innerorganisatorische Maßnahmen diese Verpflichtung aus der WBO nicht behindern. Dies gilt v. a. auch für die Praxis bei der Genehmigung von Nebentätigkeiten.
Bei Beweisaufnahmen, die auf der Grundlage der Vorschriften der ZPO durchgeführt werden, ist die Einholung von Gutachten bei privaten Organisationen nicht unbedenklich. Die ZPO lässt im Verfahren des Sachverständigenbeweises nur Einzelpersonen, Behörden und sonstige öffentliche Stellen als Gutachter zu. Die Gerichtspraxis ist eine andere (Jessnitzer, Ulrich Rz. 89 ff.). In der Beauftragung privater Organisationen liegt mit der Begutachtung und deren Verwertung im Prozess ein Verfahrensverstoß vor, der allerdings durch rügelose Verhandlung der Parteien zur Sache geheilt wird (Jessnitzer, Frieling Rz. 103 f.). Für das Strafrecht ist allgemein anerkannt, dass der Sachverständigenbeweis nicht durch Gutachten privater Organisationen erbracht werden kann. Ausgeschlossen hiervon sind lediglich Routinegutachten in den in § 256 Abs. 1 S. 2 StPO genannten Fällen (Auswertung eines Fahrtenschreibers, Bestimmung der Blutgruppe oder des Blutalkoholgehalts einschließlich seiner Rückrechnung sowie die ärztlichen Berichte zur Entnahme von Blutproben).
Arten und Formen von Gutachten Unabhängig von der Definition dessen, was ein Gutachten ausmacht, haben sich in der Praxis verschiedene Formen herausgebildet, in denen es erstattet wird. Letztlich ist die Form, in welcher ein Gutachten zu erstatten ist, vom Inhalt des Gutachtenauftrags geprägt. Die wohl knappste Form dürfte dabei das Formulargutachten sein. Bei ihm füllt der Gutachter im Wesentlichen vom Auftraggeber vorgegebene Rubriken aus und tut zusammenfassend seine wissenschaftliche Schlussfolgerung kund.
1
10
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
Im Gegensatz dazu steht das freie Gutachten, bei dem der Gutachter selbst Umfang und Inhalt seiner Ausführungen bestimmt. Auch für das freie Gutachten haben sich in der Praxis bestimmte Formulierungen und Gliederungen eingebürgert, auf die weiter unten näher eingegangen werden soll. Die Begutachtung kann sowohl nach Aktenlage als auch nach körperlicher Untersuchung des Probanden erfolgen. Dies ist im Grunde davon abhängig, wie der Sachverständige den tatsächlichen Stoff für die Beantwortung der Gutachtenfragen gewinnen kann und will. Letztlich kann sich die Gliederung auch aus dem Gutachtenauftrag ableiten lassen oder auch aus dem gerichtlichen Beweisbeschluss.
1.4
Der Sachverständige und sein Gutachten
1.4.1 Gerichtsgutachten,
Verwaltungsgutachten, Privatgutachten Bezüglich der Auftraggeber eines Sachverständigen lassen sich drei große Bereiche festhalten: 5 Zum einen können Gerichte der unterschiedlichsten Gerichtszweige den Sachverständigen heranziehen. 5 Zum anderen kann der Sachverständige auch von Verwaltungsbehörden herangezogen werden. 5 Schließlich können Privatpersonen, die an der Klärung einer Fachfrage ein Interesse haben, diese Fragestellung durch einen Sachverständigen untersuchen lassen. Außer fachlich-inhaltlichen und formalen Vorschriften für die Abfassung eines Gutachtens gibt es für Privatgutachten keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften. Anders dagegen bei Gerichtsgutachten. Die beiden großen Prozessordnungen, die Strafprozessordnung (StPO) und die Zivilprozessordnung (ZPO), regeln jeweils detailliert, wie sich der Beweis durch Sachverständige zu vollziehen hat (§§ 72 ff. StPO, 402 ff. ZPO). Die Verfahrensordnungen für das Verwaltungsgerichtsverfahren (§ 98 VwGO), das Arbeitsgerichtsverfahren (§ 58 Abs. 1 ArbGG) und das Sozialgerichtsverfahren (§§ 106, 118 SGG) nehmen die Vorschriften der ZPO (§§ 358–444, 450–494 ZPO) ganz oder doch teilweise in Bezug. Dabei ist zu beachten, dass im sozial- und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren das Gericht nach dem Grundsatz verfährt, dass der Sachverhalt nicht nach dem Vortrag der Parteien festgelegt wird, sondern dass das Gericht von sich aus, also von Amts wegen, den Sachverhalt, der dem Gutachtenauftrag zugrunde zu legen ist, umfassend zu ermitteln hat. Nur im Zivilprozess bedarf es eines Beweisantritts. Ohne ihn kann ein Sachverständiger nicht mit der Erstattung eines Gutachtens betraut werden. Es kann nun nicht Sinn dieser Zeilen sein, alle möglichen (rechtlichen) Bereiche aufzulisten, in denen Sach-
verständige tätig sein können. Im Hinblick auf den medizinischen Sachverständigen und seinen Tätigkeitsbereich lassen sich aber doch Schwerpunkte feststellen, in denen der medizinische Sachverstand eines Gutachters bei der Beurteilung eines Lebenssachverhaltes häufiger benötigt wird als in anderen. Zu nennen sind hier Bereiche, in denen der Bürger eine Leistung aus dem staatlichen Sozialversicherungssystem begehrt, wie etwa der Kranken,Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung, oder den Sozialversorgungssystemen für Kriegs- und Wehrdienstopfer, Opfer von Straftaten und Schwerbehinderte. Gutachtenträchtig für medizinische Sachverständige ist auch der Bereich der (privaten) Haftpflichtversicherung und – nicht zu vergessen, weil zunehmend – der der Arzthaftung für schuldhafte Behandlungsfehler. Als Auftraggeber können die Träger der genannten Sozialsysteme in Betracht kommen, aber auch Zusammenschlüsse der in diesen als Ärzte Tätigen. Gutachtenaufträge in erheblichem Umfang vergeben auch die privaten Versicherungsunternehmen im Bereich der Kranken- , Unfall- und Haftpflichtversicherung, um nur größere Bereiche zu benennen.
1.4.2 Der Sachverständige
Rechte und Pflichten des Sachverständigen Die Rechtsbeziehungen zwischen privaten Auftraggebern und dem Sachverständigen richten sich nach Werkvertragsrecht. Das Gutachten ist ein Werk im Sinne von § 631ff. BGB (Palandt, Thomas, Einf vor §§ 631 Rz. 14, BGH NJW 1967, 719, Jessnitzer, Ulrich Rz. 455, Rieger Rz. 1533). > Der Gutachter schuldet einen Erfolg, keine Dienstleistung.
Die Rechtsbeziehungen eines vom Gericht ernannten Sachverständigen zu diesem folgen öffentlichem Recht, wobei der Sachverständige keine hoheitlichen Aufgaben wahrnimmt (BGH NJW 1973, 554). Es besteht ein öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis besonderer Art, auf das neben den prozessualen Vorschriften und den Vorschriften über die Sachverständigenentschädigung ergänzend die Vorschriften über den öffentlich-rechtlichen Vertrag nach §§ 54 ff. VwVfG entsprechende Anwendung finden (Rieger Rz. 1533, BGH NJW 1973, 554, OLG München NJW 1971, 257). Auch der von einer Verwaltungsbehörde beauftragte Sachverständige erfüllt mit seiner Tätigkeit einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, welcher mit der beauftragenden Behörde geschlossen wird und auf den die Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze unmittelbar Anwendung finden. Der behördlich beauftrage Sachverständige übt mitunter hoheitliche Tätigkeiten aus, etwa als Amtsarzt, Versorgungs- oder auch als Vertrauensarzt.
11 1.4 Der Sachverständige und sein Gutachten
Beauftragung – Pflicht zur Gutachtenerstattung Beauftragung eines gerichtlichen Sachverständigen In bestimmten gerichtlichen Verfahren ist die Beiziehung eines Sachverständigen zwingend vorgeschrieben. Es ist dies der Fall 5 im Verfahren zur Bestellung eines Betreuers nach dem Betreuungsgesetz, 5 im Verfahren nach den Unterbringungsgesetzen der Länder und 5 nach dem Strafverfahren. Ein Betreuer nach dem Betreuungsgesetz darf (ausgenommen im Notfall) erst bestellt werden, nachdem ein Sachverständiger in einem Gutachten die Notwendigkeit bestätigt hat (§ 68b FGG). Auch die Anordnung einer freiheitsentziehenden Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder bedarf der vorherigen Begutachtung (§ 70e FGG). Als Sachverständiger wird ein Facharzt für Psychiatrie in Frage kommen. Auch die Untersuchung des Beschuldigten zur Vorbereitung der Begutachtung seines psychischen Zustandes aufgrund eines Gerichtsbeschlusses im Strafverfahren bedarf der Anhörung eines Sachverständigen (§ 81 StPO). Gleiches gilt, wenn in der Hauptverhandlung zu entscheiden ist, ob damit zu rechnen ist, dass der Angeklagte nach Abschluss des Verfahrens in einer psychiatrischen Anstalt unterzubringen ist.
Auswahl des gerichtlichen Sachverständigen Die Auswahl des im gerichtlichen Verfahren zuzuziehenden Sachverständigen obliegt dem Gericht. Dies ist die Folge der Stellung des Sachverständigen als Helfer des Gerichts. Diese Regelung gilt nunmehr auch für die Auswahl des Sachverständigen im selbstständigen Beweisverfahren. Das Verfahren der Auswahl des Sachverständigen wird durch seine Ernennung im Beweisbeschluss des Gerichtes beendet. Es verstößt gegen § 404 ZPO, wenn im Zivilprozess ein Gericht die Gerichtsakten (und gelegentlich auch Patientenakten) einfach der Industrie- und Handelskammer oder auch einer Universität zusendet, zur Weiterleitung an einen von dieser Institution auszuwählenden Gutachter. In diesem Fall wählt nicht das Gericht den Sachverständigen aus, sondern eine dazu angegangene, nicht gerichtliche Instanz (sofern sie sich darauf einlässt, was ihr nicht zu raten ist). Eine derart vorgenommene Sachverständigenbestellung und ein daran anschließend erstelltes Gutachten leiden an einem Verfahrensfehler. Das Gutachten kann, sofern die Parteien dies rügen, nicht verwertet werden (Jessnitzer, Ulrich Rz. 108). Ein derartiger Umgang mit Patientenakten verstößt nicht nur gegen datenschutzrechtliche Vorschriften, sondern auch gegen die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit. Derjenige Patient, mit dessen Patientenakten so umgegan-
gen wird, hat hierzu sein Einverständnis nicht gegeben, als er seinen Rechtsstreit begonnen hat. Er braucht sich diesen Umgang mit dem Patientengeheimnis auch von einem staatlichen Gericht nicht bieten zu lassen. Auch ein Ausweichen auf die Amtshilfe staatlicher Stellen untereinander vermag das vorstehend beanstandete Auswahlverfahren nicht zu legalisieren, obwohl die Amtshilfe immer wieder als letzter Rettungsanker herhalten muss, wenn zwischen staatlichen Stellen entgegen den Vorschriften gehandelt wird. Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass das Gericht den Gutachter auswählt, fand sich bisher in § 109 SGG. Danach musste das Gericht auf Antrag des Versicherten, Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen einen bestimmten Arzt gutachterlich hören. Diese Vorschrift wurde gestrichen.
Pflicht zur Erstattung von Gutachten gegenüber Gerichten und der Staatsanwaltschaft Eine vom Gericht als Sachverständiger ernannte Einzelperson hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn sie 5 zur Erstattung von Gutachten der geforderten Art öffentlich bestellt ist, 5 die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung für die Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt oder hierfür öffentlich bestellt ist, wie z. B. approbierte Ärzte, oder 5 sich zur Erstattung von Gutachten vor Gericht bereit erklärt hat. Behörden erbringen Sachverständigenleistungen im Rahmen der Amtshilfe. Obgleich verfassungsrechtlich geregelt (Art. 35 GG), darf die Aufforderung der Auskunft nicht zu einer Verwischung der Grundsätze der Gewaltenteilung im Staat führen. Ferner darf sie nicht entgegen gesetzlichen Vorschriften eingefordert werden, die die um Amtshilfe ersuchte Behörde einzuhalten hat (Schweigepflicht, Datenschutzregelungen) (Stelkens, Bonk, Sachs, Erl. zu §§ 4,5,VwVfG).
Selbstständige Gutachtenerstattung Erhält der Sachverständige den gerichtlichen Auftrag, ein Gutachten zu erstellen, so hat er unverzüglich zu prüfen, ob dieser Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ob er ihn ohne Zuziehung weiterer Sachverständiger erledigen kann (§ 407a Abs. 1 ZPO). Erkennt der Sachverständige, dass er den Auftrag nicht oder nicht innerhalb des in Aussicht genommenen Zeitraums erledigen kann, so muss er dies dem Gericht mitteilen. Den Sachverständigen bestimmt und beauftragt – wie gesagt – ausschließlich das Gericht. Der Sachverständige darf daher den an ihn ergangenen Auftrag nicht von sich aus auf einen anderen Sachverständigen übertragen.
1
12
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
Der Sachverständige kann sich bei der Erstellung seines Gutachtens helfen lassen und dazu Hilfspersonal heranziehen. Soweit er sich der Mitarbeit eines oder mehrerer anderer Personen bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben (§ 407a Abs. 2 ZPO). Mit der gesetzlichen Neuregelung in der ZPO ist einem im medizinisch-universitären Bereich immer wieder anzutreffenden Brauch der Riegel vorgeschoben worden, das Gutachten intern von einem Oberarzt oder Facharzt fertigen zu lassen und dieses so gefertigte Gutachten sodann mit den Zusatz »einverstanden« gegenzuzeichnen. Die Rechtsprechung hatte ein derartiges Delegationsrecht des Gutachters seit langem für unzulässig erachtet (BVerwG MedR 1984, 191). Dem ist auch inhaltlich zuzustimmen. Der Sachverständige wird gerade wegen seiner persönlichen Kompetenz ausgesucht und nicht, weil er besonders viele fähige Mitarbeiter in seinem Bereich beschäftigt. Dieser bisherige »Brauch« geht über die Beschäftigung von Hilfskräften weit hinaus. Er geht aber auch über die vom Gesetz zugelassene Mitarbeit anderer Personen hinaus. > »Mitarbeit« heißt zumindest, dass das Gutachten überwiegend, also zu mehr als zur Hälfte, vom Sachverständigen persönlich erarbeitet worden sein muss.
Ablehnung des Gutachtenauftrages – Entbindung des Sachverständigen von der Gutachtenerstattung Der Sachverständige kann den an ihn ergangenen Auftrag zur Erstattung eines Gutachtens ablehnen. Allerdings benötigt er hierzu einen Grund. Der kann einmal darin liegen, dass er nicht über die für die Gutachtenerstattung erforderliche Sachkunde verfügt. Auch wenn der Sachverständige das Gutachten nicht in angemessener Zeit oder nicht innerhalb einer vom Gericht (oder der ersuchenden Behörde) gesetzten Frist erstatten kann, handelt es sich um einen Ablehnungsgrund. Diese Hinderungsgründe hat der Sachverständige dem Gericht (oder der Behörde) unverzüglich (d. h. ohne schuldhaftes Zögern) mitzuteilen. Das Gericht kann den Sachverständigen sodann nach freiem Ermessen von seiner Aufgabe entbinden (§ 408 Abs. 1 S. 2 ZPO, § 76 Abs. 1 S. 2 StPO). Lehnt das Gericht ab, so kann der Sachverständige dagegen Beschwerde einlegen. Kein Grund zur Ablehnung eines Gutachtenauftrages ist die aus Sicht des Sachverständigen (zutreffend oder nicht) zu geringe Vergütung seiner Tätigkeit. Mit Rücksicht auf Verfahrensbeteiligte und das Gericht sollte der Sachverständige nicht erst nach Anmahnung des Gutachtens zu dem Schluss kommen, den Gutachtenauftrag doch nicht in angemessener Frist erledigen zu können. Es ist beabsichtigt, die teilweise überlangen Zeiträume, die bis zur Abfassung der Gutachten auftreten,
dadurch abzukürzen, dass das Gericht dem Sachverständigen dazu zwingend eine Frist setzen muss.
Verweigerung der Gutachtenerstellung An sich zur Gutachtenerstattung verpflichtete Personen können diese nur aus bestimmten, in ZPO und StPO normierten, gesetzlichen Gründen verweigern. Einmal kann dies aus familiären Gründen erfolgen, wenn der Sachverständige Verlobter oder Ehegatte einer Partei oder eines Beschuldigten ist oder wenn er mit diesem in gerader Linie verwandt oder verschwägert oder in der Seitenlinie bis zum 3. Grad verwandt oder bis zum 2. Grad verschwägert ist oder war (§§ 383 ZPO, 52 StPO). Ein Recht zur Verweigerung der Gutachtenerstattung räumt das Gesetz auch denjenigen Personen ein, die eine berufliche Schweigepflicht einzuhalten haben und denen zu ihrem Schutz ein Recht zur Zeugnisverweigerung zusteht (§§ 383 Abs. 1 Ziff. 4–6 ZPO, 53 Abs. 1 StPO). In der Praxis trifft dies v. a. auf Ärzte zu, die als medizinische Gutachter tätig sind. Der Arztstatus allein begründet dabei noch nicht das Recht zur Verweigerung. Dem Arzt muss ein Verfahrensbeteiligter in seiner Eigenschaft als Arzt etwas anvertraut haben oder es müssen ihm Tatsachen bekannt geworden sein, die der Verfahrensbeteiligte geheimgehalten wissen will und worauf sich die Gutachtenerstattung beziehen soll. > Wird der Sachverständige von der Schweigepflicht entbunden, dann entfällt das Weigerungsrecht. Wenn nicht, kann er sein Gutachten nicht erstellen und muss den Gutachtenauftrag ablehnen.
Auch aus sachlichen Gründen kann dem Sachverständigen ein Verweigerungsrecht zustehen: Er braucht sich durch die Gutachtenerstattung nicht selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder Geschäftsgeheimnisse zu offenbaren. Als Angehöriger des öffentlichen Dienstes kann er die Gutachtenerstattung verweigern, wenn er dadurch seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit (§ 353b StGB) verletzen müsste.
1.4.3 Stellung des Sachverständigen zu
Gericht, Prozessbeteiligten und Verwaltungsbehörde Der Sachverständige ist grundsätzlich unabhängig. Sein Gutachten hat er unparteiisch und nach bestem Wissen zu erstatten. Niemand darf ihn bei seiner Tätigkeit beeinflussen. Davon zu unterscheiden sind die Pflicht des Gerichts, die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten, und die Möglichkeit der Prozessparteien, auf das Wirken des Sachverständigen Einfluss zu nehmen. Diese Tätigkeit bezieht
13 1.4 Der Sachverständige und sein Gutachten
sich auf den Inhalt des Gutachtenauftrages genauso wie auf dessen tatsächliche Abwicklung. > In der eigentlichen Begutachtung ist der Sachverständige von Gericht und Prozessbeteiligten unabhängig.
Der Sachverständige hat objektiv und unparteiisch zu sein. Falsch verstandene kollegiale Rücksichtnahme gefährdet dabei die Objektivität ebenso wie eine überschießende Rigidität in den beruflichen Anforderungen an Kollegen, über deren Fehler der Sachverständige zu gutachten hat (Jessnitzer, Ulrich Rz. 145). Auch im Verwaltungsverfahren vor Verwaltungsbehörden ist der Sachverständige unabhängig und hat seine Tätigkeit unparteiisch und objektiv auszuüben.
1.4.4 Anleitung des Sachverständigen durch das
Gericht Das Gericht hat die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten und kann ihm für Art und Umfang der Tätigkeit Weisungen erteilen. Vor allem setzt es ihm seit neuestem eine Frist, binnen derer er sein Gutachten zu erstatten hat (§ 411 Abs. 2 ZPO). Damit soll erreicht werden, dass die bisweilen überlangen und das gerichtliche Verfahren behindernden Zeiträume der Gutachtenerstellung deutlich verkürzt werden. Dies heißt aber nicht, dass das Gericht dem Sachverständigen Anweisungen bezüglich seiner gutachterlichen Tätigkeit erteilen kann. Das Weisungsrecht soll lediglich bewirken, dass der Sachverständige sich im Rahmen des Gutachtenauftrages des Gerichtes hält und Fragen beantwortet, die an ihn gestellt werden, und nicht solche, die er gerne beantworten würde. Wie die Anleitung aussieht, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Unbeschadet bleibt in jedem Fall die fachliche Unabhängigkeit und Eigenverantwortung des Sachverständigen. Der Beweisbeschluss umreißt die Tätigkeit des Sachverständigen und das verbindliche Beweisthema. Dieses hat er erschöpfend zu bearbeiten, nicht zu unter- und nicht zu überschreiten. Beweisfragen darf er nicht eigenmächtig anders stellen, weil er dies für zweckmäßig hält. Beweis erhebt der Richter nur über Tatsachen, die nach seiner Überzeugung und Rechtsauffassung aufklärungsbedürftig sind. Das Beweisthema ist Ergebnis einer Rechtsanwendung des Juristen, nicht der Arbeit des Sachverständigen. Das Gericht bestimmt die Tatsachen, welche der Sachverständige seinem Gutachten zugrunde legen soll (§ 404a ZPO), sofern diese streitig sind. Es muss ggf. die Tatsachen durch eigene weitere Beweiserhebung festlegen. Eine etwa für das Beweisverfahren in Medizinschadensfällen zwar sinnvolle, aber in ihrer rechtlichen Auswirkung möglicherweise nicht unproblematische Regelung enthält § 404a Abs. 2 ZPO. Das Gericht soll nämlich,
wenn Besonderheiten des Falles dies erfordern, den Sachverständigen hören, ihn in die Aufgabe einweisen und ihm auf Verlangen den Auftrag erläutern. Hier besteht die große Gefahr, dass der Sachverständige kraft seiner Sachkenntnis und Autorität gegenüber dem fachlich nicht so kompetenten Gericht den Gutachtenauftrag maßgeblich beeinflusst und so die Marschrichtung vorgeben kann. Besonderheiten des Falles liegen sicher dann vor, wenn das Gericht befürchtet, mangels eigenen Fachwissens die Beweisfrage falsch oder missverständlich zu formulieren. Ferner dann, wenn zu klären ist, ob vor Gutachtenerstattung noch fehlende Anschlusstatsachen vom Gericht oder vom Sachverständigen zu ermitteln sind und wenn ja, in welchem Umfang. Erfordert bereits die Aufklärung der Beweisfrage eine besondere Sachkunde, über die das Gericht nicht verfügt, so ist der Sachverständige durch Beweisbeschluss hierzu zu ermächtigen. Soweit es erforderlich ist, bestimmt das Gericht, in welchem Umfang der Sachverständige zur Aufklärung der Beweisfrage befugt ist, inwieweit er mit den Parteien Verbindung aufnehmen darf und wann er ihnen die Teilnahme an seinen Ermittlungen zu gestatten hat. In Medizinschadensfällen kommt hier insbesondere die Einnahme eines Augenscheins in Betracht, wenn etwa die räumlichen oder apparativen Gegebenheiten für den Schadensfall von Bedeutung sein können. Ferner die medizinische Untersuchung und Begutachtung des Geschädigten. Wo der Sachverständige zur Vorbereitung seines Gutachtens überhaupt zur selbstständigen Gegenstands- oder Ortsbesichtigung befugt ist, hat auch er den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit zu beachten und den Parteien das Recht zur Anwesenheit und Rede einzuräumen. > Im Übrigen verbietet niemand dem Sachverständigen, sich in jeder Phase des Verfahrens an das ihn beauftragende Gericht zu wenden.
Die soeben gemachten Aussagen betreffen nur den Sachverständigen im gerichtlichen Verfahren. Auf Gutachten im Verwaltungsverfahren sind sie nicht unmittelbar zu übertragen. Im Verwaltungsverfahren obliegt es dem Sachverständigen ebenfalls, auf der Grundlage der für wesentlich erachteten Tatsachen sein Gutachten zu erstellen. Es kann nicht seine Aufgabe sein, aus den Akten die dafür wesentlichen Tatsachen selbst zu ermitteln. Dies wird man der den Auftrag erteilenden Verwaltungsbehörde schon abverlangen können. Auch im Verwaltungsverfahren trifft den Sachverständigen die Pflicht, den Auftraggeber unverzüglich auf Zweifel und ihre Klärung hinzuweisen und auf erforderliche Ergänzungen zu drängen. Fehlt ihm die notwendige Kompetenz zur Erstattung des Gutachtens, so hat der Sachverständige dies dem Auftraggeber ebenfalls unverzüglich mitzuteilen.
1
14
1 2
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
Bezüglich der persönlichen Erstattung des Gutachtens und der Beiziehung von Hilfskräften gilt das für das Gerichtsverfahren Gesagte entsprechend. Die Vorschriften über die Anleitung des Sachverständigen durch das Gericht können auch auf die Gutachtenerstattung im Verwaltungsverfahren dem Sinne nach angewendet werden.
3 1.4.5 Qualifikation des Sachverständigen
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Es ist dies ein sehr heikles Thema: Wer bestimmt und kontrolliert die Qualifikation des Sachverständigen? Solange es kein Berufsbild für den Sachverständigen gibt (ob es dies jemals geben wird, steht dahin), bemisst sich dessen Qualifikation danach, was er in seinem angestammten Beruf nach dessen Berufsbild zu leisten verpflichtet ist. Zwar wird die besondere Sachkunde als eine Voraussetzung für die öffentliche Bestellung als Sachverständiger von der Industrie- und Handelsklammer geprüft (Jessnitzer, Ulrich Rz. 44 ff.), eine spätere Kontrolle, ob diese Voraussetzungen noch gegeben sind, findet ersichtlich nicht statt. Nach den Sachverständigenordnungen ist der Sachverständige verpflichtet, sich fortzubilden (Jessnitzer, Ulrich Rz. 40 ff.). Ob er dies auch tatsächlich tut, wird wohl nicht kontrolliert. Die öffentliche Bestellung macht den Sachverständigen nicht zum Mitglied der öffentlichrechtlichen Körperschaft Industrie- und Handelskammer und begründet daher auch keine entsprechende Standespflicht, wie wir sie von verkammerten Berufen (etwa den Ärzten, Architekten oder ähnlichen Berufen) her kennen. Kennt ein derartiger verkammerter Beruf eine standesrechtliche Pflicht zur Fortbildung, so folgt die Pflicht zum Erhalt oder zur Erweiterung der fachlichen Kenntnisse aus dieser berufsrechtlichen Pflicht. Verstöße hiergegen sind nach diesem Berufsrecht zu ahnden, sofern eine Ahndung überhaupt in Betracht kommen kann.
1.4.6 Sanktionen gegen den Sachverständigen
Es ist zu unterscheiden zwischen dem Verhalten des gerichtlichen Sachverständigen außerhalb der gerichtlichen Verhandlung und demjenigen innerhalb sowie dem Verhalten des Sachverständigen im Verwaltungsverfahren. Erscheint der gerichtliche Sachverständige trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vor Gericht oder verweigert er die Erstattung des Gutachtens ohne triftigen Grund (Zeugnisverweigerungsrecht, Ausschluss etc.), so wird gegen ihn ein Ordnungsgeld verhängt, bei wiederholter grundloser Weigerung auch wiederholt. Das Ordnungsgeld beträgt bis zu 10.000 Euro. Ferner können ihm die durch die Weigerung entstandenen zusätzlichen Kosten auferlegt werden, und schließlich kann er des Honoraranspruchs verlustig gehen. Im Zivilprozess wird über die Frage, ob ein Ordnungsgeld verhängt werden kann,
in einem Zwischenverfahren entschieden. Erst nach dessen rechtskräftigem Abschluss und der Klärung der Frage nach der Berechtigung der Weigerung kann das Ordnungsgeld verhängt werden. Verweigert ein Sachverständiger im Verwaltungsverfahren die Erstattung eines Gutachtens, obwohl er weder von der Gutachtenerstattung entbunden worden ist noch sich auf ein Recht zur Verweigerung der Gutachtenerstattung berufen kann, so kann die Verwaltungsbehörde das Verwaltungsgericht oder das Amtsgericht um Vernehmung des Sachverständigen ersuchen. Verweigert der Sachverständige auch vor dem Einzelrichter der zuständigen Kammer des Verwaltungsgerichts die Erstattung des Gutachtens, so entscheidet über die Rechtmäßigkeit der Weigerung die Kammer. Verstöße eines Sachverständigen im Verlauf der Gerichtsverhandlung können nach § 176 GVG auf Beschluss des Gerichts geahndet werden. In Betracht kommen können je nach Verstoß die Entfernung des Sachverständigen aus dem Gerichtssaal, Ordnungshaft und ein Ordnungsgeld (bis 1000 Euro). Dieselben Sanktionen stehen dem Richter auch außerhalb der Sitzung zu. Geahndet werden können ungebührliches Verhalten vor Gericht, Missachtung des Gerichts, Beleidigung des Gerichts oder anderer Verfahrensbeteiligter.
1.4.7 Ablehnung des Sachverständigen
Die schärfste Waffe der Verfahrensbeteiligten im prozessualen Beweisverfahren ist die Ablehnung des Sachverständigen. Absolute Gründe zur Ablehnung eines Sachverständigen sehen sowohl § 41 ZPO als auch § 22 StPO vor. Ausgeschlossen im gerichtlichen Verfahren ist ein Sachverständiger dann, wenn er im Verfahren selbst Partei oder Mitberechtigter ist, oder im Strafverfahren, sofern er durch die Straftat verletzt ist. Ausgeschlossen ist er auch als jetziger oder geschiedener Ehegatte des Klägers, des Verletzten oder des Beschuldigten. Auch Verwandtschaft in gerader Linie bis zum 3. Grad oder Schwägerschaft in der Seitenlinie bis zum 3. Grad schließen eine Tätigkeit als Sachverständiger aus. Wer in einem Verfahren als Bevollmächtigter oder Prozessbevollmächtigter auftritt, kann nicht zugleich Sachverständiger sein. Gleiches gilt im Strafverfahren. Zusätzlich schließt hier die Tätigkeit als Polizeibeamter oder Staatsanwalt ein Tätigwerden als Sachverständiger aus. Im Zivilverfahren als Sachverständiger ausgeschlossen sind auch Personen, die an diesem Verfahren im früheren Rechtszug mitgewirkt haben. Im Verwaltungs-, Sozialgerichts- und Finanzgerichtsverfahren ist die Mitwirkung bei dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren ein absoluter Ausschließungsgrund. Gleiches gilt für Angehörige einer Körperschaft, deren Interessen in dem Verfahren betroffen sind.
15 1.4 Der Sachverständige und sein Gutachten
Der Sachverständige (nicht: eine Behörde oder sonstige öffentliche Stelle) kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Wegen Besorgnis der Befangenheit findet eine Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Maßgebend ist dabei die Sicht des ablehnenden Verfahrensbeteiligten. Aus seiner Sicht muss (bei verständiger Würdigung der Dinge) ein Grund gegeben sein, der ein Misstrauen gegen den Sachverständigen rechtfertigt. Vor allem ist die Besorgnis der Befangenheit gegeben, wenn der Sachverständige etwa durch unbedachte Äußerungen Parteilichkeit zu erkennen gibt (Jessnitzer, Ulrich Rz. 153 ff. mit Einzelfällen). Die Entscheidung darüber, ob diese Besorgnis zutrifft oder nicht, ist trotz aller Beispiele in der Rechtsprechung (von denen es nicht wenige gibt) letztlich eine Entscheidung im Einzelfall geblieben, auch wenn die Rechtsprechung hierzu Fallgruppen herausgebildet hat. Ablehnungsgründe können bereits bei der Bestellung des Sachverständigen vorliegen. Auf ihr Vorliegen müssen öffentlich bestellte Sachverständige, aber auch die anderen Sachverständigen, das Gericht unverzüglich hinweisen. Unterlassen sie diese Mitteilung, so können sie ihres Honoraranspruchs verlustig gehen. Dies gilt auch, wenn der Sachverständige den Grund für die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit grob fahrlässig selbst herbeigeführt hat. Unmaßgeblich ist, ob der Sachverständige sich befangen fühlt oder nicht. Über die Ablehnung wird sowohl im Straf- wie im Zivilverfahren in einem gesonderten (für die beiden Verfahren unterschiedlichen) Verfahren entschieden. In jedem Fall muss der Ablehnungsgrund glaubhaft gemacht werden. Die Entscheidung wird durch Beschluss getroffen. Gegen ihn kann im Zivilverfahren sofortige Beschwerde eingelegt werden, wenn die Ablehnung für unbegründet erklärt wurde. Im Strafverfahren steht dem abgelehnten Sachverständigen kein Rechtsmittel zu. Dem Sachverständigen steht kein Recht auf Selbstablehnung zu.
1.4.8 Verantwortlichkeit des Sachverständigen
Der Sachverständige hat für sein Gutachten zivil- wie strafrechtlich einzustehen. Die zivilrechtliche Haftung richtet sich danach, ob der Sachverständige für eine Privatperson, eine juristische Person des Privatrechts oder eine öffentlich-rechtliche Institution tätig wird. Der Schaden kann dabei unmittelbar durch das Gutachten oder mittelbar durch dieses eintreten, wenn etwa darauf ein fehlerhaftes Urteil beruht. Der für eine Privatperson oder juristische Person des Privatrechts tätige Sachverständige haftet seinem Vertragspartner auf Erfüllung des Werkvertrags. Erstattet er das Gutachten verspätet, schlecht oder gar nicht, so ist er
zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet. Für ein fehlerhaftes Gutachten haftet er nach den Vorschriften über die Gewährleistung bei Mängeln aus dem Werkvertrag. Daneben ist auch eine Haftung aus unerlaubter Handlung denkbar (Jessnitzer, Ulrich Rz. 455, Rieger Rz. 1548). Verletzt der Sachverständige seine Pflicht gegenüber einem Gericht oder einer anderen öffentlich-rechtlichen Institution, so kommt eine Haftung gegenüber der beauftragenden Institution aus Verletzung des öffentlich-rechtlichen Vertrages zwischen den Parteien in Betracht. Die Regeln über die Gewährleistung bei Mängeln des Werkvertrages sind entsprechend anzuwenden. Gegenüber der zu begutachtenden Person scheidet eine vertragliche Haftung aus: Es bestehen keine vertraglichen Beziehungen, auch kein Vertrag zugunsten Dritter (OLG Hamm, MDR 1950, 211, LG Stuttgart NJW 1954, 1411). Eine Haftung nach Grundsätzen der Staatshaftung scheidet aus. Der Sachverständige übt keine öffentliche Gewalt aus (Bender, 3. Aufl. Rz. 689, BGHZ 59, 310). Dieser für den gerichtlichen Sachverständigen anerkannte Grundsatz muss entsprechend für den von der Verwaltungsbehörde beauftragten Sachverständigen Anwendung finden. Amtshaftung tritt ausnahmsweise dann ein, wenn der Sachverständige bei der Vorbereitung seines Gutachtens Zwangsmaßnahmen einsetzt, wie etwa bei der zwangsweisen Entnahme von Blut nach § 81a StPO, oder wenn eine besonders enge Verknüpfung der Tätigkeit des Sachverständigen mit Behördenaufgaben vorliegt (Amtsarzt). Ansonsten haftet der Sachverständige aus § 839a BGB. Der beeidigte Sachverständige haftete bisher nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 154, 163 StGB bei einfacher fahrlässiger Falschbegutachtung für jeden Vermögensschaden. Der unbeeidigte Sachverständige hingegen haftet für Vermögensschäden erst bei vorsätzlicher Falschbegutachtung über § 826 BGB (OLG Hamm, NJWRR 1998, 1686). Ansonsten wurde in der Rechtsprechung nur bei Verletzung der in § 823 Abs. 1 genannten absoluten Rechte Schadenersatz bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Falschbegutachtung anerkannt (OLG Hamm, MDR 1983, 933; VersR 1985, 841). Da die Frage der Vereidigung haftungsrechtlich kein geeignetes Kriterium ist, soll mit § 839a BGB der Unterschied zwischen der Haftung des beeidigten und des nicht beeidigten gerichtlichen Sachverständigen aufgehoben werden. Andere Anspruchsgrundlagen neben § 839a BGB kommen künftig nicht mehr in Betracht. Eine Haftung des beeidigten Sachverständigen für einfache Fahrlässigkeit scheidet dann aus. Eine Haftung aufgrund von § 839a BGB kommt nur im Falle einer gerichtlichen Entscheidung in Betracht. Einigen sich die Parteien vergleichsweise, weil sie durch ein unrichtiges Gutachten fehlgeleitet werden, scheidet diese Anspruchsgrundlage aus. Durch den Verweis auf § 839 Abs. 3 BGB wird klargestellt, dass
1
16
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
auch die schuldhafte Nichteinlegung eines Rechtsmittels zum Haftungsausschluss führt. Für den nichtbeeidigten Sachverständigen stellt die Regelung eine deutliche Haftungsverschärfung dar. Er haftet nun – wenn auch nur bei grober Fahrlässigkeit – für jeden Vermögensschaden, und zwar nicht nur bei Verletzung der in § 823 Abs. 1 genannten besonderen Rechtsgüter. Stimmen in der Literatur (Jacobs, ZRP 2001, 489, 491) weisen daher zu Recht darauf hin, dass bei den Parteien die Versuchung wachsen könnte, nach verlorenem Prozess im Wege des Regresses gegen den gerichtlich bestellten Sachverständigen ihr Glück zu suchen. > Da Haftungshöchstgrenzen und Haftungsbeschränkungen nicht vorgesehen sind, wird mit einer deutlichen Verschärfung des Risikos für den gerichtlich bestellten Sachverständigen gerechnet.
12
Schadenersatzansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB können sich gegen den Sachverständigen ergeben, wenn dieser im Zusammenhang mit seiner Gutachtertätigkeit die ärztliche Schweigepflicht missachtet oder er Tatsachen offenbart, die ihm in nicht öffentlicher Sitzung bekannt geworden sind. §§ 203, 353 und 356 StGB sind Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB. Ersatzpflichtige Schäden kann der Sachverständige auch bei der Vorbereitung des Gutachtens durch eine fehlerhafte Untersuchung eines zu Begutachtenden verursachen, wenn er sie entgegen den Standards der ärztlichen Kunst herbeiführt. Die Verletzung des Eigentums eines anderen kann wohl bei der Begutachtung von technischen Anlagen und Gebäuden, nicht aber bei der von Menschen eintreten.
13
1.4.9 Probleme der Schweigepflicht und des
8 9 10 11
Datenschutzes
14 15 16 17 18 19 20
Schweigepflicht Es besteht Veranlassung, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die ärztliche Schweigepflicht Vorrang vor den Pflichten aus den Datenschutzgesetzen des Bundes und der Länder hat. Es hat den berechtigten Anliegen des Datenschutzes, nämlich den Bürger vor einer missbräuchlichen Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu schützen, ungemein geschadet, dass viele der negativen Entscheidungen, die in der täglichen Arbeit zu fällen sind, mit Restriktionen aus dem Datenschutz begründet werden; Verstöße gegen die Vorschriften des Datenschutzes sind dabei in der Praxis sehr viel seltener als die Verstöße gegen die ärztliche Schweigepflicht. Die ärztliche Schweigepflicht gilt im Außenverhältnis gegenüber jedermann, der nicht in das Arzt-PatientenVerhältnis eingebunden ist. Sie gilt auch für Ärzte untereinander, sofern sie nicht vom Patienten davon entbun-
den sind. Dies wird in der Praxis häufig missachtet. Für den ärztlichen Sachverständigen gelten diese Grundsätze ebenfalls uneingeschränkt schon deshalb, weil er Arzt ist. Der Gutachtenauftrag modifiziert indessen die Schweigepflicht. Der Sachverständige ist berechtigt und verpflichtet, dem Auftraggeber all das mitzuteilen, was zur Erfüllung des Gutachtenauftrages gehört. > In diesem durch den Gutachtenauftrag gesteckten Rahmen unterliegt der Sachverständige keiner Schweigepflicht, sondern ist sogar auskunftspflichtig.
Über Tatsachen, die er anlässlich der Begutachtung des Patienten erfahren hat und die nicht zur Erstellung des Gutachtens erforderlich sind, hat er selbstverständlich zu schweigen, und zwar gegenüber jedermann. Diese Schweigepflicht gilt auch in anderen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren. Auch sog. Drittgeheimnisse, also geheimhaltungswürdige Tatsachen anderer (Bezugs-)personen des zu Begutachtenden, von denen der Sachverständige anlässlich der Begutachtung erfährt, unterliegen der Schweigepflicht. Gleiches gilt auch für Patientenunterlagen. Der Sachverständige hat Anspruch darauf, dass ihm die zur Erstellung des Gutachtens notwendigen Krankenunterlagen überlassen werden. Hierzu hat der zu Begutachtende einzuwilligen. Tut er das nicht und kann der Sachverständige daher sein Gutachten nicht oder nicht vollständig erstatten, so ist diese Weigerung v. a.im Zivilprozess zu würdigen. Einen »Tourismus« von Krankenunterlagen hinter dem Rücken des zu Begutachtenden (auch nicht unter dem Etikett der Amtshilfe) ohne dessen Wissen und ohne dessen Einwilligung darf es nicht geben! Ohne entsprechende Entbindung von der Schweigepflicht ist der Sachverständige nicht befugt, von sich aus Kontakt zu anderen Sachverständigen oder behandelnden Ärzten aufzunehmen. Diese dürfen ihm, nehmen sie die Schweigepflicht ernst, auch keine Auskünfte erteilen, solange sie nicht selbst von ihrer Schweigepflicht entbunden sind. In der Praxis wird der Sachverständige wohl kaum einmal in die Situation kommen, die Schweigepflicht aufgrund einer Güterabwägung zugunsten eines höherwertigen Rechtsgutes brechen zu müssen. Die Begutachtung früherer Patienten ist in der Praxis nicht unproblematisch, weil der Sachverständige das durch diese Behandlung erlangte Wissen nicht ohne Einwilligung des Patienten verwerten darf. Fehlt die Entbindung von der Schweigepflicht, so muss er den Gutachtenauftrag ablehnen, das Gericht ihn von der Gutachtenerstattung entpflichten. Auch für nichtärztliche Sachverständige gilt die Pflicht zur Verschwiegenheit. Auch sie haben Außenstehenden gegenüber über die Begutachtung und ihre Umstände zu schweigen und dürfen das Ergebnis ihrer Begutachtung
17 1.5 Mitwirkung des zu Begutachtenden
keinem anderen als den Beteiligten – keinesfalls jedoch Dritten gegenüber – offenbaren, auch nicht in einem anderen Verfahren der Begutachtung. Die Schweigepflicht gilt auch für eingeschaltete Hilfskräfte bis hin zur Schreibkraft, die das Gutachten erfasst. Sie alle unterliegen einer vom Sachverständigen abgeleiteten Schweigepflicht. Solange der Sachverständige der Schweigepflicht unterliegt, unterliegen auch sie der Schweigepflicht. Lässt der Sachverständige das Gutachten von einer außenstehenden, nicht zu seiner Dienststelle gehörenden Person erfassen, so hat er diese schriftlich zur Verschwiegenheit zu verpflichten. In der Praxis erlebt man immer wieder geradezu haarsträubende Vorgänge, die große Zweifel an der Einhaltung der Schweigepflicht wecken. So versenden gelegentlich Geschäftsstellen von Gerichten immer noch Patientenakten zur Begutachtung einfach an eine andere Behörde, wo sie dann in der allgemeinen Poststelle geöffnet werden. Ein klarer Fall der Schweigepflichtverletzung, weil der zu Begutachtende mit einer derartigen Versendung keinesfalls einverstanden ist. Das gleiche gilt für die Rücksendung nicht mehr benötigter, im gerichtlichen Verfahren verwendeter Krankenakten leider auch immer wieder. Dies alles ist rechtswidrig. Strafrechtlich kann die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht zu einer Verurteilung führen. § 203 StGB ist Antragsdelikt. Daher muss der Betroffenen Strafanzeige erstatten. Es wird ständig vergessen, dass eine Verletzung der Schweigepflicht den Patienten natürlich schädigen und in seinem Persönlichkeitsrecht verletzen kann. Auch hierfür haftet der Verletzer. Berufsrechtlich stellt die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht eine besonders berufsunwürdige Handlung dar, die neben den staatlichen Sanktionen auch solche des Berufsrechts durch die Ärztekammern nach sich ziehen kann.
Maßgabe der prozessualen Vorschriften zu. Bis zum Abschluss des Verfahrens kommt eine Verwertung des Gutachtens etwa durch den Sachverständigen nicht in Betracht. Der Sachverständige ist Beweismittel in dem anhängigen Rechtsstreit, er unterliegt der Schweigepflicht nach § 203 Abs. 2 Nr. 5 StGB, die er durch eine Veröffentlichung des Gutachtens verletzen kann. Außerdem kann sich der öffentlich bestellte Sachverständige mit einer Veröffentlichung des Gutachtens der Verletzung eines Dienstgeheimnisses nach § 353b StGB schuldig machen. Das ärztliche Gutachten kann, sofern es die erforderliche Gestaltungshöhe besitzt, als Sprachwerk nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG Urheberrechtsschutz genießen. Es ist also die Art der Darstellung, die diesen Schutz entstehen lässt, nicht der Inhalt. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind per se nicht schutzfähig. Die Schutzuntergrenze wird bei Schriftwerken seit jeher niedrig angesetzt, sodass in weitem Umfang auch die »kleine Münze« des Urheberrechts geschützt ist. So hat der BGH etwa einem Anwaltsschriftsatz als wissenschaftlichem Werk Urheberrechtsschutz zugebilligt (BGH GRUR 1986, 739). Genießt das Gutachten Urheberrechtsschutz und ist die Verwertung nicht dem Auftraggeber vorbehalten, so darf das Gutachten nur mit Einwilligung des Gutachters verwertet werden (Lippert NJW 1989, 2935). Ausnahmen gelten einmal dann, wenn es sich um amtliche Werke im Sinne von § 5 UrhG handelt, oder wenn das Gutachten nach § 45 UrhG zu Zwecken der Rechtspflege in gerichtlichen Verfahren herangezogen wird, auch dann, wenn es für andere Zwecke erstattet wurde. Derartige Nutzungen hat der Urheber hinzunehmen.
Datenschutz
Die Untersuchung von Personen durch Sachverständige ist ohne gerichtliche Anordnung zulässig, sofern diese Person einwilligungsfähig ist, sie in die Untersuchung einwilligt und die Einwilligung nicht gegen die guten Sitten verstößt. Verweigert im zivilrechtlichen, verwaltungsoder sozialgerichtlichen Verfahren eine Partei die Einwilligung zu ihrer Untersuchung, so können hieraus nach dem Grad der Zumutbarkeit der Untersuchung Schlüsse zu ihrem Nachteil gezogen werden.
Der Sachverständiger ist zur elektronischen Speicherung der für sein Gutachten erhobenen Befunde nur in dem Umfang befugt, wie es der Zweck der Tätigkeit erfordert und wie der zu Begutachtende sein Einverständnis dazu gegeben hat. Der Sachverständige ist also ohne erneute Einwilligung des zu Begutachtenden nicht berechtigt, die erhaltenen Daten zu veröffentlichen oder in anderen Gutachten weiterzuverwenden. Nur völlig anonymisiert darf er sich die Daten zunutze machen, sofern sichergestellt ist, dass eine Reidentifikation ausgeschlossen ist.
1.5
Mitwirkung des zu Begutachtenden
1.5.1 Untersuchung mit Einwilligung
1.5.2 Ärztliche Untersuchung ohne Einwilligung 1.4.10 Verwertung des Gutachtens
Das Ergebnis eines von einem Gericht oder einer Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen Gutachtens steht den am gerichtlichen Verfahren beteiligten Parteien nach
Ohne Einwilligung oder gar gegen den Willen ist eine ärztliche Untersuchung nur in ganz engen Grenzen zulässig. Bei der Wahl der Untersuchungsmodalitäten ist sowohl der Grundsatz der Zumutbarkeit als auch der der Verhältnismäßigkeit von Methode und Mittel zur Errei-
1
18
1
Kapitel 1 · Rechtliche Grundlagen
chung des Untersuchungszwecks zu beachten (BVerfG NJW 1963, 1597).
Zivilprozess
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die ZPO kennt keine allgemeine Pflicht zur Duldung ärztlicher Untersuchungen durch Parteien und andere Personen, also auch durch Sachverständige. Eine Pflicht zur Duldung besteht ausnahmsweise in allen Fällen, in denen die Feststellung der Abstammung umstritten ist (§ 372a ZPO). Die Beurteilung einer Weigerung, sich ärztlich untersuchen zu lassen, erfolgt letztlich im Zivilprozess über die Beweislastregelungen.
Verfahren nach der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Das FGG enthält keine allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen, wonach ein Verfahrensbeteiligter zur Duldung ärztlicher Untersuchungen verpflichtet wäre. Eine ärztliche Untersuchung ohne Einwilligung des Betroffenen kommt aber etwa bei der Bestellung eines Betreuers für einen Erwachsenen in Betracht, wenn die Notwendigkeit ihrer Anordnung in Frage steht (psychiatrische Begutachtung).
Strafverfahren Am Strafverfahren braucht der Beschuldigte grundsätzlich nicht mitzuwirken. Allerdings kann der Richter, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten, die körperliche Untersuchung des Beschuldigten anordnen, weil sie zur Feststellung von Tatsachen erforderlich ist. Ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig sind Eingriffe in die körperliche Integrität, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen werden, wenn kein Nachteil für die Gesundheit des Beschuldigten zu befürchten ist. Dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Dieser Grundsatz verlangt, dass die Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich ist und dass der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und zur Stärke des bestehenden Tatverdachts steht (BVerfG NJW 1970, 505). Unzulässig sind Eingriffe, die besonders gefährlich, wegen der Begleitumstände unzumutbar oder von zweifelhaftem diagnostischem Wert sind. Die vorzunehmende Maßnahme ist im Beschluss ausdrücklich zu benennen. Durchzuführen ist sie von einem Arzt. Welche Untersuchungen zulässig oder unzulässig sind, unterliegt naturgemäß auch dem medizinischen Fortschritt. Zulässig dürften die Entnahme von Blut, Urin und Schleimhaut, auch Haaren sein. Unzulässig wegen der damit verbundenen Gefährdung des Beschuldigten ist die Angiographie und die Entnahme von Liquor, auch die von Urin mittels eines Katheters (s. Liste bei Kleinknecht, Meyer-Goßner, StPO, § 81a Rz. 20 ff.)
Nach § 81c StPO können auch andere Personen ohne ihre Einwilligung körperlich auf Spuren oder Folgen einer Straftat untersucht werden. Die betreffenden Personen können die Untersuchung aus denselben Gründen verweigern, aus denen ein Zeuge die Aussage verweigern darf.
Sozialrechtliches Verfahren Die oben genannten Grundsätze für eine Mitwirkung am Verfahren ggf. durch eine ärztliche Untersuchung sind gesetzlich für das sozialrechtliche Verfahren in §§ 62 ff. SGB I geregelt worden. Wer Sozialleistungen beantragt, soll sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen oder psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit dies für die Entscheidung über die Leistung erforderlich ist. Die Grenzen liegen auch hier in der Zumutbarkeit und der Verhältnismäßigkeit der vorgesehenen Maßnahme. Abgelehnt werden dürfen Maßnahmen, 5 bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, 5 die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder 5 die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten (§ 65 Abs. 2 SGB I). Fehlt ein Weigerungsgrund, so kann die Sozialleistung einstweilen eingeschränkt, gestrichen oder nicht bewilligt werden. Der Träger der Sozialleistung hat sämtliche weniger einschneidenden Erkenntnismaßnahmen zu ergreifen, ehe er zur körperlichen Untersuchung des Betroffenen greift.
Literatur Andreas M (1998) Der Chefarzt als Gutachter. ArztR, S. 209–217 Bender B (1981) Staatshaftungsrecht, 3. Aufl. CF Müller, Karlsruhe Günther H (1989) Nebentätigkeit in der Praxis – Eine Untersuchung zur Interessenkollision an Hand von Berichten über das Bundesgesundheitsamt. ZBR, S. 164–172 Hennies G (1997a) Allgemeine Rechtsgrundlagen der medizinischen Begutachtung. In: Marx HH, H Klepzig (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart, S. 10–45 Hennies G (1997b) Rechtsgrundlagen für die Begutachtung in der Kranken- und Rentenversicherung und der Arbeitsförderung. In: Marx HH, H Klepzig (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart, S. 74–87 Hennies G (1997) Rechtsgrundlagen der Begutachtung zu der Unfallversicherung, der sozialen Entschädigung und nach dem Schwerbehindertengesetz – Rechtsbegriffe. In: Marx HH, H Klepzig (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart, S. 113–126 Jacobs G (2001) Haftung des gerichtlichen Sachverständigen. ZRP: 489, 491 Jessnitzer K, Frieling G (1992) Der gerichtliche Sachverständige, 10. Aufl. Heymans, Köln Jessnitzer K, Ulrich J (2001) Der gerichtliche Sachverständige, 11. Aufl. Heymanns, Köln Kleinknecht T, L Meyer-Goßner (2002) StPO 45. Aufl. Beck, München
19 1.5 Mitwirkung des zu Begutachtenden
Laufs A (1993) Arztrecht, 5. Aufl. Beck, München Lippert H-D, B-R Kern (1993) Arbeits- und Dienstrecht der Krankenhausärzte von A–Z, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Lippert H-D (1989) Wem stehen die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens zu? NJW: 2935 Lippert H-D (1990) Urheberrecht an Krankenunterlagen. DMW: 1119– 1121 Lippert H-D (1994) Der Sachverständige und sein Gutachten. DMW: 482–484 Lippert H-D (1994) Der Krankenhausarzt als Urheber. MedR: 135–140 Marx HH, H Klepzig (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten, 7. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Palandt O (2006) Kommentar zum BGB, 65. Aufl. Beck, München Piechowiak H (1997) Praktische Hinweise zur Begutachtung in der Kranken- und Pflegeversicherung und der Arbeitsverwaltung. In: Marx HH, H Klepzig (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart Ne Yorkl, S. 90–107 Rieger H-J (1984) Lexikon des Arztrechts. de Gruyter, Berlin Schönke A, H Schröder (2001) StGB, Kommentar, 26. Aufl. Beck, München Stelkens P, H J Bonk, M Sachs (1997) Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 5. Aufl. Beck, München Tröndle H, T Fischer (2001) StGB, Kommentar, 50. Aufl. Beck, München von Westphalen F (1989) Produkthaftungshandbuch, Bd 1 und 2. Beck, München
1
21
Grundbegriffe der Begutachtung W. Eisenmenger, H.-D. Lippert, U. Wandl
2.1
Kausalität – 23
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Allgemeine Aspekte des Kausalitätsbegriffs Sozialversicherungsrecht – 23 Strafrecht – 24 Zivilrecht – 25
2.2
Verschulden – 25
2.2.1 2.2.2
Strafrecht – 25 Zivilrecht – 26
2.3
Krankenversicherung – 27
2.3.1 2.3.2
Soziale Krankenversicherung – 27 Private Krankenversicherung – 28
2.4
Unfallversicherung – 30
2.4.1 2.4.2
Gesetzliche Unfallversicherung – 30 Private Unfallversicherung – 31
2.5
Rentenversicherung – 32
2.5.1 2.5.2
Gesetzliche Rentenversicherung – 32 Private Rentenversicherung (Berufsunfähigkeitsversicherung) – 34
2.6
Pflegeversicherung – 37
2.6.1 2.6.2
Gesetzliche Pflegeversicherung – 37 Private Pflegeversicherung – 38
2.7
Schwerbehindertenrecht – 40
2.8
Arbeitsförderung
2.9
Soziales Entschädigungsrecht – 40
2.10
Strafrecht – 41
2.10.1 2.10.2 2.10.3 2.10.4
Schuldfähigkeit – 41 Verhandlungsfähigkeit – 42 Vollzugstauglichkeit – 42 Gewahrsamsfähigkeit – 42
– 40
– 23
2
22
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
2.11
Bürgerliches Recht – 42
2.11.1 2.11.2 2.11.3 2.11.4 2.11.5
Geschäftsfähigkeit – 42 Testierfähigkeit – 43 Betreuungsbedürftigkeit – 43 Vaterschaft – 43 Einstellungsuntersuchung – 44
2.12
Verwaltungsrecht – 44
4
2.12.1 2.12.2
Straßenverkehrsrecht Beamtenrecht – 45
5
Literatur
1 2 3
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
– 45
– 44
23 2.1 Kausalität
)) In diesem Kapitel werden wichtige Rechtsbegriffe erläutert, die für die Erstattung von Gutachten in den unterschiedlichen Rechtsgebieten der sozialen wie der privaten Versicherungszweige wichtig sind und deren Bedeutung dem Sachverständigen bei der Erstellung seines Gutachtens gewärtig sein muss.
2.1
Kausalität
Die medizinische Empirie liefert in aller Regel zu Kausalitätsfragen nur Aussagesicherheiten im Bereich von Wahrscheinlichkeitsgraden. Je nach den Regulierungszielen der Rechtsbereiche – Straf-, Zivil- oder Sozialrecht – sind die Anforderungen an die Beweissicherheit und damit an den Kausalitätsnachweis unterschiedlich. Dies muss der Gutachter wissen und berücksichtigen, um seinen Auftrag ordnungsgemäß erfüllen zu können.
2.1.2 Sozialversicherungsrecht
In diesem Kapitel werden Zusammenhangsfragen dargestellt, Fragen, bei denen es u. a. um den Nachweis von Folgen bestimmter Ereignisse geht. Diese Fragen müssen im Strafrecht hinsichtlich der Schuldhaftigkeit behandelt werden. Hier gilt die Äquivalenztheorie. Im Zivilrecht gilt die Adäquanztheorie. Hier geht es häufig um Abzüge von Versicherungsleistungen, z. B. nach Unfällen, bei bereits bestehenden Erkrankungen. Im Sozialrecht gilt die Relevanztheorie. Hier wird, unter mehreren konkurrierenden Bedingungen für eine Folge, die wesentliche Bedingung ermittelt.
Relevanztherorie oder Theorie der wesentlichen Bedingung im Sozialrecht
2.1.1 Allgemeine Aspekte des
Richtungsweisende Verschlimmerung unfallunabhängiger Leiden
Kausalitätsbegriffs Wesentliche Fragestellung vieler ärztlicher Begutachtungen ist die Klärung des ursächlichen Zusammenhangs (Kausalität) zwischen einem Ereignis und einer Erkrankung bzw. Gesundheitsschädigung. Das medizinisch-naturwissenschaftliche Denken leitet sich hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs primär vom naturwissenschaftlichen Kausalitätsprinzip ab, wonach jede Veränderung eine Ursache hat. Ein Ereignis wird als an eine Summe von Umständen geknüpft aufgefasst. Bei Abwesenheit oder unvollständiger Anwesenheit dieser Umstände wird erwartet, dass das Ereignis nicht eintritt; umgekehrt wird bei ihrer Anwesenheit erwartet, dass das Ereignis mit Notwendigkeit eintreten werde. Da dieses Prinzip aber bereits in den reinen Naturwissenschaften zu relativieren ist, kann es nicht verwundern, dass es sich auf den Menschen und hier speziell auf dessen Gesundheit oder Krankheit nur mit Einschränkungen anwenden lässt. Die soziale Ordnung verlangt allerdings Entscheidungen, die gerecht und vernünftig sein sollen. Die Voraussetzungen hierfür liefert das Recht, die Rechtsprechung liefert die Endergebnisse. Da sich gezeigt hat, dass sich das naturwissenschaftliche Kausalitätsprinzip nicht in seiner Absolutheit auf juristische und medizinische Fragestellungen, speziell auf die Klärung der Ursächlichkeit bei Gesundheitsschäden, übertragen lässt, mussten juristische Kausalitätstheorien geschaffen werden, die die Rechts- und Sozialordnung garantieren.
Die Kausalitätsnorm im Sozialrecht gründet auf der sog. Relevanztheorie. Die Rechtsprechung hat hierzu ausgeführt (BSGE 1, 72), dass als Ursachen und Mitursachen – unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes – nur die Bedingungen anzusehen sind, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Man spricht deshalb auch von der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung. Unter mehreren konkurrierenden Bedingungen ist die wesentliche zu ermitteln und festzulegen.
Wichtig ist, dass ein Unfallereignis auch dann als kausal angesehen wird, wenn es ein unfallunabhängiges Leiden richtungsweisend verschlimmert hat. Insofern weicht die Kausalitätsnorm bei Unfällen, die von Sozialversicherungen entschädigt werden, von der Kausalitätsnorm ab, die greift, wenn es um Leistungen privater Unfallversicherungen geht. Wie oben dargestellt, kommt es bei Letzteren nämlich zu einer Minderung der Leistungen um den prozentualen Anteil vorbestehender, unfallunabhängiger Leiden, während solche Abzüge im Sozialversicherungsrecht nicht zulässig sind.
Alkoholisierung als rechtlich wesentliche Ursache Von großer praktischer Bedeutung ist die Wirkung einer Alkoholisierung bei Unfällen. Gerade bei Wegeunfällen mit Kraftfahrzeugen wird häufig der Gutachter gefragt, ob die Alkoholisierung die rechtlich allein wesentliche Ursache war (obwohl die Frage nach der rechtlichen Einordnung keine medizinische ist). Man beurteilt diese Frage sinnvollerweise so, dass man überlegt, ob ein nüchterner Kraftfahrer bei gleicher Sachlage wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. Dieses Prinzip ist auch auf Arbeitsunfälle Alkoholisierter anzuwenden.
2
24
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
Lebensverkürzung durch Unfall oder Berufskrankheit Ein ebenfalls häufig auftauchendes Problem ist die Beurteilung des Zusammenwirkens von Unfall bzw. Berufskrankheit und natürlichem Leiden beim Tod eines Versicherten. Um hier unwesentliche Belastungen, z. B. durch ein Bagatellereignis, von wesentlichen Belastungen abzugrenzen, hat die Rechtsprechung eine Normierung getroffen: Eine Berufskrankheit oder ein Unfall sind dann als wesentlich und somit als Ursache oder Mitursache anzusehen, wenn dadurch der Tod um mindestens ein Jahr vorverlegt, d. h. die Lebenserwartung des Betroffenen um mindestens ein Jahr verkürzt wurde. Eine solche Abschätzung zu treffen, ist für den Arzt manchmal außerordentlich schwierig. Der Gutachter muss sich hierzu mit der allgemeinen Lebenserwartung bei bestimmten Leiden auseinandersetzen. Als Beispiel sei ein Todesfall bei bestehender fortgeschrittener Leberzirrhose angeführt, bei dem eine gewerbliche Vergiftung durch Einatmung von Halogenkohlenwasserstoffen erfolgt ist. Wenn es, nach primär erfolgreicher Behandlung der Auswirkungen an den Lungen, zu einem Leberversagen kommt, wird die Abschätzung der Verkürzung der Lebenszeit wesentlich davon abhängen, ob die Zirrhose bereits klinisch manifest (Aszites, Ösophagusvarizenblutungen) war oder nicht.
Nachweissicherheit und Wahrscheinlichkeitsgrade Da es der Sinn des Sozialrechtes ist, soziale Härten zu verhindern bzw. auszugleichen, kann für die Beweisanforderung im Sozialrecht nicht das gleiche gelten wie im Strafoder Zivilrecht. Es wäre sonst dem Antragsteller, der beweispflichtig ist, nur schwer möglich, seine Ansprüche durchzusetzen, zumal bei vielen ätiopathogenetischen Problemen Kausalitätsfragen nicht oder nur schwer zu beantworten sind. Es genügt deshalb im Sozialrecht, wenn der Antragsteller mit Wahrscheinlichkeit belegen kann, dass zwischen einem schädigenden Ereignis und seinem Gesundheitsschaden ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Wahrscheinlichkeit ist nach einem obergerichtlichen Urteil »das Fürwahrhalten aus unzulänglichen Gründen«. Die obergerichtliche Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre eine Reihe von Wahrscheinlichkeitsgraden definiert. Als wahrscheinlich wird die Kausalität dann bezeichnet, wenn mehr für als gegen die ursächliche Verknüpfung zwischen Ereignis und Schaden spricht. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass man bei mehr als 50% Richtigkeitserwartung der Aussage von Wahrscheinlichkeit ausgehen kann. Wenn das Für und Wider einer Annahme völlig gleich ist, die Gründe sich also die Waage halten, spricht man von Unentschiedenheit, was einem prozentualen Verhältnis von 50% zu 50% entspricht.
Als unwahrscheinlich wird ein Zusammenhangbezeichnet, wenn mehr Gründe dagegen als dafür sprechen, womit ein Prozentgehalt von weniger als 50% umschrieben wird. Der höchste Wahrscheinlichkeitsgrad ist die »an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit«. In Prozenten ausgedrückt ist dies allerdings nicht 100%, sondern 99,97%. Zwischen diesem Grad der Wahrscheinlichkeit und der einfachen Wahrscheinlichkeit sind durchaus Abstufungen möglich, wie z. B. »sehr wahrscheinlich« oder »äußerst wahrscheinlich«, ohne dass dies allerdings in konkreten Prozentangaben festgeschrieben wäre. Bei Verwendung dieser Begriffe geht man allerdings davon aus, dass die Richtigkeit der Annahme in der Größenordnung von etwa 90% liegt. Der niedrigste Wahrscheinlichkeitsgrad ist dann verwirklicht, wenn eine Annahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.
2.1.3 Strafrecht
Die Bedingungs- oder Äquivalenztheorie im Strafrecht Im Strafrecht gilt die Bedingungstheorie. Als ursächlich gilt jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg (in der Medizin: der »negative Erfolg« = Schaden) entfiele. Man spricht auch von »conditio sine qua non«. Da alle Bedingungen als gleichwertig (äquivalent) angesehen werden, wird die Theorie auch als Äquivalenztheorie bezeichnet.
Beispiel Autounfall mit Todesfolge Ein älterer Fußgänger wird von einem schleudernden Pkw erfasst und erleidet einen Unterschenkelbruch sowie eine Commotio. Er wird stationär aufgenommen, der Bruch operativ versorgt. Aufgrund des hohen Lebensalters gelingt es nur langsam, den Patienten zu mobilisieren. Trotz Thromboseprophylaxe stirbt er nach 8 Tagen plötzlich. Die Sektion ergibt eine Lungenembolie nach Schenkelvenenthrombose im verletzten Bein. Gravierende Vorerkrankungen der Beinvenen liegen nicht vor.
6
25 2.2 Verschulden
Bewertung. Es handelt sich hier um eine einfache Kausalkette: Für die Entstehung von Thrombosen werden im Wesentlichen 3 Gründe diskutiert (Virchow-Trias): 5 entzündliche Vorgänge der Gefäßwand, 5 Störungen der Strömungsverhältnisse in den Gefäßen, 5 Blutgerinnungsstörungen im Sinne erhöhter Gerinnbarkeit. Im vorliegenden Falle ist es durch die Kollisionsverletzung zu erheblichen Blutungen in die Weichteile gekommen, außerdem zur stationären Ruhigstellung. Erfahrungsgemäß führen diese Veränderungen zu einer Störung der Strömungsverhältnisse in den Beinen, speziell im Einzugsbereich erlittener Verletzungen. Andere Ursachen konnten ausgeschieden werden. Es bestehen somit zwischen verletzungsbedingter Blutung, stationärer Ruhigstellung im Bett, Beeinträchtigung der Strömungsverhältnisse in den Beingefäßen, Bildung einer Schenkelvenenthrombose und Auftreten einer Lungenembolie mit Tod ursächliche Zusammenhänge, sodass der Tod als mittelbare Folge der Unfallverletzung zu bezeichnen ist. Würde man sich das Unfallereignis hinwegdenken, wäre der Tod zu dem Zeitpunkt, zu dem er eingetreten ist, und unter den beobachteten Umständen nicht eingetreten.
2.1.4 Zivilrecht
Adäquanztheorie im Zivilrecht Im Zivilrecht gilt die Adäquanztheorie. Es muss ein Ereignis nach der allgemeinen Lebenserfahrung – »normalerweise« – geeignet (adäquat) gewesen sein, um zu einer bestimmten Folge bzw. Gesundheitsschädigung zu führen. Wenn ein Schaden nur eine weit entfernt liegende Möglichkeit der Folge eines Verhaltens darstellt, sodass mit dieser Möglichkeit nach vernünftiger Lebensauffassung und Erfahrung nicht gerechnet werden konnte, gilt die Bedingung als nicht kausal. Das Reichsgericht hat dies so umschrieben (RGZ 133, 126), dass eine Handlung oder Unterlassung dann adäquat sei, wenn sie im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung eines Erfolges geeignet war.
Zurechnungszusammenhang bei vorbestehendem Leiden Ein Zurechnungszusammenhang wird bejaht, wenn der Schaden z. B. durch eine spezielle konstitutionelle Schwä-
che des Geschädigten ermöglicht oder aggraviert worden ist. Wenn z. B. ein Bechterew-Kranker bei einem Auffahrunfall eine HWS-Fraktur erleidet, obwohl der Aufprall nur mit ganz geringer Geschwindigkeit erfolgte (Geschwindigkeitsänderung Δv<10 km/h), so wird der Kausalzusammenhang bejaht, denn der Schädiger hat keinen Anspruch darauf, nur auf gesunde Personen zu treffen. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht für ungewöhnliche, keinesfalls zu erwartende Verläufe. So wird ein Herzinfarkt nach einer Auseinandersetzung über einen Verkehrsunfall nicht als adäquate Folge angesehen
Zurechnungszusammenhang bei Fehlverhalten Dritter Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bewertung ärztlichen Fehlverhaltens innerhalb einer Kausalkette. Wenn z. B. bei einem fremdverschuldeten Verkehrsunfall jemand einen Unterschenkelbruch erleidet und sich durch einen ärztlichen Sorgfaltspflichtverstoß eine Pseudarthrose der Frakturstelle entwickelt, die trotz langwieriger weiterer Behandlungsschritte zu einer Fehlstellung oder Verkürzung des Beines führt, so ist der Unfall kausal für dieses Endergebnis. Denn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens muss mit Fehlern bei der ärztlichen Behandlung gerechnet werden. Lediglich wenn ein völlig außerhalb der Lebenserfahrung liegender Kunstfehler vorgekommen wäre, wäre die Kausalitätskette unterbrochen.
Beweislast und Nachweissicherheit Die Anforderungen an die Sicherheit des Nachweises der ursächlichen Verbindung eines Fehlverhaltens mit einem Schaden sind im Zivilrecht primär nicht geringer als im Strafrecht, d. h. denjenigen, der etwas behauptet (Kläger), trifft die Pflicht des Nachweises. Ist es nicht möglich, den Beweis zu erbringen, kann das Gericht eine Beweiserleichterung zulassen, nach dem Beweis des ersten Anscheins. Ist ein Fehlverhalten des Beklagten nachgewiesen, kann das Gericht dem Kläger weitere Beweiserleichterungen beim Kausalitätsnachweis bis hin zur Umkehr der Beweislast zubilligen, sodass der Beklagte beweisen muss, dass der Schaden auch eingetreten wäre, wenn kein Fehlverhalten erfolgt wäre.
2.2
Verschulden
2.2.1 Strafrecht
Verschulden und Nachweissicherheit Allerdings können nur solche Bedingungen einem Verursacher zugerechnet werden, die er schuldhaft verursacht hat. Ein Verschulden kann vorsätzlich oder fahrlässig, jeweils mit Abstufungen, sein (Übersicht).
2
26
1 2 3 4 5 6
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
Verschulden 5 Vorsätzlich bedeutet: Mit vollem Wissen und Wollen das Ergebnis herbeizuführen. 5 Bedingt vorsätzlich bedeutet: Das Ergebnis zwar nicht direkt anzustreben, aber es billigend in Kauf zu nehmen. 5 Bewusst fahrlässig bedeutet: Das Ergebnis aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten ins Kalkül gezogen zu haben, aber darauf vertraut haben, dass es nicht eintritt. 5 Fahrlässig bedeutet: Das Ergebnis nicht vorhergesehen zu haben, obwohl es einem bei zumutbarer Überlegung möglich gewesen wäre. Allen diesen Varianten ist gemeinsam, dass das Ergebnis für den Verursacher vorhersehbar gewesen sein muss.
7 8 9 10 11
Der Nachweis der Kausalität muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geführt werden. Dies ist zwar keine mathematische Sicherheit entsprechend 100%, es müssen aber »vernünftige Zweifel schweigen«. Die hohe Anforderung an die Aussagesicherheit kommt v. a. den beschuldigten Ärzten in Behandlungsfehlerprozessen zugute, da sich selten der Verlauf einer Krankheit in die Zukunft extrapolieren lässt, wenn man die Vielzahl denkbarer natürlicher Komplikationen berücksichtigt.
Kausalitätsbegutachtung. Das Unterlassen weiterer Diagnostik, speziell einer Röntgenaufnahme des Schädels, stellt sich als Sorgfaltspflichtverstoß dar. Wäre der Krankheitsverlauf ein anderer gewesen, wenn eine Röntgenaufnahme gefertigt worden wäre? 5 Nicht jeder Schädelbruch ist auf einer Röntgenaufnahme sicher zu erkennen. Wäre es dieser gewesen? Es lag eine Verwerfung der Tabula externa vor, die in der a.-p.-Aufnahme sicher zu sehen war. 5 Was hätte sich in der Behandlung dadurch geändert? Man hätte stationär aufnehmen und beobachten müssen. Bei neurologischen Symptomen: Operation oder Verlegung zum CT. 5 Wäre durch die Operation der Tod vermieden worden? Die postoperative Mortalität des epiduralen Hämatoms beträgt laut Statistiken mindestens 4%. Somit kann nicht gesagt werden, dass der Patient 100%ig überlebt hätte. Fazit. Trotz Verstoß gegen die Regeln der Sorgfaltspflicht kann nicht gesagt werden, dass der Tod mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre, wenn die Regeln der ärztlichen Kunst eingehalten worden wären.
12
Beispiel Alkoholisierter Patient stirbt nach Klinikentlassung
Beweislast und Nachweissicherheit
13
In die Ambulanz eines Krankenhauses wird ein Patient gebracht, der bewusstlos auf der Straße lag.
Die in 7 Kap. 2.1.4 dargestellten Bestimmungen zur Beweislast und Nachweissicherheit gelten auch hier.
14 15 16 17 18 19 20
Aufnahmebefund. Somnolent und ansprechbar, starke Alkoholfahne. Der aufnehmende Arzt erfährt vom Patienten, dass dieser größere Mengen Bier getrunken habe. Keine äußerlich sichtbare Verletzung. Während der palpatorischen Untersuchung am Schädel und grober Prüfung des neurologischen Status erscheint die Mutter des Patienten und gibt an, dass dieser, nach zurückliegendem Schädel-Hirn-Trauma, nach Alkoholgenuss öfter Krampfanfälle erleide. Unter Hinweis auf zahlreiche gleichartige Krankenhauseinlieferungen bittet die Mutter, den Patienten zu entlassen, damit er seinen Rausch zu Hause ausschlafen könne. Der Arzt bricht daraufhin die Diagnostik ab und entlässt den Patienten. Dieser liegt am nächsten Morgen tot im Bett. Sektionsbefund. Epidurales Hämatom nach parietotemporaler Kalottenfraktur. 6
2.2.2 Zivilrecht
Minderung der Versicherungsleistung in der privaten Unfallversicherung In der privaten Unfallversicherung bestimmen die allgemeinen Versicherungsbedingungen, dass bei Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen an den eingetretenen Unfallfolgen die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu kürzen ist, sofern dieser Anteil einen Mindestprozentsatz erreicht. Dies führt häufig dazu, dass vom ärztlichen Sachverständigen eine Schätzung verlangt wird, welchen Anteil unfallunabhängige Leiden an einem Krankheitsbild haben. Das bedeutet, dass der Gutachter eine Wertung mit konkreten Zahlenangaben vornehmen muss. Erwartet werden Prozentzahlen hinsichtlich der Teilkomponenten eines komplexen Krankheitsgeschehens. Jedem Gutachter muss klar sein, dass solche Schätzungen nur grob und generalisierend sein können.
27 2.3 Krankenversicherung
2.3.1 Soziale Krankenversicherung
> Als Behandlungserfolg muss nicht vollständige Heilung erreichbar sein. Es genügt eine begründete Aussicht auf Besserung oder wenigstens Linderung der Beschwerden.
Krankheit
Arbeitsunfähigkeit
Ein Versicherter erhält nur dann Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn er krank ist. Krank ist ein Versicherter nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wenn er unter einem regelwidrigen körperlichen Zustand leidet, der entweder die Behandlungsbedürftigkeit oder die Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat (BSGE 13, 134; 59, 119; Höfler in: Kassler Kommentar, § 27 SGB V, Rz. 9 ff.) Es handelt sich bei dem Begriff der Krankheit um einen rechtlichen Zweckbegriff, nicht um eine medizinische Definition. Er hat den Sinn, das Risiko festzulegen und zu offenbaren, was die Leistungspflicht auslöst. Für das Feststellen der Regelwidrigkeit ist vom Leitbild des gesunden Menschen auszugehen, der zur Ausübung normaler körperlicher und psychischer Funktionen in der Lage ist (BSGE 35, 10). Eine Abweichung von dieser Norm führt zur Regelwidrigkeit, wobei es sich um eine erhebliche Abweichung handeln muss. Auf natürlichen Entwicklungen (Altersgebrechlichkeit, Schwangerschaft etc.) beruhende Schwächezustände oder Beschwerden stellen keine Krankheiten dar. Den Krankheitsbegriff erfüllt auch ein hinreichend konkreter Krankheitsverdacht. Dieser Zustand muss Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit verursachen. Dies ist dann der Fall, wenn der regelwidrige körperliche oder geistige Zustand im Verhältnis zu anderen Einzelbedingungen wegen seiner besonderen Beziehung zu Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit diese wesentlich mitbewirkt hat (BSGE 33, 202 = NJW 1972, 1157). Behandlungsbedürftigkeit liegt vor, wenn durch den regelwidrigen Gesundheitszustand körperliche oder geistige Funktionen in so beträchtlichem Maße eingeschränkt sind, dass ihre Wiederherstellung der Mithilfe des Arztes bedarf (BSGE 26, 240). Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsfähigkeit müssen gegeben sein, und sie müssen mit den Behandlungszielen des § 28 SGB V in Verbindung gebracht werden. Ziel der ärztlichen Behandlung ist es, den regelwidrigen Gesundheitszustand zu erkennen, zu heilen, Verschlimmerungen zu verhindern oder Beschwerden zu lindern. In Fällen, in denen noch keine Funktionsstörungen eingetreten sind, genügt zur Behandlungsbedürftigkeit die Prognose, dass sich unbehandelt der Gesundheitszustand verschlechtern würde und dass durch möglichst frühzeitige Behandlung dieser Verschlechterung entgegengewirkt werden kann (Hennies 1997b, S. 76).
Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Arbeitnehmer infolge Krankheit daran gehindert ist, die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegende Tätigkeit zu verrichten, oder wenn er die Tätigkeit nur unter der Gefahr, seinen Zustand in absehbar naher Zukunft zu verschlechtern, fortsetzen kann und deshalb die Arbeit vorzeitig niederlegt (BAGE 7,144; BSGE 26, 288). Zwischen der Krankheit und der Unfähigkeit, Arbeit zu leisten, muss Kausalität bestehen. Der Begriff findet sich nicht im Gesetz, sondern ist in langer Rechtsprechung (auch für das Rentenrecht) entwickelt worden. Zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit muss geklärt werden, welche Tätigkeit der Arbeitnehmer zuletzt verrichtet hat und ob er diese oder eine ähnlich geartete Tätigkeit nach dem derzeitigen Gesundheitszustand noch ausführen kann. Bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis konzentriert sich die gutachterliche Beurteilung auf die letzte ausgeübte Tätigkeit. Das beim Versicherten festgestellte, individuelle Leistungsprofil wird am beruflichen Anforderungsprofil gemessen. Ist das Arbeitsverhältnis gelöst und besteht Arbeitslosigkeit, so richtet sich die Begutachtung an den Normen des Arbeitsförderungsrechts aus.
2.3
Krankenversicherung
Dienstunfähigkeit Der Begriff der Dienstunfähigkeit gilt einheitlich für das Beamtenrecht in Bund und Ländern und erfasst alle Beamten, Richter; Soldaten sowie Wehr- und Zivildienstleistende. Näheres dazu findet sich in Abschnitt 2.03.04 zum Beamtenrecht. Dienstunfähigkeit bezieht sich auf ein bestimmtes Amt und stellt nicht auf generelle Erwerbsfähigkeit ab. Einem Beamten kann ein anderes Amt derselben oder einer anderen Laufbahn übertragen werden, und zwar auch ohne seine Zustimmung, wenn mit diesem Amt mindestens dasselbe Endgrundgehalt verbunden ist und außerdem zu erwarten ist, dass der Beamte den Anforderungen genügt. > Cave: Der Begriff der Dienstunfähigkeit im Beamtenrecht darf nicht mit dem der Dienstunfähigkeit in § 7 BAT (= jetzt § 3 Abs. 4 TVöD) verwechselt werden. Dort ist er identisch mit Arbeitsunfähigkeit.
Rehabilitation Nicht nur im Bereich der Rentenversicherung, sondern auch in der Krankenversicherung gibt es Rehabilitation. Hennies (1997a, S. 35) weist darauf hin, dass sich der juristische Begriff (auf den es hier ankommt) und der medizi-
2
28
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
nische Sprachgebrauch nicht decken. Rehabilitation umfasst alle Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen zu helfen, ihre Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten. Hierzu gehört neben der Eingliederung in Arbeit und Beruf die Vorbeugung gegen drohende Behinderung. Rehabilitation in diesem Sinne umfasst neben der Vorbeugung (Prävention) die Eingliederung (Habilitation) und die Wiederherstellung (Rehabilitation). Die Krankenkassen sind nach dem SGB V zuständig für die Gesundheitsförderung (§ 20), die Verhinderung von Krankheiten (§§ 21–24b), die Früherkennung von Krankheiten (§§ 25, 26) und die Behandlung von Krankheiten (§§ 27–52). In etzterer Funktion ist auch die medizinische Rehabilitation in ambulanter wie stationärer Rehabilitationskur enthalten (§ 40). Das sozialversicherungsrechtliche Leistungsrecht ist insgesamt vom Vorrangprinzip geprägt. Dies bedeutet, dass 5 Prävention vor Rehabilitation rangiert und dass wiederum 5 Rehabilitation vor Rente treten soll. Für die gesetzliche Krankenversicherung bedeutet dies, dass in ihrem Leistungskatalog Leistungen, die einer drohenden Behinderung und Pflegebedürftigkeit vorbeugen, Vorrang vor Leistungen bei Krankheit haben, denn Vorsorgemaßnahmen und Leistungen, die der Rehabilitation dienen, sind vorrangig.
11 2.3.2 Private Krankenversicherung
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Private und gesetzliche Krankenversicherungen sind zwei völlig verschiedene Systeme, deren einzige Gemeinsamkeit die Übernahme von Kosten im Krankheitsfall durch die jeweilige Versicherung ist. Die private Krankenversicherung zählt zu den ältesten Sparten der Versicherungswirtschaft. So wurden 1845 die ersten Krankenkassen durch die Preußische Allgemeine Gewerbeordnung zugelassen und gegründet. 1883 wurde im Zuge Sozialgesetzgebung Bismarcks die Krankenversicherung als erster Zweig der Sozialversicherung eingeführt. Zu dieser Zeit wurden etwa 10% der Gesamtbevölkerung erfasst. Seit diesem Zeitpunkt lässt sich auch klar zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung unterscheiden, denn die nicht von der Versicherungspflicht erfassten Personen sahen sich veranlasst, eine private Entsprechung zu bilden – die private Krankenversicherung. Nach dem totalen Zusammenbruch des gesamten Sozialsystems 1945 und dem Untergang jeglicher Betätigung privater Krankenversicherungsunternehmen wurde 1948 der bizonale Verband der privaten Krankenversicherung gegründet. Der Aufschwung der PKV dauert bis in die Mitte der 1950er-Jahre an und stagniert seit-
dem. Durch Pflichtversicherungen und Öffnung der gesetzlichen Krankenversicherung für Angestellte verzeichnet man viele Abwanderungen aus der PKV.
Was ist versichert? Versichert sind die finanziellen Folgen bei Krankheit. Darunter fallen die medizinisch notwendige Heilbehandlung bei Krankheit oder Unfall sowie Sonderleistungen bei Schwangerschaft, Entbindung und Krankheitsprävention. Besonders absichern lassen sich auch der Pflegefall, stationäre Komfortunterbringung sowie Erstattung von Tagegeldern.
Risikoprüfung Anders als bei der gesetzlichen Krankenversicherung, bei der keine Risikozuschläge und keine Leistungsausschlüsse erhoben werden und bei der Versicherungsschutz vom ersten Tag der Versicherung an besteht, sind die Aufnahmebedingungen privater Krankenversicherer strenger. Er kann entscheiden, wen er versichern will. Es besteht kein Rechtsanspruch auf den Vertragsabschluss. Je nach Gesundheitszustand können Risikozuschläge erhoben oder Wartezeiten festgelegt werden. Auch ein Leistungsausschluss ist möglich. Wenn die Kosten die Einnahmen des privaten Versicherungsunternehmens übersteigen, werden Beitragsanpassungen vorgenommen. Ziel von Versicherungsgesellschaft und Versicherten ist es, die Kosten überschaubar zu halten und Kündigungen nach Vertragsabschluss zu vermeiden. Aus diesem Grund wird vor Vertragsannahme eine Risikoprüfung vorgenommen. Es wird überprüft, ob bei dem Versicherungsnehmer in den nächsten Jahren zu erwarten ist, dass hohe Rechnungen an den Versicherer eingereicht werden. Hierzu müssen Fragen nach dem Gesundheitszustand wahrheitsgemäß beantwortet werden. In der Regel wird nach Arztbehandlungen in den letzten 5 Jahren, Krankenhausaufenthalten in den letzten 10 Jahren, bevorstehenden Behandlungen, fehlenden Zähnen und ohne zeitliche Einschränkung nach schweren Erkrankungen und Behinderungen gefragt. Danach werden ggf. Risikozuschläge erhoben oder der Vertragsabschluss gar ganz abgelehnt. Wurden Gesundheitsfragen nicht umfassend und wahrheitsgemäß beantwortet, kann der Vertrag noch Jahre später gekündigt werden. Um die Zahl der Kündigungen möglichst niedrig zu halten, muss gewährleistet sein, dass die Versicherungsnehmer ihre Beitragszahlungen regelmäßig leisten. Aus diesem Grund werden Anträge von Personen, bei denen dies scheinbar nicht gewährleistet ist, nicht angenommen (z. B. Arbeitslose, Personen mit Haftbefehlen, Umschüler, Ausländer ohne längerfristige Aufenthaltsgenehmigung, Personen ohne festen Wohnsitz, Personen mit Vertragskündigung wegen Nichttzahlung durch den vorherigen Krankenversicherer, bestimmte Berufsgruppen mit unre-
29 2.3 Krankenversicherung
gelmäßigem Einkommen und hoher beruflicher Gefährdung). Die Risikoprüfung einer Versicherungsgesellschaft ist aber immer individuell. Aus diesem Grund ist es möglich, dass Personen mit mehreren gleichzeitig gestellten Anträgen bei der einen Gesellschaft ohne weiteres angenommen, bei einer anderen mit Zuschlag versichert und bei einer dritten sogar ganz abgelehnt werden können. In Zweifelsfällen können auch Probeanträge gestellt werden.
unterliegen. Dies bedingte, dass sich v. a. folgende Personengruppen privat krankenversichern können: 5 Arbeitnehmer mit einem Bruttojahreseinkommen von mindestens 46.350 Euro (Bemessungsgrenze), 5 Freiberufler und Selbstständige, 5 Beamte und Beamtenanwärter, 5 nicht versicherungsplichtige Studenten, 5 Ärzte im Praktikum, 5 Zeitsoldaten nach Abschluss ihrer Dienstzeit und 5 Personen, die für längere Zeit ins Ausland gehen.
Beitragsberechnung
Dies hat sich im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung geändert. Danach müssen die Unternehmen der privaten Krankenversicherung ihren Kunden einen Basistarif anbieten und bei einem Wechsel von einem Anbieter zu einem anderen den Transfer der Alterungsrückstellung ermöglichen. Die Neuregelung tritt zum 1. Januar 2009 in Kraft.
In der privaten Krankenversicherung wird der zu leistende Beitrag immer individuell berechnet. Dies bedeutet, dass die Beitragszahlungen abhängig sind vom Umfang des gewünschten Versicherungsschutzes und von personenbezogenen Kriterien (Eintrittsalter, Geschlecht, evtl. bestehende zuschlagpflichtige Vorerkrankungen) beim Eintritt in die private Krankenversicherung. Da an den personenbezogenen Kriterien nichts zu ändern ist, kann der Beitrag nur durch die Auswahl der Tarife beeinflusst werden. Der Kunde kann zwischen Tarifen mit Grundleistungen und Tarifen mit gehobenen Leistungen unterscheiden, wobei jeder gewünschte zusätzliche Luxus extra bezahlt werden muss. Kostenbewusstes Verhalten, z. B. die Übernahme eines Selbstbehaltes, kann die Versicherungsbeiträge erheblich reduzieren. Der Selbstbehalt kann entweder als absolute Summe, z. B. 500 Euro pro Jahr, oder als prozentualer Eigenanteil bei jeder Rechnung, z. B. 15%, festgelegt werden. Zur besseren Kalkulierung der Kosten ist eine obere Begrenzung der eigenen Zuzahlungen sinnvoll. Zu unterscheiden ist zwischen einem ambulanten Selbstbehalt und einer Summe, die auch bei Rechnungen aus den anderen Bereichen (stationärer Aufenthalt, Rehabilitation) fällig wird. Nicht selten »belohnen« Versicherer auch ihre Kunden, die keine Leistungen eingereicht haben, mit einer Beitragsrückerstattung, Pauschalleistung oder Beitragsreduzierung. Weitere Faktoren, die die Höhe des Beitrages bestimmen, sind z. B. Risikoprämie, Wahrscheinlichkeit von Vertragsstornierungen, aktuelle Sterbetafeln, Rückstellungen, Kosten des Versicherers; sie werden vom Versicherer festgelegt und sind von den Versicherten nicht zu beeinflussen. Immer fließt in den Beitrag noch eine Alterungsrückstellung ein, die bewirkt, dass der Beitrag im Alter nicht zu sehr antsteigt. Die Phase in jungen Jahren wird demnach als Sparphase bezeichnet, im Alter beginnt dann die Entnahmephase, in welcher die Alterungsrückstellungen aufgelöst werden.
Personenkreis Bisher konnte sich nicht jeder privat krankenversichern. Die private Krankenversicherung war nur offen für alle Personen, die nicht der gesetzlichen Versicherungspflicht
Besonderheiten der privaten Krankenversicherung In der privaten Krankenversicherung ist jeder freiwillig versichert, während bei den gesetzlichen Krankenkassen die meisten Versicherten pflichtversichert sind. In der PKV ist der Versicherte selbst Vertragspartner des Arztes. Es besteht freie Arztwahl unter allen niedergelassenen Ärzten. Dies gilt auch für das Krankenhaus oder sonstige Heilbehandler. Der Behandlungsvertrag wird zwischen den beiden Partnern geschlossen. Für jede Leistung erhält der privat Versicherte eine Rechnung, die er überprüfen kann und die Grundlage für die Leistungserstattung ist. In der gesetzlichen Krankenkasse dagegen gilt das Sachleistungsprinzip. Rechnungen werden nicht gestellt. Alle Leistungen werden unmittelbar von der Krankenkasse bezahlt. Häufig sind allerdings Zuzahlungen zu entrichten. Die PKV ermöglicht es den Versicherungsnehmern, sich einzeln und individuell zu versichern. Für jede Person wird ein eigener Versicherungsvertrag mit einem eigenen Beitrag abgeschlossen. Der Versicherungsschutz ist deshalb ebenfalls höchst individuell und stark variierbar. Eine Familienversicherung besteht nicht in der PKV. Ehepartner und Kinder können unter bestimmten Bedingungen mitversichert sein, zahlen aber eigene Beiträge.
Krankenzusatzversicherung Da die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen in letzter Zeit erheblich eingeschränkt wurden, existieren heute zahlreiche und umfangreiche Selbstbeteiligungen sowie deutliche Einschnitte im Leistungskatalog. Private Zusatzversicherungen erweitern die Leistungen der GKV in vielen Bereichen des Versicherungsschutzes. Es bietet sich insbesondere die private Ergänzung folgender Bereiche an:
2
30
1 2 3 4 5
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
5 stationärer Aufenthalt im Ein- oder Zweibettzimmer mit freier Arzt- und Krankenhauswahl, 5 Zahnersatz, 5 Heilpraktiker und andere alternative Heilmethoden, 5 Sehhilfen, 5 Heilmittel, 5 Zusatzversicherungen für ambulante Heilbehandlung, 5 Pflegekostenversicherung, 5 Auslandsreisekrankenversicherung, 5 Krankentagegeld, 5 Krankenhaustagegeld, 5 Pflegetagegeld.
Streitfälle
6 7 8 9 10
Gesetzliche Grundlagen der PKV sind Versicherungsvertragsgesetz und allgemeine Versicherungsbedingungen, welche das Zustandekommen und die Erfüllung des Vertrags verbindlich regeln. Einem Vertrag zur Krankheitskostenvollversicherung liegen, hierarchisch geordnet, folgende Gesetze zugrunde: BGB (Bürgerliches Gesetzbuch), HGB (Handelsgesetzbuch) sowie spezielle Versicherungsgesetze (z. B. Versicherungsvertragsgesetz, allgemeine Versicherungsbedingungen, spezielle Klauseln). > Für Streitfälle in der privaten Krankenversicherung sind die Zivilgerichte, für Streitfälle in der gesetzlichen Krankenversicherung die Sozialgerichte zuständig.
11 2.4
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Berufskrankheit Die Definition der Berufskrankheit findet sich in § 9 SGB VII. Die Bundesregierung bezeichnet durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates eine Krankheit als Berufskrankheit, wenn ein Versicherter sie aufgrund der Ausübung einer versicherten Tätigkeit erleidet. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der Wissenschaft durch besondere Einwirkung verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Die Bundesregierung kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung oder Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Wegeunfall In § 8 Abs. 2 SGB VII sind weitere versicherte Tätigkeiten aufgeführt, bei deren Ausübung es zu Arbeitsunfällen kommen kann, die der Leistungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung unterfallen. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Wegeunfall. Versicherte Tätigkeit ist dabei das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (Ricke in: Kassler Kommentar, Rz. 178 ff.).
Unfallversicherung Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
2.4.1 Gesetzliche Unfallversicherung
Arbeitsunfall Der Begriff ist in § 8 SGB VII definiert. Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels. Sowohl zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis als auch zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden als Folge muss (haftungsbegründende und haftungsausfüllende) Kausalität bestehen. Für die Aufklärung des Sachverhaltes gelten unterschiedliche Beweismaßstäbe: 5 Der Vollbeweis gilt für die versicherte Tätigkeit, den Unfall und den Gesundheitsschaden. 5 Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsschaden im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität gilt die hinreichende Wahrscheinlichkeit.
Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wird in Prozentangaben ausgedrückt – nach Gesetzeslaut in »vomHundert-Sätzen« – und bezeichnet den durch die körperlichen, seelischen und geistigen Folgen des Versicherungsfalles bedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, d. h. dem allgemeinen Arbeitsmarkt. > Es kommt nicht auf den bisherigen Beruf oder die bisherige Tätigkeit an. Damit ist bei identischen Unfallfolgen die MdE prinzipiell dieselbe, sofern nicht besondere Gründe Abweichungen ergeben.
Im Unterschied zur Berufsunfähigkeit oder zur Erwerbsunfähigkeit wird die MdE abstrakt bemessen. Dies bedeutet im Wesentlichen zweierlei: 5 Zum einen kommt es nicht darauf an, ob die Unfallverletzten oder Beschädigten tatsächlich Einkommenseinbußen erlitten haben oder nicht. 5 Zum anderen werden die Auswirkungen der Verletzung oder Berufskrankheit oder Beschädigung nach einer MdE im gesamten Erwerbsleben beurteilt und nicht auf bestimmte Berufstätigkeiten bezogen.
31 2.4 Unfallversicherung
Für die Beurteilung der MdE gibt es seit langem Tabellen, nach denen die Höhe der MdE im Einzelfall festgelegt werden kann. Trotz vielerlei Kritik gegen die Tabellen haben sie sich in der Praxis als geeignete Hilfsmittel durchgesetzt (Hennies 1997c, S. 118 ff.).
. Tab. 2.1. Gliedertaxe Körperteil
Invaliditätsgrad
Arm im Schultergelenk
70
Arm bis oberhalb des Ellbogengelenks
65
Arm unterhalb des Ellbogengelenks
60
Hand im Handgelenk
55
Versichertes Risiko
Daumen
20
Versichert ist eine unfallbedingt eingeschränkte körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit der versicherten Person. Diese hat ununterbrochen innerhalb von 6 Monaten vom Unfalltag an bestanden und besteht noch fort. Sie ist ohne Mitwirkung von Krankheiten und/oder Gebrechen entstanden. Es gibt von den unterschiedlichen Versicherungsgesellschaften verschiedene Angebote, die sich bezüglich der versicherten Komponenten unterscheiden können. Dem Versicherungsnehmer steht es frei, mit welcher Gesellschaft er einen Versicherungsvertrag abschließt und welche Risiken er abgedeckt haben will. In der Regel sind Unfälle, die mit einer Straftat verbunden sind oder die durch kriegerische Ereignisse entstehen, durch Kernenergie hervorgerufen werden oder durch Insektenstiche stattfinden, ausgeschlossen. Wenn nicht anders vereinbart, sind z. B. Unfälle bei Wettrennen mit einem Motorrad oder Rennfahrzeug ausgeschlossen. Unfälle, die sich bei Trunkenheit, Schlaganfällen, epileptischen oder sonstigen generalisierten Krampfanfällen ereignen, sind nicht versichert. Krampfanfälle als Unfallfolge hingegen sind versichert.
Zeigefinger
10
2.4.2 Private Unfallversicherung
Unfallbegriff Ein Unfall liegt vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung oder den Tod erleidet. Die Ereignisse können chemischer oder mechanischer Natur sein und müssen vom Willen des Versicherten unabhängig sein. Als Unfall gilt auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule ein Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder gerissen werden.
Schadenbegriff Bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit von Körperteilen oder Sinnesorganen werden die Invaliditätsgrade nach der Gliedertaxe (. Tab. 2.1) bemessen. Krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen (wie z. B. Aufregung, Schock) fallen nicht darunter, unabhängig davon, wodurch sie verursacht wurden. Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines dieser Körperteile oder Sinnesorgane gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes. Sind mehrere Körperorgane oder Sinnesorgane durch den Unfall beein-
Anderer Finger
5
Bein über der Mitte des Oberschenkels
70
Bein bis zur Mitte des Oberschenkels
60
Bein bis unterhalb des Knies
50
Bein bis zur Mitte des Unterschenkels
45
Fuß im Fußgelenk
40
Große Zehe
5
Andere Zehe
2
Auge
50
Gehör auf einem Ohr
30
Geruchsinn
10
Geschmacksinn
5
trächtigt, so werden die entsprechenden Invaliditätsgrade addiert. Mehr als 100% werden nicht berücksichtigt. Waren vor dem Unfall Körperteile oder Sinnesorgane in ihrer Funktion beeinträchtigt, wird der Invaliditätsgrad um die Vorinvalidität gemindert. Sind andere, in der Gliedertaxe nicht aufgeführte Körperteile oder Sinnesorgane betroffen, so bemisst sich der Invaliditätsgrad danach, in wieweit die normale körperliche oder geistige Leitungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. Dabei sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
Leistungsantrag/Unfallmeldung Nach einem Unfall, der voraussichtlich eine Leistungspflicht herbeiführt, ist unverzüglich ein Arzt hinzuzuziehen und die Versicherung zu unterrichten. (Anmerkung: Schrifterfordernis ist hier nicht gegeben.) Im Anschluss daran wird ein Unfallanzeigeformular von der entsprechenden Versicherung zum Ausfüllen übersandt. Neben der Erfassung der persönlichen Daten muss zum Unfallhergang und zu Art und Ausmaß der Verletzungen, soweit bekannt und vom medizinischen Standpunkt zu dem Zeitpunkt schon beurteilbar, Auskunft erteilt werden. In Abhängigkeit von medizinischen Diagnosen und Prognosen kann der Versicherer ärztliche Unterlagen an-
2
32
1 2 3 4
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
fordern und Ärzte für Begutachtungen benennen. Der Versicherte ist verpflichtet, sich von diesen Ärzten untersuchen zu lassen. Behandelnde Ärzte, Versicherer, Versicherungsträger und Behörden sind zu ermächtigen, alle erforderlichen Auskünfte zu erteilen.
Tod durch Unfall Ein Versterben infolge des Unfalls muss innerhalb von 48 Stunden angezeigt werden, auch wenn der Unfall schon gemeldet war.
Sachverständiger vom Gericht beauftragt wurde, kommt § 407a ZPO zur Anwendung, d. h. in diesen Fällen kann nicht delegiert werden. Sofern der Gutachter von der Versicherung beauftragt wurde, besteht zwischen diesen beiden Parteien ein Auftragsverhältnis. In diesem Fall kann der Gutachter nur dann »delegieren«, wenn er hierzu vom Versicherer eine Genehmigung hat. Die medizinischen Gutachter werden von den Versicherungsgesellschaften angefragt und beauftragt.
Fehlerquellen in medizinischen Gutachten
Leistungsprüfung
5 6 7 8 9 10
5 Untersuchung zu kurz/unter Zeitdruck 5 Unvollständige Exploration 5 Keine klare Trennung zwischen Aktenlage, Angaben des Probanden und Untersuchungsbefunden 5 Ungenaue Transparenz diagnostischer Überlegungen 5 Verwendung einer Privatnomenklatur 5 Fehlende Zuordnung zur ICD-10 5 Unkritische Pauschalierung 5 Fehlerhafte Verwendung juristischer Begriffe 5 Stellungnahme zu Aspekten, die allein in den Bereich richterlicher Kompetenz fallen (z. B. Entscheidung darüber, ob ein Leistungsfall vorliegt)
Die Leistungsprüfung wird von den Versicherern anhand der vorliegenden Unterlagen durchgeführt. Geprüft wird, ob ein Unfall gemäß Definition vorliegt und ob der Antrag bei Versicherungsabschluss wahrheitsgemäß ausgefüllt war. Des Weiteren werden die geltend gemachten Beeinträchtigungen daraufhin geprüft, ob diese gemäß der individuellen Vertragsbedingungen eingeschlossen sind oder Ausschlusskriterien unterliegen.
Invaliditätsgrad Die Festlegung des Invaliditätsgrades erfolgt gemäß der Gliedertaxe (. Tab. 2.1) durch den medizinischen Gutachter. Hierbei ist in Abhängigkeit von der Verletzung u. U. ein fachärztliches Urteil notwendig. Die Invalidität muss innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eintreten sowie spätestens vor Ablauf einer Frist von weiteren 3 Monaten ärztlich festgestellt und geltend gemacht werden.
Leistung
12
Zum Leistungsantrag muss ein ärztliches Zeugnis beigefügt werden, aus dem die Ursächlichkeit des Unfalls für die beklagte Beeinträchtigung hervorgeht.
Die Leistung erfolgt als Zahlung einer Einmalleistung, wobei der Betrag sich nach der Gliedertaxe (. Tab. 2.1) oder den Bewertungsmerkmalen gemäß Bedingungen errechnet. Extra abgeschlossen werden können die Versicherungen von Risiken wie Unfallinvaliditätsrente, Übergangsleistung, Tagegeld, Genesungsgeld, Todesfall.
13
Gutachten
Streitfälle (Zivilrecht)
Bei der Erstellung des Gutachtens sind die Vertragsbedingungen zugrunde zu legen. Es ist darauf zu achten, den ursächlichen Zusammenhang der Verletzungen zum Unfallgeschehen und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Invalidität, Tod, Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit) herzustellen. Der Kausalitätsrahmen ist in der privaten Versicherung weiter als in der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Verletzungen und die dadurch bedingten Einschränkungen müssen im Sinne der Gliedertaxe präzise und spezifisch beschrieben werden. Einschränkungen, die vor dem Unfall schon bestanden haben, müssen ebenso bewertet und vom festgestellten Invaliditätsgrad abgezogen werden. Beträgt der Mitwirkungsanteil der jeweiligen Einschränkung jedoch weniger als 25%, unterbleibt die Minderung.
Grundlage für die Beurteilung von rechtlichen Auseinandersetzungen ist das Zivilrecht. Streitfälle in Bezug auf die Unfallversicherung können aus den Ausschlusskriterien für den Versicherungsschutz folgen. So wird strittig sein, ob ein Unfallereignis überwiegend ursächlich für beispielsweise Bandscheibenschäden oder Blutungen aus inneren Organen ist oder nicht.
11
14 15 16 17 18 19 20
Ärztliches Zeugnis
Gutachter Hier ist zu unterscheiden, ob man sich bereits im Gerichtsverfahren befindet oder noch im »Vorfeld«. Nur wenn ein
2.5
Rentenversicherung
2.5.1 Gesetzliche Rentenversicherung
Erwerbsunfähigkeit Der Begriff findet sich in § 44 Abs. 2 SGB VI. Als erwerbsunfähig gelten Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit auszuüben oder ein Arbeitsentgelt bzw. Arbeitseinkommen zu erzielen, das 1/7 der monatlichen
33 2.5 Rentenversicherung
Bezugsgröße übersteigt. Erwerbsunfähig sind auch Versicherte nach § 1 Nr. 2 (Behinderte), die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine selbstständige Tätigkeit ausübt oder eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage zu berücksichtigen. Erwerbsunfähigkeit setzt begrifflich weitergehende Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit voraus als Berufsunfähigkeit. Ein Versicherter, der erwerbsunfähig ist, ist auch berufsunfähig. Bei der Prüfung, ob Erwerbsunfähigkeit vorliegt, sind der bisherige Beruf oder bisher ausgeübte Tätigkeiten, die nach dem bisherigen sozialen Status zumutbar sind, nicht relevant. Maßgeblich ist, ob mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichtet werden können. Bei der Erwerbsunfähigkeitsrente stellt die generelle Erwerbsfähigkeit, nicht die im bisherigen Beruf, das versicherte Risiko dar. Das berufliche Leistungsvermögen muss aus gesundheitlichen Gründen (Krankheit, Behinderung) herabgesunken sein. Arbeitet der Versicherte nicht, so ist maßgeblich, ob er mit dem verbliebenen Leistungsvermögen noch unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes in gewisser Regelmäßigkeit arbeiten und damit mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen könnte (Niesel in: Kasseler Kommentar § 44 SGB VI Rz. 28 ff.). > Mit Wirkung vom 1. Januar 2001 gibt es den Begriff der Erwerbsunfähigkeit nicht mehr. § 44 SGB VI ist ersatzlos entfallen.
Berufsunfähigkeit Der Begriff findet sich in § 43 Abs. 2 SGB VI. Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die der Versicherte durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden ist. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Es muss hinzukommen, dass es sich um einen Zustand handelt, der voraussichtlich länger als 6 Monate dauert,
weil befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erst ab dem 7. Monat geleistet werden. Angesichts der umfangreichen Begriffsbestimmung des § 43 Abs. 2 SGB VI fällt dem medizinischen Sachverständigen die Aufgabe zu, Auswirkungen von Krankheiten und Behinderungen im Hinblick auf Funktionsund Leistungseinbußen, deren Ausmaß und Dauer zu bewerten und zu beurteilen. Er muss aus der Funktionsdiagnose ein Leistungsbild ableiten, aus dem sich ergibt, welche Arbeit der Versicherte noch leisten kann und welche nicht mehr (Hennies 1997b: 80). > Auch hier ist der Grundsatz zu beachten, dass Rehabilitation Vorrang vor Rente hat und die Berufsunfähigkeitsrente Vorrang vor der Erwerbsunfähigkeitsrente.
Bei der Beschreibung des Leistungsbildes spielt die Arbeitszeit eine bedeutende Rolle. Besteht gesundheitsbedingt keine vollschichtige Einsatzfähigkeit, kann also nur noch Teilzeitarbeit verrichtet werden, so ist die konkrete Arbeitsmarktsituation zu berücksichtigen. Das BSG hat hierzu (BSGE 43, 75) folgende Grundsätze aufgestellt: 5 Für die Beurteilung, ob ein Versicherter, der aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit versehen kann, erwerbs- oder berufsunfähig ist, ist es erheblich, dass für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausführen kann. 5 Der Versicherte darf auf Tätigkeiten in Teilzeit nicht verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. 5 Dem Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten kann. 5 Der Versicherte darf normalerweise nur auf Arbeitsplätze verwiesen werden, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann. Die Einbeziehung des Arbeitsmarktes wirkt sich folgendermaßen aus: 5 Kann weder der bisherige Beruf noch eine zumutbare Verweisungstätigkeit vollschichtig, jedoch halbschichtig verrichtet werden, liegt Berufsunfähigkeit dann vor, wenn der Teilzeitarbeitsmarkt insoweit praktisch verschlossen ist (Niesel, Kasseler Kommentar § 43 SGB VI Rz. 37). 5 Bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit ist der Beschluss des Großen Senats des BSG (BSGE 43, 75) nicht anwendbar. Es ist davon auszugehen, dass hierfür Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden sind.
2
34
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
Dem entspricht die Regelung des § 43 Abs. 2 Satz 4 SGB VI. Berufsunfähig ist danach nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Hennies (1997b, S. 83 f.) fasst die Pflichten des medizinischen Sachverständigen bei Erstellung eines Rentengutachtens wie folgt zusammen: 5 Die Befunde sind sorgfältig zu dokumentieren, auszuwerten, gegeneinander abzuwägen und in einer widerspruchsfreien Argumentationskette darzustellen. 5 Funktionsausfälle und-störungen, Leistungseinschränkungen und -behinderungen sind zu beschreiben, verbunden mit Aussagen, – welchen Leistungsanforderungen und Belastungen der Gutachtenpatient gewachsen ist, – welche Tätigkeiten er noch auszuführen vermag und welche nicht mehr, – ob er die volle, übliche Arbeitszeit durchhalten kann oder für welche Arbeitszeit sein Leistungsvermögen höchstens ausreicht, – ob er beim Arbeitsweg die 500-Meter-Grenze bewältigen kann, – welche Erfolgsaussichten für Hilfen zur Rehabilitation bestehen. Der medizinische Sachverständige soll sich in jedem Fall davor hüten, berufskundliche Fragen klären zu wollen. Hierzu reicht seine Sachkunde im Normalfall nicht aus. Diesen Standpunkt teilt auch die Rechtsprechung (BSG NZS 1993, 216; Kassler Kommentar, § 43 SGB VI Rz. 35 ff.).
Rentenreformgesetz 1999 Durch das Rentenreformgesetz 1999 haben sich hier gravierende Veränderungen ergeben. Die Versicherungsfälle der Berufs- wie der Erwerbsfähigkeit wurden abgeschafft. An ihre Stelle trat für den Bereich der Rentenversicherung ein einheitlicher Versicherungsfall der Erwerbsminderung. Voll erwerbsgemindert sind danach Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Voll erwerbsgemindert ist nicht, wer eine selbstständige Tätigkeit ausübt oder eine Beschäftigung ausübt und daraus Arbeitsentgelt erzielt, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße überschreitet, wobei ein 2-maliges Überschreiten um jeweils einen Betrag bis zur Höhe von 1/7 der mo-
natlichen Bezugsgröße im Laufe eines jeden Kalenderjahres außer Betracht bleibt. Für die Beurteilung des Leistungsvermögens wird also ausschließlich auf alle üblichen Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes abzustellen sein. In der gesetzlichen Rentenversicherung kommt es nach der Gesetzesänderung nicht mehr darauf an, ob und inwieweit der Versicherte seinen »bisherigen Beruf« noch ausüben kann, und es wird auch keine Verweisungsfrage mehr zu stellen sein. Die Leistungsfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu jeder nur denkbaren Tätigkeit, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich ist, wird dabei entscheidend sein. Damit sind die vom BSG in seiner Rechtsprechung zum Verweisungsmerkmal »Zumutbarkeit« entwickelten Mehrstufenschemata obsolet (s. oben).
Rehabilitation(-smaßnahmen) Der Begriff wird in § 9 SGB VI indirekt dadurch definiert, dass die Aufgabe der Rentenversicherungsträger beschrieben wird. Sinngemäß wird »Rehabilitation« als die Überwindung der Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung durch entsprechende Leistungen erklärt. Rehabilitation soll körperlich, geistig oder seelisch Behinderte möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft eingliedern. Sie ist eine zielorientierte Leistung der sozialen Sicherung. Der erfolgreiche Abschluss von Rehabilitationsmaßnahmen ist vom Ziel der Eingliederung, nicht allein von der Beseitigung der Behinderung oder ihrer Ursachen her zu beurteilen. Rehabilitationsleistungen können daher nur für künftige Zeiträume, nicht dagegen für die Vergangenheit bewilligt werden (Niesel, § 9 SGB VI Rz. 4; BSGE 58, 92; 50, 51). § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI regelt den Grundsatz, wonach Leistungen der Rehabilitation Vorrang vor Rente (wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit) haben. Die Rentenversicherungsträger haben deshalb zu beachten, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erst dann bewilligt werden sollen, wenn zuvor Leistungen der Rehabilitation erbracht wurden oder wenn ein Erfolg solcher Leistungen nicht zu erwarten ist. Verfahrensrechtlich ist dieses Vorgehen in § 116 SGB VI verankert.
2.5.2 Private Rentenversicherung
(Berufsunfähigkeitsversicherung) Die private Berufsunfähigkeitsversicherung dient der persönlichen Absicherung der Arbeitskraft. Dabei ist irrelevant, welche Ursache (Unfall, körperliches oder psychisches Leiden, schwere Erkrankung, Pflegefall) zur Berufsunfähigkeit geführt hat. Die private Berufsunfähigkeitsversicherung hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, sei es durch die infolge gesetzlicher
35 2.5 Rentenversicherung
Neuregelungen schlechter gewordene Versorgung oder auch durch die Erweiterung der Angebotsvielfalt in der privaten Versicherungswirtschaft.
> Ein Berufsunfähigkeitsgrad von mindestens 50% wird meist als Leistungskriterium für 100% Leistung vorausgesetzt.
> Durch die gesetzliche Neuregelung besteht seit Januar 2002 für alle Personen, die nach dem 1.1.1961 geboren sind, kein gesetzlicher BU-Versicherungsschutz mehr.
Inzwischen gibt es viele BU-Produkte, die von obiger Definition abweichen. Dies kann sich beispielsweise auf den prozentualen Anteil der Berufsunfähigkeit beziehen und bedeutet dann, dass eine Teilleistung schon dann erfolgen kann, wenn der Grad der Berufsunfähigkeit geringer (z. B. 25%) ist, oder aber auch, dass die volle Leistung erst ab einem höheren Grad der Berufsunfähigkeit (z. B. 75%) erbracht wird. Aber auch andere Berufsunfähigkeitsbedingungen können vertraglich festgelegt sein. Der Begriff der Berufsunfähigkeit im Rahmen der privaten Lebensversicherung ist streng abzugrenzen gegen ähnlich lautende Begriffe (z. B. Arbeitsunfähigkeit, verminderte Erwerbsfähigkeit, Grad der Behinderung, Invalidität) aus anderen Zweigen der privaten sowie gesetzlichen Versicherung. All diese Begriffe beziehen sich auf andere Rechtsgebiete und sind anders definiert als die »Berufsunfähigkeit« in der privaten Lebensversicherung. Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist die letzte konkrete Berufsausübung des Versicherungsnehmers vor dem Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit entscheidend. Dies gilt völlig unabhängig davon, welcher Beruf zum Zeitpunkt der Antragstellung ausgeübt wurde. Besteht erst einmal ein Vertrag mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung, dann gilt diese auch bei Wechsel des Berufs unverändert weiter, ohne Notwendigkeit einer Nachmeldung an das Versicherungsunternehmen. Bei älteren Policen kann eine sog. »abstrakte Verweisung« erfolgen, wonach der Versicherungsnehmer auf eine Berufstätigkeit verwiesen wird, die seiner Ausbildung und Erfahrung entspricht und seine Lebensstellung wahrt. In den neueren Policen wird v. a. bei Personen mit qualifizierter Berufsausbildung auf die »abstrakte Verweisung« verzichtet und nur noch eine »konkrete Verweisung« durchgeführt. Danach wird geprüft, ob der Versicherte bereits eine andere Tätigkeit ausübt, auf die er verwiesen werden kann.
Ausbildungsstand, Berufserfahrung und gesellschaftlicher Stand spielen für die Zahlung einer gesetzlichen Erwerbsminderungsrente heute keine Rolle mehr. Entscheidend ist nur noch, wie viele Stunden pro Tag jemand noch arbeiten kann. 5 Demnach erhalten Personen mit einer Arbeitskraft von weniger als 3 Stunden täglich die volle Erwerbsminderungsrente. 5 Peronen, die täglich 3–6 Stunden arbeiten können, beziehen die halbe Erwerbsminderungsrente. 5 Wer mehr als 6 Stunden pro Tag arbeiten kann, erhält keine Zahlungen. Durch diese Regelung kann der Leistungsfall nicht selten zum sozialen Abstieg führen. Aus diesem Grund ist die Bereitschaft zur zusätzlichen privaten Absicherung gegen das Berufsunfähigkeitsrisiko in den letzten Jahren deutlich angestiegen.
Was ist versichert? Durch eine Berufsunfähigkeitsversicherung sind Einkommenseinbußen aufgrund eines Arbeitskraftverlustes abgesichert.
Definition des Begriffs Berufsunfähigkeit in der privaten BU-Versicherung Die in der privaten BU-Versicherung überwiegend verwendete Definition für »Berufsunfähigkeit« umfasst 3 Komponenten, welche allesamt erfüllt sein müssen, damit Berufsunfähigkeit vorliegt. (Übersicht).
Berufsunfähigkeit in der privaten BUVersicherung 5 Gesundheitliche Komponente (Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall, ärztlich nachzuweisen) 5 Berufliche Komponente (Beruf oder eine andere Tätigkeit, die aufgrund der Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden könnte und der bisherigen Lebensstellung entspricht, kann nicht mehr ausgeübt werden) 5 Zeitliche Komponente (sog. Prognosezeitraum; Dauer der Berufsunfähigkeit beträgt voraussichtlich mindestens 6 Monate ununterbrochen)
Versicherungspolice Eine Berufsunfähigkeitsversicherung stellt in aller Regel eine Zusatzversicherung zu einer Lebensversicherung dar. Da unterschiedliche Versicherungsgesellschaften verschiedene Versicherungsbedingungen aufweisen, hängt die Leistung im Leistungsfall von dem jeweiligen Bedingungswerk ab. Bei Abschluss eines Versicherungsvertrages wird geprüft, ob ein erhöhtes Risiko vorliegt. Im Rahmen dieser individuellen Risikoprüfung wird entschieden, ob bei Vorliegen eines erhöhten Risikos der Antrag abgelehnt oder ein medizinischer Risikozuschlag erhoben wird. Natürlich können auch bestimmte Vorerkrankungen, Behinderungen oder Unfallfolgen vertraglich vom Ver-
2
36
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
sicherungsschutz ausgeschlossen werden. Diese begründen keinen Leistungsanspruch und bleiben bei der Festlegung des Grades der Berufsunfähigkeit unberücksichtigt.
Leistungsantrag Die Meldung der (behaupteten) Berufsunfähigkeit muss unverzüglich schriftlich erfolgen. Im Anschluss daran werden dem Versicherungsnehmer Formulare zum Ausfüllen geschickt. Bei der Anmeldung von Ansprüchen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung muss der Versicherte die Beeinträchtigungen bei der Berufsausübung aufzeigen und genau angeben, welche Funktionsstörungen seit wann bestehen. Eine bloße Aufzählung von Diagnosen genügt also nicht. Sie lassen keine Aussagen über Beeinträchtigungen und deren Schweregrad zu. Um die Prüfung für eine Leistungszahlung zu ermöglichen, muss der Versicherte seine behandelnden Ärzte, Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen, die Art der Behandlungen sowie Arbeitsunfähigkeitszeiten angeben. Er muss auch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit und Teiltätigkeiten genau beschreiben, damit sich der Leistungsprüfer ein Bild von dieser Arbeit machen kann. Es ist darzulegen, wie viele Stunden der Versicherte zum Zeitpunkt der Antragstellung noch arbeiten kann und welche Teiltätigkeiten ggf. noch ausgeführt werden können. Auch Auskünfte über Ausbildungsstand, beruflichen Werdegang, zuletzt bestehendes Arbeitsverhältnis und letztes Einkommen sowie Angaben über die Bereitschaft zur Umschulung sind erforderlich.
Leistungsprüfung Da es keine einheitliche Definition der Berufsunfähigkeit gibt und einzelne Versicherungsgesellschaften für die Berufsunfähigkeitsversicherung unterschiedliche Policen anbieten, muss zur Bewertung jedes einzelnen Leistungsfalls die Definition des zugrunde liegenden Berufsunfähigkeitsvertrags bekannt sein. Für den Leistungsfall maßgeblich ist die Beurteilung der prozentualen Einschränkung der Berufsunfähigkeit. Sie kann nur dann richtig erfolgen, wenn das genaue Berufsbild des Versicherten bekannt ist.
Kommentar Eine Arbeitsanamnese mit genauer Erfassung des Berufs vor Eintritt der (behaupteten) Berufsunfähigkeit ist also für die Bearbeitung von Berufsunfähigkeitsfällen unerlässlich.
Im Regelfall versucht ein Versicherungsunternehmen, einen Antrag auf Berufsunfähigkeit selbst zu entscheiden, und zwar anhand der Auskünfte des Versicherungsnehmers zu seiner beruflichen Tätigkeit und zum Krankheits-
bild sowie anhand von Fragebögen, die von dem Versicherten ausgefüllt werden. Bei Unklarheiten nimmt der Schadensachbearbeiter telefonisch oder schriftlich Kontakt mit dem Versicherten auf. Damit können Detailfragen schnell geklärt und der Beginn der Berufsunfähigkeit zügig festgelegt werden. Gegebenfalls schickt die Versicherungsgesellschaft auch ein Formular an behandelnde Fachärzte oder den Hausarzt des Versicherten. Darüber hinaus können auch Berichte und Befunde von Fachärzten, Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen angefordert und in die Beurteilung mit eingebracht werden. Im sog. »Ärztlichen Bericht zur Berufsunfähigkeit« sollen die relevanten Diagnosen und Funktionseinschränkungen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit genannt werden, wobei auch anzumerken ist, wie lange sie jeweils bereits bestehen. Vom Arzt anzugeben ist auch, ob mit einer Besserung zu rechnen ist und ob weitere Behandlungen oder Rehabilitationsmaßnahmen erforderlich sind. Zur Beurteilung wird in der Regel der Gesellschaftsarzt des Unternehmens bzw. der ärztliche Dienst eines Rückversicherers eingeschaltet. Falls jedoch keine eindeutige Beurteilung möglich ist, wird vom Versicherungsunternehmen in aller Regel ein medizinisches Gutachten in Auftrag gegeben. Gleiches gilt im Fall von Streitigkeiten.
Gutachten Eine Berufsunfähigkeit kann nur dann anerkannt werden, wenn medizinisch belegbare Beschwerden bzw. Funktionseinschränkungen vorliegen, welche die Fähigkeit zur Berufsausübung um in der Regel um 50% reduzieren. In einem Gutachten sollten klare Aussagen zu den in der Übersicht genannten Punkten vorhanden sein.
Bestandteile eines Gutachtens zur Berufsunfähigkeit 5 Patientenangaben zur Anamnese 5 Aktuelle Beschwerden 5 Diagnosen (ICD-10), jeweils mit Angaben zu Ursache(n), Beginn, Art und Verlauf der Beschwerden bzw. Funktionseinschränkungen 5 Bisher durchgeführte laborative und apparative Untersuchungsmethoden mit Befunden 5 Vorschlag zusätzlich indizierter Untersuchungen 5 Bisher durchgeführte therapeutische Interventionen 5 Vorschlag zusätzlich indizierter Therapiemaßnahmen 5 Vorschlag von Maßnahmen für eine Verbesserung der gesundheitlichen Situation (medizinisch, beruflich, sozial) 5 Skizzierung des gegenwärtigen Tagesablaufs 6
37 2.6 Pflegeversicherung
5 Genaue Beschreibung des gegenwärtigen Berufsbildes 5 Erstellung eines negativen Leistungsbildes (Angabe, welche beruflich relevanten Tätigkeiten und Teilbereiche erschwert oder unmöglich sind; qualitative und quantitative Angaben erforderlich) 5 Erstellung eines positiven Leistungsbildes (Angabe, welche Tätigkeiten bzw. Beanspruchungen für den Versicherten möglich sind) 5 Prognostische Einschätzung (zeitlicher Verlauf, Chronifizierung, Bedeutung der Arbeitsfähigkeitserhaltung für den weiteren Krankheitsverlauf )
Bei der Wahl des medizinischen Gutachters ist es manchmal nicht einfach, zu entscheiden, welche Fachrichtung der Gutachter haben soll. Denn häufig liegen mehrere relevante Krankheitsbilder aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen vor. Besonders problematisch sind auch psychische und psychosomatische Krankheitsbilder. > Falls Erkrankungen vorliegen, die durch verschiedene Fachärzte beurteilt werden müssen, sind mehrere einzelne Fachgutachten nötig. In diesem Fall beurteilt ein Hauptgutachter die Gesamtberufsunfähigkeit.
Ein Gutachter, der die Frage der Berufsunfähigkeit zu beurteilen hat, muss genau über die Arbeitsanamnese und die zuletzt ausgeübte Tätigkeit informiert sein und wissen, wie das Arbeitsfeld des Versicherungsnehmers beschaffen ist und welche Anforderungen es an ihn stellt. Eine einfache Berufsbezeichnung genügt auf keinen Fall, da die Einzeltätigkeiten eines Berufsbildes sehr vielfältig sein und sich Berufsbilder immer wieder wandeln können. In zweifelhaften Fällen ist die Einschaltung spezieller berufskundlicher Berater angezeigt. Dies wird von den Versicherungsgesellschaften veranlasst. Bei der Gutachtenerstellung ist besonders auf die Begriffsdefinition »Berufsunfähigkeit« in der Privatversicherung zu achten. Gutachten, in denen sich Begriffe aus anderen Versicherungsbereichen miteinander vermischen, sind kaum verwertbar. Besondere Bedeutungen haben Gutachten, wenn Vorerkrankungen oder vorbestehende Behinderungen vom Versicherungsschutz ausgeschlossen wurden. Im Leistungsfall ist dann genau zu prüfen, welche Einschränkungen der Ausübung der beruflichen Tätigkeit von dieser Ausschlussklausel erfasst werden und welche davon völlig unabhängig sind. Daraus ergibt sich, ob Leistungspflicht des Versicherungsunternehmens besteht oder nicht.
Streitfälle Für Streitfälle in Bezug auf private Berufsunfähigkeitsversicherungen ist die Zivilgerichtsbarkeit (Amtsgerichte
oder die Zivilkammer der Landgerichte) verantwortlich. Die Beweismittel werden hier insbesondere durch Parteivernehmung und Sachverständige (Gutachten) erbracht, die Urteile schriftlich zugestellt. Die Prozesskosten werden durch die unterlegene Partei getragen.
2.6
Pflegeversicherung
2.6.1 Gesetzliche Pflegeversicherung
Pflegebedürftigkeit Die Definition der Pflegebedürftigkeit findet sich in § 14 SGB XI. Pflegebedürftig ist danach eine Person, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf. Krankheiten oder Behinderungen in diesem Sinne sind 5 Verluste, Lähmungen oder andere Funktionsstörungen am Stütz- oder Bewegungsapparat, 5 Funktionsstörungen der inneren Organe oder der Sinnesorgane, 5 Störungen des zentralen Nervensystems wie Antriebs-, Gedächtnis- oder Orientierungsstörungen sowie endogene Psychosen, Neurosen oder geistige Behinderungen. Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens im Sinne von § 14 Abs. 3 SGB XI sind: 5 im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Rasieren, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen sowie die Blasen- und Darmentleerung, 5 im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, 5 im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, 5 im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen der Wohnung. Die Leistungen aus der Pflegeversicherung werden bei der zuständigen Pflegekasse beantragt. Diese veranlasst dann die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Er hat den Versicherten in seinem Wohnungsbereich aufzusuchen und zu untersuchen (18 SGB XI). Von den Spitzenverbänden der Pflegekassen wurden Richtlinien herausgegeben über die Abgrenzung
2
38
1 2 3 4
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
. Tab. 2.2. Pflegestufen Pflegestufe I
Pflegestufe II
Pflegestufe III
Erheblich Pflegebedürftige
Schwerpflegebedürftige
Schwerstpflegebedürftige
sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens 2 Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens 1-mal täglich (mindestens 90 Minuten)
mindestens 3-mal täglich zu verschiedenen Tageszeiten (mindestens 3 Stunden)
der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen
6
der Merkmale zur Pflegebedürftigkeit sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeitsrichtlinien; PflRi) vom 7.11.1994/21.12.1995. Die Einteilung in die Pflegestufen zeigt . Tab. 2.2.
7
2.6.2 Private Pflegeversicherung
5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
täglich rund um die Uhr, auch nachts (mindestens 5 Stunden)
Die private Pflegeversicherung gibt es seit 1984. Seit 1. Januar 1995 wirkt das Pflegeversicherungsgesetz, das grundsätzlich jeden zur Pflegeversicherung verpflichtet. Für die Wahl des Versicherers gilt das Prinzip »Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung«. Demnach müssen die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung bei ihrer Krankenkasse die Pflegeversicherung abschließen (soziale Pflegepflichtversicherung), während privat Versicherte bei einem privaten Krankenversicherer pflegeversichert sein müssen (private Pflegepflichtversicherung). Auch Familienangehörige eines privat Krankenversicherten müssen sich pflegeversichern. Personen, die von der Krankenversicherungspflicht befreit und als freiwilliges Mitglied bei der gesetzlichen Krankenversicherung sind, müssen in Abweichung von dem Grundsatz »Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung« bei einem privaten Krankenversicherer eine Pflegeversicherung unterhalten. Beihilfeberechtigte Personen müssen eine beihilfekonforme Pflegeversicherung abschließen. Sind sie freiwilliges Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung, werden sie versicherungspflichtig in der sozialen Pflegeversicherung und erhalten die ihnen jeweils zustehenden Leistungen der Pflegeversicherung anteilig aus Pflegeversicherung und Beihilfe. Nicht oder privat krankenversicherte Beamte sind gesetzlich verpflichtet, eine anteilige, die Beihilfe ergänzende private Pflegepflichtversicherung abzuschließen. Der private Pflegeversicherungsvertrag muss nicht bei dem gleichen Versicherungsunternehmen abgeschlossen werden, bei dem der Versicherte krankenversichert ist. Die Pflegepflichtversicherung trägt bis zu einem gesetzlich festgelegten Höchstbetrag die Pflegekosten. Die Leistungen sind für alle Pflegebedürftigen gleich. Zu den tragenden Grundsätzen der Pflegeversicherung gehören
der Vorrang der ambulanten Pflege vor der stationären sowie der Vorrang der Prävention und Rehabilitation. Die Pflegeversicherung soll primär die häusliche, ambulante Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Dies gilt für die soziale und private Pflegeversicherung.
Prämien in der privaten Pflegepflichtversicherung Für die Prämienberechnung in der privaten Pflegepflichtversicherung gelten im Wesentlichen die gleichen Grundsätze wie für die Prämienberechnung in der privaten Krankenversicherung – mit Ausnahme der Tatsache, dass das Geschlecht keine Rolle spielt. Für jeden Versicherten ist eine Prämie zu zahlen, die sich hauptsächlich nach dem Eintrittsalter richtet. Zur Abdeckung des mit dem Alter steigenden Pflegerisikos bilden die privaten Pflegeversicherer Alterungsrückstellungen, die es in der Pflegeversicherung der gesetzlichen Krankenkassen nicht gibt. Dort werden die Beiträge nach dem Umlageverfahren erhoben. Für Versicherte, die seit Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes privat kranken- und pflegeversichert sind, werden grundsätzlich keine Prämien erhoben, die den Höchstbeitrag in der sozialen Pflegepflichtversicherung übersteigen. Für Personen, die erst nach dem 1. Januar 1995 privat pflegeversicherungspflichtig wurden, werden die Beiträge nach einer Versicherungszeit von 5 Jahren auf den Höchstbeitrag der sozialen Pflegepflichtversicherung begrenzt. In der Regel liegen aber die Prämien für eine private Pflegepflichtversicherung deutlich niedriger als der Höchstbeitrag in der sozialen Pflegepflichtversicherung. Bei Beihilfeberechtigten ist die Beitragshöhe auf 40% des Höchstbeitrages begrenzt. Kinder von Versicherungsnehmern sind prämienfrei.
Was ist versichert? Versichert ist eine Pflegebedürftigkeit – ambulant, stationär oder teilstationär. Die Pflegebedürftigkeit beinhaltet die Grundpflege, eine medizinische Behandlungspflege, die hauswirtschaftliche Versorgung sowie eventuell eine Versorgung mit Pflegehilfsmitteln.
39 2.6 Pflegeversicherung
Leistungsberechtigt ist, wer nach § 14 und § 15, Abs. 1 SGB XI pflegebedürftig ist. Für die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz sind die pflegebedürftigen Personen einer Pflegestufe zuzuordnen.
Pflegebedürftigkeit Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.
Feststellung der Pflegebedürftigkeit Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) prüft im Auftrag der gesetzlichen Pflegekassen, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welche Stufe der Pflegebedürftigkeit vorliegt; die Medicproof GmbH arbeitet für die privaten Pflegepflichtversicherungen. Der bundesweit tätige medizinische Dienst Medicproof GmbH ist ein selbstständiges und fachlich unabhängiges Dienstleistungsunternehmen für die privaten Pflegepflichtversicherungen sowie für die Pflegeversicherungen der Postbeamtenkrankenkasse und der Krankenversorgung der Bundesbahnbeamten. Eine Begutachtung durch Medicproof ist eine grundlegende Voraussetzung für den Anspruch und Umfang der Pflegeleistungen. Für den Antragsteller besteht Mitwirkungspflicht (Einwilligung zur Einholung von Auskünften bei Arzt und Pflegepersonen sowie zur Untersuchung des Wohnbereichs). Nach Überprüfung der Situation empfiehlt Medicproof die Einordnung in eine Pflegestufe sowie Art und Umfang der Pflegeleistungen. Gleichzeitig werden Empfehlungen über Rehabilitationsmaßnahmen und notwendige Hilfsmittel gegeben. Das Ergebnis wird dem Antragsteller schriftlich mitgeteilt. Die Pflegeleistungen werden rückwirkend ab Antragstellung erstattet.
Die 3 Pflegestufen Es gibt 3 Pflegestufen, die die Krankheiten oder Behinderungen, die Verrichtungen des Alltags und das Ausmaß der Hilfsbedürftigkeit über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten berücksichtigen. Der Bedarf an Hilfe bezieht sich auf Verrichtungen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität), Behandlungspflege sowie die hauswirtschaftliche Versorgung. 5 Personen mit Pflegestufe I benötigen im Wesentlichen mindestens 90 Minuten Hilfe am Tag. 5 Pflegestufe II umfasst vor allem Personen, die mindestens 3 Stunden Hilfe am Tag brauchen. 5 Pflegestufe III betrifft Schwerstpflegebedürftige, die mindestens 5 Stunden Hilfe am Tag benötigen.
Pflegesachleistung oder Pflegegeld Primäre Leistung im Rahmen der ambulanten Pflege ist die Pflegesachleistung (Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung). Anstelle der Pflegesachleistung kann auch ein Pflegegeld bezogen werden, falls Angehörige oder Privatpersonen die Pflege übernehmen. Auch eine Kombination von Pflegesachleistung und Pflegegeld ist möglich. Geld- oder Sachleistungen kann der Versicherte nur dann erhalten, wenn zuvor das Ausmaß des Pflegebedarfs durch ein unabhängiges Gutachten festgestellt wurde. Das Pflegeversicherungsgesetz regelt die Kriterien, die einer Einstufung in Pflegestufen zugrunde liegen. Wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann, kann der Versicherte teilstationäre Pflege in Anspruch nehmen. Auch bei vollstationärer Pflege übernimmt die Pflegeversicherung die pflegebedingten Aufwendungen, die Aufwendungen der sozialen Betreuung und die Aufwendungen für die medizinische Behandlungspflege.
Leistungsfall Sollte der Leistungsfall eintreten, ist die Leistung bei der zuständigen Pflegekasse zu beantragen. Die soziale bzw. private Pflegepflichtversicherung stellt den Umfang der Pflegebedürftigkeit fest und ordnet den Patienten der entsprechenden Pflegestufe zu; bei Feststellung und Zuordnung müssen soziale und private Pflegepflichtversicherungen dieselben Maßstäbe anlegen. Höhe und Umfang der Leistungen richten sich nach der Pflegestufe. Das vereinbarte Pflegetagegeld beträgt in Pflegestufe III 100%, in Pflegestufe II 60% und in Pflegestufe I 30% des versicherten Tagessatzes (maximal 80 Euro). Für die Leistungshöhe wird nicht unterschieden zwischen stationärer, teilstationärer und häuslicher Pflege. Das gewährte Pflegegeld ist steuerfrei. Dies gilt auch für pflegende Angehörige, Freunde und Bekannte, wenn die Pflege aus menschlichen, sozialen oder humanitären Gründen erfolgt. Führt eine Pflegeperson die Pflege gewerblich bzw. erwerbsmäßig aus, wird das an diese Person weitergegebene Pflegegeld steuerpflichtig. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden einkommens- und vermögensunabhängig gewährt. Bei Zuschüssen zu Umbaumaßnahmen im Rahmen der Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes wird die Vermögenssituation des Pflegebedürftigen berücksichtigt. Die Pflegeversicherung ist nicht erstattungspflichtig, wenn ein Anspruch aus anderen Rechtsvorschriften besteht. Dazu zählen Entschädigungsleistungen und Ansprüche auf häusliche Krankenpflege aus der Krankenversicherung. In diesen Fällen ruhen die Leistungen der Pflegepflichtversicherung. Um die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht zu überfordern, können Versicherungsleistungen nur dann beansprucht werden, wenn eine sog. Warte- oder Vorversicherungszeit erfüllt wurde. Der Anspruch auf Ver-
2
40
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
sicherungsleistungen aus der privaten Pflegepflichtversicherung ist seit dem 1. Januar 2000 möglich, wenn der Versicherte in den letzten 10 Jahren vor der Antragstellung mindestens 5 Jahre privat pflegepflichtversichert war. Scheiden Personen aus der sozialen Pflegeversicherung aus und wechseln zur privaten Pflegepflichtversicherung, wird ihnen die dort ununterbrochen nachweisliche Versicherungszeit auf die Wartezeit in der privaten Pflegepflichtversicherung angerechnet. Für versicherte Kinder gilt die Vorversicherungszeit als erfüllt, wenn ein Elternteil ausreichend lange pflegeversichert war. Beantragt jemand Leistungen, ohne die Vorversicherungszeit (vollständig) erfüllt zu haben, bleibt er nicht dauerhaft vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Er kann nach Ablauf der Vorversicherungszeit einen neuen Antrag stellen.
Private Pflegezusatzversicherungen Die Pflegepflichtversicherung stellt eine Grundabsicherung dar. Viele Pflegebedürftige sind trotz der gesetzlichen Pflegeversicherung von der finanziellen Unterstützung durch Angehörige oder das Sozialamt abhängig. Daher wird eine private Vorsorge für das finanzielle Risiko einer Pflegebedürftigkeit empfohlen. Um die Versorgungslücke im Fall der Pflege zu schließen, kommen verschiedene Produkte in Betracht. Eine private Pflegezusatzversicherung (in Form von Tagegeld) kann jeder Pflichtversicherte zusätzlich in Anspruch nehmen. Dread-Disease-Policen (in Form einer Einmalzahlung) werden meist ab Pflegestufe II als abgesichertes Modul angeboten. Der sog. Kapital-Pflegeplan ist eine fondsbasierte Versicherung und gewährt eine Einmalzahlung in individueller Höhe für Pflege und Zusatzleistungen. Eine Pflegezusatzversicherung kann eine Erhöhung der jeweiligen Leistungen aus den Pflegestufen I–III in Form von Tagegeld oder Einmalzahlungen beinhalten. Diese zusätzlichen Leistungen kann jeder bei einer entsprechenden Versicherungsgesellschaft abschließen. Tritt der Leistungsfall ein, orientieren sich die privaten Versicherungsgesellschaften in der Regel an der Zuweisung zu einer Pflegestufe durch Medicproof. Die letzte Entscheidung bleibt allerdings den privaten Versicherungsgesellschaften überlassen.
Streitfälle Für Streitfälle in Bezug auf die private Pflegepflichtversicherung sind die Sozialgerichte zuständig. Ein Rechtsstreit geht in der Regel um die Frage, ob und in welchem Ausmaß Pflegebedürftigkeit besteht (Pflegestufen). Auch die einzelnen Leistungen der Pflegeversicherung können Gegenstand eines Rechtsstreits sein. Da das private Versicherungsrecht auf dem Zivilrecht fußt, ist für Streitfälle in Bezug auf private Pflegezusatzversicherungen die Zivilgerichtsbarkeit zuständig (Amtsgerichte oder die Zivilkammer der Landgerichte).
2.7
Schwerbehindertenrecht
Behinderung Die Definition des Begriffs der Behinderung im Schwerbehindertenrecht findet sich in § 3 SchwbG. Behinderung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von 6 Monaten. Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich. Die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung ist als Grad der Beeinträchtigung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft von 20–100 festzustellen. Für den Grad der Behinderung gelten die im Rahmen von § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgestellten Maßstäbe entsprechend.
2.8
Arbeitsförderung
Arbeitsfähigkeit § 119 Abs. 3 SGB III definiert für den Bereich der Arbeitsförderung den Begriff der Arbeitsfähigkeit. Arbeitsfähig ist danach ein Arbeitsloser, 5 der eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden pro Woche umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes aufnehmen und ausüben kann und darf, 5 der an Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung teilnehmen und Vorschlägen des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung zeit- und ortsnah Folge leisten kann und darf. Arbeitsbereit und arbeitsfähig ist der Arbeitslose auch dann, wenn er bereit und in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes, eine zumutbare Beschäftigung aufzunehmen und auszuüben, versicherungspflichtige mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen mit bestimmter Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit aufzunehmen und auszuüben, wenn dies wegen der Betreuung und Erziehung eines aufsichtsbedürftigen Kindes oder Pflege eines pflegebedürftigen Angehörigen erforderlich ist.
2.9
Soziales Entschädigungsrecht
Das soziale Entschädigungsrecht bezieht sich nur auf militärische Ursachen. Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstleistung oder durch einen Unfall wäh-
41 2.10 Strafrecht
rend der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung. Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 1 Abs. 1, 3 BVG). Für Tatsachen, die die Grundlage zur Beurteilung der Kausalität bilden, muss der volle Beweis erbracht werden. Welche Beweisanforderungen gestellt werden, bestimmt der Jurist, nicht der Mediziner. Zur Aufgabe des medizinischen Sachverständigen gehört es aber, oft schwierige Fragen zur haftungsausfüllenden Kausalität zu beantworten. Hierzu gehört z. B. auch die Beantwortung der Frage, in welcher Weise und mit welcher Intensität die einzelnen Bedingungen dazu beigetragen haben, dass ein Gesundheitsschaden eingetreten ist, sein Ausbruch beschleunigt wurde oder – falls schon bestehend – dieser verschlimmert wurde. Die MdE ist im sozialen Entschädigungsrecht nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Für die Beurteilung ist maßgebend, um wieviel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folge einer Schädigung anerkannte Gesundheitsstörung beeinträchtigt sind. Vorübergehende Gesundheitsstörungen sind nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt ein Zeitraum von bis zu 6 Monaten (§ 30 Abs. 1 BVG). Das Gesetz spricht nicht von »Leistungsfähigkeit«, sondern von »Erwerbsfähigkeit«, die beeinträchtigt sein muss. Maßgeblich sind 2 Faktoren: 5 zum einen das Ausmaß der aus gesundheitlichen Gründen eingebüßten Leistungsfähigkeit, 5 zum anderen der Umfang der dadurch eingetretenen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben. Im sozialen Entschädigungsrecht sind die nach den Vorschriften des BVG bewilligten Versorgungsrenten Pauschalsätze, die grundsätzlich ohne Rücksicht auf Alter oder früheres Arbeitseinkommen nach der schädigungsbedingten MdE bemessen werden. Ohne Blick in die Tabelle der Anhaltspunkte (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Bundesminister für Gesundheit und Sozialordnung, 1996) kann ein medizinischer Sachverständiger keine Aussage zur MdE treffen. Im Versorgungsrecht wird die MdE höher bewertet, wenn der Beschädigte beruflich besonders betroffen ist (§ 30 Abs. 2 BVG).
2.10
Strafrecht
2.10.1 Schuldfähigkeit
Strafe setzt Schuld voraus. Der Schuldgrundsatz im Strafrecht hat Verfassungsrang, denn er folgt sowohl aus dem Rechtsstaatsprinzip als auch daraus, dass Strafe ohne Schuld gegen Art. 1 GG verstoßen würde (BVerfGE 6.169; 28, 391; BGHSt 2, 200; 10, 259, Lenckner in: Schönke u. Schröder 2001, vor §§ 13 ff. Rz. 103 f. m. w. Nachw.). Fehlt ein Verschulden (also Vorsatz oder Fahrlässigkeit) oder besteht Schuldunfähigkeit, so entfällt auch die Strafbarkeit der Tat. Gegen schuldunfähige Täter können aber Maßregeln wie z. B. eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Erziehungsanstalt oder Sicherungsverwahrung verhängt werden. Die Schuldfähigkeit Erwachsener und Heranwachsender regeln §§ 20, 21 StGB. Die Schuldunfähigkeit von Kindern wird in § 19 StGB unwiderleglich vermutet.
Schuldfähigkeit 5 Personen über 18 Jahren sind im Normalfall schuldfähig, d. h. sie besitzen die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. 5 Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen schweren seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 5 Verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) liegt dagegen vor, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist. Dann kann die Strafe gemildert werden (§ 49 StGB).
Der Gesetzgeber ist bei der Regelung der Schuldunfähigkeit von der biologisch-normativen Methode ausgegangenm, wenn das Gesetz zunächst bestimmte abnorme Seelenzustände nennt, die zur Schuldunfähigkeit führen, die jedoch unter der weiteren psychologischen Voraussetzung stehen, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters bei der Begehung der Tat ausgeschlossen war. Dabei bezeichnen auch die »biologischen« Merkmale nicht nur einen psychischen Zustand, sondern enthalten insofern auch normative Elemente, insofern als die Bewusstseinsstörung »tiefgreifend« und die seelische Abartigkeit »schwer« sein muss.
2
42
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
Ob das Gesetz mit der voluntativen Komponente (Ausschluss der Steuerungsfähigkeit) auch zum Problem der Möglichkeit menschlicher Selbstbestimmung Stellung nimmt, ist umstritten. Für die praktische Handhabung der Vorschrift spielt diese Frage jedoch keine Rolle. Die Aufzählung der »biologischen« Voraussetzungen ist abschließend, eine Analogie ist nicht möglich (Lenckner in: Schönke u. Schröder 2001, § 20 Rz. 1 ff. m. w. Nachw.). Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Täter nicht voll schuldfähig sein könnte, so hat das Gericht von Amts wegen die Voraussetzung der §§ 20, 21 StGB zu prüfen und im Regelfall einen Sachverständigen mit der Aufklärung zu beauftragen. Zuständig für die Begutachtung sind Psychiater oder Neurologe, bei nicht krankhaften Zuständen auch medizinische Psychologen sowie der Rechtsmediziner. Die Entscheidung darüber, wen es zuzieht, obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtes. Die rechtliche Würdigung des mit Hilfe des Sachverständigen ermittelten Tatsachenmaterials fällt als Rechtsfrage in den Aufgabenbereich des Gerichts (BGHSt 2,14; 7, 238). Auch für die der Rechtsanwendung vorausgehenden tatsächlichen Feststellungen trägt das Gericht die Verantwortung (Lenckner in: Schönke u. Schröder 2001, § 20 Rz. 45). § 19 StGB legt für den Beginn der Schuldfähigkeit das vollendete 14. Lebensjahr fest. Davor ist der Minderjährige schuldunfähig. Der Gutachter, i. Allg. ein Rechtsmediziner, ist gefragt, wenn im Streit steht, ob der Täter bereits das 14. Lebensjahr vollendet hat oder nicht. Diese Frage kann u. a. mittels biometrischer Messungen geklärt werden
12
des Verfahrens sein Leben einbüßen oder schwere Dauerschäden für seine Gesundheit erleiden (BVerfGE 51, 324). Ein Angeklagter ist nicht verpflichtet, zur Herstellung seiner Verhandlungsfähigkeit einen riskanten medizinischen Eingriff an sich vornehmen zu lassen (BVerfGE 84,120 Ballondilatation). Ist andauernde Verhandlungsunfähigkeit gegeben, so ist das Verfahren vorläufig oder endgültig einzustellen (Meyer-Goßner in: Kleinknecht u. MeyerGoßner 2001, Einl. Rz. 97 ).
2.10.3 Vollzugstauglichkeit
Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt. Dasselbe gilt bei anderen Krankheiten, wenn von der Vollstreckung der Strafe eine nahe Lebensgefahr für den Verurteilten ausgeht (§ 455 Abs. 1, 2 StPO). Gleiches gilt auch, wenn zu erwarten ist, dass die Krankheit eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Dann ist die Strafvollstreckung zu unterbrechen. Die Besorgnis naher Lebensgefahr muss mit großer Wahrscheinlichkeit drohen. Die bloße Möglichkeit reicht nicht aus. Strafaussetzung oder -aufschub ist die letzte Möglichkeit, sofern eine ärztliche Behandlung in einem Vollzugskrankenhaus oder auch außerhalb nicht erfolgversprechend ist und keine überwiegenden Gründe, insbesondere der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen (Meyer-Goßner in: Kleinknecht u. Meyer-Goßner 2001, § 455 Rz. 10 ff.).
2.10.4 Gewahrsamsfähigkeit 2.10.2 Verhandlungsfähigkeit
13 14 15 16 17 18 19 20
Das Strafverfahren soll den Beschuldigten oder Angeklagten nicht zum Objekt der Strafverfolgung machen. Er muss daher in der Lage sein, seine Interessen in und außerhalb des Strafverfahrens vernünftig wahrzunehmen. Dies tut er normalerweise durch Prozesshandlungen (-erklärungen) und durch eine entsprechende Verteidigung. Die Verhandlungsfähigkeit setzt keine Geschäftsfähigkeit voraus, sondern lediglich die Fähigkeit, einen natürlichen Willen bilden zu können und diesem entsprechend zu handeln. Je nach den Anforderungen an die Prozesshandlungen kann eine unterschiedliche Beurteilung erforderlich sein. Auch ein Geisteskranker kann daher wirksame Prozesshandlungen vornehmen. Bei Volljährigen entfällt die Verhandlungsfähigkeit nur bei schweren körperlichen oder geistigen Mängeln oder Krankheiten (BGH NJW 1970, 1981). Verhandlungsunfähigkeit kann sich auch aus konkreten Anhaltspunkten für die Befürchtung ergeben, der Beschuldigte werde bei Durchführung oder Fortführung
Gemeinhin wird die in diesem Zusammenhang zu treffende Feststellung (fälschlicherweise und verkürzt) als Feststellung der Haftfähigkeit bezeichnet. Dabei geht es aber darum, dass die Polizeibehörden den Arzt um eine sachverständige Aussage darüber ersuchen, ob bei einer in polizeilichen Gewahrsam genommenen Person die hierfür vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen (z. B. § 28 PolG bw) vorliegen oder ob es sich etwa um eine erkrankte Person handelt, die ärztlicher Betreuung bedarf.
2.11
Bürgerliches Recht
2.11.1 Geschäftsfähigkeit
Geschäftsunfähig ist, wer das 7. Lebensjahr nicht vollendet hat oder wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern dieser Zustand seiner Natur nach nicht ein vorübergehender ist (Definition nach § 104 BGB).
43 2.11 Bürgerliches Recht
Das Gesetz regelt in § 104 BGB einen Ausnahmetatbestand. Der Normalfall ist die Geschäftsfähigkeit, die nach § 2 BGB mit Vollendung des 18. Lebensjahres eintritt und die als vorhanden anzunehmen ist, sofern nicht ein Fall des § 104 BGB eintritt. Wer sich auf die Geschäftsunfähigkeit seines Geschäftspartners beruft, hat das Fehlen der Geschäftsfähigkeit zu beweisen. Dieser Beweis wird bei der 2. Alternative des § 104 BGB (krankhafte Störung der Geistestätigkeit) wohl nur durch ein medizinisches (psychiatrisches) Gutachten zu klären sein. Die Geschäftsfähigkeit kann auch nur partiell vorliegen. Für den geschäftsunfähigen Volljährigen ist dann ein Betreuer zu bestellen. In allen Verfahren, in denen es um die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen geht, ist dieser prozessfähig (Heinrichs in: Palandt 2001, vor § 104 Rz. 9). Ein Minderjähriger, der das 7. Lebensjahr vollendet hat, ist beschränkt geschäftsfähig. Wird er im Rechtsverkehr tätig, so finden die §§ 107–113 BGB Anwendung. Gutachterlich relevant kann hier lediglich die Frage sein, ob das 7. Lebensjahr vollendet ist.
stand in Form von tatsächlicher und rechtlicher Fürsorge. Ein Betreuer wird nur für bestimmte Aufgabenkreise bestellt. Ziel ist es, die Autonomie des Betreuten so weit wie möglich zu erhalten. Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist (§ 1896 Abs. 2 BGB). Über die Betreuungsbedürftigkeit ist in einem besonderen Verfahren nach den Regeln der freiwilligen Gerichtsbarkeit (§§ 65 ff. FGG) zu entscheiden. In diesem Verfahren ist zwingend vor Bestellung eines Betreuers das Gutachten eines Sachverständigen zur Frage der Notwendigkeit der Betreuung einzuholen (§ 68b Abs. 1 FGG). Als Sachverständige kommen Psychiater, medizinische Psychologen u. a. in Betracht. Ihre Aufgabe besteht darin, darzulegen, was der Betroffene noch selbst erledigen kann und was nicht (mehr), um dem Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung gerecht zu werden. Das Gutachten soll dem Gericht die Entscheidung darüber ermöglichen, in welchen Bereichen für den Betroffenen ein Betreuer zu bestellen ist (Checkliste zum Inhalt des Gutachtens: FamRZ 1993, 1224; Diederichsen in: Palandt 2006, § 1896, Rz. 10 ff., vor § 1896 Rz. 22. m. w. Nachw. ).
2.11.2 Testierfähigkeit 2.11.4 Vaterschaft
Testierfähigkeit ist die Fähigkeit, ein wirksames Testament zu errichten, zu ändern und aufzuheben. Sie ist von der Vollendung des 16. Lebensjahres abhängig, schließt aber die Errichtung eines privatschriftlichen Testamentes aus. Insoweit kann also von einer eingeschränkten Testierfähigkeit gesprochen werden. Auch hier kann die Frage gutachterlich relevant sein, ob das 16. Lebensjahr vollendet ist. Jeder voll Geschäftsfähige (der das 18. Lebensjahr vollendet hat) kann ein Testament errichten, ändern oder aufheben und wird als testierfähig angesehen (§ 2229 BGB). Wie in § 104 BGB (2. Alternative) ist auch hier der an einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit Leidende oder derjenige, der wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung seiner Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, außerstande, ein Testament zu errichten, zu ändern oder aufzuheben. Das Gesetz geht auch hier vom Normalfall der Testierfähigkeit aus. Diese ist also als gegeben anzunehmen, bis das Gegenteil bewiesen ist. Dieser Beweis ist nur mit Hilfe des Gutachtens eines medizinischen (psychiatrischen) Sachverständigen zu erbringen (Edenhofer in: Palandt 2006, § 2229 Rz. 1 ff., 13 ff. m. w. Nachw.).
2.11.3 Betreuungsbedürftigkeit
Mit Wirkung vom 1.1.1992 sind die bisherige Vormundschaft und Entmündigung abgeschafft und durch die Betreuung ersetzt worden. Betreuung ist staatlicher Bei-
Sowohl im Verfahren der Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes, das in bestehender Ehe geboren wird, als auch in dem der Vaterschaftsfeststellung im Fall der nichtehelichen Geburt geht es darum, den wahren Vater zu ermitteln. Das Gesetz arbeitet hier mit Vermutungen, die von dem mit der Erbringung des Beweises Belasteten widerlegt werden können. Im Vaterschaftsprozess wird zumeist mit harten Bandagen gekämpft. Es wird versucht, alle Möglichkeiten der Begutachtung auszuschöpfen. Ist die Beiwohnung in der Empfängniszeit erfolgt und erwiesen, so stehen mehrere Beweismöglichkeiten offen: 5 Zum einen kann ein Tragzeitgutachten erstellt werden. 5 Zum anderen können Blutgruppenuntersuchungen erfolgen, die heute mit größter Wahrscheinlichkeit den Vater ermitteln helfen, insbesondere die serologische, die molekulargenetische sowie die DNA-Untersuchung. 5 Schließlich kommt noch ein erbbiologisches Gutachten in Betracht. Bei der Erstattung von Abstammungsgutachten hat der Sachverständige die Richtlinien der Bundesärztekammer zu beachten (DÄ 2002 A-665–667). Das Gericht hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob alle Beweismöglichkeiten auszuschöpfen sind.
2
44
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
2
> Grundsätzlich wird zunächst aber eine Blutgruppenuntersuchung veranlasst werden (Diederichsen in: Palandt 2006, vor § 1591, Rz. 9 ff., § 1600d, Rz. 2 ff. m. w. Nachw.). Deren Ergebnisse haben Vorrang vor einem Tragzeitgutachten und einem erbbiologischen Gutachten.
3
2.11.5 Einstellungsuntersuchung
1
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Angestellte wie Beamte haben bei ihrer Einstellung durch Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Zeugnisses den Nachweis ihrer Dienst- bzw. Arbeitsfähigkeit zu erbringen. Darüber hinaus kann der Arbeitgeber bzw. Dienstherr in einer Reihe von Fällen auch bei bestehendem Arbeits- oder Beamtenverhältnis vom Angestellten bzw. Beamten verlangen, sich aus einem bestimmten Grund ärztlich untersuchen zu lassen. Das Verlangen des Arbeitgebers, das den Arbeitnehmer verpflichtet, seine Dienst- bzw. Arbeitsfähigkeit durch ärztliches Gutachten nachzuweisen und sich zu dessen Erstellung ärztlich untersuchen zu lassen, bedarf bei bestehendem Arbeitsverhältnis zumindest vertraglicher Vereinbarung, um rechtmäßig zu sein (BAG AP Nr. 1 zu § 7 BAT). Macht der Arbeitgeber die Einstellung vom vorherigen Nachweis der Einstellungsuntersuchung abhängig, riskiert der Arbeitnehmer bei Weigerung höchstens, nicht eingestellt zu werden. Eine Verpflichtung, auf Verlangen des Arbeitgebers die Dienst- bzw. Arbeitsfähigkeit nachzuweisen, kann, wie § 7 BAT (= § 3 Abs. 4 TVöD) zeigt, tarifvertraglich vereinbart sein. Entsprechende Regelungen können auch Aufnahme in eine Betriebsvereinbarung gefunden haben, die Richtlinien über eine personelle Auswahl bei Einstellungen, Versetzungen, Umgruppierungen und Kündigungen enthält (vgl. z. B. §§ 76 Abs. 2, Nr. 8, 73 Abs. 1 Bundespersonalvertretungsgesetz). Schließlich finden sich in diversen Gesetzen Vorschriften über die Vornahme von Einstellungsuntersuchungen. So regelt beispielsweise § 32 Jugendarbeitsschutzgesetz die ärztliche Untersuchung bei der Einstellung Jugendlicher. Die Berufsgenossenschaften haben Vorschriften über ärztliche Untersuchungen von Versicherten erlassen, die vor der Aufnahme einer Arbeit zu erfolgen haben, deren Verrichtung mit außergewöhnlichen Unfall- oder Gesundheitsgefahren für diese oder Dritte verbunden sind. Bejaht man grundsätzlich das Recht des Arbeitgebers, sich darüber Kenntnis zu verschaffen, ob sich der zur Einstellung in Aussicht genommene Arbeitnehmer für die vorgesehene Aufgabe körperlich und gesundheitlich eignet, so ist damit der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer, aber auch von dem regelmäßig mit der Untersuchung beauftragten Arzt (nach Sinn und Zweck der Einstellungsuntersuchung) Auskunft über die gesundheitlichen und körperlichen Verhältnisse
des Arbeitnehmers verlangen kann. Für den Arbeitgeber ist dabei von besonderem Interesse, 5 ob der Arbeitnehmer selbst gesundheitlich den an ihn zu stellenden Anforderungen gerecht werden wird, 5 ob von ihm keine gesundheitlichen Gefahren für Mitarbeiter ausgehen, 5 ob durch die auszuübende Tätigkeit auch auf längere Sicht keine Beeinträchtigung der Gesundheit zu befürchten ist. Erfordert die Beurteilung der körperlichen Eignung die Kenntnis zusätzlicher Tatsachen, so hat der Arbeitgeber diese dem als Sachverständigen zugezogenen untersuchenden Arzt zur Konkretisierung des Gutachtenauftrages mitzuteilen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer den Arzt von der Schweigepflicht in dem Umfang entbindet, wie dieser zur Beurteilung der gesundheitlichen Eignung dem Arbeitgeber Mitteilung über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers machen muss (Schaub 2002, § 24 II, Rz. 12). Die Berichtspflicht des untersuchenden Arztes wird sich regelmäßig darin erschöpfen, die Eignung des Bewerbers zu bejahen oder sie zu verneinen, ggf. dem Arbeitgeber gewisse gesetzlich erforderliche Einzelbefunde mitzuteilen. Die generelle Mitteilung aller erhobenen Befunde verstößt gegen das Übermaßverbot, weil der Arbeitgeber dem Befund ohne entsprechende Interpretation durch den Arzt für seine Fragestellung nichts zu entnehmen vermag. Sie ist auch durch die Entbindung von der Schweigepflicht nicht gedeckt.
2.12
Verwaltungsrecht
2.12.1 Straßenverkehrsrecht
Fahrereignung Zum Verkehr auf öffentlichen Straßen ist jedermann zugelassen, soweit nicht eine Erlaubnis vorgeschrieben ist. Bestehen gesundheitliche Einschränkungen infolge geistiger oder körperlicher Mängel, so kann die Zulassung eingeschränkt oder wegen mangelnder Eignung entzogen werden. Erweist sich jemand als ungeeignet zum Führen von Fahrzeugen und Tieren, so muss die Verwaltungsbehörde ihm das Führen untersagen oder die erforderlichen Auflagen machen. Ungeeignet zum Führen von Fahrzeugen und Tieren ist besonders, wer unter erheblicher Einwirkung geistiger Getränke oder anderer berauschender Mittel am Verkehr teilgenommen oder sonst gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen hat. Besteht Anlass zur Annahme, dass der Führer eines Fahrzeuges oder Tieres hierzu ungeeignet ist, so kann die Verwaltungsbehörde zur Vorbereitung einer Entscheidung über die körperliche oder geistige Eignung
45 Literatur
5 die Vorlage eines amts- oder fachärztlichen Gutachtens oder 5 eines Gutachtens einer amtlich anerkannten medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle oder 5 das Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr anordnen (§§ 1, 3 StVO).
Gurtanlege- und Helmpflicht § 21a StVO schreibt Verkehrsteilnehmern vor, dass sie Sicherheitsgurte während der Fahrt (von bestimmten in § 21a Abs. 1 Satz 2 StVO genannten Personen abgesehen) anlegen und als Führer von Krafträdern und als Beifahrer Schutzhelme tragen müssen. Von dieser Vorschrift kann nach § 46 Abs. 1 Nr. 5b StVO eine Ausnahme erteilt werden. Die Ausnahmegenehmigung kann aufgrund eines Gutachtens eines Sachverständigen ausgesprochen werden (§ 46 Abs. 3 StVO). Hier ist der medizinische Sachverständige gefordert. Da in vielen Fällen nur der Bequemlichkeit des Antragstellers zum Durchbruch verholfen werden soll, ist der medizinische Sachverständige gut beraten, in dieser Frage streng zu urteilen und keine Gefälligkeitsgutachten zu erstellen (u. a. Penning 1997, S. 518 f.)
es geschehen, wenn mit diesem Amt mindestens dasselbe Endgrundgehalt verbunden ist und wenn zu erwarten ist, dass der Beamte den Anforderungen genügt. Fehlt die Befähigung für das neue Amt, hat der Beamte an Maßnahmen zum Erwerb der neuen Befähigung teilzunehmen. Ja, es kommt sogar die Übertragung einer geringerwertigen Tätigkeit innerhalb derselben Laufbahn in Betracht, sofern dies zumutbar ist. Welches die Dienstaufgaben des Beamten sind und welche Anforderungen zu stellen sind, hat der Dienstherr dem Sachverständigen so klar mitzuteilen, dass darüber bei der Begutachtung keine Zweifel bestehen können. Für die Dienstunfähigkeit wegen Krankheit erleichtert das Gesetz den Nachweis der Dienstunfähigkeit (§ 42 Abs. 1 S. 2 BBG). Auch dieses Gesetz unterstellt Dienstunfähigkeit, wenn der Beamte innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten 3 Monate keinen Dienst getan hat und auch keine Aussicht besteht, dass sich daran binnen 6 Monaten etwas ändern wird. > Cave: Der Begriff der Dienstunfähigkeit im Beamtenrecht darf nicht mit dem der Dienstunfähigkeit in § 7 BAT (jetzt: § 3 Abs. 4 TVöD) verwechselt werden. Dort ist er identisch mit Arbeitsunfähigkeit.
Diensttauglichkeit 2.12.2 Beamtenrecht
Dienstunfähigkeit Dieser Begriff gilt einheitlich für das Beamtenrecht in Bund und Ländern und erfasst alle Beamten, Richter, Soldaten sowie Wehr- und Zivildienstleistende. Dienstunfähig ist ein Beamter, wenn er infolge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte zur Erfüllung seiner Dienstpflichten dauernd unfähig ist oder infolge Erkrankung innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten mehr als 3 Monate keinen Dienst getan hat und keine Aussicht besteht, dass er innerhalb weiterer 6 Monate wieder voll dienstfähig wird. So definiert § 26 Abs. 1 BRRG den Begriff der Dienstunfähigkeit. Dienstunfähigkeit stellt nicht auf die Erwerbsfähigkeit ab, sondern auf die Fähigkeit, ein bestimmtes Amt fach- und sachgerecht auszufüllen, also den gesundheitlichen Anforderungen speziell dieses Dienstes gewachsen zu sein. Dienstunfähigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Berufsunfähigkeit. Dies gilt umso mehr, als seit 1997 (Gesetz vom 24.2.1997 BGBl. I S. 322) auch im Beamtenrecht Verweisungsmöglichkeiten bestehen (§ 26 Abs. 3 BRRG). Danach kann einem Beamten ein anderes Amt derselben oder einer anderen Laufbahn übertragen werden, wenn dadurch von der Versetzung in den Ruhestand abgesehen werden kann. Sogar ohne seine Zustimmung kann di-
Obwohl in den Beamtengesetzen des Bundes und der Länder nur der Fall der Dienstunfähigkeit und ihrer Konsequenzen geregelt ist, ist klar, dass die Ernennung eines Beamten nur dann erfolgen darf, wenn die gesundheitliche Eignung für das Amt festgestellt worden ist. Diese Einstellungsuntersuchung wird üblicherweise durch den Amtsarzt durchgeführt. Dieser hat bei der Untersuchung dieselben Kriterien zu berücksichtigen wie bei der Beurteilung der Dienstunfähigkeit.
Literatur Bundesminister für Gesundheit und Sozialordnung (1996) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz Hennies G (1997a) Allgemeine Rechtsgrundlagen der medizinischen Begutachtung. In: Marx HH, Klepzig H (Hrsg) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart New York, S 10–45 Hennies G (1997b) Rechtsgrundlagen für die Begutachtung in der Kranken- und Rentenversicherung und der Arbeitsförderung. In: Marx HH, Klepzig H (Hrsg) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart New York, S 74–87 Hennies, G (1997c) Rechtsgrundlagen der Begutachtung zu der Unfallversicherung, der sozialen Entschädigung und nach dem Schwerbehindertengesetz – Rechtsbegriffe. In: Marx HH, Klepzig H (Hrsg) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart New York, S 113–126 Jessnitzer K, Ulrich J (2001) Der gerichtliche Sachverständige, 11. Aufl. Heymanns, Köln
2
46
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 2 · Grundbegriffe der Begutachtung
Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, K Niesel (Hrsg) (Stand: 2006) Loseblattsammlung. Beck, München Kleinknecht T, Meyer-Goßner L (2001) Strafprozeßordnung. 45. Aufl. Beck, München Marx HH, Klepzig H (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten, 7. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Palandt O (2006) Kommentar zum BGB, 65. Aufl. Beck, München Penning R (1997) Rechtsmedizinische Fragestellungen aus allgemeinärztlicher Sicht. In: Marx HH, Klepzig H (Hrsg) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart New York, S 518–545 Piechowiak H (1997) Praktische Hinweise zur Begutachtung in der Kranken- und Pflegeversicherung und der Arbeitsverwaltung. In: Marx HH, Klepzig H (Hrsg) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart New York, S 90–107 Schaub, G (2002) Arbeitsrechtshandbuch. 10. Aufl. Beck, München Schönke A, Schröder H (2001) StGB, Kommentar. 26. Aufl. Beck, München
47
Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen H.-D. Lippert, W. Eisenmenger
3.1
Rechtsgrundlagen – 48
3.2
Grundsatz der Vergütung
3.3
Stundensatz
3.3.1
Zuordnung zu den einzelnen Stundensätzen – 49
3.4
Besondere Leistungen – 50
3.5
Ersatz der Aufwendungen
3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5
Fahrtkosten – 50 Tagegeld – 51 Übernachtung – 51 Kosten für Vertretung – 51 Ersatz für besondere Aufwendungen – 51
3.6
Vereinbarung der Vergütung
3.7
Geltendmachung der Vergütung – 53
3.7.1 3.7.2
Gerichtliche Festsetzung – 53 Gutachten im Verwaltungsverfahren – 53
3.8
Hochschulrechtliche Besonderheiten – Nutzungsentgelt – 53
3.9
Steuerrechtliche Behandlung der Vergütung – 54
– 48
– 49
– 50
– 52
Anhang – 54 Gesetz über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten – 54 Abrechnungsbeispiel – 63
Literatur
– 65
3
48
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
))
1
In diesem Kapitel werden die Regelungen der Vergütung von Sachverständigen dargestellt. Der Unterschied zwischen Sachverständigen und Zeugen wird thematisiert, da nicht für beide die gleichen Regeln gelten. Sachverständige werden nach Zeitaufwand vergütet, und einzelne Punkte, die zum erforderlichen Zeitaufwand gehören, werden genannt. Die Vergütung erfolgt nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG). Außerdem werden die Kriterien für die Bemessung des Stundensatzes und die Höhe des Stundensatzes angesprochen. Am Schluss des Kapitels findet sich ein Abrechnungsbeispiel.
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
versäumnis mit 3 Euro pro Stunde entschädigt. Zeugenentschädigung wird höchstens für 10 Stunden je Tag gewährt (§ 19 Abs. 2). Hier seien nochmals kurz die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Sachverständigen, dem sachverständigen Zeugen und dem Zeugen hervorgehoben: 5 Ein Zeuge schildert aufgrund seiner Erinnerung frühere Wahrnehmungen, also Tatsachen. Vermag der Zeuge solche Wahrnehmungen nur aufgrund besonderer Fachkenntnisse zu machen, ist er sachverständiger Zeuge. § 414 ZPO führt hierzu aus:
»
3.1
Rechtsgrundlagen
Der vom Gericht beauftragte Sachverständige wird nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG) vergütet. Vergütet werden auch Dolmetscher und Übersetzer. Nach demselben Gesetz entschädigt werden ehrenamtliche Richter, Zeugen und Dritte. Dies gilt für die Straf-, Zivil-, Arbeits-, Finanz- , Verwaltungs- und Sozialgerichte. Es gilt nicht bei Schiedsgerichtsverfahren. Wird der Gutachtensauftrag von einer Verwaltungsbehörde erteilt, so findet das JVEG in aller Regel entsprechende Anwendung, denn in vielen Gesetzen bzw. Verordnungen des Bundes und der Länder wird auf eine Entschädigung nach JVEG verwiesen, so z. B. § 21 SGB X oder § 26 Abs. 3 S. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz. Ausgeschlossen ist nicht, dass der Sachverständige aufgrund einer Einzelvereinbarung mit der beauftragenden Stelle vergütet wird. Das Honorar für Privatgutachten kann zwischen Sachverständigem und Auftraggeber auch frei ausgehandelt werden.
3.2
Grundsatz der Vergütung
Im Geltungsbereich des JVEG wird der Sachverständige im Gegensatz zum Zeugen vor Gericht nunmehr vergütet, der Zeuge wie bisher nur entschädigt. Man beachte diese feine Nuance im Gesetzeswortlaut genau. In 7 Kap. 1.4.2 war bereits darauf hingewiesen worden, dass den Sachverständigen eine Pflicht zur Erstattung von Gutachten trifft, der er sich nur im Ausnahmefall entziehen kann. Die mangelhafte Vergütung seiner Tätigkeit zählt nicht zu den Verweigerungsgründen. Für den Arzt ist von entscheidender Bedeutung, ob er als Zeuge, sachverständiger Zeuge oder Sachverständiger gehört wird. Sachverständige Zeugen werden gebührenrechtlich wie Zeugen behandelt. Dies bedeutet, dass bei nachgewiesenem Verdienstausfall ein Stundensatz von höchstens 17 Euro bezahlt wird, ansonsten wird die Zeit-
Insoweit zum Beweise vergangener Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu vernehmen sind, kommen die Vorschriften über den Zeugenbeweis zur Anwendung.
«
5 Zieht die Auskunftsperson hingegen aus Tatsachen, die sie selbst oder Dritte wahrgenommen haben, aufgrund ihres Fachwissens Schlüsse, so wird sie als Sachverständiger tätig und ist auch so zu vergüten (Meyer et al. 1995, Rz. 2 und 3 zu § 2). Die Rechtsprechung (OLG Hamm, NJW 1972, 2003) hat die Kriterien zur entsprechenden Einordnung der Auskunftsperson so umschrieben:
»
Ein Zeuge und ein sachverständiger Zeuge sind grundsätzlich unersetzbar, weil er nur von ihm selbst wahrgenommene, vergangene Tatsachen bekundet, während ein Sachverständiger in aller Regel gegen einen anderen Sachverständigen mit gleicher bzw. vergleichbarer Sachkunde auswechselbar ist.
«
Der Unterschied sei an einem Beispiel erläutert.
Beispiel Sachverständiger vs. sachverständiger Zeuge Ein Unfallopfer kommt in ärztliche Behandlung mit einer kompletten Unterarmfraktur. Äußerlich ist eine deutliche Achsenabweichung erkennbar, die auch ein medizinischer Laie, z. B. der Krankenhauspförtner, erkennen und bezeugen kann. Der Arzt fertigt eine Röntgenaufnahme und sieht eine Trümmerfraktur von Ulna und Radius in gleicher Höhe mit Dislokation der Bruchenden. Diese Feststellung trifft er aufgrund seiner besonderen fachlichen Kenntnisse. Schildert er vor Gericht nur diesen Befund, ist er sachverständiger Zeuge. Soll er dagegen beurteilen, wodurch der Bruch entstanden ist, wie die Therapie auszusehen hat und wie lange voraussichtlich der Verletzte krank sein wird, so ist dies Sachverständigentätigkeit.
49 3.3
Stundensatz
Es obliegt allein dem Gericht, zu entscheiden, ob es einen Arzt als Zeugen, sachverständigen Zeugen oder Sachverständigen hören will. Entsprechend können die Fragen so formuliert sein, dass tatsächlich nur objektive Wahrnehmungen erfragt werden. Beurteilungen, die ein Arzt dann ungefragt abgibt, führen nicht dazu, dass er automatisch zum Sachverständigen wird. Wird er aber um eine Beurteilung gebeten, so gelten seine gesamten Ausführungen, auch insoweit er Zeugenbeobachtungen mitgeteilt hat, als Gutachtertätigkeit. Da Ärzte in freiberuflicher Praxis erhebliche Vermögensnachteile haben, wenn sie nur Zeugengeld erhalten, fragen manche vor Beginn ihrer Aussage, ob sie hier als Sachverständige gehört werden sollen. Obwohl aus Sicht der Ärzte diese Frage durchaus legitim erscheinen mag, weckt sie oft beim Gericht Aversionen, weil sie zu belegen scheint, dass es dem Arzt nicht um seine Bürgerpflicht gehe, dem Gericht bei der Ermittlung der Wahrheit zu helfen, sondern um materiellen Gewinn. In solchen Fällen kann ein Gericht die Befragung leicht so gestalten, dass der Arzt keine Sachverständigentätigkeit erbringen muss.
5 Wiedereinarbeitung bei längeren unvermeidbaren Unterbrechungen, 5 Zeitaufwand bis zur vorzeitigen Beendigung des Gutachtenauftrages, soweit nicht vom Sachverständigen verursacht (Jessnitzer u. Frieling 1992, Rz. 778 f.). Um beispielhaft darzulegen, wie Gerichte versuchen, den erforderlichen Zeitaufwand schematisch einzugrenzen, sei aus der ständigen Rechtsprechung des Kostensenats des Bayerischen Landessozialgerichtes zitiert:
»
1. Die sorgfältige Durcharbeitung der Akten einschließlich der Fertigung von Notizen und Exzerpten erfordert einen Zeitaufwand von 1 Stunde für 60 Aktenblätter, wenn diese zumindest zu 25% medizinischen Inhalts sind (bei BayLSG: L 5 Ar 115/89). 2. Für die Abfassung von 1 Seite der Beurteilung ist ein Zeitaufwand von 1 Stunde zuzubilligen (BayLSG: L Ar 115/89). 3. Für Diktat und Durchsicht des Gutachtens wird in der Regel pro 4 Seiten des Gutachtens ein Zeitaufwand von 1 Stunde berechnet (BayLSG: L 11 Ar 459/89 Ko.).
«
3.3.1 Zuordnung zu den einzelnen
Stundensätzen 3.3
Stundensatz
Die Vergütung des Sachverständigen für sein Gutachten erfolgt nach dem erforderlichen Zeitaufwand. Der erforderliche Zeitaufwand ist nach objektiven Maßstäben zu ermitteln. Es kommt darauf an, welche Zeit ein mit der Materie vertrauter Sachverständiger von durchschnittlichen Fachkenntnissen bei durchschnittlicher Arbeitsintensität und bei sachgerechter Aufgabenerledigung benötigen würde (Jessnitzer u. Ulrich 2001, Rz. 481; Hennies 1997, S. 219; Hartmann, JVEG § 8 Rz. 8 ff.). Zur erforderlichen Zeit gehört 5 Prüfung der Zuständigkeit des Sachverständigen, 5 Studium der Gerichts- und sonstigen Akten, 5 Einsicht in sonstige Unterlagen, 5 Fertigung von Aktenauszügen in schwierigen Fällen, 5 Schriftwechsel, Kontakt mit dem Gericht, Anwälten und sonstigen Beteiligten, 5 Anforderung von Unterlagen, 5 Literaturstudium, soweit notwendig und soweit ein durchschnittlich befähigter und erfahrener Sachverständiger die Beweisfragen ohne entsprechendes Literaturstudium nicht beantworten könnte; Literaturstudium zu Weiterbildungszwecken scheidet aus, 5 Vorbereitung und Organisation von Ortsterminen, die Durchführung des Ortstermins selbst und das Protokoll darüber, 5 Anfertigung des Gutachtens einschließlich Entwurf, Diktat, Korrekturen und Durchsicht, 5 Vorbereitung des oder der Gerichtstermine, 5 Reisezeiten, 5 Wartezeiten (auch vor Gericht),
Jede Stunde der erforderlichen Zeit wird mit einem bestimmten, gesetzlich begrenzten Stundensatz abgegolten. Diese Stundensätze sind in Anlage 1 zu § 9 JVEG dezidiert aufgeführt. Die Leistungen von Ärzten und Psychologen sind als Honorargruppe M1 bis M3 unter den Sachverständigenleistungen gesondert erfasst. Das Honorar beträgt 5 in Honorargruppe M1 50 Euro, 5 in Honorargruppe M2 60 Euro, 5 in Honorargruppe M3 85 Euro. Wird eine Leistung auf einem Sachgebiet erbracht, das in keiner Honorargruppe genannt wird, ist sie unter Berücksichtigung der allgemein für Leistungen dieser Art außergerichtlich und außerbehördlich vereinbarten Stundensätze einer Honorargruppe nach »billigem Ermessen« zuzuordnen. Dies gilt entsprechend auch, wenn ein medizinisches oder psychologisches Gutachten einen Gegenstand betrifft, der in keiner Honorargruppe genannt wird. Betrifft das medizinische und psychologische Gutachten mehrere Gegenstände und sind diese verschiedenen Honorargruppen zugeordnet, bemisst sich das Honorar einheitlich für die gesamte erforderliche Zeit nach der höchsten dieser Honorargruppen. Das Sachverständigenhonorar nach Stundensätzen wird für jede Stunde der für die Gutachtenerstellung erforderlichen Zeit gewährt – beginnend beim Aktenstudium, einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten bis zu Auswertung und Diktat des Gutachtens. Nach § 8 wird die letzte, bereits begonnene Stunde nur dann voll gerechnet, wenn sie zu mehr als 30 Minuten für das Gutachten aufgewandt wurde. Ein Zeitraum von weniger oder
3
50
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
bis zu 30 Minuten darf nur mit der Hälfte des Stundensatzes angesetzt werden. Erstreckt sich ein Termin über mehrere Tage, so werden üblicherweise die angefangenen Stunden zusammengerechnet. Wenn also am ersten Tag von der letzten angefangenen Stunde 35 Minuten angefallen sind und damit die Stunde voll angerechnet werden müsste, ergäbe sich bei gleicher Situation am Folgetag, dass die beiden Terminzeiten von 35 Minuten addiert würden und zusätzlich eine halbe Gebühr für die angefangene Stunde in Ansatz käme. Der im Bereich des Justizkostenrechtes früher übliche 10%ige Ostabschlag für die neuen Bundesländer gilt seit 1. Juli 2004 nicht mehr. Auch der früher mögliche Zuschlag von bis zu 50% auf den Stundensatz entfällt für Sachverständige, die durch Dauer und Häufigkeit ihrer Heranziehung einen nicht zumutbaren Erwerbsverlust erleiden oder die ihre Berufseinkünfte zu mindestens 70% aus Sachverständigentätigkeit erzielen. Insofern ist es durchaus möglich, dass bei der Abrechnung nach dem JVEG ein Sachverständiger Einbußen gegenüber der früheren Regelung erfährt.
9
Kommentar Bemerkenswert ist, dass die Stundensätze für medizinische und psychologische Gutachten der Honorargruppen M1 und M2 niedriger angesetzt sind als z. B. Gutachten über Fußböden, Heizungs-, Klima- und Lüftungstechnik oder Ingenieurleistungen bzw. Kraftfahrzeugschäden und Unfallursachen.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bereits in der Vergangenheit hatte aber das BVerfG (NJW 1972, 1891) entschieden, dass es nicht verfassungswidrig sei, wenn ein Sachverständiger eine Minderentschädigung gegenüber seinen sonstigen Einkünften in freier Praxis erleide, weil die Entscheidungen des Gesetzgebers das Ergebnis eines Interessenausgleichs seien, der im Sinne des Gemeinwohls vorgenommen worden sei. Fraglich bleibt unter der neuen Rechtslage, ob der Gesetzgeber bei der jetzigen Festsetzung der Vergütungssätze, dieser Argumentation des BVerfG folgend, eine Vergütung festschreiben kann, die hinter derjenigen zurückbleibt, die der Sachverständige mit seiner sonstigen (in aller Regel hauptberuflichen) Tätigkeit regelmäßig erzielt.
3.4
Besondere Leistungen
Einzelne Verrichtungen von Sachverständigen und sachverständigen Zeugen kommen in der Praxis so häufig vor, dass der Gesetzgeber es für zweckmäßig erachtet hat, diese Verrichtungen in eigenen Tabellen mit festen Gebühren oder Rahmensätzen zu erfassen. Diese Leistungen sind in
der Anlage 2 zu § 10 JVEG aufgegliedert und im Gesetzestext im Anhang dieses Kapitels zu finden. Nach § 10 Abs. 2 JVEG werden Leistungen, die in Abschnitt O des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen (Anlage zur Gebührenordnung für Ärzte) bezeichnet sind, mit dem 1,3-fachen Gebührensatz in Ansatz gebracht. Das bedeutet, dass auf die in der GOÄ genannten Gebühren ein Zuschlag von 30% zu erheben ist. Die Leistungen nach Abschnitt O der GOÄ betreffen Leistungen aus dem Fachgebiet Strahlendiagnostik, Nuklearmedizin, Magnetresonanztomographie und Strahlentherapie. In § 10 Abs. 2 S. 2 JVEG wird darauf hingewiesen, dass die §§ 4 Abs. 2–4, Satz 1 und 10 der GOÄ entsprechend gelten. Diese Vorschriften regeln u. a., dass der Arzt Gebühren nur für ärztliche Leistungen berechnen kann, die er eigenhändig erbracht hat oder die unter seiner Aufsicht nach fachlicher Weisung erbracht wurden oder dass die Praxiskosten einschließlich Kosten für den Sprechstundenbedarf und die Anwendung von Instrumenten und Apparaten mit den Gebühren abgegolten sind, falls in der GOÄ nicht etwas anderes bestimmt ist. § 10 GOÄ regelt den Ersatz von Auslagen. Wenn für die Erbringung der vorgenannten Leistungen nach Anlage 2 bzw. Abschnitt O der GOÄ zusätzliche Zeit erforderlich ist, kann nach § 10 Abs. 3 JVEG ein Honorar nach der Honorargruppe M1, also 50 Euro, berechnet werden. Dabei ist zu beachten, dass der normale Zeitaufwand mit den in den Tabellen genannten Honoraren abgegolten ist. Die Bestimmung trifft z. B. auf die Zeit der Reise zu, die ein Sachverständiger vornehmen muss, um die Leistung zu erbringen. Als Beispiel sei die An- und Abfahrt zu einer gerichtlichen Leichenöffnung außerhalb eines rechtsmedizinischen Institutes genannt. Dies darf nicht mit der Anreise zum Gericht verwechselt werden.
3.5
Ersatz der Aufwendungen
3.5.1 Fahrtkosten
Neben dem Honorar seiner Gutachterleistungen erhält der Sachverständige Fahrtkostenersatz nach § 5 JVEG. Bei Benutzung von öffentlichen, regelmäßig verkehrenden Beförderungsmitteln werden die tatsächlich entstandenen Auslagen bis zur Höhe der entsprechenden Kosten für die Benutzung der 1. Wagenklasse der Bahn einschließlich der Auslagen für Platzreservierung und Beförderung des notwendigen Gepäcks ersetzt. Aufwendungen, die dem Sachverständigen durch die Beschaffung von BahnCard, Bezirks- oder Zeitkarten entstehen, sind nicht, auch nicht anteilig, ersatzfähig. Setzt er derartige Karten ein, so hat er auch keinen Anspruch auf Ersatz der normalen Fahrtkosten (Meyer, Höver, Bach, § 5 Rz. 5.8f.). Auch die Kosten für die Benutzung eines Taxis sind ersatzfähig, soweit sie
51 3.5 Ersatz der Aufwendungen
nach den besonderen Umständen nach § 5 Abs. 3 notwendig waren. Höhere als die nach Abs. 1 und 2 zu erstattenden Fahrtkosten sind in jedem Fall zu begründen (Meyer, Höver, Bach § 5 Rz. 5.17). Bei Benutzung eines eigenen oder unentgeltlich zur Nutzung überlassenen Kraftfahrzeugs wird dem Sachverständigen ein Kilometergeld von 0,30 Euro, zuzüglich der aus Anlass der Reise regelmäßig anfallenden Auslagen, insbesondere Parkentgelte, erstattet. Bei der Benutzung durch mehrere Personen kann die Pauschale nur einmal geltend gemacht werden. In besonderen Fällen können höhere Fahrtkosten wie z. B. Flugkosten geltend gemacht werden, wenn dadurch Mehrbeträge an Vergütung oder Entschädigung eingespart werden können. Wenn z. B. ein Sachverständiger zu einem Gerichtstermin an einem weit entfernten Ort anreist und durch eine Anreise per Flugzeug die Übernachtungskosten einsparen kann, die in vergleichbarer Höhe lägen wie der Mehraufwand für den Flug gegenüber einer Bahnfahrt 1. Klasse, sind die Flugkosten erstattungsfähig. Es empfiehlt sich allerdings in jedem Fall, sich vorher mit dem entsprechenden Gericht über solche Modalitäten zu verständigen. Dies gilt auch für die Anreise eines Sachverständigen von einem anderen Ort als von dem, an dem er geladen wurde. Ein Ersatz der Fahrtkosten ist hier nur dann möglich, wenn der Sachverständige zu diesen Fahrten durch besondere Umstände genötigt war.
3.5.2 Tagegeld
§ 6 JVEG sieht ein Tagegeld für Sachverständige vor, wenn der Termin außerhalb seines Wohnorts oder Tätigkeitsmittelpunktes stattfindet. Allerdings richtet sich diese Entschädigung nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes. In diesem Paragraphen ist festgelegt, dass bei einer Abwesenheit von 24 Stunden ein Pauschalbetrag von 24 Euro, bei weniger als 24, aber mindestens 14 Stunden ein Pauschalbetrag von 12 Euro und bei weniger als 14 Stunden, aber mindestens 8 Stunden Abwesenheit, ein Pauschalbetrag von 6 Euro anfällt. Unter 8 Stunden wird kein Tagegeld gewährt.
3.5.3 Übernachtung
Ist eine Übernachtung notwendig, wird ein Übernachtungsgeld nach den Bestimmungen des Bundesreisekostengesetzes gewährt. Bei den heutigen Hotelpreisen bedeutet das, dass der Sachverständige meist finanzielle Einbußen erleiden wird. Das Bundesreisekostengesetz sieht ein Übernachtungsgeld von 20 Euro vor, ohne dass ein Nachweis erbracht werden muss. Wird ein Nachweis vorgelegt, wonach die Übernachtung mehr als 20 Euro kostete, dann wird der darüber liegende Betrag nur bis zu 50%
des Gesamtbetrages erstattet. Darüber hinausgehende Mehrkosten werden erstattet, soweit sie unvermeidbar sind. Hartmann (§ 6 Rz. 7) empfiehlt, Übernachtungen und sonstige Leistungen wie Frühstück oder Teilpension in den Hotelrechnungen gesondert ausweisen zu lassen.
3.5.4 Kosten für Vertretung
§ 7 JVEG regelt den Ersatz für sonstige Aufwendungen, soweit diese notwendig sind. Insbesondere werden die Kosten notwendiger Vertretungen und notwendiger Begleitpersonen hier hervorgehoben. Wichtig für den medizinischen Sachverständigen ist in diesem Zusammenhang, dass auch für die Vorbereitung einer Gutachtenerstattung Kosten geltend gemacht werden können. Wichtig für den niedergelassenen Arzt ist, dass er Vertretungskosten geltend machen kann. Allerdings muss er in einem derartigen Fall das Gericht auf extra zu erwartende ungewöhnlich hohe Kosten solcher Art unverzüglich hinweisen. Hartmann (Hartmann, § 7 Rz. 6 f.) stellt allerdings zur Diskussion, dass sich die Vertretungskosten für einen Arzt um den Betrag verringern könnten, den der Vertreter ihm an Gewinn einbringe.
3.5.5 Ersatz für besondere Aufwendungen
Das JVEG sieht in § 12 zusätzlich noch den Ersatz für besondere Aufwendungen vor. Besonders genannt werden Kosten, die für die Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens erforderlich sind einschließlich der notwendigen Aufwendungen für Hilfskräfte sowie die für eine Untersuchung verbrauchten Stoffe und Werkzeuge, ferner die erforderlichen Lichtbilder oder Farbausdrucke, Schreibkosten und Umsatzsteuer. > In diesem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass sich die Umsatzsteuer sowohl auf das gesamte Honorar wie den Aufwendungsersatz einschließlich Fahrtkostenersatz, Entschädigung für Aufwand, Reisetagegeld und sonstige besondere Aufwendungen erstreckt.
Der normale Personalaufwand ist allerdings bei den Kosten bereits mit berücksichtigt. Unter einer Hilfskraft versteht man eine Person, die vom Sachverständigen weisungsabhängig ist. Wenn allerdings ein Klinikleiter erlaubtermaßen einen angestellten Mitarbeiter beizieht, so wird dieser im Regelfall als weiterer Sachverständiger gelten, für den keine besonderen Gebühren geltend gemacht werden können. Für die Anfertigung von Ablichtungen werden 0,50 Euro je Seite für die ersten 50 Seiten und 0,15 Euro für jede weitere Seite, für die Anfertigung von Farbkopien 2 Euro je Seite ersetzt. Für die Überlassung elektronisch gespei-
3
52
1 2 3
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
cherter Daten werden 2,50 Euro je Datei ersetzt. Nach der entsprechenden Änderung von § 7JVEG ist ein Ersatz für Kopien der eigenen Unterlagen ausgeschlossen, was davor streitig war. Bei der Erstellung des schriftlichen Gutachtens werden als Schreibkosten 0,75 Euro je angefangene 1000 Anschläge erstattet.
Kommentar
4
Für dieses Entgelt bekommt man heute auf dem freien Markt kein Gutachten geschrieben.
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
3.6
Vereinbarung der Vergütung
Die §§ 13, 14 JVEG beziehen sich auf Vereinbarungen der Vergütung. Nach § 10 werden für besondere Verrichtungen, die in einer Anlage zu diesem Paragraphen erfasst sind, feste Sätze bezahlt; § 13 nimmt Bezug auf Abmachungen, die die Parteien mit dem Sachverständigen treffen können. Der Paragraph lautet:
§ 13 Besondere Vergütgung (1) Sind die Gerichtskosten nach der jeweiligen Verfahrensordnung in jedem Fall den Parteien oder den Beteiligten aufzuerlegen und haben sich diese dem Gericht gegenüber mit einer bestimmten oder abweichend von der gesetzlichen Regelung zu bemessenden Vergütung einverstanden erklärt, wird der Sachverständige, Dolmetscher oder Übersetzer unter Gewährung dieser Vergütung erst herangezogen, wenn ein ausreichender Betrag für die gesamte Vergütung an die Staatskasse gezahlt ist. (2) Die Erklärung nur einer Partei oder eines Beteiligten genügt, soweit sie sich auf den Stundensatz nach § 9 oder bei schriftlichen Übersetzungen auf die Vergütung für jeweils angefangene 55 Anschläge nach § 11 bezieht und das Gericht zustimmt. Die Zustimmung soll nur erteilt werden, wenn das Eineinhalbfache des nach den §§ 9 oder 11 zulässigen Honorars nicht überschritten wird. Vor der Zustimmung hat das Gericht die andere Partei oder die anderen Beteiligten zu hören. Die Zustimmung und die Ablehnung der Zustimmung sind unanfechtbar. (3) Derjenige, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann eine Erklärung nach Absatz 1 nur abgeben, die sich auf den Stundensatz nach § 9 oder bei schriftlichen Übersetzungen auf ein Honorar für jeweils angefangene 55 Anschläge nach § 11 bezieht. Wäre er ohne Rücksicht auf die Prozesskostenhilfe zur vorschussweisen Zahlung der Vergütung verpflichtet, hat er einen ausreichenden Betrag für das gegenüber der gesetzlichen Regelung oder der vereinbarten Vergütung (§ 14) zu erwartende zusätzliche Honorar an die Staatskasse zu zahlen;
§ 122 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a der Zivilprozessordnung ist insoweit nicht anzuwenden. Der Betrag wird durch unanfechtbaren Beschluss festgesetzt. (4) Ist eine Vereinbarung nach den Absätzen 1 und 3 zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig und ist derjenige, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, zur Zahlung des nach Absatz 3 Satz 2 erforderlichen Betrags außerstande, bedarf es der Zahlung nicht, wenn das Gericht seiner Erklärung zustimmt. Die Zustimmung soll nur erteilt werden, wenn das Eineinhalbfache des nach § 9 oder § 11 zulässigen Honorars nicht überschritten wird. Die Zustimmung und die Ablehnung der Zustimmung sind unanfechtbar. (5) Im Musterverfahren nach dem KapitalanlegerMusterverfahrensgesetz ist die Vergütung unabhängig davon zu gewähren, ob ein ausreichender Betrag an die Staatskasse gezahlt ist. Im Fall des Absatzes 2 genügt die Erklärung eines Beteiligten (§ 8 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes). Die Anhörung der übrigen Beteiligten kann dadurch ersetzt werden, dass die Vergütungshöhe, für die die Zustimmung des Gerichts erteilt werden soll, öffentlich bekannt gemacht wird. Die öffentliche Bekanntmachung wird durch Eintragung in das Klageregister nach § 2 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes bewirkt. Zwischen der öffentlichen Bekanntmachung und der Entscheidung über die Zustimmung müssen mindestens vier Wochen liegen. (6) Hat sich eine Partei oder ein Beteiligter dem Gericht gegenüber mit einem bestimmten Stundensatz nach § 9 oder bei schriftlichen Übersetzungen mit einem bestimmten Honorar für jeweils angefangene 55 Anschläge nach § 11 einverstanden erklärt, ist dieses Honorar zu gewähren, wenn die Partei oder der Beteiligte zugleich erklärt, die entstehenden Mehrkosten zu übernehmen, und wenn ein ausreichender Betrag für das gegenüber der gesetzlichen Regelung oder der vereinbarten Vergütung (§ 14) zu erwartende zusätzliche Honorar an die Staatskasse gezahlt ist; eine nach anderen Vorschriften bestehende Vorschusspflicht wegen der gesetzlichen oder vereinbarten Vergütung bleibt hiervon unberührt. Gegenüber der Staatskasse haften mehrere Personen, die eine Erklärung nach Satz 1 abgegeben haben, als Gesamtschuldner, im Innenverhältnis nach Kopfteilen. Die Mehrkosten gehören nicht zu den Kosten des Verfahrens. (7) In den Fällen der Absätze 3 und 6 bestimmt das Gericht zugleich mit der Festsetzung des vorab an die Staatskasse zu zahlenden Betrags, welcher Honorargruppe die Leistung des Sachverständigen ohne Berücksichtigung der Erklärungen der Parteien oder Beteiligten zuzuordnen oder mit welchem Betrag für 55 Anschläge in diesem Fall eine Übersetzungen zu honorieren wäre. § 14 sieht vor, dass die oberste Landesbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle mit Sachverständigen, die häufiger herangezogen werden, eine Entschädigung im Rah-
53 3.8 Hochschulrechtliche Besonderheiten – Nutzungsentgelt
men der nach diesem Gesetz zulässigen Entschädigung vereinbaren kann. Durch eine solche Vereinbarung vereinfacht sich das Vergütungsverfahren erheblich. Sofern keine Vereinbarungen nach den vorgenannten Paragraphen festgelegt sind oder wurden, richtet sich die Entschädigung nach den Vorgaben des § 8 ff. JVEG. Eine etwaige Vereinbarung des Sachverständigen mit dem Gericht, der Strafverfolgungsbehörde oder eine vorherige Zusicherung des Gerichtes auf eine bestimmte pauschalierte Vergütung oder auf einen bestimmten Stundensatz ist ohne jede Bedeutung. Der Richter kann die Staatskasse nicht im Voraus zur Zahlung einer bestimmten Entschädigung verpflichten, der Sachverständige kann sich auch nicht auf seine vorherige Mitteilung an das Gericht berufen, dass das Gutachten voraussichtlich Kosten in einer bestimmten Höhe verursachen werde. Auch die Mitteilung des Gerichts an den Sachverständigen, dass über einen bestimmten Höchstbetrag nicht hinausgegangen werden dürfe, hat keine rechtliche Wirkung etwa in dem Sinne, dass dem Sachverständigen die genannte Vergütung zugesichert werde. Selbst wenn der Sachverständige erklärt, dass er zu einer unter dem von ihm genannten Betrag liegenden Vergütung nicht tätig werden könne, ist das für den Vergütungsanspruch ohne Belang (Meyer et al. 1995, Rz. 3 zu § 3). Mit Sachverständigen, die häufiger herangezogen werden, kann die oberste Landesbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle die Vergütung vereinbaren. Durch eine solche Vereinbarung vereinfacht sich das Vergütungsverfahren erheblich (s. oben). Außerhalb des Anwendungsbereiches des JVEG kann der medizinische Sachverständige die Vergütung seiner Leistungen nach den Vorschriften der Gebührenordnung verlangen oder eine solche auch frei vereinbaren.
3.7
Geltendmachung der Vergütung
Die Vergütung wird nur auf Antrag gewährt. Der Anspruch ist innerhalb einer Frist von 3 Monaten zu beziffern. Die Frist beginnt mit der Beendigung der Vernehmung als Sachverständiger oder im Fall der schriftlichen Begutachtung mit Eingang des Gutachtens. Bei Fristversäumnis kann in einem bis ins Einzelne ausziselierten Verfahren Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, ehe der Anspruch endgültig erlischt. Der Anspruch verjährt innerhalb von 3 Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem er entstanden ist.
3.7.1 Gerichtliche Festsetzung
Ist der Sachverständige mit der Vergütung nicht einverstanden, so steht es ihm frei, die gerichtliche Entscheidung gegen die Festsetzung des Gebührenbeamten zu beantra-
gen. Zuständig ist dasjenige Gericht, das den Sachverständigen zugezogen hat. Das Gericht prüft in diesem Verfahren nicht nur die einzelnen Vergütungspositionen, sondern es legt auch die Gesamtvergütung fest. Gegen die Festlegung kann Beschwerde eingelegt werden, sofern der Beschwerdewert erreicht ist (200 Euro). Das Verfahren ist (gerichts-)gebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet, wenn die Beschwerde Erfolg hatte. Gegen die Festsetzung der Entschädigung durch das OLG, OVG, LAG oder LSG gibt es keine Beschwerde (Hartmann, JVEG, § 4).
3.7.2 Gutachten im Verwaltungsverfahren
Nach § 21 Abs. 3 SGB X richtet sich die Vergütung für den externen medizinischen Sachverständigen, der im Auftrag von Versicherungsträgern oder Sozialbehörden tätig wird, nach den Vorschriften des JVEG. Es kann aber auch eine andere Art der Entschädigung vereinbart werden. Die in Vereinbarungen festgelegten Entschädigungen werden dabei von Zeit zu Zeit aktualisiert und der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst. Die aktuellen Sätze müssen erfragt werden. Diese Art der Vergütung des Sachverständigen hat den Vorteil, dass sie wesentlich unkomplizierter funktioniert als das (gerichtliche) Erstattungsverfahren nach dem JVEG.
3.8
Hochschulrechtliche Besonderheiten – Nutzungsentgelt
Nimmt der Sachverständige – etwa als angestellter Arzt eines Krankenhauses oder als Professor in einem Universitätsklinikum oder als sonst beamteter Arzt – Einrichtungen, Personal und Sachmittel seines Arbeitgebers oder Dienstherrn bei der Erstellung von Gutachten in Anspruch, so hat er ihm nach den einschlägigen Nebentätigkeitsvorschriften für diese Nutzung der Ressourcen ein Nutzungsentgelt zu entrichten. Dafür, dass dieser Personenkreis die Ressourcen des Dienstherrn oder Arbeitgebers für die Durchführung von Nebentätigkeiten in Anspruch nehmen darf und sich dadurch eigene Aufwendungen für die in Anspruch genommenen Einrichtungen erspart, muss er zum Nutzungsentgelt zusätzlich noch einen Betrag entrichten, der diesen Vorteil ausgleichen soll (Vorteilsausgleich). Wird der Vorteilsausgleich gesondert ausgewiesen, bestehen keine Bedenken dagegen, dass der Sachverständige das Nutzungsentgelt als Aufwendung ersetzt bekommt (Hennies 1997: 229 und diverse Gerichtsentscheidungen).
3
54
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
3.9
1 2 3 4
Steuerrechtliche Behandlung der Vergütung
Die Tätigkeit des medizinischen Sachverständigen hat selbstverständlich auch eine steuerrechtliche Dimension, auf die hier mehr der Vollständigkeit halber hingewiesen werden soll. Inhaltlich sind die Fragen z. T. sehr diffizil, sodass der dringende Rat ausgesprochen sein soll, sich hier rechtzeitig sachkundigen Rates zu versichern. Einkommensteuer
5
Einkünfte aus einer Tätigkeit als medizinischer Sachverständiger unterliegen in jedem Fall der Einkommensteuer.
6
Umsatzsteuer
7 8
Die Sachverständigentätigkeit kann auch eine Umsatzsteuerpflicht nach sich ziehen. Umsätze aus heilberuflicher Tätigkeit sind nach § 4 Nr. 10 UStG umsatzsteuerfrei, sofern es sich nicht um eine freiberufliche Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG handelt. Umsatzsteuerfrei ist auch eine Gutachtertätigkeit der Ärzte, soweit sie in Ausübung der Heilkunde vorgenommen wird.
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Beispiel Umsatzsteuerfreie Gutachten 5 Gutachten über den Gesundheitszustand eines Betroffenen 5 Pathologische Gutachten aufgrund histologischer Untersuchungen zur Bestimmung einer Gewebeerkrankung
Umsatzsteuerpflichtige Tätigkeiten 5 Blutgruppengutachten im Rahmen der Vaterschaftsfeststellung 5 anthropologische/erbbiologische Gutachten 5 Alkoholgutachten 5 Gutachten aufgrund des Betreuungsgesetzes 5 DNA-Analysen 5 Krematoriumsleichenschau 5 Gutachten über die Fahrereignung
Eine Zäsur von erheblicher (auch finanzieller) Bedeutung hatte das Urteil des EuGH vom 14. September 2000 zur Folge. Es hatte in der Praxis der medizinischen Gutachtenerstellung zur Folge, dass die bisherige (großzügig gehandhabte) Befreiung von der Umsatzsteuer nunmehr sehr viel enger ausgelegt wird. Dies führt in der Praxis der medizinischen Gutachtenerstattung dazu, dass die Mehrzahl der Gutachtenaufträge umsatzsteuerpflichtig ist. Diese Auswirkungen in der Praxis werden aber insoweit gemindert, als zum einen die Kleinunternehmerregelung zur Anwendung kommen kann (bis zu 16.620 Euro Einkünfte ohne Umsatzsteuerausweis). Im Gegenzug wird der Sach-
verständige, welcher nach der Neuregelung umsatzsteuerpflichtig wird, zum Vorsteuerabzug berechtigt. Folge der Entscheidung und der damit einhergehenden engen Auslegung der Umsatzsteuerbefreiung ist, dass sie nur noch bei einer eindeutigen therapeutischen Zielsetzung der Sachverständigentätigkeit zur Anwendung kommt. Im Einzelnen mag auch nach dem Urteil noch Klärungsbedarf bestehen. Daher tut der medizinische Sachverständige gut daran, diese Frage jeweils durch einen Steuerberater klären zu lassen. Bei Ärzten, die ein Krankenhaus betreiben, bestimmt sich die umsatzsteuerpflichtige Behandlung der Gutachtertätigkeit nach der einkommensteuerlichen Behandlung des Betriebes. Ist der Betrieb des Krankenhauses einkommensteuerrechtlich als freiberufliche Tätigkeit des Arztes anerkannt, so sind auch die Umsätze des Arztes, soweit es sich um ärztliche Leistungen handelt, umsatzsteuerfrei. Ist dagegen ein vom Arzt betriebenes Krankenhaus, Kurheim oder Sanatorium ein gewerblicher Betrieb, so gehören auch die im Rahmen dieses Betriebes erzielten Einnahmen aus Sachverständigentätigkeit zu den Einnahmen aus dem Gewerbebetrieb und sind damit umsatzsteuerpflichtig. Betreibt ein Arzt neben seinem gewerblichen Krankenhaus noch eine Praxis, so kann er unter bestimmten Voraussetzungen seine freiberufliche von der gewerblichen Tätigkeit trennen. Sachverständigenleistungen können dann von der Umsatzsteuer befreit sein (Meyer et al. 1995, Rz. 27.1 bis 27.3.3 zu § 8).
Anhang Gesetz über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehrenamtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz; JVEG) vom 5. Mai 2004 (BGBl. I, S. 718) zuletzt geändert durch Gesetz vom 12.12.2007 (BGBl. I, S. 2840) 3 Abschnitt 1 – Allgemeine Vorschriften 2 § 1 Geltungsbereich und Anspruchsberechtigte (1) Dieses Gesetz regelt 1. die Vergütung der Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetscher, Übersetzerinnen und Übersetzer, die von dem Gericht, der Staatsanwaltschaft, der Finanzbehörde in den Fällen, in denen diese das Ermittlungsverfahren selbständig durchführt, der Verwaltungsbehörde im Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten oder dem Gerichtsvollzieher herangezogen werden; 2. die Entschädigung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter bei den ordentlichen Gerichten und den Gerichten für Arbeitssachen sowie bei den Gerichten der Verwaltungs-, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit mit Ausnahme der ehrenamtlichen Richterinnen
55 Anhang
und Richter in Handelssachen, in berufsgerichtlichen Verfahren oder bei Dienstgerichten sowie 3. die Entschädigung der Zeuginnen, Zeugen und Dritten (§ 23), die von den in Nummer 1 genannten Stellen herangezogen werden. Eine Vergütung oder Entschädigung wird nur nach diesem Gesetz gewährt. Der Anspruch auf Vergütung nach Satz 1 Nr. 1 steht demjenigen zu, der beauftragt worden ist; dies gilt auch, wenn der Mitarbeiter einer Unternehmung die Leistung erbringt, der Auftrag jedoch der Unternehmung erteilt worden ist. (2) Dieses Gesetz gilt auch, wenn Behörden oder sonstige öffentliche Stellen von den in Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 genannten Stellen zu Sachverständigenleistungen herangezogen werden. Für Angehörige einer Behörde oder einer sonstigen öffentlichen Stelle, die weder Ehrenbeamte noch ehrenamtlich tätig sind, gilt dieses Gesetz nicht, wenn sie ein Gutachten in Erfüllung ihrer Dienstaufgaben erstatten, vertreten oder erläutern. (3) Einer Heranziehung durch die Staatsanwaltschaft oder durch die Finanzbehörde in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 steht eine Heranziehung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde im Auftrag oder mit vorheriger Billigung der Staatsanwaltschaft oder der Finanzbehörde gleich. Satz 1 gilt im Verfahren der Verwaltungsbehörde nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten entsprechend. (4) Die Vertrauenspersonen in den Ausschüssen zur Wahl der Schöffen und die Vertrauensleute in den Ausschüssen zur Wahl der ehrenamtlichen Richter bei den Gerichten der Verwaltungs- und der Finanzgerichtsbarkeit werden wie ehrenamtliche Richter entschädigt.
2 § 2 Geltendmachung und Erlöschen des Anspruchs, Verjährung (1) Der Anspruch auf Vergütung oder Entschädigung erlischt, wenn er nicht binnen drei Monaten bei der Stelle, die den Berechtigten herangezogen oder beauftragt hat, geltend gemacht wird. Die Frist beginnt 1. im Fall der schriftlichen Begutachtung oder der Anfertigung einer Übersetzung mit Eingang des Gutachtens oder der Übersetzung bei der Stelle, die den Berechtigten beauftragt hat, 2. im Falle der Vernehmung als Sachverständiger oder Zeuge oder der Zuziehung als Dolmetscher mit Beendigung der Vernehmung oder Zuziehung, 3. in den Fällen des § 23 mit Beendigung der Maßnahme und 4. im Fall der Dienstleistung als ehrenamtlicher Richter oder Mitglied eines Ausschusses im Sinne des § 1 Abs. 4 mit Beendigung der Amtsperiode. Die Frist kann auf begründeten Antrag von der in Satz 1 genannten Stelle verlängert werden; lehnt sie eine Verlängerung ab, hat sie den Antrag unverzüglich dem nach § 4 Abs. 1 für die Festsetzung der Vergütung oder Entschädigung zuständigen Gericht vorzulegen, das durch unanfechtbaren Beschluss entscheidet. Weist das Gericht den Antrag zurück, erlischt der Anspruch, wenn die Frist nach Satz 1 abgelaufen und der Anspruch nicht binnen zwei Wochen ab Bekanntgabe der Entscheidung bei der in Satz 1 genannten Stelle geltend gemacht worden ist. (2) War der Berechtigte ohne sein Verschulden an der Einhaltung einer Frist nach Absatz 1 gehindert, gewährt ihm das Gericht auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn er innerhalb von zwei Wochen nach Beseitigung des Hindernisses den Anspruch beziffert und die Tatsachen glaubhaft macht, welche die Wiedereinsetzung begründen. Nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt werden. Gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung findet die Beschwerde statt. Sie ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von zwei Wochen eingelegt wird. Die Frist beginnt mit der Zustellung der Entscheidung. § 4 Abs. 4 Satz 1 bis 3 und Abs. 6 bis 8 ist entsprechend anzuwenden.
(3) Der Anspruch auf Vergütung oder Entschädigung verjährt in drei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4 maßgebliche Zeitpunkt eingetreten ist. Auf die Verjährung sind die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs anzuwenden. Durch den Antrag auf gerichtliche Festsetzung (§ 4) wird die Verjährung wie durch Klageerhebung gehemmt. Die Verjährung wird nicht von Amts wegen berücksichtigt. (4) Der Anspruch auf Erstattung zu viel gezahlter Vergütung oder Entschädigung verjährt in drei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Zahlung erfolgt ist. § 5 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes gilt entsprechend.
2 § 3 Vorschuss Auf Antrag ist ein angemessener Vorschuss zu bewilligen, wenn dem Berechtigten erhebliche Fahrtkosten oder sonstige Aufwendungen entstanden sind oder voraussichtlich entstehen werden oder wenn die zu erwartende Vergütung für bereits erbrachte Teilleistungen einen Betrag von 2000 Euro übersteigt.
2 § 4 Gerichtliche Festsetzung und Beschwerde (1) Die Festsetzung der Vergütung, der Entschädigung oder des Vorschusses erfolgt durch gerichtlichen Beschluss, wenn der Berechtigte oder die Staatskasse die gerichtliche Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält. Zuständig ist 1. das Gericht, von dem der Berechtigte herangezogen worden ist, bei dem er als ehrenamtlicher Richter mitgewirkt hat oder bei dem der Ausschuss im Sinne des § 1 Abs. 4 gebildet ist; 2. das Gericht, bei dem die Staatsanwaltschaft besteht, wenn die Heranziehung durch die Staatsanwaltschaft oder in deren Auftrag oder mit deren vorheriger Billigung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde erfolgt ist, nach Erhebung der öffentlichen Klage jedoch das für die Durchführung des Verfahrens zuständige Gericht; 3. das Landgericht, bei dem die Staatsanwaltschaft besteht, die für das Ermittlungsverfahren zuständig wäre, wenn die Heranziehung in den Fällen des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 durch die Finanzbehörde oder in deren Auftrag oder mit deren vorheriger Billigung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde erfolgt ist, nach Erhebung der öffentlichen Klage jedoch das für die Durchführung des Verfahrens zuständige Gericht; 4. das Amtsgericht, in dessen Bezirk der Gerichtsvollzieher seinen Amtssitz hat, wenn die Heranziehung durch den Gerichtsvollzieher erfolgt ist, abweichend davon im Verfahren der Zwangsvollstreckung das Vollstreckungsgericht. (2) Ist die Heranziehung durch die Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren erfolgt, werden die zu gewährende Vergütung oder Entschädigung und der Vorschuss durch gerichtlichen Beschluss festgesetzt, wenn der Berechtigte gerichtliche Entscheidung gegen die Festsetzung durch die Verwaltungsbehörde beantragt. Für das Verfahren gilt § 62 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten. (3) Gegen den Beschluss nach Absatz 1 können der Berechtige und die Staatskasse Beschwerde einlegen, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro übersteigt oder wenn sie das Gericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage in dem Beschluss zulässt. (4) Soweit das Gericht die Beschwerde für zulässig und begründet hält, hat es ihr abzuhelfen; im Übrigen ist die Beschwerde unverzüglich dem Beschwerdegericht vorzulegen. Beschwerdegericht ist das nächsthöhere Gericht. Eine Beschwerde an einen obersten Gerichtshof des Bundes findet nicht statt. Das Beschwerdegericht ist an die Zulassung der Beschwerde gebunden; die Nichtzulassung ist unanfechtbar. (5) Die weitere Beschwerde ist nur zulässig, wenn das Landgericht als Beschwerdegericht entschieden und sie wegen der grund-
3
56
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
8
sätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage in dem Beschluss zugelassen hat. Sie kann nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Verletzung des Rechts beruht; die §§ 546 und 547 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Über die weitere Beschwerde entscheidet das Oberlandesgericht. Abs. 4 Satz 1 und 4 gilt entsprechend. (6) Anträge und Erklärungen können zu Protokoll der Geschäftsstelle abgegeben oder schriftlich eingereicht werden; § 129a der Zivilprozessordnung gilt entsprechend. Für die Bevollmächtigung gelten die Regelungen der für das zugrundeliegende Verfahren geltenden Verfahrensordnung entsprechend. Die Beschwerde ist bei dem Gericht einzulegen, dessen Entscheidung angefochten wird. (7) Das Gericht entscheidet über den Antrag durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter; dies gilt auch für die Beschwerde, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen wurde. Der Einzelrichter überträgt das Verfahren der Kammer oder dem Senat, wenn die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Das Gericht entscheidet jedoch immer ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter. Auf eine erfolgte oder unterlassene Übertragung kann ein Rechtsmittel nicht gestützt werden. (8) Die Verfahren sind gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet. (9) Die Beschlüsse nach den Absätzen 1, 2, 4 und 5 wirken nicht zu Lasten des Kostenschuldners.
9
2 § 4a Abhilfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
1 2 3 4 5 6 7
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
(1) Auf die Rüge eines durch die Entscheidung nach diesem Gesetz beschwerten Beteiligten ist das Verfahren fortzuführen, wenn 1. ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist und 2. das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. (2) Die Rüge ist innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben; der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist glaubhaft zu machen. Nach Ablauf eines Jahres seit Bekanntmachung der angegriffenen Entscheidung kann die Rüge nicht mehr erhoben werden. Formlos mitgeteilte Entscheidungen gelten mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gemacht. Die Rüge ist bei dem Gericht zu erheben, in dessen Entscheidung eingegriffen wird; § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 gilt entsprechend. Die Rüge muss die angegriffene Entscheidung bezeichnen und das Vorliegen der in Abs. 1 Nr. 2 genannten Voraussetzungen darlegen. (3) Den übrigen Beteiligten ist, so weit erforderlich, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. (4) Das Gericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Rüge an sich statthaft und ob sie in der gesetzlichen Form und Frist erhoben ist. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Rüge als unzulässig zu verwerfen. Ist die Rüge unbegründet, weist das Gericht sie zurück. Die Entscheidung ergeht durch unanfechtbaren Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden. (5) Ist die Rüge begründet, so hilft hier das Gericht ab, indem es das Verfahren fortführt, so weit dies auf Grund der Rüge geboten ist. (6) Kosten werden nicht erstattet.
2 § 4b Elektronische Akte, elektronisches Dokument (1) Die Vorschriften über die elektronische Akte und das gerichtliche elektronische Dokument für das Verfahren, in dem der Anspruchsberechtigte herangezogen worden ist, sind anzuwenden. (2) Soweit für Anträge und Erklärungen in dem Verfahren, in dem der Anspruchsberechtigte herangezogen worden ist, die Aufzeich-
nung als elektronisches Dokument genügt, genügt diese Form auch für Anträge und Erklärungen nach diesem Gesetz. Die verantwortende Person soll das Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen. Ist ein übermitteltes elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet, ist dies dem Absender unter Angabe der geltenden technischen Rahmenbedingungen unverzüglich mitzuteilen. (3) Ein elektronisches Dokument ist eingereicht, sobald die für den Empfang bestimmte Einrichtung des Gerichts es aufgezeichnet hat.
3 Abschnitt 2 – Gemeinsame Vorschriften 2 § 5 Fahrtkostenersatz (1) Bei Benutzung von öffentlichen, regelmäßig verkehrenden Beförderungsmitteln werden die tatsächlich entstandenen Auslagen bis zur Höhe der entsprechenden Kosten für die Benutzung der ersten Wagenklasse der Bahn einschließlich der Auslagen für Platzreservierung und Beförderung des notwendigen Gepäcks ersetzt. (2) Bei Benutzung eines eigenen oder unentgeltlich zur Nutzung überlassenen Kraftfahrzeugs werden 1. dem Zeugen oder dem Dritten (§ 23) zur Abgeltung der Betriebskosen sowie zur Abgeltung der Abnutzung des Kraftfahrzeugs 0,25 Euro, 2. den in § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 genannten Anspruchsberechtigten zur Abgeltung der Anschaffungs-, Unterhaltungs- und Betriebskosten sowie zur Abgeltung der Abnutzung des Kraftfahrzeugs 0,30 Euro für jeden gefahrenen Kilometer ersetzt zuzüglich der durch die Benutzung des Kraftfahrzeugs aus Anlass der Reise regelmäßig anfallenden baren Auslagen, insbesondere der Parkentgelte. Bei der Benutzung durch mehrere Personen kann die Pauschale nur einmal geltend gemacht werden. Bei der Benutzung eines Kraftfahrzeugs, das nicht zu den Fahrzeugen nach Abs. 1 oder Satz 1 zählt, werden die tatsächlich entstandenen Auslagen bis zur Höhe der in Satz 1 genannten Fahrtkosten ersetzt; zusätzlich werden die durch die Benutzung des Kraftfahrzeugs aus Anlass der Reise angefallenen regelmäßigen baren Auslagen, insbesondere die Parkentgelte, ersetzt, soweit sie der Berechtigte zu tragen hat. (3) Höhere als die in Abs. 1 oder Abs. 2 bezeichneten Fahrtkosten werden ersetzt, soweit dadurch Mehrbeträge an Vergütung oder Entschädigung erspart werden oder höhere Fahrtkosten wegen besonderer Umstände notwendig sind. (4) Für Reisen während der Terminsdauer werden die Fahrtkosten nur insoweit ersetzt, als dadurch Mehrbeträge an Vergütung oder Entschädigung erspart werden, die beim Verbleiben an der Terminsstelle gewährt werden müssten. (5) Wird die Reise zum Ort des Termins von einem anderern als dem in der Ladung oder Terminsmitteilung bezeichneten oder der zuständigen Stelle unverzüglich angezeigten Ort angetreten oder wird zu einem anderen als zu diesem Ort zurückgefahren, werden Mehrkosten nach billigem Ermessen nur dann ersetzt, wenn der Berechtigte zu diesen Fahrten durch besondere Umstände genötigt war.
2 § 6 Entschädigung für Aufwand (1) Wer innerhalb der Gemeinde, in der der Termin stattfindet, weder wohnt noch berufstätig ist, erhält für die Zeit, während der er aus Anlass der Wahrnehmung des Termins von seiner Wohnung und seinem Tätigkeitsmittelpunkt abwesend sein muss, ein Tagegeld, dessen Höhe sich nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes bestimmt. (2) Ist eine auswärtige Übernachtung notwendig, wird ein Übernachtungsgeld nach den Bestimmungen des Bundesreisekostengesetzes gewährt.
57 Anhang
2 § 7 Ersatz für sonstige Aufwendungen (1) Auch die in den §§ 5, 6 und 12 nicht besonders genannten baren Auslagen werden ersetzt, soweit sie notwendig sind. Dies gilt insbesondere für die Kosten notwendiger Vertretungen und notwendiger Begleitpersonen. (2) Für die Anfertigung von Ablichtungen und Ausdrucken werden 0,50 Euro je Seite für die ersten 50 Seiten und 0,15 Euro für jede weitere Seite, für die Anfertigung von Farbkopien 2 Euro je Seite ersetzt. Die Höhe der Pauschale ist in derselben Angelegenheit einheitlich zu berechnen. Die Pauschale wird für Ablichtungen und Ausdrucke aus Behörden- und Gerichtsakten gewährt, soweit deren Herstellung zur sachgemäßen Vorbereitung oder Bearbeitung der Angelegenheit geboten war, sowie nur für Ablichtungen und zusätzliche Ausdrucke, die nach Aufforderung durch die heranziehende Stelle angefertigt worden sind. (3) Für die Überlassung von elektronisch gespeicherten Dateien anstelle der in Abs. 2 genannten Ablichtungen und Ausdrucke werden 2,50 Euro je Datei ersetzt.
3 Abschnitt 3 – Vergütung von Sachverständigen, Dolmetschern und Übersetzern 2 § 8 Grundsatz der Vergütung (1) Sachverständige, Dolmetscher und Übersetzer erhalten als Vergütung 1. ein Honorar für ihre Leistungen (§§ 9–11), 2. Fahrtkostenersatz (§ 5), 3. Entschädigung für Aufwand (§ 6) sowie 4. Ersatz für sonstige und für besondere Aufwendungen (§§ 7 und 12). (2) Soweit das Honorar nach Stundensätzen zu bemessen ist, wird es für jede Stunde der erforderlichen Zeit einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten gewährt. Die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet, wenn sie zu mehr als 30 Minuten für die Erbringung der Leistung erforderlich war; anderenfalls beträgt das Honorar die Hälfte des sich für eine volle Stunde ergebenden Betrags. (3) Soweit vergütungspflichtige Leistungen oder Aufwendungen auf die gleichzeitige Erledigung. mehrerer Angelegenheiten entfallen, ist die Vergütung nach der Anzahl der Angelegenheiten aufzuteilen. (4) Den Sachverständigen, Dolmetschern und Übersetzern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, kann unter Berücksichtigung ihrer persönlicher Verhältnisse, insbesondere ihres regelmäßigen Erwerbseinkommens, nach billigem Ermessen eine höhere als die in Abs. 1 bestimmte Vergütung gewährt werden.
2 § 9 Honorar für die Leistung der Sachverständigen und Dolmetscher (1) Der Sachverständige erhält
für jede Stunde in der Honorargruppe …
ein Honorar in Höhe von … Euro
8
85
9
90
10
95
M1
50
M2
60
M3
85
Die Zuordnung der Leistungen zu einer Honorargruppe bestimmt sich nach der Anlage 1. Wird die Leistung auf einem Sachgebiet erbracht, das in keiner Honorargruppe genannt wird, ist sie unter Berücksichtigung der allgemein für Leistungen dieser Art außergerichtlich und außerbehördlich vereinbarten Stundensätze einer Honorargruppe nach billigem Ermessen zuzuordnen; dies gilt entsprechend, wenn ein medizinisches oder psychologisches Gutachten einen Gegenstand betrifft, der in keiner Honorargruppe genannt wird. Erfolgt die Leistung auf mehreren Sachgebieten oder betrifft das medizinische oder psychologische Gutachten mehrere Gegenstände und sind die Sachgebiete oder Gegenstände verschiedenen Honorargruppen zugeordnet, bemisst sich das Honorar einheitlich für die gesamte erforderliche Zeit nach der höchsten dieser Honorargruppen; jedoch gilt Satz 3 entsprechend, wenn dies mit Rücksicht auf den Schwerpunkt der Leistung zu einem unbilligen Ergebnis führen würde. § 4 gilt entsprechend mit der Maßgabe, dass die Beschwerde auch zulässig ist, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro nicht übersteigt. Die Beschwerde ist nur zulässig, solange der Anspruch auf Vergütung noch nicht geltend gemacht worden ist. (2) Im Fall des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Insolvenzordnung beträgt das Honorar des Sachverständigen abweichend von Abs. 1 für jede Stunde 65 Euro. (3) Das Honorar des Dolmetschers beträgt für jede Stunde 55 Euro. Ein ausschließlich als Dolmetscher Tätiger erhält eine Ausfallentschädigung in Höhe von höchstens 55 Euro, soweit er durch die Aufhebung eines Termins, zu dem er geladen war und dessen Aufhebung nicht durch einen in seiner Person liegenden Grund veranlasst war, einen Einkommensverlust erlitten hat und ihm die Aufhebung erst am Terminstag oder an einem der beiden vorhergehenden Tage mitgeteilt worden ist.
2 § 10 Honorar für besondere Leistungen (1) Soweit ein Sachverständiger oder ein sachverständiger Zeuge Leistungen erbringt, die in der Anlage 2 bezeichnet sind, bemisst sich das Honorar oder die Entschädigung nach dieser Anlage. (2) Für Leistungen der in Abschnitt O des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen (Anlage zur Gebührenordnung für Ärzte) bezeichneten Art bemisst sich das Honorar in entsprechender Anwendung dieses Gebührenverzeichnisses nach dem 1,3-fachen Gebührensatz. § 4 Abs. 2 bis 4 Satz 1 und § 10 der Gebührenordnung für Ärzte gelten entsprechend, im Übrigen bleiben die §§ 7 und 12 unberührt. (3) Soweit für die Erbringung einer Leistung nach Abs. 1 oder Abs. 2 zusätzliche Zeit erforderlich ist, erhält der Berechtigte ein Honorar nach der Honorargruppe 1.
für jede Stunde in der Honorargruppe …
ein Honorar in Höhe von … Euro
1
50
2
55
3
60
4
65
2 § 11 Honorar für Übersetzungen
5
70
6
75
7
80
(1) Das Honorar für eine Übersetzung beträgt 1,25 Euro für jeweils angefangene 55 Anschläge des schriftlichen Textes. Ist die Übersetzung, insbesondere wegen der Verwendung von Fachausdrücken oder wegen schwerer Lesbarkeit des Textes, erheblich erschwert, erhöht sich das Honorar auf 1,85 Euro, bei außergewöhnlich schwierigen Texten
3
58
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
auf 4 Euro. Maßgebend für die Anzahl der Anschläge ist der Text in der Zielsprache; werden jedoch nur in der Ausgangssprache lateinische Schriftzeichen verwendet, ist die Anzahl der Anschläge des Textes in der Ausgangssprache maßgebend. Wäre eine Zählung der Anschläge mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden, wird deren Anzahl unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Anzahl der Anschläge je Zeile nach der Anzahl der Zeilen bestimmt. (2) Für eine oder für mehrere Übersetzungen aufgrund desselben Auftrags beträgt das Honorar mindestens 15 Euro. (3) Soweit die Leistung des Übersetzers in der Überprüfung von Schriftstücken oder Aufzeichnungen der Telekommunikation auf bestimmte Inhalte besteht, ohne dass er insoweit eine schriftliche Übersetzung anfertigen muss, erhält er ein Honorar wie ein Dolmetscher.
2 § 12 Ersatz für besondere Aufwendungen (1) Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, sind mit der Vergütung nach den §§ 9 bis 11 auch die üblichen Gemeinkosten sowie der mit der Erstattung des Gutachtens oder der Übersetzung üblicherweise verbundene Aufwand abgegolten. Es werden jedoch gesondert ersetzt 1. die für die Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens oder der Übersetzung aufgewendeten notwendigen besonderen Kosten, einschließlich der insoweit notwendigen Aufwendungen für Hilfskräfte, sowie die für eine Untersuchung verbrauchten Stoffe und Werkzeuge; 2. für die zur Vorbereitung und Erstattung des Gutachtens erforderlichen Lichtbilder oder an deren Stelle tretenden Ausdrucke 2 Euro für den ersten Abzug oder Ausdruck und 0,50 Euro für jeden weiteren Abzug oder Ausdruck; 3. für die Erstellung des schriftlichen Gutachtens 0,75 Euro je angefangene 1000 Anschläge; ist die Zahl der Anschläge nicht bekannt, ist diese zu schätzen; 4. die auf die Vergütung entfallende Umsatzsteuer, sofern diese nicht nach § 19 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes unerhoben bleibt. (2) Ein auf die Hilfskräfte (Abs. 1 Satz 2 Nr. 1) entfallender Teil der Gemeinkosten wird durch einen Zuschlag von 15 Prozent auf den Betrag abgegolten, der als notwendige Aufwendung für die Hilfskräfte zu ersetzen ist, es sei denn, die Hinzuziehung der Hilfskräfte hat keine oder nur unwesentlich erhöhte Gemeinkosten veranlasst.
2 § 13 Besondere Vergütung (1) Sind die Gerichtskosten nach der jeweiligen Verfahrensordnung in jedem Fall den Parteien oder den Beteiligten aufzuerlegen und haben sich diese dem Gericht gegenüber mit einer bestimmten oder abweichend von der gesetzlichen Regelung zu bemessenden Vergütung einverstanden erklärt, wird der Sachverständige, Dolmetscher oder Übersetzer unter Gewährung dieser Vergütung erst herangezogen, wenn ein ausreichender Betrag für die gesamte Vergütung an die Staatskasse gezahlt ist. (2) Die Erklärung nur einer Partei oder eines Beteiligten genügt, soweit sie sich auf den Stundensatz nach § 9 oder bei schriftlichen Übersetzungen auf die Vergütung für jeweils angefangene 55 Anschläge nach § 11 bezieht und das Gericht zustimmt. Die Zustimmung soll nur erteilt werden, wenn das Eineinhalbfache des nach den §§ 9 oder 11 zulässigen Honorars nicht überschritten wird. Vor der Zustimmung hat das Gericht die andere Partei oder die anderen Beteiligten zu hören. Die Zustimmung und die Ablehnung der Zustimmung sind unanfechtbar. (3) Derjenige, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann eine Erklärung nach Absatz 1 nur abgeben, die sich auf den Stundensatz nach § 9 oder bei schriftlichen Übersetzungen auf ein Honorar für jeweils angefangene 55 Anschläge nach § 11 bezieht. Wäre er ohne Rücksicht auf die Prozesskostenhilfe zur vorschussweisen Zahlung der Vergütung verpflichtet, hat er einen ausreichenden Betrag für das gegenüber der gesetzlichen Regelung oder der vereinbarten Vergü-
tung (§ 14) zu erwartende zusätzliche Honorar an die Staatskasse zu zahlen; § 122 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a der Zivilprozessordnung ist insoweit nicht anzuwenden. Der Betrag wird durch unanfechtbaren Beschluss festgesetzt (4) Ist eine Vereinbarung nach den Absätzen 1 und 3 zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig und ist derjenige, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, zur Zahlung des nach Absatz 3 Satz 2 erforderlichen Betrags außerstande, bedarf es der Zahlung nicht, wenn das Gericht seiner Erklärung zustimmt. Die Zustimmung soll nur erteilt werden, wenn das Eineinhalbfache des nach § 9 oder § 11 zulässigen Honorars nicht überschritten wird. Die Zustimmung und die Ablehnung der Zustimmung sind unanfechtbar. (5) Im Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz ist die Vergütung unabhängig davon zu gewähren, ob ein ausreichender Betrag an die Staatskasse gezahlt ist. Im Fall des Absatzes 2 genügt die Erklärung eines Beteiligten (§ 8 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes). Die Anhörung der übrigen Beteiligten kann dadurch ersetzt werden, dass die Vergütungshöhe, für die die Zustimmung des Gerichts erteilt werden soll, öffentlich bekannt gemacht wird. Die öffentliche Bekanntmachung wird durch Eintragung in das Klageregister nach § 2 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes bewirkt. Zwischen der öffentlichen Bekanntmachung und der Entscheidung über die Zustimmung müssen mindestens vier Wochen liegen. (6) Hat sich eine Partei oder ein Beteiligter dem Gericht gegenüber mit einem bestimmten Stundensatz nach § 9 oder bei schriftlichen Übersetzungen mit einem bestimmten Honorar für jeweils angefangene 55 Anschläge nach § 11 einverstanden erklärt, ist dieses Honorar zu gewähren, wenn die Partei oder der Beteiligte zugleich erklärt, die entstehenden Mehrkosten zu übernehmen, und wenn ein ausreichender Betrag für das gegenüber der gesetzlichen Regelung oder der vereinbarten Vergütung (§ 14) zu erwartende zusätzliche Honorar an die Staatskasse gezahlt ist; eine nach anderen Vorschriften bestehende Vorschusspflicht wegen der gesetzlichen oder vereinbarten Vergütung bleibt hiervon unberührt. Gegenüber der Staatskasse haften mehrere Personen, die eine Erklärung nach Satz 1 abgegeben haben, als Gesamtschuldner, im Innenverhältnis nach Kopfteilen. Die Mehrkosten gehören nicht zu den Kosten des Verfahrens. (7) In den Fällen der Absätze 3 und 6 bestimmt das Gericht zugleich mit der Festsetzung des vorab an die Staatskasse zu zahlenden Betrags, welcher Honorargruppe die Leistung des Sachverständigen ohne Berücksichtigung der Erklärungen der Parteien oder Beteiligten zuzuordnen oder mit welchem Betrag für 55 Anschläge in diesem Fall eine Übersetzungen zu honorieren wäre.
2 § 14 Vereinbarung der Vergütung Mit Sachverständigen, Dolmetschern und Übersetzern, die häufiger herangezogen werden, kann die oberste Landesbehörde, für die Gerichte und Behörden des Bundes die oberste Bundesbehörde, oder eine von diesen bestimmte Stelle eine Vereinbarung über die zu gewährende Vergütung treffen, deren Höhe die nach diesem Gesetz vorgesehene Vergütung nicht überschreiten darf.
3 Abschnitt 4 – Entschädigung von ehrenamtlichen Richtern 2 § 15 Grundsatz der Entschädigung (1) Ehrenamtliche Richter erhalten als Entschädigung 1. Fahrtkostenersatz (§ 5), 2. Entschädigung für Aufwand (§ 6), 3. Ersatz für sonstige Aufwendungen (§ 7), 4. Entschädigung für Zeitversäumnis (§ 16), 5. Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung (§ 17) sowie 6. Entschädigung für Verdienstausfall (§ 18).
59 Anhang
(2) Soweit die Entschädigung nach Stunden bemessen ist, wird sie für die gesamte Dauer der Heranziehung einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten, jedoch für nicht mehr als zehn Stunden je Tag, gewährt. Die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet. (3) Die Entschädigung wird auch gewährt, 1. wenn ehrenamtliche Richter von der zuständigen staatlichen Stelle zu Einführungs- und Fortbildungstagungen herangezogen werden, 2. wenn ehrenamtliche Richter bei den Gerichten der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit in dieser Eigenschaft an der Wahl von gesetzlich für sie vorgesehenen Ausschüssen oder an den Sitzungen solcher Ausschüsse teilnehmen (§§ 29, 38 des Arbeitsgerichtsgesetzes, §§ 23, 35 Abs. 1, § 47 des Sozialgerichtsgesetzes).
Angelegenheiten nach dem Verhältnis der Entschädigungen zu verteilen, die bei gesonderter Heranziehung begründet wären. (4) Den Zeugen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, kann unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere ihres regelmäßigen Erwerbseinkommens, nach billigem Ermessen eine höhere als die in den §§ 20 bis 22 bestimmte Entschädigung gewährt werden.
2 § 16 Entschädigung für Zeitversäumnis
2 § 21 Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung
Die Entschädigung für Zeitversäumnis beträgt 5 Euro je Stunde.
2 § 17 Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung Ehrenamtliche Richter, die einen eigenen Haushalt für mehrere Personen führen, erhalten neben der Entschädigung nach § 16 eine zusätzliche Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung von 12 Euro je Stunde, wenn sie nicht erwerbstätig sind oder wenn sie teilzeitbeschäftigt sind und außerhalb ihrer vereinbarten regelmäßigen täglichen Arbeitszeit herangezogen werden. Die Entschädigung von Teilzeitbeschäftigten wird für höchstens zehn Stunden je Tag gewährt abzüglich der Zahl an Stunden, die der vereinbarten regelmäßigen täglichen Arbeitszeit entspricht. Die Entschädigung wird nicht gewährt, soweit Kosten einer notwendigen Vertretung erstattet werden.
2 § 18 Entschädigung für Verdienstausfall Für den Verdienstausfall wird neben der Entschädigung nach § 16 eine zusätzliche Entschädigung gewährt, die sich nach dem regelmäßigen Bruttoverdienst einschließlich der vom Arbeitgeber zu tragenden Sozialversicherungsbeiträge richtet, jedoch höchstens 20 Euro je Stunde beträgt. Die Entschädigung beträgt bis zu 39 Euro je Stunde für ehrenamtliche Richter, die in demselben Verfahren an mehr als 20 Tagen herangezogen oder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen an mindestens sechs Tagen ihrer regelmäßigen Erwerbstätigkeit entzogen werden. Sie beträgt bis zu 51 Euro je Stunde für ehrenamtliche Richter, die in demselben Verfahren an mehr als 50 Tagen herangezogen werden.
3 Abschnitt 5 – Entschädigung von Zeugen und Dritten 2 § 19 Grundsatz der Entschädigung (1) Zeugen erhalten als Entschädigung 1. Fahrtkostenersatz (§ 5), 2. Entschädigung für Aufwand (§ 6), 3. Ersatz für sonstige Aufwendungen (§ 7), 4. Entschädigung für Zeitversäumnis (§ 20), 5. Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung 6. Entschädigung für Verdienstausfall (§ 22). Dies gilt auch bei schriftlicher Beantwortung der Beweisfrage. (2) Soweit die Entschädigung nach Stunden bemessen ist, wird sie für die gesamte Dauer der Heranziehung einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten, jedoch für nicht mehr als zehn Stunden je Tag, gewährt. Die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet (3) Soweit die Entschädigung durch die gleichzeitige Heranziehung in verschiedenen Angelegenheiten veranlasst ist, ist sie auf diese
2 § 20 Entschädigung für Zeitversäumnis Die Entschädigung für Zeitversäumnis beträgt 3 Euro je Stunde, soweit weder für einen Verdienstausfall noch für Nachteile bei der Haushaltsführung eine Entschädigung zu gewähren ist, es sei denn, dem Zeugen ist durch seine Heranziehung ersichtlich kein Nachteil entstanden.
Zeugen, die einen eigenen Haushalt für mehrere Personen führen, erhalten eine Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung von 12 Euro je Stunde, wenn sie nicht erwerbstätig sind oder wenn sie teilzeitbeschäftigt sind und außerhalb ihrer vereinbarten regelmäßigen täglichen Arbeitszeit herangezogen werden. Die Entschädigung von Teilzeitbeschäftigten wird für höchstens zehn Stunden je Tag gewährt abzüglich der Zahl an Stunden, die der vereinbarten regelmäßigen täglichen Arbeitszeit entspricht. Die Entschädigung wird nicht gewährt, soweit Kosten einer notwendigen Vertretung erstattet werden.
2 § 22 Entschädigung für Verdienstausfall Zeugen, denen ein Verdienstausfall entsteht, erhalten eine Entschädigung, die sich nach dem regelmäßigen Bruttoverdienst einschließlich der vom Arbeitgeber zu tragenden Sozialversicherungsbeiträge richtet und für jede Stunde höchstens 17 Euro beträgt. Gefangene, die keinen Verdienstausfall aus einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis haben, erhalten Ersatz in Höhe der entgangenen Zuwendung der Vollzugsbehörde.
2 § 23 Entschädigung Dritter (1) Dritte, die aufgrund einer gerichtlichen Anordnung nach § 142 Abs. 1 Satz 1 oder § 144 Abs. 1 der Zivilprozessordnung Urkunden, sonstige Unterlagen oder andere Gegenstände vorlegen oder deren Inaugenscheinnahme dulden, sowie Dritte, die aufgrund eines Beweiszwecken dienenden Ersuchens der Strafverfolgungsbehörde 1. Gegenstände herausgeben (§ 95 Abs. 1, § 98a der Strafprozessordnung) oder die Pflicht zur Herausgabe entsprechend einer Anheimgabe der Strafverfolgungsbehörde abwenden, 2. Auskunft erteilen, 3. die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation ermöglichen (§ 100b Abs. 3 der Strafprozessordnung) oder 4. durch telekommunikationstechnische Maßnahmen die Ermittlung a) von solchen Telekommunikationsanschlüssen ermöglichen, von denen ein bestimmter Telekommunikationsanschluss angewählt wurde (Fangeinrichtung, Zielsuchläufe ohne Datenabgleich nach § 98a der Strafprozessordnung), b) der von einem Telekommunikationsanschluss hergestellten Verbindungen ermöglichen (Zählvergleichseinrichtung), werden wie Zeugen entschädigt. Dies gilt nicht für die Zuführung der telefonischen Zeitansage, die betriebsfähige Bereitstellung und die Überlassung von Wählanschlüssen sowie für die betriebsfähige Bereitstellung von Festverbindungen, die nicht für bestimmte Überwachungsmaßnahmen eingerichtet werden.
3
60
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
(2) Bedient sich der Dritte eines Arbeitnehmers oder einer anderen Person, werden ihm die Aufwendungen dafür (§ 7) im Rahmen des § 22 ersetzt; § 19 Abs. 2 und 3 gilt entsprechend. (3) Die notwendige Benutzung einer eigenen Datenverarbeitungsanlage für Zwecke der Rasterfahndung wird entschädigt, wenn die Investitionssumme für die im Einzelfall benutzte Hard- und Software zusammen mehr als 10.300 Euro beträgt. Die Entschädigung beträgt 1. bei einer Investitionssumme von mehr als 10.000 bis 25.000 Euro für jede Stunde der Benutzung 5 Euro; die gesamte Benutzungsdauer ist auf volle Stunden aufzurunden; 2. bei sonstigen Datenverarbeitungsanlagen a) neben der Entschädigung nach Abs. 1 für jede Stunde der Benutzung der Anlage bei der Entwicklung eines für den Einzelfall erforderlichen, besonderen Anwendungsprogramms 10 Euro und b) für die übrige Dauer der Benutzung einschließlich des hierbei erforderlichen Personalaufwands ein Zehnmillionstel der Investitionssumme je Sekunde für die Zeit, in der die Zentraleinheit belegt ist (CPU-Sekunde), höchstens 0,30 Euro je CPU-Sekunde. Die Investitionssumme und die verbrauchte CPU-Zeit sind glaubhaft zu machen. (4) Der eigenen elektronischen Datenverarbeitungsanlage steht eine fremde gleich, wenn die durch die Auskunftserteilung entstandenen direkt zurechenbaren Kosten (§ 7) nicht sicher feststellbar sind. (5) Abweichend von den Absätzen 1 und 2 ist in den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 für die betriebsfähige Bereitstellung einer Festverbindung je Ende, das nicht in Einrichtungen des Betreibers der Festverbindung liegt, der Betrag von 153 Euro für eine zweiadrige und ein Betrag von 306 Euro für eine vier- oder mehradrige Festverbindung zu ersetzen; für die Benutzung von Festverbindungen und die Nutzung von Wählverbindungen sind die in den allgemeinen Tarifen dafür vorgesehenen Entgelte zu ersetzen.
3 Abschnitt 6 – Schlussvorschriften 2 § 24 Übergangsvorschrift Die Vergütung und die Entschädigung sind nach bisherigem Recht zu berechnen, wenn der Auftrag an den Sachverständigen, Dolmetscher oder Übersetzer vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung erteilt oder der Berechtigte vor diesem Zeitpunkt herangezogen worden ist. Dies gilt auch, wenn Vorschriften geändert werden, auf die dieses Gesetz verweist.
2 § 25 Übergangsvorschrift aus Anlass des Inkrafttretens dieses Gesetzes Das Gesetz über die Entschädigung der ehrenamtlichen Richter in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 1969 (BGBl. 1 S. 1753). Zuletzt geändert durch Art. 1 Abs. 4 des Gesetzes vom 22. Februar 2002 (BGBl 1 S. 981), und das Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 1969 (BGBl. 1 S. 1756), zuletzt geändert durch Art. 1 Abs. 5 des Gesetzes vom 22. Februar 2002 (BGBl 1 S. 981) sowie Verweisungen auf diese Gesetze sind weiter anzuwenden, wenn der Auftrag an den Sachverständigen, Dolmetscher oder Übersetzer vor dem 1. Juli 2004 erteilt oder der Berechtigte vor diesem Zeitpunkt herangezogen worden ist. Satz 1 gilt für Heranziehungen vor dem 1. Juli 2004 auch dann, wenn der Berechtigte in derselben Rechtssache auch nach dem 1. Juli 2004 herangezogen worden ist.
3 Anlage 1 (zu § 9 Abs. 1) Sachgebiet
Honorargruppe
Abbruch
5
Abfallstoffe
5
Abrechnung im Hoch- und Ingenieurbau
6
Akustik, Lärmschutz
5
Altbausanierung
5
Altlasten
3
Bauphysik
5
Baustoffe
5
Bauwerksabdichtung
6
Beton-, Stahlbeton- und Spannbeton
5
Betriebsunterbrechungs- und -verlagerungsschaden
9
Bewertung von Immobilien
6
Brandschutz und Brandursachen
5
Briefmarken und Münzen
2
Büroeinrichtungen und -organisationen
5
Dachkonstruktionen
5
Datenverarbeitung
8
Diagrammscheibenauswertung
5
Elektrotechnische Anlagen und Geräte
5
Erd- und Grundbau
3
Fahrzeugbau
6
Fenster, Türen, Tore
5
Fliesen und Baukeramik
5
Fußböden
4
Garten und Landschaftsgestaltung, Garten- und Landschaftbau
3
Grafisches Gewerbe
6
Hausrat
3
Heizungs-, Klima und Lüftungstechnik
4
Holz/Holzbau
4
Honorare (Architekten und Ingenieure)
7
Immissionen
5
Ingenieurbau
4
Innenausbau
5
Kältetechnik
6
Kraftfahrzeugschäden und -bewertung
6
Kraftfahrzeugunfallursachen
6
61 Anhang
Sachgebiet
Honorargruppe
Sachgebiet
Honorargruppe
Kunst und Antiquitäten
4
Schriftuntersuchung
3
Maschinen und Anlagen
6
Schweißtechnik
3
Mieten und Pachten
5
Sprengtechnik
2
Möbel
3
Stahlbau
4
Musikinstrumente
1
Statik im Bauwesen
4
Rundfunk- und Fernsehtechnik
4
Straßenbau
5
Sanitärtechnik
5
Tiefbau
4
Schäden an Gebäuden
6
Unternehmensbewertung
Schiffe, Wassersportfahrzeuge
4
Vermessungstechnik
1
Schmuck, Juwelen, Perlen, Gold- und Silberwaren
3
Wärme- und Kälteschutz
6
Wasserversorgung und Abwässer
3
10
Gegenstand medizinischer und psychologischer Gutachten
Honorargruppe
Einfache gutachtliche Beurteilungen, insbesondere 5 in Gebührenrechtsfragen, 5 zur Minderung der Erwerbsfähigkeit nach einer Monoverletzung, zur Haft-, Verhandlungs- oder Vernehmungsfähigkeit, 5 zur Verlängerung einer Betreuung.
M1
Beschreibende (Ist-Zustands-) Begutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einfacher medizinischer Verlaufsprognose und mit durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad, insbesondere Gutachten 5 in Verfahren nach dem SGB IX, 5 zur Minderung der Erwerbsfähigkeit und zur Invalidität, 5 zu rechtsmedizinischen und toxikologischen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Feststellung einer Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit durch Alkohol, Drogen, Medikamente oder Krankheiten, 5 zu spurenkundlichen oder rechtsmedizinischen Fragestellungen mit Befunderhebungen (z. B. bei Verletzungen und anderen Unfallfolgen), 5 zu einfachen Fragestellungen zur Schuldfähigkeit ohne besondere Schwierigkeiten der Persönlichkeitsdiagnostik, 5 zur Einrichtung einer Betreuung, 5 zu Unterhaltsstreitigkeiten aufgrund einer Erwerbs- oder Arbeitsunfähigkeit, 5 zu neurologisch-psychologischen Fragestellungen, in Verfahren nach der FeV.
M2
Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad (Begutachtungen spezieller Kausalzusammenhänge und/oder differenzialdiagnostischer Probleme und/oder Beurteilung der Prognose und/oder Beurteilung strittiger Kausalitätsfragen), insbesondere Gutachten 5 zum Kausalzusammenhang bei problematischen Verletzungsfolgen, 5 zu ärztlichen Behandlungsfehlern, 5 in Verfahren nach dem OEG, 5 in Verfahren nach dem HHG, 5 zur Schuldfähigkeit bei Schwierigkeiten der Persönlichkeitsdiagnostik, 5 in Verfahren zur Anordnung einer Maßregel der Besserung und Sicherung zur Entziehung der Fahrerlaubnis 5 zu neurologisch/psychologischen Fragestellungen 5 zur Kriminalprognose 5 zur Aussagetüchtigkeit 5 zur Widerstandsfähigkeit 5 in Verfahren nach den §§ 3, 10, 17 und 105 JGG 5 in Unterbringungsverfahren, 5 in Verfahren nach § 1905 BGB, 5 in Verfahren nach dem TSG, 5 in Verfahren zur Regelung von Sorge- oder Umgangsrechten, zur Geschäfts-, Testier- oder Prozessfähigkeit, zu Berufskrankheiten und zur Minderung der Erwerbsfähigkeit bei besonderen Schwierigkeiten, 5 zu rechtsmedizinischen, toxikologischen und spurenkundlichen Fragestellungen im Zusammenhang mit einer abschließenden Todesursachenklärung, ärztlichen Behandlungsfehlern oder einer Beurteilung der Schuldfähigkeit.
M3
3
62
1 2 3
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
3 Anlage 2 (zu § 10 Abs. 1) 2 Abschnitt 1 – Leichenschau und Obduktion Das Honorar in den Fällen der Nummern 100, 102 bis 106 umfasst den zur Niederschrift gegebenen Bericht; in den Fällen der Nummern 102 bis 106 umfasst das Honorar auch das vorläufige Gutachten. Das Honorar nach den Nummern 102 bis 106 erhält jeder Obduzent gesondert. Nr.
Bezeichnung der Leistung
100
Besichtigung einer Leiche, von Teilen einer Leiche, eines Embryos oder eines Fetus oder Mitwirkung bei einer richterlichen Leichenschau
4 5
für mehrere Leistungen bei derselben Gelegenheit jedoch höchstens
2 Abschnitt 3 –Untersuchungen, Blutentnahme Nr.
Bezeichnung der Leistung
300
Untersuchung eines Lebensmittels, Bedarfsgegenstandes, Arzneimittels von Luft, Gasen, Böden, Klärschlämmen, Wässern oder Abwässern und dgl. und eine kurze schriftliche gutachtliche Äußerung: Das Honorar beträgt für jede Einzelbestimmung je Probe
4,00 bis 51,00
Die Leistung der in Nummer 300 genannten Art ist außergewöhnlich umfangreich oder schwierig: Das Honorar 300 beträgt
bis zu 1000,00
Mikroskopische, physikalische, chemische, toxikologische, bakteriologische, serologische Untersuchung, wenn das Untersuchungsmaterial von Menschen oder Tieren stammt: Das Honorar beträgt je Organ oder Körperflüssigkeit
5,00 bis 51,00
Honorar in Euro
301 49,00
119,00 302
6
101
Fertigung eines Berichts, der schriftlich zu erstatten oder nachträglich zur Niederschrift zu geben ist
25,00
für mehrere Leistungen bei derselben Gelegenheit jedoch höchstens
84,00
102
Obduktion
195,00
103
Obduktion unter besonders ungünstigen äußeren Bedingungen: Das Honorar 102 beträgt
275,00
7 8 9 104
10 11 12
105
106
Obduktion unter anderen besonders ungünstigen Bedingungen (Zustand der Leiche etc.): Das Honorar 102 beträgt
Das Honorar umfasst das verbrauchte Material, soweit es sich um geringwertige Stoffe handelt, und eine kurze gutachtliche Äußerung. 303
396,00 304
Sektion von Teilen einer Leiche oder Öffnung eines Embryos oder nicht lebensfähigen Fetus
84,00
Sektion oder Öffnung unter besonders ungünstigen Bedingungen: Das Honorar 105 beträgt
119,00
13 305
2 Abschnitt 2 – Befund
14 15
Nr.
Bezeichnung der Leistung
200
Ausstellung eines Befundscheins oder Erteilung einer schriftlichen Auskunft ohne nähere gutachtliche Äußerung
21,00
Die Leistung der in Nummer 200 genannten Art ist außergewöhnlich umfangreich: Das Honorar 200 beträgt
bis zu 44, 00
16
201
17
202
18 19 20
203
Zeugnis über einen ärztlichen Befund mit von der heranziehenden Stelle geforderter kurzer Äußerung oder Formbogengutachten, wenn sich die Fragen auf Vorgeschichte, Angaben und Befund beschränken und nur ein kurzes Gutachten erfordern Die Leistung der in Nummer 202 genannten Art ist außergewöhnlich umfangreich: Das Honorar 202 beträgt
Honorar in Euro
Honorar in Euro 306
307
Die Leistung der in Nummer 302 genannten Art ist außergewöhnlich umfangreich oder schwierig: Das Honorar 302 beträgt
bis zu 1000,00
Herstellung einer DNA-Probe und ihre Überprüfung auf Geeignetheit (z. B. Hochmolekularität, humane Herkunft, Ausmaß der Degradation, Kontrolle des Verdaus). Das Honorar umfasst das verbrauchte Material, soweit es sich um geringwertige Stoffe handelt, und eine kurze gutachtliche Äußerung.
bis zu 205,00
Elektrophysiologische Untersuchung eines Menschen. Das Honorar umfasst eine kurze gutachtliche Äußerung und den mit der Untersuchung verbundenen Aufwand.
13,00 bis 115,00
Rasterelektronische Untersuchung eines Menschen oder einer Leiche, auch mit Analysenzusatz. Das Honorar umfasst eine kurze gutachtliche Äußerung und den mit der Untersuchung verbundenen Aufwand.
13,00 bis 300,00
Blutentnahme. Das Honorar umfasst eine Niederschrift über die Feststellung der Identität.
9,00
38,00
2 Abschnitt 4 – Abstammungsgutachten
bis zu 75,00
(1) Das Honorar wird, soweit nichts anderes bestimmt ist, für jede zu untersuchende Person gesondert gewährt. (2) Eine in den Nummern 400 bis 414 nicht genannte Merkmalsbestimmung wird wie eine an Arbeitsaufwand vergleichbare Bestimmung honoriert.
63 Anhang
(3) Das Honorar umfasst das verbrauchte Material, soweit es sich um geringwertige Stoffe handelt. Nr.
Bezeichnung der Leistung
Honorar in Euro
400
Bestimmung der AB0-Blutgruppe
10,00
401
Bestimmung der Untergruppe
8,00
402
MN-Bestimmung
8,00
403
Bestimmung der Merkmale des Rh-Komplexes (C, Cw, c, D, E, e und weitere) je Merkmal
10,00
bei Bestimmung mehrerer Merkmale jedoch höchstens
56,00
Bestimmung der Blutgruppenmerkmale P, K, S und weitere, falls direkt bestimmbar, je Merkmal
10,00
bei Bestimmung mehrerer Merkmale jedoch höchstens
56,00
Bestimmung indirekt nachweisbarer Merkmale (Dμ, s, Fy und weitere) je Merkmal
23,00
bei Bestimmung mehrerer Merkmale jedoch höchstens
86,00
Gesamttypisierung der HLA-Antigene der Klasse 1 mittels Lymphozytotoxizitätstests mit mindestens 180 Antiseren. Das Honorar umfasst das Material einschließlich höherwertiger Stoffe und Testseren.
357,00
407
Zusätzlich erforderlicher Titrationsversuch
25,00
408
Zusätzlich erforderlicher Spezialversuch (Absättigung, Bestimmung des Dosiseffekts usw.)
23,00
404
405
406
Abrechnungsbeispiel Ein
Abrechnungsbeispiel
mit
Anmerkungen
zeigt
. Abb. 3.1.
Anmerkungen 1. Gutachtenerstattung ist normalerweise – v. a. im medizinischen Bereich – Nebentätigkeit; dies gilt für angestellte wie beamtete Ärzte. Ist sie Nebentätigkeit, darf auch bei der Liquidation (wie beim Gutachten selbst auch) nicht der dienstliche Kopfbogen verwendet werden. Auch dürfen für deren Erstellung klinikeigene Schreibkräfte nicht herangezogen werden. 2. In der Liquidation ist der Auftraggeber zu benennen. Bei Gerichtsgutachten ist es zweckmäßig, zusätzlich das Aktenzeichen bei Gericht zu benennen, weil die Abrechnung über die Verfahrensakte abgewickelt wird.
3. Zentraler Streitpunkt bei der Entschädigung des Sachverständigen ist die Festsetzung des Stundensatzes (§ 9 JVEG). Für medizinische Gutachten wird, je nach Schwere der Aufgabe, ein Stundensatz von 50, 60 oder in der Spitze von 85 Euro festgeschrieben. Zu bedenken ist im Übrigen, dass Professoren an den Universitäten, soweit sie in Besoldungsgruppe C 4 (künftig W 3) eingruppiert sind, einen normalen Stundensatz von ca. € 66 (inklusive Nebenkosten) aus der Grundvergütung erhalten. Daran wird sich im Wesentlichen durch die (neue, stärker leistungsbezogene) W-Vergütung für Mediziner kaum etwas ändern. Der Stundensatz ist ein einheitlicher Satz. 4. Einzelne Verrichtungen von Sachverständigen und sachverständigen Zeugen kommen in der Praxis so häufig vor, dass der Gesetzgeber es für zweckmäßig erachtet hat, hierfür feste Gebühren oder Rahmensätze festzulegen. Dies erleichtert die Berechnung und führt zu gerechterer Vergütung des Sachverständigen. Die einzelnen Verrichtungen sind in einer Anlage zu § 10 JVEG und über § 10 Abs. 2 JVEG in Verbindung mit Abschnitt O der Anlage zur Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) festgehalten. § 10 JVEG ist gegenüber § 9 JVEG vorrangig. Der Sachverständige kann daher grundsätzlich nicht, soweit § 10 JVEG eingreift, nach der Zeitgebühr nach § 9 JVEG abrechnen. 5. Es empfiehlt sich, die Laborleistungen und technischen Untersuchungen in einer Anlage zur Liquidation gesondert zu spezifizieren. 6. Kosten und Auslagen, die der Sachverständige zur Vorbereitung und Erstattung seines Gutachtens aufwendet, werden ersetzt. Leitend für diese Auslegung muss der Grundgedanke sein, der § 12 JVEG zugrunde liegt, nämlich den Sachverständigen von notwendigen Kosten freizustellen, die für ihn unvermeidbar mit der Abwicklung des Gutachtenauftrags verbunden sind. Ausgeschlossen von der Erstattung ist aber alles, was ihm auch sonst unabhängig vom Gutachtenauftrag an Kosten anfällt, insbesondere alle allgemeinen Praxisunkosten, die sog. Gemeinkosten. Darunter fallen ebenfalls alle Kosten, die dem Sachverständigen auch dann entstanden wären, wenn er das Gutachten nicht erstattet hätte (z. B. Miete, Heizung, Beleuchtung, Reinigung, Instandhaltung, Ausstattung mit technischen Einrichtungen, auch Löhne für die in der Praxis beschäftigten Mitarbeiter). Der Aufwendungsersatz ist auf das notwendige Maß beschränkt, auch wenn der Sachverständige regelmäßig den Umfang kraft seiner Sachkunde im Rahmen des Gutachtenauftrags selbst bestimmt. Gibt es Zweifel über den Umfang des Gutachtenauftrags, so ist dem Sachverständigen unbedingt zu raten, mit dem Gericht Kontakt aufzunehmen, weil sonst der Vergütungsanspruch (auch in Bezug auf den Aufwandser-
3
64
1
Kapitel 3 · Die Vergütung des medizinischen Sachverständigen
Universitätsklinikum Ulm (1) Medizinische Klinik Gutachtenstelle
Robert-Koch-Str. 8 Tel: 0731 50024100 Fax 0731 50024111
2 3 4 5 6 7
(Adresse des Auftraggebers)
(Datum) Liquidation Für ein auf Veranlassung des Landgerichts Memmingen erstattetes wissenschaftliches Fachgutachten in Sachen Hennig / Klinikum Memmingen (AZ ...) (2) Gutachter: Professor Schneeweiß Leistungsentschädigung für medizinische Sachverständige § 9 JVEG (3) Aktenstudium 6 Stunden à € 85.
€ 512,–
Literaturstudium 2 Stunden à € 85.
€ 170,–
Erhebung der Anamnese und körperliche Untersuchung 2 Stunden à € 85.
€ 170,–
8
Besondere Leistungen gem. § 10 JVEG (4)
9
Beurteilung von Fremdröntgenaufnahmen
Laborleistungen und technische Untersuchungen gemäß SpeziÀkation (vgl. Anlage) (5) 6 Bilder à 5 Minuten: 0,5 Stunden à € 85
10 11
Ersatz vom Aufwendungen gem. § 12 JVEG
€ 42,50 (6)
Ausarbeitung des Gutachtens einschließlich wissenschaftlicher Erörterung 5 Stunden à € 85
13
Schreibgebühr (1 Original, 2 Kopien) 40 x 1000 Anschläge à € 0,75
€ 425,– € 30,–
Fahrtkosten, Aufwandsentschädigung gem. § 5 JVEG (7) Bahnfahrt 1. Klasse Hin- und Rückfahrt + Zuschlag Taxi am Ort Bahnhof – Gericht und zurück Terminwahrnehmung + Fahrzeit 6 Stunden à Euro 85
14
€ 425,–
Diktat, Durchsicht und Korrektur des Gutachtens: 5 Stunden à € 85
12
€ 201,–
Porto (8)
€ 128,– € 12,– € 512,– € 12,– € 2612,–
15 16
Die Vergütung beteiligter Mitarbeiter ist in dieser Liquidation enthalten.
Wir bitten um Überweisung des Betrages auf das Konto der Gutachtenstelle der Medizinischen Klinik bei der Dresdner Bank Ulm (BLZ 630 500 18) , Konto-Nr. 8 200 247 (9)
17 18 19 20
. Abb. 3.1. Abrechnungsbeispiel für ein medizinisches Gutachten. Zu den Anmerkungen (1) bis (9) s. Text
65 Literatur
satz) der Höhe nach gefährdet sein kann. Nimmt der medizinische Sachverständige für seine Begutachtung ärztliche Leistungen anderer Bereiche des Krankenhauses in Anspruch, so können diese – nach den Vorschriften der GOÄ abgerechnet – ebenfalls nach § 12 JVEG geltend gemacht werden. 7. Der Sachverständige erhält für die Benutzung von Beförderungsmitteln Fahrtkostenersatz. Die Einzelheiten sind in § 5 JVEG geregelt. In Zweifelsfällen ist stets das wirtschaftlichste Verkehrsmittel mit dem Ziel der Kostenminimierung zu benutzen. Es kann auch ein teureres Verkehrsmittel benutzt werden, wenn dadurch Kosten an anderer Stelle eingespart werden können (z. B. Flug statt Bahnfahrt bei Einsparung von Übernachtungen). Der Sachverständige kann bei Verkehrsmitteln die 1. Klasse beanspruchen. Für ihren Aufwand (Verzehr, Übernachtungen) erhalten Sachverständige eine nach den persönlichen Verhältnissen zu bemessende Entschädigung. Maßgeblich sind dabei insbesondere Lebensstellung, Alter, Gesundheitszustand. Nur der tatsächliche Aufwand wird ersetzt. Maßgeblich ist insoweit das Reisekostenrecht. Zu den Reisekosten zählen auch die Stundenzahl hierfür und die Zeit der Verhandlung vor Gericht. Diese Zeit ist mit dem Stundensatz anzurechnen. 8. Das für die Versendung des Gutachtens (einschließlich der Rücksendung der überlassenen Akten) erforderliche Porto ist ebenso zu erstatten wie die Kosten der notwendigen Telefonate, Telefax etc. Es empfiehlt sich, darüber Aufzeichnungen anzufertigen, um den Beweis führen zu können. 9. Die Angabe der Kontonummer ist zu empfehlen. Da die Gutachtenerstellung normalerweise Nebentätigkeit ist, ist die Angabe des Kontos der Institution nicht zulässig.
Literatur Hartmann P (2004) Kostengesetze. 34. Aufl., Beck, München Hennies G (1997) Entschädigung des Sachverständigen. In: Marx HH, Klepzig H (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. Thieme, Stuttgart New York, S. 218–235 Jessnitzer K, Frieling G (1992) Der gerichtliche Sachverständige, 10. Aufl. Heymanns, Köln Jessnitzer K, Ulrich J (2001) Der gerichtliche Sachverständige, 11. Aufl. Heymanns, Köln Lippert H-D, Kern B-R (1993) Das Arbeits- und Dienstrecht der Krankenhausärzte von A-Z. 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Marx HH, Klepzig H (1997) Medizinische Begutachtung Innerer Krankheiten. 7. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Meyer P, Höver A, Bach W (1995) Die Vergütung und Entschädigung von Sachverständigen, Zeugen, Dritten und von ehrenamtlichen Richtern nach dem JVEG, 23. Aufl. Heymanns, Köln Meyer P, Höver A, Bach W, (2007) Die Vergütung und Entschädigung von Sachverständigen, Zeugen, Dritten und von ehrenamtlichen Richtern nach dem JVEG, 24. Aufl. Heymanns, Köln
3
67
Organe und die Begutachtung ihrer Krankheiten 4
Bewegungsapparat – 69 A. Nigg, J. Hausdorf, S. Schewe
5
Herz – 111 H. Schmitz, M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, V. Klauss , H. Gross, E. Kreuzer
6
Periphere Gefäße – 153 A. Dohmen, T. Layher
7
Respirationstrakt X. Baur, R. Huber
8
Leber – Gallenwege – Pankreas G. Jäger, R. Zachoval
9
Gastrointestinaltrakt W. Zoller, T. Heubach
10
Haut und Hautanhangsgebilde P. Schulze
11
Nervensystem – 309 C.J.G. Lang, H. Stefan
12
Sinnesorgane – 361 B. Lachenmayr, K.-F. Hamann
13
Endokrine Organe B. Böhm
– 401
14
Nierenkrankheiten U. Winkler, F. Keller
– 421
15
Weibliche Geschlechtsorgane – 433 H.L. Sommer
– 183 – 249
– 267 – 287
II 4
69
Bewegungsapparat A. Nigg, J. Hausdorf, S. Schewe
4.1
Diagnostik – 70
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.1.5
Anamnese – 70 Körperliche Untersuchung – 72 Laboruntersuchungen – 77 Bildgebende Verfahren – 80 Diagnosekriterien für entzündlich-rheumatische Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen – 82
4.2
Degenerative Erkrankungen/Trauma – 85
4.2.1 4.2.2
Arthrose – 85 Trauma – 85
4.3
Entzündliche Erkrankungen – 88
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7
Rheumatoide Arthritis – 88 Seronegative Spondylarthropathien – 89 Kollagenosen – 90 Systemische Vaskulitiden – 91 Erregerassoziierte rheumatische Erkrankungen – 92 Rheumatische Erkrankungen bei Stoffwechselstörungen und endokrinen Erkrankungen – 93 Weichteilrheumatische Erkrankungen – 94
4.4
Fragen zum Zusammenhang
4.4.1 4.4.2 4.4.3
Degenerative Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen Gelenk- und Wirbelsäulenverletzungen – 95 Sonderfragen – 95
4.5
Bewertung nach dem Sozialrecht – 100
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
Militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung/Wehrdienst/Zivildienst Opfer von Gewalttaten – 100 Impfschäden – 101 Erwerbstätigkeit/Erwerbsminderung – 101 MdE/GdB – 101
4.6
Begutachtung privat versicherter Schäden
4.6.1
Unfallversicherung
4.7
Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 107
4.7.1 4.7.2
Berufsausübung – 107 Fahrereignung – 108
– 95 – 95
– 106
– 106
4.8
Risikobeurteilung – 109
4.8.1 4.8.2 4.8.3
Entzündliche Erkrankungen des Bewegungsapparates – 109 Degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates – 109 Traumatisch bedingte Erkrankungen des Bewegungsapparates – 109
4.9
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Literatur
– 110
– 109
– 100
4
70
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
))
1
Degenerative, traumatische und entzündliche Veränderungen des Bewegungs- und Stützapparates zählen zu den häufigsten Gesundheitsproblemen. Die damit einhergehenden Funktionseinschränkungen, Behinderungen und Berentungen sind von erheblicher sozioökonomischer Bedeutung und daher häufig Gegenstand medizinischer Begutachtungen. Bei degenerativen und traumatischen Erkrankungen und deren Folgekomplikationen sind in vielen Fällen komplexe kausale Zusammenhänge zu erörtern, entzündlich-rheumatische Erkrankungen weisen eine ausgeprägte Heterogenität sowie einen sehr variablen Verlauf auf. Die Begutachtung von Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates und die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber anderen Krankheitsbildern setzen dabei profunde Kenntnisse über die Ätiopathogenese dieser Erkrankungen voraus. Zudem ist eine sachkundige Interpretation der bildgebenden und laborchemischen Diagnostik sowie der klinischen Untersuchungsbefunde unabdinglich.
2 3 4 5 6 7 8 9
4.1
Diagnostik
4.1.1 Anamnese
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Grundlage für die Diagnosestellung und die gutachterliche Beurteilung von Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates ist die sorgfältige Erhebung der Anamnese. Neben Fragen zum aktuellen Beschwerdebild beinhaltet die Anamnese eine ausführliche Systemanamnese, die medizinische Vorgeschichte, die Familienanamnese, die psychosoziale Anamnese sowie die Berufsanamnese.
Symptomorientierte Anamnese Im Rahmen der Anamnese sollte zunächst geklärt werden, ob die Beschwerden artikulären Ursprungs sind oder von periartikulären Weichteilstrukturen ausgehen bzw. myogen oder neurogen bedingt sind. Gezielte Fragen nach der genauen Lokalisation und dem Befallsmuster (mono-/oligo-/polyartikulär, symmetrisch/asymmetrisch, migratorisch, Transversalbefall, Befall kleiner bzw. großer Gelenke) sowie dem Schmerzcharakter erlauben häufig bereits eine differenzialdiagnostische Einordnung der Beschwerden. Relevant sind zudem der Verlauf und die Dauer der Symptomatik (linear/schubweise/progredient) sowie auslösende Faktoren (Infektion, Belastung, Kälte etc.) oder mögliche Begleitumstände (Fieber, Hautveränderungen u. a.).
zen mit nächtlicher oder morgendlicher Betonung, zudem werden häufig eine ausgeprägte Morgensteifigkeit und eine Besserung der Beschwerden bei Bewegung angegeben. Eine Arthritis ist des Weiteren klassischerweise durch Gelenkschmerzen mit begleitender Gelenkschwellung, ggf. auch Rötung und Überwärmung gekennzeichnet und kann somit differenzialdiagnostisch von bloßen Arthralgien (z. B. bei Arthrose) abgegrenzt werden. Erkrankungen aus der Gruppe der seronegativen Spondylarthropathien (Morbus Bechterew, enteropathische Spondylarthropathie u. a.) zeichnen sich in der Regel durch einen Befall der Ileosakralgelenke aus und sind häufig durch sog. »entzündliche Rückenschmerzen« charakterisiert. Die Symptomatik ist gekennzeichnet durch einen schleichenden Beginn der Beschwerden, morgendliches Schmerzmaximum, Morgensteifigkeit der Wirbelsäule >30 Minuten, wechselnden Gesäßschmerz, Besserung bei Bewegung und zumeist einen Beginn vor dem 45. Lebensjahr.
Systemanamnese Entzündlich-rheumatische Erkrankungen Nahezu alle entzündlich-rheumatischen Erkrankungen können mit systemischen Symptomen und verschiedenen Organmanifestationen einhergehen. Somit ist zur genauen gutachterlichen Beurteilung eine umfangreiche Systemanamnese zur Erfassung möglicher Organbeteiligungen erforderlich, bestimmte Leitsymptome müssen dabei dezidiert abgefragt werden (. Tab. 4.1). Hinweise für eine infektionsbedingte Genese einer Arthritis sind eine vorausgegangene Exposition gegenüber bestimmten Erregern (z. B. Zeckenbiss Monate vorher) bzw. manifeste Infektionen (Pharyngitis, Gastroenteritis, Urethritis 2–4 Wochen vorher), Allgemeinsymptome wie Fieber, typische extraartikuläre Symptome einer Infektionskrankheit (z. B. Erythema chronicum migrans bei Borreliose), und infektionsverdächtige Lokalsymptome (z. B. akute Monarthritis u. a.). Des Weiteren ist die genaue medizinische Vorgeschichte des zu Begutachtenden zu erfragen, insbesondere im Hinblick auf weitere Erkrankungen (Stoffwechsel-, Tumorerkrankungen etc.) sowie evtl. durchgeführte Operationen.
Medikamentenanamnese Die Medikamentenanamnese sollte die aktuellen sowie die bisherigen medikamentösen und nichtmedikamentösen Therapien umfassen; hierbei interessiert zusätzlich das Ansprechen auf die jeweilige Therapie sowie eventuelle Nebenwirkungen.
Entzündlich-rheumatische Erkrankungen
Familienanamnese und epidemiologische Aspekte
Charakteristisch für Arthritiden im Rahmen von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen sind in der Regel subakut einsetzende bzw. schubförmig auftretende Schmer-
Die Familienanamnese kann wichtige Anhaltspunkte für die Diagnosestellung liefern. So weisen die meisten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen – u. a. die rheu-
71 4.1 Diagnostik
. Tab. 4.1. Systemanamnese bei entzündlichen Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen Organ
Manifestation
Allgemeinsymptome
5 5 5 5 5
Fieber Nachtschweiß Gewichstverlust Inappetenz Leistungsabfall
Haut/ Schleimhäute
5 5 5 5 5 5 5 5 5
Psoriasis, ggf. mit Nagelbeteiligung (Psoriasisarthritis) Exantheme (Kollagenosen, Vaskulitiden, Morbus Still u. a.) Photosensibilität (SLE) kutane Vaskulitis/Purpura (systemische Vaskulitiden u. a.) Schleimhautulcera (SLE, Vaskulitis, Morbus Behçet) Rheumaknoten (Rheumatoide Arthritis) Erythema nodosum (Sarkoidose, reaktive Arthritis u. a.) Keratoderma blenorrhagicum (reaktive Arthritis) Erythema chronicum migrans/Acrodermatitis chronicans atrophicans (Lyme-Borreliose)
Lunge
5 Belastungsdyspnoe bei Lungenfibrose (systemische Sklerose, SLE und andere Kollagenosen, rheumatoide Arthritis, Sarkoidose u. a.) 5 Husten 5 Menge und Art des Auswurfs bei pulmonalen Infiltraten 5 ggf. Lungenblutungen (Vaskulitiden, z. B. Morbus Wegener) 5 Atemabhängiger Brustschmerz bei Pleuritis (Kollagenosen)
Niere
5 5 5 5 5
Ödeme Blutdruckanstieg Blut im Urin oder schäumender Urin bei Glomerulonephritis (Kollagenosen, Vaskulitiden u. a.) Koliken bei Uratnephropathie (Gicht) Blutdruckanstieg bei Nierenarterienstenose/renale Hypertonie (Takayasu-Arteriitis)
Herz
5 5 5 5 5 5
Lageabhängiger Brustschmerz/Dyspnoe bei Perikarditis (SLE u. a.) Herzrythmusstörungen pulmonal-arterielle Hypertonie (Sklerodermie, Kollagenosen, Lungenfibrosen u. a.) Arterielle Hypertonie Angina pectoris Herzinfarkt bei koronarer Herzkrankheit
Gefäße
5 5 5 5
Infarkte bzw. Durchblutungsstörungen verschiedener Organe (Vaskulitiden der großen und mittleren Gefäße) Claudicatio bei Durchblutungsstörungen der Extremitäten (Großgefäßvaskulitis) Raynaud-Syndrom (Kollagenosen, Vaskulitiden, rheumatoide Arthritis) Gesteigerte Thromboseneigung
Gastrointestinaltrakt
5 Mundtrockenheit (Sjögren-Syndrom, Kollagenosen u. a.) 5 Regurgitationen, Schluckbeschwerden, Sodbrennen bei Motilitätsstörung des Ösophagus (systemische Sklerose u. a.) 5 Enteritis (reaktive Arthritis) 5 Stuhlunregelmäßigkeiten 5 Blut im Stuhl (enteropathische Spondyloarthritiden)
Urogenitaltrakt
5 Urethritis (reaktive Arthritis) 5 Genitale Ulzera (Morbus Behçet) 5 Erhöhte Abortrate und andere Schwangerschaftskomplikationen (Antiphospholipidsyndrom, Kollagenosen, Vaskulitiden u. a.)
Auge
5 5 5 5
Nervensystem
5 5 5 5 5
Schmerzendes gerötetes Auge bei Konjunktivitis/Episkleritis (Kollagenosen, Vaskulitiden) Lichtempfindlichkeit bei Uveitis (Spondylarthropathien) Xerophthalmie (primäres und sekundäres Sjögren-Syndrom) Sehstörungen bei ischämischer Optikusneuropathie (Großgefäßvaskulitis)
Neurologische Ausfälle Psychosen Krampfanfälle bei ZNS-Vaskulitis (SLE, Vaskulitiden) Schlaganfall (Großgefäßvaskulitis) Sensomotorische Defizite, neuropathische Schmerzen, Missempfindungen bei peripherer Polyneuropathie bzw. Mononeuritis multiplex (Kollagenosen, Vaskulitiden) 5 Karpaltunnelsyndrom bei rheumatoider Arthritis u. a.
4
72
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
matoide Arthritis, die ankylosierende Spondylitis und bestimmte Kollagenosen – eine familiäre Häufung auf. Dies ist insbesondere bei der Psoriasisarthritis von Bedeutung, bei der die positive Anamnese einer Psoriasis bzw. einer Psoriasisarthritis bei einem Verwandten 1. oder 2. Grades ein Diagnosekriterium darstellt (Caspar-Kriterien). Die Gicht ist ebenfalls eine klassisch familiär gehäufte Arthritiserkrankung. Epidemiologische Aspekte wie das Manifestationsalter und das Geschlecht spielen bei der diagnostischen Einordnung rheumatischer Erkrankungen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Berufsanamnese Die Berufsanamnese beinhaltet gezielte Fragen nach einer berufsbedingten einseitigen mechanischen Beanspruchung von bestimmten Gelenken oder der Wirbelsäule sowie Kälte- und Nässeexposition. Unphysiologische mechanische Belastungen können für die Entstehung und für das Fortschreiten degenerativer Erkrankungen ausschlaggebend sein, im Rahmen von entzündlichen Erkrankungen bestehende Gelenkdestruktionen, Fehlstellungen oder Funktionseinschränkungen können sich durch Fehloder Überbelastungen verschlechtern.
Unfallanamnese Unfallhergang Geht es um die Begutachtung von Unfallfolgen, muss dem Unfallhergang ein besonderes Augenmerk gewidmet werden. Meistens liegt der Unfall jedoch einige Zeit zurück, und die Verlässlichkeit der Aussagen zum Aufbau einer biomechanischen Analyse ist kritisch zu hinterfragen. Dennoch sollten beim Verkehrsunfall Fragen zur Geschwindigkeit, zur Position im Fahrzeug und zur Aufprallrichtung gestellt werden. Des Weiteren ist es wichtig, nach Angurtung und Auslösen eines Airbags zu fragen sowie das Ausmaß des Fahrzeugschadens und eventuelle Verletzungen von Begleitpersonen im Fahrzeug zur Kenntnis zu nehmen. Zur Beurteilung der Schwere der Verletzung dürfen Fragen nach Bewusstlosigkeit, Übelkeit am Unfallort und vor allem Zeitpunkt des Einsetzens der Beschwerden nicht fehlen. Bei Sport- und Freizeitverletzungen können Fragen nach Gelenkstellung, Sturzrichtung und Trainingszustand bzw. Aufwärmstadium der Muskulatur wichtige Hinweise bringen. Bei Arbeitsunfällen muss immer nach Einhaltung der Arbeitsschutzmaßnahmen gefragt werden.
Vorbestehende Beschwerden Selbstverständlich muss auch nach möglichen bereits bestehenden Beschwerden vor dem Unfall gefragt werden. Wenn diese verneint werden, was häufig zu erwarten ist, gilt es, Behandlungsberichte oder Aktenauskünfte der Versicherungen einzuholen, um sich darüber Klarheit zu verschaffen.
Rekonvaleszenzphase Die weitere Anamnese betrifft die Phase nach der Verletzung, hier muss die Dauer der Arbeitsunfähigkeit, der Sportkarenz und der Therapieverlauf genau erfragt werden.
Psychosoziale Anamnese Insbesondere bei weichteilrheumatischen Erkrankungen wie dem Fibromyalgiesyndrom sowie bei Verdacht auf funktionelle Beschwerden bzw. eine Somatisierungsstörung ist zudem eine ausführliche psychosoziale Anamnese zu erheben. Psychosoziale Belastungsfaktoren, psychische Traumen oder Konflikte spielen für die Entstehung und die Ausprägung dieser Erkrankungen eine wichtige Rolle.
4.1.2 Körperliche Untersuchung
Neben der Anamnese steht die klinische Untersuchung im Mittelpunkt der Diagnostik bei Erkrankungen des Bewegungsapparates. > Bei jedem zu Begutachtenden sind neben der Untersuchung des Stütz- und Bewegungsapparates auch eine internistische und orientierende neurologische Untersuchung sowie eine Inspektion der Haut und Schleimhäute durchzuführen.
Untersuchung des Stütz- und Bewegungsapparats Die Untersuchung des Bewegungsapparates beginnt mit der Beobachtung der Körperhaltung und des Bewegungsablaufes inklusive der Beurteilung eventueller Auffälligkeiten beim An- und Auskleiden. Das Gangbild wird hinsichtlich Verkürzung, muskulärer Insuffizienz und Schmerzhinken bzw. Lähmungserscheinungen beurteilt. Bei der Inspektion ist insbesondere im Bereich der Hände auf Atrophien bzw. Schwielenbildungen der Haut zu achten, welche möglicherweise indirekte Hinweise über die Belastung geben können. Des Weiteren müssen die Händigkeit sowie evtl. verwendete orthopädische Hilfsmittel wie Krücken, Prothesen, Orthesen oder Veränderungen am Schuh etc. festgehalten werden.
Gelenke Alle Gelenke der oberen und unteren Extremitäten sind zu untersuchen auf Druckschmerzhaftigkeit, Gelenkschwellungen (Synovialitis, Gelenkerguss), Überwärmungen, Krepitationen, Deformierungen und Fehlstellungen. Die erhobenen Befunde sind genau zu dokumentieren (. Abb. 4.1). Zu prüfen ist, ob ein Gelenk bereits in Ruhe schmerzhaft ist, oder ob sich die Schmerzen durch aktive und passive Bewegung auslösen bzw. verstärken lassen (sog. Kapselschmerz bei Arthrits). Eine Schmerzauslösung bei
73 4.1 Diagnostik
Kompression der Fingergrundgelenke II–V bzw. der Zehengrundgelenke lässt sich typischerweise bei der rheumatoiden Arthritis nachweisen (Gaenslen-Handgriff ). Synovitiden der kleinen Gelenke sind durch eine prallelastische, in der Regel schmerzempfindliche Schwellung über dem betroffenen Gelenk charakterisiert, hingegen ist für die degenerative Veränderung der Fingerpolyarthrose die knöcherne, harte, osteophytäre Vorwölbung der charakteristische Befund: 5 Fingerendgelenke: Heberden-Arthrose, 5 Fingermittelgelenke: Bouchard-Arthrose, 5 Daumensattelgelenk: Rhizarthrose.
. Abb. 4.1. Schematische Darstellung des Stammskeletts und der peripheren Gelenke zur Dokumentation des Gelenkbefallsmusters nach Anamnese und/oder klinischem Befund. (Nach Kellner u. Gaulrapp 2001)
Typische Fehlstellungen bei der rheumatoiden Arthritis sind u. a. die Schwanenhals- und Knopflochdeformität im Bereich der Fingermittel- und Endgelenke sowie die Ulnardeviation im Bereich der Fingergrundgelenke. Des Weiteren werden die aktive und passive Beweglichkeit der Gelenke anhand der Neutral-Null-Methode geprüft, welche die Messung der Freiheitsgrade bei Beugung, Streckung, Innen- und Außenrotation, Abduktion und Adduktion, Pronation und Supination beinhaltet. Im Bereich des Handskeletts sollten außerdem der Faustschluss sowie andere im Alltag relevante Funktionen (Spreizstellung, Oppsitionsstellung) überprüft werden, dies beinhaltet zudem eine Beurteilung der groben Kraft (Händedruck). Weitere gängige Funktionsuntersuchungen sind der Schürzen- und Nackengriff. Die Untersuchungen im Einzelnen sind in . Abb. 4.2–4.12 dargestellt.
. Abb. 4.2a–d. Schultergelenke rechts und links. a Arm seit- und körperwärts, b rück- und vorwärts, c Oberarm aus- und einwärts drehen (Oberarm anliegend). d Oberarm aus- und einwärts drehen (Oberarm 90° seitwärts abgehalten)
4
74
1
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
. Abb. 4.3. Ellbogengelenke rechts und links; Streckung und Beugung
. Abb. 4.4. Unterarmdrehung an beiden Armen ausund einwärts
2 3 4 5 6 7 8 9
. Abb. 4.5a,b. Handgelenke rechts und links: a handrückenwärts und hohlhandwärts, b ellenwärts
10 11 12 13 14
. Abb. 4.6a,b. Fingergelenke beider Hände: a Nagelrand – quere Hohlhandfalte, b Nagelrand – verlängerte Handrückenebene
15 16 17 18 19 20
. Abb. 4.7a,b. Daumengelenke beider Hände: a Abspreizung in der Handebene, b Abspreizung rechtwinklig zur Handebene
. Abb. 4.8a–c. Fingergelenke beider Hände: a Streckung, b Beugung des Grundgelenks. c Beugung der Mittel- und Endgelenke
75 4.1 Diagnostik
. Abb. 4.9a–e. Hüftgelenke rechts und links: a Streckung (Thomas-Handgriff ), b Streckung und Beugung, c Abspreizen und Heranführen, d aus- und einwärts drehen mit um 90° gebeugtem Hüftgelenk, e aus- und einwärts drehen mit gestrecktem Hüftgelenk
. Abb. 4.10. Kniegelenke rechts und links: Streckung und Beugung
. Abb. 4.11. Obere Sprunggelenke: Heben und Senken des Fußes fußsohlen- und fußrückenwärts
4
76
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
. Abb. 4.12a–d. Untere Sprunggelenke. a Gesamtbeweglichkeit; Drehen, Heben und Senken der Fußinnenseite. b Gesamtbeweglichkeit; Drehen, Heben und Senken der Fußaußenseite. c, d Teilbeweglichkeit der vorderen Kammer bei fixierter Ferse
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Wesentlich für die Funktionsbeurteilung sind standardisierte Fragebögen, die vom Patienten auszufüllen sind (HAQ, Funktionsfragebogen Hannover, SF-36, BASDAI, BASFI u. a.), der Vergleich der dort gemachten Angaben mit den ärztlichen Untersuchungsbefunden ist im Gutachten unter Umständen von erheblicher Bedeutung. Bei Verletzungen sollten neben der Beurteilung von Fehlstellungen und Funktionseinschränkungen der Gelenke und des Muskel-Band-Apparates die betreffenden Knochenstrukturen im gesamten Verlauf auf vorhandene Schmerzen im Bereich der Knochenhaut untersucht werden.
Wirbelsäule Die Untersuchung des Achselskeletts umfasst die Beurteilung möglicher Achsenabweichungen (Kyphose, Lordose, Skoliose), der Kopfhaltung, des Schulterstandes, des Beckenstandes und der Beinachsen. Zudem werden der axiale Stauchschmerz der Halswirbelsäule und die Klopfschmerzhaftigkeit der Dornfortsätze und der Wirbelkörper überprüft.
Bei entzündlichen Erkrankungen des Achsenskeletts besteht häufig eine Sakroiliitis, welche durch das MenellZeichen (. Abb. 4.13) und eine lokale Druckschmerzhaftigkeit über dem Sakroiliakalgelenk überprüft werden kann (z. B. im 3-Phasen-Hyperextensionstest). Die Wertigkeit der klinischen Untersuchungen der Wirbelsäule ist allerdings für den Nachweis einer Spondyloarthritis eingeschränkt, andererseits sind sie für eine Verlaufsbeurteilung und Beurteilung des Schweregrades von Bedeutung (z. B. BASMI). Im Rahmen der Funktionsuntersuchung der Wirbelsäule sind die Bestimmung des Finger-Boden-, Hinterhaupt-Wand-, Kinn-Sternum-Abstands und die Atembreite sowie das Schober-Maß zu bestimmen (. Abb. 4.14 und 4.15). Die Beweglichkeit der LWS ist durch die Seitwärtsneigung nach rechts und links zusätzlich beschrieben (Teil der BASMI-Kriterien zur Bewertung des Schweregrades einer entzündlichen WS-Beteiligung). Des Weiteren gehören der Einbeinstand, das Trendelenburg-Duchenne-Zeichen, der intermalleoläre Abstand bei maximaler Spreizung im Stehen sowie der Ze. Abb. 4.13. Wirbelsäule: Menell-Zeichen (ThomasHandgriff )
77 4.1 Diagnostik
Allgemeine körperliche Untersuchung
. Abb. 4.14. Markierung für das Macrae-Zeichen (1, 3), Schober-Zeichen (2, 3) und Ott-Zeichen (4, 5)
hen- und Hackenstand zur Untersuchung der Wirbelsäule.
Sehnen, Bursen und Bänder An den großen Gelenken und im Stammbereich sind zusätzlich die Sehneninsertionen sowie die Sehnen und Bursen im Hinblick auf Enthesitiden, Tenosynovitiden und Bursitiden zu beurteilen. Im Bereich der Sehnen muss zudem die Untersuchung definierter Druckschmerzpunkte (»tender points« bei Fibromyalgie) erfolgen. Relevante Bandinstabilitäten müssen ausgeschlossen werden.
Muskulatur Die Muskulatur ist hinsichtlich des Muskeltonus, lokaler oder diffuser Verhärtungen, Myogelosen oder umschriebener Druckpunkte zu untersuchen, des Weiteren ist gezielt auf Muskelatrophien (z. B. Atrophie der Mm. interossei bei rheumatoider Arthritis, Hypothenaratrophie bei Karpaltunnelsyndrom), Muskelhypertrophien sowie mögliche Muskel- oder Sehnenverkürzungen, Kontrakturen oder Paresen zu achten. Zur Beurteilung des Kraftgrades ist zudem eine Muskelfunktionsprüfung gegen Widerstand im Seitenvergleich durchzuführen.
Die weitere körperliche Untersuchung beinhaltet die Beurteilung des Allgemein- und Ernährungszustands (Gewicht, Körpergröße) sowie eine Messung der Vitalparameter (Herzfrequenz und -rhythmus, Blutdruck, Atemfrequenz). Des Weiteren sind eine Auskultation des Herzens inklusive orientierender Überprüfung der Herzfunktion (Ödeme, Halsvenenstauung), eine Auskultation und Perkussion der Lunge, eine Auskultation und Palpation des Abdomens inklusive der Nierenlager, eine Untersuchung des Gefäßstatus (Palpation der Pulse, Auskultation der großen Gefäße) sowie eine Palpation der Schilddrüse und der Lymphknotenstationen durchzuführen. Gegebenenfalls muss die Diagnostik dabei durch weiterführende technische Untersuchungen (z. B. EKG, UKG, Lungenfunktionsprüfung, Sonographie u. a. bildgebende Verfahren) ergänzt werden. Zudem ist stets eine genaue Inspektion der Haut, der Schleimhäute und der Hautanhangsorgane erforderlich, da viele rheumatische Erkrankungen durch Hautmanifestationen gekennzeichnet bzw. mit bestimmten Hauterkrankungen assoziiert sind. Die neurologische Untersuchung dient der Beurteilung einer möglichen Beteiligung des zentralen oder peripheren Nervensystems, zudem ist häufig eine Differenzierung gegenüber primären neurologischen Erkrankungen oder neurogen bedingten Schmerzsyndromen (z. B. Spinalkanalstenose, Plexusläsion etc.) erforderlich. In Abhängigkeit von den anamnestischen Angaben können ggf. im Einzelfall weitere Untersuchungen, z. B. auf opthalmologischem oder HNO-ärztlichem Gebiet, notwendig sein.
4.1.3 Laboruntersuchungen
Labormedizinische Untersuchungen stellen einen wichtigen Bestandteil der Diagnostik entzündlich-rheumatischer Erkrankungen dar. Im Zusammenhang mit den klinischen Befunden erlaubt die Labordiagnostik Aussagen zur ätiologischen und nosologischen Zuordnung der klinischen Symptome sowie zum Ausmaß bzw. der Aktivi-
. Abb. 4.15. Wirbelsäule: Schober- und Ott-Zeichen
4
78
1
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
tät entzündlicher Krankheitsprozesse und zur Beurteilung einer möglichen Beteiligung weiterer Organsysteme.
> Darüber hinaus stellen erhöhte Anti-CCP-Antikörper einen relevanten prognostischen Faktor dar, da diese mit einem erosiven Verlauf der Arthritis assoziiert sind.
Autoantikörperdiagnostik
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Aufgrund der Assoziation mit bestimmten klinisch definierten Krankheitsbildern ist der Nachweis von spezifischen Autoantikörpern bei vielen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen Bestandteil diagnostischer Kriterienkataloge. Autoantikörper spielen insbesondere bei der Diagnostik der rheumatoiden Arthritis sowie bei systemischen Erkrankungen wie den Kollagenosen und Vaskulitiden eine bedeutende Rolle.
Rheumatoide Arthritis (RA) Der Rheumafaktor (Anti-IgG-Fc-Antikörper) hat bei der rheumatoiden Arthritis eine Sensitivität von 80–90% und eine Spezifität von 60–80%. Zu beachten ist, dass positive Rheumafaktoren bei einer Vielzahl von anderen Autoimmunerkrankungen, lymphoproliferativen Erkrankungen und Infektionen sowie in zunehmendem Lebensalter auch bei gesunden Menschen nachgewiesen werden können. Im Gegensatz zum Rheumafaktor (RF) weisen Antikörper gegen citrullinierte Peptide (Anti-CCP-Antikörper) eine sehr hohe Spezifität für die Diagnose einer rheumatoiden Arthritis auf (ca. 97%). CCP-Antikörper finden sich auch bei der RF-negativen rheumatoiden Arthritis und können bei vielen Patienten bereits Jahre vor der klinischen Manifestation der Erkrankung nachweisbar sein.
Krankheit
Antikörper
Prävalenz
Systemischer Lupus erythematodes (SLE)
ANA
90%
15 Sharp-Syndrom (Mischkollagenose, MCTD) Sjögren-Syndrom
19 20
ds-DNS-Antikörper
60–90%, hohe Spezifität!
Anti-Ro (SS-A)
20–60%
Anti-La (SS-B)
15–40%
Anti-Sm (Smith)
10–30%
Anti-U1 RNP
10%
Histon-Antikörper
50–70%, bei medikamenteninduziertem SLE 90%
ANA
>90%
Anti-U1 RNP
100%
ANA
80–90%
Anti-Ro (SS-A)
40–70%
Anti-La (SS-B)
30–50%
ANA
30–60%
Anti-Jo1
40%
Progressive systemische Sklerose (diffuse Form, Sklerodermie)
ANA
60–90%
Anti-DNS-Topoisomerase I (Scl70)
50–70%
Progressive systemische Sklerose (limitierte Form, CREST-Syndrom)
ANA
60–90%
Centromer-Antikörper
50–90%
17 18
Ein Suchtest auf antinukleäre Antikörper (ANA) in Form eines indirekten Immunfluoreszenztests sollte bei gegebenem Verdacht auf eine Kollagenose bzw. im Rahmen der Differenzialdiagnostik bei unklaren Arthritiden sowie bei Hinweisen für eine systemische Erkrankung durchgeführt werden. Zu beachten ist, dass der ANA-Suchtest zwar eine hohe Sensitivität, jedoch eine relativ geringe Spezifität aufweist, insbesondere, da erhöhte ANA-Titer auch bei gesunden Personen sowie bei einer Reihe weiterer Erkrankungen nachgewiesen werden können (Infektionen, Tumorerkrankungen, andere Autoimmunerkrankungen). Im Falle einer relevanten Erhöhung des ANA-Titers (ab 1 : 120 oder höher) muss eine weitere Differenzierung (Subtypisierung) durchgeführt werden (. Tab. 4.2). Kollagenosen (v. a. Lupus erythematodes) sind häufig mit dem Antiphospholipidsyndrom (APS) assoziiert, einer erworbenen Koagulopathie mit vermehrt auftretetenden arteriellen und venösen Thrombembolien. Laborchemische Kriterien für die Diagnose eines APS sind der Nachweis erhöhter Cardiolipin-Antikörper (IgG und/ oder IgM) bzw. Anti-β2-Glycoprotein-I-Antikörper (IgG und/oder IgM) oder der Nachweis des Lupusantikoagulans (LA).
. Tab. 4.2. Autoantikörper bei Kollagenosen
14
16
Kollagenosen
Polymyositis/Dermatomyositis
79 4.1 Diagnostik
Vaskulitiden Bestimmte Vaskulitiden sind durch den Nachweis antineutrophiler zytoplasmatischer Antikörper charakterisiert (sog. ANCA-assoziierte Vaskulitiden; . Tab. 4.3).
5 5 5 5
> Der ANCA-Titer weist eine Korrelation mit der Krankheitsaktivität auf, sodass die ANCA-Bestimmung auch zur Verlaufsbeurteilung der Erkrankung eingesetzt werden kann.
Die Bestimmung des HLA-B27-Allels sollte bei Verdacht auf eine entzündliche Wirbelsäulenerkrankung sowie bei unklaren asymmetrischen Mon-/Oligoarthritiden durchgeführt werden.
Gelegentlich finden sich in der Immunfluoreszenz positive ANCA-Befunde auch bei anderen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen sowie in seltenen Fällen auch bei bakteriellen Infektionen, insbesondere Endokarditiden. Kryoglobuline können im Rahmen einer sog. »essenziellen« Kryoglobulinämie oder sekundär infolge einer Kollagenose, einer lymphoproliferativen Erkrankung oder einer Infektionserkrankung auftreten und zur Entwicklung einer Immunkomplexvaskulitis führen (sog. kryoglobulinämische Vaskulitis). Aufgrund der Assoziation der kryoglobulinämischen Vaskulitis mit der Hepatitis-C-Infektion muss im Falle einer gesicherten Kryoglobulinämie eine weiterführende serologische Hepatitis-CDiagnostik (Anti-HCV-Antikörper, HCV-RNA) durchgeführt werden. Bei der Panarteriitis nodosa liegt in etwa 30% der Fälle eine Hepatitis-B-Infektion zugrunde, sodass hier ergänzend eine Hepatitis-B-Serologie durchgeführt werden muss. Vaskulitiden können des Weiteren auch im Rahmen einer Vielzahl anderer Infektionserkrankungen auftreten (z. B. HIV-/CMV-Infektion).
Immungenetische Diagnostik Das HLA-B27 ist ein genetischer Marker, der gehäuft bei Erkrankungen aus der Gruppe der seronegativen Spondylarthropathien nachgewiesen werden kann: 5 Spondylitis ankylosans 95%, 5 reaktive Arthritis 40–80%,
Psoriasisarthropathie mit axialer Beteiligung 50–70%, enteropathische Spondylarthropthie 40–60%, juvenile rheumatoide Arthrtis (JRA) 50–70%, Uveitis anterior 40–60%
Kommentar Zu beachten ist, dass ca. 7% der Allgemeinbevölkerung Träger des HLA-B27-Allels sind und der Befund daher stets im Kontext mit dem klinischen Bild beurteilt werden muss.
Erregerdiagnostik bei infektassoziierten Gelenkund Wirbelsäulenerkrankungen Zur Diagnostik infektassoziierter, entzündlich-rheumatischer Erkrankungen (reaktive Arthritis, bakterielle Arthritis, Lyme-Borreliose u. a.) stehen neben dem direkten Erregernachweis (Mikroskopie, Kultur) bzw. dem Nachweis von bestimmten Erregerbestandteilen (Antigene, DNA) vor allem serologische Nachweisverfahren zur Verfügung (IgG-/IgM-Antikörper). Die Interpretation der serologischen Befunde muss stets im Zusammenhang mit dem klinischen Bild (Gelenkbefallsmuster, extraartikuläre Manifestationen) sowie den anamnestischen Angaben (z. B. vorangegangener Zeckenbiss, urogenitaler Infekt etc.) erfolgen, da sich in Abhängigkeit vom Durchseuchungsgrad der jeweiligen Infektion häufig signifikant erhöhte Antikörpertiter finden. Bei der Lyme-Arthritis sollten serologische Untersuchungen (Antikörper gegen Borrelia spp.) grundsätzlich als Stufendiagnostik durchgeführt werden. Als Suchtest wird der ELISA empfohlen, der Immunblot-Test wird bei positivem Befund als Bestätigungstest eingesetzt.
. Tab. 4.3. Antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA) Krankheitsbild
Fluoreszenzmuster
Antigene (ELISA)
Wegener-Granulomatose
cANCA, selten pANCA
PR3, selten MPO
Mikroskopische Polyangiitis
pANCA, selten cANCA,
MPO, selten PR3
Churg-Strauss-Syndrom
pANCA
MPO
Polyarteriitis nodosa
ANCA (geringe Prävalenz)
Selten PR3 oder MPO
Rheumatoide Vaskulitis
pANCA, atypische ANCA
Selten MPO, Laktoferrin
Colitis ulcerosa (Prävalenz 67%), primär sklerosierende Cholangitis, Morbus Crohn (Prävalenz 7%)
pANCA, atypische ANCA
Cathepsin G, Laktoferrin, GranulozytenElastase, Lysozym
Autoimmunhepatitis
pANCA, atypische ANCA
4
80
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
Labordiagnostik rheumatischer Erkrankungen bei Stoffwechselstörungen und endokrinen Erkrankungen
plementkomponenten (C3c und C4) für die Beurteilung der Krankheitsaktivität wesentlich.
Bei der akuten Arthritis urica sowie bei der chronischen Gichtarthropathie findet sich in der Regel eine relevante Erhöhung der Harnsäurekonzentration im Serum. Diese ist zumeist durch eine hereditäre Einschränkung der renalen Harnsäureelimination bedingt. Eine sekundäre Hyperurikämie findet man bei Krankheitsbildern, die mit einem erhöhten Zellumsatz einhergehen (Polyzythämien, Leukämien, Psoriasis), bei einer Einschränkung der Nierenfunktion, infolge einer vermehrten Ketonkörperbildung (z. B. beim Fasten) sowie nach Einnahme bestimmter Substanzen (Diuretika, Penicillin, Tuberkulostatika, Alkohol). Bei der Hämochromatose, einer erblichen Eisenstoffwechselstörung, die häufig mit einer Gelenkbeteiligung einhergeht, findet sich laborchemisch eine Erhöhung des Serumeisens, des Serumferritins und der Transferrinsättigung. Die Sicherung der Diagnose erfolgt über den molekulargenetischen Nachweis der Mutatation des HFEGens. Eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose) kann häufig mit rheumatischen Beschwerden einhergehen; im Rahmen der Abklärung unklarer Gelenkbeschwerden oder Myopathien sollte daher routinemäßig eine Bestimmung der Schilddrüsenparameter durchgeführt werden (TSH, ggf. fT3/fT4).
Labormedizinische Diagnostik von Organmanifestationen
Untersuchung der Synovialflüssigkeit Die Synoviaanalyse beinhaltet routinemäßig neben der makroskopischen Beurteilung (Farbe, Trübung, Viskosität) die Bestimmung der Zellzahl (u. a. Leukozytenzählung, ggf. Ausstrichpräparat) sowie ggf. eine mikrobiologische Untersuchung (Gramfärbung, Kultur, PCR). Die Indikation für die Durchführung einer Synoviaanalyse besteht bei Verdacht auf eine infektiöse Arthritis (absolute Indikation) sowie bei Verdacht auf eine Kristallarthropathie. Des Weiteren kann die Untersuchung zur Differenzierung zwischen entzündlichen und nichtentzündlichen Gelenkerkrankungen beitragen.
Beurteilung der entzündlichen Aktivität
16 17 18 19 20
Die laborchemische Entzündungsdiagnostik beinhaltet die Bestimmung der humoralen Entzündungsparameter, d. h. der Blutsenkungsgeschwindigkeit und bestimmter Akutphasenproteine, insbesondere des C-reaktiven Proteins (CRP). Zudem sind bestimmte Blutbildveränderungen mit einer erhöhten Entzündungsaktivität assoziiert (Anämie, Leukozytose, Thrombozytose). Bei komplementabhängigen Autoimmunerkrankungen wie dem systemischen Lupus erythematodes und einzelnen Vaskulitisformen ist eine Verminderung der Aktivität des Komplementsystems bzw. der Konzentration einzelner Kom-
Bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen werden häufig sowohl im Rahmen von systemischen bzw. extraartikulären Manifestationen als auch medikamentenassoziiert Schäden und Funktionseinschränkungen weiterer Organsysteme beobachtet. Im Vordergrund stehen hierbei insbesondere Blutbildveränderungen (Leukozytopenie, Anämie, Thrombozytopenie), eine Leberbeteiligung (Erhöhungen von SGOT, SGPT, γ-GT, AP) oder eine Einschränkung der Nierenfunktion (Kreatinin, Harnstoff ). Die Analyse von Urin (Eiweißausscheidung) und Urinsediment (Hämaturie, Nachweis dysmorpher Erythrozyten, Leukozyturie u. a.) kann Aufschluss über eine mögliche Nierenbeteiligung ergeben.
4.1.4 Bildgebende Verfahren
Röntgendiagnostik Röntgendiagnostik bei entzündlichen und degenerativen Gelenkerkrankungen Aufnahme. Bei der Röntgendiagnostik entzündlicher Ge-
lenkerkrankungen ist zur Diagnosestellung und Verlaufsbeurteilung standardmäßig eine Darstellung der Hände und Vorfüße erforderlich, andere Gelenke sollten je nach klinischer Relevanz untersucht werden. Die Darstellung sollte stets in 2 Ebenen durchgeführt werden. Auswertung. In Abhägigkeit vom Stadium der Erkran-
kung lassen sich unterschiedliche entzündliche Veränderungen nachweisen. Frühe röntgenologische Zeichen der Gelenkentzündung bei der rheumatoiden Arthritis sind die vermehrte Weichteilzeichnung und die gelenknahe Demineralisierung (sog. Kollateralphänomen). In späteren Stadien lassen sich zudem Zeichen der Knorpelund Knochendestruktion (subchondrale Osteolysen, Erosionen bzw. Usuren, konzentrische Gelenkspaltverschmälerung) und ggf. Luxationen, Fehlstellungen und Ankylosierungen nachweisen. Bei der Psoriasisarthropathie findet sich häufig ein Nebeneinander von destruktiven und proliferativen Prozessen, typische Veränderungen sind das Pencil-in-cup-Phänomen, das Sunburst-Zeichen u. a. Charakteristische Veränderungen bei seronegativen Spondylarthropathien finden sich häufig im Bereich der Iliosakralgelenke (unscharfe Gelenkkontur, Erosionen und gelenknahe Sklerosierung sowie im späteren Verlauf Ankylosierung). Das Vollbild des Morbus Bechterew ist zudem durch die Beteiligung der Wirbelsäule gekennzeichnet (Kastenwirbel, Syndesmophyten, Spondylitis, Spondylodiszitis).
81 4.1 Diagnostik
Charakteristisch für die Psoriasisarthritis und andere seronegative Spondylarthropathien sind entzündliche Veränderungen im Übergangsbereich zwischen Sehnen und Knochen (Enthesiopathien). Typische röntgenologische Zeichen der Gicht sind intraossale Tophusbildungen, die als lochstanzartige, scharfkantige Defekte imponieren. Zudem finden sich häufig zentrale oder randständige Usuren und Periostverkalkungen (sog. Gichtstachel). Diese Veränderungen betreffen am häufigsten das Großzehengrundgelenk und sind in der Regel nur im Stadium der chronischen Gichtarthropathie zu erwarten. Bei degenerativen Gelenkerkrankungen wie der Fingerpolyarthrose stellen die Gelenkspaltverschmälerung, die subchondrale Sklerosierung sowie der Nachweis von Osteophyten, Geröllzysten u. a. typische Veränderungen dar. Ebensfalls röntgenologisch dargestellt werden können intra- und periartikuläre Kalkablagerungen, z. B. bei der Chrondrokalzinose oder der Periarthropathia humeroscapularis.
Röntgendiagnostik nach Verletzungen Entscheidend ist die Darstellung einer Fraktur in mindestens 2 Ebenen zur Beurteilung des Dislokationsgrades. In Sonderfällen müssen Spezialaufnahmen wie die StecherAufnahme bei Kahnbeinfraktur durchgeführt werden. Es ist insbesondere auf die Anzahl von Fragmenten, eine mögliche Gelenkbeteiligung und die Knochenstruktur (Osteoporose?) zu achten. Wenn immer möglich sollten Unfallaufnahmen und Aufnahmen im Lauf der Behandlung mit in die Begutachtung einbezogen werden, um Abweichungen vom Normalverlauf und deren eventuelle Ursachen beurteilen zu können. Zur Beurteilung von konsekutiven Achsfehlstellungen müssen Ganzbeinaufnahmen bzw. komplette Ober- oder Unterarmaufnahmen durchgeführt werden. Liegen Gelenkinstabilitäten vor, sollten Belastungsaufnahmen durchgeführt werden: 5 Panoramaaufnahme bei Sprengungen des Akromioklavikulargelenks (ACG), 5 Belastungsaufnahme bei ulnarer Instabilität am Daumengrundgelenk, 5 gehaltene Aufnahmen bei chronischer Instabilität des oberen Sprunggelenks (OSG), 5 Flexionsaufnahmen bei Zustand nach Wirbelsäulenverletzungen.
Sonographie Die Arthrosonographie spielt vorwiegend bei der Beurteilung entzündlich-rheumatischer Erkrankungen eine bedeutende Rolle. Die Methode eignet sich zum Nachweis von intra- und periartikulären Veränderungen wie Exsudationen, Synovialitis, Pannusbildung, Synovialzysten und Bursitiden. Durch den Einsatz moderner hochauflösender Geräte ist der frühzeitige Nachweis erosiver Veränderungen auch im Bereich kleinerer Gelenke möglich; zu-
dem können mittels der farbkodierten Dopplersonographie entzündliche Veränderungen im Bereich der Synovia sehr gut dargestellt und quantifiziert werden. Die Sonographie erlaubt zusätzlich eine direkte Darstellung von Bewegungsabläufen und damit eine funktionelle Beurteilung der Gelenke und des Kapsel-Band-Apparates (dynamische Untersuchung). Dies ist insbesondere bei der Beurteilung von traumatisch bedingten Erkrankungen des Bewegungsapparates von Bedeutung (z. B. Rotatorenmanschettenruptur u. a.). Des Weiteren können Verletzungsfolgen wie narbige Veränderungen im Bereich der Unterhaut, der Muskulatur und der Sehnen dargestellt werden.
Skelettszintigraphie Die Szintigraphie in Mehrphasentechnik stellt ein sehr sensitives, jedoch nur wenig spezifisches nuklearmedizinisches Verfahren dar. In Abhängigkeit vom Ausmaß der Aktivitätsbelegung in der Weichteilphase bzw. der Spätphase kann zwischen entzündlichen oder degenerativen Gelenkveränderungen bzw. zwischen Gelenk- bzw. Knochen- und Weichteilerkrankungen differenziert werden. Indikationen. Die Methode kann zur besseren Kenntnis
des Verteilungsmusters der befallenen Gelenke und somit zur Spezifizierung der Diagnose beitragen. Auch zur Beurteilung einer Pseudarthrose in Bezug auf die Vitalität der Knochenenden ist eine 3-Phasen-Skelettszintigraphie sinnvoll.
Magnetresonanztomographie Die Magnetresonanztomographie (MRT) weist eine hohe Detailgenauigkeit auf und erlaubt eine sehr gute Differenzierung zwischen verschiedenen Geweben und anatomischen Strukturen. Mittels MRT lassen sich je nach verwendeter Sequenz pathologische Veränderungen des Knochenmarks und des Fettgewebes (tiefe Erosionen, subchondrale Zysten, Osteomyelitis, Ödem, Knochennekrosen) sowie Flüssigkeitsansammlungen und synoviale Proliferationen darstellen. Nach Applikation eines intravenösen Kontrastmittels können umschriebene entzündliche Veränderungen exakt abgegrenzt werden. Indikationen. Als allgemein anerkannte Indikation der
MRT im Bereich des Achsenskeletts gilt die Untersuchung rheumatischer Veränderungen der HWS und des kraniozervikalen Übergangs (ggf. mit Affektion des Rückenmarks). Eine weitere Indikation der MRT stellt der Nachweis von Frühstadien einer Sakroiliitis bzw. Spondylitis im Rahmen von Spondylarthropathien wie dem Morbus Bechterew dar. Zunehmend erfolgt in der klinischen Praxis auch der Einsatz der Niederfeld-MRT-Technik zur Diagnostik peripherer Arthritiden (z. B. Frühdiagnostik der rheumatoiden Arthritis).
4
82
1 2 3
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
Bei der Beurteilung von Verletzungen im Bereich des Bewegungsapparates und degenerativen Erkrankungen ist die MRT bislang nur in ausgewählten Fällen indiziert. Hierzu zählen die Darstellung von Schädigungen des Kapsel-Band-Apparats von Schulter und Kniegelenk (z. B. nach Luxationen) sowie die Beurteilung von Knorpelläsionen und posttraumatischen Knochennekrosen.
Computertomographie
4 5 6 7 8 9
Die Computertomographie (CT) zeichnet sich ebenfalls durch eine hohe Detailgenauigkeit, insbesondere bei der Darstellung knöcherner Strukturen auf. Indikationen. Sie eignet sich damit zur Diagnostik bei
fehlverheilten Frakturen oder komplizierten Trümmerfrakturen. Einen hohen Stellenwert besitzt sie im Bereich der Hand- und Fußwurzel, aber auch am Hüftgelenk und der Wirbelsäule ist eine computertomographische Untersuchung sinnvoll. Sie eignet sich allerdings im Gegensatz zur MRT nicht zur Frühdiagnostik und zum Nachweis entzündlicher Veränderungen. Von Bedeutung ist die CT jedoch bei der Diagnostik extraartikulärer Manifestationen entzündlich-rheumatischer Erkrankungen, z. B. beim Nachweis von Lungengerüstveränderungen oder pulmonalen Infiltraten bei Kollagenosen oder Vaskulitiden.
10 11
rheumatische Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen
13
1. Morgensteifigkeit der betroffenen Gelenke von mindestens einer Stunde Dauer 2. Weichteilschwellung/Arthritis von drei oder mehr Gelenken 3. Weichteilschwellung/Arthritis im Bereich der Hand-, MCP- oder PIP-Gelenke 4. Symmetrische Arthritis 5. Rheumaknoten 6. Erhöhter Titer des Rheumafaktors im Serum 7. Typischer Röntgenbefund mit gelenknaher Osteoporose und/oder Erosionen an den betroffenen Gelenken
16 17 18 19 20
1. Rückenschmerz >3 Monate, verbessert durch Bewegung, in Ruhe persistierend 2. Eingeschränkte Beweglichkeit der LWS sagittal und frontal 3. Verminderte Atembreite 4. Bilaterale Sakroiliitis Grad 2–4 (Entzündung beider Sakroiliakalgelenke) 5. Unilaterale Sakroiliitis Grad 3–4 (Entzündung eines Sakroiliakalgelenkes) Beurteilung
4.1.5 Diagnosekriterien für entzündlich-
Kriterien zur Klassifikation der rheumatoiden Arthritis (ARA-Kriterien)
15
Modifizierte New-York-Kriterien für die Spondylitis ankylosans
Die Diagnose gilt als gesichert, wenn ein klinisches und ein radiologisches Kriterium erfüllt sind.
12
14
2. Zusätzlich eines der folgenden Kriterien: – Positive Familienanamnese für Spondylitis ankylosans, Psoriasis, reaktive Arthritis, Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa – Befund oder Anamnese einer Psoriasis – Entzündliche Darmerkrankung – Urethritis, Zervizitis oder akute Diarrhö einen Monat vor Beginn der Arthritis – Schmerzen in abwechselnd der linken und rechten Glutäusregion – Fersenschmerzen – Sakroiliitis
Kriterien zur Klassifikation von Spondylarthropathien (European Sponylarthropathy Study Group) 1. Entzündlicher Wirbelsäulenschmerz und/oder Arthritis (asymmetrisch, bevorzugt an den unteren Extremitäten)
Kriterien zur Klassifikation der Psoriasisarthritis
International verbindlich evaluierte Klassifikations- und Diagnosekriterien für die Psoriasisarthritis liegen nicht vor.
Diagnostische Kriterien nach Moll u. Wright (1973) 1. 2. 3. 4.
Arthritis von 3 oder mehr Gelenken Rheumafaktoren negativ Rheumaknoten negativ Befund oder Anamnese von psoriatischen Veränderungen der Haut oder Nägel
CASPAR-Kriterien (Classification Criteria for the Diagnosis of Psoriatic Arthritis) (nach Taylor et al. 2006) 1. Entzündliche Erkrankung der Gelenke, der Wirbelsäule oder der Sehnen bzw. Sehnenansätze mit Schmerz, Schwellung und/oder Steifigkeit 2. Zusätzlich müssen mindestens 3 der folgenden Kriterien vorliegen: – Psoriasis der Haut – anamnestisch bekannte Psoriasis – Psoriasis in der Familienanamnese (bei einem oder mehreren Verwandten 1. oder 2. Grades) – Psoriatische Nagelveränderungen – Kein Nachweis des Rheumafaktors im Serum
83 4.1 Diagnostik
– Daktylitis mit Schwellung des gesamten Fingers – Daktylitis in der Vergangenheit (von einem Rheumatologen diagnostiziert) – Nachweis von typischen gelenknahen osteoproliferativen Veränderungen (Knochenneubildungen) im Bereich von Händen oder Füßen
Kriterien zur Klassifikation der reaktiven Arthritis der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) 1. Typischer Gelenkbefall (peripher, asymmetrisch, oligoartikuär, untere Extremität) 2. Typische Anamnese (Urethritis, Diarrhö) und/oder klinische Manifestation der Infektion 3. Erregerdirektnachweis an der Eintrittspforte (z. B. Chlamydien im Urethralabstrich) 4. Nachweis spezifischer Antikörper mit signifikantem Titeranstieg 5. Vorliegen des HLA-B27-Antigens 6. Nachweis von Erregermaterial mitels PCR oder spezifischen monoklonalen Antikörpern Beurteilung
Eine sichere reaktive Arthrits liegt vor bei den Kriterien 1+3/4/6, eine wahrscheinliche reaktive Arthritis liegt vor bei den Kriterien 1+2/5.
Diagnostische Kriterien der Lyme-Borreliose 1. Klinische Symptome, die typisch für oder vereinbar mit Lyme-Borreliose sind: – Arthritis (Arthralgien), Enthesiopathie – Erythema migrans, Borrelienlymphozytom (Lymphadenosis cutis benigna) – Akrodermatitis chronica atrophicans – Meningopolyneuritis, Myelitis, Enzephalitis – Perimyokarditis, Kardiomyopathie – Keratitis, Uveitis, Papillitis, Panophthalmie – Myositis (Myalgien) – Hepatitis 2. Nachweis spezifischer Antikörper gegen Borrelia burgdorferi (IgG, IgM, IgA) 3. Ausschluss- (Differenzial-)diagnostik auf Symptomebene Beurteilung
– – – – – – – – –
Gelenkrötung Schmerz/Schwellung des Großzehengrundgelenks Einseitiger Befall von Zehengrundgelenken Einseitiger Befall der Fußwurzel Tophus Hyperurikämie Asymmetrische Schwellung im Röntgenbild Subkortikale Zyste ohne Erosion im Röntgenbild Abakterieller Gelenkerguss
Beurteilung
Die Diagnose einer Arthritis urica kann gestellt weren, wenn mindestens eines der Kriterien 1, 2 oder 3 erfüllt ist, wobei Kriterium 3 das Vorliegen von 6 der 12 aufgeführten Merkmale voraussetzt.
Kriterien zur Klassifikation des systemischen Lupus erythematodes (SLE) (ACR) 1. Schmetterlingserythem (flaches/erhabenes Erythem über Wangen und Nasenwurzel) 2. Photosensibilität (atypische Hautveränderungen nach Sonnenbestrahlung) 3. Arthritis (nicht erosiv, symmetrisch, 2 oder mehr Gelenke) 4. Orale oder nasopharyngeale Ulzera 5. Diskoider Lupus erythematodes 6. Serositis (Pleuritis und/oder Perikarditis) 7. Nierenbeteiligung (Proteinurie >0,5 g/Tag oder Zylinder aus Erythrozyten, granulär, tubulär oder gemischt) 8. Neurologische Symptome (Psychose oder epileptische Anfälle bei fehlenden anderen organischen Ursachen) 9. Hämatologische Veränderungen (Anämie mit/ohne Hämolyse, Retikulozytose, Leukopenie oder Lymphozytopenie, Thrombozytopenie <100.000/μl) 10. Immunologische Veränderungen: positiver LE-Zelltest oder Nachweis von Anti-DNS-Antikörpern (Anti-ds-DNS/Anti-Sm), falsch positiver serologischer Test für Syphilis, Nachweis von Antiphospholipidantikörpern 11. Antinukleäre Antikörper (ANA): Nachweis eines erhöhten antinukleären Antikörpertiters in der Immunfluoreszenz oder einem gleichwertigen Test (Ausschluss eines medikamentös induzierten Lupussyndroms)
Alle 3 Kriterien müssen erfüllt sein. Beurteilung
Diagnostische Kriterien der Gicht (ARA) 1. Uratkristalle in der Synovialflüssigkeit 2. Uratkristalle in einem Tophus 3. Weitere Kriterien: – Rezidivierende akute Arthritis – Entzündungsmaximum innerhalb von 24 Stunden – Monartikulärer Befall
Die Diagnose SLE kann gestellt werden, wenn 4 oder mehr Kriterien gleichzeitig oder nacheinander positiv sind.
Kriterien zur Klassifikation der systemischen Sklerose (ARA) 1. Sklerodermie proximal der Fingergrundgelenke (Hauptkriterium) 2. Sklerodaktylie
4
84
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
1
3. Grübchenförmige Narben oder Substanzverlust der distalen Fingerweichteile 4. Bilaterale basale Lungenfibrose
8. Systemische Entzündungsanzeichen (Fieber, CRP/ BKS) 9. Histolgisch gesicherte Myositis
2
Beurteilung
Beurteilung
Die Diagnose ist gesichert, wenn entweder Kriterium 1 oder mindestens 2 der Kriterien 2–4 erfüllt sind.
Eine Dermatomyositis ist sehr wahrscheinlich bei Vorliegen von mindestens einer Hautveränderung und mindestens 4 der Kriterien 2–9 (Sensitivität 94,1%). Eine Polymyositis ist sehr wahrscheinlich bei Vorliegen von mindestens 4 der Kriterien 2–9 (Sensitivität 98,9%).
3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kriterien zur Klassifikation des SjögrenSyndroms (European Study Group) 1. Okuläre Symptome: Trockene Augen (mindestens 3 Monate) oder Fremdkörpergefühl oder Benutzen künstlicher Tränen mehr als 3-mal täglich 2. Orale Symptome: Trockener Mund (mindestens 3 Monate) oder Speicheldrüsenschwellung als Erwachsener oder Notwendigkeit des Trinkens beim Verzehr trockener Speisen 3. Augenbefunde: Schirmer-Test: <5 mm in 5 Minuten oder van-Bijsterveld-Score 4. Histopathologie (Lippenspeicheldrüsenbiopsie): Fucus-Score ≥1 5. Speicheldrüsenmanifestation: Speicheldrüsenszintigraphie pathologisch oder Parotissialographie pathologisch oder Speichelflussmessung (unstimuliert) unter 1,5 ml in 15 Minuten 6. Autoantikörper: Anti-SS-A (Ro)- oder Anti-SS-B (La)Antikörper positiv oder ANA positiv oder Rheumafaktor positiv Beurteilung
13
Ein sicheres primäres Sjögren-Syndrom wird angenommen, wenn mehr als 4 Kriterien (Kriterium 6 nur SS-Aoder SS-B-Antikörper) positiv sind. Das sichere sekundäre Sjögren-Syndrom erfordert den Nachweis von Kriterium 1 oder 2 plus 2 weiteren positiven Kriterien (nur Kriterium 3, 4, 5).
14
Kriterien zur Klassifikation der Poly- und Dermatomyositis (nach Bohan u. Peter 1975)
12
15 16 17 18 19 20
1. Hautveränderungen – Heliotroper Hautausschlag (hellviolettes Erythem mit ödematöser Schwellung der Oberlider) – Gottron-Zeichen (Erythem an der Streckseite an der Fingergelenke) – hellviolettes Erythem an den Streckseiten der Extremitätengelenke und Knie 2. Schwäche der proximalen Muskelgruppen (Schulter und/oder Hüften) 3. Erhöhte Werte an CK (Kreatinkinase) oder ALD (Aldolase) im Serum 4. Muskelschmerz auf Druck oder spontan 5. Pathologische Veränderungen im EMG 6. Nachweis von Anti-Jo-1-Antikörpern 7. Nicht destruierende Arthritis oder Arthralgie
Klassifikationskriterien für »mixed connective tissue disease« (MCTD) (mod. nach Sharp et al. 1972, Kuipers et al. 2006) 5 Hauptkriterien
– Schwere Myositis – Lungenmanifestation – CO-Diffusionskapazität <70% oder – pulmonale Hypertonie oder – proliferative Gefäßveränderungen in der Lungenbiopsie – Raynaud-Phänomen oder Hypomotilität des Ösophagus – Geschwollene Hände oder Sklerodaktylie – Anti-ENA 1 : 10 000 (Hämagglutinationstiter) mit Anti-U1nRNP-Antikörper positiv, Anti-Sm-Antikörper negativ 5 Nebenkriterien
– – – – – – – – – – –
Alopezie Leukozytopenie <4×109/l Anämie Pleuritis Perikarditis Arthritis Trigeminusneuralgie Gesichtserythem Thrombozytopenie Leichte Myositis Geschwollene Hände in der Anamnese
Beurteilung
MCTD sicher: 4 Hauptkriterien plus Anti-U1nRNP positiv mit Anti-ENA-Titer ≥1 : 4000. MCTD wahrscheinlich: 3 Hauptkriterien, kein Anti-Sm-Antikörper oder 2 Hauptkriterien plus Anti-U1nRNP-Antikörper ≥1 : 1000.
Kriterien zur Klassifikation der Arteriitis temporalis (ACR) 1. Alter bei Erkrankungsbeginn mindestens 50 Jahre 2. Neuauftreten lokalisierter Kopfschmerzen 3. Lokaler Druckschmerz oder abgeschwächte Pulsation einer Temporalarterie (ohne offensichtliche arteriosklerotische Ursache) 4. BSG-Beschleunigung von über 50 mm/Stunde
85 4.2 Degenerative Erkrankungen/Trauma
5. Bioptischer Nachweis (Vaskulitis durch mononukleäre Zellinfiltration oder granulomatöse Gefäßentzündung meist mit Nachweis von Riesenzellen)
2.
Beurteilung
Die Diagnose kann bei Vorliegen von mindestens 3 Kriterien gestellt werden.
Kriterien zur Klassifikation der Polymyalgia rheumatica (PMR) (nach Bird u. Wood 1979) 1. Beidseitige Schulterschmerzen und/oder beidseitige Steifigkeit (alternativ auch Schmerzen in folgenden Regionen: Nacken, Oberarme, Gesäß, Oberschenkel) 2. Akuter Krankheitsbeginn (innerhalb von 2 Wochen) 3. Initiale BSG-Beschleunigung von über 40 mm in der ersten Stunde 4. Morgendliche Steifigkeit von mehr als 1 Stunde 5. Alter über 65 Jahre 6. Depression und/oder Gewichtsverlust 7. Beidseitiger Oberarmdruckschmerz Beurteilung
Eine wahrscheinliche PMR wird angenommen, wenn 3 Kriterien positiv sind oder ein Kriterium zusammen mit einer Temporalarteriitis auftritt.
Kriterien zur Klassifikation des Fibromyalgiesyndroms (ACR) 1. Anamnese generalisierter Schmerzen: Schmerzen mit der Lokalisation linke und rechte Körperhälfte, Ober- und Unterkörper und im Bereich des Achsenskeletts (Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule oder tiefsitzender Kreuzschmerz) werden als generalisiert bezeichnet. Bei dieser Definition wird der Schulter- und Beckengürtelschmerz als Schmerz der jeweiligen Körperhälfte betrachtet. 2. Schmerzen an 11 von 18 definierten »tender points« auf Fingerdruck – Ansätze der subokzipitalen Muskeln – Querfortsätze der Halswirbelsäule C5 bis C7 – M. trapezius (Mittelpunkt der Achsel) – M. supraspinatus – Knochen-Knorpel-Grenze der 2. Rippe – Epicondylus radialis (2 cm distal) – Regio glutaea (oberer äußerer Quadrant) – Trochanter major – Fettpolster des Kniegelenks medial proximal der Gelenklinie
Diagnostische Kriterien des Fibromyalgiesyndroms (nach Müller u. Lautenschläger 1990) 1. Spontane Schmerzen in der Muskulatur, im Verlauf von Sehnen und Sehnenansätzen mit typischer
3. 4. 5. 6.
4.2
stammnaher Lokalisation, die über mindestens 3 Monate in 3 verschiedenen Regionen vorhanden sind Druckschmerzhaftigkeit an mindestens der Hälfte der typischen Schmerzpunkte (Druckdolorimetrie oder digitale Palpation mit ca. 4 kp/cm2, sichtbare Schmerzreaktion) Kontrollpunkte ohne solche Schmerzreaktion Begleitende vegetative und funktionelle Symptome inkl. Schlafstörungen Psychopathologische Befunde (seelische und Verhaltensauffälligkeiten) Normale Befunde der gängigen Laboruntersuchungen
Degenerative Erkrankungen/Trauma
4.2.1 Arthrose
Die Arthrose ist definiert als primär nichtentzündliche, mit Knorpeluntergang beim Erwachsenen beginnende, später auch übrige Gelenkstrukturen einbeziehende und irreversibel fortschreitende Gelenksdestruktion. Arthrosen sind als degenerative Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule verantwortlich für über 70% der Beschwerden und Funktionseinschränkungen im Stütz- und Bewegungsapparat.
Kommentar Eine oftmals hohe Diskrepanz zwischen Funktionseinschränkung und anamnestischer Schmerzangabe einerseits und klinischen Untersuchungsergebnissen und radiologischen Veränderungen andererseits erschwert die Begutachtung erheblich.
Bestehen keine prädisponierenden Faktoren (. Tab. 4.4), dann ist die Arthrose typischerweise eine Erkrankung des höheren Lebensalters. In der Begutachtung von Arthrosen wird vor allem häufig die Frage des Zusammenhangs mit prädisponierenden Faktoren eine Rolle spielen. Die Adipositas selbst ist kein prädisponierender Faktor der Arthrose, bei gleichzeitigem Vorliegen eines prädisponierenden Faktors wird sich die Arthrose jedoch deutlich schneller ausbilden.
4.2.2 Trauma > Am häufigsten liegt in der Gutachtenspraxis des Stützund Bewegungsapparates dem zu begutachtenden Schaden eine Verletzung zugrunde.
4
86
1 2 3 4
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
. Tab. 4.4. Prädisponierende Faktoren der Arthrose Gelenk
Prädisponierende Faktoren
Allgemein
Infekt, Frakturen mit Gelenkbeteiligung, knöcherne operative Gelenkeingriffe, metabolische Syndrome (Hyperurikämie, Hämochromatose etc.)
Schulter
Schulterluxationen/Instabilität, Humeruskopfnekrose
Ellbogen
Ellbogenluxation, Chondromatose, Morbus Panner
Hand und Finger
Prädisponierende Berufe, aseptische Nekrosen der Handwurzelknochen, skapholunäre Instabilität
Hüfte
Dysplasie, Morbus Perthes, Epiphysiolysis capitis femoris, Hüftkopfnekrose, Coxa vara congenita, Coxa valga
Knie
Valgus-/Varusfehlstellung, chronische Bandinstabilitäten (Kreuz- und Seitenbänder), Osteochondrosis dissecans, Morbus Ahlbäck, rezidivierende Patellaluxationen
Sprunggelenk
Rezidivierende Supinationstraumen (chronische Bandinstabilität), Osteochondrosis dissecans, Talusnekrose
Wirbelsäule
Bandscheibenvorfall, Spondylolisthesis, fixierte Skoliosen, Hyperlordosen und Kyphosen, Halswirbelsäulendistorsion mit Bandzerreißungen
5 6 7 8 9 10 11 12
Die Zahl der Verletzungen im Straßenverkehr und in der Freizeit hat in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen. Auch kommt es im Arbeitsbereich trotz immer besserer Vorkehrungen im Arbeitsschutz nach wie vor zu Unfällen mit Verletzungen. In den seltensten Fällen haben die Verletzungen Langzeitschäden zur Folge. Der Sachverständige muss jedoch die Plausibilität einer Verletzungsmöglichkeit bei einem Unfall erkennen können. Je nach Leistungsträger müssen die Verletzungen an Armen, Beinen oder Wirbelsäule auch auf mögliche Vorschäden hin in unterschiedlichem Maß berücksichtigt werden. Zwischen der gesetzlichen und der privaten Unfallversicherung besteht hier ein deutlicher Unterschied.
Bagatelltrauma
13 14 15 16 17 18 19 20
Unter einem Bagatelltrauma versteht man eine Verletzung ohne morphologisch-strukturelle Veränderungen, die in der Regel die Weichteile betrifft. Das Bagatelltrauma heilt in der Regel mit und ohne ärztliche Einwirkung innerhalb von 1–2 Wochen folgenlos aus. Hierunter fallen Prellungen, Zerrungen, Stauchungen und Erschütterungen. Anamnestisch wird ein lokaler Schmerz angegeben, der bei Bewegung oder Belastung verstärkt werden kann.
Untersuchung Bei der klinischen Untersuchung findet sich eine Schonhaltung, ein lokaler Druck-, Dehnungs- oder Beugungsschmerz. Der Muskeltonus kann lokal erhöht sein, und es finden sich umschriebene Schwellungen, Prellmarken, Schürfungen oder Kontusionsblutungen. Radiologisch zeigen sich keine Veränderungen, sonographisch können Einblutungen oder ödematöse Schwellungen festgestellt werden. Liegt eine Kernspintomographie vor, was selten der Fall sein wird, können ebenfalls Ödeme im Weichteil, aber auch im Knochen (»bone bruise«) oder Einblutungen festgestellt werden.
Typischerweise treten Schmerzen bei einem Bagatelltrauma sofort auf und werden im weiteren Zeitverlauf eher abklingen. Diesen regelhaften Verlauf muss der sachverständige Gutachter erkennen und eine Plausibilitätsprüfung des angegebenen Unfallmechanismus durchführen.
Kommentar Der Spontanverlauf nach Bagatelltraumen kann durch äußere Umstände wie Dramatisierung durch medizinisches Personal, Übertherapie oder unnötige Krankschreibungen deutlich verändert werden. Ursachen für einen prolongierten Verlauf können aber auch degenerative Vorschäden, eine psychosomatische Überlagerung oder letztendlich Streben nach einem sekundären Krankheitsgewinn sein.
Schwere der Verletzung Eine allgemeine Einteilung nach Schweregraden von Verletzungen existiert nicht. In der Praxis lässt sich die Schwere einer Verletzung am ehesten indirekt über die notwendige Dauer einer Arbeits- oder Sportunfähigkeit ermessen. 5 So geht man bei einem Ausfall von bis zu 1 Woche von einer leichten oder geringgradigen Verletzung aus. 5 Beträgt die Ausfallszeit 1–3 Wochen, gilt die Verletzung als mittelschwer. 5 Darüber hinaus muss von einer schweren Verletzung ausgegangen werden. Den Schweregrad von Unfällen kann man mit internationalen Einstufungssystemen wie der AIS (Abbreviated Injury Scale) oder dem NAIRS (National Athletic Injury Re-
87 4.2 Degenerative Erkrankungen/Trauma
cording System) vornehmen. Für Knochenbrüche steht die Einteilung der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO) zur Verfügung. Gesonderte Einteilungen liegen für Polytraumen, Schädel-Hirn-Traumen und Halswirbelsäulenverletzungen vor. Eine sichere Zuordnung zu einem Schweregrad ist hier für den Sachverständigen von besonderem Vorteil, da dann klare Anhaltspunkte aus der Literatur vorliegen, welcher Langzeitverlauf nach einer derartigen Verletzung zu erwarten ist und inwieweit im vorliegenden Fall unfallfremde Faktoren den Verlauf abweichen lassen.
Sehnen
Betroffenes Gewebe Knochen
Gelenke
Leichte Verletzungen. Verletzungen des Knochens kön-
nen bei leichten Verletzungen Stauchungen, Prellungen und Biegungen sein. Morphologisch kann es zu Einblutungen unter dem Periost kommen (»Beule«) oder MRT-morphologisch zu einem Spongiosaödem (»bone bruise«). Frakturen. Wird die Widerstandsfähigkeit des Knochens
bei den oben genannten Beanspruchungen überschritten, kommt es zur Fraktur. Besteht keine Dislokation und erfolgt eine adäquate Ruhigstellung, kommt es zur folgenlosen Ausheilung. Besteht eine Dislokation, muss geschlossen oder offen reponiert werden, und die Langzeitprognose ist wesentlich vom Ergebnis der Reposition abhängig. Eine Sonderstellung nehmen Frakturen mit Gelenkbeteiligung ein, da hier bereits kleine Stufen eine posttraumatische Arthrose nach sich ziehen können, aber auch nach operativer Revision das Risiko einer posttraumatischen Arthrose erhöht ist. Offene Frakuren. Diese stellen den höchsten Schweregrad dar, hier ist die Enteilung nach Gustilo u. Anderson (1976) gebräuchlich. Der Heilungsverlauf ist in der Regel deutlich prolongiert und kann von Komplikationen wie Weichteilinfektionen, Wundnekrosen oder Osteomyelitiden begleitet sein.
An der Häufigkeit gemessen stehen hier auch die Bagatelltraumen mit Dehnungen und Zerrungen im Vordergrund. Geht die Belastung jedoch über die Dehnungsreserve der Sehne hinaus, kommt es zur (Teil-)ruptur. Typischerweise verletzungsbedingt betroffen sind die Achillessehne, die Sehnen der Rotatorenmanschette, die Bizepssehnen und der Sehnenapparat der Hand. Insbesondere bei den Sehnenverletzungen wird der Sachverständige gefordert sein, den Unfallmechanismus im Zusammenhang mit der resultierenden Sehnenruptur auf Plausibilität hin zu überprüfen (7 Kap. 4.4).
Gelenksdistorsion. Zu den klassischen Verletzungen im Freizeitsport, aber auch nicht selten am Arbeitsplatz gehört die Gelenksdistorsion. Hierbei wird der physiologische Bewegungsumfang eines Gelenkes überschritten, und je nach Ausmaß dieser Überschreitung kommt es zu mehr oder minder schweren morphologischen Schäden. Bleibt das Gelenk zentriert und die Dehnungsreserve des Kapsel-Band-Apparates wird nicht überschritten, bleibt es ein Bagatelltrauma mit kurzfristiger Restitutio ad integrum. Wird diese jedoch überschritten, kommt es zu Einund Zerreißungen, und das Gelenk subluxiert oder luxiert komplett. Gelenkeinblutungen. Diese können eine akute Reizung verursachen, bei zu langer Ruhigstellung kommt es zu Gelenkkontrakturen, die nur mittelfristig wieder gelöst werden könnnen. Ein langfristiger Gelenkschaden allein durch die Einblutung ist nach neueren Erkenntnissen zur Knorpelpathophysiologie nicht zu erwarten. Zusätzlich zum Kapsel-Band-Schaden kann es dabei jedoch noch zu Knorpel- und Knochenverletzungen kommen. Langzeitfolgen der heutzutage meist konservativ behandelnden Rupturen des Kapsel-Band-Apparates sind Elongationen mit Mikro- oder Makroinstabilitäten. Bei osteochondralen Verletzungen kann es bei Nichterkennen oder fehlendem Behandlungserfolg zunächst zu Einklemmungserscheinungen und in der Folge zu fortschreitenden Knorpelschäden bis hin zum Vollbild der Arthrose kommen, vor allem bei einer begleitenden Instabilität.
Kindesalter. Eine weitere Besonderheit stellen Knochen-
verletzungen am wachsenden Skelett dar, da hier die Wachstumsfugen verletzt werden können und es in der Folge zu Deformitäten im Längenwachstum und in der Achsausrichtung kommen kann. Diese wiederum können bei mangelnder Korrektur Folgeschäden an den angrenzenden Gelenken, der Gegenseite oder der Wirbelsäule auslösen, die gutachterlich dann wirksam werden können.
Offene Gelenkverletzungen. Diese stellen eine schwerwiegende Verletzung dar mit einem hohen Infektionsrisiko.
Muskel Die Verletzung von Muskelgewebe liegt ebenfalls meist im Rahmen eines Bagatelltraumas vor, die Muskelfasern sind überdehnt, es kommt zur Inflammationsreaktion und meist zu einem daraus resultierenden erhöhten Muskeltonus in der umgebenden Muskulatur. Sind Einrisse oder komplette Muskelfaserrisse vorhanden, ist meist ein Hä-
4
88
1 2 3
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
matom nachzuweisen. Diese Verletzungen verheilen ad integrum. Kommt es zu den seltenen Muskelfaserbündelrissen oder kompletten Muskelabrissen, hängt das Langzeitergebnis entscheidend von der initialen Therapie ab. Je nach Ausmaß resultiert meist jedoch ein mittelfristiges Kraftdefizit, das jedoch oft nur im Hochleistungsbereich zum Tragen kommt.
Begleitschäden
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Wichtige Begleitschäden nach Verletzung sind 5 die Venenthrombose, evtl. mit Lungenembolie, 5 das Kompartmentsyndrom und 5 das CRPS (»complex regional pain syndrome«, früher Morbus Sudeck). Venenthrombose. Die Beinvenenthrombose kann direkt im Rahmen der Verletzung, häufiger jedoch im Rahmen der folgenden Ruhigstellung und Entlastung entstehen. Das Risiko hierzu wird durch das Vorliegen von Risikofaktoren wie Nikotinabusus, Östrogeneinnahme (»Pille«) und Flüssigkeitsmangel potenziert. Das Risiko, eine Thrombose zu entwickeln, steigt mit der Nähe des verletzten oder operierten Gewebes von körperfern nach körpernah. Kritisch wirken sich auch Umfang und Dauer eines operativen Eingriffes aus. Zur Begutachtung der Folgen einer Thrombose und einer Lungenembolie sei auf 7 Kap. 6 »Periphere Gefäße« verwiesen.
tener verstärkter Haarwuchs können ebenfalls vorliegen. Im Röntgenbild findet sich frühestens 3 Wochen nach Beginn eine feinfleckige Entkalkung, szintigraphisch eine Anreicherung und in der MRT eine Ödembildung. 5 Das 2. Stadium ist gekennzeichnet durch eine kühle, livide verfärbte, wachsartig glänzende Haut. Zu diesen Veränderungen kommt es 2–3 Monate nach Beginn. Die Gelenkbeweglichkeit ist erheblich eingeschränkt, die Motorik gestört. Radiologisch zeigt sich eine grobfleckige Entkalkung. 5 Das 3. Stadium umfasst Monate bis Jahre nach dem Beginn und wird als Atrophiestadium bezeichnet. Haut und Muskulatur sind dystrophisch, es liegen Gelenkkontrakturen mit Sehnen- und Muskelverkürzungen vor. Im Röntgenbild finden sich umschriebene Kalksalzminderungen. > Wird dieses Endstadium diagnostiziert, ist von einer Ausheilung nicht mehr auszugehen.
Differenzialdiagnostisch müssen Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis und stoffwechselbedingte Erkrankungen ausgeschlossen werden.
Kommentar Von Bedeutsamkeit für die Begutachtung sind vor allem die Gelenkfunktion und die auch schmerzbedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit.
Kompartmentsyndrom. Ein Kompartmentsyndrom ent-
steht am häufigsten bei Verletzungen am Unterschenkel, kann aber auch am Oberschenkel und an der oberen Extremität vorkommen. Beim akuten Kompartmentsyndrom in der direkten Folge einer Verletzung oder eines operativen Eingriffes kommt es durch Einblutungen zur Drucksteigerung im entsprechenden Muskelkompartiment und konsekutiv zur Gefäß- und Nervenkompression. Leitsymptome sind der bohrende Schmerz und in der Folge Parästhesien, Sensibilitätsausfälle und schließlich Lähmungen. Beim chronischen Kompartmentsyndrom tritt während Muskelarbeit eine funktionell bedingte Ischämie auf, die entsprechende Schmerzen auslöst. Am häufigsten ist das chronische Kompartmentsyndrom in der Tibialis-anterior-Loge nach längeren Märschen oder beim Leistungssport zu finden. CRPS (»complex regional pain syndrome«). Das CRPS (vegetative Reflexdystrophie, Morbus Sudeck) tritt nach Verletzungen oder operativen Eingriffen auf. Angeschuldigt wird eine mangelnde Analgesie, auch die Korrelation mit bestimmten psychischen Besonderheiten wird diskutiert. 5 Im Stadium I des CRPS kommt es zur Hyperämie mit brennendem Dauerschmerz, Hypersensibilität und Schwellneigung. Verstärkte Schweißbildung und sel-
4.3
Entzündliche Erkrankungen
4.3.1 Rheumatoide Arthritis
Die rheumatoide Arthritis (RA, frühere Bezeichnung: chronische Polyarthritis) ist mit einer Prävalenz von 1% die häufigste entzündliche Gelenkerkrankung. Das Hauptmanifestationsalter liegt zwischen dem 25. und 50. Lebensjahr, Frauen sind etwa 2-mal häufiger betroffen als Männer. Die Ätiologie der rheumatoiden Arthritis ist bislang nicht eindeutig geklärt. Man vermutet eine genetisch determinierte gestörte Immunregulation (Assoziation mit HLA-DR4). Die Erkrankung verläuft in der Regel chronisch-progredient, z. T. in Schüben mit individuell sehr unterschiedlichem Verlauf. Selten kommt es zu einer vollständigen Remission. Prognostisch ungünstige Faktoren sind dauerhaft hohe systemische Entzündungszeichen, hohe Konzentrationen von Rheumafaktoren, der Nachweis von Anti-CCP-Antikörpern, Rheumaknoten und andere extraartikuläre Manifestationen sowie radiologisch nachweisbare Erosionen innerhalb der ersten 2 Jahre.
89 4.3 Entzündliche Erkrankungen
Symptomatik Typische Symptome der frühen rheumatoiden Arthritis sind neben unspezifischen Allgemeinsymptomen eine Morgensteifigkeit der Finger und Hände, Tendovaginitiden sowie eine symmetrische, meist polyartikuläre Arthritis der Fingergrund-, Fingermittel- und Handgelenke, charakteristischerweise unter Ausspaarung der Fingerendgelenke. In der Frühphase finden sich bereits häufig ausgeprägte Veränderungen im Bereich der Zehengrundgelenke, die zunächst klinisch inapparent sein können. Ein Befall der großen Gelenke ist im Anfangsstadium zumeist untypisch. Durch die fortschreitende Destruktion des Gelenkknorpels und des Knochens kommt es zu irreversiblen Gelenkdeformierungen, die mit ausgeprägten Fehlstellungen, mit einem Stabilitätsverlust und mit enstprechenden Funktionseinschränkungen bis hin zur Invalidität einhergehen können. Zudem finden sich chronische Bursitiden, Karpaltunnel- oder andere Engpasssyndrome und Synovialzysten (z. B. Baker-Zyste). Bei langjährigem Verlauf kommt es bei bis zu 40% der Patienten zu entzündlich-destruktiven Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule (Instabilität des Atlas-DensGelenks), die zu einer Affektion des Rückenmarks und im schlimmsten Fall zu einem Querschnittssyndrom führen können. Extraartikuläre Manifestationen sind selten, jedoch von erheblicher prognostischer und therapeutischer Relevanz. Die rheumatoide Vaskulitis manifestiert sich vorwiegend durch einen kutanen Befall mit Ulzera und Nekrosen sowie seltener durch eine viszerale Beteiligung (Niere, Herz, Lunge). An weiteren extraartiulären Manifestationen findet man häufig eine Perikarditis bzw. Pleuritis, eine interstitielle Lungenfibrose, Rheumaknoten der Lunge, eine Polyneuropathie, ein sekundäres Sjögren-Syndrom, entzündliche Augenveränderungen, eine chronische Anämie sowie sehr selten eine sekundäre Amyloidose.
wege, die Arthritis/Spondlyitis bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa), die Arthritis/Spondylitis bei Psoriasis und die sog. »undifferenzierte« Spondylarthropathie. Typische klinische Charakteristika der genannten Erkrankungen sind der sog. »entzündliche« Rückenschmerz, die asymmetrische Mon- bzw. Oligoarthritis mit Betonung der unteren Extremitäten (Kniegelenke, Sprunggelenke) sowie Enthesiopathien (Entzündungen der Sehnenansätze). Des Weiteren weisen die Spondylarthropathien eine gehäufte Assoziation mit dem genetischen Marker HLA-B27 auf. Alle Spondylarthropathien können prinzipiell im Verlauf in eine ankylosierende Spondylitis übergehen.
Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) Die Prävalenz der Spondylitis ankylosans beträgt ca. 0,2% bei einem Männeranteil von ca. 70% und manifestiert sich in der Regel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die Erkrankung betrifft vorwiegend die Iliosakralgelenke und die Wirbelsäule, seltener die peripheren Gelenke und die Enthesen.
Symptomatik Die Spondylitis ankylosans verläuft meist langsam progressiv, zeigt jedoch interindividuell sehr unterschiedliche Verläufe. Bei der Maximalvariante kommt es im Verlauf der Erkrankung zu irreversiblen Versteifungen der Iliosakralgelenke und der Wirbelsäule mit entsprechenden Einschränkungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit in allen Ebenen. Der Befall der Brustwirbelsäule und des knöcheren Thorax kann zu einer relevanten Einschränkung der thorakalen Compliance und somit zu einer restriktiven Lungenfunktionsstörung führen. An weiteren Organmanifestationen können eine Uveitis anterior (Augenbeteiligung) und seltener auch eine Beteiligung innerer Organe auftreten (v. a. Aortitis, Aorteninsuffizienz, Myositis, Lungenfibrose).
Komplikationen Patienten mit rheumatoider Arthritis weisen gegenüber der Normalbevölkerung eine 2-fach erhöhte Mortalität auf. Diese ist neben Komplikationen im Rahmen der Therapie (gastrointestinale Blutungen, Infektionen unter immunsuppressiver Therapie, Osteoporose) zudem durch extraartikuläre Manifestationen, das gesteigerte Risiko lymphoproliferativer Erkrankungen sowie die erhöhte Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse bedingt.
Komplikationen Folgeerkrankungen der Spondylitis ankylosans sind die frühe Osteoporose des Achsenskeletts sowie neurologische Komplikationen durch Foramen- und Spinalkanalstenosen oder eine atlantoaxiale Dislokation. Rezidivierende Arthritiden können insbesondere im Bereich der Hüftgelenke zu einer raschen Destruktion mit entsprechenden Funktionseinschränkungen führen.
Psoriasisarthritis 4.3.2 Seronegative Spondylarthropathien
Zu den Spondylarthropathien zählen der Morbus Bechterew (ankylosierende Spondylitis), die reaktive Arthritis nach einer vorausgegangenen bakteriellen Infektion des Magen-Darm-Trakts oder der ableitenden Harn-
Die Arthritis psoriatica tritt bei ca. 3–5% der Patienten mit einer Psoriasis auf, in den meisten Fällen bestehen die Haut- oder Nagelveränderungen dabei vor der Manifestation der Gelenkerkrankung. Die Erkrankung manifestiert sich zumeist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr und betrifft Frauen und Männer etwa gleich häufig.
4
90
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
Die Ätiologie der Psoriasis und der Psoriasissrthritis ist nicht bekannt. Eine genetische Assoziation mit dem HLA-B27-Allel besteht insbesondere bei einer Iliosakralund Wirbelsäulenbeteiligung. Differenzialdiagnistische Schwierigkeiten bestehen häufig bei atypischen oder geringfügigen Haut- und Nagelveränderungen bzw. bei versteckten Hautbefunden (z. B. Gehörgang, Bauchnabel, Rima ani).
Symptomatik Charakteristisch für die bei der Arthritis psoriatica betroffenen Gelenke ist eine synovitische Entzündung mit Destruktion des Knorpels und Knochens mit begleitenden vorwiegend periostal lokalisierten profliferativen Veränderungen. Das Gelenkbefallsmuster bei der Arthritis psoriatica ist in der Regel sehr heterogen. Insbesondere in den Frühphasen der Erkrankung findet sich häufig eine asymmetrische Mon- oder Oligoarthritis, seltener eine symmetrische Polyarthritis. Charakteristisch sind der Strahlbefall der Finger und Zehen und der Transversalbefall mit Beteiligung der DIPGelenke der Finger (insbesondere bei Patienten mt Nagelbeteiligung). Eine besonders aggressive Verlaufsform der Arthritis psoriatica stellt die sog. Arthritis mutilans dar, welche durch ausgeprägte Destruktionen des Knochenund Bandapparates gekennzeichnet ist. Bei ca. 15–30% der Patienten wird eine Beteiligung des Achsenskeletts, typischerweise mit einem asymmetrischen Befall der Iliosakralgelenke, beobachtet. Des Weiteren findet sich bei einer Vielzahl der Patienten im Verlauf der Erkrankung eine entzündliche Affektion der Sehnenansätze (Enthesitiden). Eine Sonderform stellt hierbei die Daktylitis im Bereich der Finger und Zehen dar.
Reaktive Arthritiden nach bakteriellen Infektionen Reaktive Arthritiden treten bei etwa 2–4% der Patienten mit bakteriellen gastrointestinalen oder urogenitalen Infekten auf (Chlamydien, Ureaplasma, Yersinien, Salmonellen, Shigellen, Campylobacter). Im Gegensatz zur infektiösen Arthritis finden sich bei der reaktiven Arthritis keine pathogenen Keime in der Synovialflüssigkeit, allerdings lassen sich durch moderne molekularbiologische Untersuchungsverfahren bakterielle Antigene nachweisen, es wird daher vermutet, dass der reaktiven Arthritis eine pathologische Immunantwort auf spezifische bakterielle Antigene zugrunde liegt. Diese immunologische Reaktion ist genetisch determiniert (HLA-B27).
Symptomatik
19 20
Die klinische Symptomatik beginnt zumeist wenige Tage bis Wochen nach einer Enteritis oder Urethritis und ist durch eine akute Mon-/Oligoarthritis vorwiegend im Bereich der der Knie- und Sprunggelenke charakterisiert.
Im Verlauf der Erkrankung treten häufig Enthesiopathien vorwiegend im Bereich der Achillessehne und der Plantaraponeurose hinzu. Zu Beginn der Erkrankung bestehen häufig Fieber und ein allgemeines Krankheitsgefühl. Selten findet sich eine Iritis bzw. Uveitis, insbesondere bei chronischen Verläufen. Eine Sonderform der reaktiven Arthritis stellt der Morbus Reiter dar, bei dem die Arthritis zusammen mit einer Urethritis sowie einer Konjunktivitis sowie faktultativ mit bestimmten Hautveränderungen auftritt (Balanitis, Keratoderma blenorrhagicum, psoriasisähnliche Veränderungen).
Verlauf Bei etwa 75% der Patienten mit reaktiver Arthritis kommt es innerhalb von 3–9 Monaten zu einer Spontanremission, chronische Verläufe werden bei 10–20% der Erkrankten beobachtet, vor allem bei HLA-B27-Trägern. Insbesondere bei chronisch verlaufenden Fällen ist häufig die Wirbelsäule befallen (Sakroiliitis, Syndesmophyten, Parasyndesmophyten), wobei sich auch das Vollbild einer Spondylitis ankylosans entwickeln kann.
4.3.3 Kollagenosen
Systemischer Lupus erythematodes Der systemische Lupus erythematodes (SLE) ist eine chronisch bzw. schubförmig verlaufende systemische entzündliche Bindegewebserkrankung. Das Hauptmanifestationsalter der Erkrankung liegt zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr. Frauen sind etwa 10-mal häufiger betroffen als Männer. Die Prävalenz der Erkrankung beträgt in Europa ca. 25/100.000. Schübe können durch Infektionen, Stress, Medikamente, Hormonumstellungen oder intensive Sonneneinstrahlung ausgelöst werden. Häufig manifestiert sich der SLE im Anschluss an eine Schwangerschaft oder an die Einnahme von oralen Antikonzeptiva.
Symptomatik Der individuelle Verlauf sowie das Ausmaß der Organbeteiliungen sind insgesamt sehr variabel. Während eines akuten Krankheitsschubes können sich neben unspezifischen Allgemeinsymptomen (Müdigkeit, Schwäche, Fieber, Gewichtsabnahme), Lymphknotenschwellungen, Haut- und Schleimhautveränderungen (lichtinduzierte Dermatosen, Schmetterlingserythem oder diskoide Hauterscheinungen), ein Raynaud-Syndrom, eine Gelenkbeteiligung (zumeist nichterosive symmetrische Polyarthritis), Tendosynovitiden, Myositiden sowie ggf. eine Beteiligung verschiedener innerer Organe finden.
91 4.3 Entzündliche Erkrankungen
Verlauf
Sjögren-Syndrom
Die Prognose der Erkrankung ist vorwiegend durch die Beteiligung innerer Organe limitiert (Nephritis, Lungenfibrose bzw. Alveolitis, Karditis, ZNS-Vaskulitis).
Das Sjögren-Syndrom ist eine langsam progressiv verlaufende entzündliche Autoimmunerkrankung und kann als eigenständige Erkrankung oder im Rahmen anderer Autoimmunerkrankungen auftreten (sekundäres SjögrenSyndrom, z. B. bei SLE oder rheumatoider Arthritis).
Kommentar Die Erfassung von Organmanifestationen ist daher wesentlicher Bestandteil sowohl der primären Diagnostik als auch der Aktivitätsbeurteilung.
Symptomatik
Zu beachten ist auch das mit dem SLE assoziierte gesteigerte Arteriskleroserisko und die damit verbundenen Folgekomplikationen. Das Antiphospholipidantikörpersyndrom ist häufig mit dem SLE assoziiert. Diese Erkankung ist durch eine gesteigerte Thromboseneigung mit venösen oder arteriellen Durchblutungsstörungen (u. a. zerebrale Insulte) sowie eine Neigung zu habituellen (Spät-)Aborten gekennzeichnet.
Das Sjögren-Syndrom betrifft primär die exokrinen Drüsen (Tränen- und Speicheldrüsen). Durch die verminderte Sekretproduktion leiden die betroffenen Patienten typischerweise an einer Keratoconjunctivitis sicca und/ oder Xerostomie (»Siccasyndrom«), zudem bestehen zumeist unspezifische Allgemeinsymptome. Typische Komplikationen des Sjögren-Syndroms sind Bindehautentzündungen bzw. Schädigungen der Hornhaut, Kariesbefall sowie eine gesteigerte Infektneigung der oberen Atemwege. In seltenen Fällen werden systemische Manifestationen (ZNS-, Nieren-, Lungenbeteiligung u. a.) beobachtet. Zu beachten ist, dass das Sjögren-Syndrom mit einem erhöhten Lymphomrisiko assoziiert ist.
Systemische Sklerodermie
Polymyositis/Dermatomyositis
Die systemische Sklerose ist eine chronisch-progrediente Multiorganerkrankung, die durch eine entzündlich bedingte Fibrosierung der Haut, der Blutgefäße und parenchymatöser Organe charakterisiert ist. Frauen sind etwa 3mal häufiger betroffen als Männer. Die Erkrankung manifestiert sich zumeist im mittleren Lebensalter. Bei der sytemischen Sklerose unterscheidet man eine zirkumskripte Sklerodermie von einer diffusen systemischen Sklerodermie. Eine weitere Unterform stellt das sog. CREST-Syndrom dar (Calcinosis cutis, RaynaudSyndrom, Ösophagusbeteiligung, Sklerodaktylie, Teleangiektasien).
Bei der Polymyositis bzw. Dermatomyositis wird zwischen einer primären Form und sekundären Formen im Rahmen maligner Grunderkrankunen unterschieden. Das klinische Bild ist durch eine entzündliche Infiltration der quergestreiften Muskulatur und des Herzmuskel gekennzeichent, im Vordergrund der Beschweden steht eine ausgeprägte Muskelschwäche. Im Falle einer Beteiligung des Ösophagus bestehen zum Teil sehr stark ausgeprägte Schluckstörungen, ggf. mit einer daraus resultierenden Kachexie und pulmonalen Komplikationen infolge rezidivierender Aspirationen.
Mischkollagenose (Sharp-Syndrom) Symptomatik Die klinische Symptomatik der systemischen Sklerose ist vorwiegend durch eine Verdickung der Haut (v. a. im Bereich der Finger und Hände) mit entsprechenden Funktionseinschränkungen gekennzeichnet. Bei den meisten Patienten besteht ein sekundäres Raynaud-Syndrom. Eine gefürchtete Komplikation sind akrale Durchblutungsstörungen mit Ulzerationen und Wundheilungsstörungen.
Das Sharp-Syndrom ist durch den Nachweis von AntiU1-RNP-Antikörpern definiert. Die Erkrankung weist klinische Symptome des sytemischen Lupus erythematodes, der Sklerodermie, der Polymyositis und der rheumatoiden Arthritis auf. Die Prognose hängt im Wesentlichen von der Beteiligung innerer Organe ab (Herz, Lunge, Niere).
4.3.4 Systemische Vaskulitiden
Verlauf Die systemische Sklerose weist eine schlechte Langzeitprognose auf, diese wird vorwiegend durch systemische Manifestationen, insbesondere eine Beteiligung der Lunge (Fibrose, Alveolitis), des Herzens (Vaskulitis, Myokardfibrose, Perikarditis) sowie der Niere (renale Krise, Hypertonie, Glomerulosklerose) bestimmt.
Vaskulitiden sind entzündliche Erkrankungen der Blutgefäße, die als eigenständige Erkrankung (primäre systemische Vaskulitis) oder als Folge einer anderen Erkrankung (sekundäre Vaskulitis) auftreten können. Die Einteilung der primären Vaskulitiden richtet sich nach klinischen, serologischen und histologischen Kriterien, definitionsgemäß erfolgt die Klassifizierung dabei nach der Größe der befallenen Gefäße (. Tab. 4.5).
4
92
1 2 3
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
. Tab. 4.5. Einteilung und Klinik der primären Vaskulitiden (Chapel-Hill-Konsensuskonferenz 1992) Vaskulitiden großer Gefäße Riesenzellarteriitis
5 Alter bei Erkrankungsbeginn mindestens 50 Jahre. 5 Kopfschmerzen, Druckschmerzhaftigkeit der Temporalarterien, Schmerzen der Kau-/Schlundmuskulatur, ischämische Optikusneuropathie mit Erblindungsgefahr, zerebrale Ischämie, periphere arterielle Verschlusskrankheit. Häufig Symptome einer Polymyalgia rheumatica.
Takayasu-Arteriitis
5 Alter bei Krankheitsbeginn unter 40 Jahre. 5 Durchblutungsstörungen der Arme (seltener der Beine) mit abgeschwächter Pulsation der A. radialis und/oder A. ulnaris, Blutdruckdifferenz und pathologischen Strömungsgeräuschen. Selten zerebrovaskuläre Insuffizienz, Nierenarterienstenose mit sekundärer Hypertonie.
4
Vaskulitiden mittelgroßer Gefäße
5 6
Polyarteriitis nodsa
5 Nekrotisierende kutane Läsionen, Arthralgien, Myalgien, ZNS-Beteiligung, Polyneuropathie, Kardiomyopathie, Nephritis, Hodenschmerzen, vaskulitische Darmnekrosen
Morbus Kawasaki
5 Akute, hochfieberhafte Erkrankung des Kleinkindesalters mit Haut- und Schleimhautbeteiligung. 5 Häufiger Befall der Koronararterien, assoziiert mit dem mukokutanen Lymphknotensyndrom.
Vaskulitiden kleiner Gefäße
7
Wegener-Granulomatose
5 Ulzera und Granulome im Bereich des oberern Respirationstrakts, pulmonale granulomatöse Rundherde, pulmonale Kapillaritis mit Hämoptysen, Glomerulonephritis (nephritisches Urinsediment, Nierenfunktionseinschränkung), Augenbeteiligung (Episkleritis, Retinavaskulitis, Granulome), Mononeuritis multiplex, intrazerebrale Granulome bzw. ZNS-Vaskulitis, kutane Vaskulitis, Allgemeinsymptome, Myalgien, Arthralgien.
Churg-Strauss-Syndrom
5 Akute oder chronische Nasennebenhöhlenaffektionen, Asthma bronchiale, pulmonale Infiltrate, Eosinophilie von über 10% im Differenzialblutbild, Polyneuropathie oder Mononeuritis multiplex.
Mikroskopische Polyangiitis
5 HNO-Symptome, Myalgien/Arthralgien (Prodromalphase), pulmonale Kapillaritis mit Hämoptysen, nekrotisierende Glomerulonephritis mit Nierenfunktionseinschränkung.
Henoch-Schönlein-Purpura
5 Manifestationsalter vor dem 21. Lebensjahr, häufig nach Infektion des Respirationstraktes. 5 Purpura (leukozytoklastische Vaskulitis), Angina abdominalis, z. T. mit blutigen Stühlen, Nephritis mit Hämaturie und Proteinurie, Fieber und Allgemeinsymptomatik, Arthralgien
Essenzielle. kryogolbulinämische Vaskulitis
5 Akral betonte kutane oder systemische vaskulitische Läsionen, Arthralgien, Myalgien, Glomerulonephritis, Polyneuropathie, ZNS-Vaskulitis
Kutane leukozytoklastische Angiitis
5 Isolierte leukozytoklastische Angiitis der Haut ohne systemische Vaskulitis
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Ursache der primären Vaskulitiden ist bislang nicht bekannt, vermutet wird eine infektallergische Reaktion bei bestehender immungenetischer Prädisposition. Sekundäre Vaskulitiden finden sich häufig im Rahmen von anderen Autoimmunerkrankungen, z. B. bei der rheumatoiden Arthritis oder beim Lupus erythematodes, bei Infektionskrankheiten (z. B. HIV, Hepatitis B und C) und in selteneren Fällen im Rahmen von bestimmten Tumorerkrankungen. Gelegentlich können auch Medikamente oder andere chemische Noxen eine Vaskulitis auslösen. Charakteristisch für eine systemische Vaskulitis ist das Bild einer chronischen Entzündung mit zum Teil schweren Allgemeinsymptomen begleitet von Symptomen einer ischämischen Organschädigung (. Tab. 4.5). > Aufgrund des großen Spektrums der verschiedenen Manifestationen und der u. U. unspezifischen Symptome ist sowohl bei der Diagnosestellung als auch bei der Ver-
laufsbeurteilung eine umfangreiche Differenzialdiagnostik erforderlich. Die Sicherung der Diagnose erfolgt in der Regel durch eine histologische Untersuchung.
4.3.5 Erregerassoziierte rheumatische
Erkrankungen Infektiöse (septische) Arthritiden Die infektiöse Arthritis führt häufig zu einer raschen irreversilen Gelenkdestruktion mit entsprechenden funktionellen Einschränkungen. Eine rasche Diagnosetellung und Therapieeinleitung sind somit essenziell. > Diagnostisch wegweisend ist die Untersuchung der Synovialflüssigkeit (Zellzahl meist über 100.000/μl, überwiegend segmentkernige Granulozyten, positive Gramfärbung bzw. Bakterienkultur).
93 4.3 Entzündliche Erkrankungen
Man unterscheidet einen hämatogenen, einen lymphogenen und einen direkten Infektionsweg. Prädisponierende Faktoren für eine hämatogene Infektion sind primäre und erworbene Immundefekte (HIV-Infektion, Malignome, immunsuppressive Therapie etc.), Diabetes mellitus, Kachexie, Urämie, Alkohol- und Drogenabusus sowie Gelenkprothesen. Der direkte Infektionsweg steht zumeist im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen (Gelenkpunktionen bzw. -operationen, Arthroskopie) oder Verletzungen. Die häufigsten Erreger sind Staphylokokken und Streptokokken (v. a. iatrogen, Protheseninfektionen), seltenere Erreger sind gramnegative Bakterien, Mykoplasmen, Pseudomonaden u. a. (insbesondere bei Immundefekten). Die Gonokokkenarthritis wird vorwiegend bei jungen, sexuell aktiven Erwachsenen beobachtet – ursächlich ist hierbei eine hämatogene Dissemination von Neisseria gonorrhoeae infolge einer urogenitalen Infektion.
Lyme-Arthritis (Borreliose) Die Lyme-Borreliose ist eine durch Zecken übertragene Infektionserkrankung, verursacht durch das Bakterium Borrelia burgdorferi. Bei einer mittleren Infektionsrate der Zecken von 10% liegt das Risiko, nach einem Zeckenbiss mit Borrelien infiziert zu werden, bei ca. 1%. Die Erkrankung verläuft in der Regel in mehreren Stadien: 5 Das Frühstadium (Tage bis Wochen nach Infektion) ist durch das Auftreten eines sog. Erythema migrans an der Stelle des Zeckenbisses gekennzeichnet, welches aber nur bei 50% der Fälle beobachtet wird. Begleitend kann es im Rahmen der Frühphase zu unspezifischen Allgemeinsymptomen wie Fieber, Abgeschlagenheit u. a. kommen. 5 Im Verlauf werden im Generalisationsstadium der Erkrankung neurologische Manifesationen (Meningitis, Radikuloneuritis und Enzephalitis), eine Augenbeteiligung (Uveitis anterior), eine Perimyokarditis oder eine Myositis der Skelettmuskulatur beoachtet. 5 Manifestationen im Spätstadium der Borreliose (Monate bis 2 Jahre nach der Infektion) sind die Akrodermatitis chronica atrophicans und die Lyme-Arthritis. Das Befallsmuster der Lyme-Arthritis ist in der Regel mon- oder oligoartikulär, zumeist sind dabei die Kniegelenke befallen. Häufig kommt es zu einem migrierenden Gelenkbefall mit einem intermittierenden Verlauf, wobei die Anzahl und die Dauer der Episoden sehr variabel sind. Die betroffenen Gelenke sind zumeist über mehrere Tage bis wenige Wochen stark geschwollen und sehr schmerzhaft, nach einem symptomfreien Intervall von mehreren Wochen bis Monaten kommt es häufig erneut zu Gelenkschwellungen. Über mehrere Monate bis Jahre tritt in der Regel eine Spontanremission ein, chronisch-rezidivierende Verläufe sind selten.
5 Als Spätfolge der Arthritis finden sich gelegentlich Baker-Zysten. Erosive Verläufe mit einer sekundären Gelenk- bzw. Knorpeldestruktion sind untypisch.
Virale Arthritiden Im Rahmen von verschiedenen Virusinfektionen kann es zu para- bzw. postinfektiösen Arthritiden kommen, u. a. durch Hepatitis-B- und -C-Viren, Ringelrötelnvirus (Parvovirus B19), Rötelnvirus (auch als postvakzinale Arthritis) sowie HI-Virus. Das klinische Bild ist zumeist durch symmetrische Polyarthritiden mit Befall der kleinen Gelenke (Fingergrund- und -mittelgelenke) gekennzeichnet. In der Regel weisen virale Arthritiden einen nichtdestruiernden und nichterosiven, selbstlimitierenden Verlauf auf, in seltenen Fällen können die Beschwerden über Monate bis Jahre persistieren. Eine differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber der rheumatoiden Athritis bzw. Kollagenosen kann aufgrund der ähnlichen Symptomatik im Einzelfall schwierig sein. Diesbezüglich ist zudem zu beachten, dass bei einigen Viruserkrankungen (v. a. bei der chronischen Hepatitis-C-Infektion) bei einer Vielzahl von Patienten erhöhte Titer für Rheumafaktoren und antinukleäre Antikörper (ANA) nachgewiesen werden können.
4.3.6 Rheumatische Erkrankungen bei
Stoffwechselstörungen und endokrinen Erkrankungen Arthritis urica (Gicht) Die Gicht ist eine kristallinduzierte akute bzw. chronische Arthritis infolge einer Ablagerung von Uratkristallen bei Hyperurikämie. Der akute Gichtanfall stellt in der Regel die Erstmanifestation der Erkrankung dar und ist typischerweise durch eine akute Monarthritis charakterisiert, die in über 80% der Fälle die untere Extremität betrifft (Großzehengrundgelenk 60%, Sprunggelenk 14%, Knie 6%). Zudem können Entzündungen im Bereich der Schleimbeutel bzw. der periostalen und ligamentären Strukturen auftreten. Die chronische Gichtarthropathie ist durch polytope Arthritiden bzw. Arthralgien und durch progrediente Funktionseinschränkungen infolge irreversibler destruierender Gelenkveränderungen (u. a. Weichteil-, und Knochentophi) gekennzeichnet. Zu beachten sind des Weiteren die hohe Prävalenz einer renalen Beteiligung bei Gichtpatienten (Uratnephrolithiasis, interstitielle Nephritis, Nephrosklerose) und die Assoziation der Gicht mit anderen Erkrankungen des metabolischen Syndroms (Adipositas, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie).
Kalziumpyrophosphatarthropathie Das klinische Spektrum der Kalziumpyrophosphatarthropathie (Synonym: Chondrokalzinose) reicht von der aku-
4
94
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
ten kristallinduzierten Synovitis (»Pseudogicht«), welche vorwiegend das Kniegelenk betrifft, zu chronischen arthrotischen Veränderungen infolge von Kristallablagerungen im Bereich des Knorpels. Ätiologisch liegt der primären Chondrokalzinose vermutlich ein Enzymdefekt der Pyruvatsynthese zugrunde. Die sekundäre Chondrokalzinose wird gehäuft beim Hyperparathyreoidismus, bei bestimmten Elektrolytstörungen (Hypomagnesiämie, Hypophosphatämie), bei der Hämochromatose sowie bei der Hypothyreose beobachtet. Anfallsprovozierende Faktoren sind nicht bekannt.
Hämochromatosearthropathie Die Hämochromatose bezeichnet eine autosomal-rezessiv vererbte Störung der Eisenbilanz mit gesteigerter intestinaler Eisenresoption und vermehrter Eisenablagerung in verschiedenen Organen, u. a. in den Gelenken. Die Erkrankung betrifft vorwiegend Männer zwischen dem 35. und 60. Lebensjahr, Frauen zumeist erst nach der Menopause. Eine Gelenkbeteiligung tritt bei bis zu 50% der Hämochromatosepatienten auf und kann den anderen Organmanifestationen häufig um mehrere Jahre vorausgehen. Die klinische Symptomatik ist durch Schmerzen, Funktionseinschränkungen, Morgensteifigkeit und rezidivierende Schwellungen gekennzeichnet, charakteristisch ist ein Befall der Fingergrundgelenke II und III. Die Prognose der Hämochromatose wird im Wesentlichen durch die Beteiligung der Leber und des Herzens beeinflusst.
Rheumatische Beschwerden bei Schilddrüsenfunktionsstörungen Bei der Hypothyreose finden sich inbesondere in fortgeschrittenen Stadien Myopathien, Tendosynovitiden, Arthralgien und seltener Arthritiden, bedingt durch die Ablagerung von Mukopolysacchariden u. a. (sog. »myxödematöser Pseudorheumatimus«). Auch bei der Hyperthyreose finden sich gelegentlich rheumatische Beschwerden. Typischerweise tritt durch eine entsprechende Therapie der Funktionsstörung eine umgehende Besserung der Symptome ein.
16 4.3.7 Weichteilrheumatische Erkrankungen
17 18 19 20
Tendopathien, Enthesiopathien Als Tendopathie bezeichnet man lokalisierte oder generalisierte Schmerzen im Bereich von Sehnen oder Sehnenansatzstellen. Gebräuchlich sind auch die Bezeichnungen Tendinose oder Tendinitis. Am häufigsten sind die Extensoren und Flexoren des Unterarmes (»Tennis- bzw. Golferellbogen«), die Supraspinatussehne und die Achillessehne (Achillodynie) betroffen. Bei chronischen Verläufen können hier auch Sehnenrupturen auftreten. Als Enthesiopathien bezeichnet man schmerzhafte Sehnen- und Bandansätze, die durch Mikrotraumen oder lokalanatomische Veränderungen zustande kommen können. Beispielhaft sei hier die Fasziitis plantaris genannt, die mit und ohne knöchernen Sporn am Kalkaneus vorkommen kann.
Tendovaginitis Aufgrund einer akuten oder chronischen Überlastung kann es zu schmerzhaften Entzündungen der Sehnenscheiden der Extensoren oder Flexoren kommen. Sonderformen sind die Tendovaginitis de Quervain (T. stenosans) des I. Strecksehnenfaches und der schnellende Finger, die sog. Tendopathia nodosa. Beim Vorliegen einer Tendovaginitis ohne typische Anamnese muss immer eine chronisch entzündliche Erkrankung mitbedacht werden, deren Frühsymptome nicht selten auch an den Sehnenscheiden gefunden werden können.
Fibromyalgiesyndrom Die genaue Ätiologie des Fibromyalgiesyndroms ist ungeklärt. Strukturelle Veränderungen an Gelenken, Muskeln, Sehnen und am Kapsel-Band-Apparat sind nicht nachweisbar, ebenso finden sich keine pathologischen röntgenologischen und laborchemischen Befunde. Der Symptomenkomplex ist charakterisiert durch multilokuläre ausgedehnte Dauerschmerzen mit wechselnder Intensität, die im Bereich der Muskulatur und der gelenknahen Weichteile empfunden werden, assoziiert mit funktionellen, vegetativen Beschwerden und psychischen Beeinträchtigungen. > Entsprechend den gängigen Klassifikationskriterien muss an mindestens 11 von 18 definierten lokalen Druckpunkten (»tender points«) eine eindeutige Druckschmerzhaftigkeit vorliegen. Zu beachten ist, dass diese Feststellung allein auf der Angabe der subjektiven Schmerzhaftigkeit des Untersuchten beruht.
Periarthropathien Der Ausdruck Periarthropathie sollte heutzutage nicht mehr verwendet werden, da in den meisten Fällen ein genauer zu definierendes Krankheitsbild den Beschwerden zugrunde liegt. Es kommt zu periartikulären Entzündungen, die in der Regel mechanisch bedingt sind, also einer Überlastung folgen. Klassische Beispiele sind Bursititiden an der Schulter im Rahmen eines subakromialen Impingements.
Anzumerken ist zudem, dass viele Symptome des Fibromyalgiesyndroms unspezifisch sind und sowohl der Verlauf als auch die Ausprägung der Erkrankung erheblich variieren können. Zwischen den ersten Symptomen und der Entwicklung des klinischen Vollbildes bzw. der Diagnosestellung vergehen bei vielen Patienten mehrere Jahre, zudem ist die Abgrenzung zu anderen funktionellen und psychischen Störungen und auch zu anderen Erkran-
95 4.4 Fragen zum Zusammenhang
kungen des Bewegungsapparates nicht immer eindeutig. Die Fibromyalgie stellt eine Ausschlussdiagnose dar, daher bedarf es einer präzisen Differenzialdiagnostik.
4.4
Fragen zum Zusammenhang
Zur Beschreibung in der Zusammenhangsbegutachtung können vor allem folgende Wortpaare dienen: 5 gelegentlich vs. wesentlich, teilursächlich, 5 physiologisch vs. unphysiologisch, 5 adäquat vs. inadäquat, 5 geeignet vs. nicht geeignet, 5 abeitsüblich vs. nicht arbeitsüblich.
4.4.1 Degenerative Gelenk- und
Wirbelsäulenerkrankungen 4.4.3 Sonderfragen
Die Entstehung der primären degenerativen Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen ist im Wesentlichen durch den physiologischen Alterungsprozess gekennzeichnet. Die sekundären Arthrosen entstehen durch die oben genannten prädisponierenden Faktoren (7 Kap. 4.2.1). Somit gilt es, vor allem zu klären, ob eine primäre oder sekundäre Arthrose vorliegt. Dazu ist vergleichend die Altersnorm hinzu zu ziehen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob versorgungsrechtlich relevante Einflüsse wie Verletzungen oder erhebliche körperliche Überlastungen dazu geeignet sind, zur Entstehung oder Verschlimmerung anlagebedingter oder altersbezogener degenerativer Veränderungen nach Pathomechanik, Intensität und Dauer der Einwirkungen wesentlich beigetragen zu haben.
Kommentar Der zeitliche Zusammenhang der Verletzung oder die Dauer und Intensität einer chronischen Überlastung spielt hier eine wesentliche Rolle. Oft können Röntgenaufnahmen zum Unfallzeitpunkt im Vergleich mit Aufnahmen zum Begutachtungszeitpunkt eine wertvolle Hilfe zur Einschäzung der Entstehung degenerativer Veränderungen darstellen.
4.4.2 Gelenk- und Wirbelsäulenverletzungen
Hier müssen vor allem folgende Fragen geklärt werden: 5 Welche Verletzung hat sich der zu Begutachtende zugezogen? 5 Konnte das angeschuldigte Unfallereignis die angegebene Schädigung bewirkt haben (Plausibilitätsprüfung)? 5 Hat die damalige Schädigung zum aktuell vorliegenden Beschwerdebild führen können? 5 Welche Vorerkrankungen können noch zum vorliegenden Schädigungsbild beigetragen haben und müssen daher als unfallunabhängige Faktoren abgegrenzt werden (private Unfallversicherung)? 5 Welche Minderung der körperlichen Belastbarkeit bzw. welche Minderung der Erwerbsfähigkeit liegt aktuell unfallabhängig vor?
Rotatorenmanschettenruptur Zu den häufigsten Streitfragen in der Begutachtung des Haltungs- und Bewegungsapparates gehört die Entstehung einer Rotatorenmanschettenruptur.
Anatomie Die Rotatorenmanschette (RM) besteht aus den Sehnen der M. subscapularis, M. supraspinatus, M. infraspinatus und M. teres minor. Sie umschließt den Humeruskopf und ermöglicht zum einen Rotations- und Abduktionsbewegungen, hat aber auch eine sehr wichtige Funktion in der Zentrierung des Glenohumeralgelenkes. Durch die anatomische Lage zwischen den Knochen des Humeruskopfes und des Akromions ist vor allem die Supraspinatus- und die Infraspinatussehne im Laufe des Lebens einer hohen mechanischen Belastung ausgesetzt. Dies spiegelt sich in der Tatsache wider, dass bereits jenseits des 60. Lebensjahres die Inzidenz für transmurale Rotatorenmanschettenrupturen ohne auslösendes Trauma zwischen 10 und 29% liegt.
Unfallmechanismus Als Hinweis auf eine unfallbedingte Rotatorenmanschettenruptur muss zunächst der Unfallmechanismus dienen. Hier kommen in Frage: 5 der Zug nach kaudal, medial oder ventral (z. B. Auffangen eines schweren Gegenstandes), 5 die forcierte passive Innen- oder Aussenrotation bei anliegendem oder abgespreiztem Arm (z. B. Festhalten an einer Stange im Rahmen eines Sturzes) oder 5 die axiale Stauchung des Oberarmkopfes nach ventral oder ventrokranial (z. B. Sturz auf den nach hinten ausgestreckten Arm). Direkte Anpralltraumen, Sturz auf den nach vorn oder seitlich ausgestreckten Arm ohne gleichzeitige Rotation oder eine kontrollierte aktive Kraftanstrengung sind dagegen in der Regel nicht geeignet, um die Rotatorenmanschette zum Zerreißen zu bringen.
Vorschädigungen Zur Klärung der Frage des Vorschadens trägt eine eventuell bereits erfolgte Vorbehandlung der Schulter, eine zum Unfallzeitpunkt oder kurz danach bereits bestehende
4
96
1
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
Atrophie der Muskelbäuche und das Vorliegen einer RMRuptur auf der Gegenseite bei.
Diagnostik
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
5 Zur Objektivierung der klinischen Befunde trägt die Bildgebung bei. Hierbei sollte in jedem Fall eine Röntgenaufnahme in 4 Ebenen (a.-p., axial, »outlet view« und Rockwood) erfolgen. Hier können ein Humeruskopfhochstand (evtl. mit begleitender Omarthrose im Sinne einer Cuff-Arthropathie), subakromiale Anbauten, ein verkalktes Lig. coracoacromiale oder (seltene) knöcherne Ausrisse diagnostiziert werden. 5 Das Sonogramm deckt Rupturen der Rotatorenmanschette oder langen Bizepssehne auf sowie eine subakromiale/subdeltoideale Bursitis, kann jedoch nicht sicher degenerative Schäden an den Sehnen dokumentieren. 5 Dafür eignet sich die Magnetresonanztomographie besonders, hier können auch intratendinöse Veränderungen, geringgradige degenerative Veränderungen und die Atrophie oder die fettige Degeneration des Muskels nachgewiesen werden. 5 Größte Sicherheit bietet die Arthroskopie oder offene Operation, zusätzlich können hier Proben zur histologischen Begutachtung entnommen werden. Diese sollten jedoch in den ersten Wochen nach dem angeschuldigten Trauma entnommen werden, danach empfiehlt es sich, Proben aus einem rupturfernen Gebiet zu entnehmen, um eine generelle Degeneration nachzuweisen oder auszuschließen. Dies gelingt mit einer Probe vom veralteten Rupturrand in der Regel nicht. Basierend auf möglichst vielen dieser Informationen muss dann die Abschätzung der Ursächlichkeit einer Rotatorenmanschettenruptur erfolgen.
Meniskusverletzung Die Menisken sind faserknorpelige Gelenkzwischenscheiben, die ihre Hauptaufgabe im Ausgleich zwischen den runden Femurkondylen und dem flachen Tibiaplateau haben. Dabei übernehmen sie Druck- und Scherkräfte und dienen als Bremsschuh. Traumatische Rupturen sind oft Kombinationsverletzungen mit der Kapsel und/oder den Bändern des Kniegelenks.
Kommentar Die Diagnose kann klinisch mittels multipler Meniskustests gestellt werden, sollte aber im gutachterlichen Bereich immer durch einen magnetresonanztomographischen Befund oder gar eine Arthroskopie gesichert werden.
Auch hier kommt der Frage degenerativer Vorschäden und eines adäquaten Traumas höchste Bedeutung zu. Ob und wann degenerative Veränderungen manifest werden, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Von Seiten des Patienten wird dem auslösenden Ereignis meist eine kausale Bedeutung beigemessen. Bei der isolierten Meniskusschädigung ist jedoch in der Regel von einer vorbestehenden Degeneration auszugehen, und der Sachverständige muss entscheiden, ob es zu einer unphysiologischen Beanspruchung des Meniskus gekommen ist. > Ein Sturz als direktes Trauma ist selten in der Lage, eine traumatische Schädigung der Menisken zu verursachen.
Zusätzlich müssen Verletzungszeichen am Knochen vorliegen, wie eine Stauchung von unter dem Knochen liegenden Arealen, die mittels MRT sichtbar wäre. Indirekte Verletzungen im Sinne von Distorsionen der Kniegelenke erfolgen meist in Beugestellung und führen zu einer Verdrehung der Gelenkpartner gegeneinander, meist verbunden mit einem Valgusstress. In der Regel wird der Fuß blockiert, sodass ein Ausweichen der schädigenden Kraft unmöglich ist. Dabei kommt es zunächst zur Schädigung der Kapsel und Bänder als primäre Stabilisatoren, bevor die Menisken mitverletzt werden. Das klinische Bild einer frischen Meniskusverletzung besteht aus einem Gelenkerguss, oft einer Blockierung und schmerzhaften Bewegungseinschränkung mit Schonhaltung. Beim chronisch-degenerativen Meniskusschaden können rezidivierend Ergüsse auftreten, die Patienten geben einen lokalisierten Druckschmerz über dem jeweiligen Gelenkspalt an. In beiden Fällen kann die Belastung des Beines schmerzhaft sein.
Kommentar Das Verhalten nach dem Schadensereignis kann Hinweise auf das Ausmaß des Funktionsverlustes geben. Dazu zählen der sofortige Abbruch der Arbeitstätigkeit und der Zeitpunkt der ärztlichen Konsultation.
Zusammenfassung der vom Gutachter zu beantwortenden Fragen 5 Liegt eine isolierte Meniskusveränderung vor oder sind Nachbarstrukturen mit betroffen? Die Sicherung der Diagnose muss bildgebend oder operativ erfolgt sein. 5 Ist der erhobene feingewebliche Befund altersentsprechend oder für das Alter zu weit fortgeschritten? 6
97 4.4 Fragen zum Zusammenhang
5 Liegen verletzungsspezifische Veränderungen vor? 5 War der Funktionsverlust mit dem klinischen Erstbefund vereinbar? 5 Entsprach das Verhalten des Verletzten dem Funktionsverlust? 5 Gibt es gesicherte Vorschäden? 5 War das angegebene Unfallereignis in der Lage, eine Schädigung des Meniskus herbeizuführen?
Langfristige Schäden nach Meniskusverletzungen und entsprechenden Teilentfernungen sind im Wesentlichen eine Arthrose aufgrund der Mehrbelastung des Gelenkknorpels und der zunehmenden Mikroinstabilität. Diese muss zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung in der privaten Unfallversicherung nach 3 Jahren noch nicht im Vollbild in Erscheinung getreten sein, sollte aber erwähnt werden.
HWS-Distorsion Die HWS-Distorsion ist eine überaus häufige Verletzung. Nach Literaturangaben erleiden in den alten Bundeslän-
dern pro Jahr mindestens 200.000 Menschen eine HWSDistorsion. Im Jahr 2000 wurden von den Berufsgenossenschaften 67.292 Fälle erfasst. Somit bestehen ein hohes Maß an klinischer Erfahrung sowie ein hoher Bedarf an gutachterlichen Äußerungen zu diesem Krankheitsbild. Dagegen ist die wissenschaftliche Untersuchung der HWS-Distorsion noch unzureichend, was die Symptomentstehung, aber auch die individuelle Prognose und eine abgesicherte Therapie nach Evidence-based-medicineKriterien angeht. Aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie lässt sich entnehmen, dass bei der HWS-Distorsion einem erlebnisreaktiven bzw. psychovegetativen Moment eine große Bedeutung zukommt. Somit ist die Objektivierbarkeit der Beschwerden aus orthopädisch gutachterlicher Sicht deutlich erschwert. Eine grobe Unterteilung der HWS-Distorsion in 3 Schweregrade ist für die Gutachtenspraxis sehr hilfreich (. Tab. 4.6). Dabei ist bei Grad I mit einer Arbeitsunfähigkeit von bis zu 4 Wochen, bei Grad II von bis zu 12 Wochen und bei Grad III bis zu einem Jahr möglich. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit liegt bei Grad I in der Regel nicht dauerhaft vor. Beim Grad II kann im 1. Jahr bis zu 20% und im 2. Jahr 10% konstatiert werden. Nach dem 2. Jahr
. Tab. 4.6. Schweregradeinteilung der HWS-Distorsion Kriterien
Grad I
Grad II
Grad III
Symptomatik
Schmerzen der paravertebralen Muskulatur und/ oder HWS
Wie I, aber meist ohne Intervall; möglich sind eine sekundäre Insuffizienz der Halsmuskulatur, Schmerzen im Mundboden/Interskapularbereich, Parästhesien der Arme
Wie I und II, primäre Insuffizienz der Halsmuskulatur möglich; Brachialgien, Armparesen, evtl. kurze initiale Bewusstlosigkeit
Symptomfreies Intervall
Häufig, meist >1 Stunde, maximal 48 Stunden, typisch 12–16 Stunden
Selten, meist <1 Stunde, bis 8 Stunden möglich
Fehlt meist
Beschwerdedauer
Meist Tage bis Wochen, < 1 Monat
Wochen bis Monate
Oft Monate, selten >1 Jahr
Neurologischer Status
Keine Ausfälle, evtl. Bewegungseinschränkung der HWS
Keine Ausfälle, schmerzhafte Bewegungseinschränkung der HWS
Sensible und/oder motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen
Morphologie
Distorsion, Dehnung und Zerrung des HWS-Weichteilmantels
Wie I; Gelenkkapseleinrisse, Gefäßverletzungen möglich (retropharyngeales Hämatom, Muskelzerrungen)
Wie II, über mehr als ein Segment, Diskusblutung oder -riss, Bandruptur, Wirbelkörperfraktur, Luxation, Nerv-, Wurzel-, Rückenmarkläsion
HWS-Röntgenaufnahme
Unverändert, evtl. neu aufgetretene Steilstellung
Eventuell neu aufgetretene Steilstellung, kyphotischer Knick, leichte Instabilität
Fraktur, Fehlstellung, Aufklappbarkeit bei Funktionsaufnahmen
Kollisionsgeschwindigkeit
>8–30 km/h
>30–80 km/h
>50 bis >100 km/h
Fahrzeugschaden
Karosseriestauchung, abhängig von der Bauweise, oft mehrere Zentimeter
Wie I, beginnende Intrusion der Fahrgastzelle
Stärkere Intrusion der Fahrgastzelle
4
98
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
nach Unfall liegen hier in der Regel keine unfallbedingten Beschwerden mehr vor. Bei der HWS-Distorsion Grad III kann es auch über diesen Zeitraum hinaus zu einer MdE von bis zu 30% kommen, je nach neurologischen Ausfällen. Wichtig ist es, Kriterien zur Chronifizierung der Beschwerden zu erkennen. Ein möglicher Ansatz zur Erklärung der chronischen Beschwerden nach HWS-Distorsion ist das sogenannte biopsychosoziale Modell von Ferrari. Dies beinhaltet eine biologische Dimension im Sinne einer akuten Verletzung mit einer möglicherweise verursachten chronischen Läsion, aber auch einer psychosozialen Dimension, hier geschildert als der Glaube der an chronischen Beschwerden Leidenden an das tatsächliche Vorhandensein ihrer Symptome und die Realisierung, dass die Individuen mit chronischen Beschwerden in einem sozialen und kulturellen Vakuum nicht existieren können. > In diesem Modell wird noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit jeder neuerlichen Untersuchung, Begutachtung und Therapie die Beschwerden eines Patienten deutlich verstärkt werden können, ohne dass es ein morphologisches Korrelat dafür gibt.
Von den Autoren wird dezidiert darauf hingewiesen, dass dies nicht bedeutet, dass chronische Beschwerden Folge einer psychiatrischen Erkrankung sind, sondern dass diese Beschwerden von einer oder mehreren der zahlreichen vorbestehenden physischen Quellen hervorgerufen werden, aber eben nicht von einem chronischen Schaden, der durch die Beschleunigungsverletzung entstanden ist. Nicht zuletzt schließen sie auch durch die interkulturellen Vergleiche auf ein gewisses Lernverhalten der Patienten, denen in der Gesellschaft häufig eine Situation vorgelebt wird, die in anderen Kulturkreisen in dieser Art gar nicht existiert. Die Autoren gehen sogar soweit, dass sie nur eine sehr kurze Schonung empfehlen und eine Minimaltherapie: 5 Eine weiterführende Diagnostik mit schichtbildgebenden Verfahren halten sie für selten notwendig und eher schädlich. 5 Eine Therapie, überhaupt mit Medikamenten, Physiotherapie oder Zervikalorthese sei selten notwendig und eher schädlich. 5 Es wird nur eine kurze Schonung für 1–2 Tage und keine Krankschreibung empfohlen. Dazu gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Patienten, denen direkt nach dem Unfall empfohlen wurde, sich normal zu verhalten, und die nicht krank geschrieben wurden, ein besseres Ergebnis hatten als Patienten mit vergleichbaren Unfällen, denen Schonung empfohlen wurde und die krank geschrieben wurden. Nicht selten kann also festgestellt werden, dass die morphologischen Schäden, die durch einen Unfall ent-
standen sind, längst verheilt und nicht für die Beschwerden verantwortlich sind. Auf der anderen Seite muss die Frage gestellt werden, ob die Beschwerden zum Untersuchungszeitpunkt genauso bestehen würden, wenn der Unfall nicht stattgefunden hätte. Wesentlicher Bestandteil der Klärung dieser Frage ist die Sozialanamnese. In unklaren Fällen sollte eine zusätzliche psychologische/psychiatrische Begutachtung erfolgen.
Entzündlich-rheumatische Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen Die genaue Ätiologie der verschiedenen systemischen Autoimmunkrankheiten ist bislang nicht vollständig geklärt, man geht jedoch davon aus, dass bei der Entstehung und der Persistenz dieser Erkrankungen vor allem endogene Faktoren eine entscheidende Rolle spielen. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten in den letzten Jahren für viele rheumatische Erkrankungen eine genetisch determinierte Störung der Immunregulation nachweisen. Der Einfluss exogener Faktoren (Umwelteinflüsse, chemische bzw. physikalische Noxen, virale und bakterielle Infektionen etc.) ist bislang nur bei bestimmten entzündlichrheumatischen Erkrankungen nachgewiesen worden.
Kommentar Als Voraussetzung für die Annahme einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge genügt die Wahrscheinlichkeit des kausalen Zusammenhangs. Diese gilt als gegeben, wenn nach der gültigen medizinischen Lehrmeinung mehr für als gegen diese Wahrscheinlichkeit spricht.
Ist die für die versorgungsrechtliche Anerkennung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, wie dies bei den meisten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen der Fall ist, können die entsprechenden Gesundheitsstörungen dennoch als Schädigungsfolge anerkannt werden (sog. »Kann-Versorgung« nach BVG § 1 Abs. 3, Satz 2). Voraussetzung ist ein auf der Grundlage der bestehenden wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse nachvollziehbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen der Gesundheitsstörung und der Schädigung. Vom Gesetzgeber wurde die Anerkennung nach der »KannVersorgung« für eine Reihe ätiologisch ungeklärter Systemerkrankungen ausdrücklich vorgesehen, u. a. für die rheumatoide Arthritis, die Spondylarthropathien, die reaktiven Arthritiden sowie die Kollagenosen und Vaskulitiden.
99 4.4 Fragen zum Zusammenhang
Rheumatoide Arthritis Der rheumatoiden Arthritis liegt entsprechend dem derzeitigen Stand der medizinischen Forschung eine genetisch determinierte Dysregulation des Immunsystems zugrunde, ein versorgungsrechtlicher Kausalitätsbezug lässt sich also nicht herstellen. Der Einfluss exogener Faktoren ist unklar. Kälteeinwirkung, Nässeexposition, körperliche Belastungen oder Infektionen, die zu einer Schwächung der Immunitätslage bzw. einer Resistenzminderung führen, können allerdings eine Exazerbation der Erkrankung begünstigen. > Die Voraussetzungen für eine Kann-Versorgung sind als gegeben anzusehen, wenn die Zeitspanne zwischen dem schädigenden Ereignis und der Manifestation des Leidens 6 Monate nicht überschreitet.
Als Caplan-Syndrom oder Silikoarthritis wird die seltene Kombination aus einer pulmonalen Silikose und Symptomen einer rheumatoiden Arthritis bezeichnet. Hier ist ein kausaler Zusammenhang mit einer Quarzstaubexposition gesichert. Gelenknahe Traumen bzw. Verletzungen mit Gelenkbeteiligung können als manifestierende Ursachen einer rheumatoiden Arthritis angehesehen werden, wenn das verletzte Gelenk vorher sicher gesund und altersentsprechend funktionstüchtig gewesen ist, im Bereich der übrigen Gelenke keine Zeichen einer Arthritis bestehen oder bestanden haben, die Arthritis im traumatisierten Gelenk begonnen hat und das Intervall zwischen Trauma und Arthritis nicht mehr als 10 Tage beträgt.
Für die ankylosierende Spondylitis wird entsprechend der gängigen wissenschaftlichen Lehrmeinung eine genetisch determinierte Störung der Immunregulation angenommen, sodass aus versorgungsrechtlicher Sicht kein Kausalitätsbezug hergestellt werden kann. Kälte- oder Nässeexposition sowie körperliche Belastungen scheinen unter Berücksichtigung klinischer Erfahrungen eine Exazerbation der Erkrankung herbeiführen zu können, sodass hierbei im Einzelfall eine Kann-Versorgung anzuwenden ist. Selbiges gilt für die Psoriasisarthritis bzw. -spondylitis, die enteropathischen Spondylarthropathien sowie die undifferenzierte Spondylarthropathie. Zu beachten ist, dass reaktive Arthritiden in seltenen Fällen in eine chronische Spondylarthropathie bzw. in eine ankylosierende Spondylitis übergehen können. Eine ankylosierende Spondylitis kommt somit als Schädigungsfolge in Betracht, wenn die vorangegange reaktive Arthritis eine Schädigungsfolge einer stattgehabten Infektionserkrankung ist (s. oben).
Sonstige infektassoziierte Arthritiden Virale Infektionen Neben der bereits erwähnten klassischen reaktiven Arthritis sind insbesondere Arthritiden im Rahmen bestimmter viraler Infektionen von Bedeutung, z. B. bei Hepatitis B/C oder HIV sowie bei Röteln (auch als Impfreaktion), Coxsackie-Virus- oder Parvovirus-B19-Infektionen (Ringelröteln). Virale Arthritiden verlaufen zumeist selbstlimitierend und heilen nach wenigen Monaten bis Jahren aus, in der Regel kommt es nicht zu Gelenkdestruktionen und anderen Folgeschäden.
Seronegative Spondylarthropathien
Akutes rheumatisches Fieber
Innerhalb der Erkrankungen aus dem Formenkreis der seronegativen Spondylarthropathien kommt aus versorgungsrechtlicher Sicht der reaktiven Arthritis eine besondere Bedeutung zu, da hier ein kausaler Zusammenhang mit vorangegangenen infektiösen Harnwegs- oder Darmerkrankungen – insbesondere durch Yersinien, Salmonellen, Shigellen, Chlamydien – hinreichend geklärt ist. Sind solche Vorerkrankungen als Schädigungen nachgewiesen, kann aus versorgungsrechtlicher Sicht ein Kausalitätsbezug hergestellt werden.
Das heute sehr seltene akute rheumatische Fieber steht in kausalem Zusammenhang mit einer Infektion mit β-hämolysierenden A-Streptokokken (zumeist Tonsillitis). Die Gelenkbeteiligung verläuft in der Regel selbstlimitierend, relevant sind daher vor allem die kardialen Folgeerkrankungen. Wenn durch dienstliche Verhältnisse eine Streptokokkeninfektion aufgetreten ist oder die dienstlichen Umstände diese wesentlich begünstigt haben, ist das rheumatische Fieber als Schädigungsfolge anzusehen.
Lyme-Arthritis > Aus diesem Grund sollte bei der Begutachtung stets nach zugrunde liegenden Infektionserkrankungen, wie einem endemischen Auftreten gastrointestinaler Infektionen wie z. B. Salmonellosen u. a. gesucht werden.
Voraussetzung für die Anerkennung als Schädigungsfolge ist ein eindeutiger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Infektionserkrankung und der Manifestation des Leidens, wobei die Zeitspanne 6 Monate nicht überschreiten darf. Ein eindeutiger Nachweis des Erregers ist in diesem Falle nicht unbedingt erforderlich.
Ursache der Lyme-Arthritis ist eine Infektion mit Borrelien, welche durch den Biss einer Zecke übertragen werden können. Aus versorgungsrechtlicher Sicht ist somit im Falle einer nachgewiesenen Borrelieninfektion von einem gesicherten Kausalzusammenhang auszugehen. Die LymeBorreliose ist bei Landwirten und Waldarbeitern als Berufserkrankung anerkannt und kann eine entsprechende Entschädigung begründen. Versorgungsrechtlich relevant kann zudem eine Infektion im Rahmen einer Wehrdienstbeschädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes sein.
4
100
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
Kollagenosen und Vaskulitiden
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Ätiopathogenetisch liegt den Kollagenosen und Vaskulitiden, ähnlich wie bei anderen Autoimmunerkrankungen, vermutlich eine genetisch bedingte Störung des Immunsystems zugrunde. In seltenen Fällen kommen auch exogene Faktoren in Betracht. Somit sind im Einzelfall die Voraussetzungen für einen Kausalitätsbezug erfüllt, ansonsten ist ggf. eine Kann-Versorgung in Betracht zu ziehen. Bestimmte Medikamente (z. B. Isoniazid, Hydralazin, D-Penicillamin, Methyldopa, Procainamid, TNF-αInhibitoren u. a.) können einen sog. medikamenteninduzierten Lupus erythematodes bedingen. Typischerweise sind die klinischen und laborchemischen Veränderungen jedoch nach Absetzen des auslösenden Medikaments reversibel. Auch Vaskulitiden können durch Medikamente oder andere chemische Noxen ausgelöst werden (z. B. kutane leukozytoklastische Vaskulitis infolge Antibiotikatherapie). Des Weiteren sind Fälle einer Entwicklung eines Lupus erythematodes oder einer Vaskulitis infolge von Impfungen beschrieben. Gutachterlich besonders relevant ist der hinreichend geklärte Kausalzusammenhang einer persistierenden Hepatitis-B-Virusinfektion mit der Panarteriitis nodosa sowie die Hepatitis-C-Virus-assoziierte kryoglobulinämische Vaskulitis (z. B. als Folge einer Stichverletzung bei Ärzten oder medizinischem Assistenzpersonal). Auch bei anderen Vaskulitiden oder Kollagenosen kann ein Zusammenhang mit bestimmten Infektionen diskutiert werden (z. B. Purpura Schoenlein-Henoch nach vorangegangenem Streptokokkeninfekt). Eine systemische Sklerodermie kann durch eine Quarzstaubexposition induziert werden.
Weichteilrheumatische Erkrankungen
13 14 15 16 17 18 19 20
Dem Fibromyalgiesyndrom liegt vermutlich eine multifaktorielle Genese zugrunde. Es wird angenommen, dass verschiedene endogene Faktoren wie hormonelle und neurohumorale Störungen sowie psychosoziale Faktoren zu einer abnormen Schmerzempfindung und einem gesteigerten Schmerzerleben führen. Für das Fibromyalgiesyndrom ist entsprechend den Bestimmungen des Gesetzgebers bislang keine Kann-Versorgung vorgesehen. Vesorgungsrechtlich relevant ist die lokalisierte bzw. generalisierte Tendomyopathie auf dem Boden eines anderen Leidens (z. B. Wirbelsäulenveränderungen) im Sinne eines sog. sekundären Fibromyalgiesyndroms. Ein Fibromyalgiesyndrom kommt in diesem Fall als Schädigungsfolge in Betracht, wenn das Grundleiden eine Schädigungsfolge darstellt. Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze, die auf ungewohnte Arbeiten bei fehlender oder gestörter Anpassung oder auf lang andauernde einseitige mechanische Beanspruchungen zurückzuführen sind sowie durch Druckbelastungen entstandene chronische Erkrankungen
der Schleimbeutel können unter bestimmten Voraussetzungen als Berufskrankheit anerkannt werden (BK 2101/ BK 2105).
4.5
Bewertung nach dem Sozialrecht
4.5.1 Militärische oder militärähnliche
Dienstverrichtung/Wehrdienst/Zivildienst Die Entschädigung von Personen, die im Rahmen einer militärischen oder militärähnlichen Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des Dienstes eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, ist im Bundesversorgungsgesetz geregelt. Die Entschädigung von Wehrpflichtigen oder Soldaten auf Zeit ist im Soldatenversorgungsgesetz (SVG) geregelt, die Entschädigung des Zivildienstleistenden im Zivildienstgesetz (ZEG). Schädigungen im Rahmen der Tätigkeit als Soldat, Wehrpflichtiger oder Zivildienstleistender sind bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen in der Regel nicht als krankheitsursächlich anzusehen (7 Kap. 4.4). Im Einzelfall ist jedoch zu prüfen, ob bestimmte dienstlich bedingte äußere Einflüsse im Rahmen einer Kann-Versorgung anerkannt werden können. Insbesondere bei der Spondylitis ankylosans oder bei der rheumatoiden Arthritis sind Kälte- und Nässeexposition oder körperliche Belastungen als krankheitsverschlimmernde Faktoren anerkennungsfähig. Versorgungsrechtlich relevant ist der kausale Zusamenhang zwischen reaktiven Arthritiden und bestimmten endemisch auftretenden Infektionserkrankungen im Rahmen der Gemeinschaftsunterbringung und -versorgung von Soldaten und Wehrpflichtigen (z. B. Salomenellose).
4.5.2 Opfer von Gewalttaten
Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) regelt die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten. Physische und psychische Traumatisierungen können für die Manifestation bzw. die Exazerbation von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen relevant sein, somit muss im Einzelfall im Rahmen der Kann-Versorgung überprüft werden, ob eine entzündlich-rheumatische Erkankung als Folge eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs aufgetreten sein kann. Voraussetzung ist hierbei ein entsprechender zeitlicher Zusammenhang und das Fehlen krankheitsspezischer Befunde bzw. Symptome vor dem als ursächlich angeschuldeten Ereignis. Bei multifaktoriellen Erkrankungen wie z. B. dem Fibromyalgiesyndrom ist die Abgrenzung gegenüber anderen Faktoren oft schwierig.
101 4.5 Bewertung nach dem Sozialrecht
4.5.3 Impfschäden
Als Impfschäden werden definitionsgemäß solche Gesundheitsschädigungen bezeichnet, die über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehen. Die Entschädigung von Impfschäden ist im Infektionsschutzgesetz (IfSG) geregelt. Auf rheumatologischem Fachgebiet kommen hierbei u. a. Arthritiden nach Rötelnimpfung in Betracht. Allerdings spielen diese Erkrankungen versorgungsrechtlich eine untergeordnete Rolle, da sie in der Regel einen selbstlimitierenden Verlauf aufweisen. Schwieriger zu beurteilen ist aus versorgungsrechtlicher Sicht, ob durch bestimmte Impfungen (Röteln, FSME) eine rheumatoide Arthritis induziert werden kann. Eindeutige wissenschaftliche Beweise für einen kausalen Zusammenhang sind bislang nicht bekannt, allerdings finden sich zahlreiche Berichte über Fälle, bei denen es in zeitlichem Zusammenhang einer Impfung zur Erstmanifestation einer rheumatoiden Arthritis gekommen ist, sodass eine diesbezügliche Entschädigung im Rahmen der Kann-Versorgung individuell zu prüfen ist. Voraussetzung ist neben dem engen zeitlichen Zusammenhang zudem das Fehlen sämtlicher Symptome und Befunde einer rheumatoiden Arthritis vor dem mutmaßlichen schädigenden Ereignis.
4.5.4 Erwerbstätigkeit/Erwerbsminderung
Entzündliche, degenerative und traumatische Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates können zu vorübergehenden oder dauerhaften Funktionseinschränkungen bis hin zum vollständigen Funktionsverlust führen. Im Vordergrund stehen dabei Kontrakturen, Ankylosen, Bandinstabilitäten, Subluxationen oder Fehlstellungen. Die individuelle Prognose ist in der Regel schwer einzuschätzen, allerdings zeigen Langzeitdaten, dass insbesondere bei chronischen entzündlich-rheumatischen Erkrankungen im Verlauf mit einer sehr hohen Invaliditätsrate zu rechnen ist. Erkrankungen wie die rheumatoide Arthritis oder die ankylosierende Spondylitis, die vorwiegend jüngere Menschen betreffen, gehen oftmals mit einer erheblichen Minderung der Erwerbsfähigkeit einher und führen häufig zu einer vorzeitigen Berentung. Zu beachten ist zudem, dass Patienten mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen neben den funktionellen und mechanischen Defiziten im Bereich des Bewegungs- und Stützapparats gegenüber altersgemäßen Vergleichskontrollen krankheits- und therapiebedingt eine erheblich höhere Morbidität und Mortalität aufweisen. In den letzten Jahren wurden Therapiestrategien entwickelt, die neben der gezielten Identifikation von Risikopatienten den frühzeitigen Einsatz moderner Therapeutika beinhalten und somit die Prognose entzündlich-rheu-
matischer Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen erheblich verbessern konnten. Anzumerken ist dabei allerdings, dass bereits bestehende Funktionsdefizite und fortgeschrittene Destruktionen im Bereich einzelner Gelenke oder der Wirbelsäule durch diese Therapien nicht oder nur in geringem Maße rückgängig zu machen sind. Im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung ist die sog. volle Erwerbsminderung gegeben, wenn die Erwerbsfähigkeit soweit eingeschränkt ist, dass Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt weniger als 3 Stunden täglich verrichtet werden können. Eine teilweise Erwerbsminderung liegt vor, wenn der Antragsteller auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt – unabhängig vom erlernten Beruf – nur noch 3 bis ≤6 Stunden täglich tätig sein kann. Eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit kann für eine vorübergehende Zeit gewährt werden, wenn eine begründete Aussicht besteht, dass die Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit wieder hergestellt ist. Diese Regelung kann bei einer Reihe von Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates mit gutartigem und bedingt chronischem Verlauf Anwendung finden, z. B. bei reaktiven Arthritiden oder weichteilrheumatischen Erkrankungen wie dem Fibromyalgiesyndrom. Wenn unter Berücksichtigung von individuellen Faktoren eine Besserung der Erkrankung auf absehbare Zeit unwahrscheinlich ist, kann eine Rente auf Dauer gewährt werden. Dies gilt vorwiegend bei chronisch bzw. chronisch-progredient verlaufenden entzündlich rheumatischen Erkrankungen wie der rheumatoiden Arthritis, der ankylosierenden Spondylitis sowie bei einigen Kollagenosen und Vaskulitiden.
4.5.5 MdE/GdB
Vom Gutachter ist immer das Gesamtbild der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu bewerten. Der GdB/MdE-Grad für Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen hängt vorwiegend von den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewegungsbehinderung, Minderbelastbarkeit) und der Mitbeteiligung anderer Organsysteme ab. Dabei ist die Gesamt-GdB/MdE bei mehrfachen Schädigungen nicht mit der Summe der Einzel-GdB/MdE gleichzusetzen. Zu beachten ist weiter, dass eine Schädigung bzw. Verletzung auch Folgen für die proximal und distal gelegene Region haben kann, diese müssen daher ebenfalls in die Bewertung mit aufgenommen werden. Des Weiteren sind auch Schwellungen, muskuläre Verspannungen, Kontrakturen und Atrophien zu berücksichtigen, zudem außergewöhnliche Schmerzen. Anzumerken ist, dass mittels bildgebender oder messtechnischer Verfahren festgestellte Veränderungen stets im Kontext mit den subjektiven und objektiven Funktionsstörungen zu sehen sind und für sich allein noch nicht die Annahme eines GdB/MdE-Grades rechtfertigen. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Opera-
4
102
1 2 3 4 5
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
tion an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule durchgeführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB/MdE-Grades begründen. > Bei entzündlichen, degenerativen und traumatischen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates ist es stets erforderlich, neben den strukturellen und funktionellen Defiziten alle individuellen leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet zu berücksichtigen.
Insbesondere bei den entzündlich-rheumatischen Krankheiten sind unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße auch
die Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen, entsprechendes gilt für Kollagenosen und Vaskulitiden. Auch die Therapie von rheumatischen Erkrankungen geht in die Beurteilung mit ein: So soll für die Dauer einer über 6 Monate anhaltenden aggressiven immunsuppressiven Therapie ein GdB/MdE-Grad von 50 nicht unterschritten werden. Die Fibromyalgie und ähnliche Somatisierungssyndrome (z. B. CFS/MCS) sind jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Die Kriterien zur Beurteilung der MdE und des GdB bei Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankung sind in . Tab. 4.7 bis 4.12 aufgeführt.
6 7 8 9 10 11 12 13
. Tab. 4.7. Kriterien für GdB/MdE bei Funktionseinschränkungen der oberen Extremitäten Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Versteifung des Schultergelenks in günstiger Stellung bei gut beweglichem Schultergürtel
30
Versteifung des Schultergelenks in ungünstiger Stellung oder bei gestörter Beweglichkeit des Schultergürtels
40–50
Bewegungseinschränkung des Schultergelenks (einschließlich Schultergürtel) 5 Arm nur um 120° zu erheben, mit Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit
10
5 Arm nur um 90° zu erheben, mit Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit
20
Instabilität des Schultergelenks 5 geringen Grades, auch seltene Ausrenkung (in Abständen von 1 Jahr und mehr)
10
5 mittleren Grades, auch häufigere Ausrenkung
20–30
5 schweren Grades (auch Schlottergelenk), auch ständige Ausrenkung
40
Schlüsselbeinpseudarthrose
0–20
Verkürzung des Armes bis zu 4 cm bei freier Beweglichkeit der großen Armgelenke
0
Oberarmpseudarthrose
20–40
Versteifung des Ellbogengelenks einschl. Aufhebung der Unterarmdrehbewegung 5 in günstiger Stellung
30
14
5 in ungünstiger Stellung
40–50
15
5 geringen Grades (Streckung/Beugung bis 0–30–120 bei freier Unterarmdrehbeweglichkeit)
0–10
5 stärkeren Grades (insbesondere der Beugung einschließlich Einschränkung der Unterarmdrehbeweglichkeit)
20–30
Bewegungseinschränkung im Ellbogengelenk
16 17 18 19 20
Isolierte Aufhebung der Unterarmdrehbeweglichkeit 5 in günstiger Stellung (mittlere Pronationsstellung)
10
5 in ungünstiger Stellung
20
5 in extremer Supinationsstellung
30
Ellbogen: Schlottergelenk
40
Unterarmpseudarthrose
20–40
Pseudarthrose der Elle oder Speiche
10–20
Versteifung des Handgelenks 5 in günstiger Stellung (leichte Dorsalextension)
20
5 in ungünstiger Stellung
30
103 4.5 Bewertung nach dem Sozialrecht
. Tab. 4.7. (Fortsetzung) Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Bewegungseinschränkung des Handgelenks 5 geringen Grades (z. B. Streckung/Beugung bis 30–0-40)
0–10
5 stärkeren Grades
20–30
Nicht oder mit Deformierung verheilte Brüche oder Luxationen der Handwurzelknochen oder eines oder mehrerer Mittelhandknochen mit sekundärer Funktionsbeeinträchtigung
10–30
Versteifung eines Daumengelenks in günstiger Stellung
0–10
Versteifung beider Daumengelenke und des Mittelhand-Handwurzelgelenks in günstiger Stellung
20
Versteifung eines Fingers in günstiger Stellung (mittlere Gebrauchsstellung)
0–10
Verlust des Daumenendgliedes
0
Verlust des Daumenendgliedes und des halben Grundgliedes
10
Verlust eines Daumens
25
Verlust beider Daumen
40
Verlust eines Daumens mit Mittelhandknochen
30
Verlust des Zeigefingers, Mittelfingers, Ringfingers oder Kleinfingers, auch mit Teilen des dazugehörigen Mittelhandknochens
10
Verlust von 2 Fingern 5 mit Einschluss des Daumens
30
5 II+III, II+IV
30
5 sonst
25
Verlust von 3 Fingern 5 mit Einschluss des Daumens
40
5 II+III+IV
40
5 sonst
30
Verlust von 4 Fingern 5 mit Einschluss des Daumens
50
5 sonst
40
Verlust der Finger II–V an beiden Händen
80
Verlust aller 5 Finger einer Hand
50
Verlust aller 10 Finger
100
4
104
1
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
. Tab. 4.8. Kriterien für GdB/MdE bei Funktionseinschränkungen der unteren Extremitäten Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Verlust beider Beine im Oberschenkel
100
Verlust eines Beines im Oberschenkel und eines Beines im Unterschenkel
100
Verlust eines Beines und Armes
100
Verlust eines Beines im Hüftgelenk oder mit sehr kurzem Oberschenkelstumpf
80
Verlust eines Beines im Oberschenkel (einschl. Absetzung nach Gritti)
70
Notwendigkeit der Entlastung des ganzen Beines (z. B. Sitzbeinabstützung)
70
5
Verlust eines Beines im Unterschenkel bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke
50
Notwendigkeit der Entlastung eines Unterschenkels (z. B. Schienbeinkopfabstützung)
50
6
Verlust eines Beines im Unterschenkel bei ungenügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke
60
Verlust beider Beine im Unterschenkel
80
5 bei einseitig ungünstigen Stumpfverhältnissen
90
5 bei beidseitig ungünstigen Stumpfverhältnissen
100
Teilverlust eines Fußes
30–70
Verlust einer Zehe
0
Verlust einer Großzehe
10
Verlust einer Großzehe mit Verlust des Köpfchens des I. Mittelfußknochens
20
Verlust der Zehen II–V oder I–III
10
Verlust aller Zehen an einem Fuß
20
Verlust aller Zehen an beiden Füßen
30
Versteifung beider Hüftgelenke je nach Stellung
80–100
Versteifung eines Hüftgelenks
40–60
2 3 4
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke 5 geringen Grades – einseitig
10–20
5 geringen Grades – beidseitig
20–30
5 mittleren Grades – einseitig
30
5 mittleren Grades – beidseitig
50
5 schweren Grades – einseitig
40
5 schweren Grades – beidseitig
60–10
Hüftdysplasie (einschl. der sog. angeborenen Hüftluxation) 5 für die Dauer der vollständigen Immobilisierung
100
5 danach bis zum Abschluss der Spreizbehandlung
50
5 Anschließend und bei unbehandelten Fällen richtet sich der GdB/MdE-Grad nach der Instabilität und der Funktionsbeeinträchtigung Hüftgelenkresektion je nach Funktionsstörung
50–80
Schnappende Hüfte
0–10
Beinverkürzung 5 bis 2,5 cm
0
5 über 2,5 cm bis 4 cm
10
5 über 4 cm bis 6 cm
20
5 über 6 cm wenigstens
30
105 4.5 Bewertung nach dem Sozialrecht
. Tab. 4.8. (Fortsetzung) Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Oberschenkelpseudarthrose
50–70
Faszienlücke (Muskelhernie) am Oberschenkel
0–10
Versteifung beider Kniegelenke
80
Versteifung eines Kniegelenks
40–60
Lockerung des Kniebandapparates 5 muskulär kompensierbar
10
5 unvollständig kompensierbar, Gangunsicherheit
20
5 Versorgung mit einem Stützapparat, je nach Achsenfehlstellung
30–50
Kniescheibenbruch 5 nicht knöchern verheilt ohne Funktionseinschränkung des Streckapparates
10
5 nicht knöchern verheilt mit Funktionseinschränkung des Streckapparates
20–40
Habituelle Kniescheibenverrenkung 5 selten (in Abständen von ≥1 Jahr)
0–10
5 häufiger
20
Bewegungseinschränkung im Kniegelenk 5 geringen Grades – einseitig
0–10
5 geringen Grades – beidseitig
10–20
5 mittleren Grades – einseitig
20–40
5 mittleren Grades – beidseitig
30–50
5 schweren Grades – einseitig
30
5 schweren Grades – beidseitig
50
Knorpelschäden der Kniegelenke mit anhaltenden Reizerscheinungen 5 ohne Bewegungseinschränkung
10–30
5 mit Bewegungseinschränkung
20–40
Schienbeinpseudarthrose
20–50
Teilverlust oder Pseudarthrose des Wadenbeins
0–10
Versteifung des oberen Sprunggelenks in günstiger Stellung (Plantarflexion um 5° bis 15°)
20
Versteifung des unteren Sprunggelenks in günstiger Stellung (Mittelstellung)
10
Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks
30–40
Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk geringen Grades
0
mittleren Grades
10
schweren Grades
20
Bewegungseinschränkung im unteren Sprunggelenk
0–10
Klumpfuß je nach Funktionsstörung 5 einseitig
20–40
5 beidseitig
30–60
Versteifung aller Zehen eines Fußes
10–20
Versteifung der Großzehengelenke
0–20
4
106
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
. Tab. 4.9. Kriterien für GdB/MdE bei Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule
1 2 3 4 5 6 7
Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Ohne Bewegungseinschränkung oder Instabilität
0
Mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurzdauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome)
10
Mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome)
20
Mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome)
30
Mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in 2 Wirbelsäulenabschnitten
30–40
Mit besonders schweren Auswirkungen [z. B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die 3 Wirbelsäulenabschnitte umfasst (z. B. Milwaukee-Korsett); schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb)]
50–70
Bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit
80–100
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
4.6
. Tab. 4.10. Kriterien für GdB/MdE bei Funktionseinschränkungen des Beckens
. Tab. 4.11. Kriterien für GdB/MdE bei entzündlich-rheumatische Erkrankungen der Gelenke und/oder der Wirbelsäule
Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Ohne funktionelle Auswirkungen
0
Ohne wesentliche Funktionseinschränkung mit leichten Beschwerden
0
Mit geringen funktionellen Auswirkungen (z. B. stabiler Beckenring, degenerative Veränderungen der Kreuz-Darmbein-Gelenke)
10 20–40
Mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen (z. B. instabiler Beckenring einschl. Sekundärarthrose)
20
Mit geringen Auswirkungen. (leichtgradige Funktionseinbußen und Beschwerden, je nach Art und Umfang des Gelenkbefalls, geringe Krankheitsaktivität)
50–70
Mit schweren funktionellen Auswirkungen und Deformierung
30–40
Mit mittelgradigen Auswirkungen (dauernde erhebliche Funktionseinbußen und Beschwerden, therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität) Mit schweren Auswirkungen (irreversible Funktionseinbußen, hochgradige Progredienz)
80–100
Begutachtung privat versicherter Schäden
4.6.1 Unfallversicherung
Zwischen der privaten und der gesetzlichen Unfallversicherung bestehen gravierende Unterschiede in den Rechtsgrundlagen und auch in der Fragestellung für den Gutachter.
Private Unfallversicherung (PUV)
18 19 20
Wichtig in der privaten Unfallversicherung ist die zivilrechtliche Adäquanzlehre, die sich deutlich von der in der gesetzlichen Unfallversicherung anzuwendenden sozialrechtlichen Kausalitätslehre unterscheidet. So muss im Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität geklärt werden, ob das Unfallereignis eine Conditio sine qua non für den streitrechtlichen Gesundheitszustand ist. Hier dürfen kei-
Die Beurteilung des GdB/MdE-Grades bei Kollagenosen und Vaskulitiden richtet sich nach Art und Ausmaß der jeweiligen Organbeteiligung sowie den Auswirkungen auf den Allgemeinzustand, wobei auch eine Analogie zu den Muskelkrankheiten in Betracht kommen kann.
ne außergewöhnlichen Umstände herangezogen werden, sondern dass Ereignis muss ganz allgemein geeignet sein, den Schaden zu verursachen. Weiterhin gilt es zu beachten, dass in der PUV unfallabhängige und unfallunabhängige Vorschäden unterschieden werden müssen. Es kommt zur Einschränkung der Leistungspflicht, wenn nicht unfallbedingte Schäden mehr als 25% des Gesamtschadens ausmachen (§ 8 AUB). Diese Vorschädigungen müssen aber im Sinne des Vollbeweises nachge-
107 4.7 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
. Tab. 4.12. Kriterien für GdB/MdE bei Erkrankungen der Muskulatur Funktionseinschränkung
GdB/MdE
Mit geringen Auswirkungen (vorzeitige Ermüdung, gebrauchsabhängige Unsicherheiten)
20–40
Mit mittelgradigen Auswirkungen (zunehmende Gelenkkontrakturen und Deformitäten, Aufrichten aus dem Liegen nicht mehr möglich, Unmöglichkeit des Treppensteigens)
50–80
Mit schweren Auswirkungen (bis zur Geh- und Stehunfähigkeit und Gebrauchsunfähigkeit der Arme)
90–100
Zusätzlich sind bei einzelnen Muskelkrankheiten Auswirkungen auf innere Organe (z. B. Einschränkung der Lungenfunktion und/oder der Herzleistung durch Brustkorbdeformierung) oder Augenmuskel-, Schluck- oder Sprechstörungen (z. B. bei der Myasthenie) zu berücksichtigen.
wiesen werden. Die Invaliditätsleistung wird gemäß der AUB, § 7 Abs. 2, in Grade eingeteilt. Hier ist der Verlust bzw. die völlige Funktionsunfähigkeit geregelt und muss der Beurteilung ausschließlich zugrundegelegt werden. Bei Teilverlusten oder Einschränkungen wird der entsprechende Bruchteil des Invaliditätsgrades des Körperteils bestimmt (z. B. 1/2 Fußwert, 1/10 Armwert). > Bei den nicht in der Gliedertaxe (. Tab. 2.1) enthaltenen Schäden muss immer ausschließlich berücksichtigt werden, inwieweit die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit durch den Unfallschaden beinträchtigt ist. Liegen mehrere Unfallschäden vor, werden anders als in der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) in der PUV die einzelnen Invaliditätsgrade addiert (§ 7 I.2. AUB). Eine abschließende Beurteilung der unfallbedingten Schäden erfolgt am Ende des 3. Jahres nach dem Unfall.
forderlich, dass ein besonderes betriebliches Risiko, ungewöhnliche Einwirkungen oder außergewöhnliche Belastungen auftreten. Das bedeutet, dass betriebsübliche Belastungen und Vorkommnisse, wie sie auch im unversicherten außerberuflichen Umfeld auftreten, einen Unfall darstellen können, wenn sie zu einem Gesundheitsschaden führen. Somit umfasst der Schutz der GUV nicht nur betriebsbedingte Risiken, sondern auch Gefahren des täglichen Lebens, wenn diese infolge der versicherten Tätigkeit, also in der Regel der Berufsausübung, aufgetreten sind. Dass der gleiche Unfall auch in der Freizeit hätte auftreten können, ist rechtlich nicht haltbar. Auch die Frage, ob die Belastung physiologisch war, spielt bei der Annahme als Unfallereignis keine Rolle, da der Versicherte individuell geschützt ist, also auch mit seinen potenziellen degenerativen Vorschäden. Somit kann im Einzelfall ein Unfallereignis bereits unphysiologisch sein, welches beim Gesunden keinerlei Folgen gehabt hätte. Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs spielt weiterhin in der Begutachung in der GUV eine große Rolle. Es muss eine methodisch exakte Prüfung erfolgen, hierbei muss zunächst geklärt werden, ob das Unfallereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Conditio sine qua non für den Eintritt des Gesundheitschadens ist. Das bedeutet: Das Unfallereignis kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass gleichzeitig auch der Gesundheitsschaden entfällt. Vorsicht ist in diesem Zusammenhang geboten mit den Begriffen Gelegenheitsursache und Schadensanlage. Hier wird nicht selten darauf abgehoben, dass eine bestehende Schadensanlage die allein wesentliche Ursache für das Eintreten des Gesundheitsschadens sei und der fragliche Unfall nur eine Gelegenheitsursache. Davor muss aber auch die Frage gesetzt werden, ob das Unfallereignis mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Conditio sine qua non für den Eintritt des Gesundheitschadens ist (s. oben).
4.7
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) > Anders als in der PUV gilt hier abhängig vom Schadensereignis das Alles-oder-Nichts-Prinzip. Liegt ein geeignetes Unfallereignis in versicherungsrechtlicher und kausaler Hinsicht vor, werden sämtliche Folgeschäden ohne Abstriche durch vorbestehende Krankheiten oder degenerative Schäden anerkannt.
Die Frage, ob ein Unfall im Rechtssinne vorliegt, ist jedoch vom Unfallversicherungsträger oder dem jeweiligen Gericht zu entscheiden und dem Gutachter vorzugeben. Die Definition des Unfalls ist in der GUV deutlich weiter gefasst. Es genügen hier auch Ereignisse wie Stolpern, Umknicken oder auch Einwirken von großen Kräften, z. B. beim Auffangen schwerer Lasten. Es ist nicht er-
4.7.1 Berufsausübung
Bei vielen entzündlichen und degenerativen Erkrankungen der Gelenke bestehen zum Teil erhebliche Einschränkungen der manuellen bzw. feinmotorischen Fertigkeiten sowie der Kraftausübung. Somit können Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an die Greiffunktion und Feinmotorik der Hände stellen, nur bedingt ausgeübt werden. Schwierigkeiten bestehen zudem bei Tätigkeiten, welche die Gelenke und die Wirbelsäule einseitig beanspruchen, z. B. länger dauernde Arbeiten in ungünstiger Körperhaltung, verbunden mit statischer Muskelarbeit, regelmäßiges Heben und Tragen von schweren Gegenständen, häufiges Bücken sowie häufiges Treppenstei-
4
108
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
gen, Arbeiten an Maschinen oder Fließbändern. Vermehrte Kälte- und Nässeexposition kann sich ebenfalls negativ auf eine Reihe von entzündlichen und degenerativen Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen auswirken. Durch frühzeitig eingeleitete, individuell abgestimmte medikamentöse und physikalische Behandlungsmaßnahmen kann die Funktionsfähigkeit der beeinträchtigten Organe des Stütz- und Bewegungsapparats erhalten bzw. verbessert werden. Zudem können die Funktionseinschränkungen durch die Schaffung günstigerer Arbeitsbedingungen bzw. eine bedarfsgerechte Ausstattung des Arbeitsplatzes zum Teil oder vollständig kompensiert werden. Bei einer Vielzahl von Berufen, insbesondere bei handwerklichen Tätigkeiten, sind solche Maßnahmen allerdings begrenzt, sodass im Einzelfall gezielte Maßnahmen zur Umschulung ergriffen werden sollten. Einschränkungen bestehen zum Teil auch durch medikamentöse Therapien, so können z. B. zahlreiche Schmerztherapeutika die Reaktionsfähigkeit und die Vigilanz des Beschäftigten teilweise erheblich beeinträchtigen. Immunsuppressive Therapien führen zu einer Unterdrückung der körpereigenen Abwehr und können somit zu einer gesteigerten Infektneigung führen. Beschäftigte, die vermehrt mit pathogenen Keimen in Kontakt kommen (z. B. Krankenhauspersonal, Tierpfleger etc.) sind somit ggf. einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt.
Kommentar Sofern Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats bereits zum Zeitpunkt der Berufswahl bestanden, sind diese entsprechend zu berücksichtigen und ggf. das zuständige Arbeitsamt bzw. Berufsförderungswerk oder die Hauptfürsorgestelle einzuschalten.
Verletzungsfolgen an den Extremitäten sind in der Regel im Gegensatz zu entzündlich-rheumatischen und degenerativen Erkrankungen nicht als progredient zu betrachten und führen daher in der Regel lediglich zu einer zeitlich begrenzten Einschränkung. Zu erwähnen sind jedoch postraumatische degenerative Gelenkveränderungen bzw. sekundäre Fehlstellungen und Insuffizienzen der angrenzenden Muskulatur und des Kapsel-Band-Apparates, die sich zum Teil erst nach Jahren manifestieren und zu subjektiven Beschwerden und Funktionsdefiziten führen können. > Ziel der Begutachtung ist eine Bewertung des aktuellen Leistungsbildes, um dem Patienten, dem Kostenträger sowie dem Arbeitsamt und dem Rentenversicherungsträger Empfehlungen bezüglich der Berufsausübung bzw. zur Notwendigkeit einer Berentung zu geben. Zusätzlich
sind Empfehlungen zur Ausstattung des Arbeitsplatzes zu geben (z. B. Angaben zu Sitz- und Arbeitshöhe, Sitz- oder Stehhilfen, Rollstuhleignung u. a.).
4.7.2 Fahrereignung
Die Prüfung der Fahrtauglichkeit bzw. Fahrereignung ist in den »Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung« (Bundesanstalt für Straßenwesen) geregelt. Insbesondere bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen muss der schubweise und progrediente Verlauf berücksichtigt werden, sodass ggf. Nachbegutachtungen notwendig sein können. Zu beachten ist, dass bei entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankungen Schmerzen und Allgemeinsymptome (Fieber, Anämie, Schlafstörungen) die Aufmerksamkeit und die Reaktionsfähigkeit einschränken und somit zumindest zu einer vorübergehenden Fahruntauglichkeit führen können. Bestimmte Medikamente (u. a. nichtsteroidale Antiphlogistika, Opioide) können die Reaktionsfähigkeit und die Vigilanz des Fahrers einschränken. Außer bei Opioidpräparaten besteht bei den gängigen Arzneimitteln, die in der Therapie rheumatischer Erkrankungen angewendet werden, keine Missbrauchs- oder Intoxikationsgefährdung. Bei der Überprüfung der Fahrereignung müssen bei Erkrankungen des Bewegungs- und Halteapparats alle bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt werden, da hierbei behördlicherseits Auflagen und Beschränkungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis ausgesprochen werden können. Des Weiteren muss beurteilt werden, ob die Fähigkeit, ein Kraftfahrzeug zu führen, vorübergehend oder dauerhaft bzw. teilweise oder vollständig eingeschränkt ist und welche technischen Hilfsmittel bzw. Umrüstungen erfoderlich sind. Für fast alle Fahrzeugtypen ist ein fachärztlich-orthopädisches oder chirurgisches Gutachten nach den Begutachtungsrichtlinien notwendig.
Kommentar Detaillierte Angaben über die Voraussetzungen und Maßnahmen bei bestimmten Funktionseinschränkungen und Behinderungen finden sich in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung.
Die Fahrerlaubnis kann auf Fahrzeuge, die entsprechend der vorliegenden Funktionsbeeinträchtigung umgerüstet worden sind, beschränkt werden. Der Führerscheinbewerber bzw. -besitzter erhält in der Regel bestimmte Auflagen.
109 4.9 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
4.8
Risikobeurteilung
4.8.1 Entzündliche Erkrankungen des
Bewegungsapparates > Entzündlich-rheumatische Erkrankungen sind chronische Krankheiten und verlaufen in der Regel progredient, sodass das Risiko einer dauerhaften Invalidität bei vielen Patienten als sehr hoch angesehen werden muss.
Viele Erkankungen weisen einen schubförmigen Charakter auf, sodass die gutachterliche Beurteilung des Funktionsstatus und der Prognose in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Untersuchung häufig schwierig ist. Generell ist aufgrund des heterogenen Verlaufs der meisten Erkrankungen eine Beurteilung der Prognose und des Risikos nur unter Berücksichtigung des bisherigen Krankheitsverlaufs und weiterer individueller Faktoren möglich. Aktuelle Studiendaten belegen, dass sich die frühzeitige Therapieintervention und eine engmaschige Überwachung der Patienten prognostisch günstig auf den Krankheitsverlauf auswirken. Durch die Entwicklung neuer hochwirksamer Medikamente (Biologicals) und neuer Instrumente zur Risikostratifzierung hat sich die Prognose rheumatischer Erkankungen im letzten Jahrzehnt erheblich verbessert, sodass bei einer Vielzahl von Patienten die Remission der Erkrankung ein realistisches Therapieziel darstellt. Außerdem ist der Einsatz physio- und ergotheurpeutischer Maßnahmen von großer Bedeutung, da hierdurch die Folgen der Gelenkdestruktion frühzeitig kompensiert werden können und somit eine Invalidität vermieden oder verzögert werden kann. Neben der Beteiligung des Bewegungsapparates sind bei den meisten entzündlich-rheumatischen Erkrankungen auch systemische Manifestationen zu beachten, die häufig prognostisch sehr relevant sind und mit einer gehäuften Morbidität und Mortalität einhergehen. Patienten mit chronischen inflammatorischen Erkrankungen weisen ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und maligne Erkrankungen und damit einhergehend eine nachweislich reduzierte Lebenserwartung auf. Relevant sind zudem Folgen der medikamentösen Therapie wie Infektionen, Osteoporose und gastrointestinale Ulcera, welche ebenfalls mit einer erhöhten Mortalität und Invalidität sowie einer gesteigerten Hospitalisierungsrate verbunden sind.
rem Maße von individuellen Faktoren abhängig (Übergewicht, Fehl- und Überbelastungen, Fehlstellungen und Achsenabweichungen). Die aktivierte Form der Arthrose nach inadäquater Belastung eines vorgeschädigten Gelenkes kann auch bei einem zuvor asymptomatischen Verlauf zu einer temporären Verschlechterung des Funktionszustandes führen. > Bei Wegfall krankheitsbegünstigender endogener und exogener Faktoren und adäquater therapeutischer Maßnahmen (z. B. Korrektur von Achsenabweichungen, Rehabilitation) können auch manifeste Arthrosen eine günstige Prognose aufweisen.
Die Progose hängt im Wesentlichen von der Art und der Anzahl der betroffenen Regionen ab, insbesondere spielt auch das Verhältnis von tragenden und nicht tragenden Gelenken eine Rolle.
4.8.3 Traumatisch bedingte Erkrankungen des
Bewegungsapparates Folgezustände von Verletzungen beinhalten Instabilitäten von Gelenken bzw. Pseudarthrosebildungen, bestimmte Fehlstellungen sowie Schädigungen der Muskulatur und des Kapsel-Band-Apparates. Die genannten Schädigungen können sich aufgrund der ungünstigen biomechanischen Belastung häufig erst über einen längeren Zeitraum als vorzeitige strukturell irreversible Verschleißerscheinungen der betroffenen Strukturen (vorzeitige Arthrose, Muskelinsuffizienz bzw. -atrophie) manifestieren. Die entsprechenden Beschwerden bzw. Funktionseinschränkungen können den Einsatz von Orthesen oder anderen Hilfsmitteln bzw. eine Reduktion der mechanischen Beanspruchung erforderlich machen. Bei bestimmten Fehlstellungen können zur Wiederherstellung der biomechanischen Stabilität mitunter auch operative Verfahren wie eine Korrekturosteotomie bzw. ein Gelenkersatz oder eine Gelenkversteifung notwendig sein. Operative Eingriffe dieser Art sind zumeist mit einer mehr oder minder langen Rehabilitationszeit sowie mit perioperativen Risiken verbunden. Eine Restitutio ad integrum ist bei fortgeschrittenen Stadien in der Regel nicht zu erwarten, jedoch ist durch eine optimale Behandlung zumeist eine verbesserte Funktion zu erreichen.
4.8.2 Degenerative Erkrankungen des
Bewegungsapparates Bei degenerativen Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule liegen in der Regel irreversible strukturelle Veränderungen des Knochens und Knorpels vor, der Verlauf ist zumeist chronisch progredient und in besonde-
4.9
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Ziel der Rehabilitationsmaßnahmen bei Patienten mit chronischen und traumatischen Erkrankungen des Bewegungs- und Halteapparates ist es, den Behinderten oder
4
110
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 4 · Bewegungsapparat
von Behinderung Bedrohten möglichst auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern. > Renten wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit werden in der Regel erst dann bewilligt, wenn zuvor Maßnahmen der Rehabilitation durchgeführt wurden oder wenn ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwarten ist.
Für Patienten mit entzündlichen, degenerativen oder traumatischen Erkrankungen des Bewegungs- und Halteapparates sollte ein umfassender Rehabilitations- und Therapieplan erstellt werden. Sinnvoll sind Rehabilitationsmaßnahmen vor allem im akuten Schub der Erkrankung, bei einer fortschreitenden Verminderung der Gelenk- oder Wirbelsäulenfunktion oder bei Zustand nach operativen Maßnahmen. Traumatische Gelenk- und Wirbelsäulenschäden gehen vor allem in der Akutphase mit erheblichen Funktionseinschränkungen einher, die Prognose ist jedoch bei optimaler und frühzeitiger Therapie zumeist als günstig anzusehen. Der Schwerpunkt der Rehabilitation liegt in der Regel bei krankengymnastischen und physikalischen Therapien, bedeutend sind zudem ergotherapeutische Maßnahmen, vorwiegend bei komplexeren Funktionsstörungen. Im Falle von schweren Schädigungen mit irreversiblen Behinderungen bis zum Extremitätenverlust kann zumindest in einigen Fällen durch den Einsatz von Prothesen und Orthesen eine (eingeschränkte) Funktionsfähigkeit wiederhergestellt werden, allerdings sind auch hier intensive rehabilitative Maßnahmen essenziell. Vom Gesetzgeber ist eine Zeitspanne von 4 Jahren bis zu einer erneuten Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme festgelegt. Aufgrund des zumeist chronischprogredienten Verlaufs vieler entzündlicher und degenerativer Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule ist jedoch in vielen Fällen eine vorzeitige Wiederholung der Rehabilitation notwendig und bei entsprechender Begründung im Antragsverfahren auch gesetzlich vorgesehen.
Literatur Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie e. V. (2008) Qualitätssicherung in der Rheumatologie, 2. Aufl. Steinkopff, Darmstadt Hettenkofer HJ (2003) Rheumatologie. Diagnostik, Klinik, Therapie, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Kellner H, Gaulrapp H (2001) Entzündliche und degenerative Erkrankungen der Gelenke und der Wirbelsäule. In: Dörfler H, Eisenmenger W, Lippert H-D (Hrsg) Das medizinische Gutachten, Beitrag 8/01. Loseblattsammlung. Springer, Berlin Heidelberg New York Kuipers JG, Zeidler H, Köhler L (2006) Medal Rheumatologie, 1. Aufl. Wiskom, Friedrichshafen Ruddy S, Harris ED, Sledge CB (2004) Kelley‘s textbook of rheumatology, 7th edn. Saunders, Philadelphia
Taylor WJ, Gladman DD, Helliwell PS, Marchesoni A, Mease PJ, Mielants H (2006) Classification criteria for psoriatic arthritis. Arthritis Rheum 54 (8): 2665–2673 Zeidler H, Zacher J, Hiepe F (2008) Interdisziplinäre klinische Rheumatologie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York
Internetadressen Der Orthopäde www.springer.com/medicine/orthopedics/journal/132 Die Zeitschrift widmet sich allen Aspekten der Orthopädie und ihrer Nachbargebiete. Umfassende Übersichtsarbeiten zu diversen Schwerpunktthemen. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie www.dgooc.de/ Informationen und Leitlinien zu einer Vielzahl von Krankheitsbildern des Stütz- und Bewegungsapparats. Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie www.dgrh.de Informationen zu allen rheumatischen Krankheitsbildern, Klassifikationskriterien, Untersuchungsmethoden, Therapie und Prognose. Schwerpunkt Qualitätssicherung und evidenzbasierte Medizin. Zeitschrift für Rheumatologie www.springer.com/medicine/rheumatology/journal/393 Die Zeitschrift widmet sich allen Aspekten der klinischen Rheumatologie, der Therapie rheumatischer Erkrankungen sowie der rheumatologischen Grundlagenforschung. Umfassende Übersichtsarbeiten zu vielen Schwerpunktthemen.
111
Herz H. Schmitz, M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, V. Klauss , H. Gross, E. Kreuzer
5.1
Diagnostik – 112
5.1.1 5.1.2 5.1.3
Untersuchung des Herzkranken – 112 Begutachtungskriterien – 124 Sozialmedizinische Beurteilung – 124
5.2
Perikard und Myokard
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7
Krankheitsdefinition – 126 Fragen zum Zusammenhang – 127 Bewertung nach dem Sozialrecht – 128 Begutachtung privat versicherter Schäden – 130 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 130 Risikobeurteilung – 131 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 132
5.3
Koronare Herzkrankheit
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7
Krankheitsdefinition – 133 Fragen zum Zusammenhang – 134 Bewertung nach dem Sozialrecht – 134 Beurteilung privat versicherter Schäden – 136 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 136 Risikobeurteilung – 137 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
5.4
Endokard und Klappen
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7
Krankheitsdefinition – 138 Fragen zum Zusammenhang – 140 Bewertung nach dem Sozialrecht – 141 Begutachtung privat versicherter Schäden – 143 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 144 Risikobeurteilung – 145 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 145
5.5
Herztraumen und Operationen
5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5 5.5.6 5.5.7
Krankheitsdefinition – 145 Fragen zum Zusammenhang – 147 Bewertung nach dem Sozialrecht – 147 Begutachtung privat versicherter Schäden – 148 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 149 Risikobeurteilung – 149 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 150
Literatur
– 150
– 126
– 133
– 137
– 138
– 145
5
112
Kapitel 5 · Herz
))
1
Erkrankungen des Herzens können zu schweren Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit und damit, trotz optimaler medikamentöser oder auch chirurgischer Therapie, zu persistierenden Einschränkungen im Berufs- und Alltagsleben führen. Eine korrekte Beurteilung dieser Einschränkungen setzt eine ausführliche Diagnostik voraus. Abhängig von Krankheitsentität, funktionellen Einschränkungen und einer Verbesserung der Symptomatik unter Therapie oder einer eventuellen Heilungsbewährung kann der GdB/MdE-Wert bemessen werden. Auch die Eignung für bestimmte Berufe und Tätigkeiten kann aufgrund einer kardialen Erkrankung eingeschränkt sein. Dieses Kapitel soll die Grundlagen zur sozialmedizinischen Begutachtung von Patienten mit kardialen Erkrankungen und darstellen und eine Hilfestellung für den Sachverständigen bieten.
2 3 4 5 6 7 8
. Tab. 5.1. Symptome der Herzinsuffizienz New York Heart Association
5.1
NYHAStadium
Symptome und Beschwerden
I
5 Keine klinischen Symptome 5 Uneingeschränkte Belastbarkeit 5 Objektiv nachweisbar eingeschränkte Herzfunktion
II
5 Klinische Symptome (z. B. Herzstolpern, Dyspnoe, frühzeitige Erschöpfung, Angina pectoris) bei normaler körperlicher Belastung 5 Leicht eingeschränkte Belastbarkeit
III
5 Klinische Symptome (wie Stadium II) bereits bei geringfügiger körperlicher Belastung 5 Stark eingeschränkte Belastbarkeit
IV
5 5 5 5
Symptomatik bereits in Ruhe Weitere Zunahme unter Belastung Unfähigkeit zu körperlicher Arbeit Häufig stationäre Therapie erforderlich
Diagnostik H. Schmitz, M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, V. Klauss
9 10 11 12
. Tab. 5.2. Symptome der Herzinsuffizienz
5.1.1 Untersuchung des Herzkranken
Die meisten Herz-Kreislauf-Krankheiten können durch sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung diagnostiziert werden. Die Diagnose wird durch gezielte ausgewählte, quantifizierende, nicht invasive und invasive technische Verfahren bestätigt und das Ausmaß der Beeinträchtigung festgestellt.
Symptomatik
13 14 15 16 17 18 19 20
Herzerkrankungen haben eine kleine Zahl von Symptomen: 5 Schmerz, 5 Dyspnoe, 5 Schwäche, 5 Ermüdbarkeit, 5 Palpitationen, 5 Benommenheit, 5 Präsynkopen und Synkopen. Außerdem treten Symptome auf, die durch die Herzkrankheit entstehen oder sie begleiten. Die Symptome der Herzinsuffizienz werden in 4 Stadien nach den Angaben der New York Heart Association (NYHA) eingeteilt (. Tab. 5.1). Störungen der Pumpfunktion auf koronarer, myokardialer Ebene oder bei Klappendysfunktion bzw. Herzrhythmusstörungen können zu typischen Beschwerden wie Brustenge, Luftnot, Palpitationen oder Harndrang führen, häufig im direkten Zusammenhang mit bestimmten Tätigkeiten und Zeiten. Symptome der Herzinsuffizienz
Rechtsherzinsuffizienz
Linkssherzinsuffizienz
5 Druck in der Lebergegend/druckdolente vergrößerte Leber 5 Meteorismus 5 JVP erhöht 5 Ödeme 5 Aszites 5 Proteinurie
5 Belastungsdyspnoe 5 Orthopnoe 5 Nächtliches Asthma cardiale 5 Lungenstau 5 Lungenödem 5 Hämoptoe 5 Protodiastolischer Galopp 5 Pulsus alternans
(. Tab. 5.2) weisen auf das Vorliegen einer Rechts- bzw. Linksherzinsuffizienz hin. Palpitationen können bei Normalpersonen – oder als Ausdruck erhöhten Schlagvolumens – nichtkardialen Ursprungs sein (körperliche Belastung, Thyreotoxikose, Anämie oder Aufregung). Auch ein herzbedingtes erhöhtes Schlagvolumen (Herzklappeninsuffizienz, Bradykardie, Herzrhythmusstörungen oder ventrikuläre Extrasystolen) wird als extra oder fehlender Herzschlag wahrgenommen. Supraventrikuläre und ventrikuläre Tachykardien können als rasche, regelmäßige oder unregelmäßige Palpitationen oder Flattern empfunden werden. Viele Patienten bleiben dabei jedoch symptomlos. Sinkt im Rahmen dieser Störungen der arterielle Blutdruck oder der »cardiac output« ab, kann es – besonders im Stehen – zur Verminderung der Hirndurchblutung mit folgender Schwindelneigung oder Sehstörungen bis zum Bewusstseinsverlust (Synkope) kommen.
113 5.1 Diagnostik
Die kardiogene Synkope beruht meist auf dem Verlust des Sinusknotenimpulses, atrioventrikulären Blocks, einer ventrikulären Tachykardie oder Kammerflimmern. Es bestehen wenige Prodromalsymptome, sodass Verletzungen häufig nicht vermeidbar sind. Das Fehlen von Vorsymptomen trägt zur Differenzierung kardiogener Synkopen, zur vasovagalen Reaktion, postprandialer Hypotonie oder zum Krampfanfall bei. Auch bei rascher Erholbarkeit können Patienten krampfähnliche Bewegungen zeigen. Aortenklappenerkrankungen und hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie führen am häufigsten bei Anstrengung oder danach zur Synkope. Ödeme treten als subkutane Flüssigkeitsansammlung bei ambulanten Patienten zunächst in den unteren Extremitäten oder bei bettlägerigen Patienten in der Sakralregion auf. Herzkranke mit erhöhtem rechtsatrialen Druck zeigen diese Ödeme in abhängigen Partien. Die Rechtsherzinsuffizienz folgt in der Regel auf die Linksherzinsuffizienz auch wenn die Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz deutlicher sind. Ödeme können auch durch Erkrankungen des Perikards, Rechtsherzklappenläsionen und Cor pulmonale bedingt sein. Ödeme treten auch bei Klappeninsuffizienz peripherer Venen, Venenthrombose, nephrotischem Syndrom, Leberzirrhose, prämenstrueller Flüssigkeitsretention oder idiopathisch auf. Bei fortgeschrittener Rechtsherzinsuffizienz kann Aszites in Verbindung mit peripheren Ödemen auftreten.
Klinische Untersuchung Zeichen der Herzerkrankung Die Zyanose kann zentral bei arterieller Sauerstoffdesaturation oder peripher durch verminderte Sauerstoffversorgung der Gewebe mit ausreichend O2-gesättigtem Blut bei niedrigem Schlagvolumen, Polyzythämie oder peripherer Vasokonstriktion sein. Die zentrale Zyanose kann durch Lungenerkrankungen, Linksherzinsuffizienz oder Rechtslinks-Shunt bedingt sein. Letzterer wird durch Sauerstoffeinatmung nicht verbessert. > Blässe weist am häufigsten auf Anämie hin, ist jedoch auch ein Zeichen für niedrigen »cardiac output«.
Periphere Pulse Die Abschwächung arterieller peripherer Pulse ist am häufigsten durch arteriosklerotische Veränderungen bedingt und kann von Strömungsgeräuschen begleitet sein. Asymmetrie der Pulse kann auf Aortenisthmusstenose, Aortendissektion oder vorangegangene Herzkatheteruntersuchungen zurückzuführen sein. Überhöhter Puls mit schnellem Druckanstieg und hoher Amplitude kann als »Wasserhammerpuls«, »pulsus celer et altus« auf eine schwere Aorteninsuffizienz mit noch guter systolischer LV-Funktion (EF >60%), ein hohes Schlagvolumen durch den diastolischen Rückfluss,
niedrigen diastolischen Druck bedingt durch diastolischen Rückfluss sowie niedrigen peripheren Gefäßwiderstand bei volumenbedingter Überdehnung des Carotis- und Aortensinus hinweisen. Ebenso können Anämie, persistierender Ductus arteriosus, Aortenisthmusstenose, Hyperthyreose oder Schwangerschaft vorliegen. Der Carotispuls trägt zur Beurteilung der linksventrikulären Ejektionsfraktion bei. Der langsame Anstieg ist bei Aortenklappenstenose typisch, ein zweigipfliger Puls (pulsus bispheriens) kann bei kombiniertem Aortenklappenvitium oder hypertropher obstruktiver Kardiomyopathie vorliegen. Eine Abschwächung des systolischen arteriellen Pulses während Inspiration von mehr als 10 mm Hg (pulsus paradoxus) weist auf eine vorliegende Perikardtamponade hin, kann jedoch auch bei Asthma und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung vorkommen.
Jugularvenenpuls Der Jugularvenenpuls gibt Hinweise auf den rechtsatrialen Druck. In 30° Oberkörperlagerung deutet ein Anstieg >3 cm über dem Sternokleidomastoideusrand auf einen erhöhten zentralvenösen Druck hin; bei hepatojugulärem Reflux mit 1 cm auf ein erhöhtes zentrales Blutvolumen, bei überhöhter A-Welle auf Trikuspidalstenose oder pulmonale Hypertonie und auf Trikuspidalinsuffizienz, wenn hohe CV-Wellen sichtbar sind. Bei Letzterem kann auch eine Leberpulsation tastbar sein. Intermittierende kanonenartige A-Wellen deuten auf atrioventrikuläre Dissoziation bei AV-Überleitungsblock oder ventrikuläre Arrhythmien hin.
Pulmonale Befunde Basale feinblasige Rasselgeräusche deuten auf Linksherzinsuffizienz, trockene Rasselgeräusche (Pfeifen und Brummen) auf obstruktive Atemwegserkrankung hin, kommen jedoch auch bei Linksherzinsuffizienz vor. Rechts- oder beidseitiger Pleuraerguss mit Schallverkürzung und vermindertem Atemgeräusch finden sich bei Linksherzversagen.
Präkordiale Pulsationen Diese sprechen z. B. als parasternales Heben für eine rechtsventrikuläre Hypertrophie, pulmonalen Hochdruck (>50 mm Hg) oder linksatriale Vergrößerung. Fortgeleitete Pulmonalarterienpulsationen können an der Brustwand sichtbar werden. Der linksventrikuläre Herzspitzenstoß kann bei Linksherzhypertrophie oder Dysfunktion verstärkt oder verbreitert sein. Ein kräftiger Herzspitzenstoß ohne Verbreiterung kann Ausdruck einer Volumenbelastung oder bei hohem »cardiac output« bestehen. Zusätzliche präkordiale Pulsationen können Ausdruck regionaler Wandbewegungsstörungen der linksventrikulären Kontraktion sein.
5
114
Kapitel 5 · Herz
Herztöne und Geräusche
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Die Herzauskultation hilft bei der Diagnostik vieler Herzkrankheiten einschließlich Herzinsuffizienz. Der erste Herzton (S1) ist bei ausgeprägter linksventrikulärer Dysfunktion abgeschwächt und bei Mitralstenose oder kurzem AV-Intervall betont. Der zweite Herzton (S2) ist üblicherweise gespalten mit aortaler und pulmonaler Komponente (A1, P2) mit Zunahme der Spaltung während Inspiration. Eine fixierte Spaltung liegt bei Vorhofseptumdefekt, eine weite Spaltung bei Rechtsschenkelblock oder fehlende Spaltung (paradoxe Spaltung) bei Aortenstenose, Linksherzinsuffizienz oder Linksschenkelblock vor. Normale Spaltung und betonter P2 deuten auf pulmonale Hypertonie hin. Dritter und vierter Herzton (ventrikulärer und Vorhofgalopp) sprechen für ventrikuläre Volumenbelastung oder Compliance-Störung mit Punctum maximum (PM) über dem betroffenen Ventrikel. Ein apikal hörbarer dritter Herzton (S3) findet sich häufig bei jungen Menschen und in der Schwangerschaft. Zusätzliche Befunde wie ein scharfer hochfrequenter Ton (Click) sprechen frühsystolisch als Auswurfton für eine bikuspidale Aortenklappe oder Pulmonalstenose und spätsystolisch für strukturelle z. B. myxomatöse Änderungen der Mitralklappe. Viele Herzgeräusche deuten auf Herzklappenerkrankungen. Ein weiches kurzes systolisches Geräusch linksparasternal oder zur Herzspitze reichend kann lediglich Ausdruck des Pulmonalarterienflusses sein. Holosystolische Geräusche mit Beginn am ersten Herztons und Dauer während der gesamten Systole von der Herzspitze zur Axilla fortgeleitet sind typisch für Mitralinsuffizienz oder parasternal für Trikuspidalinsuffizienz oder Ventrikelseptumdefekt. Die Verbindung dieser Geräusche mit palpablen Vibrationen ist immer klinisch von Bedeutung, ebenso wie auch diastolische Geräusche.
Elektrokardiographie
14
Das Elektrokardiogramm registriert die Aktionspotenziale des Herzmuskels ohne oder mit Veränderungen durch
15 16
. Tab. 5.3. Klassifizierung ventrikulärer Rhythmusstörungen nach Lown Grad
VES
17
0
Keine VES
I
≤30 VES/h, auch multiform
18
II
>30 VES/h
19 20
Herzkrankheiten, Hinweise auf anatomische oder funktionelle Veränderungen, extrakardiale Störungen der Elektrolyte und des Stoffwechsels und der zwischen Herz und Körperoberfläche liegenden Gewebe. Normale oder gestörte Zeitintervalle der Erregungsbildung, -ausbreitung und -rückbildung, Schrittmacherpotenziale und deren Wirksamkeit werden aufgezeichnet. Pathologische Überlastungen des Herzens (Vorhof-, Kammerhypertrophie rechts und/oder links) sind spezifischer als rein deskriptiv zu beschreibende »Störungen der Repolarisation«. Die Lokalisation und Verlaufsbeobachtung bei Myokardinfarkt und bei Herzrhythmusstörungen (z. B. nach der Lown-Klassifikation; . Tab. 5.3) ist sehr bewährt.
Ruhe-EKG Das Ruhe-EKG zeigt den Grundrhythmus und Störungen der Erregungsausbreitung und -rückbildung.
Belastungs-EKG > Das Belastungs-EKG stellt die Basis in der Ischämiediagnostik bei der KHK dar.
Erkenntnisse zu Blutdruckverhalten, körperlicher Leistungsfähigkeit, Trainingsherzfrequenz und möglicherweise auftretende Herzrhythmusstörungen sind zusätzliche Informationen in den Belastungsstufen. Vor Beginn der Ergometrie wird die Anamnese einschließlich Zwischenanamnese zur Erfassung der Symptomatik und aktuellen Medikation durchgeführt. Die Therapie mit Digitalis, β-Blockern und Antiarrhythmika können das Ergebnis des Belastungs-EKG beeinflussen. Eine Herzinsuffizienz wird durch klinische Untersuchung mit Auskultation des Herzens und der Lunge, Blutdruckmessung und Herzfrequenz sowie Ruhe-EKG erfasst. Auch bei Herzrhythmusstörungen sind neben der ergometrisch erhobenen Leistungsfähigkeit (. Tab. 5.4) die damit verbundenen klinischen Symptome (Schwindel, Synkopen; . Tab. 5.5 bis 5.7) für die Bestimmung von MdE bzw. GdB entscheidend. > Während der Belastungsuntersuchung müssen Möglichkeiten zur adäquaten Behandlung von Notfällen bis hin zur Reanimation gegeben sein.
. Tab. 5.4. Hämodynamische Auswirkungen von Herzrhythmusstörungen GdB/MdE
≤3 Episoden/h von Bigeminus bzw. Couplets
Keine
0–10
III
>30 multiforme VES/h
Leicht Geringe Belastungsinsuffizienz
20–40
IVa
>3 Episoden/h von Bigeminus bzw. Couplets Schwer Belastungsinsuffizienz
50–80
≤5 VES in Sequenz
115 5.1 Diagnostik
. Tab. 5.5. GdB/MdE bei Herzrhythmusstörungen Symptomatik
Erkrankung des Sinusknotens
AV-Blockierungen
Supraventrikuläre Tachykardien
Keine
0
0–30
0
Selten
0–20
30–50
10–20
Häufig
20–40
50–70
20–40
Wiederholte Synkopen
30–50
100
40–50
5 ein entsprechend dem MPB-Betrieb V überprüfter Defibrillator sowie täglich durchgeführte Funktionskontrollen desselben, 5 Ausrüstung zur Intubation, 5 Geräte zur Infusionstherapie und Infusionslösungen, 5 Notfallmedikamente (z. B. Nitrate als Spray oder s.l. Adenosin, Ajmalin, Atropin, Katecholamine, Lidocain, Amiodaron, β-Blocker, Diazepam), 5 Vorkehrungen zur sofortigen O2-Gabe per Nasensonde, 5 eine Liege, auf der ein Patient im Notfall und/oder nach Belastungsende gelagert werden kann.
ein Monitor notwendig, der permanent den EKG-Verlauf in mindestens 3 Ableitungen zeigt. Die Durchführung eines adäquaten Arbeitsversuches erfordert während der gesamten Untersuchung die Präsenz ausgebildeten medizinischen Fachpersonals. Diese Mitarbeiter sind für sorgfältiges Anlegen der Elektroden, eine kontinuierlich gute EKG-Registrierung, die Überwachung des Patienten während der gesamten Untersuchung und in der Nachbeobachtungsphase mit Messung der Herzfrequenz und des Blutdruck verantwortlich. Die Untersuchung erfolgt immer unter Supervision eines Arztes, der über eine Qualifikation zur Durchführung von Belastungs-EKG verfügt. Bei Notfallsituationen muss der Arzt sofort zur Verfügung stehen. Für die Durchführung einer Ergometrie ist ein standardisiertes Protokoll erforderlich. Die Belastungsuntersuchung muss dynamisch durchgeführt werden, dosierbar und reproduzierbar sein. Eine Ausbelastung ist unbedingt anzustreben. Die Ausbelastungsfrequenz ist individuell variabel und kann aus der Formel 220–Alter (Jahre) bei einem Toleranzbereich von 10–12 Schlägen/min abgeschätzt werden (gültig nur für Patienten ohne frequenzbeeinflussende Medikation). Die Belastungsstufen sollten entsprechend dem Trainingszustand des Probanden in gleichen Stufen gesteigert werden. Die EKG sollten fakultativ 1-minütlich, obligat 2-minütlich und auch beim Auftreten von Symptomen oder EKG-Veränderungen aufgezeichnet werden. Nach Belastungsende werden EKG-Registrierungen für mindestens 5 Minuten alle 1–2 Minuten aufgezeichnet und analysiert. Zu diesem Zeitpunkt werden auch die Herzfrequenz und der Blutdruck gemessen und dokumentiert. Die Bewertung der Belastungsuntersuchung erfolgt nach den Leitlinien zur Ergometrie der DGK.
Durchführung
Langzeit-EKG
Am häufigsten wird die Belastungsuntersuchung mittels Fahrradergometrie im Sitzen oder halbliegender Position durchgeführt. Auch Laufbandergometer mit veränderbarem Neigungswinkel und/oder Geschwindigkeit kommen zur Anwendung. Für die Beurteilung des BelastungsEKG sind 12 Ableitungen (6 Brustwandableitungen, 6 Extremitätenableitungen) notwendig. Eine 6-Kanal-Registrierung ist mindestens erforderlich. Zur kontinuierlichen Überwachung während einer Belastungsuntersuchung ist
Die Langzeitelektrokardiographie ist eine anerkannte Methode zur diagnostischen Abklärung von anfallsweise auftretenden Symptomen, die durch Herzrhythmusstörungen bedingt sein können. Sie ist darüber hinaus zur Kontrolle einer antiarrhythmischen Pharmakotherapie geeignet.
. Tab. 5.6. Präexzitationssyndrome (AV-Knotentachykardie) Symptomatik
GdB/MdE
Tachykardie
0
Synkope
10–40
Tachykardie + Synkope
30–100
. Tab. 5.7. GdB/MdE bei ventrikulären Tachykardien (VT) Dauer der VT
Synkopen
GdB/MdE
<30 Sekunden
–
20–50
<30 Sekunden
Ja
60–100
>30 Sekunden
–
20–70
>30 Sekunden
Ja
80–100
Es ist zwingend erforderlich, dass folgende Notfallausrüstung zur Verfügung stehen muss:
Durchführung
Zur Durchführung eines Langzeit-EKG ist die Anamnese bezüglich der Symptomatik kardialer Vorerkrankungen
5
116
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Herz
sowie der aktuellen Medikation erforderlich. Der Nachweis von Myokardischämien in Form von intermittierenden ST-Streckenveränderungen findet sich als Indikation in den Richtlinien zum Langzeit-EKG. Bei niedriger Sensitivität, bei erheblichem zeitlichem Aufwand und der Notwendigkeit standardisierter Ableitungen (3 und mehr) hat die ST-Streckenanalyse heute in der Praxis an Bedeutung verloren und stellt aufgrund verbesserter sonstiger Möglichkeiten zur Ischämiediagnostik sicherlich nur noch eine Ausnahmeindikation dar. Insbesondere zum Ischämienachweis bei asymptomatischen Patienten ist das Langzeit-EKG nicht geeignet, da mit einem hohen Prozentsatz falsch positiver Befunde gerechnet werden muss. Die Aufzeichnung des Langzeit-EKG erfolgt mittels Festspeicherrecorder (Speicherung digitaler Daten) oder mit einem Kassettenrecorder (analoge Aufzeichnung). > Die kontinuierliche Aufzeichnung über 24 Stunden wird empfohlen, eine minimale Aufzeichnungsdauer von 18 Stunden ist unerlässlich.
Befundung und Dokumentation
Die Dokumentation und Archivierung muss neben dem Datum auch die Dauer der Aufzeichnung des LangzeitEKG, den Grundrhythmus, die minimale, maximale und mittlere Herzfrequenz umfassen. Zeitpunkte, Dauer, Anzahl und Beispiele von aufgetretenen Herzrhythmusstörungen sowie eine evtl. durchgeführte Herzfrequenzvariabilitätsanalyse sind ebenfalls zu erfassen. Eine EDV-gestützte Auswertung bedarf immer einer kritischen Kontrolle und ist als alleinige Befundung nicht ausreichend. Eine Validierung der EDV-gestützten Auswertung durch den verantwortlichen Untersucher, der über die Qualifikation zur Befundung von Langzeit-EKG verfügt, muss immer erfolgen. Die Überprüfung und Validierung des Langzeit-EKG sollte möglichst monitorgestützt direkt an der Auswerteeinheit erfolgen. Für die Beurteilung ist die Kenntnis der Anamnese, des klinischen Befundes und der Vormedikation sowie ggf. Schrittmacherprogrammierung unbedingt erforderlich. Die Befundung umfasst die Zusammenfassung der dokumentierten Daten mit Angabe des Herzrhythmus, Klassifizierung und Quantifizierung aufgetretener Herzrhythmusstörungen sowie deren Interpretation und eine Empfehlung zu den therapeutischen Konsequenzen sowie den ggf. zusätzlich erforderlichen diagnostischen Maßnahmen.
Kommentar Bei antikoagulierten Patienten erhöht sich die GdB/ MdE um 10.
Echokardiographie – Dopplerechokardiographie Die Echokardiographie ist Mittel der Wahl zur schnellen und sicheren Abklärung der Strukturen und Funktion der Herzwände und Herzklappen in der symptombezogenen Differenzialdiagnostik. Der Nachweis einer normalen linksventrikulären systolischen Funktion bei Ejektionsfraktion von >60% (fraktionelle Faserverkürzung >26%) kann bei Patienten global oder regional vermindert sein.
Regional reduzierte linksventrikuläre Funktion Das Vorliegen einer Wandbewegungsstörung (Hypokinesie, Akinesie oder Dyskinesie) spricht für eine lokale Ischämie und koronare Herzkrankheit. Die Unterscheidung zwischen akuter und chronischer Ischämie ist im Ruheechokardiogramm nicht möglich, wenn auch verstärkte Kontraktilität der nichtischämischen Wandabschnitte für eine akute Ischämie spricht und alte transmurale Narben mit verringerter Wanddicke und systolischer Verdickung häufig sind. Die Diagnose des akuten Herzinfarktes ist nur durch ergänzende Untersuchungen (EKG, Labor) möglich. Technische Verbesserungen der räumlichen und zeitlichen Darstellung (»second harmonic imaging«) und Gewebedoppler tragen zur besseren Beurteilung der linksventrikulären Funktion bei. Im sog. »strain rate imaging« lässt sich die tatsächliche regionale Verformungsgeschwindigkeit und Verformung abbilden. Die konventionelle Gewebedoppleruntersuchung zeigt die absolute Bewegung von einem definierten Punkt zum Schallkopf. Ohne Differenzierung der dazwischenliegenden Strukturen zeigt das »strain rate imaging« eine spezifische lokale Wandanalyse zur regionalen Verformungsgeschwindigkeit (»strain rate«) und Stärke der Verformung (»strain«). Darüber hinaus objektiviert das »strain rate imaging« diastolische Relaxationsstörungen und identifiziert die Pseudonormalisierung des transmitralen Einstroms als gestörtes diastolisches Füllungsmuster. Kontrastechokardiographische Untersuchungen können Aussagen über den postinterventionellen Reperfusionserfolg auf kapillarer Ebene machen. Es können frühzeitig nicht durchblutete Areale nachgewiesen werden. Kapillargängige Echokontrastmittel zeigen die tatsächliche Perfusion der Herzmuskulatur auch quantitativ. Im klinischen Alltag bzw. zur Begutachtung sind diese Methoden noch nicht eingesetzt.
Stabile koronare Herzkrankheit Regionale linksventrikuläre Funktionsstörungen beim akuten Herzinfarkt sind bei vorliegender stabiler koronarer Herzkrankheit (»stabile Angina pectoris«) weniger aussagekräftig. Herzkranzgefäße sind echokardiographisch nicht darstellbar. Die Stressechokardiographie ist die Methode der Wahl bei Vorliegen einer koronaren Herzkrankheit. Neben der ergometrischen Belastung (Fahrrad, Laufband) werden
117 5.1 Diagnostik
vor allem Dobutamin, Dipyridamol und Adenosin als medikamentöse Stressoren eingesetzt. Am häufigsten wird Dobutamin (positiv inotrop, chronotroper Effekt) eingesetzt. Dipyridamol und Adenosin führen lediglich über ein koronares Steal-Phänomen zum Perfusionsdefekt und einer Störung der Kontraktion.
Gewebedoppler Neben der konventionellen transthorakalen Echokardiographie können zur Erhöhung der Sensitivität auch bei Stressechokardiographie Gewebedopplerverfahren eingesetzt werden. Sie liefern zusätzliche Informationen zur Quantifizierung und zum zeitlichen Ablauf der Kontraktion. Während sowohl beim Gewebedoppler als auch bei der konventionellen Echokardiographie die Funktion des linksventrikulären Myokards im Vordergrund steht, macht es die Myokardkontrastechokardiographie möglich, zusätzlich auch die myokardiale Perfusion einzuschätzen und somit zum frühzeitigen Erfassen der funktionellen Bedeutung von Koronarstenosen beitragen.
Echokardiographische Beurteilung der Vitalität Nicht nur Kernspintomographie oder Myokardszintigraphie liefern in Form von stressinduzierter verbesserter Kontraktion bei in Ruhe akinetischen Wandabschnitten einen Nachweis für die Vitalität des Gewebes (»hibernating myocardium«). Auch im »strain rate imaging« lässt sich eine Restfunktionalität von Wandabschnitten vermuten. Ein prognostischer Wert der Stressechokardiographie zur Evaluation nach Myokardinfarkt oder Revaskularisierung ist belegt. Größere und vor allem transmural betroffene Wandabschnitte können gut quantifiziert werden. Die Beurteilung subendokardialer Narben sowohl durch Gewebedopplermethoden als auch konventionelle Echokardiographie erlauben keine vollständige Diagnose des Myokards.
Global reduzierte linksventrikuläre systolische Funktion Echokardiographisch nachweisbare regionale Wandbewegungsstörungen weisen auf eine vorliegende koronare Herzkrankheit hin. Bei globaler Wandbewegungsstörung können andere Störungen außer Mehrgefäßerkrankungen, also auch Herzmuskelkrankheiten, hypertensive Herzerkrankungen, Myokarditis oder Regurgitationsvitien, eine globale systolische Dysfunktion verursachen. Eine linksventrikuläre Dilatation kann bei allen diesen Krankheiten aufgrund erhöhten linksventrikulären enddiastolischen Drucks eintreten und zu einer Vergrößerung des kurzen linksventrikulären enddiastolischen Durchmessers (LVEDD >56 mm) führen. Nicht dilatierte, aber global funktionseingeschränkte linke Ventrikel, die mit perikardialen Separationen assoziiert sind, finden sich häufig bei einer akuten oder auch subakuten Myokarditis, sodass die Diagnose bei klinischer Symptomatik (Perikardreibe-
schmerz), EKG-Befund und Infektanamnese gestellt werden kann. Bei global eingeschränkter linksventrikulärer Funktion muss vor allem bei entsprechender Risikokonstellation auch der Ausschluss einer koronaren Herzerkrankung erfolgen, da echokardiographisch keine Unterscheidung zu einer dilatativen Kardiomyopathie möglich ist. Neben den primär myokardialen Ursachen einer global reduzierten systolischen linksventrikulären Funktion sind es vor allem Klappenvitien, die eine solche linksventrikuläre Dysfunktion induzieren. Ein klassisches Beispiel ist dabei die Aortenklappeninsuffizienz, die durch ein erhöhtes Pendelvolumen zu einer sowohl enddiastolischen (kompensiertes Stadium) als auch zu einer endsystolischen (Spätstadium: beginnende Dekompensation) linksventrikulären Dilatation führen kann.
Differenzialdiagnosen Aortenklappenstenose
Eine wichtige Differenzialdiagnose zur stabilen koronare Herzerkrankung ist die Aortenklappenstenose, insbesondere, da sie häufig auch mit einer belastungsinduzierten Angina pectoris einhergeht. Echokardiographisch zeigt sich eine eingeschränkte Separation zumeist in Form einer stark verkalkten Klappe mit erhöhten Strömungsgeschwindigkeiten und dem Bild einer konzentrischen linksventrikulären Hypertrophie. Der Spektraldoppler misst dabei den Schweregrad, indem er den maximalen und den mittleren Gradienten bestimmt, woraus sich wiederum die Aortenklappenöffnung über die Kontinuitätsgleichung berechnen lässt. Geringe Flussgeschwindigkeiten infolge des veränderten Herzzeitvolumens bei der deutlich eingeschränkten linksventrikulären Funktion können jedoch die Quantifizierung der Öffnungsfläche erschweren, sodass eine Aortenklappenstenose nicht allein mit Hilfe eines Spektraldopplers evaluiert werden darf. Lungenembolie
Bei akuter Dyspnoe ist neben dem akuten Koronarsyndrom die akute Rechtsherzbelastung bei Lungenembolie auszuschließen. Die Echokardiographie ermöglicht neben dem Spiral-CT eine schnelle Beurteilung der Rechtsherzbelastung. Dabei zeigt sich ein vergrößerter rechter Vorhof und Ventrikel, der hypokotraktil wirkt und die septalen Wandanteile als Funktionsreserve rekrutiert (paradoxe Septumbewegung). Die Echokardiographie ist neben ihrem prognostischen Wert häufig therapieentscheidend, da die Indikationsstellung der Lyse oft an die akute Rechtsherzinsuffizienz geknüpft wird. Zudem ist die Echokardiographie ein wichtiges Verfahren zur Verlaufsbeurteilung. Aortendissektion
Besonders bei Stanford-A-Dissektion mit Einbeziehung der aszendierenden Aorta ist eine Notfallsituation mit so-
5
118
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Herz
fortiger Operationsindikation gegeben. Obwohl die transthorakale Echokardiographie eine Dissektionsmembran in den einsehbaren Abschnitten der Aorta meist nicht abbilden kann, sind die Dilatation der Aortenwurzel, eine Aortenklappeninsuffizienz oder ein Perikarderguss entscheidende diagnostische Hinweise. Der Nachweis gelingt besser in der transösophagealen Echokardiographie und kann die Operationsindikation untermauern.
Kardiale Mehrzeilen-Computertomographie Die hohe Auflösung dieser Geräte (16–64 Zeilen) erlaubt eine Registrierung in Schichtdicken von 0,5–0,75 mm bei Rotationszeiten von 330–420 ms. bei gleichzeitig hoher zeitlicher Auflösung. Das gesamte Volumen des Herzens wird in etwa 10– 20 Sekunden (Einatemanhaltemanöver) aus der kontinuierlichen Röntgendatenakquisition zu bestimmten Zeiten des Herzzyklus (Diastole) erstellt. So ergibt sich ein zusammenhängender Datensatz –Sinusrhythmus oder medikamentös verminderte Herzfrequenz zwischen 60 und 65 Schlägen/min vorausgesetzt. Stabilere Bildqualität und verminderte Strahlenbelastung sind die Folge. Zusätzlich werden Nitratpräparate eingesetzt, um die Koronararterien in Dilatation besser darstellen zu können. Ein hochauflösender Volumendatensatz wird in 10– 15 Minuten erstellt. Nach i.v.-Gabe von 50–150 ml iodhaltigem Kontrastmittel erfolgt die Aufnahme in 10–20 Sekunden bei einer effektiven Strahlendosis von 3–13 mSv. Eine EKG-getriggerte systolische Reduktion der Strahlenabgabe kann die Strahlenexposition um 30–50% vermindern.
Koronarkalk Die Darstellung intrakardialer Kalzifikationen ist sehr gut möglich. Anatomische Beziehungen, Größe und Konfiguration der Herzkammern bei angeborenen Herzfehlern sowie die exakte Rekonstruktion in Systole und Diastole ermöglichen die Darstellung von globaler und regionaler Ventrikelfunktion. Diese Informationen werden jedoch meist bereits von der Echokardiographie gewonnen. Bei weiterem Klärungsbedarf wäre die Magnetresonanztomographie der nächste Schritt, ist jedoch bei z. B. implantierten Schrittmachersystemen nicht möglich und macht eine Computertomographie zur Erhebung der detaillierten Informationen über die kardiale Struktur und Funktion erforderlich. Auch bei einer Ortsauflösung von 0,4×0,4×0,4 mm wird die Qualität der invasiven Koronarangiographie nicht erreicht. Hämodynamisch wirksame Koronarstenosen sind dennoch mit hoher Sensitivität und Spezifität darstellbar (82–95%/95 und 96%). Der Prozentsatz nicht beurteilbarer koronararterieller Abschnitte ist mit 12–0% unzureichend. Distale Stenosen sind am schlechtesten zu beurteilen. Patienten mit Niereninsuffizienz oder Arrhythmien sowie instabiler Angina pectoris kommen
nicht für die Untersuchung in Frage. In Studien (50–100 Personen) wird übereinstimmend ein hochnegativ-prädiktiver Wert zum Ausschluss von Koronararterienstenosen berichtet (96–99%). In Patientenkollektiven kann das Vorliegen signifikanter Koronarstenosen somit verlässlich ausgeschlossen werden. Der positiv prädiktive Wert mit 87–91% ist jedoch geringer und kann so zu falsch positiven Ergebnissen führen. Die Beurteilung des Schweregrades der Koronarstenosen kann durch ausgeprägte Koronarverkalkungen und Bewegungsartefakte (hohe Herzfrequenz) erschwert werden oder unmöglich sein.
Bypass-Stenosen Der größere Gefäßquerschnitt und die langsamere Bewegung erlauben eine computertomographisch bessere Darstellung (Sensitivität 100%, Spezifität 98–100%). Das weitere koronare Gefäßbild lässt sich derzeit nicht sicher beurteilen, sodass der routinemäßige Einsatz nicht möglich ist.
Koronar-Stents Die zuverlässige Darstellung des Stent-Lumens mit Beurteilung einer In-Stent-Rezidivstenose gelingt in Abhängigkeit von Größe, Material und Typ des Stents nicht und wird deshalb nicht zur Nachuntersuchung von stentimplantierten Patienten verwandt.
Angeborene Koronaranomalien Durch dreidimensionale Bildkonstruktion lassen sich Ursprung und Verlauf anormal verlaufender Koronararterien durch die CT-Angiographie sehr zuverlässig darstellen.
Koronarer Kalk-Score zur direkteren Risikostratifikation Hier besteht ein möglicher Beitrag der Herz-Computertomographie zur Risikoeinschätzung für asymptomatische Personen. Da normalerweise Rupturen oder Erosionen arteriosklerotischer Plaques die koronaren Ereignisse verursachen, die nicht notwendigerweise mit einer relevanten Lumenreduktion einhergehen, ist die direkte Darstellung der Quantifizierung von Plaques in den Koronararterien ein interessanter Zugang zur Risikostratifikation. Anders als die Messung von Risikofaktoren, die nur indirekt zum Risiko koronarer Ereignisse beitragen, lässt sich so das Risiko »direkter« abschätzen. Koronarkalk kann mit hoher Sensitivität und verschiedenen Methoden quantifiziert werden (Agatston-Score, Volumen, Masse). Die Menge an Koronarkalk korreliert mit der Menge an koronaren arteriosklerotischen Plaques. Liegt kein Koronarkalk vor, besteht ein niedriges Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. Mit zunehmender Kalkmenge steigt das koronare Ereignisrisiko jedoch deutlich an. Dieser Zusammenhang zwischen Koronarkalk und koronarem Ri-
119 5.1 Diagnostik
siko ist unstrittig, sodass auch die entsprechenden Leitlinien die prognostische Aussagekraft von Koronarkalk, die höher ist als diejenige traditioneller arteriosklerotischer Risikofaktoren, eindeutig feststellen. Patienten, die eine raschere Progression des Koronarkalks bei wiederholten Messungen zeigen, haben eine höhere Ereignisrate als Patienten mit geringerer Progression. Aufgrund des Mangels an ausreichenden klinischen Daten besteht derzeit keine Empfehlung für regelmäßige Wiederholungen oder Follow-up-Koronarkalkuntersuchungen.
Magnetresonanztomographie (MRT) Die besten Daten liegen für die exakte Bestimmung des Ventrikelvolumens, der Muskelmasse und der Ventrikelfunktion vor. Neuere Ergebnisse sind zu verzeichnen in der Ischämiediagnostik mit Wandbewegungsanalyse unter Stress und der Evaluierung der Perfusion sowie der Vitalitätsdiagnostik mit der Bestimmung der inotropen Reserve und der Darstellung von Infarktgewebe oder Narben. Die nichtinvasive Koronarangiographie, das »tagging«, mit dessen Hilfe der myokardiale »strain« sowie Relaxations- und Kontraktionsgeschwindigkeiten bestimmt werden können, gehen in die Bestimmung der koronaren Flussreserve mit ein. Aussagen zur Charakterisierung der Gefäßwand und des Gefäßplaques mit dem Ziel, stabile von instabilen – also vulnerablen – Plaques zu unterscheiden und eine mögliche Regression oder Stabilisierung derselben unter medikamentöser Therapie zu erreichen, sind noch Forschungsgegenstand. In einem Untersuchungsgang können mehrere Fragestellungen bearbeitet werden.
Ischämiediagnostik Patienten mit bekannter koronarer Herzkrankheit und bei Zustand nach operativ oder interventionell durchgeführten Revaskularisationsmaßnahmen werden bei Veränderungen der Klinik (Belastungsminderung, thorakale Beschwerden) auf eine nach Koronarangiographie intermediäre Koronarstenose mit fraglicher hämodynamischer Relevanz untersucht. Als nichtinvasive Verfahren stehen neben der Magnetresonanztomographie (MRT) das Belastungs-EKG, in erster Linie die Stressechokardiographie und alternativ nuklearmedizinische Verfahren zur Verfügung.
Dobutamin-Stress-MRT Die pharmakologische Belastung wird mit Dobutamin (Klasse-II-Indikation), einer positiv ino- und chronotropen Substanz zur Analyse der regionalen Wandbewegung, durchgeführt. Der linke Ventrikel wird in standardisierte 17 Segmente eingeteilt. Diese werden durch Akquisition von 3 Kurzachsen (apikal, medial, basal) und 3 Längsachsen (4-Kammer-Blick, 2-Kammer-Blick und 3-KammerBlick) mindestens in jeweils 2 Ebenen abgebildet.
Anschließend wird Dobutamin ähnlich wie bei der Stressechokardiographie zunächst mit 10 μg/kg KG/min infundiert und die Dosis nach jeweils etwa 3 min auf 20, 30 und 40 μg/kg KG erhöht. Ziel ist dabei mindestens die altersabhängige Herzfrequenz (220– Lebensalter ×0,85). Reicht hierzu die alleinige Gabe von Dobutamin nicht aus, kann man zusätzlich bis zu 1 mg Atropin (fraktioniert, je 0,25 mg) einsetzen. Auf jeder Belastungsstufe werden alle Kurz- und Längsachsen aufgezeichnet. > Die Untersuchung ist abzubrechen: 5 bei einer rasch progredienten starken Angina pectoris, 5 bei neu aufgetretenen Wandbewegungsstörungen oder 5 höhergradigen Herzrhythmusstörungen.
Unter Belastung kommt es zu einer Steigerung der systolischen Wandverdickung und Einwärtsbewegung des Endokards. Fehlt diese Zunahme bzw. besteht sogar eine regionale Verringerung der Wandverdickung unter steigender Belastung in mindestens einem Segment, gilt dies als Ischämiekorrelat und somit als Hinweis für eine hämodynamisch relevante Stenose eines Koronargefäßes oder eines Bypasses. Bei einer vorbestehenden myokardialen Dysfunktion ist eine Verbesserung der Wandverdickung bei niedriger Dobutamin-Dosierung und anschließender Verschlechterung ein Hinweis auf eine Ischämie. Eine fehlende Dynamik spricht für ein avitales Myokard ohne Ischämie. In der Regel wird die Wandbewegung visuell analysiert, obwohl ihre Quantifizierung bei exzellenter Endound Epikardbegrenzung ebenfalls möglich ist. Die systolische »Verschmelzung« von Papillarmuskel, Trabekeln und Endokard macht allerdings eine automatische Konturerkennung und damit eine schnelle Auswertung ohne ausgiebige manuelle Nachbearbeitung nach wie vor schwierig. Als weiterführende Methode der Wandbewegungsanalyse ist das »tagging« zu nennen. Hier wird in der Enddiastole ein Gittermuster in das Myokard »eingebrannt« und die Verformung während der Systole und Diastole nachverfolgt. Die räumliche Auflösung der »tags« erlaubt es, Endo-, Myo- und Epikard zu unterscheiden. Sowohl Kontraktions- als auch Relaxationsgeschwindigkeiten und die myokardiale Beanspruchung (»strain«) lassen sich als lokale Verformung der »tags« quantifizieren. Hohe diagnostische Genauigkeit
In zahlreichen Studien konnte sowohl bei Patienten mit Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit als auch nach Revaskularisation mit teilweise vorbestehenden Wandbewegungsstörungen in Ruhe eine gute diagnostische Genauigkeit mit einer mittleren Sensitivität von 89% und einer mittleren Spezifität von 83% erzielt werden. Im di-
5
120
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Herz
rekten Vergleich zwischen Dobutamin-Stress-MRT und Echokardiographie bei Patienten mit Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit zeigte sich bei der MRT sogar eine höhere diagnostische Genauigkeit. Die Sensitivität erhöhte sich dabei von 74,3 auf 86,2% und die Spezifität von 69,8 auf 85,7%. Es zeigte sich, dass insbesondere bei Patienten, bei denen mit Hilfe der Echokardiographie nur ein Bild mit eingeschränkter Qualität gelang (etwa 30%), die MRT bessere Ergebnisse erbrachte. > Um ein sicheres Diagnoseverfahren in der MRT-Untersuchung zu gewährleisten, ist es bei einem Notfall absolut notwendig, den Patienten sofort aus dem Scanner-Raum zu evakuieren, um die Verletzungsmöglichkeiten durch die Ausrüstung des Reaminationsteams zu minimieren.
fahren erlaubt es, das Subendokard, das besonders anfällig für eine Ischämie ist, isoliert zu betrachten, was wiederum eine höhere Sensitivität der Methode verspricht. Problematisch ist allerdings, dass bei anderen myokardialen Veränderungen wie z. B. bei der Hypertrophie und dem diabetischen Herzen subendokardiale Perforationsdefekte ohne koronare Herzerkrankung auftreten können. Insbesondere bei Patienten mit vorbestehender Wandbewegungsstörung in Ruhe sollte im Anschluss an die Perfusion eine Darstellung der Narben (→ Vitalität) erfolgen, um die Größe eines Perfusionsdefektes mit der Größe eines Infarktes zu vergleichen. Bei identischer Größe handelt es sich wahrscheinlich nicht um eine Ischämie, ist der Perfusionsdefekt allerdings größer als das »enhancement«, ist von einer periinfarziellen Ischämie auszugehen.
Perfusion in der Ischämiediagnostik
MR-Koronarangiographie
Die unzureichende Blutversorgung (Perfusion, Klasse-IIIndikation) des Myokards bei Belastung ist der auslösende Faktor in der Ischämiekaskade. Erst später verschlechtern sich die diastolische und die systolische Funktion des Herzens, worauf zunächst eine eingeschränkte, dann eine visuell wahrnehmbare Wandverdickung, EKG-Veränderungen und die Angina pectoris folgen. Somit ist die Erfassung der Perfusion ein wesentlicher Bestandteil in der Ischämiediagnostik. Als Stressoren werden wie bei nuklearmedizinischen Verfahren Vasodilatatoren (Adenosin oder Dipyridamol) eingesetzt. Weniger gut für diese Indikation eignet sich Dobutamin aufgrund der schwierigen Bildgebung bei höheren Herzfrequenzen. Aufgrund der Vielfältigkeit der MRT kann die myokardiale Perfusion mit oder ohne Kontrastmittel evaluiert werden. Die meisten Erfahrungen liegen mit der First-pass-Methode vor. Dabei wird unter Stress und Ruhe jeweils ein T1-verkürzendes Kontrastmittel in einem Bolus peripher intravenös verabreicht und dessen myokardialer Durchlauf erfasst. Bei einer signifikanten Stenose steigt die Signalintensität unter Belastungsbedingungen deutlich verspätet an, in Ruhe sind die Werte normal. Die Analyse erfolgt visuell oder semiquantitativ. Hierfür wird die segmentale Anstiegssteilheit (»up slope«) der Signalintensitätskurven in Ruhe und bei maximaler Vasodilatation bestimmt und der Quotient errechnet. Bleibt dieser unter einem – für jede Technik individuell zu bestimmenden – Niveau, kann von einem Perfusionsdefekt ausgegangen werden. Für diese Methodik liegt die mittlere Sensitivität zur Erkennung von Koronarstenosen bei 86% und die mittlere Spezifität bei 81%. Die semiquantitative Methode ist in der Nachbearbeitung allerdings sehr zeitaufwändig.
Die MR-Methodik erreicht nicht den Goldstandard der invasiven Koronarangiographie. Die MR-Methodik ist durch die noch unzureichende räumliche Auflösung (etwa 1 mm3) dem geringen Blutsignal aus den Koronarien und der zum Teil erheblichen Bewegung der Arterien durch die Atmung und die myokardiale Kontraktion eingeschränkt. Maximal ist eine Spezifität von 86% in den proximalen und mittleren Koronarabschnitten erreichbar. Auch die morphologische Darstellung nach Stent-Implantation ist aufgrund von Artefakten bislang nicht möglich. Klasse-I-Indikationen zur MR-Koronarangiographie sind derzeit die Auffindung einer Koronarabgangsanomalie und die Erfassung von Koronaraneurysmata, hier ist diese Technik der invasiven Darstellung mindestens gleichwertig. Besonders bei jüngeren Patienten mit Angina pectoris, ventrikulären Arrhythmien und bei Zustand nach Synkope wird die Methode angewandt.
Vorteile und Begrenzungen
Die bessere räumliche Auflösung der Magnetresonanztomographie im Vergleich zu nuklearmedizinischen Ver-
Gefäßwände
Gute Ergebnisse mit der Magnetresonanztomographie werden bereits an der Aorta und an den peripheren Gefäßen wie z. B. der A. carotis erzielt. Für die Herzkranzgefäße wirken der geringe Durchmesser, die starke Bewegung durch Atmung und Kontraktion wie auch der große Abstand zu den Oberflächenempfangsspulen erschwerend. Vitalitätsdiagnostik
Eine linksventrikuläre Dysfunktion kann beim akuten und chronischen Infarkt irreversibel oder reversibel sein. Bei einer reversiblen Dysfunktion im akuten Infarkt spricht man von »stunned«, im chronischen Setting von »hibernating« Myokard. Das »stunned« Myokard bezeichnet eine Dysfunktion, die nach einer Revaskularisation (Lyse oder interventionell) noch besteht, sich allerdings im Laufe der Zeit (innerhalb von ca. 3 Monaten) unabhängig von weiteren Eingriffen wieder erholt. Das »hibernating« Myokard dagegen ist eine chronische myokardiale Dysfunkti-
121 5.1 Diagnostik
on, die sich nach einer Revaskularisation (interventionell oder operativ) nur verbessert. Als Referenzstandard dient in beiden Fällen die kontraktile Erholung im Verlauf. Bedeutung für Prognose und weiteres Vorgehen
Beim akuten Infarkt ist die Unterscheidung eines Infarkts von einem »stunning« Myokard eine wichtige Information für die Prognose des Patienten. Bei der chronischen Dysfunktion ist das Wissen um eine reversible (vital) oder eine irreversible Schädigung des Myokards (avital) zur Entscheidung des weiteren Procederes von Bedeutung (Klasse-I-Indikation). Insbesondere bei Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie und Dyspnoe als Leitsymptome stellt sich die Frage nach medikamentöser Therapie oder Revaskularisation, da ein höheres Operationsrisiko besteht. Große multizentrische, prospektive und verblindete Studien, welche die Frage nach einem Vorteil der Revaskularisation oder der medikamentösen Therapie bei Patienten mit erheblich eingeschränkter linksventrikulärer Funktion mit und ohne vitales Gewebe beantworten, liegen bisher nicht vor. Eine Metaanalyse über mehr als 3000 Patienten mit einer LV-Funktion <35% konnte allerdings einen Trend in Richtung zu einer besseren Prognose bei einer Revaskularisation von vitalem Myokard im Gegensatz zu der rein medikamentösen Therapie aufzeigen. Vitalität des Gewebes
Die Vitalität kann mit nuklearmedizinischen Methoden, der Echokardiographie und der Magnetresonanztomographie untersucht werden. Mit der MRT besteht zum einen die Möglichkeit, die kontraktile Verbesserung (inotrope Reserven) unter niedrigdosiertem Dobutamin (5–20 μg/ kg KG/min) zu testen. Zum anderen ist es möglich, den Infarkt oder die Narben direkt mit Kontrastmittel darzustellen. Zeigt ein Segment mit vorbestehender Wandbewegungsstörung eine kontraktile Verbesserung unter niedrigdosiertem Dobutamin, ist mit einer kontraktilen Erholung nach der Revaskularisation zu rechnen. Sowohl beim akuten als auch beim chronischen Infarkt lässt sich das infarzierte und damit nekrotische Myokard in kontrastmittelgestützten Spätaufnahmen sichtbar machen (»enhancement«). Mit einer speziellen Untersuchungstechnik der sogenannten Inversion-recovery-Technik werden dabei in einem Zeitraum von 5–20 Minuten nach der Gabe von Kontrastmittel Bilder aufgenommen. Das »enhancement« stimmt gut mit der Narbenausdehnung in nuklearmedizinischen Methoden wie der Positronen-(PET) und der Single-Photonenemissions-Computertomographie (SPECT) überein. Transmurales Ausmaß des Infarkts
Die hohe räumliche Auflösung macht es zudem erstmals möglich, das transmurale Ausmaß eines Infarkts abzubilden und exakt zu quantifizieren. Je größer die Transmura-
lität des Infarkts ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit der kontraktilen Erholung, falls eine Revaskularisation durchgeführt wird. Beträgt die Transmuralität des Infarkts <25%, spricht dies für eine hohe (etwa 80%ige), liegt ihr Ausmaß >75%, deutet dies auf eine niedrige (<10%ige) Wahrscheinlichkeit der Erholung. Liegen die Werte zwischen diesen beiden Grenzwerten, hat das Gewebe des transmuralen Infarkts eine 50%ige Chance, sich wieder zu erholen. Welchen Einfluss ein schmaler epikardialer vitaler Randsaum ohne kontraktile Erholung für den Patienten hat, ist bisher nicht belegt. Differenzierung: akuter und chronischer Infarkt
Für die Unterscheidung eines akuten von einem chronischen Infarkt steht die T2-gewichtete Bildgebung zur Verfügung, die beim akuten Infarkt das myokardiale Ödem abbilden kann. Es sollte zudem erwähnt werden, dass das »enhancement« nicht ausschließlich bei einer Ischämie auftritt. Auch bei einer dilatativen, hypertrophen oder infiltrativen Kardiomyopathie sowie bei der Myokarditis ist ein »enhancement« teilweise zu sehen und somit Ausdruck einer unspezifischen myokardialen Schädigung.
Kommentar Zusammenfassend kann die MRT als Untersuchungsmethode für verschieden Aspekte der koronaren und anderer Herzerkrankungen betrachtet werden. Insbesondere die Stress-MRT- und die Vitalitätsdiagnostik sind jetzt schon robuste Methoden und können im klinischen Alltag eingesetzt werden. Die Kombination aus Perfusions-, Funktions- und Infarktdarstellung ist in einem Untersuchungsgang möglich.
Nuklearmedizinische Verfahren bei koronarer Herzkrankheit Nuklerarmedizinische Verfahren haben sich international einen festen Platz im diagnostischen Spektrum der koronaren Herzkrankheit erarbeitet. Mit einer diagnostischen Genauigkeit von etwa 90% erfüllt die Szintigraphie die Erwartungen an eine klinisch valide diagnostische Methode. Dementsprechend gehören nuklearmedizinische Perfusionsuntersuchungen zu den Klasse-I-Indikationen bei der Diagnostik der koronaren Herzkrankheit. Eine ihrer Domänen ist die Beurteilung der Prognose von Patienten mit vermuteter oder bereits angiographisch nachgewiesener koronarer Herzkrankheit. Ist die Perfusionsuntersuchung unauffällig, beträgt deren Einjahresrisiko für Tod oder Myokardinfarkt <1%. Neben der Perfusion lassen sich durch neuere Technologien wie EKGTriggerung und »gating« auch die regionale und globale Pumpfunktion erfassen.
5
122
1 2 3 4 5 6
Kapitel 5 · Herz
Werden bei der SPECT entsprechende Tracer und/ oder die PET eingesetzt, sind valide Aussagen zur Myokardvitalität mit hohem prognostischem Wert möglich. Somit erfüllt auch die nuklearmedizinische Diagnostik die Forderung nach dem diagnostischen »one stop shop«. Die zunehmende diagnostische Genauigkeit ist auf methodische Verbesserungen (z. B. SPECT-Akquisition und -Darstellung, Automatisierung und Quantifizierung der Auswertung, EKG-Triggerung und »gating«, pharmakologische Belastungsverfahren) und den zunehmenden Einsatz von Technetium-99m-markierten Tracern zurückzuführen. Allerdings spielt hier auch das zunehmende Verständnis der Kliniker für die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit funktioneller Untersuchungen in Ergänzung zu den mehr morphologisch ausgerichteten Untersuchungsverfahren eine Rolle.
Vorfelddiagnostik der koronaren Herzkrankheit
7 8 9
Die Einschätzung der Vortestwahrscheinlichkeit des einzelnen Patienten – sowohl durch den zuweisenden als auch den in der bildgebenden Diagnostik involvierten Arzt – ist für eine sinnvolle und resourcenorientierte Diagnostikstrategie von großer Bedeutung. Die richtige Auswahl der Patienten für diese Untersuchungen kommt sicher – auch und gerade unter ökonomischen Aspekten – eine entscheidende Bedeutung zu.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Beispiel Vortestwahrscheinlichkeit Jedwede nichtinvasive Diagnostik ist überflüssig bei einem 70-jährigen Raucher mit typischen belastungsabhängigen Beschwerden, der seit Jahren gegen arteriellen Hochdruck und Diabetes mellitus behandelt wird. Ein solcher Patient sollte vielmehr umgehend einer invasiven Abklärung und ggf. einer Revaskularisation zugeführt werden (hohe Vortestwahrscheinlichkeit). Umgekehrt wird eine Szintigraphie bei einer 30-jährigen Frau mit bewegungs- und lageabhängigen Thoraxschmerzen (niedrige Vortestwahrscheinlichkeit) nur äußerst selten ein Ergebnis erbringen, das eine Koronarangiographie nach sich zieht.
Hohe Trennschärfe bei mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit Im Bereich der mittleren (20–80%) Vortestwahrscheinlichkeit für eine relevante koronare Herzerkrankung besitzt dagegen die Szintigraphie eine hohe Trennschärfe. In diesem Bereich rechtfertigt ein positiver Test die weitergehende Diagnostik, während ein negativer Test ein konservatives Vorgehen impliziert. Bei niedriger und hoher Vortestwahrscheinlichkeit würde sich durch den negativen oder positiven Ausfall eines zusätzlichen Tests das diagnostische bzw. therapeu-
tische Vorgehen nicht wesentlich ändern. Der Test ist somit überflüssig. Man erkennt aber auch, dass der diagnostische Zugewinn durch ein bildgebendes Verfahren wie die Myokard-SPECT sowohl bei einem positiven Befund wie bei einem negativen Ergebnis deutlich höher ausfällt als durch die alleinige Ergometrie.
Darstellung hämodynamisch relevante Koronarveränderungen durch SPECT Durch Einsatz der Myokardperfusions-SPECT unter Belastung (ergometrisch oder pharmakologisch) und unter Ruhebedingungen lässt sich die nichtinvasive Erkennung stenosierender hämodynamisch relevanter Koronarveränderungen bei derartigen Patienten deutlich verbessern. Mit einer kürzlich in einer großen Tracer-Vergleichsstudie publizierten Sensitivität von 91% und einer Spezifität von 87% entsprechend einer diagnostischen Genauigkeit von 91% im Vergleich zur Angiographie (≥50% Diameterstenose) erfüllt die Perfusionsszintigraphie die Erwartungen an eine moderne und klinische valide diagnostische Methode. Die Einführung der Technetium-Tracer des EKG-getriggerten »gating« sowie Verfahren zur Schwächungskorrektur haben hier sicher entscheidende Fortschritte gebracht. Kein anderes nichtinvasives Verfahren verfügt über eine derartig abgesicherte und profunde Datenlage. Insbesondere das »gating« mit der gleichzeitige Erfassung sowohl der Perfusion als auch der regionalen Pumpfunktion durch die Akquisition EKG-getriggerter enddiastolischer und endsystolischer Bilder hat die diagnostische Sicherheit deutlich verbessert und die Zahl der früher als »Borderline« oder »grenzwertig« beschriebenen Untersuchungen erheblich reduzieren können. > Entsprechend gehören nuklearmedizinische Perfusionsuntersuchungen zu den Klasse-I-Indikationen bei der Diagnostik der koronaren Herzerkrankung.
Vorteil pharmakologischer Belastung gegenüber Fahrradergometrie Die diagnostische Aussagekraft einer Belastungsperfusionsuntersuchung hängt unmittelbar mit der Frage nach der erreichten Ausbelastung zusammen. Die adäquate Auswahl der richtigen Belastungsform wird in Deutschland unverändert unterschätzt. Bei einer immer älter – und damit auch multimorbider – werdenden Bevölkerung ist die Fahrradergometrie als bevorzugte Belastungsmethode zunehmend in Frage zu stellen. > Die Mehrzahl der physikalischen Belastungsuntersuchungen erreicht keine ausreichend hohe Belastungsstufe, um wirklich von einer diagnostisch verwertbaren Ausbelastung zu sprechen. Hier ist der häufigere Einsatz von pharmakologischen Belastungen mittels Dipyridamol oder (besser, aber leider auch erheblich teurer) Adenosin dringend zu fordern.
123 5.1 Diagnostik
In den USA und jetzt z. B. zunehmend in Großbritannien wird dieses Vorgehen immer häufiger praktiziert. Gerade hier sind Anstrengungen zur Qualitätsdokumentation und -sicherung in nuklearmedizinisch tätigen Institutionen schnell und effizient durchzuführen, aber auch verstärkt zu fordern. Die Perfusionsszintigraphie erfasst auch Veränderungen, die nicht unbedingt Zeichen einer angiographisch nachweisbaren Makroangiopathie sind. Ein für die Szintigraphie geeignetes Patientenkollektiv sind Risikoberufsgruppen, z. B. Piloten und Zugführer, bei denen bei entsprechender klinischer Risikokonstellation mittels Myokardperfusionsszintigraphie eine hämodynamisch relevante koronare Herzerkrankung ausgeschlossen werden kann.
Akutes Koronarsyndrom – Perfusionsuntersuchungen Für Patienten mit unklaren Thoraxschmerzen, die rund um die Uhr in der Notaufnahme von Krankenhäusern vorstellig und häufig aus Sicherheitsgründen stationär aufgenommen wurden, sind inzwischen zunehmend Chest-pain-units errichtet worden. In diesen diagnostisch auf die koronare Herzkrankheit und das akute Koronarsyndrom (ACS) spezialisierten Einheiten kann der Zustand dieser Patienten soweit abgeklärt werden, dass eine klinisch begründete Entscheidung über die stationäre Aufnahme gefällt werden kann.
Prognoseabschätzung bei koronarer Herzkrankheit Die Bedeutung prognostischer Untersuchungen auch unter ökonomischen Aspekten ist für die Nuklearkardiologie unbestritten. Der Nachweis einer unauffälligen Myokardszintigraphie unter Belastung geht mit einer exzellenten mittelfristigen Prognose und einem Risiko für eine kardiovaskuläre Komplikation von <1%/Jahr einher. Andererseits birgt beispielsweise die Konstellation einer belastungsinduzierten Hinterwandischämie neben einem großen fixen Perfusionsdefekt im Vorderwandbereich nach durchgemachtem Vorderwandinfarkt ein erhebliches Risiko zukünftiger Komplikationen und sollte eine baldige invasive Diagnostik und Myokardrevaskularisation nach sich ziehen.
Kommentar Besondere Bedeutung erhalten nuklearmedizinische Verfahren auch im Rahmen der präoperativen Diagnostik vor nichtkardialen Eingriffen. Dadurch können multimorbide und physikalisch nicht belastbare Patienten dennoch mit hoher diagnostischer Sicherheit untersucht werden. So kann deren kurzfristiges perioperatives, aber auch deren langfristiges Risiko, abgeschätzt werden.
Vitalitätsdiagnostik Die Vitalitätsdiagnostik bei Patienten mit fortgeschrittener koronarer Herzerkrankung und deutlich eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion ist eine quantitativ nicht zu unterschätzende Problematik. Die Zahl der Patienten, die aufgrund der verbesserten frühen Therapie des akuten Myokardinfarktes diesen überleben und bei denen sich später Zeichen der Herzinsuffizienz klinisch bemerkbar machen, hat in den letzten 2 Jahrzehnten deutlich zugenommen. Rund die Hälfte der Patienten mit eingeschränkter Pumpfunktion verfügt jedoch noch über ein vitales und prinzipiell erholungsfähiges Myokard. Hier hat die Nuklearkardiologie, insbesondere im Bereich der PET, sicher in den letzten 15–20 Jahren Pionierarbeit geleistet. Dennoch wird ihre Wertigkeit auch im klinischen Kontext der Therapiestratifizierung oft nicht ausreichend betont. Dabei geht es einerseits um die Frage der funktionellen Erholung der Pumpleistung. Andererseits sollen diejenigen Patienten identifiziert werden mit besonders hohem Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen, aber auch mit dem höchsten prognostischen Benefit durch eine rasche und somit rechtzeitige Revaskularisation. Die Erkenntnis, dass der Nachweis vitalen Myokards eben keinen stabilen Zustand des Herzmuskels signalisiert, sondern eine rasche Revaskularisation erfordert, ist den nuklearmedizinischen Untersuchungen der letzten Jahre zu verdanken. Insbesondere Patienten mit schwer eingeschränkter Pumpfunktion und einer Ejektionsfraktion von <20% können durch die Vitalitätsdiagnostik häufig der für sie besten Therapie (medikamentös, Bypass-Chirurgie, orthotope Herztransplantation) zugeführt werden.
Kommentar Vor allem unnötige Transplantationen, die nicht nur kostspielig, sondern aufgrund des Mangels an Spenderherzen oft erst nach langer Wartezeit (mit unter Umständen anderen Organschäden in der Zwischenzeit) möglich sind, lassen sich mit solchen Vitalitätsuntersuchungen vermeiden.
Herzkatheteruntersuchung Rechtsherzkatheter > Die zuverlässigste Methode zur Einschätzung der Pumpfunktion unter Belastungsbedingungen ist die Einschwemmkatheteruntersuchung, mit deren Hilfe das erzielbare Herzzeitvolumen und die dabei auftretenden intrakardialen Drücke objektiv unter Belastungsbedingungen erhoben werden können.
Das gesunde Herz kann unter körperlicher Belastung das Schlagvolumen und somit das Herzzeitvolumen steigern,
5
124
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 5 · Herz
ohne dass es zu einem wesentlichen Anstieg des enddiastolischen Drucks im linken Ventrikel kommt. Liegt eine Kontraktilitätsstörung (global oder regional) unter Belastungsbedingungen vor, so kann zwar manchmal noch das Herzzeitvolumen gesteigert werden, aber auf Kosten eines erhöhten pulmonal-kapillären Verschlussdrucks (PCWP >20 mm Hg; Stadium I nach Roskamm u. Reindell 1996; . Tab. 5.9). Das Stadium II ist durch die Erhöhung des PCWP schon unter Ruhebedingungen gekennzeichnet, wobei allerdings das Herzzeitvolumen bei Belastung noch normal ist. In Stadium III und IV ist neben der PCWP-Erhöhung auch das HZV bei Belastung bzw. schon in Ruhe reduziert. Durch Einschwemmkathetertechnik lässt sich nicht nur die globale Pumpfunktion beurteilen, sondern getrennt die linksventrikuläre Funktion anhand des PCWP (wichtig für Herzinsuffizienz- und KHK-Diagnostik) sowie nach Öffnung des Ballons der Pulmonalarteriendruck und nach Rückzug des Katheters in den rechten Ventrikel auch die rechtsventrikuläre Funktion. Diese Untersuchung ist für die Beurteilung der pulmonalen Hypertonie und des Cor pulmonale von Bedeutung, da nach weiterem Rückzug in den rechten Vorhof zusätzlich eine Aussage möglich ist, ob eine pulmonale Hypertonie rechtsventrikulär kompensiert ist (Druck im rechten Vorhof <10 mm Hg).
10 Kommentar
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Diese Untersuchungsmethode hat für die sozialmedizinische Beurteilung einen sehr hohen Stellenwert und kann durch die Echokardiographie (Ruhemessung) nicht adäquat ersetzt werden.
Linksherzkatheter Die Koronarangiographie stellt nach wie vor die einzige zuverlässige Methode dar, Koronarstenosen in Lokalisation und Ausdehnung exakt zu erfassen, einen Patienten einer gezielten Intervention zuzuführen und Therapieergebnisse zu überprüfen. Die invasive Beurteilung des Herzens erlaubt aber auch eine exakte Funktionsbeschreibung des Herzens sowohl durch die intrakardiale Druckmessung als auch durch die globale bzw. regionale Wandbewegungsanalyse mit Hilfe der Ventrikulographie. Anhand des enddiastolischen Druckes im linken Ventrikel, der Höhe des Herzindex (>2,7 l/min/m2), des Schlagvolumenindex (>38 ml/m2) und der maximalen Druckanstiegsgeschwindigkeit (>1400 mm Hg/s) lässt sich die Funktion des linken Ventrikels exakt beschreiben. Aus dem angiographischen Bild können die enddiastolischen (>90 ml/m2) und endsystolischen (<35 ml/m2) Volumina, mit deren Hilfe die Ejektionsfraktion (EF=EDV– ESV/EDSV×100) berechnet werden.
Neben der Beschreibung der globalen Funktion sind insbesondere regionale Kontraktionsanomalien gut zu erfassen. Hierbei unterscheidet man zwischen einer Hypokinesie (10–29% der regionalen Wandverkürzung; normal >30%), einer Akinesie (0–9%) und einer Dyskinesie (<0%) sowie einem Aneurysma. Die jeweilige regionale Wandbewegungsstörung wird dann je nach Projektion (RAO: anterobasal, anterolateral, apikal, diaphragmal, posterobasal; LAO: septal, posterolateral) einem bestimmten Segment zugeordnet.
5.1.2 Begutachtungskriterien
Übergeordnetes und zuverlässigstes Beurteilungskriterium ist die invasive Messung der Hämodynamik. Es gilt die Frage zu klären, ob ein noch normales oder bereits reduziertes Herzzeitvolumen in Ruhe, aber besonders unter Belastung erreicht wird und wie sich dabei die zugehörigen Drücke im linken und rechten Herzen bzw. in den Vorkammern verhalten (Rechtsherzkatheter). Ergeben sich pathologische Befunde, so wird anhand der Beschreibung weiterer Kriterien die Ursache der gestörten Hämodynamik (Herzinsuffizienz) evaluiert. Immer zu beurteilen ist der Myokardfaktor (Geometrie der Herzkammern, systolische und diastolische Funktion, Myokardnarben, globale regionale Wandverdickungen im Echo) und der Koronarfaktor (Vorhandensein und Ausmaß einer Ischämiereaktion im Belastungs-EKG, Stressechokardiographie sowie der Koronarstatus in der Koronarangiographie). Weitere die Hämodynamik beeinflussende Kriterien stellen der Rhythmus (unregelmäßig, tachykard, bradykard im Langzeit-EKG oder während Ergometrie) und die Klappenfunktion bzw. das Vorliegen von Shunts (Echokardiographie) dar. > Für die sozialmedizinische Beurteilung gilt als wesentliches Kriterium das Ausmaß der körperlichen Belastung (Angabe in Watt), bei dem die Störung manifest wird, bzw. ob die Störung bereits in Ruhe vorhanden ist. Außerdem ist zu erfassen, welche jeweiligen Beschwerden im Sinne von Luftnot, Brustenge, Schwindel u. a. vom Patienten ereignisorientiert angegeben werden.
5.1.3 Sozialmedizinische Beurteilung
Die sozialmedizinische Beurteilung muss die geschilderten physiologischen Anpassungen und pathologischen Störungen, aber auch die Interaktionen zwischen den verschiedenen Organsystemen berücksichtigen. Zwar ist es verständlich, dass eine leichtgradige Herzfunktionsstörung unter den Bedingungen einer körperlichen Belastung leichter diagnostiziert und eingestuft werden kann.
125 5.1 Diagnostik
Andererseits kann bei Feststellung einer eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit (beurteilt anhand einer niedrigen erreichtbaren Belastungsstufe) nicht generell auf eine schlechte Herzfunktion rückgeschlossen werden. Das erzielte Resultat könnte vielmehr auch durch eine untrainierte Skelettmuskulatur oder eine Einschränkung in der Lungenfunktion zustande gekommen sein. Solche Bedingungen sind keinesfalls selten anzutreffen. So haben z. B. Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung, die als Risikofaktor Rauchen angeben, nicht selten eine begleitende Störung der Ventilation der Lunge (COPD), die dann möglicherweise die körperliche Belastung stärker einschränkt als die kardiale Grunderkrankung. Gerade diese Patienten neigen dazu, wegen der schon bei geringer körperlicher Belastung auftretenden Luftnot sich wenig körperlich zu belasten, was wiederum zu einer weiteren Immobilisierung der Skelettmuskulatur und somit Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit auf dem Fahrradergometer führt.
Kommentar Deshalb muss bei der sozialmedizinischen Beurteilung grundsätzlich auch berücksichtigt werden, ob die körperliche Belastbarkeit nicht nur durch die Behandlung der primären Grunderkrankung (z. B. PTCA bei koronarer Herzkrankheit, Hypertoniebehandlung) verbessert werden kann, sondern ob auch begleitende Maßnahmen zur Verbesserung bzw. Stabilisierung der Lungenfunktion dieses bewirken kann.
Manchmal reicht ein mehrwöchiges kontinuierlich und richtig durchgeführtes Ausdauertraining zur Verbesserung und Ökonomisierung der Skelettmuskulatur aus und führt zu einer deutlichen Steigerung der körperlichen Belastbarkeit bei gleichbleibender Grunderkrankung. > Manchmal muss die sozialmedizinische Beurteilung zeitlich hinausgeschoben werden, um Therapieeffekte abzuwarten.
Eine deutliche Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit, z. B. auf dem Ergometer, kann zwar ein Indikator für eine schlechte Prognose sein, darf aber nicht gleichgesetzt werden mit Einschränkungen im Berufsleben, wenn dieses z. B. körperlichen Einsatz nicht erfordert. > Die erhobenen Befunde aus der Diagnostik müssen immer abgeglichen werden mit dem beruflichen Anforderungsprofil des zu Beurteilenden, aber auch mit Auslösemechanismen der Beschwerden im Allgemeinen und speziell am Arbeitsplatz.
Die sozialmedizinische Beurteilung darf sich deshalb nicht nur auf Funktionsuntersuchungen beschränken, sondern sie basiert auf einer gründlichen Anamneseerhebung. Diese registriert nicht nur exakt die momentane Beschwerdesymptomatik, sondern auch alle Begleiterkrankungen und die daraus resultierenden Beschwerden, um zu einer Beurteilung der Gesamtleistungsfähigkeit zu kommen. In diesem Zusammenhang sind natürlich die Fragen zur Situation am Arbeitsplatz von besonderer Wertigkeit. Erforderlich ist eine Tätigkeitsbeschreibung hinsichtlich 5 der Notwendigkeiten von schwerem Heben und Tragen (Pressatmung), 5 hoher Verantwortung, 5 Arbeiten unter Zeitdruck mit ständiger Ablenkung bezüglich des Arbeitsrhythmus, insbesondere Schichtarbeiten mit Nachtdienst. Zu fragen ist auch nach 5 Eigen- und Fremdgefährdung (Wechselwirkung zwischen Krankheit und Arbeitsauftrag) und 5 belastenden Umweltfaktoren. Die sich hieraus ergebende Arbeitsbelastung muss im Einklang mit den physiologischen Leistungsreserven sein. Weiterhin sollten natürlich der Weg zur Arbeitsstätte, das Arbeitsklima, die Betriebsgröße, die Vertretungsmöglichkeit (das subjektive Belastungs- und Beanspruchungsprofil) und die berufliche Zufriedenheit berücksichtigt werden. Die Wiederaufnahme der Arbeit nach akuter Erkrankung wird nicht nur durch die Pathophysiologie der Herzfunktion und die subjektive Einschätzung der eigenen Belastbarkeit bestimmt, sondern auch dadurch, dass sehr häufig die »Seele miterkrankt« ist. Die Patienten haben besonders nach akuten Ereignissen ein deutlich gestörtes Selbstwertgefühl (»was bin ich denn noch wert?«) und geraten in eine Identitätskrise, die trotz gutem organischem Befund eine schlechte subjektive Befindlichkeit bewirkt. Deshalb müssen die Ängste und Befürchtungen des Patienten berücksichtigt und abgeglichen werden; dies betrifft die vorhandenen psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, aber auch den Bereich der Familie und des erweiterten sozialen Umfeldes. Zur Einschätzung können Belastungssimulationen von Zeitdruck, Leistungsdruck und Untersuchung zur intellektuellen Kapazität helfen. Von besonderer Bedeutung ist die Beurteilung der Krankheitsverarbeitung; dazu müssen erfasst werden: 5 Angaben des Patienten zur Einstellung der Erkrankung, 5 Abschätzung eines krankheitsadäquaten Verhaltens, 5 Erfassung von Verleugnung, Aggressivität, Angst, Depressionen, 5 Akzeptanz der Erkrankung.
5
126
Kapitel 5 · Herz
5.2
1
Perikard und Myokard M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, H. Schmitz, V. Klauss
2
5.2.1 Krankheitsdefinition
3
Erkrankungen des Perikards Perikarditis
4
Die Entzündungen des Perikards können nach ihrem klinischen Erscheinungsbild in akute und chronische bzw. obstruktive und nichtobstruktive Formen eingeteilt werden.
Kardiomyopathien
5 Ätiologie
6 7 8 9 10
5 Idiopathisch 5 Infektiös (Bakterien, Viren, Pilze, Parasiten) 5 Perikarditis im Rahmen von Autoimmunerkrankungen (z. B. Kollagenosen, rheumatisches Fieber) 5 Perikarditis bei Erkrankung benachbarter Organe (z. B. Myokardinfarkt) 5 Perikarditis im Rahmen von Stoffwechselerkrankungen (z. B. Urämie) 5 Perikarditis bei Tumoren 5 Traumatisch 5 Physikalisch (z. B. Strahlen) 5 Medikamentös-toxisch (z. B. Hydralazin, Doxorubicin, Procainamid)
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
nächst zu einer konzentrischen Hypertrophie des linksventrikulären Myokards. Diese Zunahme an Muskelmasse bedingt eine erhöhte Steifigkeit der Herzwände und eine verminderte diastolische Relaxationsfähigkeit. Im weiteren Krankheitsverlauf kommt es zu einer exzentrischen Myokardhypertrophie mit einer weiteren Zunahme der Wandspannung und schließlich zu einer konsekutiven Linksherzinsuffizienz. Darüber hinaus ist die arterielle Hypertonie ein wesentlicher Risikofaktor für die Entstehung einer koronaren Herzkrankheit.
Ausdruck des Entzündungsprozesses sind Ergussbildung und Fibrosierung des Herzbeutels. Daraus resultiert eine Einschränkung der diastolischen Herzfüllung mit konsekutiver Einflussstauung und reduzierter systolischer Auswurfleistung. Eine Sonderform stellt die Pericarditis constrictiva dar. Hier kommt es meist nach einer akuten Perikarditits zu einem chronischen Verlauf mit fortschreitender Verkalkung des Herzbeutels. Daraus resultiert eine Behinderung der Herzfüllung, vor allem des rechten Herzens, und konsekutiv ein systolisches Pumpversagen.
Andere Erkrankungen des Perikards Seltenere Erkrankungen des Perikards sind: 5 Perikardzysten, meist im rechten kardiophrenischen Winkel gelegen, 5 Perikardtumoren (sowohl Primärtumoren als auch Metastasierungen und infiltratives Wachstum bei Tumoren benachbarter Organe).
Erkrankungen des Myokards Hypertensive Herzkrankheit Die durch den erhöhten peripheren Widerstand bei arterieller Hypertonie bedingte Nachlasterhöhung führt zu-
Als Kardiomyopathien werden Erkrankungen des Herzmuskels bezeichnet, die mit einer myokardialen Funktionsstörung einhergehen. Man unterscheidet idiopathische und sekundäre Formen mit bekannter Ursache (Übersicht).
Kardiomyopathien 5 Idiopathische Formen: – dilatative Kardiomyopathie – hypertrophische Kardiomyopathie (obstruktive und nichtobstruktive Form) – restriktive Kardiomyopathie 5 Sekundäre Formen: – Herzmuskelbeteiligung im Rahmen von neuromuskulären Erkrankungen (z. B. Muskeldystrophien) – Myokarditis – infiltrative Erkrankungen – toxisch bedingt (z. B. Alkohol, Medikamente, Giftstoffe) – metabolisch bedingt ( z. B. bei endokrinen Erkrankungen) – physikalisch bedingt (z. B. Strahlen)
Pathophysiologisch kommt es durch die krankhafte Veränderung des Herzmuskels zu systolischen und/oder diastolischen Funktionseinschränkungen mit daraus resultierender Links- oder Rechtsherzinsuffizienz. Klinisch imponieren die Symptome der Herzinsuffizienz wie Dyspnoe, periphere Ödeme, Lungenödem, Herzrhythmusstörungen, Embolien oder Angina pectoris.
Chronisches Cor pulmonale Das Cor pulmonale ist als eine Hypertrophie des rechten Ventrikels definiert, die aufgrund einer Rechtsherzbelastung bei pulmonaler Hypertonie entstanden ist. Die klinische Symptomatik wird vorwiegend durch die pulmonale Grunderkrankung bestimmt. In fortgeschrittenen Stadien bestehen aber auch Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz.
127 5.2 Perikard und Myokard
Formen des chronischen Cor pulmonale 5 Cor pulmonale parenchymale (bei Lungenparenchymerkrankungen) 5 Cor pulmonale vasculare (bei Lungengefäßerkrankungen) 5 Cor pulmonale bei alveolärer Hypoventilation (z. B. bei neuromuskulären Erkrankungen)
Arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie Die arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie ist eine degenerative Erkrankung des rechtsventrikulären Myokards weitgehend unbekannter Ursache. Die klinische Symptomatik wird durch das Erscheinungsbild der auftretenden Rhythmusstörung geprägt. Dabei können Palpitationen, Schwindel oder Synkopen bis hin zum plötzlichen Herztod durch ventrikuläre Rhythmusstörungen auftreten.
Eine hypertensive Herzkrankheit kann aber als Folgeschaden anerkannt werden, wenn sie im Rahmen einer sekundären arteriellen Hypertonie nach z. B. traumatischer oder toxischer Nierenschädigung auftritt.
Kardiomyopathien Es werden primäre und sekundäre Kardiomyopathien unterschieden. Primäre Kardiomyopathien sind per definitionem Erkrankungen weitgehend unbekannten oder genetischen Ursprungs. Daher erübrigt sich hier die Kausalitätsfrage. Beim Auftreten von sekundären Herzmuskelerkrankungen ist prinzipiell ein Zusammenhang mit beruflichen Ereignissen möglich. Eine im Rahmen einer beruflich bedingten Verletzung oder Exposition (Radioaktivität, infektiöses oder toxisches Material) aufgetretene Myokarditits kann als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn Art und Schwere des auslösenden Ereignisses adäquat sind und ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. Gegebenenfalls müssen weitere Organschäden (Haut, Leber) mitberücksichtigt werden.
Tumoren im Bereich des Myokards Dies können sein: 5 benigne Tumoren (Rhabdomyome, Fibrome, Lipome, Angiome), 5 maligne Tumoren (Rhabdomyosarkome, Angiosarkome), 5 Metastasen (Karzinome, Melanom), 5 infiltrativ wachsende Tumoren benachbarter Organe (z. B. Bronchialkarzinom).
5.2.2 Fragen zum Zusammenhang
Erkrankungen des Perikards Selten kann es im Rahmen eines Thoraxtraumas zu einer isolierten Perikarditis (d. h. ohne weitere kardiale Beteiligung) kommen. Im Rahmen einer Urämie, z. B. im Rahmen von Schocksituationen, traumatischer oder toxischer Nierenschädigung, kann eine urämische Perikarditis auftreten. Außerdem kann bei beruflich exponierten Personen eine infektiöse, auch spezifisch tuberkulöse Perikarditis oder eine Pericarditis constrictiva als Berufserkrankung anerkannt werden.
Erkrankungen des Myokards Hypertensive Herzkrankheit Da die überwiegende Mehrheit aller Hypertoniepatienten an essenzieller Hypertonie leidet, der ein multifaktorielles Geschehen zugrunde liegt, stellt sich die Frage nach ursächlichen Zusammenhängen mit dem Erwerbsleben nur in Ausnahmefällen. Zum Beispiel könnte eine außergewöhnliche physische oder psychische Belastung zur Verschlechterung einer bestehenden hypertensiven Herzkrankheit beitragen.
> Hier ist das Vorliegen von Befunden, die vor dem Ereignis erhoben wurden, von außerordentlicher Wichtigkeit für die Beurteilung eines Zusammenhangs.
Die reine Möglichkeit eines kausalen Zusammenhanges ohne konkretes auslösendes Ereignis oder einen zeitlichen Zusammenhang gilt in der Regel als nicht ausreichend.
Beispiel Kardiomyopathien als Berufskrankheit 5 Infektiöse Myokarditis nach einem beruflich bedingten Aufenthalt in tropischen Regionen oder nach beruflich bedingtem Kontakt mit infektiösem Material (Schlachter, Laboranten). 5 Toxische oder physikalisch bedingte Kardiomyopathie nach Kontakt mit toxischen Substanzen oder radioaktiver Strahlung.
Chronisches Cor pulmonale Das chronische Cor pulmonale parenchymale kann als Schädigungsfolge im Rahmen einer beruflich bedingten Lungenparenchymerkrankung (z. B. Silikose, Asbestose, Farmerlunge, Lungenfibrose) anerkannt werden. Das chronische Cor pulmonale vasculare kann als Folgeschaden einer unfallbedingten tiefen Beinvenenthrombose mit konsekutiver Lungenembolie anerkannt werden, wenn der zeitliche Zusammenhang gegeben ist.
5
128
Kapitel 5 · Herz
Arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Da die Ursache der rechtsventrikulären arrhythmogenen Dysplasie im Wesentlichen nicht geklärt ist, stellen sich hier keine Fragen zum Zusammenhang.
> Patienten mit einer Kardiomyopathie sollten halbjährlich bis jährlich auf ihre Leistungsfähigkeit hin kontrolliert werden.
Erkrankungen des Perikards Tumoren Sowohl für gutartige als auch bösartigen Tumorerkrankungen im Bereich des Myokards stellen sich keine Zusammenhangsfragen. Im Falle von kardialen Metastasen muss die Beurteilung im Rahmen der Grunderkrankung erfolgen.
5.2.3 Bewertung nach dem Sozialrecht
Zur Begutachtung der Erwerbsfähigkeit und für die Bemessung von GdB und MdE ist vor allem das Ausmaß der kardialen Leistungseinschränkung mit ihren Auswirkungen auf die übrigen Organsysteme entscheidend. Die kardiale Leistungsfähigkeit kann nach klinisch-anamnestischen Kriterien oder objektiv messbaren Parametern ermittelt werden. Im Folgenden werden die ergometrisch messbare Leistungsfähigkeit (. Tab. 5.8) und die Stadien der Funktionsbeeinträchtigung des Herzens nach Roskamm u. Reindell (. Tab. 5.9) der Beurteilung von GdB und MdE zugrunde gelegt. Außerdem finden die Stadieneinteilung der Herzinsuffizienz der NYHA (. Tab. 5.1) und eine Beschreibung der linksventrikulären Funktion durch die echokardiographisch bzw. ventrikulographisch gemessene Ejektionsfraktion (. Tab. 5.10) Berücksichtigung.
Für die Erkrankungen des Perikards gilt, dass sich die Einschätzung von GdB und MdE nach den hämodynamischen Konsequenzen und der Grunderkrankung orientiert. Liegen klinische Zeichen einer kardialen Stauung vor, ist der Patient in der Regel berufs- bzw. erwerbsunfähig. > Bei Pericarditis constrictiva sollte auch ein Operationserfolg abgewartet werden, da durch die Operation eine Besserung der klinischen Symptomatik bis hin zur Restitutio ad integrum erreicht werden kann.
Erkrankungen des Myokards Hypertensive Herzkrankheit Für die Bemessung von GdB/MdE sind folgende Faktoren bedeutsam (. Tab. 5.11): 5 klinische Symptomatik, 5 hämodynamische Situation, 5 Vorhandensein und Ausprägung von Herzrhythmusstörungen, 5 pathomorphologisches Bild (Echokardiographie). Bei bestehenden Herzrhythmusstörungen (absolute Arrhythmie, höhergradige ventrikuläre Rhythmusstörungen) können MdE und GdB um 10–30 höher eingeschätzt werden.
12 . Tab. 5.8. Ergometrisch messbare Leistungsfähigkeit
13 14 15 16 17
Maximalleistung
Dauerbelastbarkeit
Körperliche Leistungsfähigkeit
GdB/MdE
≤75 Watt (1 W/kg KG)
≤50 Watt
Leicht
90–100
75–125 Watt (1–1,5 W/kg KG)
50–75 Watt
Mittelschwer
50–70
125–150 Watt (1,5–2 W/kg KG)
75–100 Watt
Schwer
20–40
>150 Watt (>2 W/kg KG)
>100 Watt
Schwerst
0–10
. Tab. 5.9. Stadien der Funktionsbeeinträchtigung des Herzens nach Roskamm u. Reindell (1996)
. Tab. 5.10. Beschreibung der linksventrikulären Funktion durch die Ejektionsfraktion
Stadium
Funktionsbeeinträchtigung
Ejektionsfraktion
Linksventrikuläre Funktion
I
Herzminutenvolumen in Ruhe und bei Belastung normal, gestörte Fluss-DruckBeziehung nur bei Belastung
>60%
Normal
50–60%
Leichte Funktionsstörung
II
HMV in Ruhe und bei Belastung normal, gestörte Fluss-Druck-Beziehung in Ruhe
40–50%
Mittelschwere Funktionsstörung
<40%
Schwere Funktionsstörung
III
HMV während Belastung eingeschränkt
IV
HMV auch in Ruhe eingeschränkt
18 19 20
129 5.2 Perikard und Myokard
Kardiomyopathien
Arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie
Eine Begutachtung erfolgt nach klinischer (ergometrischer) Belastbarkeit, hämodynamischen Gesichtspunkten und messbaren bzw. in bildgebenden Verfahren darstellbaren pathomorphologischen Veränderungen (Ausmaß von Herzrhythmusstörungen, Ventrikelgröße, Myokardhypertrophie, Obstruktion; . Tab. 5.12). Durch Herzrhythmusstörungen kann der GdB bzw. die MdE auch hier um 10–30 erhöht werden.
Die Beurteilung richtet sich nach der klinischen Belastbarkeit, der hämodynamischen Funktion und dem Ausmaß bzw. der Dauer bestehender ventrikulärer Herzrhythmusstörungen (. Tab. 5.14).
Chronisches Cor pulmonale Die Beurteilung erfolgt zusätzlich nach echokardiographisch und im Rahmen der Herzkatheteruntersuchung erfassbaren Kriterien wie dem Funktionszustand des rechten Ventrikels oder der Höhe des pulmonalarteriellen Drucks (. Tab. 5.13).
Tumoren des Myokards Die Beurteilung richtet sich wiederum nach der klinischen Belastbarkeit des Patienten und der hämodynamischen Funktion. Bei Metastasen oder infiltrierend wachsenden Tumoren benachbarter Organe sollte die Grunderkrankung im Vordergrund stehen. > Vor einer endgültigen Beurteilung sollte beim Auftreten operabler Tumoren ein Operationserfolg abgewartet werden.
. Tab. 5.11. GdB/MdE bei hypertensiver Herzkrankheit Stadium nach NYHA
Funktionsstadium
Maximale Belastbarkeit
GdB/MdE
I
I
>2 W/kg KG
10–30
II und III
I
1,5–2 W/kg KG
30–60
II
IV
60–80
III
1–1,5 W/kg KG
80–100
IV
<1 W/kg KG
100
. Tab. 5.12. GdB/MdE bei Kardiomyopathie Stadium nach NYHA
Funktionsstadium
Maximale Belastbarkeit
GdB/MdE
I
I
>2 W/kg KG
0–20
II
I–III
1,5–2 W/kg KG
20–70
III
I–III
1–1,5 W/kg KG
30–90
IV
IV
<1 W/kg KG
100
. Tab. 5.13. GdB/MdE bei chronischem Cor pulmonale Echokardiographisches Stadium
Maximale Belastbarkeit
GdB/MdE
I
>2 W/kg KG
0–20
II
1,5–2 W/kg KG
20–40
III
1–1,5 W/kg KG
50–70
. Tab. 5.14. GdB/MdE bei arrhythmogener rechtsventrikulärer Dysplasie Stadium nach NYHA
Rhythmusstörung
GdB/MdE
I
Ventrikuläre Ektopie
10–20
II
Nichtanhaltende ventrikuläre Tachykardie
20–40
III
Anhaltende ventrikuläre Tachykardie
40–90
IV
Synkopen
100
5
130
1 2 3 4
Kapitel 5 · Herz
5.2.4 Begutachtung privat versicherter Schäden
5.2.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Lebensversicherung
Erkrankungen des Perikards
Da speziell Erkrankungen des Myokards meist mit einer schlechten Prognose verbunden sind, steht das Festhalten von bei Vertragsabschluss bestehenden kardialen Schäden durch ein ärztliches Gutachten im Vordergrund. Die Einschätzung des gesundheitlichen Risikos liegt bei der Versicherungsgesellschaft bzw. deren Ärzten und ist ausschlaggebend für die zu zahlende Prämie.
Entsprechend der ergometrischen Belastbarkeit (. Tab. 5.8) des Patienten kann die Eignung für leichte, mittelschwere oder schwere körperliche Arbeit festgelegt werden. Außerdem ist eine Unterscheidung zwischen operationsbedürftig, nicht operationstauglich und Zustand nach Operation zweckmäßig. Operationsbedürftige Patienten mit reduzierter Leistungsfähigkeit und klinischer Symptomatik wie z. B. Belastungsdyspnoe können schwere oder mittelschwere körperlich belastende Tätigkeiten nicht mehr ausüben. Nach einer Operation richtet sich die Beurteilung nach der verbliebenen Restschädigung. Hierbei ist eine angemessene Rekonvaleszenzzeit zu berücksichtigen. Im Falle einer Restitutio ad integrum liegen keine Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit vor. Nicht operationstaugliche Patienten sind in der Regel arbeitsunfähig.
Unfallversicherung
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Hier ist von Bedeutung, dass Art und Schwere des auslösenden Ereignisses adäquat sind und ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht. In diesem Fall ist das Vorliegen von Befunden, die vor dem Ereignis erhoben wurden, für die Beurteilung eines Zusammenhanges besonders wichtig. Denkbar sind Kardiomyopathien oder Myokarditiden, die durch einen unfallbedingten Kontakt mit radioaktiver Strahlung, infektiösem oder toxischem Material verursacht sind. Eine Myokarditis kann aber auch durch Verletzung entstehen. Besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang, kann ein chronisches Cor pulmonale vasculare als Folgeschaden einer unfallbedingten tiefen Beinvenenthrombose mit konsekutiver Lungenembolie gewertet werden. Wird eine traumatische Nierenschädigung als Ursache einer sekundären arteriellen Hypertonie nachgewiesen, ist eine hypertensive Herzkrankheit ebenso als Schädigungsfolge zu sehen. In seltenen Fällen kann es im Rahmen eines Thoraxtraumas zu einer isolierten Perikarditis (d. h. ohne weitere kardiale Beteiligung) kommen.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Aufgrund der begrenzten Beeinflussbarkeit des Krankheitsverlaufs und der zunehmenden Progredienz bei den dilatativen Kardiomyopathien unterschiedlicher Genese sind die Patienten im Allgemeinen nur begrenzt im Erwerbsleben zu halten. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Spontanverläufe ist es schwer, den weiteren Verlauf vorherzusagen. Eine Überprüfung der Leistungsfähigkeit von noch erwerbsfähigen Personen mit einer Kardiomyopathie sollte halbjährlich bis jährlich erfolgen. Für den Gutachter sind in erster Linie das genaue Profil der beruflichen Tätigkeit sowie die Eignung für die Tätigkeiten entscheidend. Ausschlaggebend ist vorwiegend die Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit, aber auch das Risiko bei Herzrhythmusstörungen und von plötzlichem Herztod muss mit berücksichtig werden. Eine gesundheitliche Eignung für den jeweiligen Beruf kann vor Vertragsabschluss von der Versicherungsgesellschaft durch ein ärztliches Gutachten überprüft werden.
Erkrankungen des Myokards Hypertensive Herzkrankheit Im Stadium I besteht eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit für schwere körperliche Arbeiten, im Stadium II für mittelschwere und im Stadium III auch für leichte körperliche Tätigkeiten. Im Stadium IV liegt in der Regel Erwerbsunfähigkeit vor.
Kardiomyopathien Das Funktionsstadium I (myokardiale Funktionsstörung, normale Herzgröße und Belastbarkeit) findet sich vor allem bei hypertrophischer Kardiomyopathie. Bei nichtobstruktiven Formen der Erkrankung können Tätigkeiten mit leichter und mittelschwerer körperlicher Belastung ausgeführt werden. Bei Patienten mit einer obstruktiven Form der Erkrankung liegt nur eine Eignung für Berufe mit leichter körperlicher Belastung ohne Heben und Pressen vor. Erwerbsunfähigkeit besteht nicht. Das Funktionsstadium II (vergrößertes Herz, gute Leistungsfähigkeit, normale Pumpfunktion) findet sich meist im Rahmen dilatativer Kardiomyopathien. Es zeichnet sich durch eine schwer abschätzbare Prognose bezüglich des Auftretens von Herzrhythmusstörungen oder kardialer Dekompensationen aus. Berufe, welche schwere und mittelschwere körperliche Belastungen erfordern, können nicht mehr ausgeübt werden. Es besteht aber eine Leistungsfähigkeit für Berufe mit leichter körperlicher Tätigkeit. Aufgrund einer möglichen Progredienz der Erkrankung sollte eine Wiederholung der Begutachtung in regelmäßigen Abständen erfolgen. Im Funktionsstadium III (Belastungsherzinsuffizienz) ist die körperliche Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt, sodass körperliche Arbeit nicht mehr möglich ist. Die Erwerbsfähigkeit ist eingeschränkt.
131 5.2 Perikard und Myokard
Im durch Ruheherzinsuffizienz gekennzeichneten Funktionsstadium IV besteht Erwerbsunfähigkeit.
Chronisches Cor pulmonale Im kompensierten Stadium des Cor pulmonale parenchymale werden körperliche Belastbarkeit und Leistungsbzw. Erwerbsfähigkeit von der zugrunde liegenden Lungenerkrankung bestimmt. Bei kardialer Dekompensation (. Tab. 5.13) besteht Erwerbsunfähigkeit. Klinische Symptomatik des Cor pulmonale vasculare, Belastbarkeit und Prognose werden vom myokardialen Zustand des rechten Ventrikels bestimmt. Im Funktionsstadium I besteht eine Eignung für Berufe mit ausschließlich leichter körperlicher Belastung. In den Stadien II–IV ist körperliche Belastung nicht mehr möglich. Ab Stadium III liegt in der Regel Erwerbsunfähigkeit vor.
Arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie Die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach der Art und Schwere sowie Dauer der auftretenden Herzrhythmusstörung. Einschränkungen bestehen bei Berufen, die hohe Aufmerksamkeit erfordern und in welchen durch ein plötzlich verändertes Wahrnehmungs- oder Reaktionsvermögen Gefahren für den Patienten und seine Umgebung entstehen. Als Beispiele seien hier das Lenken von Kraftfahrzeugen, Arbeiten mit offenem Feuer oder unter Absturzgefahr oder Sicherheitsdienste wie Fluglotsen erwähnt.
Tumoren des Myokards Die Beurteilung der Leistungs- und Erwerbsfähigkeit von Patienten mit primären Tumoren des Myokards erfolgt nach den selben Richtlinien wie bei Kardiomyopathien. Bei operablen Tumoren sind die Operation und ein sich daraus ergebender Heilungserfolg abzuwarten. Beim Auftreten von Metastasen oder infiltrierendem Tumorwachstum erfolgt die Beurteilung entsprechend der Grunderkrankung.
Fahrereignung Beim Auftreten von plötzlichen, das Bewusstsein beeinträchtigenden Herzrhythmusstörungen besteht Fahruntauglichkeit. Nach erfolgreicher Therapie der Rhythmusstörung durch Medikamente oder Herzschrittmacherbzw. ICD-Implantation kann angenommen werden, dass der Patient wieder in der Lage ist, Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 zu lenken. Voraussetzung ist, dass eine Normalisierung der Herzfunktion eingetreten ist und über einen Zeitraum von 3 Monaten keine weiteren Rhythmusstörungen mehr aufgetreten sind. Ärztliche Kontrolluntersuchungen sind in 6-monatlichen Abständen erforderlich. Die Voraussetzungen zum Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 2 sind in der Regel nicht gegeben. Außerdem ist eine Person, die bereits in Ruhe an den Zeichen einer Herzinsuffizienz leidet, nicht in der Lage,
ein Kraftfahrzeug zu lenken. Bei Symptomen der Herzinsuffizienz unter Alltagsbelastungen besteht keine Eignung zum Lenken von KFZ der Gruppe 2, KFZ der Gruppe 1 können, ggf. unter besonderen Einschränkungen (z. B. betreffend Tageszeit, Umkreis oder Fahrzeugtyp), gelenkt werden. Wer unter stärkerer körperlicher Belastung an den Symptomen einer Herzinsuffizienz leidet, ist nicht in der Lage, ein KFZ der Gruppe 2 zu lenken. Einschränkungen bezüglich KFZ der Gruppe 1 können individuell festgelegt werden.
Sonderfragen im öffentlichen Dienstrecht Da die hier beschriebenen Erkrankungen meist im höheren Lebensalter auftreten, stellt sich die Frage der körperlichen Eignung für eine Verbeamtung bzw. die Übernahme in ein pensionsberechtigtes Arbeitsverhältnis nur selten. Voraussetzung für eine Frühpensionierung ist eine dauerhafte Dienstunfähigkeit aufgrund des körperlichen Leidens. Bei günstigem Krankheitsverlauf ist auch eine Reaktivierung des Dienstverhältnisses möglich. Ansonsten gelten im öffentlichen Dienstrecht dieselben Einschränkungen wie im Rahmen der allgemeinen Berufsausübung.
5.2.6 Risikobeurteilung
Erkrankungen des Perikards Prognostisch entscheidend sind Ätiologie und Verlauf der Perikarditis. In der Regel heilen akute Perikarditiden unter adäquater Therapie folgenlos ab. Rezidivierende Perikarditiden sind selten und treten meist im Rahmen von Autoimmunerkrankungen (z. B. systemischer Lupus erythematodes) auf. Unter entsprechender Therapie, die medikamentös oder im Falle der Pericarditis constrictiva auch chirurgisch erfolgen kann, kann eine Restitutio ad integrum erreicht werden. Diese ist jedoch nicht vor Ablauf von 6 Monaten nach Diagnosestellung bzw. Therapiebeginn zu erwarten. Aufgrund der vielfältigen Ätiologie der Perikarditiden sind konkrete Risikofaktoren nur schwer zu benennen. Gegebenenfalls könnte eine angeborene oder erworbene Immunschwäche das Risiko des Entstehens einer infektiösen Perikarderkrankung erhöhen. Perikardzysten sind in der Regel asymptomatisch und verursachen keine Einschränkung der Lebenserwartung. Das in dieser Lokalisation seltene Mesotheliom wird als häufigster maligner Tumor des Perikards oft erst in fortgeschrittenen Tumorstadien diagnostiziert. Daher besteht, entsprechend dem Tumorstadium, eine eher schlechte Prognose. Als Hauptrisikofaktor für die Entstehung dieser Erkrankung muss, wie bei Mesotheliomen im Bereich der Pleura, der Kontakt mit Asbest und asbesthaltigen Produkten genannt werden.
5
132
Kapitel 5 · Herz
1
Die Prognose von Perikardmetastasen hängt von Herkunft, Stadium und Differenzierung des Primärtumors ab.
2
Erkrankungen des Myokards Hypertensive Herzkrankheit
3 4 5 6 7 8
Unbehandelt geht eine Erkrankung an arterieller Hypertonie mit einer um 10–20 Jahre verringerten Lebenserwartung einher. Die Prognose der Erkrankung wird vor allem durch das beinahe regelhafte Auftreten von kardiovaskulären Komplikationen bestimmt. Als prognostisch ungünstige Faktoren gelten eine Herzvergrößerung, ischämisch bedingte EKG-Veränderungen, Zeichen der Linksherzbelastung oder Herzinsuffizienz sowie das Auftreten eines Myokardinfarktes. Als Risikofaktoren für das Auftreten einer hypertensiven Herzkrankheit können die allgemeinen kardiovaskulären Risikofaktoren wie z. B. Adipositas, Nikotinabusus, mangelnde körperliche Aktivität oder Fettstoffwechselstörungen, die generell auch das Auftreten einer arteriellen Hypertonie fördern, genannt werden.
Kardiomyopathien
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Prognose der dilatativen Kardiomyopathie hängt vor allem vom Ausmaß der klinischen Symptomatik, der hämodynamischen Situation und Herzgröße bei Diagnosestellung bzw. Therapiebeginn und vom Lebensalter des Patienten ab. Das Fortschreiten einer toxisch bedingten Kardiomyopathie kann durch Elimination der Noxe gebremst werden. Die 10-Jahres-Überlebensrate beträgt ca. 10–20% bei einer Sterberate von ca. 10% pro Jahr. Häufige Todesursachen sind die Herzinsuffizienz oder maligne Herzrhythmusstörungen. Die Prognose einer hypertrophischen Kardiomyopathie ist schwer einschätzbar, da die Erkrankung einen chronisch-progredienten Verlauf zeigt und die Gefahr plötzlicher Todesfälle nicht mit der Ausprägung der klinischen Symptomatik oder der Schwere messbarer Myokardveränderungen korreliert. Die jährliche Sterberate ohne Therapie liegt bei 1–6% der Erkrankten. Eine Verbesserung der Prognose kann durch konsequente medikamientöse Therapie, aber auch durch invasive Maßnahmen wie die subvalvuläre Myektomie oder in besonders schweren Fällen die Herztransplantation erreicht werden. Da primäre Kardiomyopathien als idiopathisch bedingte Erkrankungen gelten und z. T. genetische Faktoren bestehen, können keine Risikofaktoren für die Entstehung einer solchen Erkrankung benannt werden. Das Risiko des Auftretens einer sekundären Kardiomyopathie kann durch das Vorliegen von Stoffwechselerkrankungen, Alkohol- oder Tabak- oder Drogenabusus oder bestimmte kardiotoxische Medikamente (z. B. trizyklische Antidepressiva, Phenothiazine) erhöht werden.
Chronisches Cor pulmonale Die Prognose ist in erster Linie von der zugrunde liegenden Lungenerkrankung abhängig und verschlechtert sich beim Vorliegen einer kardialen Dekompensation. Nach erstmaliger Dekompensation liegt die Überlebenszeit bei ca. 5 Jahren.
Arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie Die Prognose wird im Wesentlichen durch Art und Ausmaß der bestehenden ventrikulären Herzrhythmusstörung bestimmt. Die 10-Jahres-Letalität liegt bei ca. 30%. Eine Verbesserung der Prognose kann in einigen Fällen durch antiarrhythmische medikamentöse Therapie oder die Implantation eines Herzschrittmachers oder ICD erreicht werden. Die Krankheit neigt jedoch auch zu einem progredienten, schlecht vorhersehbaren Verlauf.
Tumoren des Myokards Die Prognose benigner Herztumoren ist in der Regel von deren Lokalisation und Operabilität abhängig. Außerdem können im Zusammenhang mit der Tumorerkrankung Komplikationen wie Rhythmusstörungen oder Embolien auftreten. Die Prognose maligner Herztumoren ist analog zu anderen malignen Erkrankungen u. a. abhängig von Art, Größe, Differenzierungsgrad und Ausbreitung des Tumors. Die Therapie hat in der Regel palliativen Charakter, die mittlere Überlebenszeit nach erfolgter Diagnosestellung liegt bei 1–3 Jahren.
5.2.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Das grundlegende Ziel der kardiologischen Rehabilitation ist es, eine mögliche Erwerbsunfähigkeit zu verhindern und die Wiedereingliederung des Patienten in sein soziales und berufliches Umfeld zu ermöglichen. Dabei wird sowohl eine Verhinderung der Progression der Erkrankung als auch eine optimale Krankheitsbewältigung im psychischen und physischen Sinne angestrebt. Der Patient soll lernen, mit den Folgen seiner Erkrankung bzw. mit den verbliebenen Schädigungen umzugehen und ggf. durch Unterstützung mittels geeigneter Hilfsmittel den privaten und wenn möglich auch den beruflichen Alltag angemessen zu bewältigen. Die wesentlichen Aufgaben der kardiologischen Rehabilitation können nur durch intensive, auch fachübergreifende (Ärzte, Psychologen, Physio- und Ergotherapeuten, Sozialarbeiter), interdisziplinäre Zusammenarbeit erreicht werden. Dazu muss nach Aufnahme des Patienten in eine stationäre oder ambulante Rehabilitationseinrichtung eine frühzeitige, ausführliche Eingangsuntersuchung mit Erfassung des funktionellen Gesundheitszustandes erfolgen.
133 5.3 Koronare Herzkrankheit
Gemäß der International Cassification of Functioning (ICF) erfolgt eine Beurteilung der Beeinträchtigung des Patienten in den Bereichen Körperfunktionen und Körperstrukturen, Aktivitäten, gesellschaftliche Teilhabe und personenbezogene Faktoren. Ziel ist neben der möglichst detaillierten Erfassung der körperlichen Belastbarkeit auch die Definition eines individuellen Risikoprofils. Daraus leiten sich in weiterer Folge die durchgeführten Behandlungsmaßnahmen ab, die neben balneophysikalischen Therapieverfahren auch eine psychologische Betreuung, gesundheitsbildende Maßnahmen, berufliche und (behinderten-)rechtliche Beratung durch Sozialarbeiter oder Vertreter der Rentenversicherungen und die Optimierung und individuelle Anpassung einer medikamentösen Dauertherapie umfassen. Vor allem nach Herzerkrankungen liegt ein Schwerpunkt der Rehabilitation im Bereich der Sekundärprävention. Durch körperliches Aufbautraining, Gewichtsreduktion, Ernährungsberatung, Nikotin- oder Alkoholentwöhnung wird, genauso wie durch eine eventuell erforderliche Optimierung einer Diabetestherapie oder lipidsenkenden Medikation, eine Optimierung des individuellen Risikoprofiles erreicht.
Kommentar Verschiedene Studien zeigen, dass innerhalb von 3 Jahren nach Rehabilitation im Rahmen einer koronaren Herzkrankheit lediglich eine geringe Prozentzahl der Patienten frühberentet werden musste. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen konnte in das Erwerbsleben zurückkehren.
5.3
Koronare Herzkrankheit M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, H. Gross, V. Klauss, H. Schmitz
5.3.1 Krankheitsdefinition
Die koronare Herzkrankheit (KHK) ist die Manifestation der Arteriosklerose in den Koronararterien. Arteriosklerotische plaquebedingte Stenosen der Herzkranzgefäße führen zur koronaren Insuffizienz, einem Missverhältnis zwischen Sauerstoffbedarf und -angebot im Herzmuskel. Die koronare Insuffizienz ist Ursache für eine Myokardischämie. Die koronare Herzkrankheit wird durch zahlreiche Risikofaktoren begünstigt.
Risikofaktoren für KHK 5 Hauptrisikofaktoren – arterielle Hypertonie – Nikotinabusus – LDL-Cholesterinerhöhung, HDL-Cholesterinerniedrigung und andere Lipidstoffwechselstörungen – Lebensalter – KHK- bzw. Myokardinfarkte bei erstgradigen Verwandten – Diabetes mellitus oder pathologische Glukosetoleranz 5 Sekundäre Risikofaktoren – Adipositas, atherogene Diät – Körperliche Inaktivität – erhöhte Serumentzündungsparameter – Hyperhomozysteinämie – Thromboseneigung, Hyperfibrinogenämie – Stress (Disstress)
Durch eine kritische Koronarstenose (ab 75% des Gefäßlumens) entsteht zunächst unter Belastung ein Sauerstoffmangel im Herzmuskelgewebe, der als Angina pectoris in Erscheinung tritt. Auslösefaktoren können körperliche Anstrengung, Aufregung, voluminöse Mahlzeiten, Kälte, Tachykardien oder Hyperthyreose sein.
Klinische Manifestationen der koronaren Herzkrankheit 5 Angina pectoris – stabile Angina pectoris – instabile Angina pectoris – Sonderformen der Angina pectoris: Prinzmetal-Angina, Walking-through-Angina, Angina nocturna 5 Akutes Koronarsyndrom – instabile Angina pectoris – Non-STEMI – STEMI 5 Stumme Myokardischämie 5 Myokardiale Mikroangiopathie 5 Herzrhythmusstörungen 5 Plötzlicher Herztod
Der Begriff akutes Koronarsyndrom umfasst 5 die instabile Angina pectoris, bei der kein Anstieg von Troponin I oder T festgestellt werden kann, 5 den Non-STEMI, bei dem es bereits zu einem Anstieg der Herzenzyme, aber nicht zu EKG-Veränderungen kommt, und
5
134
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Herz
5 den STEMI als transmuralen Herzinfarkt, bei dem infarkttypische Enzymerhöhungen und EKG-Veränderungen vorliegen. Unter asymptomatischer Myokardischämie versteht man eine objektivierbare koronare Minderdurchblutung ohne oder mit nur minimal ausgeprägten Symptomen (latente KHK). Sie kann gehäuft bei diabetischer Neuropathie oder nach Herztransplantationen beobachtet werden. Die kardiale Mikroangiopathie betrifft die intramuralen kleinen Koronargefäße (»small vessel disease«) und kann auch unabhängig von einer KHK im eigentlichen Sinne durch endotheliale Dysfunktionen entstehen. Sie tritt gehäuft bei Diabetes mellitus und arterieller Hypertonie auf. Klinische Symptome sind belastungsunabhängige Angina pectoris, ein hypertrophierter linker Ventrikel, ein abnormes EKG und eine unauffällige Koronarangiographie. Herzrhythmusstörungen sind Veränderungen der elektrischen Herztätigkeit, die durch Arrhythmien, Frequenzabweichungen oder Störung des zeitlichen Ablaufs der einzelnen Herzaktionen gekennzeichnet sind (Übersicht).
Komplikationen im Rahmen eines akuten Myokardinfarkts 5 Frühkomplikationen – Herzrhythmusstörungen mit ventrikulärer Extrasystolie, ventrikulärer Tachykardie und Kammerflimmern, Vorhofflimmern mit absoluter Tachyarrhythmie, bradykarde Herzrhythmusstörungen – Linksherzinsuffizienz und daraus folgend Lungenstauung, Lungenödem und kardiogener Schock – Herzwandruptur mit Herzbeuteltamponade – Ventrikelseptumruptur – Papillarmuskelnekrose und Abriss mit akuter Mitralklappeninsuffizienz 5 Spätkomplikationen – Herzwandaneurysma – arterielle Embolien – Pericarditis epistenocardica, Postmyokardinfarktsyndrom, Arrhythmien, Herzinsuffizienz
Formen der Herzrhythmusstörungen 5 Erregungsbildungsstörungen: – normotope Störungen: Sinusarrhythmie, Sinusbradykardie, Sinustachykardie, Sick-SinusSyndrom – heterotope Störungen: – passive Störungen: Extrasystolen, Ersatzrhythmus, wandernder Schrittmacher – aktive Störungen: Extrasystolen, supraventrikuläre Tachykardie, Vorhofflattern, Vorhofflimmern, ventrikuläre Tachykardie, Kammerflattern, Kammerflimmern 5 Erregungsleitungsstörungen: SA-Block, AV-Block, Schenkelblock, Fokalblock, Verzweigungsblock
Unter plötzlichem Herztod versteht man einen plötzlich und unerwartet eintretenden natürlichen Tod kardialer Ursache mit Beginn von Symptomen innerhalb einer Stunde vor dem Tod. Die Ursachen im Einzelnen sind in 80% der Fälle: KHK, in 10–15%: nicht ischämische Kardiomyopathie, in 5%: arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie (ARVC), Long-QT-Syndrom, Brugada-Syndrom, idiopathisches Kammerflimmern (VF) oder Aortenstenose.
5.3.2 Fragen zum Zusammenhang
Die koronare Herzkrankheit ist ein langjährig fortschreitendes, multifaktorielles Geschehen, sodass sich Zusammenhangsfragen nur schwer beantworten lassen. Das Vorhandensein von einem oder mehreren Risikofaktoren erhöht jedoch das Risiko, eine koronare Herzkrankheit zu entwickeln oder einen Myokardinfarkt zu erleiden. Außerdem konnte ein Zusammenhang zwischen akutem Myokardinfarkt und plötzlichen psychischen Traumen genauso wie langfristigen seelischen Belastungen nachgewiesen werden. Ein direkter Kausalzusammenhang besteht z. B. bei einem in einem gesicherten zeitlichen Zusammenhang mit einem stumpfen Thoraxtrauma auftretenden Myokardinfarkt. Dieser muss als Schädigungsfolge oder Unfall anerkannt werden, sofern vorher keine Hinweise auf eine koronare Herzerkrankung vorlagen.
5.3.3 Bewertung nach dem Sozialrecht
Aus sozialmedizinischer Sicht ist die körperliche Leistungseinschränkung, die durch die koronare Herzkrankheit hervorgerufen wird, von Bedeutung. Die Basis stellen somit der objektive Nachweis aller vorhandenen vaskulären Schäden und das Ausmaß der damit verbundenen Ischämiereaktion dar. Diese Ischämiereaktion lässt sich anhand von Belastungs-EKG, Stressechokardiographie oder Rechtsherzkatheder ermitteln.
135 5.3 Koronare Herzkrankheit
Zur Leistungsbeurteilung wird die maximale ergometrische Belastbarkeit als Maß für die kardiale Leistungsfähigkeit herangezogen (. Tab. 5.8). Die Dauerbelastbarkeit beträgt ca. 50–70% der ermittelten symptomlimitierten ergometrischen Belastbarkeit. Dabei sind Alter, Geschlecht und Körpergewicht zu berücksichtigen. Voraussetzung ist die Kooperation des Patienten und dass die Belastung nicht frühzeitig beendet wird. Hier kann durch die Spiroergometrie nachgewiesen werden, ob wirklich eine Ausbelastung vorliegt.
Kommentar Das bedeutet, dass eine maximale Belastbarkeit von über 150 Watt auch mit schwerster körperlicher Arbeit vereinbar ist. Schwere Tätigkeiten sind bei einer maximalen Belastbarkeit über 125 Watt zumutbar und mittelschwere bei 50–75 Watt. Ist eine Belastung mit 50–75 Watt möglich und zeigt sich echokardiographisch eine normale linksventrikuläre Funktion bzw. liegen keine höhergradigen Herzrhythmusstörungen vor, kann dem Patienten eine leichte körperliche Tätigkeit, z. B. Arbeit im Büro, zugemutet werden. Eine ergometrische Belastbarkeit von unter 50 Watt ist in der Regel mit einer dauerhaft aufgehobenen Leistungsfähigkeit verbunden.
. Tab. 5.15. Gradeinteilung der Beschwerden bei koronarer Herzkrankheit anhand der CCS-Klassifikation (Canadian Cardiovascular Society) Stadium
Beschwerden
0
Stumme Ischämie
I
Angina pectoris bei schwerer körperlicher Belastung
II
Geringe Beeinträchtigung durch Angina pectoris bei normaler körperlicher Belastung
III
Erhebliche Beeinträchtigung durch Angina pectoris bei normaler körperlicher Belastung
IV
Angina pectoris auch bei geringer körperlicher Belastung oder in Ruhe
Eine Gradeinteilung der Beschwerden bei koronarer Herzkrankheit kann auch anhand der CCS-Klassifikation (Canadian Cardiovascular Society) erfolgen, die auf subjektiven Angaben von Symptomen beruht (. Tab. 5.15). Eine gleichzeitige Herzinsuffizienz kann mittels der Klassifikation der NYHA (New York Heart Association) in 4 Stadien eingeteilt werden (. Tab. 5.1). Die Beurteilung der Ventrikelfunktion, aus der ebenfalls auf die Leistungsfähigkeit des Patienten geschlossen werden kann, erfolgt mittels Echokardiographie. Hier erfolgt der Nachweis morphologischer Veränderungen. Generalisierte oder lokalisierte Wandbewegungsstörungen können auf eine Funktionseinschränkung oder einen abgelaufenen Myokardinfarkt hinweisen. Als Parameter der Myokardfunktion gilt die Ejektionsfraktion (EF), die mit der linksventrikulären Funktion korreliert. In der Herzkatheteruntersuchung können der linksventrikuläre enddiastolische Druck (LVEDP), der Pulmonalarterienmitteldruck (PAPm) und der Pulmonalkapillardruck bestimmt werden. Aus diesen Parametern kann ebenfalls auf die linksventrikuläre Funktion geschlossen werden (. Tab. 5.16). Für die Feststellung eines GdB/MdE-Grades ist vor allem die stadienabhängige Verminderung der Leistungsfähigkeit maßgeblich. Dabei soll primär vom klinischen Bild und der Einschränkung der Funktions- und Leistungsfähigkeit im Alltagsleben ausgegangen werden. Nach operativen oder anderen therapeutischen Eingriffen am Herzen, genauso wie nach einem akuten Myokardinfarkt, ist die GdB/MdE-Bewertung von der zurückbleibenden Leistungsbeeinträchtigung abhängig und richtet sich nach der maximal erreichten ergometrischen Belastung. > Nach einem akuten Myokardinfarkt ist für 12 Monate eine Heilungsbewährung abzuwarten. Während dieser Zeit ist auch bei nur geringer Leistungsbeeinträchtigung ein GdB/MdE um mindestens 50% anzurechnen.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt der sozialmedizinischen Begutachtung ist schließlich auch noch die Krankheitsverarbeitung nach stattgehabtem koronarem Ereignis oder operativem Eingriff. Im Falle einer gestörten Verarbeitung kann es zur Einschränkung des Selbstwert-
. Tab. 5.16. Beurteilung der linksventrikulären Funktion Ventrikelfunktion
Ejektionsfraktion (EF)
Linksventrikulärer enddiastolischer Druck (LVEDP)
Pulmonalarterienmitteldruck (PAPm)
Normale Funktion
60%
<12 mm Hg
<25 mm Hg
Leichte Störung
50–60%
12–16 mm Hg
<30 mm Hg
Mittlere Störung
35–50%
16–25 mm Hg
30–40 mm Hg
Schwere Störung
<35%
>25 mm Hg
40–50 mm Hg
5
136
1
Kapitel 5 · Herz
gefühls, zu Angstzuständen, Depressionen oder Konzentrationsstörungen kommen, die ebenso die Leistungsfähigkeit vermindern können.
2 5.3.4 Beurteilung privat versicherter Schäden
3 4 5 6 7 8 9 10
Lebensversicherung Die koronare Herzkankheit ist durch ein langjähriges Entstehungsbild charakterisiert. Sind dem Antragssteller keine kardialen Vorerkrankungen oder Beschwerden bekannt, liegt es in der Verantwortung der Versicherung, vor Abschluss eines Vertrages im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung bereits bestehende gesundheitliche Veränderungen festzuhalten. Ein bewusstes Verschweigen von Beschwerden, die dem Antragsteller bekannt sind, stellt eine Obliegenheitsverletzung dar, ist aber – sofern keine früheren medizinischen Berichte vorliegen – schwer zu beweisen. Die Einschätzung des gesundheitlichen Risikos liegt bei der Versicherungsgesellschaft bzw. deren Ärzten. Im Todesfall muss ggf. im Rahmen einer gerichtsmedizinischen Untersuchung die KHK-bedingte Ischämiereaktion bzw. deren Folgen als Ursache nachgewiesen und andere Todesursachen ausgeschlossen werden.
Unfallversicherung
13
Ein Myokardinfarkt, der in einem gesicherten zeitlichen Zusammenhang mit einem stumpfen Thoraxtrauma aufgetreten ist, muss als Schädigungsfolge oder Unfall anerkannt werden, sofern vorher keine Hinweise auf eine koronare Herzerkrankung vorlagen. Bestanden bereits vor dem infarktauslösenden Trauma objektivierbare Zeichen der KHK, ist die akute Herzschädigung als Folgeerkrankung im Sinne einer richtungsweisenden Verschlimmerung anzuerkennen.
14
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung
11 12
15 16 17 18 19 20
Ausschlaggebend für eine Berufsunfähigkeit bzw. eine Erwerbsminderung ist die Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die durch eine koronare Herzkrankheit bedingt ist. Die entsprechende Bestimmung wurde bereits unter »Bewertung nach dem Sozialrecht« (s. oben) abgehandelt. Wichtig ist prinzipiell ein genaues Anforderungsprofil der jeweiligen Arbeit. Dabei müssen auch geistige und seelische Belastbarkeit berücksichtigt werden, zumal Hyperventilation und seelischer Stress eine koronare Vasokontriktion und somit eine Minderperfusion hervorrufen können. Auch hier obliegt es der Verantwortung der Versicherungsgesellschaft, vor Vertragsabschluss eine gesundheitliche Eignung des Betroffenen für bestimmte Tätigkeiten festzuhalten.
5.3.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Die Auswirkungen der koronaren Herzkrankheit oder eines Myokardinfarkts auf die Belastbarkeit des einzelnen Patienten in beruflicher und sozialer Hinsicht müssen aus den ärztlichen Unterlagen hervorgehen. Probleme treten bei einer Diskrepanz zwischen individuellem Leistungsvermögen und dem Anforderungsprofil am Arbeitsplatz auf. Bedingt durch koronare Herzkrankheit oder nach einem akuten Myokardinfarkt können Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit, der psychophysischen Belastbarkeit und in besonderen beruflichen Gefahren und Belastungssituationen entstehen. Zu den rein körperlichen Belastungsfaktoren zählt die Arbeitsschwere (Heben, Tragen, Bewegen von Lasten), die Arbeitshaltung und die Mobilität. Zu den psychophysischen Belastungsfaktoren zählen Reaktionsfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, geistige und körperliche Ausdauer, Aufmerksamkeit, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sowie die Kompensationsfähigkeit von besonders belastenden Situationen (wie z. B. Publikumsverkehr, Verantwortung für andere Menschen oder Maschinen, die Überwachung komplexer Arbeitsvorgänge, Akkord- oder Schichtarbeit, Arbeit unter Zeitdruck, Nachtarbeit, Reisetätigkeit oder Arbeit in Flugzeugen, erhöhte Unfall- oder Verletzungsgefahr). Starker Einfluss äußerer Faktoren (Kälte, Hitze, Nässe, Lärm, Vibrationen) und der Umgang mit spezifischen, evtl. gesundheitsgefährdenden Stoffen stellen besondere Gefährdungs- und Belastungsfaktoren dar. Für Patienten mit nachweislich erhöhtem Risiko für Herzrhythmusstörungen besteht besondere Gefährdung in Berufen mit offenem Feuer, Absturzgefahr, schnell laufenden Maschinen oder Starkstrom. Entsprechend der Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit bestehen Untauglichkeiten für verschiedene Berufe. Während für Patienten mit einer maximalen Belastbarkeit von über 150 Watt nur Untauglichkeit für wenige, sehr schwere Tätigkeiten besteht (Forstarbeiter, Feuerwehr), besteht für Patienten mit einer Leistungsfähigkeit von 1–1,5 W/kg KG auch Untauglichkeit für Berufe mit mittelschwerer körperlicher Belastung sowie für Akkord- und Wechselschichtarbeit. Patienten mit einer maximalen Belastbarkeit von weniger als 1 W/kg KG sind in ihrer körperlichen und emotionalen Belastbarkeit hochgradig eingeschränkt, sodass nur leichte körperliche Arbeiten (Büroarbeit) ausgeführt werden können oder auch eine Erwerbsunfähigkeit besteht. In Bezug auf die körperlich aktive Freizeitgestaltung sind gerade in Hinblick auf die Reduzierung kardiovaskulärer Risikofaktoren vor allem Ausdauersportarten (z. B. Gehen, Wandern, Nordic-Walking, Fahrradfahren) empfehlenswert, ebenso sind bei guter Belastbarkeit langsames Jogging, Schwimmen und Skilanglauf denkbar. Gemieden sollten hingegen Sportarten werden, die mit einem plötzlichen, exzessiven Blutdruckanstieg verbunden sind (z. B.
137 5.3 Koronare Herzkrankheit
Kraft-, Kampfsportarten, Leichtathletik, mit Sprints assoziierte Ballsportarten). Aufenthalte im Gebirge bis 2.500 m Höhe sind meist unproblematisch.
Fahrereignung Die Beurteilung der Fahrtauglichkeit erfolgt vorrangig nach funktionellen Gesichtspunkten. Ausschlaggebend ist hierbei die Gefahr von Störungen der Gehirnfunktion aufgrund eines kürzlichen Herz-Kreislauf-Versagens. Bei der Erteilung der Fahrerlaubnis wird zwischen Fahrzeugen der Gruppe I (Führerscheinklassen 1, 3, 4, 5) und Gruppe II (Führerscheinklasse 2 und Fahrzeuge zur Personenbeförderung) unterschieden. Bei Patienten nach einem Myokardinfarkt darf nur nach entsprechendem Gutachten durch eine ärztliche Stelle die Fahrerlaubnis verlängert werden. Myokardinfarkts 3 Monate nach stattgehabtem komplikationslosem Myokardinfarkt liegt wieder die Eignung für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe I vor; bei Auftreten von Komplikationen nach 6 Monaten, sofern es sich bei den Komplikationen nicht um prognostisch ungünstige Herzrhythmusstörungen handelt. In der Regel besteht eine Fahruntauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe II. Ausnahmen können hiervon erst frühestens nach 3–6 Monaten Genesungszeit und eingehender ärztlicher Untersuchung erteilt werden. Grundvoraussetzungen sind das Fehlen von Herzrhythmusstörungen, einer Herzinsuffizienz bzw. einer deutlich eingeschränkten Pumpfunktion der linken Herzkammer, eines Herzwandaneurysmas oder einer bereits bei leichter körperlicher Belastung auftretenden Angina pectoris. Es sind jährliche bzw. halbjährliche (bei Fahrgastbeförderung) Nachuntersuchungen vorgeschrieben.
5.3.6 Risikobeurteilung
Durch Minimierung der Anfangs erwähnten Risikofaktoren kann der Entstehung bzw. Progression einer KHK entgegengewirkt werden. Das Auftreten von Symptomen ist stets mit einer Verschlechterung der Prognose verbunden. Die Beurteilung hängt von der Lokalisation der Stenose, der Anzahl der betroffenen Gefäße sowie dem Ausmaß bestehender Ischämieareale (Myokardinfarktnarbe) sowie daraus resultierender Herzrhythmusstörungen ab. Patienten mit nachgewiesenen atherosklerotischen Plaques besitzen prinzipiell ein hohes Risiko eines thrombotischen Gefäßverschluss durch Plaqueruptur bei plötzlichen Blutdruckanstiegen. In vielen Fällen kann bei einem primären Ereignis durch Standardverfahren wie Ballondilatation einschließlich Stenting bzw. die Bypass-Chirurgie eine komplette Myokardrevaskularisation mit entsprechender Prognoseverbesserung erzielt werden. Bei Patienten nach PTCA
ist der endgültige Erfolg erst nach einem halben Jahr durch einen abschließenden Belastungstest zu beurteilen. Kommt es bis dahin zu keiner Restenosierung, ist eine Rezidivwahrscheinlichkeit äußerst gering. Bei Mehrgefäßerkrankungen ist eine Kontrollangiographie sinnvoll. Die jährliche Letalität der Angina pectoris beträgt ca. 4–5%, das ist etwa eine Verdoppelung gegenüber der normalen Sterblichkeit im mittleren Lebensalter. Bei Zustand nach Myokardinfarkt gehen bestimmte Faktoren mit einer Verschlechterung der Prognose einher, dies sind: 5 hohes Alter, 5 Myokardinfarkt in der Vorgeschichte, 5 anteriorer Herzinfarkt, 5 neu aufgetretenes Vorhofflimmern, 5 Linksherzinsuffizienz und Sinustachykardie, 5 Diabetes mellitus Typ 2.
5.3.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die kardiologische Rehabilitation hat das Ziel, eine drohende Erwerbsunfähigkeit abzuwenden und den Patienten in das Erwerbsleben und das soziale Umfeld wieder einzugliedern. Oberstes Ziel ist dabei eine Verhinderung der Krankheitsprogression. Nach stationärer Aufnahme des Patienten in eine Rehabilitationseinrichtung muss in einer Eingangsuntersuchung die körperliche Belastbarkeit sowie das individuelle kardiovaskuläre Risikoprofil festgestellt werden. Die daraus abgeleiteten individuellen Behandlungsmaßnahmen umfassen physikalische Therapie, psychosoziale Betreuung, Gesundheitsbildung und Optimierung und Förderung der Akzeptanz der medikamentösen Dauertherapie. Ein Schwerpunkt der Sekundärprävention liegt in einem gezielten körperlichen Aufbautraining und dadurch bedingt einer Verbesserung bzw. Optimierung der körperlichen Belastbarkeit im Rahmen des stationären Aufenthaltes, aber auch ambulant zu Hause, z. B. durch Vermittlung ambulanter Herzsportgruppen zur Fortführung der begonnen Bewegungstherapie. Außerdem soll eine Reduktion der individuellen Risikofaktoren angestrebt werden. Dies kann durch eine Änderung des Lebensstils (Ernährungsverhalten, Nikotinkarenz, Alkoholkarenz, körperliche Betätigung) und durch eine medikamentöse Dauertherapie (blutdruckoder lipidsenkende Medikation, optimale diabetische Einstellung) erreicht werden. Hier kommt der Rehabilitation ein besonders wichtiger Stellenwert zu, nämlich die Informationsvermittlung und Schulung des Patienten in Hinblick auf seine Erkankung. Dies betrifft u. a. auch die Vermittlung der Notwendigkeit einer lebenslangen antithrombozytären Medikation bzw. die eingehende Schulung im Umgang mit den Medikamenten (z. B. Marcumar-Therapie).
5
138
1
Kapitel 5 · Herz
> Bei rund 2/3 der berufstätigen Patienten kann die Erwerbsfähigkeit durch eine intensive Rehabilitation erhalten werden.
2
Aorteninsuffizienz 5.4
3 4
Endokard und Klappen H. Gross, C. Nöhrer, V. Klauss, H. Schmitz
5.4.1 Krankheitsdefinition
Endokarderkrankungen
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Synkope kann ebenfalls häufig das erste Symptom einer relevanten Stenose sein. Die Schweregradeinteilung ist in . Tab. 5.17 gezeigt.
5 Nichtinfektiöse Endokarditis: – Endocarditis verrucosa rheumatica: Komplikation des akuten rheumatischen Fiebers, – Endocarditis verrucosa simplex: thrombotische Auflagerung an Mitral- und Aortenklappe im Rahmen schwerer chronischer Erkrankungen (z. B. metastasierende Karzinome), – Endokarditis Libman-Sacks: thrombotische Auflagerung an Mitral- und Trikuspidalklappe bei systemischem Lupus erythematodes. 5 Infektiöse Endokarditis. 5 Endokardfibrosen (selten).
Herzklappenerkrankungen Aortenklappenerkrankungen Aortenstenose
Die valvuläre Aortenstenose ist der häufigste Herzklappenfehler beim Menschen. Hier kommt es durch Veränderung der Aortenklappe zu einer Beeinträchtigung des Blutflusses in die Aorta. Sie kann sowohl angeboren als auch erworben sein. Bei den angeborenen Aortenklappenfehlbildungen handelt es sich größtenteils um bikuspide Aortenklappen, sehr viel seltener findet man unikommisural angelegte oder hypoplastische Klappen. Erworbene Veränderungen der Aortenklappen sind fast ausschließlich postentzündlicher oder degenerativer Genese. Im jüngeren Alter überwiegen die postinflammatorisch-rheumatisch geschädigten Klappen. Mit zunehmendem Alter dominieren degenerative Stenosen. Sowohl bei der degenerativ bedingten Aortenstenose als auch bei der postinflammatorisch-rheumatischen Form kommt es meist über Jahrzehnte zu einer Reduktion der Klappenöffnungsfläche und der Beweglichkeit der Taschenklappen, bedingt durch narbigen Umbau und Kalzifikation. Kompensatorisch bildet sich eine linksventrikuläre Hypertrophie. Aus diesem Grund ist auch ein langes beschwerdefreies Intervall charakteristisch. Erst nach Jahren (und Erschöpfung der Kompensationsmechanismen) kommt es zum Auftreten typischer Symptome wie Angina pectoris, Belastungsdyspnoe und Leistungsabfall. Eine
Die Aorteninsuffizienz (AI) ist als ein Reflux über der Aortenklappe aufgrund unterschiedlicher Ursachen definiert. Hierbei kann es sich um strukturelle Veränderungen der Taschenklappen oder um eine fehlende Koaptation strukturell unauffälliger Klappen bzw. eine Kombination aus beiden Ursachen handeln. Zu unterscheiden ist zwischen der akuten Aorteninsuffizienz, die bei der Begutachtung eine geringere Rolle spielt, und der chronischen Insuffizienz der Aortenklappe. Bei Letzterer kommt es durch die Volumenbelastung des linken Ventrikels zunächst zu einer kompensatorischen Steigerung des Schlagvolumens und im weiteren Verlauf über mehrere Jahre zu einer zunehmenden Vergrößerung des Ventrikels. Die Erkrankung verläuft über Jahre und Jahrzehnte klinisch stumm. Erst bei Erschöpfung der Kompensationsmöglichkeiten kommt zunächst es zu einer Dilatation des linken Ventrikels, später auch zu einer Abnahme der linksventrikulären Ejektionfraktion. Erst beim Vorliegen einer höhergradigen Einschränkung der linksventrikulären Funktion treten Zeichen der Herzinsuffizienz wie zunehmende Belastungsdyspnoe und Angina pectoris auf. Ab diesem Stadium ist meist ein Herzklappenersatz indiziert. Hierdurch wird die Prognose entscheidend verbessert. Die Schweregradeinteilung ist in . Tab. 5.18 gezeigt.
Mitralklappenerkrankungen Mitralklappenstenose
Bei der Mitralstenose kommt es zu einer Behinderung des Bluteinstroms in den linken Ventrikel. Sie ist fast ausschließlich Folge eines rheumatischen Fiebers. Dabei liegt eine Entzündung des Endokards vor, die über Jahre zu einer Verbackung der Klappenränder und somit zur Stenose führt. Als Folge kommt es zu einer Reduktion des Einstroms in den linken Ventrikel, wodurch das Herzzeitvolumen reduziert wird. Gleichzeitig entsteht durch die Erhöhung der linksatrialen Drücke eine chronische Druckbelastung der Lungengefäße. Es entwickelt sich ein pulmonaler Hypertonus. Durch die Druckbelastung des Vorhofs kommt es zur Dilatation des linken Vorhofs, welche im fortgeschrittenen Stadium zu Vorhofflimmern und der Gefahr der Thrombenbildung und Embolisation führt. Meist entwickelt sich über Jahre eine zunehmende Belastungsdyspnoe mit allgemeinem Leistungsabfall und Müdigkeit. Gelegentlich treten Husten und Hämoptysen auf. Häufig wird die Diagnose erst aufgrund einer akuten Dekompensation gestellt, z. B. wenn neu aufgetretenes Vorhofflimmern zu einer kardialen Dekompensation führt. Die Schweregradeinteilung ist in . Tab. 5.19 gezeigt.
139 5.4 Endokard und Klappen
. Tab. 5.17. Einteilung der Schweregrade der Aortenstenose (ACC/AHA 2006) Leicht
Mittelgradig
Schwer
Mittlerer Druckgradient im Herzecho
<25 mm Hg
25–40 mm Hg
>40 mm Hg
Maximale Flussgeschwindigkeit
<3,0 m/s
3,0–4,0 m/s
>4,0 m/s
Klappenöffnungsfläche
>1,5–2,0 cm2
1,0–1,5 cm2
<1,0 cm2
. Tab. 5.18. Einteilung der Schweregrade der Aorteninsuffizienz (ACC/AHA 2006) Leicht
Mittelgradig
Schwer
Angiographisches Stadium
1
2
3–4
Farbdoppler-Jetbreite
Zentraler Jet, kleiner 25% des LVOT
Höhergradiger als leichte Aorteninsuffizienz, aber keine Zeichen einer schweren Aorteninsuffizienz
Zentraler Jet, größer 65% des LVOT
V. contracta im Doppler
<0,3 cm
0,3–0,6 cm
>0,6 cm
. Tab. 5.19. Einteilung der Schweregrade der Mitralstenose (ACC/AHA 2006) Leicht
Mittelgradig
Schwer
Mittlerer Druckgradient im Herzecho
<5 mm Hg
5–10 mm Hg
>10 mm Hg
Systolischer pulmonalarterieller Druck
<30 mm Hg
30–50 mm Hg
>50 mm Hg
Klappenöffnungsfläche
>1,5 cm2
1,0–1,5 cm2
<1,0 cm2
. Tab. 5.20. Einteilung der Schweregrade der Mitralinsuffizienz (ACC/AHA 2006) Leicht
Mittelgradig
Schwer
Angiographisches Stadium
1
2
3–4
Farbdoppler-Jetbreite
Kleiner zentraler Jet, Fläche <4 cm2 bzw. <20% des LA
Höhergradiger als leichte Mitralinsuffizienz, aber keine Zeichen einer schweren Mitralinsuffizienz
Großer zentraler Jet, Fläche >8 cm2 bzw. >40% des LA
V. contracta im Doppler
<0,3 cm
0,3–0,6 cm
>0,6 cm
Zusätzliche Kriterien Größe linker Vorhof
Vergrößert
Größe linker Ventrikel
Vergrößert
Mitralklappeninsuffizienz
Die Mitralinsuffizienz (MI) ist nach der Aortenstenose das häufigste erworbene Vitium. Meist liegt ursächlich ein Mitralklappenprolaps vor, aber auch eine Dysfunktion der Papillarmuskeln, z. B. durch eine koronare Herzerkrankung oder eine Ruptur von Sehnenfäden, Erkrankungen des Autoimmunsystems (z. B. systemische Lupus erythematodes, Sklerodermie) oder Kollagenerkrankungen wie das Marfan-Syndrom können verantwortlich sein. Durch die Mitralinsuffizienz kommt es zu einer Volumenbelastung des linken Ventrikels, die zunächst durch
eine Hypertrophie kompensiert werden kann. Im weiteren Verlauf entstehen eine Dilatation des linken Ventrikels und eine Erhöhung der linksventrikulären Füllungsdrücke. Als Folge treten eine zunehmende Lungenstauung sowie eine entsprechende Herzinsuffizienzsymptomatik auf. Die Schweregradeinteilung ist in . Tab. 5.20 gezeigt.
Pulmonal- und Trikuspidalklappenerkrankungen Pulmonalstenose
In aller Regel handelt es sich um angeborene Vitien, die häufig mit anderen kongenitalen Vitien wie z. B. FallotTetralogie assoziiert sind.
5
140
1 2 3 4 5
Kapitel 5 · Herz
Es kommt zu einer Verengung des rechtsventrikulären Ausflußtraktes und somit zu einer Druckbelastung des rechten Ventrikels. Im Verlauf kann sich in Abhängigkeit von Stenosegrad und Krankheitsdauer eine pulmonale Hypertonie entwickeln. Personen mit einer geringgradigen Pulmonalstenose sind fast immer asymptomatisch. Erst bei mittelgradigen Stenosen tritt eine Belastungsdyspnoe auf. Bei schweren Stenosen findet sich eine ähnliche Symptomatik wie bei einer Aortenstenose. Die Patienten klagen über Angina pectoris und Belastungsdyspnoe. Außerdem kommt es zum Auftreten von Synkopen, insbesondere unter körperlicher Belastung.
8
Die Pulmonalinsuffizienz tritt fast ausschließlich sekundär im Rahmen anderer Erkrankungen auf und ist somit praktisch nie alleiniger Gegenstand einer Begutachtung. Die Prognose ist abhängig von der verursachenden Grunderkrankung. Die jeweiligen Schweregrade sind in . Tab. 5.21 und 5.22 dargestellt.
9
Vorhofseptumdefekt Ätiologie
7
10 11
Vorhofseptumdefekte sind nahezu ausschließlich angeboren. Selten kann es durch ärztliche Eingriffe, beispielsweise elektrophysiologische Untersuchungen oder Mitralklappensprengungen, bei denen eine Punktion des Vorhofseptums durchgeführt wird, zu einer Schaffung eines persistierenden relevanten Shunts kommen.
12 13
. Tab. 5.21. Einteilung der Schweregrade der Pulmalklappenerkrankungen (ACC/AHA 2006) Charakteristik
14 15
Schwere Pulmonalstenose
5 Maximale Flussgeschwindidkeit >4,0 m/s 5 Gradient >60mm Hg
Schwere Pulmonalinsuffizienz
5 Jet im Farbdoppler füllt den Ausflusstrakt 5 Steile Dezeleration im cw-Doppler
16 17
20
Größere Vorhofseptumdefekte führen zu einer Volumenbelastung des Herzens durch einen Links-rfechts-Shunt. Hierdurch ausgelöst kommt es zu einer Dilatation des rechten Vorhofs und des rechten Ventrikels. Als Folge kann eine pulmonale Hypertonie entstehen. Kleinere Defekte haben in der Regel keine Auswirkungen.
Bedingt durch die Vergrößerung des rechten Vorhofs kommt es gehäuft zu supraventrikulären Rhythmusstörungen. Eine Belastungsdyspnoe entwickelt sich meist erst im Erwachsenenalter oder bei sehr großen Shuntvolumina. Ein kleiner bis mittelgroßer Defekt bleibt meist völlig asymptomatisch.
Ventrikelseptumdefekt Ätiologie Abgesehen von Einzelfällen ist der Ventrikelseptumdefekt angeboren und entsteht in der Schwangerschaft infolge einer Schlussstörung des Septums.
Pathophysiologie Bedingt durch die Druckunterschiede von linkem und rechtem Ventrikel tritt abhängig von der Größe des Defekts ein Links-rechts-Shunt auf, der zu einer Druck- und Volumenbelastung des rechten Ventrikels führt. Es entwickelt sich eine kompensatorische Hypertrophie mit Angleichung des rechts- an den linksventrikulären Druck. Schließlich kann es zu einer Shuntumkehr kommen (Eisenmenger-Reaktion).
Klinik Kleinere Ventrikelseptumdefekte sind häufig asymptomatisch, bei mittleren oder größeren Defekten findet man eine mehr oder weniger ausgeprägte Belastungsdypnoe. Im Falle einer Umkehrung der Shuntrichtung sind die Patienten hochsymptomatisch.
5.4.2 Fragen zum Zusammenhang . Tab. 5.22. Einteilung der Schweregrade der Trikuspidalklappenerkrankungen (ACC/AHA 2006)
18 19
Pathophysiologie
Klinik Pulmonalinsuffizienz
6
Nach Lokalisation und Ursache werden unterschiedliche Defekte unterschieden. Am häufigsten ist mit ca. 70% der Vorhofseptumdefekt vom Sekundumtyp, der durch eine Fehlentwicklung des Foramen ovale entsteht.
Charakteristik Schwere Trikuspidalstenose
5 Klappenöffnungsfläche <1,0 cm2
Schwere Trikuspidalinsuffizienz
5 V. contracta >0,7 cm 5 Systolische Flussumkehr in den hepatischen Venen
> Die Mehrzahl der Herzklappenerkrankungen ist angeboren.
Bei den erworbenen Herzklappenfehlern liegt meist eine postentzündliche Genese vor. Allerdings lassen sich nur bei der Hälfte der Erkrankten anamnestische Hinweise erfragen, da die Entzündung häufig asymptomatisch verläuft. Mehr als die Hälfte der Fälle beruht auf einer im Ju-
141 5.4 Endokard und Klappen
gendalter durchgemachten rheumatischen Endokarditis im Rahmen eines akuten rheumatischen Fiebers. Das rheumatische Fieber tritt typischerweise im Alter zwischen 5 und 15 Jahren auf, ist aber inzwischen in den westlichen Ländern sehr selten geworden, sodass jüngere Patienten üblicherweise aus weniger entwickelten Ländern kommen. Patienten aus westlichen Ländern sind meist älter und haben in der Jugend ein rheumatisches Fieber durchgemacht. Darüber hinaus können erworbene Herzklappenfehler degenerativer Genese sein. Hier ist zu klären, ob die Veränderungen durch die Belastung eines langjährigen Hypertonus oder einer vorbestehenden KHK (Dsykfunktion der Papillarmuskeln) bedingt sind oder z. B. Bindegewebserkrankungen (MarfanSyndrom) bzw. Autoimmunerkrankungen (SLE, Sklerodermie) vorliegen.
Zur Beurteilung des Schweregrades der Erkrankung dient die echokardiographische Messung der Klappenöffnungsfläche bzw. die dopplersonographische Bestimmung des mittleren Druckgradienten (. Tab. 5.17 bis 5.20). Weitere Anhaltspunkte sind das Stadium der Funktionsbeeinträchtigung des Herzens nach Roskamm u. Reindell (1996) sowie das Stadium der Herzinsuffizienz der NYHA. Zur Leistungsbeurteilung wird die maximale ergometrische Belastbarkeit als Maß für die kardiale Leistungsfähigkeit herangezogen (. Tab. 5.8). Ebenso ist die linksventrikuläre Funktion des Herzens ein wichtiger Parameter. Auf diese kann mittels echokardiographisch ermittelter EF oder im Rahmen einer Herzkatheteruntersuchung bestimmtem linksventrikulärem Druck (LVED), Pulmonalarterienmitteldruck (PAPm) und Pulmonalkapillardruck geschlossen werden.
Kommentar Kommentar Prinzipiell gilt: Im jüngeren Alter überwiegen die postinflammatorisch-rheumatisch geschädigten Klappen. Mit zunehmendem Alter dominieren degenerative Stenosen.
Die bei Kunstklappen obligate Antikoagulation erhöht den GdB/MdE um 10.
Aortenstenose Details zu GdB/MdE bei Aortenstenose zeigt . Tab. 5.23.
Im Falle der Mitral- und Aorteninsuffizienz kommt als erworbene Ursache auch eine langjährige Einnahme von Appetitzüglern (Phentermine, Fenfluramin) in Frage. Ebenso sind Folgen eines Herztraumas (Septumruptur, Klappen-, Papillarmuskel- oder Sehnenfädenabriss) als Ursache von Klappenfehlern bzw. Septumdefekten zu berücksichtigen.
5.4.3 Bewertung nach dem Sozialrecht
Aus sozialmedizinischer Sicht ist vor allem die Einschränkung der kardialen Leistungsfähigkeit, aber auch die Gefährdung durch Synkopen und Rhythmusstörungen relevant.
Arbeitsunfähigkeit Für die Beurteilung von GdB und MdE ist das Ausmaß der myokardialen Schädigung und der damit verbundenen Symptomatik ausschlaggebend.
Aorteninsuffizienz Bei den nicht operationsbedürftigen Aorteninsuffizienzen richtet sich die Beurteilung der MdE bzw. GdB nach dem myokardialen Funktionsstadium sowie der Symptomatik (. Tab. 5.24). Die Beurteilung bei den operationsbedürftigen Fällen richtet sich lediglich nach der angiographischen Einteilung der Insuffizienz (. Tab. 5.25). Nach erfolgtem operativem Aortenklappenersatz gelten dieselben Richtlinien wie bei den nicht operationsbedürftigen Fällen (. Tab. 5.26). Nach erfolgtem Klappenersatz kann die Herzfunktion sich u. U. vollständig erholen. Es ist allerdings zu beachten, dass ein Klappenersatz abhängig von Klappenmodell und Größe einen spezifischen Druckgradienten aufweist: Als Folge kann es zu keiner vollständigen Normalisierung der Hämodynamik kommen, vielmehr verbleibt eine Reststenose, die meist einer leichten Stenose entspricht.
. Tab. 5.23. GdB/MdE bei Aortenstenose Myokardiale Schädigung
Klinik
Druckgradient
Mde/GdB
–
Keine
50–80 mm Hg
80–100
–
Keine
>80 mm Hg
100
–
Symptomatisch
>50 mm Hg
100
+
Stets symptomatisch
100
5
142
Kapitel 5 · Herz
1
. Tab. 5.24. GdB/MdE bei nicht operationsbedürftiger Aorteninsuffizienz (Stadium I–II) Klinik
2
Myokardiales Funktionsstadium nach Roskamm 2
Asymptomatisch
2
3 4
. Tab. 5.27. GdB/MdE bei Mitralstenose Klinisches Stadium (NYHA)
PCP bei maximaler Belastung
GdB/MdE
I
<25 mm Hg
10–20
30–50
II
>25 mm Hg
30–50
Symptomatisch
40–60
II–III
<35 mm Hg
40–60
3
Symptomatisch
70–90
II–III
>35 mm Hg
60–80
4
Symptomatisch
100
IV
>35 mm Hg
100
Mde/GdB
5 6 7
. Tab. 5.25. GdB/MdE bei operationsbedürftiger Aorteninsuffizienz (Stadium III–IV)
. Tab. 5.28. GdB/MdE bei nicht operationsbedürftiger Mitralklappeninsuffizienz
Angiographisches Stadium
GdB/MdE
III
60–80
Myokardiale Schädigung
IV
100
–
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Klinik
Mde/GdB
0–40
+
Asymptomatisch
30–60
+
Symptomatisch
40–100
. Tab. 5.26. GdB/MdE bei Zustand nach Aortenklappenersatz (mit myokardialer Schädigung) Myokardiales Funktionsstadium nach Roskamm
Klinik
Mde/GdB
1
Asymptomatisch
30–40
1
Symptomatisch
40–50
2
Symptomatisch
40–60
2
Symptomatisch
50–70
3
Symptomatisch
50–90
4
Symptomatisch
100
Mitralstenose Bei der Begutachtung ist nicht nur der Grad der Klappenschädigung zu beachten. Häufig besteht neben der rheumatischen Schädigung der Herzklappe eine myokardiale Schädigung, die sich durch Korrektur der Mitralstenose nicht wesentlich beeinflussen lässt. Somit ist die Verbesserung der Belastbarkeit auch nach Beseitigung der Stenose geringer als bei anderen Herzklappenfehlern. Entsprechend können diesen Personen auch nach operativer Korrektur nur Tätigkeiten mit geringer Belastung zugemutet werden. Es müssen also Stenosegrad und myokardiale Funktion (NYHA) berücksichtigt werden (. Tab. 5.27).
Mitralklappeninsuffizienz Bei der Begutachtung der Mitralinsuffizienz klassifiziert man in operations- und nicht operationsbedürftige Vitien (. Tab. 5.28 und 5.29). Diese werden wiederum nach
myokardialer Schädigung unterteilt. Des Weiteren ist die Beurteilung von Personen nach erfolgter Mitralklappenrekonstruktion bzw. Mitralklappenersatz häufig gefordert. Sie richtet sich wie die präoperative Begutachtung nach myokardialer Schädigung und Symptomatik. Dabei wird zwischen der in aller Regel prognostisch günstigeren Mitralklappenrekonstruktion und dem Klappenersatz unterschieden. Personen mit einer normalen myokardialen Funktion ohne Schädigung des Herzmuskels sind bei einer nicht operationsbedürftigen Mitralklappeninsuffizienz in aller Regel vollständig beschwerdefrei und gut leistungsfähig. Zu beachten ist, dass die stetige Volumenbelastung des Herzens im Verlauf zu einer Schädigung des Muskels führen kann, was bei der Begutachtung berücksichtigt werden muss. Bei Personen mit Schädigung des Myokards findet sich meist eine klinische Symptomatik. Die Prognose ist in diesem Stadium der Erkrankung deutlich ungünstiger. Häufig kommt es hier zum Auftreten von Rhythmusstörungen. Berufe mit ausgeprägter körperlicher Belastung können daher nicht mehr ausgeübt werden.
Pulmonalstenose Bei der Begutachtung ist zwischen nicht operationsbedürftigen Pulmonalstenosen mit einem Druckgradienten von <50 mm Hg und operationsbedürftigen Pulmonalstenosen zu unterscheiden (. Tab. 5.30 bis 5.32). Des Weiteren richtet sich die Begutachtung nach dem myokardialen Funktionszustand.
143 5.4 Endokard und Klappen
. Tab. 5.29. GdB/MdE bei nicht operationsbedürftiger Mitralklappeninsuffizienz Eingriff
Myokardiale Schädigung
Nach operativer Mitralklappenrekonstruktion
–
Nach operativem Mitralklappenersatz
Mde/GdB 10–30
+
Asymptomatisch
20–50
+
Symptomatisch
30–100
–
30–50
+
Asymptomatisch
30–50
+
Symptomatisch
30–100
. Tab. 5.30. GdB/MdE bei nicht operationsbedürftiger Pulmonalstenose Druckgradient
Klinik
Klinik
<50 mm Hg
Mde/GdB 0–40
. Tab. 5.31. GdB/MdE bei operationsbedürftiger Pulmonalstenose Druckgradient
Klinik
Mde/GdB
>50 mm Hg
Asymptomatisch
30–60
>50 mm Hg
Symptomatisch
40–100
. Tab. 5.32. GdB/MdE nach Pulmonalklappenersatz Mde/GdB Mit myokardialer Schädigung, ohne Symptomatik
30–50
Myokardiales Funktionsstadium 1
10–20
Myokardiales Funktionsstadium 2
40–60
Myokardiales Funktionsstadium 3
70–90
Myokardiales Funktionsstadium 4
100
Rückbildung der rechtsventrikulären Hypertrophie. Eine Begutachtung sollte erst nach Beendigung der Umbauvorgänge durchgeführt werden, die bis zu ein Jahr in Anspruch nehmen können.
Vorhofseptumdefekt Bei der Begutachtung unterscheidet man nach Shuntvolumina und Vorhandensein einer pulmonalen Hypertonie. Nach Verschluss eines Vorhofseptumdefektes kommt es in der Regel zur Rückbildung der eventuell vorhandenen pulmonalen Hypertonie sowie der Folgen der Volumenbelastung des rechten Herzens, wenn rechtzeitig eine operative Korrektur stattfand. Die Umbauvorgänge nehmen etwa ein Jahr in Anspruch, sodass erst nach Ablauf dieser Frist eine Begutachtung erfolgen sollte.
Ventrikelseptumdefekt Die Begutachtung richtet sich nach der Größe des Shuntvolumens sowie der Richtung des Shunts. Ein Ventrikelsseptumdefekt nach Shuntumkehr ist hochsymptomatisch und prognostisch ungünstig, eine Berufstätigkeit ist für betroffene Personen nicht mehr möglich. Nach Verschluss eines Ventrikelseptumdefektes nimmt die Rückbildung der rechtsventrikulären Hypertrophie und der eventuell vorhandenen pulmonalen Hypertonie mindestens 6 Monate in Anspruch, sodass auch hier eine abschließende Begutachtung erst nach Ablauf eines Jahres sinnvoll ist.
Kommentar Zusätzlich bestehende Herzrhythmusstörungen erhöhen die GdB/MdE um 10-40%.
5.4.4 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung Personen mit einer geringen Pulmonalstenose haben eine gute Prognose und sind meist beschwerdefrei, sodass hier nur eine Einschränkung für Berufe mit sehr starker körperlicher Belastung besteht. Personen mit höhergradigen Pulmonalstenosen sind deutlich eingeschränkt in ihrer Belastbarkeit. Abhängig von der Symptomatik besteht meist eine vollständige Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Nach Pulmonalklappensprengung bzw. operativer Korrektur kommt es zu einer
Vor Abschluss einer Lebensversicherung wird ein ärztliches Gutachten über den Gesundheitszustand des Patienten erstellt, mit dem Ziel, bereits bestehende (ggf. bekannte) Veränderungen festzuhalten. Je nach Gesundheitszustand des Patienten ergibt sich die Prämie. Der Umfang der zu untersuchenden Parameter wird von der Versicherung festgelegt und richtet sich meist nach der Höhe der Versicherungssumme und variiert unter den Gesellschaften.
5
144
1
Kapitel 5 · Herz
Die Einschätzung des gesundheitlichen Risikos liegt bei der Versicherungsgesellschaft bzw. deren Ärzten.
Unfallversicherung
2 3
Herztraumen verbunden mit Klappen-, Papillarmuskeloder Sehnenfädenabriss können zu Herzklappenfehlern führen, ebenso sind traumatische Septumrupturen mit nachfolgender Shuntbildung möglich.
4
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung
Operation und Berücksichtigung einer angemessenen Rekonvaleszenzzeit (ca. ein Jahr) eine erneute Überprüfung mit Beurteilung nach der verbliebenen Restschädigung erfolgen. Im Falle einer Restitutio ad integrum liegen keine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit vor. Nicht operationstaugliche Patienten sind in der Regel arbeitsunfähig.
Fahrereignung
5 6 7
Im Falle einer Berufsunfähigkeit sind für den Gutachter das Tätigkeitsprofil sowie die Eignung für die Tätigkeiten entscheidend. In erster Linie spielt dabei die körperliche Belastung eine Rolle. Die Versicherungsgesellschaft prüft üblicherweise vor Abschluss einer derartigen Versicherung die gesundheitliche Eignung des Betroffenen. Tätigkeiten, für welche der Patient ungeeignet oder eingeschränkt erscheint, werden nicht versichert (oder sind mit höheren Prämien verbunden).
8 5.4.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Eine Einschränkung der Berufsfähigkeit hängt von der Einschränkung der kardialen Leistungsfähigkeit aufgrund der bestehenden myokardialen Schädigung sowie den möglichen Komplikationen (Herzrhythmusstörungen) und Symptomen ab. Bezüglich einer Einschätzung der zumutbaren körperlichen Belastbarkeit stellt die Belastungsergometrie (. Tab. 5.8) ein sinnvolles Maß dar. Die Dauerbelastung beträgt ca. 50–70% der ermittelten symptomlimitierten ergometrischen Belastbarkeit. Dabei müssen Alter, Geschlecht und Körpergewicht berücksichtigt werden. Für Patienten mit einer maximalen Belastbarkeit von >150 W/kg KG besteht nur für wenige, sehr schwere Tätigkeiten eine Untauglichkeit (Forstarbeiter, Feuerwehr). Patienten mit einer Leistungsfähigkeit von 1–1,5 W/kg KG sind auch für Berufe mit mittelschwerer körperlicher Belastung sowie für Akkord- und Wechselschichtarbeit nicht geeignet. Patienten mit einer maximalen Belastbarkeit von <1 W/kg KG sind in ihrer körperlichen Belastbarkeit hochgradig eingeschränkt. Es können nur leichte körperliche Arbeiten (Büroarbeit) ausgeführt werden, ggf. besteht auch eine Erwerbsunfähigkeit. Besteht vorwiegend eine Neigung zu Synkopen oder Herzrhythmusstörungen, liegt eine Arbeitsunfähigkeit für Tätigkeiten vor, in denen Kontrollfähigkeiten und Reaktionsvermögen gefordert werden sowie eine besondere Gefährdung in Berufen mit offenem Feuer, Absturzgefahr, schnell laufenden Maschinen oder Starkstrom. Sinnvoll ist die Unterscheidung von operationsbedürftig, nicht operationstauglich und Zustand nach Operation. Bei den operationsbedürftigen Fällen sollte nach erfolgter
Die Fähigkeit zur Fahrzeuglenkung ist vom Stadium einer bestehenden Herzinsuffizienz, der linksventrikulären Pumpfunktion und dem Vorhandensein bzw. dem Risiko von Herzrhythmusstörungen abhängig. Die besondere Gefahr ergibt sich durch die Möglichkeit des plötzlichen körperlichen Leistungszusammenbruchs infolge vorangehender Mangeldurchblutung des Gehirns. Bei der Erteilung der Fahrerlaubnis wird zwischen Fahrzeugen der Gruppe I (Führerscheinklassen 1, 3, 4, 5) und Gruppe II (Führerscheinklasse 2 und Fahrzeuge zur Personenbeförderung) unterschieden. Besteht bei gesichertem Herzklappenfehler auch unter stärkeren körperlichen Belastungen eine kompensierte Herzfunktion, ist eine Fahrereignung gegeben, sofern in Abständen von 2–3 Jahren in einer internistisch-kardiologischen Nachuntersuchung die Kompensation bestätigt wird (Ausnahme: Aortenstenose des Schweregrades III und IV sowie Personen, bei denen unter Belastung Synkopen auftreten). Bei Patienten mit Zeichen einer Herzleistungsschwäche unter besonderen Alltagsbelastungen (Treppensteigen, Laufen, Lastentragen) besteht eine Fahruntauglichkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe II. Eine Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe I kann nach entsprechendem Gutachten durch eine ärztliche Stelle sowie unter bestimmten Auflagen und Beschränkungen (regelmäßige ärztliche Kontrollen, Fahrzeugtyp-, Umkreis- und Tageszeitbeschränkung) ausgestellt werden. Dieselben Richtlinien gelten auch bei Patienten mit Zeichen einer Herzleistungsschwäche unter gewöhnlichen Belastungen. Allerdings bestehen im Falle einer Fahrerlaubnis weniger strenge Auflagen bzw. Beschränkungen. Patienten mit Zeichen einer Herzleistungsschwäche in Ruhe sind ungeeignet, ein Fahrzeug beider Gruppen zu lenken. Wird durch eine Operation der bestehende Herzfehler behoben, kann die bedingte Belastungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen wieder erreicht sein. Eine neuerliche Begutachtung ist nach einer entsprechenden Genesungszeit von etwa 12 Monaten postoperativ zu empfehlen.
145 5.5 Herztraumen und Operationen
5.4.6 Risikobeurteilung Therapeutische Schwerpunkte einer kardiologischen Rehabilitation
Vitien führen durch die langdauernde Mehrbelastung des Herzens je nach Ausmaß der Refluxmenge bzw. des Druckgradienten zu einer kompensatorischen Hypertrophie und zunehmenden Schädigung des Myokards mit den entsprechenden Komplikationen (Rhythmusstörungen, Minderperfusion). Durch die Kompensationsmechanismen des Herzens besteht klinisch zunächst ein langes beschwerdefreies Intervall. Erst bei Erschöpfung dieser Mechanismen und höhergradigen Einschränkung der linksventrikulären Funktion treten Zeichen der Herzinsuffizienz (Belastungsdyspnoe, Leistungsabfall, Angina pectoris, Synkope) auf. Speziell die symptomatische Aortenstenose ist mit einer mittleren Überlebenszeit von 2–3 Jahren mit einer schlechten Prognose verbunden, wohingegen es bei der asymptomatischen Form nur sehr selten zum plötzlichen Herztod kommt (gute Prognose). Ab dem Auftreten von Symptomen ist somit meist eine operative Korrektur indiziert. Hierdurch wird die Prognose entscheidend verbessert, da es durch myokardiales Remodelling zu einer vollständigen Normalisierung der eingeschränkten Funktion kommen kann. Eine Ausnahme bildet die Mitralstenose: Hier ist meist nur eine geringe Verbesserung der körperlichen Belastbarkeit nach Beseitigung der Stenose möglich. Die Letalität der Herzinsuffizienz liegt bei Patienten im NYHA-Stadium II bei 9-12%, bei Patienten im NYHAStadium IV bei 52%.
5 Physikalische Maßnahmen zur Erhöhung der kardiopulmonalen Belastbarkeit: Herzklappenfehler werden meist erst durch die Herzinsuffizienz klinisch manifest. Die rasche Ermüdbarkeit resultiert nicht nur aus dem reduzierten Herzzeitvolumen, sondern auch aus einem konditionellen Trainingsmangel und einer über verschiedene inflammatorische Mediatoren verursachte direkte muskuläre Mitbeteiligung und Schwächung, die durch Ausdauertraining verbessert werden kann. 5 Gesundheitsbildung und Coping-Strategien: Eine umfassende Informationsvermittlung zum richtigen Umgang mit der Krankheit (Früherkennung einer Dekompensation, Aufklärung über erlaubte Belastung, Ernährungsumstellung) ist Grundvoraussetzung für die Krankheitsverarbeitung. Auch das Erlernen der selbstständigen Kontrolle der Blutgerinnungswerte und Anpassung der entsprechenden Medikation nach Herzklappenersatz mit mechanischer Prothese ist von großer sozialer Bedeutung, weil es die Unabhängigkeit des Patienten fördert und z. B. eine Einschränkung seiner Reisefreiheit verhindert. 5 Therapie von Komplikationen bzw. begleitenden Erkrankungen (z. B. Arrhythmien): Die Optimierung der medikamentösen Dauertherapie ist ein Prozess, der mehr Zeit in Anspruch nimmt, als in einem Akutkrankenhaus oft zur Verfügung steht, und kann im Rahmen einer Rehabilitation gewährleistet werden. 5 Reduzierung von Risikofaktoren.
5.4.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Speziell bei Zustand nach Klappenersatz kann durch ein individuell zugeschnittenes körperliches Training, Gesundheitsbildung und Optimierung der medikamentösen Dauertherapie häufig eine Restitutio ad integrum und somit eine Aufrechterhaltung der vollständigen Erwerbsfähigkeit erzielt werden. Ausnahmen sind bereits stark fortgeschrittene Herzmuskelschädigungen, die durch myokardiales Remodelling nicht mehr behoben werden können. Auch nach Operation eines Mitralvitiums kann häufig eine pulmonale Hypertonie, verbunden mit einer eingeschränkten körperlichen Belastbarkeit, bestehen bleiben. Hier ist es das Ziel, eine weitgehende Beschwerdefreiheit des Patienten zu erreichen und ihm eine Wiedereingliederung in das Alltagsleben zu ermöglichen.
5.5
Herztraumen und Operationen M. Reinitzhuber, C. Nöhrer, Schmitz, E. Kreuzer
5.5.1 Krankheitsdefinition
Traumatische Herzschädigung Für die internistische Begutachtung sind Funktionsstörungen als Folge stumpfer Thoraxtraumen ohne Eröffnung des Brustkorbes relevant. Offene Verletzungen obliegen der traumatologischen bzw. herzchirurgischen Begutachtung, desgleichen iatrogene Herzverletzungen. Im Rahmen eines Thoraxtraumas kommt es in 10– 40% zu einer kardialen Mitbeteiligung.
5
146
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 5 · Herz
Denkbare Verletzungsmechanismen 5 Unidirektionale Krafteinwirkung durch Stoß, Schlag oder Aufprall 5 Bidirektionale Krafteinwirkung bei Kompression 5 Indirekte Krafteinwirkung, z. B. bei Krafteinwirkung auf das Abdomen oder extrakorporale Explosionen 5 Unterschiedlich gerichtete Beschleunigungskräfte bei Trägheit der intrathorakalen Organmassen
Als Folge der Krafteinwirkung entstehen Prellungen, Hämatome, Gefäßrupturen mit Blutungen bis hin zur Perikardtamponade oder Thrombosen der Koronargefäße. Außerdem kann es zu Klappen- oder Papillarmuskeleinbzw. -abrissen, zu Rupturen des Septum interventriculare oder der Herzwände kommen.
Schweregrade der traumatischen Herzschädigung 5 Commotio cordis: Reversible funktionelle Störung, keine morphologisch fassbare Veränderung. Herzrhythmusstörungen können auftreten. 5 Contusio cordis: Es können schwere Schädigungen mit morphologisch fassbaren Veränderungen, wie Septumoder Wandrupturen, Klappen- oder Papillarmuskelein- bzw. -abrissen auftreten. Wenn eine Defektheilung eintritt, dann führt diese in der Regel zu einer Beeinträchtigung der globalen Herzfunktion. Herzrhythmusstörungen sind häufig. 5 Compressio cordis (bidirektionale Krafteinwirkung): Auch hier entwickeln sich Herzwand- und Klappenschäden. Bei Kompression des Herzens ist auch ein Abriss der Aortenwurzel möglich.
Stromunfall Es müssen Unfälle mit Einwirkung von Gleich- oder Wechselstrom und Niederspannungs- (<1000 V) von Hochspannungsunfällen (>1000 V, autorenabhängig >500 V) unterschieden werden. Außerdem ist das Verletzungsausmaß von der Stromstärke, der Dauer des Stromkontaktes, dem Widerstand zwischen Stromquelle und Körper und dem Weg des Stromflusses durch den Körper abhängig. Ein Wechselstrom wirkt sich in der Regel auf den menschlichen Körper bereits bei geringen Stromstärken (ca. 75 mA) mit Herzrhythmusstörungen bis zum Kammerflimmern aus, während Gleichströme auch in höheren Stromstärken (ca. 300 mA) toleriert werden. Abhängig von der Stromspannung und der Einwirkdauer
entwickeln sich unterschiedlich starke Verbrennungen an den Stromeintrittstellen. Ströme verursachen generell neben Herzrhythmusstörungen auch Herzmuskelzellschäden, die an veränderten EKG-Ableitungen und am Anstieg der Herzenzyme abzulesen sind. Je nach Ausprägung und Ausdehnung dieser Zellschäden können sich konsekutiv die klinischen Zeichen einer beginnenden Herzinsuffizienz entwickeln (akut oder auch verzögert). Die erwähnten Herzrhythmusstörungen können u. U. zeitlich verzögert bis zu 12 Stunden nach dem Ereignis verifiziert werden.
Verbrennungsunfall Schwere Verbrennungsunfälle wirken sich akut auf das Herz-Kreislauf-Geschehen aus. Im Ramen der gefürchteten akuten Hypovolämie in den ersten Tagen nach dem Verbrennungsunfall bzw. nach dem Trauma verringert sich in der Regel die Herzleistung, zumal auch der periphere Gefäßwiderstand (je nach Grad und Tiefe der Verbrennung) steigt. Außerdem setzt die verbrennungsbedingte Gewebszerstörung Mediatoren frei, die die myokardiale Funktion negativ beeinflussen.
Chirurgische Eingriffe am Herzen Perkutane transluminale Koronarangioplastie (PTCA) Unter der PTCA versteht man ein invasives Verfahren, bei dem über einen Zugang im Bereich peripherer Arterien ein intravaskulärerer Katheter in den Bereich der Herzkranzgefäße vorgeschoben wird. Dort können, nach Darstellung des jeweiligen Gefäßes durch Kontrastmittel, Stenosen durch Ballonkatheter dilatiert werden. Die Implantationen von Stents verbessern und konsolidieren das Ergebnis der vorausgehenden Dilatation in den meisten Fällen.
Implantation eines Herzschrittmachers oder/und ICD (implantierbarer Kardioverter/Defibrillator) Die Implantation eines Herzschrittmachers erfolgt zur Therapie bradykarder Herzrhythmusstörungen und atrioventrikulärer Überleitungsstörungen. Die Schrittmacherbox wird in der Regel auf Höhe der Brustmuskulatur rechts implantiert, die Elektroden werden über die V. subclavia zum Herzen vorgeschoben. Die Implantation eines ICD erfolgt auf ähnliche Art. Er ist in der Lage, lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen wie Kammerflimmern und ventrikuläre Tachykardien zu erkennen und mittels Elektroschockabgabe zu terminieren. Diese Ereignisse können mittels einer EKGSpeicherfunktion aufgezeichnet werden.
Bypass-Operation Im Rahmen eines chirurgischen Eingriffes wird eine Revaskularisation durch Überbrückung eines verschlossenen oder stenosierten Gefäßabschnittes vorgenommen.
147 5.5 Herztraumen und Operationen
Als Bypassgefäße dienen dabei Transplantate peripherer Venen oder Arterien, wie z. B. der A. mammaria interna. Die Operation kann mit oder ohne Einsatz der Herz-Lungen-Maschine durchgeführt werden. Indikationen sind die koronare Mehrgefäßerkrankung, einschließlich der Engstellung des linken Hauptstamms, aber auch langstreckige Verengungen, bei denen eine PTCA nicht möglich ist. Außerdem gelten Dissektionen oder Perforationen, die durch eine PTCA verursacht worden sind, als absolute Operatioonsindikationen.
5 Chirurgische Eingriffe am Herzen: – PTCA:
Entsprechend der Ätiologie der koronaren Herzkrankheit liegt nur sehr selten ein Anspruch auf Entschädigung vor. Dies könnte der Fall sein, wenn es im Rahmen eines Unfalles zu Schädigungen der Herzkranzgefäße gekommen ist. Die GdB/MdE nach PTCA und/oder Stentimplantation muss nach Ablauf von 6 Monaten überprüft werden. –
Left ventricular assist device (LVAD) LVAD sind mechanische, implantable Pumpsysteme, die im Falle einer schweren linksventrikulären Insuffizienz den Kreislauf aufrechterhalten und stabilisieren. Sie eignen sich zur Überbrückung einer Wartezeit zur Herztransplantation. Dauerimplantationen, d. h. Systeme für eine lange Laufzeit bei Patienten, bei denen Kontraindikationen eine Herztransplantation verhindern, stellen als sogenannte Destination-Therapie ein gewisses operatives Klientel dar.
Treten Herzrhythmusstörungen als Folge von (Strom-) Unfällen auf, kann eine Anerkennung als Folgeschaden erfolgen. –
5.5.2 Fragen zum Zusammenhang 5 Traumatische Herzschädigung:
Für die Anerkennung einer traumatischen Herzschädigung müssen folgende Bedingungen gegeben sein: – adäquates Thoraxrauma, – enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Trauma und ersten Symptomen (maximal 24 Stunden), – Vorliegen von Brückensymptomen und Fehlen anderer Auslöser, wenn zwischen Unfallereignis und ersten Symptomen ein längerer Zeitraum liegt. > Eine eindeutig auf Stromexposition oder Verbrennung zurückführbare kardiale Schädigung ist als Folgeschaden zu werten.
Bypass-Operation:
Erfolgt die Bypass-Operation aufgrund einer Verletzung der Koronararterien, kann sie als Folgeschaden dieser Verletzung anerkannt werden. –
Herztransplantation, Implantation eines LVAD:
Eine Herztransplantation oder Implantation eines LVAD kann als Folgeschaden anerkannt werden, wenn die zum Eingriff führende Herzerkrankung einen Unfall oder ein anderes entschädigungspflichtiges Leiden zur Ursache hatte.
Herztransplantation Die Herztransplantation ist indiziert bei Patienten mit fortgeschrittener, therapierefraktärer, terminaler Herzinsuffizienz aufgrund einer Kardiomyopathie, einer koronaren Herzerkrankung, Herzklappenerkrankungen oder den Folgen angeborener Herzvitien. Geeignet sind Patienten ohne prognoselimitierende Begleiterkrankungen (z. B. maligne Tumoren, schwere Organfunktionsstörungen). Voraussetzung ist eine ausreichende Compliance des Patienten.
Herzschrittmacher- und ICD-Implantation:
5.5.3 Bewertung nach dem Sozialrecht
Von sozialmedizinischer Bedeutung sind vor allem durch Herztraumen bedingte kardiale Schäden, die mit einer eingeschränkten körperlichen Belastbarkeit einhergehen. Dies führt nicht nur zu einer Einschränkung bei der beruflichen Eignung, sondern auch bei der aktiven Freizeitgestaltung. Folgen sind Verschlechterung des psychischen Allgemeinbefindens und soziale Isolation. Somit ist es von größter Bedeutung, dem Patienten die frühere selbstständige Lebensführung wieder zu ermöglichen. 5 Traumatische Herzschädigung:
Die Bemessung von GdB/MdE richtet sich nach Art und Schwere der verletzten Struktur und der damit verbundenen Leistungseinschränkung. –
Perikard:
Die Bemessung der GdB/MdE erfolgt nach denselben Richtlinien wie bei den anderen Erkrankungen des Perikards (7 Kap. 5.2). –
Myokard:
Da es im Rahmen einer traumatischen Myokardschädigung zu regionalen oder globalen Wandbewegungsstörungen kommen kann, entstehen ähnliche klinische Symptome wie jene im Rahmen von Myokardinfarkten oder Kardiomyopathien. Daher erfolgt auch die Begutachtung nach diesen Richtlinien (7 Kap. 5.2).
5
148
Kapitel 5 · Herz
–
1 2 3 4 5
Bei Verletzungen der Koronararterien kommt es zu vergleichbaren Schädigungen wie im Rahmen der koronaren Herzkrankheit. Daher erfolgt auch die Beurteilung nach diesen Kriterien (7 Kap. 5.3). 5 Stromunfall:
Die Bemessung von GdB/MdE richtet sich nach dem Ausmaß bleibender Schäden bzw. Funktionseinschränkungen, wie z. B. Myokardnarben und Herzrhythmusstörungen oder myokardial bedingter Leistungsminderungen.
8 –
–
13 –
Herztransplantation:
Neben der kardialen Leistungsfähigkeit, die u. a. vom Vorliegen einer Abstoßungsreaktion bestimmt wird, müssen die Auswirkungen der lebenslang erforderlichen immunsuppressiven Me-
14 15
18
. Tab. 5.33. GdB/MdE bei Zustand nach Stentimplantation oder Bypass-Operation Stadium nach NYHA
Maximale Belastbarkeit
GdB/MdE
I
>2 W/kg KG
10–30
II und III
1,5–2 W/kg KG
30–60 60–80
19 20
Befunde
GdB/MdE
NYHA I
5 Belastung 100–150 W
20
NYHA II
5 Belastung 75–100 W
30–40
5 Belastung 50–75 W
40–60
5 Reduzierte Kontraktilität NYHA III
IV
5 Belastung 25–50 W
60–90
NYHA IV
5 Dilatierte Ventrikel
100
5 Reduzierte Ejektionsfraktion 5 Hohe Füllungsdrücke Akute Abstoßung
5 Positive Endomyokardbiopsie
100
dikation in die Beurteilung miteinbezogen werden. Einen Überblick über die Beurteilung von GdB/ MdE gibt . Tab. 5.34.
Bypass-Operation:
Die Methoden zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit unterscheiden sich nicht von denen bei konservativ behandelten Herzerkrankungen. Die Beurteilung sollte nicht früher als 3 Monate postoperativ erfolgen, um eine ausreichende Rekonvaleszenzphase zu gewährleisten. Die Einschätzung der GdB/MdE ist in . Tab. 5.33 dargestellt.
12
17
Herzschrittmacher- und ICD-Implantation:
Die Begutachtung der GdB/MdE richtet sich nach der zugrunde liegenden Herzhythmusstörung bzw. strukturellen Herzerkrankung
11
16
Symptomatik
5 Deutlich reduzierte Kontraktilität
Die Leistungsfähigkeit wird anhand von klinischer Symptomatik und ergometrischer Belastbarkeit beurteilt. Durch eine langfristig erfolgreiche Behandlung kann bei Patienten ohne vorausgegangenen Myokardinfarkt eine weitgehend normale Leistungsfähigkeit wiederhergestellt werden. Bei misslungener oder unvollständiger Ballondilatation oder Stent(re-)stenosen gelten die gleichen Beurteilungskriterien wie unter konservativer Therapie.
7
10
. Tab. 5.34. GdB/MdE nach Herztransplantation
5 Chirurgische Eingriffe am Herzen: – PTCA:
6
9
Koronararterien:
1–1,5 W/kg KG
80–100
<1 W/kg KG
100
5.5.4 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung Vor Abschluss einer Lebensversicherung wird ein ärztliches Gutachten über den Gesundheitszustand des Patienten erstellt. Die Einschätzung des gesundheitlichen Risikos liegt bei der Versicherungsgesellschaft bzw. deren Ärzten.
Unfallversicherung Kommt es während der Arbeitszeit oder auf dem Arbeitsweg zu einem Trauma oder einer Stromexposition, werden bleibende Schäden als Arbeitsunfall anerkannt. Dabei muss ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Trauma/Stromexposition und ersten Symptomen (maximal 24 Stunden) vorliegen, oder es müssen, wenn zwischen Unfallereignis und ersten Symptomen ein längerer Zeitraum liegt, Brückensymptome bestehen und andere Auslöser fehlen.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Im Falle einer Berufsunfähigkeit ist für den Gutachter das Tätigkeitsprofil entscheidend. Meist überprüft die Versicherungsgesellschaft vor Vertragsabschluss die gesundheitliche Eignung des Betroffenen. Anhand der erforder-
149 5.5 Herztraumen und Operationen
lichen körperlichen Belastung und der Ausübung verantwortungsvoller Arbeiten an diesem Arbeitsplatz wird die Prämie festgelegt und entschieden, inwieweit der Betroffene geeignet erscheint.
5.5.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten 5 Traumatische Herzschädigung und Stromunfall:
Einschränkungen bei der Berufsausübung ergeben sich durch Art und Ausmaß der verbliebenen Schädigung am Herzen. Bei dadurch eingeschränkter Pumpfunktion können je nach Schwere der Beeinträchtigung Tätigkeiten mit schwerer, mittelschwerer oder leichter körperlicher Belastung nicht mehr ausgeführt werden. Stehen nach einem akuten Ereignis komplexe Herzrhythmusstörungen, evtl. auch Synkopen im Vordergrund, besteht Erwerbsunfähigkeit für Tätigkeiten, welche besondere Ansprüche an Kontrollfähigkeit und Reaktionsvermögen stellen. 5 Chirurgische Eingriffe am Herzen: – PTCA:
Die Erwerbsfähigkeit ist vom Langzeiterfolg der Behandlung und der Myokardfunktion abhängig. Die Beurteilung erfolgt nach erreichter ergometrischer Belastbarkeit. Nach erfolgreicher PTCA mit oder ohne Stentimplantation ist die Erwerbsfähigkeit nach Ablauf von 6 Monaten zu beurteilen. –
Herzschrittmacher- und ICD-Implantation:
Nach erfolgreicher Herzschrittmacher- bzw. ICDImplantation ist die kardiale Leistungsfähigkeit und damit die berufliche Eignung von der zugrunde liegenden Herzerkrankung abhängig. Vermieden werden müssen allerdings Tätigkeiten, bei deren Ausübung elektromagnetische Felder entstehen können. –
Bypass-Operation:
Ist die Revaskularisation erfolgreich und die linksventrikuläre Funktion annähernd normal – in den meisten Fällen ist die Auswurfleistung des Herzens allerdings vermindert –, ist mit einer Erwerbsfähigkeit für leichte bis mittelschwere körperliche Belastungen zu rechnen. –
Herztransplantation:
Nach erfolgreicher Herztransplantation muss sehr individuell über eine mögliche Erwerbsfähigkeit entschieden werden. Die Beurteilung muss neben der kardialen Belastbarkeit auch das erhöhte Infektionsrisiko durch die immunsuppressive Therapie berücksichtigen. Erwerbsunfähigkeit besteht für Berufe mit häufigem Publikumsverkehr, Tierund Pflanzenkontakt. Eingeschränkte Erwerbsfähigkeit besteht auch bei häufig erforderlichen Reisen oder Arbeiten im Schichtdienst.
Fahrereignung Beim Auftreten von plötzlichen, das Bewusstsein beeinträchtigenden Herzrhythmusstörungen besteht Fahruntauglichkeit. Nach erfolgreicher Therapie der Rhythmusstörung kann angenommen werden, dass der Patient wieder in der Lage ist, Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 zu lenken, wenn über einen Zeitraum von 3 Monaten keine kardialen Ereignisse auftraten. Wer bereits in Ruhe an den Zeichen einer Herzinsuffizienz leidet, ist nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug zu lenken. Bei Symptomen der Herzinsuffizienz unter Alltagsbelastungen besteht keine Eignung zum Lenken von KFZ der Gruppe 2, KFZ der Gruppe 1 können, gff. unter besonderen Einschränkungen (z. B. betreffend Tageszeit, Umkreis oder Fahrzeugtyp), gelenkt werden.
Sonderfragen im öffentlichen Dienstrecht Da operative Eingriffe am Herzen in der Regel erst im höheren Lebensalter erforderlich werden – heute allerdings verschieben sich die Indikationsstellungen für Herzoperationen nach allen Altersrichtungen –, wenn Fragestellungen also nach Berufswahl oder Übernahme in ein Beamtenverhältnis bereits abgeschlossen sind, stellen sich Fragen der körperlichen Eignung hierfür nicht. Voraussetzung für eine Frühpensionierung ist eine andauernde Dienstunfähigkeit aufgrund einer Herzerkrankung. Da der Begriff »dauernde Dienstunfähigkeit« eine Zukunftsprognose enthält, ist bei einer eventuellen Besserung des Gesundheitszustandes eine Reaktivierung des Dienstverhältnisses möglich. Ansonsten gelten im öffentlichen Dienstrecht die gleichen Einschränkungen wie in der allgemeinen Berufsausübung. Dabei ist bei beamteten Feuerwehrleuten oder Polizisten im Außendienst von einer schweren körperlichen Tätigkeit auszugehen, auch ist in diesen Berufsgruppen regelmäßig Schichtdienst vonnöten. Zur Vermeidung von Frühpensionierungen wird daher Präventionsmaßnahmen hohe Bedeutung zugesprochen.
5.5.6 Risikobeurteilung 5 Traumatische Herzschädigung:
5 Die bisher bekannten Langzeitbeobachtungen von Patienten mit Zustand nach stumpfem Thoraxtrauma ergeben bei rechtzeitiger chirurgischer/internistischer Behandlung eine günstige Prognose. 5 Stromunfall:
Nach niederenergetischen Stromunfällen ohne bleibende Schäden ist die Prognose günstig. Beim Auftreten von strukturellen Schädigungen oder komplexen Herzrhythmusstörungen, insbesondere nach Kammerflimmern, ist die Prognose eher ungünstig zu bewerten.
5
150
1
Kapitel 5 · Herz
5 Chirurgische Eingriffe am Herzen: : – PTCA:
Die Prognose nach erfolgreicher PTCA ist günstig. Nach Stentimplantation kann es allerdings zu erneuten, durch den Stent bedingten Stenosen der Koronargefäße kommen. Nach 10 Jahren Beobachtungszeit sind 79% der Patienten mit koronarer Eingefäßerkrankung und 69% der Patienten mit Mehrgefäßerkrankung frei von kardialen Symptomen.
2 3 4 5
–
Die Prognose hängt von der kardialen Grunderkrankung ab. –
7 8 9
11 12 13 14
Bypass-Operation:
Durch die Bypass-Operation kann die Prognose von Patienten mit koronarer Herzkrankheit verbessert werden. So betrug die 5-Jahres-Überlebensrate von Betroffenen mit koronarer 3-GefäßErkrankung und reduzierter Ejektionsfraktion 82% gegenüber 59% in der konservativ behandelten Gruppe (CASS-Studie). Perioperativ kommt es bei ca. 2–5% der Patienten zu einem akuten Myokardinfarkt, nach 1 Jahr sind bis zu 10% und nach 10 Jahren bis zu 60% der venösen Bypässe verschlossen. Arterielle Bypässe zeigen nach 10 Jahren eine Offenheitsrate von >90%.
6
10
Herzschrittmacher- und ICD-Implantation:
–
Herztransplantation:
Im 1. Jahr nach einer erfolgreichen Herztransplantation wird die Prognose vor allem durch das Auftreten von Infekten unter immunsuppressiver Therapie bestimmt. Abstoßungsreaktionen sind heute im Laufe des 1. Posttransplantationsjahres sehr selten bzw. ungewöhnlich. Die 1-Jahres-Überlebensrate liegt bei ca. 85%. Der weitere Verlauf wird wesentlich von Gefäßveränderungen des Transplantats und Begleiterkrankungen wie arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz oder Tumorerkrankungen bestimmt. Die 10-Jahres-Überlebensrate liegt bei ca. 40–60% der Transplantierten.
15 16 17 18 19 20
5.5.7 Verbesserung der Prognose durch
und wenn möglich auch den beruflichen Alltag angemessen zu bewältigen. > Die wesentlichen Aufgaben der kardiologischen Rehabilitation können nur durch intensive, auch fächerübergreifende (Ärzte, Psychologen, Physio-, und Ergotherapeuten, Sozialarbeiter), interdisziplinäre Zusammenarbeit erreicht werden.
Dazu muss nach Aufnahme des Patienten in die Rehabilitationseinrichtung eine frühzeitige, ausführliche Eingangsuntersuchung mit Erfassung des funktionellen Gesundheitszustandes erfolgen. Ziel ist neben der möglichst detaillierten Erfassung der körperlichen Belastbarkeit auch die Definition eines individuellen Risikoprofils. Daraus leiten sich in weiterer Folge die durchgeführten Behandlungsmaßnahmen ab, die neben balneophysikalischen Therapieverfahren eine psychologische Betreuung, gesundheitsbildende Maßnahmen, berufliche und (behinderten-) rechtliche Beratung durch Sozialarbeiter oder Vertreter der Rentenversicherungen und die Optimierung und individuelle Anpassung einer medikamentösen Dauertherapie umfassen. Vor allem nach Herztransplantationen ist die psychologische Betreuung der Patienten von entscheidender Wichtigkeit zur Unterstützung der Krankheitsbewältigung und Erarbeitung von Zukunftsstrategien.
Literatur Hollmann W, Strüder HK, Predel H-G (2006) Spiroergometrie. Schattauer, Stuttgart Rauch B, Middeke M, Bönner G (2007) Kardiologische Rehabilitation. Thieme, Stuttgart New York Rosenthal J, Kolloch R (Hrsg) (2004) Arterielle Hypertonie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Roskamm H, Reindell H (1996) Herzkrankheiten, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Roskamm H, Neumann FJ, Kalusche D (2004) Herzkrankheiten, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Slesina W, Werdan K (2003) Psychosoziale Faktoren der koronaren Herzkrankheit. Schattauer, Stuttgart Suri JS, Rajendra AU, Spaan JAE (2004) Advances in Cardiac Signal Processing. Springer, Berlin Heidelberg New York
Rehabilitation Internetadressen Das grundlegende Ziel der kardiologischen Rehabilitation ist es, eine mögliche Erwerbsunfähigkeit zu verhindern und die Wiedereingliederung des Patienten in sein soziales und berufliches Umfeld zu ermöglichen. Dabei wird sowohl eine Verhinderung der Progression der Erkrankung als auch eine optimale Krankheitsbewältigung im psychischen und physischen Sinne angestrebt. Der Patient soll lernen, mit den Folgen seiner Erkrankung bzw. verbliebenen Schädigungen umzugehen und ggf. durch Unterstützung mittels geeigneter Hilfsmittel den privaten
American College of Cardiology www.acc.org Amerikanische Kardiologenvereinigung; Aus- und Weiterbildung. American Heart Association www.americanheart.org Klinik, Diagnostik und Auswirkungen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, kardiovaskuläre Risikofaktoren. Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von HerzKreislauferkrankungen e. V. www.dgpr.de Leitlinien zur Rehabilitation von Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzgruppen.
151 Literatur
Internet Forum GmbH www.cardiologe.de Darstellung der Diagnostikmöglichkeiten von Herz und Kreislauf. Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V. (MDS) www.mds-ev.org Begutachtungsstatistiken, sozialmedizinische Informationsdatenbank.
5
153
Periphere Gefäße A. Dohmen, T. Layher
6.1
Arterien – 154
6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5 6.1.6 6.1.7 6.1.8 6.1.9
Diagnostik – 154 Krankheitsdefinition – 158 Fragen zum Zusammenhang – 159 Bewertung nach dem Sozialrecht – 160 Begutachtung privat versicherter Schäden – 162 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 164 Risikobeurteilung – 167 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 167 Sonderfragen – 170
6.2
Venen – 171
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7 6.2.8
Diagnostik – 172 Krankheitsdefinition – 173 Fragen zum Zusammenhang – 176 Bewertung nach dem Sozialrecht – 176 Begutachtung privat versicherter Schäden – 178 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 178 Risikobeurteilung – 178 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 179
Literatur
– 180
6
154
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
))
1
Die meisten Erkrankungen der Arterien sind verursacht durch kardiovaskuläre Risikofaktoren, deren Bedeutung für die Morbidität und Mortalität durch den Lebensstil in Industrieländern in den letzten Jahrzehnten ständig zugenommen hat. Epidemiologische Untersuchungen bestätigen diesen Trend auch für Deutschland. Mit der Zunahme von Diabetes mellitus, Adipositas und Bewegungsmangel in immer jüngeren Lebensjahren gewinnen die früher erst im Alter aufgetretenen arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen auch für den medizinischen Gutachter eine größere Relevanz. Die enge Korrelation zu Myokardinfarkt, Apoplex und kardiovaskulärer Mortalität weist darauf hin, dass auch bei gutachterlichen Fragen komplexe Zusammenhänge berücksichtigt werden müssen. Venenerkrankungen – und hier besonders die Varikosis – sind aufgrund ihrer Häufigkeit echte Volkskrankheiten. Das einfache Krampfaderleiden verläuft meist über lange Zeit harmlos. Die schweren Stadien der chronisch venösen Insuffizienz hingegen, in die alle chronischen Venenerkrankungen münden können, sind von erheblicher gutachterlicher Relevanz aufgrund der hierdurch bedingten irreversiblen Strukturschäden und Funktionseinschränkungen nicht nur des venösen Rückstroms, sondern auch des Lymphgefäßsystems und der mitbetroffenen Gelenke.
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
6.1
Arterien A. Dohmen
12 13 14 15 16 17
6.1.1 Diagnostik
Um eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) zu erkennen, reichen eine gezielte Anamnese und klinische Untersuchung aus. Auch eine Etagendiagnostik und Einschätzung des Schweregrades der Erkrankung ist ohne apparative Zusatzuntersuchungen möglich. Wenn aufgrund klinischer Kriterien eine differenzialtherapeutische Entscheidung zu fällen ist, müssen allerdings weitere apparative Untersuchungsmethoden eingesetzt werden. Die verschiedenen Untersuchungstechniken werden im Folgenden beschrieben und ihre diagnostische Wertigkeit dargestellt.
Anamnese
aca interna auch zur Gesäßclaudicatio. Die pAVK vom Oberschenkeltyp verursacht eine Wadenclaudicatio, und die Hauptmanifestation der Erkrankung in der Unterschenkeletage hat eine Schmerzlokalisation im Bereich des Sprunggelenkes und eine Fußclaudicatio zur Folge. Bei Mehretagenerkrankungen verwischen diese typischen Symptomzuordnungen. > Wichtig sind genaue Fragen zur schmerzfreien und maximal möglichen Gehstrecke, denn diese Angabe gibt einen Hinweis auf den Kompensationsgrad der Erkrankung und hilft bei der für jeden Patienten je nach Alter und Zusatzerkrankungen individuellen Entscheidung, ob und welche Behandlungsstrategie gewählt werden soll.
Kommentar Die Angaben der Patienten sollten sich auf Wegstrecken in der Ebene beziehen, bergauf tritt der Schmerz typischerweise sehr viel schneller auf.
Wenn bei Diabetikern die schmerzfreie Gehstrecke deutlich länger ist als nach dem klinischen Untersuchungsbefund zu erwarten wäre, muss an eine zusätzliche Polyneuropathie gedacht werden, die die Schweregradeinteilung der pAVK beim Diabetiker erschwert. Wichtig sind auch differenzialdiagnostisch orientierte Fragen zum Schmerzcharakter: Der Schmerz durch Arthrose oder vertebragene Erkrankungen tritt im Unterschied zur Claudicatio schon bei den ersten Schritten auf, insbesondere nach vorangegangener Ruhephase, er wird durch längeres Gehen tendenziell geringer und hält nach Belastungsende länger an als der Claudicatioschmerz. Stadium III. Der Ruheschmerz im Stadium III tritt insbesondere nachts im Liegen auf und wird meist in den Füßen angegeben. Gelegentliche nächtliche Wadenkrämpfe sind ätiologisch vieldeutig und dürfen nicht als Ruheschmerz fehlgedeutet werden. Differenzialdiagnostisch hilfreich ist die Frage, was die Patienten machen, um den Ruheschmerz zu lindern: Der pAVK-Patient hängt den Fuß nach unten aus dem Bett oder steht gar auf, während Patienten mit vertebragenen nächtlichen Schmerzen durch Änderung der Körperlage im Bett bereits eine Besserung der Schmerzsymptomatik erreichen.
Stadium I. Im Stadium I sind die Patienten beschwerde-
18
frei. Stadium II. Typisches Symptom im Stadium II ist die
19 20
Claudicatio, der belastungsabhängige Muskelschmerz in der dem Hauptstrombahnhindernis nachgeschalteten Etage. So führt die pAVK der Beckenetage zur Hüft- und Oberschenkelclaudicatio, bei isoliertem Befall der A. ili-
Stadium IV. Im Stadium IV sind die in aller Regel
schmerzhaften Gewebsläsionen (Ulkus und Nekrose) die führende Symptomatik. Schmerzlosigkeit im Stadium IV ist in aller Regel Ausdruck einer ausgeprägten, meist diabetischen Polyneuropathie. Wichtig ist die Unterscheidung, ob die Läsion spontan oder durch ein Trauma (z. B. Fußpflege!) entstanden ist. Im letzteren Fall sprechen wir
155 6.1 Arterien
nicht vom Stadium IV, sondern vom komplizierten Stadium II, was gleichbedeutend ist mit einer deutlich besseren Prognose. Fragen zur zeitlichen Entwicklung der Beschwerden können wichtige Hinweise auf die Ätiologie der pAVK geben: So sind plötzlich aus völliger Beschwerdefreiheit auftretende heftige Schmerzen typisch für eine embolische Genese der Durchblutungsstörung, während eher langsam sich entwickelnde Claudicatioschmerzen für eine progrediente arteriosklerotische Ursache der Erkrankung sprechen. Ätiologisch und sozialmedizinisch bedeutsam sind Fragen nach vorangegangenen Verletzungen in zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten einer Claudicatiosymptomatik sowie nach Operationen und strahlentherapeutischen Maßnahmen in der Vorgeschichte. Auch eine genaue Berufsanamnese kann wichtige ätiologische Hinweise liefern. Besonders wichtig sind Fragen nach 5 regelmäßiger und längerer Arbeit mit vibrierenden Arbeitsgeräten, 5 häufigen arbeitsbedingten Schlagbewegungen mit dem Handballen, 5 regelmäßigem Kontakt bei der Arbeit mit bestimmten Stoffen (7 Kap. 6.1.3).
Palpation der Pulse
> Die Anamnese muss auch Symptome anderer Organerkrankungen miteinbeziehen.
> Wichtigstes Geräuschkriterium ist die Frequenz, die mit zunehmendem Stenosegrad immer höher wird. Geringgradige und sehr hochgradige Stenosen können gelegentlich auch der Auskultation entgehen, da in diesen Stadien die Strömungsgeräusche sehr leise sind.
Hierzu gehören insbesondere alle Beschwerden einer koronaren Herzkrankheit (KHK) oder einer manifesten Herzinsuffizienz, die oft nur deswegen erst auf besonderes Befragen angegeben werden, weil sie durch die belastungslimitierende Claudicatiosymptomatik in den Hintergrund gedrängt werden. Auch alle anamnestischen Hinweise auf eine transitorische ischämische Attacke (TIA) müssen genau eruiert werden, um eine Gesamteinschätzung der Auswirkungen des arteriosklerotischen Gefäßprozesses bei den oft multimorbiden Patienten zu ermöglichen.
Klinische Untersuchung Inspektion Die angiologische Untersuchung beginnt mit der Inspektion der Extremitäten. Die Hautfarbe (blass, livide oder rosig) im Liegen und bei hängendem Bein gibt einen ersten Hinweis auf die Schwere der Durchblutungsstörung. Die Hauttemperatur (im Seitenvergleich!) vervollständigt den Eindruck. Nekrosen und Ulzerationen sind sofort zu erkennen, müssen gelegentlich aber in den Interdigitalräumen besonders gesucht werden. Hautrötung und -schwellung machen eine zusätzliche Infektion wahrscheinlich, Druckschmerz und Fluktuation sind Hinweise auf einen darunter liegenden Abszess.
Nun folgt die Palpation der Pulse. Die Untersuchung muss stets im Seitenvergleich erfolgen, um eventuelle Unterschiede (Stärke, Breite, Anschlagpuls) bewerten zu können. Die in der Übersicht genannten Pulse sind Bestandteil der angiologischen Untersuchung.
Pulspalpation bei der angiologischen Untersuchung 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
A. temporalis A. carotis A. subclavia A. brachialis A. radialis A. ulnaris A. femoralis A. poplitea A. dorsalis pedis A. tibialis posterior
Auskultation Auch bei vollständigem Pulsstatus kann eine mögliche Stenose durch Auskultation erkannt werden.
Bei funktionellen oder lageabhängigen Durchblutungsstörungen müssen Pulstasten und Auskultation des entsprechenden Gefäßes in der jeweiligen Funktionsstellung erfolgen (z. B. »thoracic outlet syndrome«, EntrapmentSyndrom der A. poplitea). Auch eine Untersuchung von Herz und Lungen gehört zum angiologischen Status. Arrhythmien und Auskultationsbefunde bei Herzklappenersatz zeigen mögliche Emboliequellen auf. Zeichen der Herzinsuffizienz sind wichtige Zusatzinformationen, um die richtige Wahl der weiterführenden Untersuchungen und der möglichen therapeutischen Konzepte treffen zu können. Schließlich muss auch eine orientierende neurologische Untersuchung erfolgen, um eine Polyneuropathie oder Zeichen einer stattgehabten zerebralen Ischämie nicht zu übersehen.
Apparative Zusatzuntersuchungen Soweit möglich, sollten zunächst ausschließlich nichtinvasive Untersuchungsmethoden eingesetzt werden, um Art, Lokalisation und Schweregrad der pAVK genauer beurteilen zu können.
6
156
1 2 3
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
Kommentar Für gutachterliche Zwecke ist es wichtig, zu wissen, dass alle hier aufgeführten nichtinvasiven Untersuchungen im juristischen Sinne zumutbar sind. Stimmt der Versicherte der Durchführung einer solchen Untersuchung nicht zu, kann dies im weiteren Verfahrensablauf Nachteile für ihn zur Folge haben.
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Nichtinvasive Untersuchungen Gehstreckenbestimmung > Da die Angaben der Patienten über ihre schmerzfreie Gehstrecke subjektiv und ungenau sind, ist zur Verlaufsbeurteilung, insbesondere nach Therapie und für sozialmedizinische Fragestellungen eine möglichst objektive Bestimmung der schmerzfreien und maximalen Gehstrecke wünschenswert.
5 Am meisten verbreitet ist die Bestimmung auf dem Laufband unter standardisierten Bedingungen (3 km/ h bei 12% Steigung). Diese Methode ist am besten reproduzierbar. Sie ist für die beim Gehen oft unsicheren Patienten jedoch unphysiologisch und führt zu starken Verspannungen mit dem Ergebnis zu kurzer Gehstrecken im Vergleich zur Alltagssituation der Patienten. 5 Alternativ kann daher auch der Gehtest auf ebener Strecke im metronomgesteuerten Takt (am besten Schrittfrequenz 120/min) durchgeführt werden, der dem normalen Gehverhalten der Patienten sehr viel näher kommt und auch nichtvaskulär bedingte Störungen beim Gehen aufdeckt, wenn eine Fachkraft den Gehtest überwacht. Dies sind z. B. Arthrosen, kardiopulmonale Erkrankungen, neurologische Gangstörungen. Beide hier dargestellten Verfahren zur Gehstreckenbestimmung sind jedoch nur eingeschränkt objektiv. Sie erfordern die aktive Kooperation des Patienten und können daher zu falsch niedrigen (Rentenbegehren!) und inadäquat hohen Werten (diabetische Polyneuropathie) führen. Daher muss das Ergebnis der Gehstreckenbestimmung stets im Kontext der übrigen Untersuchungsbefunde gewertet werden.
ßen möglich. Messpunkte sind die A. dorsalis pedis und die A. tibials posterior. > Vergleichend muss immer der Systemdruck über der A. radialis mitgemessen werden, um eine Aussage über die Durchblutung der Beine zu ermöglichen.
Durch Vergleich der gemessenen Werte an den Füßen mit dem Systemdruck und die Berechnung des sog. Knöchel-Arm-Index (= Dopplerdruck über der Fußarterie dividiert durch Dopplerdruck über der A. radialis) kann eine Aussage über den Schweregrad der pAVK gemacht werden. > Ein Dopplerindex ≥1 schließt eine pAVK weitgehend aus, ein Index ≤0,9 ist Hinweis auf eine arterielle Durchblutungsstörung. Dopplerdruckwerte <50 mm Hg sprechen für eine kritische Ischämie [32].
Über den Wert des Knöchel-Arm-Index (oder »anklebrachial-index«; ABI) für die Prognose 7 Kap. 6.1.8. Nicht aussagefähig ist diese Untersuchung allerdings bei Patienten mit (oft diabetisch bedingter) Mediasklerose der Gefäße, dabei werden Druckwerte an den Füßen gemessen, die mehr als 50 mm Hg höher sind als der Druck über der A. radialis.
Oszillographie Prinzip der Untersuchung ist die druckabhängige Registrierung eines Dehnungspulses, der über spezielle luftgefüllte Manschetten auf einen Schreiber übertragen und als oszillographische Amplitude registriert wird. Ursprünglich wurden mechanische, inzwischen aber fast ausschließlich elektronische Registriergeräte verwendet. Messungen erfolgen mit unterschiedlich breiten Manschetten (je nach Untersuchungsetage) stets im Seitenvergleich am Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß. Die aufgezeichneten Amplituden geben jeweils Hinweise auf die oberhalb des Messpunktes liegende Gefäßetage. So sprechen verminderte Amplituden bei Messung am Oberschenkel für eine Durchblutungsstörung in der Beckenetage, am Unterschenkel für die femoropopliteale Strombahn und am Fuß für einen pathologischen Prozess im Bereich der Unterschenkelarterien.
Dopplerdruckmessung
> Die Methode ist ein ausgezeichnetes Messinstrument zur Bestimmung der Lokalisation einer Durchblutungsstörung.
Nach dem Dopplerprinzip kann die Blutströmung hörbar gemacht werden. Es werden einfache, sog. unidirektionale Taschendopplergeräte verwendet, mit denen eine Information über die Flussrichtung des Blutes nicht möglich ist. Mit einer Blutdruckmanschette, die am distalen Unterschenkel oberhalb des Sprunggelenkes angelegt wird, wird auf diese Weise eine Blutdruckmessung an den Fü-
Die Methode ist nicht fehleranfällig bei Mediasklerose. Bei zusätzlicher Untersuchung nach Belastung (Zehenstände, Kniebeugen, Ratschow-Übungen) können auch hämodynamisch weniger relevante Strombahnhindernisse erkannt werden. Bei Mehretagenerkrankung ist allerdings eine sichere Aussage nur über die am weitesten
157 6.1 Arterien
proximal gelegene Stenose/Verschlusslokalisation möglich. Auch für die Beurteilung der arteriellen Durchblutung der Hände gibt die Methode als Fingeroszillographie mit entsprechend dimensionierten Manschetten einen guten Überblick. Kombiniert man die Ruheuntersuchung noch mit Kontrollen nach Kältebad oder Applikation eines schnell wirkenden vasodilatierenden Medikaments (z. B. Nitroglycerinkapseln), erhält man wertvolle Informationen für die Differenzierung zwischen vasospastischen Syndromen und organischen akralen Gefäßveränderungen [23].
Bidirektionale Dopplersonographie Die Untersuchung beruht auf dem Dopplerprinzip: Von einer Schallsonde werden Ultraschallwellen (in der Regel 4–8 Mhz) ausgesendet, die von den Erythrozyten des fließenden Blutes reflektiert und mit einer durch die Bewegung bedingten Frequenzänderung (verursacht durch wechselnde Entfernung zur Sonde) von der Schallsonde wieder empfangen werden. Die Frequenzänderung zwischen gesendeten und empfangenen Schallwellen hat einen direkten Bezug zur Flussgeschwindigkeit des Blutes. Diese Information kann als Strömungskurve mit unterschiedlicher Geschwindigkeit dargestellt werden. Im Unterschied zu der Dopplerdruckmessung mit unidirektionalen Dopplersonden werden für diese Untersuchung Schallsonden verwendet, die die Strömungsrichtung des Blutes unterscheiden können (sog. bidirektionale Dopplersonographie). Normale Strömungsgeschwindigkeitskurven haben eine charakteristische Form, die sich in typischer Weise ändert, wenn die Ableitung der Kurve direkt vor oder nach einer Stenose bzw. eines Verschlusses erfolgt. Durch entsprechende qualitative Stromkurvenanalyse kann so auf ein vor- oder nachgeschaltetes Strombahnhindernis geschlossen werden. > Die Untersuchung eignet sich – wie die Oszillographie – zur Etagendiagnostik der pAVK. Es reicht daher aus, eine der beiden Methoden für die nichtinvasive Basisdiagnostik einzusetzen.
Kommentar Mit den bis hierher dargestellten Methoden ist die angiologische Basisdiagnostik der pAVK beendet. Die Erkrankung selbst, ihr Schweregrad und die Lokalisation der Durchblutungsstörung können so hinreichend genau bestimmt werden. Bezüglich der Ätiologie können Hypothesen gebildet werden, die zur Verifizierung allerdings weiterer bildgebender und auch laborchemischer Untersuchungsverfahren bedürfen.
Farbkodierte Duplexsonographie Die Methode der farbkodierten Duplexsonographie (FKDS) hat in den letzen 15 Jahren eine zunehmende Bedeutung in der angiologischen Diagnostik bekommen. Sie basiert ebenfalls auf dem Dopplerprinzip, kombiniert aber in besonderer Weise die hierdurch möglichen hämodynamischen Informationen (durch Stenosequantifizierung über Geschwindigkeitsmessung und Stromkurvenanalyse) mit morphologischen Darstellungen von Gefäßwand, -lumen und benachbarten Strukturen. Da dieses Verfahren gleichzeitig nichtinvasiv ist, gilt es als besonders patientenfreundlich und konkurriert daher zunehmend mit der invasiven kontrastmittelgestützten Angiographie. Die übersichtliche Darstellung der weit peripher gelegenen Gefäßabschnitte an Händen und Füßen gelingt mit der FKDS jedoch nicht so überzeugend wie mit der Arteriographie.
Invasive Untersuchungen Alle im Folgenden beschriebenen Untersuchungen sind nur unter Anwendung von speziellen in die Blutbahn eingebrachten Kontrastmitteln aussagekräftig, teilweise ist auch die Punktion einer Arterie und das Einführen eines Katheters in das Gefäßsystem erforderlich [digitale Subtraktionsangiographie (DSA), Blattfilmangiographie].
Kommentar Invasive Untersuchungen gelten im sozialrechtlichen Verfahren als nicht zumutbar. Versagt der Versicherte die Zustimmung zur Durchführung einer solchen Untersuchung, darf ihm daraus kein Nachteil entstehen.
Arteriographie Sie ist der Goldstandard der bildgebenden Diagnostik. Da die hierfür erforderliche Kontrastmittelgabe mit – wenn auch geringfügigen – Risiken verbunden ist (Allergie, Hyperthyreose, Nierenfunktionsstörung, Volumenbelastung bei Herzinsuffizienz), ist die Durchführung dieser Untersuchung abhängig von der Zustimmung des Patienten, für gutachterliche Zwecke besteht keine Duldungspflicht. Über entsprechende Platzierung des Katheters können auch selektiv einzelne organversorgende Arterien genau dargestellt werden. Wichtigstes Kriterium für die Stenosequantifizierung ist das Ausmaß der Durchmesserreduktion. Zur Beurteilung ist die Darstellung in mindestens 2 Ebenen erforderlich. > Beim Vergleich zwischen FKDS und Arteriographie ist zu berücksichtigen, dass die Stenosequantifizierung nach unterschiedlichen physikalischen Prinzipien erfolgt und daher die jeweiligen prozentualen Stenoseangaben nicht exakt übereinstimmen müssen.
6
158
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
Die besonderen Stärken der digitalen Subtraktionsangiographie liegen in der guten Übersichtsdarstellung des gesamten Gefäßbaumes, der kompletten Information über das vorhandene Kollateralgefäßnetz sowie in der detailgenauen Abbildung auch der weit peripher gelegenen Arteriensegmente. In den letzten Jahren sind weitere bildgebende Verfahren entwickelt worden, die zunehmend auch im klinischen Alltag zur Anwendung kommen.
Magnetresonanzangiographie Auch bei dieser Untersuchung wird in der Regel ein Kontrastmittel (Gadolinium) injiziert. Es genügt allerdings die i.v.-Applikation, die Einführung eines intraarteriellen Katheters ist nicht erforderlich. Der umfassende Datensatz, der bei dieser Untersuchung erhoben wird, ermöglicht die Darstellung eines stenosierten Arteriensegments in beliebig vielen Ebenen. Dennoch erreicht die Magnetresonanzangiographie (MRA) nicht die Genauigkeit der Angiographie in der Stenosequantifizierung, insbesondere Unterschenkelarterienstenosen werden leicht überschätzt. > Patienten mit Metallimplantaten, insbesondere mit Schrittmacheraggregaten, sowie Patienten mit Platzangst können mit der MRA nicht untersucht werden. Für Patienten mit fortgeschrittener Niereninsuffizienz besteht eine absolute Kontraindikation gegen die Gabe der gängigen MR-Kontrastmittel, weil diese eine schwere, nicht behandelbare Dermatosklerose auslösen können.
16 17 18 19 20
Unter der pAVK versteht man alle stenosierenden und okkludierenden Gerfäßerkrankungen der Aorta und aller extremitätenversorgenden Arterien. Überwiegend (ca. 90%) sind die daraus resultierenden arteriellen Durchblutungsstörungen durch arteriosklerotische Plaquebildung bedingt. Seltener (ca. 10%) liegen dieser Erkrankung entzündliche, thromboembolische, traumatische Ursachen oder dysgenetische Gefäßveränderungen zugrunde. Eine besondere Form der degenerativen Gefäßveränderungen ist die dilatierende Arteriopathie, die über den Mechanismus einer deutlich verlangsamten Blutströmungsgeschwindigkeit arterielle Thrombosen und dadurch ebenfalls eine pAVK verursachen kann. Die dilatierende Arteriopathie kommt bei ca. 5–10% der Patienten mit pAVK vor [8].
Lokalisation der pAVK 5 85–90%: untere Extremitäten 5 10–15%: obere Extremitäten, besonders bei – funktionellen Störungen (Raynaud-Syndrom) – entzündlichen und autoimmunologischen Gefäßerkrankungen – thromboembolischer Genese [1]
Klinisch wird die Erkrankung in verschiedene Schweregrade eingeteilt (Übersicht).
CT-Angiographie Auch für dieses Verfahren ist die i.v.-Gabe von Kontrastmittel (s. oben) erforderlich. Die Qualität der morphologischen Gafäßdarstellung ist exzellent, mehrdimensionale Rekonstruktionen sind möglich. Die Untersuchung erfordert einen hohen Gerätestandard und ist bisher nur in größeren Zentren verfügbar.
Laboruntersuchungen
15
6.1.2 Krankheitsdefinition
Für die Beurteilung einer pAVK sind Laboruntersuchungen zur Klärung folgender Fragen erforderlich: 5 Erkennung von Risikofaktoren:
Cholesterin, HDL, LDL, Triglyzeride, Blutzucker (nüchtern und postprandial, evtl. OGTT), (Homocystein, Fibrinogen), 5 Abklärung unterschiedlicher Ätiologien:
ANA, SCL-70AK, Anti-Centromeren-AK, p-ANCA, c-ANCA, Phospholipid-AK 5 Abklärung möglicher Risiken von Kontrastmitteluntersuchungen:
Kreatinin, TSH basal, Quick-Test (INR).
Schweregrade der pAVK (nach Fontaine) 5 Stadium I Asymptomatisch, mit apparativen Untersuchungsmethoden (Dopplerdruckmessung, Oszillographie) sind jedoch – besonders vor und nach Belastung – bereits Durchblutungsstörungen nachweisbar. 5 Stadium II Schmerzen treten unter Belastung auf, insbesondere beim Gehen. Je nach der Länge der schmerzfreien Gehstrecke wird dieses Stadium weiter unterteilt in – Stadium IIa (≥200 m schmerzfreie Gehstrecke), – Stadium IIb (≤200 m schmerzfreie Gehstrecke).
6
159 6.1 Arterien
5 Stadium III Schmerzen treten bereits unter Ruhebedingungen auf. Die Patienten wachen wegen dieser Schmerzen nachts oft mehrmals auf, Tieflagern des betroffenen Beines lindert die Beschwerden. Gelegentliche nächtliche Wadenkrämpfe sind keine diesem Stadium entsprechenden Ruheschmerzen. Dieses Krankheitsstadium ist bereits Ausdruck einer kritisch eingeschränkten Durchblutung. Früher oder später geht es über in das 5 Stadium IV Die Durchblutung ist so stark eingeschränkt, dass Gewebe durch Sauerstoffmangel zugrunde geht: Es entwickeln sich Ulzerationen oder Nekrosen. Entsteht im sonst kompensierten Stadium II durch ein Trauma ein Gewebsdefekt, so entspricht dies nicht dem Stadium IV, wir sprechen stattdessen vom »komplizierten« Stadium II, das eine deutlich bessere Prognose aufweist.
6.1.3 Fragen zum Zusammenhang
Epidemiologische Untersuchungen haben die Bedeutung bestimmter Risikofaktoren für die Entwicklung der Arteriosklerose und damit auch der arteriosklerotisch bedingten pAVK nachgewiesen. Eine Korrelation für den Zusammenhang mit der pAVK ist besonders gut belegt für 5 Rauchen, 5 Hypertonie, 5 Hypercholesterinämie, 5 Diabetes mellitus, 5 Alter. Neuere Untersuchungen belegen auch einen Zusammenhang der Erkrankung mit Hyperhomozysteinämie und Hyperfibrinogenämie. Adipositas ist ein sekundärer Risikofaktor für die pAVK, da sie häufig kombiniert ist mit Hypertonie, Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus. > Das Risiko für die Entwicklung einer pAVK nimmt bei Vorhandensein mehrerer Risikofaktoren exponentiell zu.
Unfall- und Operationsfolgen In aller Regel ist die pAVK auf die oben beschriebenen Risikofaktoren zurückzuführen. Sozialmedizinisch bedeutsam ist das Auftreten von Claudicatiobeschwerden nach einem Trauma. Insbesondere nach stumpfen Verletzungen in Körperregionen mit oberflächennaher Lage
von Gefäßen (Hals, Ellenbeuge, Leiste, Kniekehle) kann es zu subintimalen Einblutungen oder zu Dissektionen mit nachfolgender Stenosierung/Verschluss des Gefäßes kommen. Penetrierende Verletzungen – auch iatrogen im Rahmen von Operationen und Interventionen entstanden – können zu arteriellen Blutungen, AV-Fisteln und zum Aneurysma spurium führen. Verletzungsbedingte Hämatome in der Umgebung arterieller Gefäße können durch Kompressionseffekt von außen Ursache von arteriellen Stenosen und Verschlüssen sein. Zu den iatrogenen Schäden am Gefäßsystem zählen schließlich auch bestrahlungsbedingte Arterienschäden, die sich als fibrotische Stenose, Verschluss oder auch als Aneurysma manifestieren können [11].
Berufskrankheiten Häufiger ist die Frage zu klären, ob eine arterielle Durchblutungsstörung als Berufskrankheit anzuerkennen ist.
Schädigung durch chemische Substanzen Es gibt eine Reihe chemischer Substanzen, die bei langfristiger beruflicher Exposition Schäden am Gefäßsystem verursachen können. Der – heute seltene – ätiologische Zusammenhang zwischen der Arbeit in der PVCProduktion und dem Auftreten von peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen, die insbesondere an den Fingern zu Nekrosen führen können, oft in Verbindung mit Akroosteolysen, ist eindeutig. Charakteristisch ist die Kombination dieser Erkrankung mit einer Häufung des sonst sehr seltenen Hämangiosarkoms der Leber (= Vinylchloridkrankheit). Sklerodermieähnliche Krankheitsbilder können durch berufliche Belastung mit folgenden Substanzen ausgelöst werden: 5 Silikate (auch nach Brustimplantaten kann eine sklerodermieartige Autoimmunerkrankung beobachtet werden!), 5 Kohlenwasserstoffe (aliphatisch und aromatisch), 5 Epoxidharze, 5 Paraffine, 5 Aniline (»toxic oil syndrome«), 5 Pharmaka (z. B. Appetitzügler, Bleomycin, Hydralazin, Kokain, L-Tryptophan, Methysergid, Pentazocin).
Kommentar Anerkannt sind von diesen beruflich bedingten arteriellen Durchblutungsstörungen durch chemische Substanzen allerdings nur die Vinylchloridkrankheit und die sklerodermieartige Erkrankung durch Silikon.
6
160
1 2 3
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
. Tab. 6.1. Raynaud-Syndrom: Besonders belastete Berufsgruppen. (Nach [16]) Berufsgruppe
Häufigkeit
Bauarbeiter
20%
Forstarbeiter
40%
Erzbergwerkarbeiter
50%
Werkstattarbeiter
80%
4 5 6
Kommentar
Bleibelastung kann zu arteriolären Vasospasmen führen. Dies ist u. a. die Ursache für die sog. »Bleiblässe«, die für diese Patienten typisch ist. Weitere Einzelheiten zu chemikalieninduzierten Umwelt- und Berufserkrankungen in [12, 13].
Mechanisch bedingte Schädigungen
7 8 9 10 11 12 13 14
> Mechanisch bedingte Schäden der Arterien können durch chronische Einwirkung vibrierender Arbeitsgeräte entstehen. Allerdings wird für die Anerkennung als berufsbedingte Erkrankung eine mindestens 2–3 Jahre lange regelmäßige Arbeit mit entsprechenden Maschinen vorausgesetzt.
17 18 19 20
Da Patienten mit pAVK häufig noch unter weiteren Erkrankungen leiden (insbesondere KHK, zerebrovaskuläre Durchblutungsstörungen, Hypertonie mit entsprechenden Organschäden, Diabetes mellitus mit Spätkomplikationen), darf das Leistungsbild nicht nur unter dem Blickwinkel der pAVK-bedingten Leistungseinschränkungen erstellt werden, sondern muss auch die Folgen der übrigen Erkrankungen berücksichtigen. Gegebenenfalls müssen weitere Zusatzgutachten eingeholt werden, um allen krankheitsbedingten Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit gerecht zu werden.
Insgesamt findet man bei Arbeitern, die vibrierende Geräte bedienen, in 60% ein sekundäres Raynaud-Syndrom (. Tab. 6.1; [14, 15]). Besonders traumatisierende Arbeitsgeräte sind Presslufthammer, Anklopfmaschinen und Schleifturbinen [17]. Eine weitere berufsbedingte Erkrankung ist das Hypothenar-Hammer-Syndrom: Bei einigen handwerklichen Berufen entsteht durch typische stumpfe Schlagbewegungen mit dem Handballen ein traumatischer Gefäßwandschaden der distalen A. ulnaris. Dieser kann zu Stenose/Verschluss des distalen Abschnittes dieses Gefäßes führen mit nachfolgender organischer Durchblutungsstörung der Hand. Charakteristisch für dieses Syndrom ist, dass die nicht betroffene Hand ein völlig unauffälliges Handund Fingerangiogramm aufweist.
Arbeitsunfähigkeit
6.1.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Postoperativ sind Patienten bis zum Abschluss der Wundheilung arbeitsunfähig. Nach abdominellen Gefäßeingriffen sollen Patienten 6 Monate lang nicht schwerer als 10 kg heben oder tragen, um das Risiko eines Narbenbruches zu vermeiden [19]. Danach besteht – eine gute Bypassfunktion und ordentliche Kompensation der arteriellen Durchblutung vorausgesetzt – keine weitere Leistungseinschränkung im Arbeitsleben. Patienten mit femoropoplitealem Bypass können auch nach abgeschlossener Wundheilung für bestimmte Berufe noch länger arbeitsunfähig bleiben, wenn ein ausgeprägtes postoperatives Lymphödem besteht, insbesondere dann, wenn wegen niedriger Dopplerdruckwerte eine
15 16
Da es sich dabei jedoch nur um vorübergehende Krankheitsphasen handelt, die auf absehbare Zeit – zumindest im Rahmen der maximal möglichen Krankengeldbbezugsdauer von 18 Monaten – entweder durch die Behandlung in ein kompensiertes Stadium II überführt werden können oder zu einer Amputation führen, sind sie auf Dauer nicht entscheidend für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit von pAVK-Kranken.
In diesem Zusammenhang muss unterschieden werden zwischen 5 der Leistungsanforderung in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit und 5 der Leistungsanforderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; dies schließt auch alle leichten körperlichen Tätigkeiten überwiegend im Sitzen ein. > In der Regel ist nur im Stadium III und IV der pAVK das Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt weitgehend oder vollständig aufgehoben.
> Im Stadium I und IIa sind Patienten grundsätzlich weiter in der Lage, zu arbeiten.
Im Stadium IIb können vorübergehend solche Tätigkeiten nicht mehr verrichtet werden, die zügiges Gehen über Strecken verlangen, die der Patient ohne schmerzbedingte Pausen nicht mehr zurücklegen kann. Unabhängig von diesem Kriterium sollten Patienten, die erstmals einen embolischen Arterienverschluss erlitten haben, nicht arbeiten, um schnellstmöglich – am besten stationär – die Ätiologie der Embolie abzuklären und eine wirksame Embolieprophylaxe einzuleiten. > Im Stadium III und IV der pAVK besteht in aller Regel Arbeitsunfähigkeit.
161 6.1 Arterien
Kompressionsbehandlung nicht möglich ist, um die Offenheit des Bypasses nicht zu gefährden. Bei pAVK der oberen Extremitäten besteht Arbeitsunfähigkeit, wenn die normale Belastung während der Arbeit (auch Kälteexposition und Vibrationstrauma beachten!) zu claudicatiotypischen Beschwerden führt.
GdB/MdE »Minderung der Erwerbsfähigkeit« (Begriff aus dem Versorgungs-, Entschädigungs- und Unfallversicherungsrecht) und »Grad der Behinderung« (Begriff aus dem Schwerbehindertenrecht) werden nach den gleichen Kriterien beurteilt und sollen daher hier gemeinsam dargestellt werden. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat 1996 krankheitsspezifische GdB/MdE-Tabellen herausgegeben, die als Leitlinie für die gutachterliche Tätigkeit dienen (. Tab. 6.2). Wenn . Tab. 6.2 auch eine gute Orientierung gibt, so müssen dennoch individuelle Gesichtspunkte bei jedem Patienten besonders berücksichtigt werden. Insbesondere bei Patienten mit (meist diabetischer) Polyneuropathie, deren schmerzfreie Gehstrecke nicht den wirklichen Schweregrad der arteriellen Durchblutungsstörung widerspiegelt, sowie bei bekannter Mediasklerose, bei der die Dopplerdrücke nicht verwertet werden können, müssen weitere klinische und apparative Untersuchungsbefunde herangezogen werden, um das Ausmaß von GdB/MdE richtig einschätzen zu können. Auch für postoperative Zustände hat des Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine Leitlinie für GdB/MdE erstellt (. Tab. 6.3). Auch in dieser . Tab. 6.3 sind viele mögliche postoperative Zustände nicht erfasst. So müssen alle postopera-
. Tab. 6.3. GdB/MdE bei pAVK postoperativ. (Nach Bundesministerium für Arbeit u. Sozialordnung 1996) paVK postoperativ
GdB/MdE
Freie Strombahn ohne Notwendigkeit der medikamentösen Dauerbehandlung (z. B. Antikoagulation) und ohne postoperative Beschwerden
0–10
Bei freier Strombahn mit prophylaktischer Dauertherapie (z. B. Antikoagulation)
ca. 30
Bei nur teilweiser Rekanalisation entscheiden die verbliebenen Durchblutungsstörungen
≥20
tiven Beschwerden wie N.-femoralis- oder N.-peroneusLäsionen, Kompartmentsyndrome etc. besonders gewertet werden. Bei Zustand nach einseitiger Vorfuß- oder Unterschenkelamputation mit gutem funktionellem Ergebnis, erfolgreicher Prothesenmobilisation und ohne weitere Komorbidität liegt der GdB/MdE unter 50%. Nach Oberschenkelamputation oder doppelseitiger Amputation ist je nach Ergebnis der durch Rehabilitation erreichten Mobilisation von einem GdB/MdE zwischen 50 und 100% auszugehen [21] (. Tab. 2.1; Gliedertaxe). Auch das Raynaud-Syndrom, insbesondere die sekundäre Form durch organische Fingerarterienverschlüsse, kann einen erheblichen GdB/MdE zur Folge haben. Die diesbezügliche GdB/MdE-Tabelle des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung [20] ist leider recht ungenau und gibt daher für gutachterliche Zwecke nur eine grobe Orientierung (. Tab. 6.4). Unverständlicherweise wird in dieser . Tab. 6.4 nicht bewertet, ob die Symptomatik/der Verlust der Finger die
. Tab. 6.2. GdB/MdE bei pAVK. (Nach Bundesministerium für Arbeit u. Sozialordnung 1996) Stadium der pAVK
Krankheitsymptomatik
Stadium I
sehr gute Kollateralisation 5 ein- oder beidseitig
Stadium II
Stadium II
Stadium III und Stadium IV
20
Gehstrecke 300–1000 m, Dopplerdruck 80–100 mm Hg 5 ein- oder beidseitig
Stadium II
0–10
Gehstrecke >1000 m, Dopplerdruck >100 mm Hg 5 ein- oder beidseitig
Stadium II
GdB/MdE
30–40
Gehstrecke 50–300 m, Dopplerdruck 60–80 mm Hg 5 einseitig
50–60
5 beidseitig
60–70
Gehstrecke <50 m, Dopplerdruck <60 mm Hg 5 ein- oder beidseitig
70–80
5 einseitig
80
5 beidseitig
90–100
6
162
1
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
. Tab. 6.4. GdB/MdE bei Raynaud-Syndrom. (Nach Bundesministerium für Arbeit u. Sozialordnung 1996) Krankheitsstadium (obere Gliedmaßen)
GdB/MdE
Verlust eines Langfingers
10
Verlust von 2 Fingern inkl. Daumen, oder II+III, II+IV
30
Verlust der Finger II–IV oder II–V
40
Verlust aller 5 Finger (wie der ganzen Hand)
50
Verlust wie oben, aber beidseits
Verdopplung der Sätze
Teilverluste
Geringere Sätze
5
Schlechte Stumpfverhältnisse, schmerzhafte Narbenbildung, Empfindungsstörungen an den Restfingern
Erhöhte Sätze
Ausfall des distalen N. medianus oder ulnaris
30
6
AVK mit Ruheschmerzen inklusive trophischer Störungen
2 3 4
5 einseitig
80
5 beidseitig
100
7 8 9 10 11
. Tab. 6.5. GdB/MdE bei Raynaud-Syndrom. (Nach Caspary [22]) Krankheitsstadium Raynaud-Syndrom
GdB/MdE
Gelegentliche schmerzlose Anfälle, spontane Remission, keine Funktionsausfälle
<5
Häufigere Anfälle, mit partieller Funktionseinschränkung
10–20
Häufigere schmerzhafte Anfälle, die zur Gebrauchsunfähigkeit der Hand führen
20–40
Akrale Durchblutungsstörungen mit rezidivierender Ausbildung von Nekrosen
40–100
Ergänzend zu berücksichtigende Kriterien
5 5 5 5 5
12 13
Vorliegen einer Grundkrankheit Organische Gefäßveränderungen Neurologische Symptomatik Funktionsfähigkeit der Hand Bezug zum erlernten/angestrebten Beruf
17
für den jeweiligen Patienten dominante Hand betrifft oder nicht. Im klinischen Alltag ist der Gutachter häufig mit Krankheitsstadien des Raynaud-Syndroms konfrontiert, die in dieser Tabelle keine Berücksichtigung finden. Auch das vasospastische Raynaud-Syndrom kann bei starker Ausprägung und Häufigkeit der Anfälle zu erheblichen Funktionseinschränkungen der Hände führen. Für diese Situationen hat L. Caspary einen Vorschlag für eine Ergänzung der GdB/MdE-Tabelle gemacht, der für gutachterliche Fragestellungen sehr hilfreich ist (. Tab. 6.5; [22]).
privaten Versicherungen anders definiert als im Sozialgesetzbuch. Die übliche Definition der für Begutachtungen wichtigen Begriffe Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit im privaten Versicherungsrecht ist nachzulesen in 7 Kap. 2. Darüber hinaus muss jedoch darauf geachtet werden, ob im Gutachtenauftrag auf davon abweichende Begriffsdefinitionen hingewiesen wird, denn wegen der Vertragsfreiheit bei privaten Versicherungsverträgen können auch individuell ganz andere Begriffsdefinitionen und spezielle Ausschlusskriterien Anwendung finden.
18
6.1.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
> Auch bei Gutachten für private Versicherungsträger entscheidet der Gutachter nicht über die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, dies ist Aufgabe des Versicherers.
14 15 16
19 20
Die sozialmedizinische Begutachtung für private Versicherungsträger erfordert die Beachtung einiger wichtiger Unterschiede im Vergleich zur gesetzlichen Sozialversicherung. So sind zentrale sozialmedizinische Begriffe bei
In der Zusammenfassung muss neben den für die gutachterliche Stellungnahme wichtigen Diagnosen eine möglichst detaillierte Beschreibung der berufsbezogenen Funk-
163 6.1 Arterien
tionseinschränkungen (= negatives Leistungsbild) sowie der verbliebenen Fähigkeiten (= positives Leistungsbild) erfolgen. Dies ist sodann Grundlage einer prozentualen Einschätzung der noch verbleibenden Leistungsfähigkeit in Bezug auf die zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit des zu Begutachtenden. Hierfür kann die Systematik der Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) mit dem ihr zugrunde liegenden Krankheitsmodell hilfreich sein. So ist für die Begutachtung nicht so sehr die Diagnose einer pAVK, Stadium II von Bedeutung, sondern vielmehr die Beurteilung, ob z. B. ein Patient mit einem femoropoplitealen Bypass und deswegen erforderlicher Antikoagulation als Maler noch bei Außenanstrichen mit Verwendung von Gerüsten eingesetzt werden kann. Auch Angaben zum zeitlichen Beginn der Funktionseinschränkung sowie eine möglichst genaue Einschätzung der Krankheitsprognose, evtl. nach noch ausstehenden Behandlungsmaßnahmen, sind für die Begutachtung erforderlich, denn in der Regel tritt bei privaten Versicherungen Berufsunfähigkeit ein, wenn der Versicherte mindestens 6 Monate lang seine konkrete Tätigkeit zu weniger als 50% im Vergleich zum bisherigen Umfang ausüben kann.
Unfallversicherung Unfallbedingte traumatische Schädigungen der Arterien sind möglich als penetrierende Verletzung (z. B. durch Stich- oder Schnittwunden). Aber auch stumpfe Traumata können Intimaeinrisse und daraus folgend Dissektionen verursachen. > Für die Klärung eines möglichen ursächlichen Zusammenhangs ist v. a. die enge zeitliche Verbindung zwischen Unfallereignis und Beginn der Symptome von Bedeutung.
Beispiel pAVK: Einschränkungen in der Berufsausübung
Bei penetrierenden Gefäßverletzungen bestehen wegen der sofort einsetzenden, oft dramatischen arteriellen Blutung keine Zweifel am Kausalzusammenhang. Gefäßwanddissektionen oder AV-Fisteln können nach dem akuten Schmerzereignis aber auch zunächst recht blande verlaufen und daher im akuten Stadium übersehen werden. In solchen Fällen ist vom Gutachter eine sehr subtile Suche nach Brückensymptomen zu fordern: 5 Gab es direkt nach dem Unfallereignis vorübergehend typische Schmerzsymptome (z. B. bei traumatischen Aortendissektionen)? 5 Ist eine Umfangsvermehrung des betroffenen Beines erstmals in der Mobilisationsphase nach einer unfallbedingten Immobilisation aufgetreten (z. B. bei AVFisteln)?
So ist bei einem Raucher mit isoliertem Beckenarterienverschluss nach erfolgter aortofemoraler Bypassimplantation und nach Nikotinverzicht mit einer fast vollständigen Wiederherstellung seiner Mobilität zu rechnen, während bei einem Diabetiker mit langstreckigen Unterschenkelarterienverschlüssen und begleitender Polyneuropathie auf Dauer eine weitere Verschlechterung seiner Durchblutungsreserven erwartet werden muss.
Darüber hinaus ist eine komplette angiologische Untersuchung einschließlich Bildgebung des arteriellen Gefäßsystems zu fordern. Denn je umfassender andere mögliche Ursachen der Durchblutungsstörung ausgeschlossen werden können und je weniger kardiovaskuläre Risikofaktoren als mitauslösend in Frage kommen, umso wahrscheinlicher ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfallereignis und arteriellem Gefäßschaden.
Lebensversicherung Die häufigste Todesursache durch eine Erkrankung der Arterien ist die Ruptur eines Aneurysmas der großen Arterien, insbesondere der Aorta in allen ihren Abschnitten. Näheres hierzu in 7 Kap. 6.1.9. Die pAVK ist nur selten direkte Todesursache, z. B. als Folge einer Sepsis bei infizierter Gangrän im Stadium IV oder beim diabetischen Fußsyndrom. Bei multimorbiden Patienten kann auch eine Oberschenkel- oder Unterschenkelamputation zum Tode führen, die Letalität dieses Eingriffs liegt bei 20–30%. > Die insgesamt hohe Letalität dieser Erkrankung ist allerdings auf die häufige Koinzidenz mit der koronaren Herzkrankheit und der supraaortalen Verschlusskrankheit zurückzuführen (7 Kap. 6.1.7).
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Berufs- und Erwerbsfähigkeit Erwerbsunfähigkeit liegt vor, wenn auf absehbare Zeit der Versicherte gesundheitlich nicht mehr in der Lage ist, seine Arbeitskraft im Erwerbsleben wirtschaftlich zu verwerten [18]. Die Entscheidung hierüber liegt in der Verantwortung des Juristen, der sich auf die Feststellungen zum positiven und negativen Leistungsbild im sozialmedizinischen Gutachten stützt. Aufgabe des Gutachters ist es daher, ein möglichst detailliertes Leistungsbild aufgrund der medizinischen Befunde zu erstellen. Im Stadium II ist zusätzlich zum positiven und negativen Leistungsbild das Kriterium der Wegefähigkeit zu berücksichtigen, das – bei sehr kurzer Gehstrecke – allein zur Erwerbsunfähigkeit führen kann:
6
164
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
6.1.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kommentar Wenn ein Versicherter nicht in der Lage ist, 4-mal täglich eine Wegstrecke von 500 m zum und vom Arbeitsplatz in maximal jeweils 20 min zurückzulegen (einschließlich evtl. notwendiger Pausen), liegt Erwerbsunfähigkeit vor (Entscheidung des Bundessozialgerichts).
Da Patienten mit pAVK häufig auch an einer koronaren Herzkrankheit oder an einer supraaortalen AVK leiden und auch Organfunktionsschäden durch kardiovaskuläre Risikofaktoren aufweisen (z. B. diabetische Polyneuropathie, Nephropathie und Retinopathie oder Organfolgeschäden durch arterielle Hypertonie), müssen auch diese Erkrankungen in die Beurteilung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit miteinbezogen werden.
Dienstfähigkeit Ob gesundheitliche Bedenken gegen die Übernahme von Patienten mit pAVK ins Beamtenverhältnis bestehen, hängt besonders von den jeweiligen beruflichen Anforderungen ab. So können leichte körperliche Tätigkeiten im stabilen Stadium II uneingeschränkt auch längerfristig bewältigt werden. Arbeiten mit hohem Verantwortungsgrad sind bei Auftreten der pAVK ebenfalls nicht eingeschränkt. Stadium III und IV sind – zumindest im Hinblick auf die langfristige Entscheidung zur Übernahme ins Beamtenverhältnis – vorübergehende Krankheitsphasen. Entweder gelingt durch intensive therapeutische Maßnahmen die Rückführung ins Stadium II, oder es kommt zur Amputation, die wiederum in aller Regel keinen Grund darstellt, eine künftige Dienstunfähigkeit als Beamter anzunehmen. Die Beurteilung kann daher nach denselben Gesichtspunkten erfolgen, die auch für andere Berufsgruppen Gültigkeit haben. In der Regel wird die arteriosklerotisch bedingte pAVK erst im mittleren bis höheren Alter symptomatisch, einem Alter, in dem die Frage der Übernahme ins Beamtenverhältnis nicht mehr zur Begutachtung ansteht. Unterschiedlich zu bewerten sind arterielle Durchblutungsstörungen anderer Genese, insbesondere im Rahmen progredient verlaufender Systemerkrankungen (Autoimmunvaskulitiden, Morbus Winniwarter-Buerger). Bei diesen Krankheitsbildern kann gelegentlich eine rasche Progredienz trotz intensiver therapeutischer Bemühungen Anlass für Mehrfachamputationen an mehreren Gliedmaßen sein. Nur solche – im Alltag seltenen – schweren Krankheitsverläufe können gelegentlich die Ursache dafür sein, von einer geplanten Übernahme ins Beamtenverhältnis abzusehen.
Berufsausübung Im Stadium I der pAVK gibt es für keinen Beruf krankheitsbedingte Einschränkungen. Im Stadium II hängen mögliche Limitierungen einerseits von der schmerzfreien Gehstrecke des Patienten ab, andererseits von den Mobilitätsanforderungen des jeweiligen Berufes. Hier ist auch zu berücksichtigen, dass die Gehstrecke bei pAVK deutlich abnimmt, wenn zusätzlich größere Lasten getragen werden müssen. Besondere Einschränkungen der Leistungsfähigkeit bestehen auch bei häufigem und längerem Treppensteigen, Klettern auf Gerüsten sowie bei Tätigkeiten in Kälte und Nässe. Letztere Einschränkung ist besonders zu berücksichtigen bei Patienten mit vorwiegend distal manifestierter pAVK (Buerger-Syndrom, diabetische Angiopathie, Sklerodermie). Postoperativ dürfen Patienten mit femoropoplitealem, besonders aber kniegelenksüberschreitendem Bypass nicht in Körperhaltungen arbeiten, die zum Abknicken des Bypass führen können (nicht länger/öfter hocken oder knien). Wenn eine Antikoagulation erforderlich ist, sind Tätigkeiten mit erhöhtem Verletzungsrisiko, besonders solche auf Leitern und Gerüsten, nicht zumutbar. Wenn Patienten mit diabetischem Fußsyndrom zur Prophylaxe eines Mal perforans diabetesgerechtes Schuhwerk mit Weichbettung tragen müssen, dürfen Arbeiten, die wegen erhöhter Verletzungsgefahr aus Arbeitssicherheitsgründen nur mit Sicherheitsschuhen (mit Stahlkappe) zulässig sind, nur dann verrichtet werden, wenn ihnen entsprechend diabetesadaptierte Arbeitssicherheitsschuhe mit Fußweichbettung zur Verfügung gestellt werden können. Bei anhaltenden postoperativen oder postischämischen Nervenläsionen (z. B. Peroneusparese) mit daraus folgenden motorischen oder sensiblen Funktionsausfällen dürfen Tätigkeiten mit besonderer Gang- und Trittsicherheit nicht abverlangt werden. Dasselbe gilt bei Zustand nach Amputation. Berufskraftfahrer dürfen nur dann weiter in ihrem Beruf arbeiten, wenn die entsprechenden Funktionsausfälle durch spezielle technische Sonderausrüstungen ihrer Fahrzeuge ausgeglichen werden können. Patienten mit pAVK der oberen Extremitäten und vasospastischen Syndromen sollen auch im Beruf Kälte und Nässe meiden. Bei organisch bedingten arteriellen Durchblutungsstörungen der Hände muss jede beruflich bedingte Verletzung vermieden werden. Manuelle Tätigkeiten dürfen nur in einem solchen Ausmaß verrichtet werden, dass dadurch keine claudicatiotypischen Schmerzen auftreten. Arbeit mit vibrierenden Maschinen sollte grundsätzlich gemieden werden, um keine zusätzliche Verschlechterung der Durchblutung durch ein chronisches Vibrationstrauma zu riskieren. Auch stumpfe
165 6.1 Arterien
Schlagbewegungen mit dem Handballen sollten von Patienten mit Raynaud-Syndrom unterlassen werden.
Kommentar Auch wenn hier nur die pAVK-bedingten Leistungseinschränkungen beschrieben werden, darf der Gutachter nicht versäumen, auch die durch weitere Erkrankungen des Patienten verursachten Limitierungen zu berücksichtigen, um ein adäquates und detailliertes positives und negatives Leistungsbild erstellen zu können. Wo die Bedeutung der zusätzlichen Erkrankungen für das gesamte verbliebene Leistungsvermögen des Patienten aus angiologischer Sicht nicht zu beurteilen ist, muss ein entsprechendes Zusatzgutachten anderer Fachgebiete angeregt werden.
Fahrereignung Vom Bundesministerium für Verkehr sind Leitsätze für die Verkehrstauglichkeit auch bei arteriellen Durchblutungsstörungen herausgegeben worden [23]. Während in früheren Fassungen dieser Leitsätze die Fahrtüchtigkeit noch in Abhängigkeit von der schmerzfreien Gehstrecke definiert wurde, ist darauf in der neuesten Ausgabe von 1996 verzichtet worden. Stattdessen wird jetzt eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte gefordert. Das bedeutet in Bezug auf die pAVK, dass auch die möglichen Folgeschäden durch vorhandene kardiovaskuläre Risikofaktoren in die Beurteilung der Fahrereignung miteinbezogen werden müssen (z. B. diabetische Retinopathie und/oder Polyneuropathie, hypertensive Enzephalopathie). Wesentliche Faktoren, die die Fahrereignung auch beeinträchtigen können, sind 5 die Effektivität der Blutdruckeinstellung unter Medikation, 5 mögliche für die Fahrereignung wesentliche Nebenwirkungen der medikamentösen Behandlung sowie 5 die Insulinpflichtigkeit bei Diabetes mellitus. Ein besonderes Problem stellt die Schmerztherapie der pAVK mit Opioiden dar. Auch hier muss die Fahrereignung im Einzelfall geprüft werden. Neuere Studien zeigen, dass eine wirksame Schmerzbekämpfung mit Opioiden in gleichbleibender und mäßiger Dosierung nicht zum Verlust der Fahrereignung führen muss [25]. In der Einstellungsphase der Therapie sowie bei fehlender Wirksamkeit und deshalb erforderlicher Dosisänderung sind allerdings die Folgen auf das Reaktionsvermögen nicht vorhersehbar und daher die Fahrereignung nicht gewährleistet. Die Einschränkungen der Fahrereignung durch die pAVK selbst können teilweise durch Nachrüstung des Fahrzeugs mit technischen Hilfseinrichtungen ausgegli-
chen werden. Dies gilt auch für Patienten mit Zustand nach Amputation. Im Stadium III und IV sowie nach beidseitigen Majoramputationen ist die Fahrereignung allerdings meist aufgehoben. Einen Überblick über die wichtigsten Kriterien bei der Beurteilung der Fahrtüchtigkeit bei arteriellen Gefäßerkrankungen und ihren Begleitkrankheiten gibt . Tab. 6.6. Fahrereignung bei Karotisstenosen
Ein besonderes Problem stellt die gutachterliche Beurteilung der Fahrereignung bei Karotisstenosen dar. Immerhin liegt die Prävalenz höhergradiger Karotisstenosen in der älteren Bevölkerung bei ca. 3%, die Inzidenz zerebrovaskulärer Ereignisse zeigt einen exponentiellen Anstieg mit dem Lebensalter (. Tab. 6.7). Das bedeutet, dass in Deutschland ca. 80.000–90.000 Patienten leben, die an symptomatischen Durchblutungsstörungen des Gehirns durch Erkrankungen der hirnversorgenden Arterien leiden [1]. Allgemein ist dann die Eignung zum Lenken eines KFZ nicht gegeben, wenn aufgrund des individuellen körperlichen und geistigen Zustandes beim Lenken eines Kraftfahrzeugs eine Eigen- oder Fremdgefährdung zu erwarten ist. In jedem Einzelfall ist das individuelle Interesse, am motorisierten Straßenverkehr teilzunehmen, abzuwägen gegen das Allgemeininteresse an der Verkehrssicherheit. Zu unterscheiden ist bei der Begutachtung außerdem, mit welcher Art der Fahrerlaubnis der Betroffene am Straßenverkehr teilnimmt. Es werden 2 Führerscheingruppen (7 Kap. 20 »Anhang«) unterschieden: 5 Führerscheine der Gruppe 1 gelten für den Individualverkehr, 5 in der Gruppe 2 sind solche mit beruflicher Personenbeförderung und Lkw-Fahrerlaubnis zusammengefasst. Die Anwendung dieser allgemeinen Beurteilungsgrundsätze auf Patienten mit Karotisstenosen muss einerseits das Risiko eines akuten Ereignisses mit plötzlichem Kontrollverlust berücksichtigen, andererseits auch die neurologischen Folgezustände eines bereits stattgehabten Insults in die Entscheidung über die Fahrereignung einbeziehen. Da jede Karotisstenose sich im Verlauf progredient entwickeln kann, ist die Beurteilung der Fahrereignung oft nur für einen bestimmten Zeitraum möglich. Daher sind in solchen Fällen befristete Fahrereignungen auszusprechen mit der Auflage regelmäßiger fachärztlicher Kontrolluntersuchungen. Die Gesamtbeurteilung und die evtl. erforderlichen Einschränkungen und Befristungen sind abhängig von dem Risiko akuter neurovaskulärer Ereignisse bei dem jeweils nachgewiesenen Stenosegrad.
6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
166
Krankheiten
Eignung oder bedingte Eignung
Beschränkungen/Auflagen bei bedingter Eignung
Klassen A, A1, B, BE, M, L, T
Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E, FzF
Klassen A, A1, B, BE, M, L, T
Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E, FzF
Nein: Keine Fahrtauglichkeit, wenn Herzrhythmusstörung mit anfallsweiser Bewusstlosigkeit vorhanden sind
Nein, ausnahmsweise ja
Regelmäßige Kontrollen
Regelmäßige Kontrollen
Herz- und Gefäßkrankheiten Herzrhythmusstörungen mit anfallsweiser Bewusstseinstrübung oder Bewusstlosigkeit – nach erfolgreicher Behandlung durch Arzneimittel oder Herzschrittmacher
Ja: Wenn diese Herzrhythmusstörung erfolgreich behandelt ist und daher Bewusstlosigkeitsanfälle nicht mehr zu befürchten sind Koronare Herzkrankheit Nach erstem Infarkt
Ja bei komplikationslosem Verlauf
Ausnahmsweise ja
–
Nachuntersuchung
Nach zweitem Infarkt
Ja, wenn keine Herzinsuffiuienz oder gefährliche Rhythmusstörungen vorliegen
Nein
Nachuntersuchung
–
Herzleistungsschwäche durch angeborenem oder erworbenem Herzfehler oder sonstige Ursachen In Ruhe auftretend
Nein
Nein
–
–
Bei gewöhnlichen Alltagsbelastungen und bei besonderen Belastungen
Ja
Nein
Regelmäßige ärztliche Kontrolle, Nachuntersuchung in bestimmten Fristen, Beschränkung auf einen Fahrzeugtyp, Umkreis- und Tageszeitbeschränkungen
–
Periphere Gefäßerkrankungen
Ja
Ja
–
–
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
. Tab. 6.6. Die wichtigsten Kriterien zur Beurteilung der Fahrereignung bei arteriellen Gefäßerkrankungen und ihren Begleitkrankheiten
167 6.1 Arterien
. Tab. 6.7. Inzidenz zerebrovaskulärer Ereignisse in Abhängigkeit vom Alter Inzidenz
Alter
1 von 1000
bei Alter 45–64 Jahre
10 von 1000
bei Alter 65–74 Jahre
20 von 1000
bei Alter 75–84 Jahre
Das Risiko eines karotisbedingten Schlaganfalls beträgt bei asymptomatischen Stenosen 5 für mehr als 50-%ige Stenosen 1–2% pro Jahr, 5 für mehr als 80-%ige Stenosen 2–5% pro Jahr, 5 die jährliche Verschlussrate einer 80- bis 99-%igen Stenose beträgt mehr als 10%; allerdings entwickeln nur ca. 25% dieser Patienten eine manifeste zerebrale Ischämie [2]. Symptomatische Stenosen weisen dagegen unter konservativer Therapie innerhalb von 5 Jahren 5 bei 50- bis 69-%igen Stenosen ein Schlaganfallrisiko von 18,6%, 5 bei 70- bis 99-%igen Stenosen ein Schlaganfallrisiko von 18,6% auf. [2] Da das Schlaganfallrisiko bei hochgradigen Karotisstenosen durch operative oder interventionelle Behandlung deutlich gesenkt werden kann, wird eine entsprechende individuelle Risikoabwägung vor und nach dem Eingriff zu unterschiedlicher Einschätzung der Fahrereignung solcher Patienten führen. Auch der Erfolg des Risikofaktoren-Managements unter maximaler konservativer Therapie – hier kommt der Blutdruckeinstellung die größte Bedeutung zu – hat Einfluss auf die zukünftige Ereigniswahrscheinlichkeit und muss daher in die Beurteilung der Fahrereignung der Betroffenen eingehen. Berücksichtigt man bei der Beurteilung der Fahrereignung von Patienten mit Karotisstenosen all diese Einflussfaktoren, kann man sich an der in . Tab. 6.8 dargestellten Leitlinie orientieren [3].
6.1.7 Risikobeurteilung
Die Arteriosklerose als generalisierter Gefäßprozess manifestiert sich als koronare Herzkrankheit, supraaortale Verschlusskrankheit und periphere arterielle Verschlusskrankheit. Mit dem Alter nimmt die pAVK deutlich zu, es überwiegen bei den Erkrankten deutlich die Männer. So haben 1,6% der 35-bis44-jährigen und 6,1% der 45- 50jährigen Männer eine pAVK [1]. Im Unterschied zur KHK sind nur 25% der pAVK-Patienten symptomatisch, bei der KHK sind es 68% [2].
Das gleichzeitige Auftreten einer pAVK mit anderen Manifestationsformen der Arteriosklerose ist häufig: So findet man bei pAVK-Patienten in 38,2% der Fälle gleichzeitig eine KHK und in 16,5% eine zerebrovaskuläre Erkrankung [33]. Die Amputationsinzidenz aufgrund vaskulärer Erkrankungen beträgt in Deutschland 22.000 pro Jahr [4]. Das entspricht bezogen auf die symptomatischen pAVKPatienten einer jährlichen Amputationsrate von 13,75%. Diese Angaben sind allerdings zu differenzieren nach Schweregrad der Erkrankung und nach diabetischer oder nichtdiabetischer Angiopathie. So beträgt die (Major)Amputationsrate bei nichtdiabetischen pAVK-Patienten im Stadium II 3–10% innerhalb von 3–15 Jahren [5], im Stadium IV dagegen 25% pro Jahr [6]. Die Amputationsrate bei Diabetikern ist im Vergleich zu Nichtdiabetikern 10- bis 20-mal höher [7]. Patienten mit manifester pAVK haben gegenüber Patienten ohne diese Erkrankung eine reduzierte Lebenserwartung; die jährliche Sterberate ist mehr als doppelt so hoch wie in einem Normalkollektiv [3]. Die diesbezüglichen Angaben variieren aber je nach Alterszusammensetzung der Vergleichskollektive und dem jeweiligen Schweregrad der Erkrankung [9]. Die 10-Jahres-Sterblichkeit ist auch abhängig von der Lokalisation der pAVK: Patienten mit pAVK vom Beckentyp haben mit 57% die höchste 10-Jahres-Sterblichkeit, gefolgt vom Oberschenkeltyp mit 47% und vom Unterschenkeltyp mit 22% [3]. Einen sehr aussagekräftigen Hinweis auf die Prognose der Erkrankung liefert der KnöchelArm-Index (ABI) der Dopplersonographie [10]. Insgesamt ist die Mortalität der Patienten mit symptomatischer pAVK vergleichbar der Mortalität verschiedener onkologischer Erkrankungen [10, 29].
6.1.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die ArterioskleroseIm Unterschied zur akutmedizinischen Behandlung, deren oberstes Ziel die Heilung einer Krankheit ist, geht es bei der Rehabilitation darum, durch eine chronische Krankheit entstandene Funktionsdefizite zu bessern mit dem Ziel, den Patienten in seinem privaten, beruflichen und sozialen Umfeld zu reintegrieren. Mit Hilfe der Rehabilitation sollen die Patienten ihre Alltagsangelegenheiten soweit wie möglich selbstständig oder mit einem möglichst geringen Maß fremder Hilfe bewerkstelligen können. Um diese komplexen Ziele zu erreichen, bedarf es einer ausreichenden Motivation von Seiten der Patienten (= Rehabiliationsfähigkeit) sowie aufeinander abgestimmter Maßnahmen der medizinischen, sozialen und beruflichen Rehabilitation.
6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
168
Befund
Gruppe 1 geeignet
Gruppe 1 Einschränkungen
Gruppe 2 geeignet
Gruppe 2 Einschränkungen
Asymptomatische Karotisstenose <50%
Ja
Je nach Risikofaktoren befristen auf bis zu 5 Jahre, regelmäßige fachärztliche Kontrollen erforderlich
Ja
Je nach Risikofaktoren beschränken auf bis zu 5 Jahre, regelmäßige fachärztliche Kontrollen erforderlich
>60%
Ja
Je nach Risikofaktoren befristen auf 1–2 Jahre, regelmäßige fachärztliche Kontrolle erforderlich
Ja/nein
Eventuell Befristung auf 1 oder maximal 2 Jahre, wenn regelmäßige fachärztliche Kontrollen den stabilen Zustand beweisen und Risikofaktoren gut eingestellt sind
>70%
Nein
Nein
Symptomatische Karotisstenose
1
Jeder Stenosegrad
Nein
Nein
Zustand nach KarotisTEA, Zustand nach Karotis-Stent
Ja
Befristung auf 2 Jahre + Auflage regelmäßiger fachärztlicher Kontrolluntersuchungen
Ja/nein
Eventuell Befristung auf 1 oder maximal 2 Jahre, wenn regelmäßige fachärztliche Kontrollen den stabilen Zustand beweisen und Risikofaktoren gut eingestellt sind
Zustand nach TIA, Zustand nach Apoplex
Ja/nein
Evtl. Befristung auf 1 bis maximal 5 Jahre je nach neurologischem Befund: 5 keine mentalen Beeinträchtigungen, 5 keine verkehrsbeeinträchtigenden Paresen. Eventuell ist eine verkehrspsychologische Testung erforderlich
(Ja)/nein
Evtl. Befristung auf 1 bis maximal 5 Jahre je nach neurologischem Befund: 5 keine mentalen Beeinträchtigungen, 5 keine verkehrsbeeinträchtigenden Paresen. Eventuell ist eine verkehrspsychologische Testung erforderlich
DGG (1998) Leitlinie der DGG zur Diagnostik und Behandlung von Karotisstenosen. Eckstein HH, Heider P, Wolf O (2004) Chirurgische Therapie extrakranieller Karotisstenosen. Dtsch Ärztebl 41: 2321–2330 3 AG Amtsärzte in Führerscheinangelegenheiten (2006) Leitlinien für die gesundheitliche Eignung von Kraftfahrzeuglenkern. 2
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
. Tab. 6.8. Fahrereignung von Patienten mit Karotisstenosen
169 6.1 Arterien
Stadium I. Die Rehabilitationsbedürftigkeit von Patienten mit pAVK ist abhängig vom Krankheitsstadium. Im Stadium I bestehen keine subjektiven Symptome, daher ist hier in der Regel Rehabilitationsbedarf nicht gegeben. Allerdings kann ein ausgeprägtes kardiovaskuläres Risikoprofil, das eine baldige Progression der Erkrankung befürchten lässt, doch einmal Anlass für eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme sein, um durch sekundärpräventive Angebote die Risikofaktoren zu minimieren und so einem Fortschreiten des Krankheitsprozesses vorzubeugen. Stadium II. Das Stadium II stellt immer dann eine Indikation zur Rehabilitation dar, wenn die betroffenen Patienten mit der Einschränkung ihrer Gehstrecke ihren privaten oder beruflichen Anforderungen nur unvollständig oder gar nicht mehr gerecht werden können. Den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Angiologie entsprechend sollte zur Therapie der pAVK im Stadium II vorwiegend ein konservatives strukturiertes Gefäßtraining durchgeführt werden. Dies besteht aus überwiegend balneophysikalischen Anwendungen. In das rehabilitative Behandlungskonzept sollten aber auch interventionelle Eingriffe einbezogen werden, wenn bei Mehretagenerkrankung vorgeschaltete Stenosen (überwiegend in der Beckenetage) einer Dilatation zugänglich sind. Die Kombination aus Dilatation und Gefäßtraining kann in solchen Fällen den Rehabilitationserfolg erheblich verbessern. Dass darüber hinaus den Risikofaktoren im Rahmen der Sekundärprävention besonderes Augenmerk zu widmen ist, gehört zum Qualitätsstandard einer modernen angiologischen Rehabilitation. Die hier skizzierten komplexen Anforderungen an die rehabilitative Behandlung im Stadium II sind nur in enger interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Angiologen, Radiologen, Physiotherapeuten, Sozialarbeitern, Pflegedienstmitarbeitern und Psychologen zu erreichen. Dies ist am effektivsten in einer stationären Rehabilitationseinrichtung gewährleistet, die darüber hinaus auch alle erforderlichen diagnostischen Methoden vorhalten sollte (einschließlich farbkodierter Duplexsonographie und Angiographie), um bei mangelndem Erfolg reiner Trainingsmaßnahmen ohne Zeitverzug klären zu können, welche Änderungen oder Erweiterungen der Therapie das Rehabilitationsergebnis verbessern können. Gegen eine ambulante Rehabilitation für die pAVK sprechen folgende Gründe: 5 Es gibt nur sehr wenige ambulante therapeutische Einrichtungen, die über ein so umfassendes diagnostisches und therapeutisches Angebot speziell für pAVK-Patienten verfügen. 5 Patienten müssen einen zusätzlichen Fahraufwand auf sich nehmen, der zumindest im Stadium IIb eine erhebliche Zumutung darstellt. 5 Änderungen der alltäglichen Lebensgewohnheiten, die im Rahmen der Sekundärprävention erforderlich
sind (z. B. Nikotinverzicht), sind für Patienten leichter zu bewerkstelligen, wenn sie in der ersten Zeit nicht in ihrem normalen Umfeld leben. Stadium III und IV. Im Stadium III und IV ist eine stati-
onäre Rehabilitation im Rahmen einer Anschlussheilbehandlung (AHB) dann sinnvoll, wenn vorher akut-stationär eine komplette angiologische Diagnostik, eine Infektbekämpfung und Optimierung der arteriellen Durchblutung durch perkutane transluminale Angioplastie (PTA) oder Gefäßoperation erfolgt ist. Amputation. Auch Patienten nach Minoramputationen
bedürfen einer rehabilitativen Nachbehandlung. Sie müssen über mehrere Wochen postoperativ immobilisiert werden, um durch Scherbelastung des Amputationsstumpfes bei zu früher Mobilisation die im Rahmen der gestörten Durchblutung sowieso erschwerte Wundheilung nicht zusätzlich zu gefährden. Danach muss die krankengymnastische Behandlung mit speziell den operierten Fußbereich entlastenden Verbandsschuhen erfolgen, bis nach endgültiger Abschwellung des Stumpfes die dauerhafte Schuhversorgung mit einem maßgefertigten Spezialschuh in die Wege geleitet werden kann. Nach Unterschenkel- oder Oberschenkelamputationen ist die stationäre Rehabilitation zwingend durchzuführen mit dem Ziel, den Amputationsstumpf für die Belastung in der künftigen Prothese zu konditionieren und nach den individuellen Möglichkeiten der Patienten eine Mobilisation durch Gehen mit oder ohne Stütze zu erreichen. Wo dies nicht gelingt, wird zumindest Rollstuhlmobilität angestrebt, was ebenfalls ein Training (insbesondere der Armund Schultergürtelmuskulatur) erfordert. Zusätzlich muss in diesen Fällen während der Rehabilitation Vorsorge getroffen werden, dass die Wohnung, in die der Patient entlassen werden soll, rollstuhlgerecht eingerichtet ist. Gefäßoperation. Bei Zustand nach Gefäßoperation ist
ebenfalls in den meisten Fällen eine Anschlussheilbehandlung indiziert. Oft handelt es sich in diesen Fällen um Mehretagenerkrankungen, bei denen durch die invasive Sanierung des am meisten proximal gelegenen Strombahnhindernisses günstige Voraussetzungen geschaffen sind für die Durchführung eines Gefäßtrainings der nachgeschalteten Gefäßprovinzen. Aber auch die recht häufigen postoperativen Narbenbeschwerden sowie das – insbesondere nach langen gelenküberschreitenden femoropoplitealen bzw. -kruralen Bypassoperationen auftretende sekundäre Lymphödem – begründen die Notwendigkeit einer Anschlussheilbehandlung. Nicht selten werden im Rahmen der angiologischen Diagnostik bei diesen postoperativen AHB-Patienten Frühkomplikationen entdeckt, deren rechtzeitige Beseitigung zu einer besseren Offenheitsrate des implantierten
6
170
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
Bypasses beitragen kann. Auch die Klärung sozialmedizinischer Fragen, die mit der durchgeführten Gefäßoperation im Zusammenhang stehen – z. B. berufliche Auswirkungen einer erforderlichen Dauerantikoagulation für verletzungsgefährdete Tätigkeiten, Umschulung eines Fliesenlegers nach Implantation eines infragenualen Bypasses etc. – gehören zum Aufgabenspektrum einer postoperativen AHB. Gelingt die beabsichtigte Optimierung der arteriellen Durchblutung durch eine Gefäßoperation oder -intervention nicht, so ist auch dies ein Grund für eine Anschlussheilbehandlung, um nun mangels anderer Therapiealternativen durch multimodale – und in dieser Situation oft langwierige – konservative Behandlung die Kompensation der arteriellen Perfusion durch Mobilisierung körpereigener Reservemechanismen zu verbessern.
Indikationen für AHB nach Gefäßoperationen oder -interventionen 5 Sanierung einer Etage bei Mehretagenerkrankung 5 Postoperative Folgezustände (Narbenbeschwerden, Nervenläsoinen, Lymphödem) 5 Nachbehandlung im Stadium IV 5 Sekundärprävention bei ausgeprägtem kardiovaskulärem Risikoprofil 5 Konservative Behandlung nach Ausschöpfen aller operativen und interventionellen Therapieoptionen: – erfolglose Bypassrevision nach Bypassverschluss – langstreckiger Reverschluss nach PTA, der einer weiteren Intervention nicht mehr zugänglich ist – Zustand nach Kompartmentsyndrom nach Operation oder Lyse
14 Kosten-Nutzen-Abwägung
15 16 17 18 19 20
Die Behandlung der pAVK im Stadium III und IV ist aufwändig und langwierig. Trotz aller Bemühungen sind in diesen Schweregraden der Erkrankung Amputationen all zu oft nicht mehr vermeidbar. Folgen der Amputationen sind wiederum größere Abhängigkeit der Patienten von Hilfe in ihrem sozialen Umfeld, dauerhafte Leistungseinbußen bei Berufstätigen bis hin zur Erwerbsunfähigkeit und damit – last but not least – langfristig höhere Kosten für unser Sozialsystem. Es ist daher nicht verständlich, dass in zunehmendem Maße Kostenträger die kostengünstige Rehabilitation im Stadium II der pAVK ablehnen und erst in fortgeschrittenen Stadien die viel höheren Kosten teurer akutmedizinischer Behandlungen mit sehr viel geringerer Aussicht auf langfristigen Erfolg übernehmen.
Gerade bei einer Zivilisationskrankheit wie der Arteriosklerose, die verursacht wird durch überwiegend potenziell beeinflussbare Risikofaktoren, ist es langfristig auch im wohlverstandenen Interesse der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger, möglichst frühzeitig Rehabilitationsmaßnahmen einzusetzen, mit denen erreicht werden kann, 5 die Progression der Erkrankung zu stoppen, 5 die Patienten im Umgang mit ihrer Erkrankung zu schulen, 5 die Eigenverantwortung der Betroffenen zu stärken durch Sensibilisierung für die große Bedeutung der Risikofaktoren im Rahmen einer intensiven Sekundärprävention, 5 bei einem Teil der Patienten durch Lebensstiländerungen sogar Rückbildungen der Arteriosklerose zu erreichen [26], 5 die Erwerbsfähigkeit der pAVK-Patienten langfristig zu erhalten.
6.1.9 Sonderfragen
Das Aortenaneurysma ist ein eigenständiges Krankheitsbild, auch wenn es in der Regel die extremste Form der dilatierenden Arteriosklerose darstellt. Es ist definiert als pathologische Erweiterung der Aorta, deren Maße abhängig sind von dem Segment, das von dem Krankheitsprozess betroffen ist. Im Aortenbogen sind Durchmesser ≥4 cm pathologisch, während in der abdominellen Aorta Durchmesser ≥3 cm als Aneurysma gelten. Es gibt enge Korrelationen zwischen Aneurysmadurchmesser und Perforationsrisiko. Der »cut off« für die Therapieindikation wegen dieses Risikos liegt bei 5 cm Durchmesser. In der Literatur wird bei Größen <5 cm ein Rupturrisiko von 0–12% angegeben, bei >5 cm liegt dieses Risiko bei 22– 25% [27, 28]. Aneurysmata im Bereich des Aortenbogens und der thorakalen Aorta sind gelegentlich mit Dissektionen der Gefäßwand kombiniert, deren Ätiologie vielfältig sein kann: 5 zystische Medianekrose nach Erdheim-Gsell 5 Marfan-Syndrom, 5 Ehlers-Danlos-Syndrom, 5 posttraumatisch, 5 arteriosklerotisch, 5 entzündlich (luetisch, mykotisch). Diese Dissektionen können langstreckig sein und distal bis in die Iliakalarterien reichen. Lokalisation und Ausdehnung der Dissektionsmembran werden in unterschiedliche Typen eingeteilt (Stanford, DeBakey) > Wichtigster Risikofaktor für ein Aortenaneurysma ist die arterielle Hypertonie.
171 6.2 Venen
Die klinische Beobachtung, dass langjährige berufliche Exposition gegenüber Lösungsmitteln bei diesen Patienten gehäuft vorkommt, hat sich als eigenständiger Risikofaktor noch nicht schlüssig beweisen lassen [30]. Die Prävalenz des Aortenaneurysmas nimmt mit dem Alter zu, Männer sind 6-mal häufiger betroffen als Frauen [31]. 22% sind im Aortenbogen lokalisiert, 10% in der thorakalen Aorta und 68% in der abdominellen Aorta, davon liegen 90–95% infrarenal [8]. Oft ist das Aortenaneurysma mit Aneurysmata anderer Lokalisationen kombiniert, am häufigsten betroffen ist die A. poplitea. Bei der klinischen Untersuchung tastet man nur gelegentlich – insbesondere bei schlanken Patienten – das Aortenaneurysma als pulsierenden Tumor periumbilikal. > Untersuchungsmethode der Wahl ist die Sonographie, deren Einsatz sich auch als Screening-Verfahren für die Prognose der Erkrankung sehr bewährt hat [31].
Andere bildgebende Methoden (CT, DSA) sind erst dann erforderlich, wenn aufgrund der Größe des Aneurysmas und der damit verbundenen Perforationsgefahr eine operative oder interventionelle Therapie vorbereitet werden muss. Zusammenhangsfragen ergeben sich insbesondere bei der Beurteilung von Unfallfolgen. Ein für eine Dissektion adäquates Trauma vorausgesetzt, ist besonders dann von einem ursächlichen Zusammenhang auszugehen, wenn keine Risikofaktoren bestehen (einschließlich Familienanamnese!), ein charakteristisches thorakales Schmerzereignis in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall erstmals aufgetreten ist und das arterielle Gefäßsystem ansonsten morphologisch unauffällig ist. Beweise, dass ein Aortenaneurysma als Berufskrankheit aufzufassen ist, liegen bisher nicht vor (s. oben; Risikofaktoren). Arbeitsunfähigkeit besteht bei unklaren abdominellen Beschwerden, bis durch entsprechende angiologische Untersuchung ein symptomatisches Aortenaneurysma ausgeschlossen ist. Wenn dieser Verdacht besteht, muss der Aneurysmapatient stationär überwacht und ggf. kurzfristig operiert werden. Das asymptomatische Aortenaneurysma mit einer noch nicht therapiepflichtigen Größe begründet keine GdB/MdE. Ob postoperativ oder postinterventionell die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind, hängt von den verbliebenen Funktionseinschränkungen ab, die jedoch in der Regel nicht auf das Aneurysma, sondern auf die durchgeführte Behandlung zurückzuführen sind (z. B. postoperative Narbenschmerzen, Nervenläsionen, Narbenhernien etc.). Im asymptomatischen, nicht therapiebedürftigen Stadium sind Aneurysmapatienten in ihrer Berufsausübung kaum eingeschränkt. Lediglich Heben und Tragen schwerer Lasten sollte unterlassen werden. Auch ex-
treme Stressbelastungen, die zu einer Verschlechterung einer sonst medikamentös einstellbaren Hypertonie führen, müssen diese Patienten vermeiden, da durch Blutdruckkrisen das Perforationsrisiko steigt. In der Regel bestehen keine Bedenken gegen die Übernahme von Aneurysmapatienten in das Beamtenverhältnis. Lediglich in den sehr seltenen Fällen, bei denen zum Zeitpunkt der beamtenrechtlichen Entscheidung ein akut therapiebedürftiges thorakales Aortenaneurysma bekannt ist, sollte die Entscheidung bis zum Abschluss der invasiven Therapie verschoben werden. Die Prognose der Erkrankung hängt ab von der Größe des Aneurysmas, die mit dem Perforationsrisiko eng korreliert ist (s. oben). Nach erfolgreich durchgeführtem Eingriff ist die Prognose gut, wenn keine zusätzlichen Erkrankungen vorliegen. Allerdings treten bei diesen Patienten im Langzeitverlauf gelegentlich Aneurysmata an den Bypassanastomosen auf. Sie bedürfen daher einer regelmäßigen angiologischen Überwachung. Die Fahrereignung ist beim asymptomatischen Aneurysma nicht eingeschränkt. Im symptomatischen Stadium stellt sich die Frage der Fahrereignung nicht, da es sich hierbei um einen kurzfristigen, akut behandlungsbedürftigen Notfall handelt. Rehabilitationsbedarf besteht im Krankheitsverlauf aus zwei Gründen: 5 Im asymptomatischen Stadium sollte eine optimale Sekundärprävention erfolgen. Dies betrifft insbesondere die Blutdruckeinstellung. Wenn diese unter ambulanten Bedingungen nicht gelingt, sollte der Patient im Rahmen einer stationären Rehabilitation auf streng normotensive Blutdruckwerte eingestellt und im eigenverantwortlichen Umgang mit der Hypertonie als wichtigstem Risikofaktor geschult werden. 5 Postoperativ sind die Patienten oft erheblich körperlich geschwächt. Dies gilt insbesondere für die Patienten nach operativem Ersatz von Aortenwurzel (teilweise mit Aortenklappenprothese) und Aortenbogen, da diese langwierigen Operationen unter Bedingungen des Kreislaufstillstandes und in Hypothermie durchgeführt werden. Diese Patienten bedürfen postoperativ eines langsamen und schonenden HerzKreislauf-Trainings.
6.2
Venen T. Layher
Venenerkrankungen sind häufige Erkrankungen und von erheblicher sozialmedizinischer Bedeutung. Von mehr als 20 Millionen Deutschen mit Veränderungen an den Beinvenen sind ca. 3 Millionen (15%) von so weit fortgeschrittenen Venenerkrankungen betroffen, dass ihr Tagesablauf und die Lebensqualität in erheblichem Umfang be-
6
172
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
einträchtigt sind. Venöse Beinleiden verursachen pro Jahr über 3000 Frühberentungen. Venen repräsentieren einen Abschnitt des Niederdruckstrombahngebietes, deren Erkrankungen nur selten den für die Arterien üblichen atheromatösen Veränderungen unterliegen, sondern überwiegend durch strukturelle Besonderheiten wie Abflussbehinderungen oder Kompressionen gekennzeichnet sind. Von klinischer Bedeutung sind u. a. Varizen, Thrombosen, Thrombophlebitis bzw. die chronisch venöse Insuffizienz als Folge eines posthrombotischen Syndroms bzw. einer langjährigen Varikosis.
6.2.1 Diagnostik
. Tab. 6.9. Aussagen der klinischen Funktionstests zur Venendiagnostik Test
Aussage
Trendelenburg-Test
Krossen- und Perforanteninsuffizienz
Perthes-Test
Durchgängigkeit der tiefen Venen
Schwartz-Test
Krosseninsuffizienz, Refluxlänge
Pratt-Test
Perforanteninsuffizienz
Mahorner-Ochsner-Test
Perforanteninsuffizienz
Linton-Test
Durchgängigkeit der tiefen Venen
Spezielle Anamnese Als Grundlage für die gutachterliche Stellungnahme bei Venenerkrankungen steht neben dem Aktenstudium eine ausführliche Anamneseerhebung im Vordergrund. Dabei interessieren neben der Familienanamnese (familiäre Häufung von Varizenleiden) und der Eigenanamnese (tiefe Beinvenenthrombosen) die berufliche Tätigkeit sowie Risikofaktoren für Gefäßerkrankungen wie Nikotinkonsum, Diabetes mellitus und arterielle Hypertonie, Östrogenbehandlung oder Tumorerkrankungen. In der genaueren krankheitsbezogenen Vorgeschichte sollte nach dem Auftreten von Krampfadern oder einer stattgehabten tiefen Beinvenenthrombose bzw. einer oberflächlichen Thrombophlebitis gefragt werden, ebenso wie nach Zeichen einer chronisch venösen Insuffizienz, z. B. Ödemen, Hautekzemen an den Unterschenkeln oder dem Ulcus cruris. Im Einzelfall können auch Fragen nach Auftreten von Varizen im Verlauf der Schwangerschaft bzw. der Gewichtsverlauf von Bedeutung sein. In der Zusammenhangsbeurteilung spielen zusätzlich stattgehabte Frakturen, Operationen oder Unfälle sowie Immobilisation eine wichtige Rolle. Insbesondere bei der Thrombose bzw. der chronisch venösen Insuffizienz auf dem Boden einer Postthrombose ist der Zusammenhang mit einem auslösenden Ereignis von entscheidender Bedeutung. Das Beschwerdebild wird sorgfältig dokumentiert und das Spektrum evtl. vorhandener anderer Krankheitsbilder wird eruiert, ebenso wie die bisher durchgeführten therapeutischen Maßnahmen.
Klinische Untersuchung > Die klinische Untersuchung von Patienten mit Venenerkrankungen muss sowohl in stehender wie in liegender Position durchgeführt werden, da varikös degenerierte Venen im Liegen meist kollabieren und daher nur in aufrechter Körperhaltung objektiv zu beurteilen sind.
Eine vorhandene Varikose muss dabei genau beschrieben, evtl. skizziert und klassifiziert werden. Wegen der unter-
schiedlichen klinischen Bedeutung wird eine intrakutane (retikuläre) von einer subkutanen Varikose unterschieden. Des Weiteren ist bereits bei der körperlichen Untersuchung ohne technische Hilfsmittel eine Differenzierung in Stamm- und Astvarikosis und/oder Perforansvarikosis möglich. Aus der Zeit, in der eine apparative Diagnostik des Venensystems nicht möglich war, stammen eine Reihe von klinischen Funktionstests zur Beurteilung einer Varikosis (. Tab. 6.9). > Anamnese und klinische Untersuchung genügen meist allerdings nicht, um die Genese und das Ausmaß einer venösen Problemsituation einschätzen zu können.
Um das Ausmaß einer venösen Abflussstörung, deren Reversibilität oder Irreversibilität sowie Erfolgsaussichten verschiedener Behandlungsstrategien und schließlich die sozialmedizinischen Folgen von Venenerkrankungen beurteilen zu können, sind apparative Untersuchungen auch in der Begutachtung unentbehrlich.
Apparative Zusatzuntersuchungen Lichterflexrheographie (Photoplethysmographie) > Diese Untersuchung gilt heute als Screening-Verfahren zur nichtinvasiven Beurteilung der venösen Funktion.
Dabei wird von einem Messkopf (handbreit oberhalb des Innenknöchels platziert) Infrarotlicht in die Haut eingestrahlt, wobei die Menge des dabei reflektierten Lichtes direkt abhängig ist von der Füllung des kutanen Venenplexus. Es lassen sich mit dieser Methode Rückschlüsse auf die Klappenfunktion im tiefen und oberflächlichen Venensystem ziehen. Durch einen zusätzlichen Tourniquet-Test kann der Wert der Untersuchung bezüglich seiner Aussagekraft noch gesteigert werden.
173 6.2 Venen
Venenverschlussplethysmographie Die Verschlussplethysmographie ist eine Technik, die durch gezielte Kompression von Venen oder Venen und Arterien eine Berechnung von Blutflüssen zulässt. Mit der Venenverschlussplethysmographie sind Durchblutungsmessungen sowohl am arteriellen wie auch venösen System in der Diagnostik und als Therapiekontrolle möglich. Neben der Luftplethysmographie hat die Strain-gauge-Methode mit Quecksilberdehnungsmessstreifen die größte Verbreitung im klinischen Alltag. Das Messprinzip beruht auf der Registrierung von Umfang und Umfangsänderung (= Volumen und Volumenänderung). Nach Anlegen eines Staus oberhalb der Messstellen (Wade, Fuß, Zehenbereich) kommt es zu einem Anstieg des Beinumfangs, da der venöse Abfluss blockiert ist, der Einstrom über die Arterien aber unbehindert bleibt. Die Umfangsänderungen entsprechen der arteriellen Durchblutung in entsprechenden Abschnitten. Anhand dieses volumenmessenden, nichtinvasiven Verfahrens sind quantitative Aussagen über die venöse Funktion, d. h. die venöse Kapazität und den venösen Abstrom, möglich. Bei Thrombosen von hämodynamischer Auswirkung kommt es zu einer Kapazitäts- und Ausstromverminderung. Allerdings handelt es sich bei dieser Methode um eine Zusatzuntersuchung neben einer weiterführenden bildgebenden Diagnostik.
thologischen Befunden sollte sich eine weiterführende Diagnostik des arteriellen Gefäßsystems anschließen.
Bildgebende Verfahren Farbkodierte Duplexsonographie Die farbkodierte Duplexsonographie bedeutet die kombinierte Anwendung der B-Bild- und der gepulsten Dopplersonographie bei gleichzeitiger farbkodierter Darstellung der Strömungsinformation. Somit ist neben der Sonomorphologie der Gefäß- und Umgebungsstrukturen eine Beurteilung der Hämodynamik möglich. > Mit dieser Methode gelingt der exakte Nachweis morphologischer und hämodynamischer Veränderungen im tiefen und oberflächlichen Venensystem und damit die Beantwortung der meisten gutachterlichen Fragestellungen.
Die Duplexsonographie hat dabei den Vorteil, dass auch pathologische Veränderungen in der Gefäßumgebung, z. B. Baker-Zyste, arterielle Aneurysmen, dargestellt und beurteilt werden können. Wie alle Utraschallverfahren ist sie in großem Maße abhängig von der Erfahrung des Untersuchers. Aufgrund der Nichtinvasivität der Methode ist sie patientenfreundlich und beliebig oft wiederholbar.
Phlebographie Dopplersonographie > Mit der direktionalen cw-Dopplersonographie gelingt eine weitgehende Einschätzung der hämodynamischen Veränderungen im oberflächlichen und tiefen Venensystem.
Mit der Strömungsdiagnostik können bei entsprechender Erfahrung im Liegen Strömungshindernisse wie persistierende Okklusionen nach stattgehabter tiefer Venenthrombose anhand der pathologischen S- und A-Signale erfasst werden. Etwas einfacher gestaltet sich die Refluxdiagnostik, bei der im Stehen der Nachweis klappeninsuffizienter Venenabschnitte im oberflächlichen und tiefen Venensystem erfolgt.
Kommentar Es sei an dieser Stelle explizit erwähnt, dass die Dopplersonographie keine exakte Lokalisation bzw. Darstellung morphologischer Veränderungen im Venensystem zulässt. Hierzu sind bildgebende Verfahren erforderlich.
Zu jeder phlebologischen Begutachtung gehört zumindest auch die Messung der peripheren Arteriendrücke; bei pa-
Bei dieser invasiven Methode, die vom zu Begutachtenden zustimmungs- und nicht duldungspflichtig ist, ist von Vorteil, dass die erhobenen Befunde aufgrund der guten Dokumentationsmöglichkeit auch bei späteren Nachbegutachtungen jederzeit nachvollziehbar sind. Wegen der Invasivität der Methode sowie der diagnostischen Gleichwertigkeit der duplexsonographischen Untersuchungsverfahren ist diese Form der Diagnostik nur noch bei unklaren duplexsonographischen Befunden indiziert.
6.2.2 Krankheitsdefinition
Varikosis Nomenklatur und Ätiopathogenese Bei der Varikosis handelt es sich um sackförmig oder zylindrisch erweiterte, oberflächliche (= epifasziale) Venen, wobei die Venenerweiterung umschrieben oder streckenförmig sein kann. Generell unterscheidet man zwischen 5 primärer Varikosis (95%) und 5 sekundärer Varikosis (5%). Die Ätiologie der primären Varikosis ist nicht bekannt, allerdings ist eine familiäre Häufung nicht selten gegeben. Pathognetisch kann dem Tonusverlust der glatten Venenwandmuskulatur die größte Bedeutung zugemessen wer-
6
174
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
den. Dies führt zur Dilatation der Vene und im Verlauf durch fibrotische Umbauvorgänge zur Atrophie der elastischen Fasern und damit zur Dilatation des Lumens mit Insuffizienz der Venenklappen. Die sekundäre Varikosis ist erworben, meist handelt es sich um Kollateralen bei Abflussbehinderung im tiefen Venensystem als Folge einer Phlebothrombose. Auch kongenitale Angiodysplasie, traumatische oder postoperative arteriovenöse Fisteln bzw. die externe Kompression der Beckenvenen durch Tumoren, Hernien, Briden oder eine Fibrose nach Radiatio können zu einer venösen Abflussbehinderung mit der Folge einer Varikosis führen. Der Ausfall oder die Schwäche der Wadenmuskelpumpe als treibende Kraft des venösen Rückstroms durch Lähmungen, posttraumatische Zustände, Gelenkarthrosen oder Immobilität können ein Krampfaderleiden zur Folge haben.
56% der männlichen sowie 55% der weiblichen Berufstätigen leiden an einer Varikosis unterschiedlichen Ausmaßes. Bei ca. 20% bzw. 11% besteht eine Stammvarikosis. 15% aller im Erwerbsleben stehenden Patienten leiden an einer klinisch relevanten chronisch venösen Insuffizienz.
Tiefe Venenthrombose (Phlebothrombose, TVT) Nomenklatur und Ätiopathogenese
Kommentar Die akute tiefe Arm- bzw. Beinvenenthrombose spielt in der Rentenbegutachtung eine eher untergeordnete Bedeutung, wohl aber im Rahmen von Begutachtung von Seiten der Unfallversicherung, wenn es um Zusammenhangsfragen geht, bzw. im Schwerbehindertenrecht, wenn nach dem Grad der Behinderung gefragt wird.
Einteilung der Varikosis nach Lokalisation 5 Stamm- und Seitenastvarikosis (am häufigsten): Betroffen sind die V. saphena magna (medialer Ober-, Unterschenkel) und/oder die V. saphena parva (dorsaler Unterschenkel) bzw. deren Äste. 5 Retikuläre Varizen: Netzartige oberflächliche Venenektasien, bevorzugt in der Kniekehle oder an der Außenseite von Ober- bzw. Unterschenkel. 5 Besenreiservarizen: Spinnengewebsartiges Netz durch kleinste intradermale Varizen.
Die TVT stellt eine intravitale, intravasale, lokalisierte Gerinnung von Blutbestandteilen dar mit der Gefahr der Lungenembolie bzw. des posthrombotischen Syndroms mit der Klinik der chronisch venösen Insuffizienz. Bei ausgedehnter thrombotischer Verlegung des tiefen Venensystems kann es u. U. zusätzlich zu einer Drosselung der arteriellen Durchblutung (Phlegmasia coerulea dolens) kommen mit der Gefahr der Amputation der betroffenen Extremität. Pathophysiologisch hat auch heute noch die VirchowTrias Gültigkeit (Übersicht).
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die beiden in der Übersicht letztgenannten Formen stellen meist nur ein kosmetisches Problem dar ohne klinische Beschwerden und damit ohne sozialmedizinische Relevanz. Pathophysiologisch kommt es mit dem mehr oder weniger ausgedehnten Ausfall des Klappenapparates im oberflächlichen Venensystem zu einer Störung des venösen Rückstroms. Der Druck in den Beinvenen steigt; die valvuläre Insuffizienz nimmt retrograd zu. Die klinischen Folgen werden unter dem Begriff der chronisch venösen Insuffizienz (CVI) zusammengefasst. Im Verlauf kommt es durch Einbeziehen von Vv. communicantes zu zunehmenden hämodynamischen Störungen, die schließlich zu den für den varikösen Symptomkomplex typischen trophischen Hautveränderungen führen.
Epidemiologie Rund 20% der Erwachsenen(w : m = 3 : 1) leiden an Varizen (Krampfadern) bei zunehmender Prävalenz mit dem Alter. Bei den unter 30-Jährigen beträgt der Anteil der Patienten mit Varikosis 26% und steigt auf über 70% bei den 50- bis 60-Jährigen.
Tiefe Venenthrombose: Virchow-Trias 5 Strömungsverlangsamung 5 Gefäßwandschädigung 5 Hyperkoagulabilität
Epidemiologie der Phlebothrombose Die tiefe Venenthrombose ist trotz der verbesserten Prophylaxe eine ernstzunehmende und mit einer Inzidenz von 1–3/1000/Jahr auch relativ häufige Erkrankung. Mehr als 95% der Thrombosen sind in der Bein-BeckenvenenRegion und der V. cava inferior lokalisiert, nur etwa 2% im Bereich des Einflussgebietes der V. cava superior. Rund 50% der Patienten mit einer TVT weisen eine szintigraphisch nachweisbare Lungenembolie auf, wobei lediglich die Hälfte der Patienten mit einer Lungenembolie klinische Symptome zeigen.
Thrombophlebitis Nomenklatur und Ätiopathogenese Die Thrombophlebitis ist eine Entzündung oberflächlicher (epifaszialer) Venen mit thrombotischer Verlegung
175 6.2 Venen
der betroffenen Vene. Eine Emboliegefahr ist selten gegeben, lediglich wenn die Thrombose der oberflächlichen Venen über insuffiziente Perforanzvenen, der V. saphena magna oder der V. saphena parva über die Mündungsklappe (Krosse) auf das tiefe Venensystem übergreift (ca. 20%).
Sonderformen der Thrombophlebitis 5 Varikophlebitis in einem umschriebenen Abschnitt von Krampfadern (häufigste Form) 5 Septische Thrombophlebitis nach paravenösen Injektionen oder Infusionsbehandlung über Verweilkanülen bzw. zentrale Venenkatheter 5 Phlebitis migrans (saltans): generalisierte Reaktion des Venensystems auf differente venotrope Schädigungen, z. B. akute und chronische Infekte, Initialphase einer Endangitis obliterans Buerger, selten bei Malignomen
Die Thrombophlebitis stellt ein relativ häufiges Krankheitsbild in der Phlebologie dar, das sich überwiegend ambulant therapieren lässt ohne wesentliche sozialmedizinische Auswirkungen. Die Prognose ist gut, die Abheilung erfolgt meist ad integrum.
Posthrombotisches Syndrom Nomenklatur und Ätiopathogenese Innerhalb einer Latenzzeit von 1–2, evtl. 10–30 Jahren kann es im Gefolge einer tiefen Beinvenenthrombose zur Entwicklung irreversibler Stauungserscheinungen an der Haut (Indurationen, Hyperpigmentierung, Ulcera cruris) des betroffenen Beins kommen. Prinzipiell entsprechen die klinischen Veränderungen beim postthrombotischen Syndrom denen der chronisch venösen Insuffizienz.
Klinische Einteilung des posthrombotischen Syndroms 5 Rein ödematöse Form: Anfänglich weich und reversibel, im Verlauf häufig Übergang in ein sekundäres Lyphödem 5 Variköse Form: Bild einer sekundären Varikosis (in 60–70% der Fälle nachweisbar) 5 Trophisch-ulzeröse Form
Epidemiologie Untersuchungen zufolge findet man ein postthrombotisches Syndrom bei 30% der Patienten mit einer tiefen Venenthrombose, 25% davon mit Ausbildung eines Ulcus cruris. Bei isolierten Unterschenkelthrombosen ist es eher
selten (3–4%), allerdings tritt es nach Mehretagenthrombosen in mehr als 50% der Fälle auf.
Chronisch venöse Insuffizienz Nomenklatur und Ätiopathogenese Sowohl das primäre bzw. sekundäre Krampfaderleiden als auch das posthrombotische Syndrom münden in eine bleibende Störung des venösen Rückstroms des Blutes im klinischen Bild der chronisch venösen Insuffizienz. Erst der Verlust der Steuerbarkeit des venösen Rückstroms infolge einer Degeneration oder entzündlichen Destruktion der Venenklappen führt zu schwerwiegenden Störungen der Hämodynamik. Durch die Klappeninsuffizienz einzelner oder mehrerer Perforansvenen kommt es zu einer venösen Hypertonie mit einer ständigen Druckund Volumenüberlastung des venösen Gefäßsystems. Das hierdurch bedingte interstitielle Ödem kann im Verlauf nicht mehr durch einen gesteigerten Lymphabfluss kompensiert werden (sekundäres Lymphödem). Es kommt zu perivaskulären Fibrosierungs-, Degenerationsund Entzündungsprozessen mit Störung der Mikrozirkulation, die schließlich zu trophischen Hautveränderungen (Ulcus cruris) führt. > Der »Schlüssel« für die klinische Beurteilung der chronisch venösen Insuffizienz ist dabei die Knöchelregion.
Bei der Beurteilung der chronisch venösen Insuffizienz orientiert man sich auch heute noch überwiegend an der Einteilung nach Widmer (Übersicht).
Einteilung der chronisch venösen Insuffizienz nach Widmer 5 Stadium I: Reversible Ödeme, Corona phlebectatica (dunkelblaue Hautvenenveränderungen am lateralen und medialen Fußrand), perimalleoläre Kölbchenvenen, evtl. Juckreiz an der Haut 5 Stadium II: Persistierende Ödeme, Purpura sowie rotbraune Hyperpigmentierung (Hämosiderose) im Unterschenkelbereich, Dermatosklerose, Lipidder matosklerose(evtl. mit entzündlicher Rötung), Stauungsekzem mit Juckreiz und Neigung zu allergischen Reaktionen, zyanotische Hautfarbe, »atrophie blanche« (depigmentierte, atrophische Hautbezirke, meist oberhalb der Sprunggelenke) 5 Stadium III: Floride (IIIb) oder abgeheilte (IIIa) Ulcera cruris, häufig mit sekundärer Einschränkung der Sprunggelenksbeweglichkeit mit Folge der weiteren Funktionseinschränkung der Venenpumpe am Sprunggelenk
6
176
1 2 3
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
Die Einteilung der chronisch venösen Insuffizienz nach Hach ist zwar medizinisch sinnvoll, hat aber leider keinen Einzug in den klinischen Alltag gefunden. Ebenso ist die CEAP-Stadieneinteilung, die die Klinik, das Beschwerdemuster, die Ätiologie, die Anatomie und die Pathophysiologie des Krankheitsbildes berücksichtigt, zwar sehr viel genauer in der Beschreibung des klinischen Befundes als die Widmer-Einteilung, aber unhandlich für den Gebrauch im klinischen Alltag.
Kommentar
4 6.2.3 Fragen zum Zusammenhang
5 6 7 8 9 10 11 12
üblicherweise nach Widmer in 3 Schweregrade eingeteilt (s. oben). Eine klare Abstufung der Leistungsminderung aufgrund dieser Klassifikation ist allerdings nicht möglich, da. v. a. in den Stadien II und III die möglichen Veränderungen als weites Spektrum von Symptomen zusammengefasst werden, die in ihrer leistungsmindernden Relevanz sehr unterschiedlich zu beurteilen sind.
Unfall- und Operationsfolgen Insbesondere bei der Thrombose muss v. a. das auslösende Ereignis (Trauma, Unfall, Operation etc.) bzw. eine daraus resultierende Immobilität eruiert werden. Die Beurteilung der Spätschäden im Sinne eines postthrombotischen Syndroms erfolgt nach den gleichen Vorgaben wie bei der chronisch venösen Insuffizienz. Ein Zusammenhang zwischen auslösender Ursache und tiefer Beinvenenthrombose kann typischerweise angenommen werden, wenn unmittelbar im Anschluss an ein Trauma oder eine Operation eine tiefe Venenthrombose nachgewiesen wird. Retrospektiv ist die Klärung dieser Frage häufig schwierig, da v. a. bei bettlägerigen Patienten eine Thrombose klinisch stumm verlaufen kann. Jedoch lassen sich bei genauer Anamnese retrospektiv meist Brückensymptome, z. B. Ödemneigung oder Entwicklung einer Stauungsdermatose, zwischen dem auslösenden Ereignis und dem Vollbild der chronisch venösen Insuffizienz als Spätfolge finden.
Aus diesem Grund sind die tatsächlich vorhandenen klinisch fassbaren Veränderungen sowie deren Symptome und Funktionseinschränkungen für den Patienten sozialmedizinisch zu werten und in Beziehung zu setzen zu den speziellen beruflichen Anforderungen, denen der Patient in seinem Alltag genügen muss.
Erwerbsunfähigkeit Bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit handelt es sich um eine juristische Entscheidung, welche sich auf die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung eines medizinischen Sachverständigen stützt. In dessen Verantwortung liegt es aufgrund der Beschwerden sowie der bei der gutachterlichen Untersuchung erhobenen Befunde, unter Kenntnis der Vorbefunde ein negatives und positives Leistungsbild zu erstellen. > Insbesondere bei Venenerkrankungen ist die Berücksichtigung von Vorbefunden wichtig, da es dadurch möglich ist, eine Progredienz einer chronisch venösen Insuffizienz abzuschätzen.
Berufskrankheiten
13 14 15
Zwar sind Stehberufe sowie Tätigkeiten, die ausschließlich im Sitzen ausgeübt werden, als Risikofaktoren für die Entstehung einer Varikosis zu werten, allerdings lässt sich daraus eine Berufskrankheit nicht ableiten. > Hinsichtlich der Ätiogenese einer tiefen Venenthrombose und einer beruflichen Tätigkeit sind keine Zusammenhänge abzuleiten.
16 6.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
17 18 19 20
Die tiefe Venenthrombose ist ein akutes Krankheitsbild und hat ebenso wie die Varikosis meist keine dauerhafte Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit in rentenrelevantem Sinne zur Folge. Demgegenüber ist die Ausprägung der chronisch venösen Insuffizienz sowohl im Rahmen eines postthrombotischen Syndroms als auch als Folge eines langjährigen Krampfaderleidens Grundlage der Einschätzung der Leistungsminderung. Die chronisch venöse Insuffizienz wird
Ein chronisches therapieresistentes Ulcus cruris im Bereich des medialen Unterschenkels führt unter Berücksichtigung der individuellen Arbeitsplatzbedingungen nicht zu einer dauerhaften Leistungsminderung. Handelt es sich allerdings um großflächige Ulzerationen mit begleitender Dermatolipofasziosklerose und Einsteifung des Sprunggelenkes aufgrund eines arthrogenen Stauungssyndroms, so ist häufig das Leistungsvermögen für den allgemeinen Arbeitsmarkt längerfristig aufgehoben. Für die langfristige sozialmedizinische Prognose muss berücksichtigt werden, ob die Therapiemöglichkeiten der fortgeschrittenen chronisch venösen Insuffizienz (entstauende Therapie, konsequente Kompressionsbehandlung, sorgfältige Wundbehandlung sowie Therapie möglicher Risikofaktoren, v. a. Übergewicht) bereits ausgeschöpft sind. Durch ein Rehabilitationsverfahren in einer angiologisch spezialisierten Klinik können die beschriebenen und auch zumutbaren Therapieformen durchgeführt werden.
177 6.2 Venen
Kommentar Das Ergebnis einer solchen multimodalen Therapie kann die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens erheblich beeinflussen.
Arbeitsunfähigkeit Bei einer Thrombose besteht eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit, während der Einleitung der Therapie (Kompression, Antikoagulation) sowie ggf. zur ätiologischen Abklärung. Insbesondere bei Berufen mit erheblicher Gefährdung durch den Gebrauch scharfer Werkzeuge oder durch Arbeiten in großen Höhen, auf Leitern und Gerüsten, z. B. Dachdecker, Zimmermann, kann für die Dauer der Antikoagulation aufgrund des erhöhten Blutungsrisikos Arbeitsunfähigkeit bestehen. Diese Entscheidung ist allerdings erst nach einem Gespräch mit dem Patienten und einer individuellen Arbeitsplatzanamnese möglich. Die Möglichkeit der innerbetrieblichen kurzzeitigen Umsetzung sollte in Erwägung gezogen werden. Die unkomplizierte Varikosis schränkt das Leistungsvermögen nicht ein, auch wenn sie evtl. das Tragen von Kompressionsstrümpfen notwendig macht. Bei der chronisch venösen Insuffizienz hängt die Arbeitsfähigkeit einerseits ab vom Schweregrad der vorliegenden Veränderungen, andererseits von den individuellen Arbeitsplatzbedingungen. Ein kleines unkompliziertes Ulkus lässt leichte bis mittelschwere Arbeiten sehr wohl zu, allerdings ist bei überwiegender Stehbelastung am Arbeitsplatz bzw. Tätigkeit in Räumen mit hohen Temperaturen bzw. besonderer Schmutzexposition von einer Arbeitsunfähigkeit für die Dauer der Wundheilung auszugehen.
Kommentar Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass nicht der Grad der chronisch venösen Insuffizienz Grundlage der Leistungsbeurteilung ist, sondern die im speziellen Fall vorliegenden Gewebsveränderungen und die sich daraus ergebenden Funktionseinschränkungen.
GdB/MdE Kommentar Bei der Einschätzung des GdB/MdE von Venenerkrankungen ist der Grad der chronisch venösen Insuffizienz entscheidend unter Berücksichtigung der klinischen Befunde und der dadurch bedingten Funktionseinschränkungen.
Bei unkomplizierten Krampfadern sowie der chronisch venösen Insuffizienz mit geringem belastungsabhängigem Ödem und nicht ulzerösen Hautveränderungen besteht keine Funktionseinschränkung. Ohne wesentliche Stauungsbeschwerden (ein- oder beidseitig) besteht keine wesentliche Funktionseinschränkung (GdB/MdE 0–10; . Tab. 6.10); die Beurteilung ist in diesen Fällen unproblematisch. Bei einer chronisch venösen Insuffizienz mit erheblicher Ödembildung und rezidivierenden Entzündungen, d. h. trophischen Hautveränderungen ohne Ulcus cruris, ist von einem GdB/MdE von 20–30 auszugehen. Liegt aber eine ausgeprägte Dermatoliposklerose mit arthrogenem Stauungssyndrom vor, so ist von einer erheblichen Einschränkung der Bewegungs- und Belastungsfähigkeit des Patienten auszugehen, sodass in diesen Fällen ein GdB/MdE von 30–50 anzunehmen ist. Liegen chronisch rezidivierende Ulzera vor, so sind diese bei der Festlegung des GdB/MdE mit 30–50 zu bewerten, je nach Ausdehnung und Häufigkeit. Bei einem gleichzeitig bestehenden arthrogenen Stauungssyndrom mit entsprechender Funktionseinschränkung sollte dies zusätzlich beurteilt werden mit einer entsprechenden Höherbewertung. . Tab. 6.10 fasst die Befunde für die Einschätzung des GdB/MdE bei chronisch venöser Insuffizienz zusammen.
Berufsausübung Bei einem unkomplizierten Krampfaderleiden bzw. nach einer gut rekanalisierten Thrombose und ohne wesentliche Zeichen einer chronisch venösen Insuffizienz gibt es in der Regel für keinen Beruf krankheitsbedingte Einschränkungen. Bei der chronisch venösen Insuffizienz – unabhängig von der jeweiligen Ursache – müssen allerdings je nach Ausprägung der Hautveränderungen einige Tätigkeitseinschränkungen berücksichtigt werden. Dies trifft v. a. auf dauerndes Stehen oder Sitzen ohne die Möglichkeit umherzugehen zu sowie auf besondere Belastung durch Schmutz und hohe Außentemperaturen. Auch häufiges und andauerndes Heben und Tragen schwerer Lasten ist wegen des dadurch erhöhten mechanischen Druckes auf das klappeninsuffiziente Venensystem der Beine in fortgeschrittenen Stadien der chronisch venösen Insuffizienz nicht zumutbar. Betriebsunübliche Pausen sind allerdings in der Regel nicht erforderlich. Auch die Wegefähigkeit ist aufgrund von Erkrankungen des venösen Gefäßsystems nur selten in rentenrelevantem Sinne eingeschränkt. Außerdem sollten Tätigkeiten mit besonderer Verletzungsgefahr nicht verlangt werden im Verlauf einer Antikoagulationstherapie
6
178
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
. Tab. 6.10. GdB/MdE bei chronisch venöser Insuffizienz Venenerkrankung
GdB/MdE
Unkomplizierte Varikosis
0
Chronisch venöse Insuffizienz bei Varikosis oder Postthrombose
mit geringem belastungsabhängigem Ödem, nichtulzerösen Hautveränderungen, ohne wesentliche Stauungsbeschwerden, ein- oder beidseitig
0–10
mit erheblicher Ödembildung, häufig (mehrmals im Jahr) rezidivierende Entzündungen, ein- oder beidseitig
20–30
mit chronischen rezidivierenden Geschwüren, je nach Ausdehnung und Häufigkeit (einschließlich arthrogenes Stauungssyndrom), ein- oder beidseitig
30–50
6.2.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
6.2.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Die akute tiefe Arm- bzw. Beinvenenthrombose – wegen des engen Zusammenhanges mit der Lungenembolie spricht man auch vom Krankheitsbild der venösen Thromboembolie – spielt in der Rentenbegutachtung eine eher untergeordnete Rolle, wohl aber im Rahmen von Begutachtung von Seiten der Unfall- bzw. Lebensversicherung, wenn es um Zusammenhangsfragen geht. Auch im Hinblick auf mögliche Komplikationen der TVT ist zum einen die Lungenembolie relevant; sie tritt in ca. 30–50% der Fälle auf (in 15–20% mit tödlichem Verlauf). Zum anderen muss das postthrombotische Syndrom berücksichtigt werden, das bei bis zu 50% der Patienten nach einer TVT als Spätkomplikation nachzuweisen ist. Dabei muss v. a. das auslösende Ereignis (Trauma, Unfall, Operation etc.) bzw. eine daraus resultierende Immobilität eruiert werden, was meist nur durch ein sorgfältiges Aktenstudium und eine exakte Anamneseerhebung gelingt. Die Beurteilung der Spätschäden im Sinne eines postthrombotischen Syndroms erfolgt nach den gleichen Vorgaben wie bei der chronisch venösen Insuffizienz. Ein Zusammenhang zwischen auslösender Ursache und tiefer Beinvenenthrombose kann typischerweise angenommen werden, wenn unmittelbar im Anschluss an ein Trauma oder eine Operation eine tiefe Venenthrombose nachgewiesen wird. Retrospektiv ist die Klärung dieser Frage häufig schwierig, da v. a. bei bettlägerigen Patienten eine Thrombose klinisch stumm verlaufen kann. Jedoch lassen sich bei genauer Anamnese retrospektiv meist Brückensymptome, z. B. Ödemneigung oder Entwicklung einer Stauungsdermatose, zwischen dem auslösenden Ereignis und dem Vollbild der chronisch venösen Insuffizienz als Spätfolge finden. Zum Zusammenhang zwischen auslösender Ursache und tiefer Beinvenenthrombose 7 Kap. 6.2.3 (»Unfall- und Operationsfolgen«).
Fahrereignung Die Fahrereignung für Pkw ist im Allgemeinen nicht eingeschränkt. Lediglich beim Vorliegen eines arthrogenen Stauungssyndroms mit schwergradiger Einschränkung der Beweglichkeit im Sprunggelenk ist die Fahrereignung aufgehoben, wenn die rechte oder sogar beide Seiten betroffen sind und eine spezielle Umrüstung des Fahrzeugs nicht möglich wäre. In diesen Fällen ist eine Einzelfallprüfung erforderlich. Bei Lkw-Fahrern muss jeder Fall individuell geprüft werden unter Berücksichtigung der besonderen Ausstattung des Lkw. Hier muss unter Umständen ein erfahrener Arbeitsmediziner hinzugezogen werden.
Tätigkeit im öffentlichen Dienstrecht Gesundheitliche Bedenken gegen die Übernahme ins Beamtenverhältnis bestehen bei Patienten mit Venenerkrankungen in der Regel nicht.
6.2.7 Risikobeurteilung
Risikofaktoren der Varikosis Hauptrisikofaktor der primären Varikosis ist das Alter. Allerdings begünstigen familiäre Disposition, Übergewicht, Bewegungsmangel, Stehberufe, Schwangerschaft, orale Kontrazeption und Östrogentherapie zusätzlich die Ausbildung eines Krampfaderleiden. Nach einer tiefen Beinvenenthrombose kann es zur Ausbildung einer sekundären Varikosis im Rahmen eines postthrombotischen Syndroms, seltener im Rahmen einer portalen Hypertension, eines Abdominaltumors mit Venenstauung oder im Rahmen arteriovenöser Fisteln kommen, z. B. beim KlippelTrénaunay-Syndrom.
Prognose Die Frage der Prognose eines Krampfaderleidens lässt sich kaum allgemein formulieren, da sie abhängt vom Ausmaß der chronisch venösen Insuffizienz, in die das Krankheitsbild im Verlauf mündet.
179 6.2 Venen
Risikofaktoren der Phlebothrombose (TVT) Neben der Immobilisation im Rahmen einer internistischen Krankheit, z. B. Myokardinfarkt, zerebrovaskärer Insult), nach einem Trauma (z. B. Fraktur) oder im Rahmen einer Operation konnten in jüngster Zeit hereditäre Ursachen einer Thrombophilie (z. B. Protein-C-, ProteinS-, AT III-Mangel, Faktor-II-Mutation, Faktor-V-LeidenMutation, Antiphospholipidsyndrom) gefunden werden. Sie führen insbesondere bei Vorhandensein anderer Risikofaktoren, z. B. Immobilisation oder Gravidität, zu einer Multiplikation des Risikos, eine Thrombose zu erleiden. Dies gilt v. a., wenn bereits eine Postthrombose vorliegt. Auch maligne Grundleiden sowie hämatologische Erkrankungen erhöhen das Risiko einer Thrombose. Daneben sind Schwangerschaft, hohes Alter, Adipositas, die Einnahme von Antikonzeptiva und gleichzeitiges inhalierendes Rauchen als begünstigende Faktoren zu nennen.
Risikofaktoren des posthrombotischen Syndroms Ohne konsequente Therapie heilen nur ca. 10% aller Thrombosen ohne klinisch fassbare Spätfolgen ab. Neben der Antikoagulationstherapie ist v. a. eine suffiziente Kompressionsbehandlung wichtig zur Verbesserung des venösen Rückstroms bzw. der Rekanalisation der thrombotisch verlegten Strombahn.
Prognose Die Prognose der Postthrombose bzw. der chronisch venösen Insuffizienz wird bestimmt von der Güte der Therapie, wobei die Kompressionstherapie die Basistherapie darstellt. Untersuchungen zufolge findet man ein postthrombotisches Syndrom bei 30% der Patienten mit einer tiefen Venenthrombose, 25% davon mit Ausbildung eines Ulcus cruris. Bei isolierten Unterschenkelthrombosen ist es eher selten (3–4%), allerdings tritt es nach Mehretagenthrombosen in mehr als 50% der Fälle auf.
Risikofaktoren der chronisch venösen Insuffizienz Die chronisch venöse Insuffizienz kann auf dem Boden einer primären Varikosis, eines postthrombotischen Syndroms oder einer kongenitalen Dysplasie mit sekundärer Varikosis entstehen. Mischbilder sind häufig. Adipositas, Alter, Gravidität und Stehberufe beschleunigen die Progredienz der Erkrankung. Als alleinige Risikofaktoren sind sie aber nicht zu werten.
Prognose Die Prognose der chronisch venösen Insuffizienz ist bei konsequenter Therapie (Kompressionsbehandlung, Allgemeinmaßnahmen, Varizentherapie, sorgfältige Wundbehandlung bei Ulcera cruris) günstig. So heilen unter entsprechender Behandlung ca. 75% aller rein venösen Ulzera innerhalb von 3 Monaten ab, wenn nicht eine Ankylose
im Sprunggelenk oder Begleiterkrankungen, insbesondere eine periphere arterielle Verschlusskrankheit (7 Kap. 6.1) oder Vaskulitiden, vorliegen. Die chronisch venöse Insuffizienz ist ein Krankheitsbild mit vielen Facetten. Ihr liegen verschiedene Ursachen (Krampfaderleiden oder ein postthrombotisches Syndrom) zugrunde, die z. T. in Kombination vorliegen. Das komplexe Management der fächerübergreifenden Diagnostik und Therapie dieses Krankheitsbildes ist Aufgabe des Angiologen in interdisziplinärer Kooperation mit Chirurgen und Dermatologen.
6.2.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Gerade bei der Therapie der chronisch venösen Insuffizienz ist die Rehabilitation von entscheidender Bedeutung. Durch Leistungen zur Teilhabe, v. a. einer medizinischen Rehabilitation in einer angiologisch spezialisierten Fachklinik, kann das Krankheitsbild im Hinblick auf das klinische Erscheinungs- und Beschwerdebild oft nachhaltig verbessert werden. Ziel der medizinischen Rehabilitation sollte dabei sein, die chronische Stauung und deren Folgen für das Gewebe zu vermindern durch Lymphdrainage, maschinelle Kompressionsbehandlung, eine spezifische Venengymnastik und eine krankengymnastischen Mobilisierung des häufig funktionsgeminderten Sprunggelenkes. Im Rahmen der Gesundheitserziehung sollte der Patient die Notwendigkeit und die korrekte Durchführung einer Kompression mit Binden und Strümpfen erlernen, ebenso wie die Behandlung der erkrankten Haut. > Selbstverantwortung und aktive Mitarbeit des Patienten sind bei der Prognose der chronisch venösen Insuffizienz entscheidend.
Liegt der chronisch venösen Insuffizienz eine Varikosis zugrunde, sollte im Rahmen der Begutachtung, v. a. aber im Rahmen einer Rehabilitation geprüft werden, inwieweit sich durch venenchirurgische Maßnahmen das Krankheitsbild positiv beeinflussen lässt (Exhairese der Venen, Krossektomie, Perforansligatur, Sklerosierung).
Kommentar Lässt sich das Venenleiden trotz aller therapeutischer Maßnahmen nicht ausreichend beherrschen, muss bei anhaltend sitzender oder stehender Tätigkeit nach sorgfältiger Prüfung des Einzelfalles eine berufliche Rehabilitation initiiert werden, entweder im Sinne einer innerbetrieblichen Umsetzung oder evtl. sogar einer Umschulung.
6
180
Kapitel 6 · Periphere Gefäße
Literatur
1
Literatur zu Kap. 6.1 1.
2 3 4 5 6
2.
3. 4.
5. 6. 7.
7 8 9 10
8.
9. 10. 11. 12. 13. 14.
11
15.
12
16.
13
17.
14
18. 19.
15 20.
16 21.
17 22.
18
23.
19
24.
20
Nobbe, F.: Arteriosclerosis obliterans im Bereich der Aortenbogenäste und der Arterien der oberen Extremitäten. In: Rieger H, Schoop W (Hrsg) Klinische Angiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1998, 450–470 Widmer, L.K., Stähelin, H.B., Nissen, C.: Venen – Arterien – Krankheiten. Koronare Herzkrankheit bei Berufstätigen. Huber, Bern, Stuttgart, Wien, 1981, 137–237 Schoop, W., Levy, H.: Lebenserwartung bei Männern mit pAVK. Lebensvers.Med., 1982, 34: 98–102–105 Büchner, W.: Sozioökonomische Aspekte der peripheren arteriellen Verschlußkrankheit. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1992 Dormandy, J.A., Mahir, M., Ascady, G.: Fate of the patients with chronic leg Ischaemia. J Cardiovasc Surg, 1989, 30–50 Wolfe, JHN.: Defining the outcome of critical ischaemia – A one year prospective study. Br J Surg 1986, 73, 321–326 Pell, JP, Fowkes, FGR: Epidemiology of critical limb ischaemia. Crit Ischaemia 1992, 2/2, 23–26 Rieger, H., Küffer, G., Spengel, F.A.: Aneurysma In: Rieger H, Schoop W (Hrsg) Klinische Angiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1998, 627–666 Criqui, MH et al.: N Engl.J Med 1992, 326, 381–386 McKenna, M. : Atherosclerosis 1991, 87, 119–128 Bergentz, SE, Bergquist, D. Iatrogen vascular injuries. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1989, 1–195 Beyer, A., Eis, D.: Praktische Umweltmedizin. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1995 Mersch-Sundermann V., Umweltmedizin. Thieme, Stuttgart New York, 1999 Leyhe, A.: Das sekundäre Raynaud – Syndrom, Dtsch Med.Wochenschr., 1986, 111, 871 Harada, N:, Neda, A., Takegata, S.: Prevalence of Raynaud´s phenomenon in Japanese males and females, J Clin Epidemiol, 1991, 44, 649 Thulesius, O.: Berufstraumatisches sekundäres Raynaud – Syndrom. In: Ehringer, H., Betz, E., Bolliger, Deutsche, E (Hrsg.) Gefäßwand, Rezidivprophylaxe, Raynaud-Syndrom. Witzstrock, 1979, 503 Rademacher, A., Küffer, G., Spengel, F.: Vibration – White – Finger Syndrom bei acht Schleifern eines metallverarbeitenden Betriebes, Med Klin., 1993, 88, 568–570 Kertzendorff, K.W.: Sozialmedizinische Begutachtung in der Angiologie. Vasomed, 1998, 4, 64–73 Baitsch, G., Gülich, M.: Der Gefäßkranke im Erwerbsleben, in: Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, Fischer, 1995, 215–225 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Köln, Bonn, 1996 Rieger, H.: Rehabilitation und Begutachtung bei arteriellen Durchblutungsstörungen. In: Rieger H, Schoop W (Hrsg) Klinische Angiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1998, 703–728 Caspary, L.: Begutachtung des Raynaud-Phänomens, Vasomed, 4, 1998, 78–81 Rieger, H., Kleuren, B.: Pulsregistrierende Verfahren In: Rieger H, Schoop W (Hrsg) Klinische Angiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1998, 84–104 Lewrenz, H., Friedel, B.: Krankheit und Kraftverkehr, Hrsg.: Bundesminister für Verkehr, Heft 73, 1996, 16–17
25. Sabatowski, R., Berghaus, G., Strumpf, M., Radbruch, L.: Opioide und Fahrsicherheit – ein unlösbares Problem? Dtsch Med Wochenschr 2003, 128, 337–341 26. Ornish, D.M., Brown, S.E., Scherwitz, L.W. et al.: Can lifestyle changes reverse Coronary heart disease? The Lifestyle Heart Trial. Lancet, 1989 27. Newitt, MP, Ballard, DJ, Hallett, JW jr.: Prognosis of abdominal aortic aneurysma. A population- based study, N Engl J Med 1989, 321, 1009–10014 28. Zöllner, N, Zoller, WG, Spengel, FA, Weigold, B, Schewe, CK.: The spontaneous course of small abdominal aortic aneurysms. Aneurysmal growthrates and life expectancy, Klin Wochenschr., 1991, 69, 633–639 29. Ries, LAG et al.: SEER Cancer Statistics Review, 1973–1998, National Cancer Institute, 9/2000 30. Seiler, P.: Gibt es Hinweise für einen ätiologischen Zusammenhang zwischen einer Exposition mit chemischen Lösungsmitteln und der Entwicklung von Bauchaortenaneurysmen?, 1999, Dissertation, Universität Ulm 31. The Multicenter Aneurysm Screening Study Group: The multicenter aneurysm screening study (MASS) into the effect of abdominal aortic aneurysm on the mortality in men: a randomised controlled trial, Lancett 2002, 360, 1531–1539 32. Köhler, M.: Messung des peripheren arteriellen Blutdrucks In: Rieger H, Schoop W (Hrsg) Klinische Angiologie. Springer, Berlin Heidelberg New York, 1998, 105–111 33. Diehm, C.: Die periphere arterielle Verschlusskrankheit – unterdiagnostiziert und Unterschätzt. Cardiovascularia 1/2003, 29–30 34. Statistisches Bundesamt: Gesundheitsberichterstattung 2002
Literatur zu Kap. 6.2 1. 2. 3. 4. 5.
Altenkämper H, Felix W, Gericke A, Gerlach H, Hartmann M (2001) Phlebologie für die Praxis, 2. Aufl. Walter de Gruyter, Berlin Pannier-Fischer F, Rabe E (2003) Epidemiologie der chronischen Venenerkrankungen. Hautarzt 54: 1037–1044 Rabe E (1998) Begutachtung venöser Durchblutungsstörungen. Vasomed 2: 82–91 Rabe E, Gerlach HE (Hrsg) (2005) Praktische Phlebologie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart, New York Wuppermann T (2002) Die chronisch venöse Insuffizienz. Internist 43: 16–26
Internetadressen Internetadressen zu Kap. 6.1 Deutsche Gesellschaft für Angiologie www .dga-gefaessmedizin.de Fachgesellschaft der Gefäßmedizin mit Informationen für Fachleute und auch für Patienten. Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie, Gesellschaft für vaskuläre und endovaskuläre Chirurgie www. gefaesschirurgie.de Informationen über Gefäßoperationen, Fachkongresse, zertifizierte Gefäßzentren. Deutsche Gesellschaft für Phlebologie www. phlebology.de Spezialisiert auf Venenerkrankungen mit spezieller Infoseite für Patienten. Links zu anderen Websites. Deutsche Liga zur Bekämpfung von Gefäßkrankheiten www.deutsche-gefaessliga.de Informationen zur Aufklärung der Bevölkerung über Gefäßerkrankungen.
181 Literatur
Internetadressen zu Kap. 6.2 Fachgesellschaften www. awmf-leitlinien.de Leitlinien für Diagnostik und Therapie im Bereich Phlebologie. Deutsche Gesellschaft für Phlebologie www.phlebology.de Diagnostik und Therapie von Venenerkrankungen. Deutsche Gesellschaft für Angiologie www.dga-gefaessmedizin.de Diagnostik und Therapie von Gefäßerkrankungen.
6
183
Respirationstrakt X. Baur, R. Huber
7.1
Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen – 185
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6 7.1.7 7.1.8
Diagnostik – 185 Krankheitsdefinition – 196 Fragen zum Zusammenhang – 203 Bewertung nach Sozialrecht – 204 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 209 Risikobeurteilung – 210 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Sonderfragen – 211
7.2
Interstitielle Lungenerkrankungen – 212
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6 7.2.7
Diagnostik – 212 Krankheitsdefinition – 213 Fragen zum Zusammenhang – 217 Bewertung nach dem Sozialrecht – 217 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 217 Risikobeurteilung – 217 Sonderfragen – 217
7.3
Infektionskrankheiten – 218
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.3.6 7.3.7
Diagnostik – 218 Krankheitsdefinition – 218 Fragen zum Zusammenhang – 220 Bewertung nach dem Sozialrecht – 220 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 220 Risikobeurteilung – 220 Sonderfragen – 221
7.4
Tumorerkrankungen der Lunge
7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 7.4.6 7.4.7 7.4.8
Diagnostik – 221 Krankheitsdefinition – 221 Fragen zum Zusammenhang – 223 Bewertung nach dem Sozialrecht – 223 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 224 Risikobeurteilung – 225 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Sonderfragen – 225
– 211
– 221
– 225
7
184
1 2 3 4
Kapitel 7 · Respirationstrakt
7.5
Sonstige Lungenerkrankungen – 225
7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5 7.5.6 7.5.7 7.5.8
Diagnostik – 225 Krankheitsdefinition – 227 Fragen zum Zusammenhang – 233 Bewertung nach dem Sozialrecht – 233 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 234 Risikobeurteilung – 235 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Sonderfragen – 235
– 235
7.6
Anhang – 236
5
7.6.1
6
7.6.2
Liste der Berufskrankheiten aus dem Anhang der Berufskrankheitenverordnung vom 05.09.2002 – 236 Anamnesefragebogen für Patienten mit Verdacht auf berufsbedingte Lungen- und Atemwegskrankheiten – 236
7
Literatur
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
– 247
185 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
))
fene Lungenbiopsie, Röntgenaufnahme des Thorax, v. a. Computertomographie in Spiral-/Mehrzeilentechnik.
Erkrankungen des Respirationstrakts gehören zu den häufigsten chronischen Krankheiten. In diesem Kapitel werden Erkrankungen der oberen Atemwege, des Bronchialsystems, des Lungeninterstitiums sowie Infektionen und bösartige Neubildungen der Lunge hinsichtlich ihrer vielfältigen klinischen Erscheinungsformen und ihrer eingehenden Diagnostik und Zusammenhangsbeurteilung dargestellt. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei den Aspekten des sozialen Entschädigungsrechts, z. B. bei Berufskrankheiten, unter Berücksichtung des aktuellen klinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes und der rechtlichen Rahmenbedingungen, zu. Die vielen individuellen, oft schicksalhaften Leiden unterstreichen ebenso wie die dadurch bedingten enormen volkswirtschaftlichen Belastungen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Diagnostik sowie einer optimierten Behandlung und Prävention. Eine besondere Herausforderung bilden die Verhinderung der Chronifizierung und Progression der Atemwegs- und Lungenkrankheiten sowie die prinzipiell erreichbare Heilung.
Anamnese Eine wichtige Rolle neben der allgemeinen klinischen Anamnese nehmen die Familien-, Allergie- und Arbeitsanamnese ein, also die Erfassung von Art, Intensität und Dauer der stattgehabten Belastungen (Expositionen) sowie des Krankheitsverlaufs in Abhängigkeit davon. Relevant ist z. B. die Beschwerdesymptomatik bei Ortswechsel, im Urlaub oder am Wochenende. Auch sollte das inhalative Zigarettenrauchen kumulativ erfasst werden (»pack years«). Auf Fragen zum Zusammenhang wird sowohl bei der Krankheitsdefinition (7 Kap. 7.1.2) als auch in 7 Kap. 7.1.3 eingegangen. Die detaillierte Anamnese gibt oft konkrete Hinweise auf die Ursache der Gesundheitsstörung und erlaubt eine orientierende Beurteilung von deren Schweregrad und der dadurch bedingten Einschränkungen der Belastbarkeit (. Tab. 7.1).
Körperlicher Untersuchungsbefund Zu achten ist insbesondere auf die in der Übersicht genannten pathologischen Befunde.
7.1
Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
7.1.1 Diagnostik
In Bezug auf die Ursachenanalyse sind die Arbeits- und Allergieanamnese, eine gezielte Allergiediagnostik, ggf. auch spezifische Allergenprovokationstests bzw. -expositionstests, Karenz- und Reexpositionsuntersuchungen von Relevanz. Zusätzliche wertvolle Informationen ergeben sich aus der Familien- und Eigenanamnese. Für den Krankheitsnachweis ist neben der Anamnese und dem körperlichen Untersuchungsbefund die Lungenfunktionsprüfung mittels Spirometrie und meistens Bodyplethysmographie von entscheidender Bedeutung. Diese wird ggf. ergänzt durch eine unspezifische bronchiale Provokationstestung, Kaltluftbelastung, spezifische Allergenprovokation oder spezifische Exposition, Bronchospasmolysetest und Spiroergometrie. Weiterhin kommen Lungenfunktionsverlaufsuntersuchung (am besten mittels Minispirometern mit Darstellung der Flussvolumenkurven) und die klinische Verlaufsbeobachtung mit und ohne Therapie zum Einsatz. Bei Verdacht auf Lungenemphysem ist von den bildgebenden Verfahren die Computertomographie in Spiral-/ Mehrzeilentechnik Mittel der Wahl. Im Fall von Hinweisen auf Lungengerüsterkrankungen sind zusätzlich indiziert: Bestimmungen der CO-Diffusionskapazität und der Compliance, Spiroergometrie, bronchoalveoläre Lavage (Anzahl und Art der BAL-Zellen einschließlich der Lymphozytensubtypen, Asbestkörperchen etc.), transbronchiale oder of-
Pathologische Befunde bei Erkrankungen der oberen Atemwege und obstruktiven Lungenerkrankungen 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Zyanose Behinderte Nasenatmung Heiserkeit Inspiratorischer Stridor (z. B. bei Trachealstenose infolge Struma oder Tracheomalazie) Thoraxdeformitäten Eingeschränkte Atemexkursionen und Beweglichkeit der Rippenwirbelgelenke Dyspnoe in Ruhe oder bei geringer Anstrengung Trockene oder feuchte Rasselgeräusche über der Lunge Abgeschwächtes Atemgeräusch Tief- oder auch hochstehende und wenig atemverschiebliche Lungengrenzen Schenkelschall über Lungenabschnitten
Röntgenologische Untersuchungen > Die Hartstrahlröntgenaufnahme des Thorax in 2 Ebenen stellt nach wie vor eine diagnostische Basisuntersuchung dar.
Bei aktiven, insbesondere progredienten Lungenerkrankungen ist ein aktuelles Bild zu fordern (nicht älter als 4 Monate). Sämtliche Voraufnahmen sollten angesehen und in die Verlaufsbeurteilung integriert werden. Zusätz-
7
186
1 2
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Tab. 7.1. Abschätzung der Belastbarkeit nach der Anamnese am Beispiel eines 70 kg schweren Probanden. [In Anlehnung an Börger 1987 und Tennessee Heart Association 1972 (zit. in Wasserman et al. 2004)] Belastung
Tätigkeit
25 W
Spaziergang in der Ebene, leichte sitzende Tätigkeit
50 W
Gemächliches Treppensteigen, Heben und Tragen bis 10 kg
75 W
Gewöhnliches Treppensteigen, Heben und Tragen von 20 kg
100 W
Schnelles Treppensteigen, Heben und Tragen 20–30 kg
125 W
Gartenumgraben, Heben und Tragen von 31–38 kg
150 W
Dauerlauf, schwere Arbeit, Heben und Tragen von 39–45 kg
200 W
Schnelles Laufen, sehr schwere Arbeit
250 W
Schwerstarbeit
300 W
Wettkampfsport
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
liche Schrägaufnahmen oder ein HRCT bzw. ein CT in Mehrzeilen- und Spiraltechnik sind indiziert, wenn der Verdacht auf invisible asbestinduzierte Pleuraveränderungen besteht, aber auch bei Mischbildern zur morphologischen Beurteilung des Ausmaßes eines Emphysems. Für Pneumokoniosen erfolgt die Beurteilung des Lungen- und Pleurabefundes unter Verwendung von Standardröntgenfilmen nach der Internationalen Staublungenklassifikation der ILO (International Labour Organization 2000; . Abb. 7.1). Dies gilt insbesondere für silikotische und asbestotische Lungenerkrankungen. Ergänzend sind HRCT-Aufnahmen bzw. ein CT in Mehrzeilen- und Spiraltechnik in unklaren Fällen weiterführend, z. B. bei den Differenzialdiagnosen verdickter Pleuraschatten und intrapulmonaler Herde. Auch hier wird die ILO 2000 zur einheitlichen Beurteilung empfohlen.
16
Lungenfunktionsprüfung
17
> Die Lungenfunktionsprüfung ist wesentlicher Bestandteil der Diagnostik von Lungen- und Atemwegskrankheiten (Baur 2008).
5 tiefstehende und wenig verschiebliche Lungengrenzen mit abgeschwächtem Atemgeräusch bei Lungenemphysem, 5 hochstehende und wenig verschiebliche Lungengrenzen bei Lungenfibrose. Die Beurteilung einzelner Lungenfunktionsparameter ist v. a. im Längsschnitt aussagekräftig, d. h. im Vergleich der aktuellen mit früheren Befunden. . Tab. 7.2 und 7.3 geben zu empfehlende aktuelle Sollmittel- und Sollgrenzwerte wieder. . Tab. 7.4 stellt die wichtigsten Messwertabweichungen für die verschiedenen Arten der Lungenfunktionsstörungen dar. Bei jeder Messung sollte die aktuelle Therapie dokumentiert werden. Zur Lungenfunktionsprüfung im Einzelnen s. Baur et al. (1998a, 2000).
Spirometrie (Basislungenfunktionsprüfung) Die wichtigsten Parameter sind 5 die Vitalkapazität (VC; maximal ein- und ausatembares Luftvolumen), 5 die 1-Sekunden-Kapazität (FEV1; in einer Sekunde unter forcierten Atemmanövern absolut [in L] und relativ [FEV1/VC%] ausatembares Luftvolumen; . Tab. 7.5). Standard ist heute auch die Durchführung der Flussvolumenkurve, die zusätzliche Hinweise auf die Durchmesser der mittleren und peripheren Atemwege und in- und exspiratorische funktionelle Stenosierungen während maximal angestrengter Atmung gibt. > Da die Messwerte fehleranfällig sind, sollten nur Daten von Lungenfunktionsprüfungen akzeptiert werden, die nachweislich unter qualitätssichernden Maßnahmen erhoben wurden und deren graphische Registrierungen vorliegen.
Einzuhalten sind die Qualitätskriterien der amerikanischen (ATS) und europäischen (ERS) Fachgesellschaften, und zwar v. a. hinsichtlich 5 Geräteauswahl, 5 Messwerteakzeptanz (es müssen mindestens 3 akzeptierte Atemkurven registriert sein), 5 Reproduzierbarkeit (Streuung der zwei besten VCund FEV1-Werte ≤150 ml).
Ganzkörperplethysmographie
18 19 20
Wichtig ist, dass der körperliche Untersuchungsbefund nicht in Widerspruch zu dem Lungenfunktionsbefund stehen darf: 5 Giemen, Pfeifen und Brummen bei obstruktiver Ventilationsstörung, 5 feinblasige Rasselgeräusche bei entzündlichen Prozessen und Lungenfibrose,
Vorteile dieses in Kliniken und Lungenfacharztpraxen eingesetzten aufwändigeren Verfahrens sind die weitgehende Unabhängigkeit der Messung von der Mitarbeit des Probanden/ Patienten. Hiermit sind der spezifische Atemwegswiderstand (sRt) und das Luftvolumen in der Lunge in Atemmittellage bzw. am Ende der normalen Ausatmung (intrathorakales Gasvolumen, IGV≈ funktionelle Residualkapazität, FRC) messbar.
7
187 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
Internationale Staublungenklassifikation (ILO 2000) Bildgüte
technisch Fehlerfrei, nicht wesentlich beeinträchtigt
Beurteilung einwandfrei möglich
Kommentar zu Technik und Fehler, falls Bildgüte nicht ein wandfrei
unbrauchbar
beeinträchtigt
Lungenschatten Streuung 12 Stufen-Skala (vergl. Standard-Filme)
rechts oben rechts mitte rechts unten
Verbreitung (Lungenfelder)
= = =
= = =
0/-
1/0
2/1
3/2
0/0
1/1
2/2
3/3
0/1
1/2
2/3
3/+
links oben links mitte links unten
Größe: kleine Form rundlich (Durchmesser)
p
unregelmäßig
s
gemischt (z.B.)
große
A
=
< 1,5 mm
=
< 1,5 mm
=
1,5 mm
=
< 5 cm
q t
=
B
rechtsseitig =
Kostophrenischer Winkel, Adhärenz
=
1,5 - 3 mm
=
1,5 - 3 mm
r u
=
3 - 10 mm
=
3 - 10 mm
1,5 – 3 mm
etc.
C
= 5 cm -
=
>
= linksseitig (vgl. Standardfilm)
Pleuraverdickung, Lokalisation rechtsseitig
(Brustwand, Zwerchfell, Sonstiges)
=
=
e
linksseitig
1. diffus, seitliche Brustwand Gesamtlänge = fehlt; o.B. =
-
der lateralen Brustwand
Dicke (maximale Saumbreite
Pleuraverkalkung
aa at ax bu ca cg cn co cp cv di ef em es
= Aortenatheromatose = apical thickening, Pleurakuppenschwiele = Koaleszenz, Konfluenz kleiner Lungenschatten = Bulla(e) = Karzinom = Kalzifizierte nicht-pneumokoniotische Knötchen = Kalzifizierte kleine Lungenschatten = Cor, Größe, Form, Veränderung = Cor pulmonale = Caverne = Distorsion = Effusion, Pleuraerguß = Emphysem = Eierschalenlymphknoten
der lateralen Brustwand
= >
der lateralen Brustwand
= 5 - 10 mm
= 3 - 5 mm
2. umschrieben: Hyaline Plaques Gesamtlänge und Dicke; siehe oben 1.
= <
= > 10 mm
Zwerchfell
Brustwand
Sonstiges
Zwerchfell
Brustwand
Sonstiges
nicht vorhanden
nicht vorhanden
fr hi ho id id kl me pa pb pi pc ra rp tb od
= Fraktur = Hiluslymphknoten = Honey combing, Honigwabenlunge = ill defined diaphragm, unscharf begrenztes Zwerchfell = ill defined heart border, unscharfe Herzkontur = Kerley-Linien = Mesotheliom = Plattenatelektase = Parenchymband = Pleuraverdickung interlobular = Pneumothorax = Rundalektase = rheumatoid pneumconiosis, Rheumalunge = Tuberkulose aktiv/ inaktiv = other disease, andere Befunde von Bedeutung
. Abb. 7.1a–c. a Schema der kodifizierbaren Lungen- und Pleuraveränderungen in der Röntgenaufnahme des Thorax als Synopsis zur Anwendung der Internationalen Staublungen-Klassifikation (ILO 2000)
188
Kapitel 7 · Respirationstrakt
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
. Abb. 7.1a–c. b Standardisiertes Befundblatt zur Erfassung kodifizierter pneumokoniotischer Verändungen im Thoraxröntgenbild
189 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Abb. 7.1a–c. c Standardisiertes Befundblatt zur Erfassung pneumokoniotischer Veränderungen im Computertomogramm (Hering et al. 2003)
7
190
1
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Tab. 7.2. Lungenfunktion: Sollwertempfehlungen bei Frauen Parameter
Einheit
Sollmittelwert
Sollgrenzwert
Altersbereich (Jahre)
FVC
L
exp(–9,457+2,0966 In(H)-l)– l)+0,0091×A–0,000152×A2)
exp(–9,672+2,0966 ln(H)+0,0092× A–0,000168×A2)
18–60
FEV1
L
exp(–8,217+1,8475 In(H)+0,0035× A–0,000130×A2)
exp(–8,385+1,8475 In(H)+0,0017× A–0,000125×A2)
18–60
FEV1/FVC
%
100exp(1‚283–0,2640 In(H)– 0,0037×A)
100 exp(1,174–0,2640 In(H) – 0,0042×A)
18–60
PEF
L×s–1
exp(–5,790+1‚4902 In(H)+0,0042× A–0,000082×A2)
exp(–5,831 +1,4902 In(H) – 0,0127×A+0,000084×A2)
18–60
FEF25–75
L×s–1
exp(–3,247+0,9020 In(H)–t–0,0044× A–0,000240×A2)
exp(–3,431+0,9020 ln(H)–0,0047× A–0,000193×A2)
18–60
FEF25
L×s–1
exp(–4,048+1,1453 In(H)+0,0020× A–0,000068×A2)
exp(–4,149+1,1453 In(H) – 0,0107×A+0,000041×A2)
18–60
7
FEF50
L×s–1
exp(–2,332+0,7376 In(H)+0,0045× A–0,000166×A2)
exp(–2,471+0,7376 In(H)–0,0048× A–0,000131×A2)
18–60
8
FEF75
L×s–1
exp(–4,757+1,1220 In(H)–0,0035× A–0,000319×A2)
exp(–5,120+1,1220 In(H)–0,0101× A–0,000334×A2)
18–60
9
FRC
L
0,0224×H+0,001×A–1,00
Sollmittelwert ±0,82
18–70
TGV
L
0,03456×H+0,003×A–1,4–1,404×BI
Sollmittelwert ±0,617
10
RV
L
0,0181×H+0,016×A–2,00
Sollmittelwert ±0,58
18–70
TLC
L
0,066×H–5,79
Sollmittelwert ±0,99
18–70
11
RV/TLC
%
0,34×A+18,96
Sollmittelwert ±9,6
18–70
Rt, Reff
kPa×s×L–1
0,20
Sollmittelwert +0,0967
16–86
sRt, sReff
kPa×s
0,0066×H–0,44
Sollmittelwert +0,2952
16–86
CL,stat
L×kPa–1
0,0267×H–1,4385
Sollmittelwert –1,178 bzw. +1,956
20–70
CL,dyn
L×kPa–1
–0,014×A+3,4149
Sollmittelwert –1,274 bzw. +1,971
20–70
pa,O
mm Hg
–0,32×A+98
Sollmittelwert –10
15–65
mmol ×min–1 ×kPa–1
0,0818×H–0,049×A–2,74
Sollmittelwert –1,92
25–70
2 3 4 5 6
12 13 14 15
2
DL,CO,sb
exp(x)=ex; H = Körpergröße [cm]; A =Alter [Jahre]; BI = Broca-lndex; L = Luftdruck [mm Hg]; P = Leistung [W(att)]. Soweit nicht eine separate Sollgrenzwertformel angegeben ist, beträgt die Abweichung vom Sollmittelwert 1,64×SD.
16 17
In Kombination mit einer Vitalkapazitätsmessung kann dann die totale Lungenkapazität bestimmt werden.
Anamnese ergeben sich Hinweise auf die voraussichtlich erreichbare Belastungsstufe (. Tab. 7.1).
18
Blutgasanalyse
Bronchiale Hyperreagibilitätstestung
Es wird etwas Blut aus dem hyperämisierten Ohrläppchen entnommen und mittels eines Blutgasanalysators darin der Sauerstoffpartialdruck, Kohlensäurepartialdruck, pHWert, ggf. auch das CO-Hb (erhöht bei Rauchern) bestimmt. Die Messung erfolgt unter Ruhebedingungen und unter definierten bis submaximalen Belastungen. Aus der
Fällt trotz anamnestischer Hinweise die Basislungenfunktion unauffällig aus, sollte eine unspezifische bronchiale Provokationstestung, ggf. auch eine Kaltluftprovokation und/oder eine körperliche Belastung durchgeführt werden.
19 20
7
191 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.3. Lungenfunktion: Sollwertempfehlungen bei Männern Parameter
Einheit
Sollmittelwert
Sollgrenzwert
Alters bereich (Jahre)
FVC
L
exp(–10,321+2,1685 In(H)+0,0655×A–0,001325×A2)
exp(–10,568+2,1685 In(H)+0,0697× A–0,001399×A2)
18–25
FVC
L
exp(–9,540+2,1685 In(H)+0,0030× A–0,000075×A2)
exp(–9,787+2,1685 In(H)+0,0072× A–0,000149×A2)
26–60
FEV1
L
exp(–9,280+1,9095 In(H)+0,0795× A–0,001 698×A2)
exp(–9,421 +1,9095 In(H)+0,0778× A–0,001700×A2)
18–25
FEV1
L
exp(–8,240+1,9095 ln(H)–0,0037× A–0,000033×A2)
exp(–8,381+1,9095 In(H)–0,0054× A–0,000031×A)
26–60
FEV1/FVC
%
100 exp(1,526–0,3144 In(H)– 0,0033×A)
100 exp(1,393–0,3144 In(H)– 0,0038×A)
18–60
PEF
L×s–1
exp(–6,189+1,2965 In(H)+0,1379× A–0,002731×A2)
exp(–6,321+1,2965 In(H)+0,1250× A–0,002602×A2)
18–25
PEF
L×s–1
exp(–4,548+1,2965 In(H)+0,0066× A–0,000106×A2)
exp(–4,681+1,2965 ln(H)– 0,0062×A+0,000023×A2)
26–60
FEF25–75
L×s–1
exp(–3,205+0,9457 ln(H)–0,0025× A–0,000137×A2)
exp(–3,285+0,9457 In(H)–0,0195× A–0,000003×A2)
18–60
FEF25
L×s–1
exp(–4,440+0,9869 In(H)+0,1188× A–0,002404×A2)
exp(–4,559+0,9869 In(H)+0,1048× A–0,002272×A2)
18–25
FEF25
L×s–1
exp(–2,968+0,9869 In(H)+0,0011× A–0,000050×A2)
exp(–3,087+0,9869 n(H)– 0,0129× A+0,000082×A)
26–60
FEF50
L×s–1
exp(–2,510+0,8156 In(I-I)+0,0012× A–0,000119×A2)
exp(–2,710+0,8156 In(H)–0,0095× A–0,000045×A2)
18–60
FEF75
L×s–1
exp(–4,474+1,1258 In(H)–0,0165× A–0,000120×A2)
exp(–4,710+1,1258 In(H)–0,0281× A–0,000093×A2)
18–60
FRC
L
0,0234×H+0,009×A–1,09
Sollmittelwert ±0,99
18–70
TGV
L
–7,511+0,017×A+0,06981×H– 1,733×BI
Sollmittelwert ±0,617
–
RV
L
0,0131×H+0,022×A–1,23
Sollmittelwert ±0,67
18–70
TLC
L
0,0799×H–7,08
Sollmittelwert ±1,15
18–70
RV/TLC
%
0,39×A+13,96
Sollmittelwert ±9,0
18–70
Rt, Reff
kPa×s×L–1
0,19
Sollmittelwert +0,0967
16–86
sRt, sReff
kPa×s
0,0088×H+0,002×A–0,9
Sollmittelwert +0,369
16–86
CL,stat
L×kPa–1
0,0627×H–1,4385
Sollmittelwert –1,178 bzw. +1,956
20–70
CL,dyn
L×kPa–1
–0,0114×A+3,4149
Sollmittelwert –1,274 bzw. +1,8971
20–70
pa,O
mm Hg
0,33×A+100
Sollmittelwert –10
15–69
DL,CO,sb
mmol ×min–1 ×kPa–1
0,1111 ×H–0,066×A–6,03
Sollmittelwert –2,32
25–70
2
exp(x)=ex; H = Körpergröße [cm]; A =Alter [Jahre]; BI = Broca-lndex; L = Luftdruck [mm Hg]; P = Leistung [W(att)]. Soweit nicht eine separate Sollgrenzwertformel angegeben ist, beträgt die Abweichung vom Sollmittelwert 1,64×SD.
192
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Tab. 7.4. Differenzialdiagnostische Aussage einzelner Lungenfunktionsparameter hinsichtlich restriktiver, obstruktiver und kombinierter Ventilationsstörungen sowie des Lungenemphysems. Beachte: Anamnese, körperlicher Status und Röntgenbefund des Thorax sind ebenfalls zu berücksichtigen Parameter
Restriktion
Obstruktion ohne Lungenblähung
mit Lungenblähung
19 20
Lungenemphysem (ohne Obstruktion)
a) ohne Medikation 5 Rt, Reff
n
n
n
n
n
5 IGV, RV, TLC
p
n
n
p (n)
n
5 FRC/IGV
1
1
<1
1 (<1)
1
5 IVC, FVC
p
n
p
p
p
5 FEV1
p
p (a)
p (a)
p (a)
p
5 FEV1/VC%
n
p (a)
p (a)
p (a)
n
5 FIF25–75%
n
p
p
p
p
5 FIV1
n
p (b)
n
5 DL,CO
p (c)
n (n)
n (n)
(pn)
p
5 pa,O (Belastung)
p
n
n
p
p
5 CL,stat
p
n
n
(p)
n
2
n
b) Bronchospasmolyse (Änderungsrichtung der Parameter) 5 IGV, RV, TLC
Nein
Nein
p
(p)
Nein
5 IVC, FVC
Nein
Nein
n
(n)
Nein
5 FRC, IGV
Nein
Nein
n
(n)
Nein
5 FEV1/VC%, FEV1 (L)
Nein
n
n
n
Nein
(a) bei intrathorakaler Atemwegsobstruktion; (b) bei extrathorakaler Atemwegsobstruktion; (c) bei pulmonaler Ursache. Sollwertabweichung: n = normal,n = erhöht, p = erniedrigt.
Man lässt einen Reizstoff (meist Methacholin, Histamin oder Carbachol) in niedriger, aufsteigender Konzentration einatmen und misst mittels Spirometrie oder Ganzkörperplethysmografie, ob eine überschießende Bronchialobstruktion eintritt (bronchiale Hyperreagibilität). In dem am weitesten verbreiteten Verfahren ist eine bronchiale Hyperreagibilität definiert als ein durch <0,3 mg Methacholin ausgelöster Abfall des FEV1 um mindestens 20% (PD20 FEV1) oder Abfall der spezifischen Conductance um mindestens 40% auf <0,5 kPa×s (PD40; 0,5 kPa×s sGaw ; . Tab. 7.5).
Spiroergometrie
18
Kombinierte Ventilationsstörung
Hier werden unter ansteigender Belastung neben Kreislaufparametern u. a. das Atemminutenvolumen, die Sauerstoffaufnahme und CO2-Abgabe, der physiologische Totraum (VD/VT; erhöht bei interstiellen Lungenprozessen), die Blutgase, die Atemäquivalente für Sauerstoffaufnahme (V ˙E/V ˙O2) und Kohlendioxidabgabe (V ˙E/V ˙O2) sowie der respiratorische Quotient (RQ = V ˙CO /V ˙ ), ˙O2max O2 V 2
(. Tab. 7.5) und die alveoloarterielle Sauerstoffpartialdruckdifferenz (p(A–a),O = pA,O – pa,O ) ermittelt. 2 2 2 Die Betrachtung aller Parameter erlaubt neben der globalen Erfassung der Belastbarkeit eine detaillierte Beurteilung und Differenzierung einzelner kardialer und respiratorischer Funktionseinschränkungen (Wasserman et al. 2004).
Graduierung der Abweichung einzelner Lungenfunktionsparameter Die Unterteilung der Messwertabweichungen in verschiedene Schweregrade ist in . Tab. 7.5 wiedergegeben. Zu beachten ist, dass hier jeweils die sich aus aktuellen Studien ergebenden bestmöglichen Sollgrenzwerte zugrundegelegt wurden. Aus den einzelnen Messwertabweichungen lässt sich unter Beachtung weiterer Befunde integrativ eine orientierende Aussage zum GdB/MdE ableiten (. Tab. 7.6). Prozentangaben der Lungenfunktionsparameter beziehen sich auf die unteren bzw. oberen Sollgrenzwerte (Einzelheiten in Baur 2000).
Parameter
Einheit
Schweregrad (der jeweilige Bereich bezieht sich auf die prozentuale Abweichung vom Sollmittelwert bzw. die absolute Abweichung vom unteren (LLN) oder oberen (ULN) Sollgrenzwert keine (normal)
leicht
mittel
mittel bis schwer
schwer
sehr schwer
FVC*
L
≥LLN
LLN–70
69–60
59–50
49–35
<35
FEV1
L
≥LLN
LLN–70
69–60
59–50
49–35
<35
FEV1/FVC*
%
≥LLN
kleiner LLN, keine Graduierung
PEF
L/s
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
FEF25
L/s
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
FEF50
L/s
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
FEF75
L/s
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
FEF25–75
L/s
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
TGV
L
≤ULN
ULN–145
146–175
>175
≥LLN
LLN–65
64–50
<50
≤ULN
ULN–145
146–175
>175
≥LLN
LLN–65
64–50
<50
≤ULN
ULN–145
146–175
>175
≥LLN
LLN–65
64–50
<50
≤ULN
ULN–145
146–175
>175
≥LLN
LLN–65
64–50
<50
FRC (He)
RV
L
L
TLC
L
Quelle
Pellegrino et al. 2005 (ATS/ERS)
mod. nach Baur (1998a)
%
≤ULN
ULN–145
146–175
>175
pa,O
mm Hg bzw. kPa
≥LLN
(LLN–1)–(LLN–5) bzw. (LLN–0,133)–(LLN–0,667)
(LLN–5)–(LLN–10) bzw. (LLN–0,667)–(LLN–1,333)
<(LLN–10) bzw. <(LLN–1,332)
Kroidl et al. (2002)
pa,O
mm Hg bzw. kPa
≤44 bzw. ≤5,86
45–50 bzw. 5,87–6,67
51–60 bzw. 6,68–8,0
>60 bzw. >8,0
Kroidl et al. (2002)
≥36 bzw. ≥4,8
35–30 bzw. 4,79–4,0
29–25 bzw. 3,9–3,33
>25 bzw. >3,33
2
2
193
RV/TLC
7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.5. Graduierung der Abweichung der einzelnen Lungenfunktionsparameter
7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
194
Parameter
Einheit
Schweregrad (der jeweilige Bereich bezieht sich auf die prozentuale Abweichung vom Sollmittelwert bzw. die absolute Abweichung vom unteren (LLN) oder oberen (ULN) Sollgrenzwert keine (normal)
pH
leicht
mittel
mittel bis schwer
schwer
Quelle
sehr schwer
≤7,45 ≥7,35
DL,CO
mL/min×kPa
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
KCO
mL/min×kPa*L
≥LLN
LLN–60
59–40
<40
Reff
kPa×s/L
≤0,3
0,31–0,49
0,5–1,0
>1,0
sReff
kPa×s
>OGW-1,5
1,6–2,5
>2,5
Bronchiale Reagibilität
mg (Methacholin)
≥0,3
0,29–0,15
0,14–0,05
<0,05
Pellegrino et al. (2005) (ATS/ERS)
Absolute Grenzwerte
PD100;2,0 (kPa×s) sReff LLN = unterer Sollgrenzwert, ULN = oberer Sollgrenzwert. *Der höchste VC-Wert ist zugrundezulegen (ggf. aus IVC-Manöver).
Baur (2008a)
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Tab. 7.5. (Fortsetzung)
MdE %
Anamnese
Klinik
Lungenfunktion1 (Spirometrie, Bodyplethysmografie)
Belastungsuntersuchung mit Blutgasbestimmung
Spiroergometrie
Therapie, indiziert nach aktuellen Leitlinien
MdE %
10
Geringe Beschwerden, unter Therapie keine Beschwerden
Normalbefund
Grenzbereich
Normaler Sauerstoffpartialdruck
Keine oder gelegentlich Bronchodilatatoren und/ oder Antihistaminika2
10
20
Keine völlige Beschwerdefreiheit unter Therapie; leichtgradige Belastungsdyspnoe; periodisch auftretende Asthmaanfälle2
Giemen2 oder Knisterrasseln unterschiedlichen Grades
Manifeste bronchiale Hyperreagibilität; leichtbis mittelgradige Veränderungen; reversible Bronchialobstruktion; VC, FEV1
Normaler oder verminderter4 Sauerstoffpartialdruck bei sehr hoher Belastung5
Insuffizienzkriterien3 bei hoher Belastung (V˙O max 80–65% des 2 V˙O -Soll)
Täglich inhalative Kortikoide und Bronchodilatatoren2
20
Mittelgradige Veränderungen überwiegen: VC, FEV1 60-50%; DL,CO 6040%; Rt 0,5-1, nicht voll reversibel; RV, IGV 145– 175% oder 65–50%
Verminderter4 Sauerstoffpartialdruck bei mittlerer Belastung
Hochgradige Veränderungen überwiegen: VC, FEV1 <50%, DL,CO <40%, Rt >1; RV, IGV >175% oder <50%
Verminderter4 Sauerstoffpartialdruck bei leichter Belastung
30
40 Cor pulmonale ohne RechtsherzInsuffizienzzeichen
Hochgradige Belastungsdyspnoe (z. B. Pause nach 1 Stockwerk); tägliche Asthmaanfälle2; regelmäßig nächtliche Atemnotzustände
Cor pulmonale mit reversiblen Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz
90
Gehstrecke ohne Pause < 100 m oder < 8 Stufen
100
Ruhedyspnoe (Hilfe beim Essen und/oder Kleiden nötig); wiederholt lebensbedrohliche Asthmaanfälle2
Ruhedyspnoe, zeitweise stationäre Behandlung; Polyglobulie; Cor pulmonale mit irreversibler Rechtsherzinsuffizienz
60
70
80
1 Die prozentualen Abweichungen beziehen sich auf folgende Sollmittelwerte: R
Insuffizienzkriterien3 bei mittlerer Belastung (V˙O max <65–50% des 2 V˙O -Soll) 2
40 Zusätzlich orale Kortikoide/sonstige Medikation notwendig
50
60
Insuffizienzkriterien3 bei leichter Belastung (V˙O max <50% des 2 V˙O -Soll)
Zusätzlich O2-Therapie
Verminderter Sauerstoffpartialdruck und Hyperkapnie in Ruhe
70
80
2
Verminderter Sauerstoffpartialdruck in Ruhe bei Normokapnie Forcierte Atemmanöver nicht möglich
30
Belastungsuntersuchung nicht möglich
90
Trotz optimaler Therapie nicht beherrschbare(s) Asthma/COPD
100
7
t (Reff ) nach Matthys et al. (1995); IGV nach Islam u. Ulmer (1983) undUlmer et al. (1993); RV, TLC nach Quanjer et al. (1993); VC, FVC, FEV1, Fluss-Volumen-Kurve nach Brändli et al. (1996, 2000); Blutgase nach Woitowitz et al. (1969). oGW = oberer Sollgrenzwert; uGW = unterer Sollgrenzwert. 2 nur zutreffend für obstruktive Lungenerkrankungen. 3 Abweichung von Normwerten, v. a. von V ˙O max, V˙O AT, p(A-a),O , V˙E und ventilatorische Reserve, Atemäqiuvalente. 2 2 2 4 Vorrangig bei interstitiellen Lungenerkrankungen oder COPD / Emphyem zu erwarten; in Grenzfällen ist der standardisierte P a,O zu verwenden. 2 5 Sehr hohe Belastung: 100% des Sollwertes werden erreicht; hohe Belastung: 80% des Sollwertes werden erreicht.
195
Mittelgradige Belastungsdyspnoe (Pause nach 2– 3 Stockwerken); tägliche Atembeschwerden; geringe nächtliche Beschwerden2
50
Normaler oder verminderter4 Sauerstoffpartialdruck bei hoher Belastung5
2
7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.6. Einschätzung des medizinischen Teils des GdB/MdE bei nichtbösartigen Lungenkrankheiten. Zu beachten ist, dass der GdB/MdE-Wert anzunehmen ist, für den die Mehrheit der einzelnen Angaben/Befunde spricht
196
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Kommentar Die definitive GdB/MdE-Festsetzung des medizinischfunktionellen Anteils des GdB/MdE erfordert eine integrative Betrachtung, d. h. die Berücksichtigung des Ausmaßes der Einschränkungen der einzelnen Lungenfunktionsparameter, des aktuellen und früheren Beschwerdebildes, der Therapiebedürftigkeit, der weiteren klinischen Befunde wie körperlicher Status und Thoraxröntgenbild, evtl. abzugrenzender berufskrankheitsunabhängiger (Vor-)Erkrankungen und konkurrierender Krankheitsursachen, des Berufs, ggf. auch der besonderen individuellen Betroffenheit.
> Zielgröße ist bei Berufskrankheiten (BK) die sich aus dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebende verminderte Arbeitsmöglichkeit auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 SGB VII).
Für Bürotätigkeiten und dergleichen gelten die unteren, für Berufe mit stärkerer körperlicher Belastung und Exposition gegenüber inhalativen Schadstoffen die oberen Werte der angegebenen GdB/MdE-Bereiche. Bei Vorliegen eines Lungenemphysems und einer restriktiven Lungenkrankheit sind Bestimmungen der Diffusionskapazität (DL,CO) und Blutgasanalysen in Ruhe und unter stufenweise erhöhter bis submaximaler Belastung (wenn möglich im Rahmen einer spiroergometrischen Untersuchung) unerlässlich. Hiermit sind eine Früherfassung und Quantifizierung der Leistungseinschränkung am besten möglich. > Die Beurteilung der Leistungseinschränkung basiert auf einer integrativen Betrachtung aller erhobenen Befunde, also der einzelnen Lungenfunktionswerte, der Röntgenthoraxaufnahme, der Anamnese und der Laborwerte.
Allergologische Tests Für Atemwegserkrankungen, denen eine Typ-I-Sensibilisierung zugrunde liegt, steht eine gezielte allergologischimmunologische Diagnostik zur Verfügung. Hingewiesen sei v. a. auf die Bestimmungen spezifischer IgE-Antikörper im Serum und den Prick-Test (Beispiel in . Tab. 7.7) mit Umwelt- und Berufsallergenen. Mittels serieller Messungen des Peak Exspiratory Flow (PEF; mit Peak-Flow-Meter) oder besser der Flussvolumenkurve (mit Minispirometer), empfohlen alle 2–3 Stunden an Arbeitstagen und an arbeitsfreien Tagen, lässt sich oft eine Assoziation zwischen der Tätigkeit und einer akuten Einschränkung der Lungenfunktion feststellen. In nasalen und bronchialen Allergenprovokationstests wird die Aktualität einer Sensibilisierung dokumentiert (. Abb. 7.2).
Im arbeitsplatzbezogenen inhalativen Expositionstest sind die Bedingungen der beruflichen Tätigkeit weitestgehend zu simulieren. Voraussetzung hierfür ist eine Vorabmessung oder zumindest -abschätzung der relevanten Belastung am Arbeitsplatz. Im arbeitsplatzbezogenen inhalativen Expositionstest gilt es, unter Laborbedingungen diese Atmosphäre standardisiert zu generieren sowie Luftkonzentrationen und die hierbei auftretenden Lungenfunktionsveränderungen zu registrieren.
Hinweise auf eine berufsbedingte Ursache der Atemwegserkrankung 5 Beginn des Krankheitsbildes mit dem Wechsel der Beschäftigung oder einer Änderung der Aufgaben, mit der Einführung oder dem Wechsel der Anwendung eines Gefahrstoffes 5 Beschwerdezunahme während des Arbeitstages und/oder der -woche, Besserung an den Wochenenden und während des Urlaubs 5 Gehäuftes Auftreten gleichartiger Erkrankungen in einem Betrieb oder Arbeitsbereich
7.1.2 Krankheitsdefinition
Bronchitis Zu unterscheiden sind die akute Bronchitis – wie sie passager im Rahmen von grippalen Infekten und Schadstoffexpositionen (z. B. Rauche, aggressive Chemikaliendämpfe und -gase) auftritt – und die chronische Bronchitis. Nach der WHO-Definition versteht man unter Letzterer Husten und Auswurf an der Mehrzahl der Tage in mindestens 3 Monaten in 2 oder mehr aufeinander folgenden Jahren. Die Ursachen der chronischen Bronchitis sind vielfältig. Bedeutsam sind in erster Linie der inhalative Zigarettenrauch und – in der Regel – berufliche Belastungen durch anorganische und organische Stäube inklusive chemisch irritativ wirkender Substanzen. . Tab. 7.8 zeigt die Liste der auf irritative Weise Atemwegserkrankungen auslösenden Arbeitsstoffe. Die obstruktive Form der Bronchitis zeichnet sich durch eine Einschränkung der Atemflüsse unter forcierter Exspiration und eine Erhöhung des Atemwegswiderstandes aus (. Tab. 7.4).
Allergische Rhinopathie Für das Krankheitsbild kennzeichnend sind Fließschnupfen, Niesattacken, blockierte Nase; diese Symptome treten typischerweise innerhalb von Minuten nach Beginn des Kontaktes gegenüber einem Allergen, gegen das spezifische IgE-Antikörper gebildet wurden, auf. Die Liste der rhinitisauslösenden allergisierenden Arbeitsstoffe (BK Nr. 4301) ist weitgehend identisch mit der Liste der ein allergisches Bronchialasthma verursachenden Noxen.
197 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.7. Palette der Bäckerallergene im Prick-Test Substanz
Hersteller
Konzentration
Quaddel/Erythem [mm]
01. Kontrolle
ALK
02. Histamin
ALK
10 mg/ml
____/____
03. Weizenmehl
BENC
10%
____/____
04. Roggenmehl
BENC
10%
____/____
05. Hafermehl
ALK
1 : 20 G/V
____/____
06. Maiskorn
ALK
1 : 20 G/V
____/____
07. Sojabohne
ALK
1 : 20 G/V
____/____
08. Backhefe
BENC
10%
____/____
09. α-Amylase (A. oryzae)
selbst
1 mg Substanz/ml
____/____
10. Hemicellulase
selbst
1 mg Substanz/ml
____/____
11. Cellulase
selbst
1 mg 0,1 mg Protein/ml
____/____
12. Tyrophagus putrescentia
ALLER
50.000 BE/ml
____/____
13. Acarus siro
ALLER
50.000 BE/ml
____/____
14. Gerstenmehl
ALK
1 : 20 G/V
____/____
15. Saccaromyces cerevisiae
ALK
1 : 20 G/V
____/____
16. Saccaromyces carlsbergensis
ALK
1 : 20 G/V
____/____
17. Xylanase (A. niger)
selbst
0,1 mg Protein/ml
Dermographismus:
..........................................................
Beurteilung:
..........................................................
____/____
G = Gewicht, V = Volumen, BE = biologische Einheiten.
. Abb. 7.2. Arbeitsplatzbezogener Expositionstest mit Toluylen-Diisocyanat (TDI) bei einem 31-jährigen Chemiearbeiter: Die am Arbeitsplatz seit mehreren Jahren wiederholt auftretenden Dyspnoezustände lassen sich reproduzieren (duale asthmatische Reaktion im spezifischen Expositionstest mit 10 ppb TDI über 50 min)
7
198
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Tab. 7.8. Liste wichtiger Arbeitsstoffe, die obstruktive Atemwegserkrankungen auslösen können Inhalationsstoff
Exposition
Pathomechanismus
Mehle, Kleie
Bäckerei, Konditorei, Mühle
A
Getreidestaub
Landwirtschaft, Mühle, Getreidesilo
A
Sojamehl, -bohne
Nahrungsmittel-, Futtermittelindustrie
A
Sträucher-, Blumenpollen
Gärtnerei, Blumengeschäft
A
Gewürze
Gewürzindustrie, Großküche, Drogerie
A
Tabakblätter, Tee
Anbau, Verarbeitung, Herstellung, Abpackung
A
Grüne Kaffeebohne, Kakaobohne
Plantagen, Dockarbeit, Transport
A
Rizininusbohne
Pflanzenölherstellung, Düngemittel in der Landwirtschaft
A
Holzstäube (Abachi, Limba, tropische Akazie, Palisander, Foseholz, Ramin, Teak, rote Zeder, weiße Zeder, Eiche u. a.)
Sägewerk, Möbelherstellung, Schreinerei
A, I
Henna
Friseursalon
A
Lykopodium
Gummiindustrie, Theater
A
Gummi arabicum
Druckerei
A
Enzyme (Papain, Bromelin, Ficin)
Nahrungsmittelherstellung (Fleisch, Kekse, Getränke), Proteinanalytik
A
Latex
Medizinisches Personal, Altenpflege, Reinigungspersonal
A
Kulturen, kontaminiertes Futter
Chemische und pharmazeutische Industrie, Käse- , Zucker-, Antibiotikaherstellung, Gärungsbetriebe, Landwirtschaft
A
Enzyme (α-Amylase, Xylanase, Phytase, Rennin, Glucosidase, Hemicellulase, Cellobiohydrolase u. a.)
Bäckerei, Käse-, Sirup- und Getränkeherstellung, Futtermittelanwendung, Textilindustrie
A
Bacillus subtilis-Enzyme (Alkalase, Maxatase, Subtilisin)
Waschmittelherstellung
A
Endotoxin-haltige Stäube
Rohbaumwoll-Verarbeitung, Getreidedreschen, Schweine-, Geflügelhaltung
I?
1. Pflanzliche Materialien
10 11
2. Schimmelpilzprodukte
12 13
3. Bakterielle Bestandteile
14 15
4. Tierische Materialien
16
Tierschuppen, -haare, -fell (Katze, Hund, Pferd, Nager, Rind, Rotwild, Pelztiere u. a.)
Landwirtschaft, Nutztierhaltung, Tierarztpraxis, Zoo, Laboratorien
A
17
Isolierte Proteine, z. B. Enzyme (Pankreatin, Trypsin, Pepsin)
Laboratorien, pharmazeutische Industrie, Krankenhaus, Käseherstellung, Fleischbeschau
A
Vögel, Federvieh
Zoohandlung, Geflügelfarm, Federverarbeitung
A
Hausstaub-, Vorratsmilben
Landwirtschaft, Lebensmittel-, Futtermittelindustrie
A
Bienenmilben
Imkerei
A
Rote Spinnmilbe
Obstanbau
A
Dactylopius coccus (Schildlaus)
Farben, Lebensmittelherstellung (Karminrot)
A
18 19 20
199 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.8. (Fortsetzung) Inhalationsstoff
Exposition
Pathomechanismus
Zuckmückenlarven, Daphnien
Fischfutterherstellung, -anwendung
A
Schmetterlinge
Zoologen
A
Seidenspinner, Serizin
Seidenzucht, Rohseidenverarbeitung, Friseursalon
A
Fliegen, Küchenschabe, Heuschrecken
Forschungslabors, Zuchtbetriebe
A
Mehlwurm, Mehlmotte, Reismehlkäfer
Mehlverarbeitende Betriebe
A
Trogodermakäfer
Futter-, Nahrungsmittelindustrie
A
Bienen
Imkerei
A
Antibiotika (Penizilline, Cephalosporine, Ciprofloxacin, Spiromycin, Streptomycin, Tetrazykline u. a.)
Pharmazeutische Industrie
A, I?
Psyllium, Folia sennae
Pharmazeutische Industrie
A, I?
Isocyanate (TDI, MDI, HDI, NDI, IPDI und Derivate)
Schaumstoffherstellung, Lackiererei, Anwendung von Isolierschaum, Kleb- und Beschichtungsstoffen
I, A
Säureanhydride
Kunststoffherstellung und verarbeitung, chemische Industrie
I, A
Azofarbstoffe
Textilindustrie, Färberei
A, I?
p-Phenylendiamin (Ursol)
Pelzfärberei, fotografisches Gewerbe
A, I?
Kolophoniumdämpfe und -rauch
Lötarbeiten
I
Chrom, Dichromate
Baugewerbe, Zementherstellung, galvanische Industrie
A?, I?
Platinsalze
Scheidereien, Katalysatorherstellung
A?, I?
Nickelsalze
Galvanisierbetriebe
A?, I?
Kobalt, Vanadium, Hartmetalle, Aluminium
Schweißer, Metallindustrie
A?, I?
Chloramin T
Chemische Industrie, Desinfektion
I?
Formaldehyd
Pathologie, Reinigungspersonal, Kernmacherei, Textilindustrie, Spanplattenherstellung
I?
Blondiermittel
Friseursalon
I
Methylmethacrylat, Cyanacrylat
Zahntechnikbetriebe, Zahnarztpraxis, Sekundenkleber, Knochenzementanwendung
I, A?
Acetaldehyd, Acrolein
Chemische Industrie, Kunststoffverarbeitung
I
Ammoniak in hohen Konzentrationen
Schweinestall, chemische Industrie
I
Halogene (z. B. Chlor, Brom, Jod)
Chemische Industrie
I
Schwefeldioxid, Schwefelwasserstoff, Thionylchlorid
Chemische Industrie
I
aerosolisierte konz. Säuren und Basen
Gerberei, Galvanisierung, chemische Industrie
I
Passivrauch (»environmental tobacco smoke«)
(Gastronomie)
I
World Trade Center-Katastrophe
Feuerwehrleute, Rettungsarbeiter
I
5. Arzneimittel
6. Chemikalien und andere Stoffe
A = allergisch (IgE-vermittelt), I = chemisch-irritativ oder toxisch,? = Hinweise auf entsprechende Genese, bisher aber nicht gesichert, TDI = Toluylendiisocyanat, MDI = Diphenylmethandiisocyanat, HDI = Hexamethylendiisocyanat, NDI = Naphtylendiisocyanat, IPDI = Isophorondiisocyant.
7
200
1 2 3
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Die Prävalenz der allergischen Rhinitis ist in einigen Berufsgruppen stark erhöht. Sie beträgt z. B. unter Bäckern 15–20%. > Dem allergischen Asthma bronchiale geht in der Mehrzahl der Fälle eine mehr oder weniger lange Phase einer allergischen Rhinitis voraus.
Chemisch irritative und toxische Rhinopathie
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Eine Reihe chemisch irritativ oder toxisch wirkender Inhalationsstoffe induziert Reizungen und/oder Läsionen der oberen Atemwege. Dies betrifft v. a. Stoffe mit hoher Wasserlöslichkeit und Aerosole mit einem Durchmesser von >10 μm. Nach der 21. Anpassungsrichtlinie der EU (67/548/EWG) werden derartige Arbeitsstoffe nach § 4a der Gefahrstoffverordnung mit R 37 (d. h. reizt die Atemwege) gekennzeichnet. Hierzu gehören u. a. Aldehyde, halogenierte Kohlenwasserstoffe, Styrol, organische Stäube in der Landwirtschaft. Abgesehen von speziell ausgewiesenen toxischen Läsionen, z. B. durch Arsen (BK Nr. 1108) oder Chrom (BK Nr. 1103), handelt es sich hierbei, abweichend von den allergischen Rhinopathien, nicht um Erkrankungen im Sinne des aktuellen Berufskrankheitenrechts. Auch Umweltschadstoffe wie Ozon, Stickstoffdioxid, Schwefeldioxid und Smog verursachen neben Reaktionen an den tieferen Atemwegen entzündliche Veränderungen und Reizungen im Nasen-Rachen-Raum.
Hyp- und Anosmie Verschiedene Arbeitsstoffe können eine Hyposmie oder Anosmie verursachen (Übersicht). Bei den durch diese Stoffe verursachten Schäden handelt es sich pathogenetisch gesehen meist um diffuse Schleimhautschäden, Läsionen der Sinneszellen oder des Riechnervs. Diese Veränderungen sind z. T. reversibel, z. B. bei entzündlichen, auch allergischen Reaktionen, z. T. aber irreversibel.
14 15 16 17 18 19 20
Inhalationsstoffe, die Hyposmie oder Anosmie verursachen können 5 Gase und Rauche – Aceton – Ammoniak – Formaldehyd – Kohlenmonoxid – Brommethan – Nitrose Gase – Schwefelkohlenstoff – Tetrahydrofuran – Verschiedene organische Lösungsmittel 6
5 Toxische Aerosole und Metalldämpfe – Arsen – Blei – Cadmium – Chromate – Quecksilber – Nickel – Zementstaub – Harthölzer – Methylmetacrylat
Ein gestörtes Riechvermögen schränkt bestimmte Tätigkeiten, z. B. in der Gastronomie, Parfümherstellung/-anwendung oder Rechtsmedizin, ein und beeinträchtigt das psychosoziale Wohlbefinden des Menschen (Baur 1998b).
Chronische obstruktive Lungenerkrankung (COPD) Klinisch zeichnet sich die COPD durch eine langsam zunehmende Atemnot, meist während Belastung beginnend, aus. Funktionell besteht eine nicht oder kaum reversible obstruktive Ventilationsstörung. Der Funktionsverlust ist progredient und führt zu einer zunehmenden Einschränkung der Belastbarkeit. Die chronische Atemwegsentzündung ist durch neutrophile Granulozyten und CD8-Lymphozyten geprägt. Fortgeschrittene Erkrankungen weisen zusätzlich über die Rechtsherzbelastung eine Reduktion der kardiovaskulären Funktion auf. Vor allem bei Störungen der Atemregulation sind auch die Einschränkung der Vigilanz und die Tagesmüdigkeit von gutachterlicher Relevanz. Ursächlich kommen neben erblichen Faktoren (z. B. α-1-Antitrypsin-Mangel) inhalative Noxen und insbesondere das inhalative Zigarettenrauchen in Betracht. Wesentliche therapeutische Maßnahme ist das Meiden relevanter Schadstoffe (Zigarettenrauchen, berufliche Belastungen). Beim Auftreten von Exazerbationen ist eine intensivierte Therapie, oft einschließlich der Gabe von systemischen Steroiden, erforderlich. Für den Patienten mit COPD ist ab einem arteriellen pa,0 von 55 mm Hg oder bei Komplikationen ab einem 2 pa,0 von 60 mm Hg eine Sauerstofflangzeittherapie indi2 ziert (Einzelheiten hierzu finden sich in den Leitlinien zur Sauerstofflangzeittherapie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie von 2001). In weit fortgeschrittenen Fällen kann auch eine nichtinvasive Beatmung erforderlich werden. Für die allgemeine Beurteilung des Schweregrades einer COPD werden international v. a. die GOLD-Kriterien angewandt, die sich nach der Einschränkung des FEV1 und dem Vorliegen einer respiratorischen Globalinsuffizienz richten.
201 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
> Prognostisch ungünstig sind: 5 Ausmaß der FEV1-Einschränkung 5 Globalinsuffizienz, 5 deutliches Untergewicht, 5 schwere Atemnot, 5 Einschränkung der Gehstrecke.
Chronische obstruktive Bronchitis und/oder Emphysem des Steinkohlenbergmanns Seit dem 1.12.1997 sind in Deutschland, ähnlich wie in England und in Frankreich, die chronische obstruktive Bronchitis und das Emphysem des Steinkohlenbergmanns in die Berufskrankheitenliste aufgenommen (BK Nr. 4111). Voraussetzung einer Anerkennung ist die Einwirkung einer Feinstaubdosis von in der Regel 100 mg/m3×Jahre, die z. B. bei einer durchschnittlichen Feinstaubkonzentration von 4 mg/m3 über 25 Berufsjahre erreicht wird. Hierzu zählt auch das Bild der »schwarzen Löcherlunge«, eine schwere Emphysemform der Bergleute mit relativ geringgradiger kleinknotiger Silikose. Querschnitts- und Längsschnittuntersuchungen von Steinkohlenbergleuten zeigen von der kumulativen Belastung abhängige Einschränkungen der Lungenfunktion (VC, FEV1, Flussvolumen- und Spiroergometrieparameter, Blutgase). Dabei ist keine enge Assoziation mit dem Vorliegen einer radiologisch fassbaren Silikose festzustellen (Smidt 1974; Baur et al. 2005; Marine et al. 1988). Autopsien von Steinkohlenbergleuten belegen einen Zusammenhang zwischen der Menge des eingeatmeten Grubenstaubs und dem Auftreten eines zentroazinären Lungenemphysems (Ruckley et al. 1984a, b).
Kommentar Entsprechende Erkrankungen, die bei gleichartigen Belastungen außerhalb des Steinkohlenbergbaus (z. B. im Uranerzbau) auftraten bzw. auftreten, sollten im Rahmen von Analogieschlüssen ebenfalls als Berufskrankheit anerkannt und entschädigt werden.
> Zu beachten ist, dass Rauchen und Staubbelastung additive Effekte auf die Lungenfunktionseinschränkung ausüben.
Asthma bronchiale Das Asthma bronchiale ist charakterisiert durch anfallsartige Atemnot. Es zeigt eine variable Atemwegsobstruktion auf dem Boden einer bronchialen Hyperreagibilität und einer chronischen Atemwegsinflammation mit Beteiligung vorwiegend eosinophiler Granulozyten und T-Lymphozyten. Ursächlich sind Typ-I-Allergene der allgemeinen Umwelt und der Innenräume, inhalative Irritanzien, aber auch Atemwegsinfekte und genetische Faktoren.
Die Einschränkung der Belastbarkeit wird v. a. von der Häufigkeit von Anfällen und der permanenten Funktionseinschränkung bestimmt. Von einem arbeitsbedingten Asthma spricht man, wenn inhalative Noxen am Arbeitsplatz (s. unten) an der Entstehung, dem Wiederauftreten oder der Verschlimmerung des Krankheitsbildes einen wesentlichen Anteil haben. Nach Literaturangaben gehen 5–19% der Asthmaerkrankungen zumindest teilweise auf berufliche Einwirkungen inhalativer Allergene und Irritanzien zurück. Von besonderer Bedeutung sind dabei Mehl-, Getreide- und Futtermittelstäube, Friseurarbeitsstoffe, Holzstäube, Tierhaar- und -schuppenstäube, gepuderte Naturlatexhandschuhe, Isocyanate, Enzyme und andere aggressive Chemikalien (. Tab. 7.8; Baur 2006). Im Anschluss an eine mindestens mehrwöchige Sensibilisierungsphase reagieren sensibilisierte Personen auf die erneute Exposition gegenüber dem krankheitsverursachenden Allergen typischerweise innerhalb weniger Minuten mit einer Verengung der Bronchien, die als wechselnde Dyspnoe empfunden wird. Chemisch irritativ oder toxisch wirkende Schadstoffe können akut oder erst nach längerem Kontakt infolge von Summationseffekten Krankheitssymptome auslösen. Neben Sofortreaktionen sind verzögerte Bronchialobstruktionen 2–8 Stunden nach Exposition in einem Teil der Erkrankungsfälle zu beobachten. Letztere können zusammen mit einer Sofortreaktion (dualer Reaktionstyp; . Abb. 7.2) oder isoliert (verzögerter Typ) auftreten; gelegentlich beobachtet man nach einmaliger Exposition einen rekurrierenden Verlauf über mehrere Tage. Der Reaktionstyp erlaubt keine verlässlichen Rückschlüsse auf den zugrunde liegenden Pathomechanismus. Die während einer akuten Krankheitsphase zu beobachtenden typischen Auskultationsbefunde wie Giemen oder Brummen über der Lunge sowie die in der Lungenfunktionsprüfung objektivierbare und quantifizierbare obstruktive Ventilationsstörung ergeben eine zuverlässige Abgrenzung von der exogen allergischen Alveolitis, die mehrere Stunden nach Exposition das Reaktionsmaximum aufweist. Die exogen allergische Alveolitis zeichnet sich durch feuchte Rasselgeräusche, eine restriktive Ventilationsstörung und systemische Krankheitszeichen wie Fieber und Leukozytose aus. Hervorzuheben ist, dass in der Anfangsphase der berufsbedingten obstruktiven Atemwegserkrankungen Symptome außerhalb der Arbeitszeit fehlen und die Lungenfunktion meist unauffällig ist. In der Regel persistiert jedoch die mittels unspezifischer Histamin-, Carbacholoder Methacholin-Provokation nachweisbare bronchiale Hyperreagibilität. > Der trotz Beschwerden fortgesetzte Kontakt mit der asthmainduzierenden Noxe ist mit der Gefahr der Entstehung einer chronischen obstruktiven Atemwegserkrankung verbunden.
7
202
1 2 3
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Kommentar Zu beachten ist, dass im Berufskrankheitenrecht anstelle des Begriffs »Asthma bronchiale« die umfassendere Bezeichnung »obstruktive Atemwegserkrankung« verwendet wird, die die chronische obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und die allergische Rhinopathie einschließt.
4
Kommentar
Chemisch irritative oder toxische Genese
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
In diesem Zusammenhang ist auf das sog. »reactive airways dysfunction syndrome« (RADS) hinzuweisen, das einige Stunden nach Exposition gegenüber hohen Konzentrationen an Reizstoffen wie Chlorgasen auftritt und nach dem ein- oder mehrmaligen Ereignis in Form einer obstruktiven Atemwegserkrankung mit unspezifischer bronchialer Hyperreagibilität über Monate, oft auch anhaltend, besteht.
Pathogenetisch handelt es sich um funktionelle und morphologische Veränderungen mit Entzündungszeichen und Schleimhautläsionen an den tieferen Atemwegen, denen keine spezifische immunologische Reaktion zugrundeliegt. Ursächlich sind v. a. langjährige berufliche Belastungen gegenüber inhalativen Schadstoffen (. Tab. 7.8) unter sehr ungünstigen arbeitshygienischen Bedingungen (Übersicht).
Berufsgruppen mit langjähriger beruflicher Belastung gegenüber inhalativen Schadstoffen 5 Friseur. 5 Chemiefacharbeiter. 5 Kunststoffarbeiter bei der Herstellung und thermischen Bearbeitung und Zersetzung von Kunststoffen; hier können sich Atemwegsirritanzien bilden, z. B. aus Polyethylen (u. a. Butadien, Acrolein und Formaldehyd; Zschiesche et al. 1994) und aus Polyurethanen (verschiedene Isocyanate). 5 Lichtbogenhandschweißer in geschlossenen Räumen. 5 Schutzgas(MIG/WIG)-Schweißer an reflektierenden Grundwerkstoffen wie Aluminium und/oder Edelstahl, wobei erhöhte Emissonen von atemwegsreizenden Stickoxiden und Ozon auftreten. 5 Schweißer von Grundwerkstoffen, die mit Farben, Kunststoffen, Ölen, Kohlenwasserstoffen und anderen Schadstoffen verunreinigt sind (Entstehung irritativ wirkender Pyrolyseprodukte; s. oben; Reichel 1984; Zober 1981). Zu beachten ist, dass Schweißen oft auch mit der Exposition gegenüber Kanzerogenen (Nickel, Chrom) und hohen Belastungen durch alveolengängige Stäube (über dem allgemeinen Staubgrenzwert von 3 mg/m3) verbunden ist; dabei treten im Schweißrauch v. a. alveolengängige Stäube auf, deren gesundheitsgefährdendes Potenzial für den Respirationstrakt und das Herz-Kreislauf-System als besonders hoch einzuschätzen ist. 5 Weitere Arbeitsbereiche, in denen Asthmaerkrankungen überhäufig auftreten, umfassen Löten, Landwirtschaft (Endotoxine, NH3 u. a. m.; Baur et al. 2008).
Es sollte stets eine bestmögliche qualitative und quantitative Beschreibung der stattgehabten Exposition erfolgen (insbesondere bei Verdacht auf die entsprechende BK Nr. 4302 ist ein Bericht des Technischen Aufsichtsbeamten der Berufsgenossenschaft erforderlich). Eine wichtige Orientierung in der Zusammenhangsbeurteilung bilden die gesundheitsbezogen begründeten MAK-Werte und Arbeitsplatzgrenzwerte der einzelnen Schadstoffe (Baur 2006).
Bei Inhalationsschäden ist die Form der Schädigungseinwirkung von Bedeutung, also, ob es sich um Gase, feste Bestandteile oder flüssige Aerosole gehandelt hat, welche Aerosolgröße vorlag, und wie stark die Substanz wasserlöslich ist (. Tab. 7.9). > Aerosole >10 μm deponieren ganz überwiegend in den oberen Atemwegen, Aerosole zwischen 0,5 und 10 μm im Tracheobronchialbaum, kleinere Aerosole weiter peripher.
Eine hohe Wasserlöslichkeit (z. B. Ammoniak, SO2) bewirkt eine Deposition in den oberen Atemwegen. Bei niedriger Wasserlöslichkeit (z. B. Phosgen, NO2, Isocyanate) erfolgt vorwiegend eine Schädigung der distalen
. Tab. 7.9. Wasserlöslichkeit und primäre Deposition von Irritanzien. (Nach US Department of Health and Human Services. Surgeon General’s Office; the Health Consequences of Involuntary Smoking; Huber 2006) Wasserlöslichkeit
Substanzen
Initiale Deposition
Hoch
Aldehyde
Augen
Ammoniak
Nase
Chlor
Pharynx
Schwefeldioxid
Larynx
Ozon
Trachea, Bronchien
Stickstoffdioxid
Bronchiolen
Phosgen
Alveolen
Mittel
Gering
203 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
Atemwege, die meist erst nach wiederholter Einwirkung manifest wird.
Allergische Genese Unter die Berufskrankheitennummer 4301 fallen sowohl das arbeitsbedingte allergische Asthma bronchiale als auch die arbeitsbedingte allergische Rhinopathie. Diesen Erkrankungen liegt eine IgE-vermittelte Immunreaktion auf inhalativ aufgenommene, meist großmolekulare Berufsstoffe (z. B. Mehlproteine) zugrunde. »Spitzenreiter« unter den Auslösern sind mit einem Anteil von etwa 45% Mehle und Mehlprodukte, gefolgt von Nahrungsmittel- und Futtermittelstäuben, Holz- und Pflanzenstaub, Naturgummilatex, Tierallergenen und Haarfärbemitteln. Vereinzelt lösen aber auch niedermolekulare Chemikalien wie Säureanhydride derartige allergische Erkrankungen aus. In Deutschland werden jährlich ca. 2500 Erkrankungsfälle mit dem begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit nach Nr. 4301 angezeigt und ca. 700 als solche bestätigt. Backwarenhersteller und Konditoren machen hiervon ca. 50% aus. Mit deutlichem Abstand folgen Verkäufer, Tischler, Friseure, Floristen, Beschäftigte im Gesundheitswesen, Chemiebetriebswerker, Köche, Lagerund Transportarbeiter. Die Prognose des arbeitsbedingten Asthma bronchiale ist umso ungünstiger, je länger trotz Beschwerden die ursächliche Exposition fortgesetzt wird. Bei jedem dritten Patienten mit chronischem Zedernholzasthma tritt auch nach Reduktion der Belastung oder Anwendung von Atemschutz eine Verschlimmerung der Erkrankung ein. Auch unter völliger Karenz wird nur ein Teil dieser Asthmatiker beschwerdefrei; häufig bleibt eine bronchiale Hyperreagibilität zurück (Cote et al. 1990).
Byssinose Die Byssinose wird durch Stäube ungereinigter Baumwolle, rohen Flachses oder Hanfs hervorgerufen. Diese Stäube enthalten Endotoxine, denen der wesentliche Teil der pathophysiologischen Wirkungen zugeschrieben wird. Nach Exposition im Anschluss an eine mehrtägige Arbeitspause kommt es im Rahmen chronisch entzündlicher Prozesse in den tieferen Atemwegen und in der Lunge zur sog. Montagssymptomatik, d. h. zu Kurzatmigkeit, thorakalem Engegefühl, Hustenreiz, Hitzegefühl, Abgeschlagenheit, grippalen Beschwerden. Von diesem, sich mehrere Stunden nach Expositionsende zurückbildenden Stadium I unterscheidet sich das sich auch auf die folgenden Arbeitstage ausdehnende Stadium II. Die fortgesetzte intensive Exposition mündet schließlich ein in das durch eine chronische obstruktive Bronchitis und eine eingeschränkte Belastbarkeit gekennzeichete Stadium III.
> Bei der körperlichen Untersuchung finden sich Giemen und bronchitische Rasselgeräusche. Funktionsanalytisch fällt eine obstruktive Ventilationsstörung auf. Präventivmedizinisch sind Belastungsreduktion und Karenz von entscheidender Bedeutung.
Vocal Cord Dysfunction (VCD) Es handelt sich um eine funktionelle intermittierende paradoxe Stimmbandadduktion mit asthmaähnlichen Symptomen und teils bedrohlich erscheinenden Dyspnoezuständen. Charakteristisch sind perakutes Auftreten, Kloßoder Engegefühl im Bereich des Kehlkopfes bzw. der oberen Atemwege mit inspiratorischer Atembehinderung und Dysphagie, die kurze Dauer und Selbstlimitierung (< 2 Minuten) und fehlendes Ansprechen auf die nicht selten aufgrund einer Fehldiagnose durchgeführte Asthmatherapie. Auslöser stellen v. a. Hustenattacken, Verschlucken, olfaktorische Stimuli und aerogene Reizsstoffe (Parfüms, Autoabgase, Zigarettenrauch, Ammoniak, berufliche Chemikalien) dar. Auch körperliche Anstrengungen, saure Speisen und psychische Erregung können VCD hervorrufen. Klinisch imponiert der inspiratorische Stridor und die oft dramatisch erlebte Atemnot bei unauffälligem Auskultationsbefund der Lunge. Ätiologisch können bedeutsam sein: »post nasal drip« (PND), chronische Nasen- und Nasennebenhöhleninfektionen, eine gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) und ein laryngopharyngialer Reflux (LPR). Auch finden sich gehäuft unilaterale Stimmbandparesen bei VCD-Patienten. Diagnostisch wertvoll ist der im Anfall stark verminderte inspiratorische Atemfluss (FIF50 < FEF50; . Abb. 7.3). Die Resistance-Schleife kann dabei abkippen bzw. eine Achterkonfiguration annehmen. Typischerweise ist die Lungenfunktion im beschwerdefreien Intervall unauffällig. Das Krankheitsbild kann oft im bronchialen Hyperreagibilitätstest mittels Methacholin, Carbachol oder Histamin, im Kälteprovokationstest oder im spezifischen Provokationstest reproduziert werden. > Die Diagnose wird im Anfall, der ggf. durch einen Provokationstest ausgelöst wird, durch Laryngoskopie gesichert.
Wesentliche Differenzialdiagnosen dieser funktionellen Stimmbandstörung stellen kongenitale, allergische, nervale, neuromuskuläre, tumoröse, posttraumatische und akut entzündliche Larynxveränderungen dar.
7.1.3 Fragen zum Zusammenhang
Gutachterlich ist zu klären, ob die obstruktive Atemwegserkrankung auf äußere Einflüsse, insbesondere am Arbeitsplatz, im Sinne der Entstehung oder Verschlimme-
7
204
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Abb. 7.3. Kausuistik »vocal cord dysfunction« (VCD): 58-jährige Friseurin, Zustand nach Strumaresektion 1974 mit rechtsseitiger Rekurrensparese. Seit 1990 kommt es zu »Stimmbandkrämpfen« bei Kontakt mit Dauerwellflüssigkeit, Haarfarbe, Blondierung und mit sonstigen starken Gerüchen und Tabakrauch. Die Fluss-Volumen-Kurve zeigt bereits in Ruhe einen stark verminderten inspiratorischen Fluss. Im arbeitsbezogenen Expositionstest mit Blondierung fällt FIF50 von 2,39 auf 1,54 l/s ab; dies ist verbunden mit Kratzen und Kloßgefühl im Hals, erschwerter Atmung, Heiserkeit. Beachte die reproduzierbare starke Abflachung des Atemflusses während der forcierten Inspiration
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
rung zurückzuführen ist. Von einem allergischen Asthma sind obstruktive Atemwegserkrankungen durch chemisch irritativ wirkende Inhalationsnoxen abzugrenzen, die sowohl arbeitsbedingt, aber auch anderer Genese (Unfall, Hobby, Zigarettenrauchen) sein können. Auch ungünstige Umgebungsbedingungen wie extreme Temperaturen, rascher und häufiger Temperaturwechsel, Nässe, Belastung durch anorganische Stäube können eine obstruktive Atemwegserkrankung begünstigen oder verschlimmern. Bei Rauchern und Exrauchern stellt sich das Problem der Gewichtung der Einflüsse synergistisch wirkender Pathomechanismen. Fragen zum Zusammenhang wurden in 7 Kap. 7.1.2 besprochen, da sich Zusammenhangsfragen und Krankheitsdefinition teilweise überschneiden.
14 7.1.4 Bewertung nach Sozialrecht
15 16 17 18 19 20
Rentenrecht Das Rentenrecht betrifft die Altersversorgung der Erwerbstätigen und ihre Versorgung, wenn Erkrankungen zur Erwerbsunfähigkeit führen. Die Erwerbsunfähigkeit beschreibt den Tatbestand, dass ein Versicherter infolge von Krankheit auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Mit Wirkung vom 01.01.2001 wurden die Versicherungsfälle der Berufs- und der Erwerbsunfähigkeit abgeschafft. An ihre Stelle trat ein einheitlicher gesetzlicher Versicherungsfall der Erwerbsminderung (SGB VI;
7 Kap. 2). Es wird dabei unterschieden zwischen teilweise und voll erwerbsgemindert. Darunter fallen Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 (teilweise Erwerbsminderung) bzw. 3 Stunden (volle Erwerbsminderung) täglich erwerbsfähig zu sein, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 des § 43, SGB VI, die wegen Art und Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Dagegen fällt nicht darunter, wer eine selbstständige Tätigkeit oder eine Beschäftigung ausübt und ein Arbeitsentgelt erzielt, das 1/7 der monatlichen Bezugsgröße überschreitet. Die Anerkennung einer Erwerbsminderung setzt voraus, dass berufliche oder medizinische Rehabilitationsmaßnahmen zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit nicht dauerhaft erfolgsversprechend sind. . Tab. 7.10 enthält eine orientierende Übersicht über die in Abhängigkeit vom Schweregrad der Lungenfunktionsstörung im Hinblick auf sich für einzelne Tätigkeitsmerkmale ergebende Einschränkungen der beruflichen Eignung. Zu beachten ist, dass auch die Exposition gegenüber krankheitsverursachenden Allergenen oder Irritanzien an den Arbeitsplätzen die Möglichkeiten im bisherigen Beruf und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einschränkt. Allergische Atemwegserkrankungen bedürfen einer zusätzlichen Betrachtung, da hier die Meidung des ursächlichen Allergens eine obligate Maßnahme darstellt. Dies wirkt sich auf die Berufsfähigkeit aus. . Tab. 7.11 zeigt einige typische Beispiele.
205 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.10. Einschränkung der beruflichen Eignung bei einzelnen Tätigkeitsmerkmalen in Abhängigkeit von bronchialer Hyperreagibilität und vom Schweregrad der Lungenfunktionsstörung in Ruhe Tätigkeitsmerkmale
Schweregrad der Lungenfunktionsstörung in Ruhea bronchiale Hyperreagibilität
leicht
mittel
schwer
Nicht vermeidbare relevante Berufsallergeneb
x
x
x
x
Nicht vermeidbare relevante Irritanzien
x
x
x
x
(x)
(x)
x
Schwere körperliche Tätigkeit
x
x
Mittelschwere körperliche Tätigkeit
(x)
x
Sehr ungünstige klimatische Bedingungen
Leichte körperliche Tätigkeit
(x)
Sitzende Tätigkeit; Pkw-Fahren
(x)
a Gemessen ohne Therapie. b Nur bei allergischem Asthma bronchiale. x Berufsausübung in der Regel nicht gegeben; (x) Berufsausübung von der speziellen Konstellation im Einzelfall abhängig.
. Tab. 7.11. Beispiele für volle Erwerbsminderung (VE) bei allergischen Atemwegs- und Lungenerkrankungen Beruf
Krankheitsbild
Konsequenz
Chirurg
Latexallergie, allergischer Schock
VE, falls völlige Karenz nicht möglich
Latexallergie, obstruktive Atemwegserkrankung
Keine VE; selbst allergenfreie Handschuhe, puderfreie Handschuhe in der Umgebung
Latexallergie, Hauterkrankung
Keine VE; selbst allergenfreie Handschuhe
Obstruktive Atemwegserkrankung durch Blumenallergene
Karenz erforderlich, ggf. Berufswechsel
Heuschnupfen
Keine VE; nicht berufsabhängig
Obstruktive Atemwegserkrankung durch Mehl
Karenz erforderlich, ggf. Berufswechsel
Mehlrhinopathie
Keine VE, Schutzmaßnahmen
Farmerlunge
Keine VE; Schutzmaßnahmen
Florist
Bäcker
Landwirt
Im Rahmen der Begutachtung für die Unfallversicherungen hat sich die in . Tab. 7.6 dargestellte Graduierung der MdE etabliert. Bei der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung ergibt sich eine gleichartige Graduierung der Lungenfunktionseinschränkung, die Zielgröße ist hierbei jedoch das Ausmaß der Einschränkung der zuletzt ausgeübten Tätigkeit (s. unten).
Soziales Entschädigungsrecht Das soziale Entschädigungsrecht regelt Gesundheitsschäden, für deren Folge die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einstehen muss (SGB I § 5 Abs. 1; 7 Kap. 2). Hier müssen mit einfacher Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs bestimmte Einwirkungen zur Schädigung geführt haben, und zwar durch militärischen Dienst, militärähnlichen Dienst, unmittelbare Kriegsein-
wirkung, Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staats- und Volkszugehörigkeit. Gleichgestellt ist die mittelbare Kriegseinwirkung, z. B. Flucht, nachträgliche Auswirkungen wie z. B. Besatzung, Internierung im Ausland oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen des Staates zusammenhängende Straf- und Zwangsmaßnahmen, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen sind. Die gesetzlichen Grundlagen hierzu sind das Bundesversorgungsgesetz, Kriegsopferversorgungsgesetz, Opferentschädigungsgesetz (Opfer von Gewalttaten), Zivildienstgesetz, Bundesseuchengesetz (Impfgeschädigte nach gesetzlich vorgeschriebenen oder anempfohlenen Impfungen), SED-Unrechtsbereinigungsgesetz (Opfer rechtsstaatswidriger Haft in der ehemaligen DDR) und das Häftlingshilfegesetz (Opfer politischer Haft aus östlichen Gewahrsamsmächten).
7
206
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Hinsichtlich der Entschädigung wegen nationalsozialistischer Verfolgung gelten Besonderheiten und Beweiserleichterungen. Die Leistungen betreffen Heilbehandlung, Versehrtenleibesübungen, Krankenbehandlung, Kriegsopferfürsorge, Beschädigtenrente, Pflegezulage, Sterbe- und Bestattungsgeld, Hinterbliebenenrente. Absichtlich herbeigeführte Schädigungen haben einen Leistungsausschluss zur Folge. Der Körperschaden, z. B. nach einer Tuberkulose oder einer Granatsplitterverletzung, wird anhand der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) quantifiziert. Es gelten die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008). Die Schwelle für die Gewährung einer Rente beträgt 25%.
Schwerbehindertenrecht Alle Schwerbehinderten haben – unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung – Rechtsanspruch auf Hilfe bei Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft sowie u. U. auf vielfältige soziale Nachteilsausgleiche. Nicht die Ursache eines oder mehrerer Körperschäden ist bedeutsam, sondern allein der resultierende Gesamtschaden an körperlicher, geistiger und seelischer Integrität (7 Kap. 2). Die Einschätzung des Körperschadens erfolgt unter dem Begriff »Grad der Behinderung (GdB)«, der nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigungen erfasst. Schwerbehinderung liegt vor, wenn der Grad der Gesamtminderung mindestens 50% beträgt. Voraussetzung ist ferner eine Krankheitsdauer von mindestens 6 Monaten, eine Wohnung oder ein gewöhnlicher Aufenthalt oder eine Beschäftigung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Gesetzes. Eine Schwerbehindertengleichstellung kann nach § 2 des Schwerbehindertengesetzes aber bereits bei Behinderung von 30% auf Antrag durch das Arbeitsamt erfolgen, wenn ohne diese Hilfe ein geeigneter Arbeitsplatz nicht erlangt oder beibehalten werden kann. Einzelheiten des Schwerbehindertenrechts sind in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit festgehalten. > Ähnlich wie in der Kriegsopferversorgung wird bei Krebserkrankungen in der Regel für 5 Jahre im Rahmen der sog. Heilungsbewährung ein Basis-GdB/MdE von mindestens 50 gewährt.
Gesetzliche Unfallversicherung In den Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Unfallversicherungsträger (gewerbliche Berufsgenossenschaften, landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, Unfallversicherungen der öffentlichen Hand) fallen Arbeitsunfälle inklusive Wegeunfälle und die Berufskrankheiten (§ 7 SBG VII; 7 Kap. 2).
Nach § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten solche Krankheiten, die die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung (aktuelle Berufskrankheitenverordnung, BKV) als Berufskrankheit bezeichnet und die Versicherte infolge ihrer Tätigkeit erleiden. Diese müssen nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften durch besondere Einwirkungen, denen bestimmte Berufsgruppen in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, verursacht sein. Voraussetzung der Anerkennung einer Berufskrankheit ist, dass sie Behandlungsbedürftigkeit, Arbeitsunfähigkeit und/oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit bewirkt, dass sie v. a. als Krankheit (= regelwidriger Körper- oder Geisteszustand) klinisch-funktionell manifest oder pathologisch eindeutig identifizierbar ist (z. B. Silikose). Wenn die regelwidrigen Befunde weder Behandlungsbedürftigkeit noch Arbeitsunfähigkeit oder eine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit bedingen und wenn in der BK-Bezeichnung nicht anders erwähnt, spricht man von einer BK »dem Grunde nach« (ohne Leistungsanspruch; beachte die Abweichung von der Krankenversicherung). Der Anhang enthält die aktuelle Berufskrankheitenliste. Speziell die Atmungsorgane betreffen 5 Erkrankungen durch anorganische Stäube (BK Nr. 4101–4112), 5 Erkrankungen durch organische Stäube (BK Nr. 4201–4203), 5 toxisch bedingte bronchopulmonale Krankheiten (BK Nr. 1104, 1105, 1107, 1108, 1110, 1308), 5 obstruktive Atemwegserkrankungen (BK Nr. 4301, 4302) und 5 Erkrankungen durch Isocyanate (BK Nr. 1315) sowie 5 Tumorerkrankungen (BK Nr. 1103, 1108, 1310, 1311, 2402, 4112, 4104, 4105, 4109, 4110, 4203). Nach § 9 Abs. 2 des SBG VII ist bei gegebenen vorgenannten Bedingungen ein bestimmtes Krankheitsbild außerhalb der BKV-Liste ebenfalls als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn nach neuen Kenntnissen der medizinischen Wissenschaft die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Berufskrankheit nach § 9 Abs. 1 SGB VII erfüllt sind (sog. »Quasi-Berufskrankheit«). § 9 Abs. 3 SGB VII beinhaltet, dass bei Vorliegen 5 einer erhöhten beruflichen Gefährdung bezüglich einer Listenberufskrankheit, 5 bei entsprechender Krankheit eine Berufskrankheit zu vermuten ist, falls keine Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit bestehen. Es genügt nicht, dass ein Versicherter einer krankheitsrelevanten Einwirkung ausgesetzt war und an einer in der BKV aufgeführten Krankheit im vorgenannten Sinne leidet. Es muss im konkreten Falle ein Ursa-
207 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Abb. 7.4. Konstrukt der doppelten Kausalität, das im Berufskrankheitenrecht gefordert wird. (Aus: Woitowitz 1998)
chenzusammenhang in folgenden Hinsichten bestehen (. Abb. 7.4) 5 haftungsbegründende Kausalität, d. h. ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden arbeitsbedingten Einwirkung; 5 haftungsausfüllende Kausalität; hierunter versteht man den hinreichend wahrscheinlichen Kausalzusammenhang zwischen der schädigenden arbeitsbedingten Einwirkung und der gesicherten Krankheit. Letzteres zu untersuchen, ist vornehmlich Aufgabe des ärztlichen Gutachters. > BK-Ursache ist jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass gleichzeitig diese BK entfiele, die sog. Conditio sine qua non.
Rechtlich relevant sind daher unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen, die wegen ihrer engen Beziehung zum Eintritt des Gesundheitsschadens an seiner Entstehung wesentlich mitgewirkt haben. Entscheidend für die Frage der Wesentlichkeit ist die Qualität der mitwirkenden Bedingungen (Wert und ihre Bedeutung für das Zustandekommen des Gesundheitsschadens im konkreten Einzelfall), weniger ihre Quantität und ihre zeitliche Reihenfolge. Eine Berufskrankheit ist nicht anzunehmen, wenn eine sog. Gelegenheitsursache vorliegt. Darunter versteht man die Tatsache, dass andere, berufsfremde Kausalfak-
toren so eindeutig überwiegen, dass die Einwirkungen aus der versicherten Tätigkeit demgegenüber praktisch bedeutungslos sind und Erstere als die rechtlich allein wesentliche Ursache der Erkrankung gewichtet werden müssen. Die Erkrankung ist zwar bei Gelegenheit einer versicherten Tätigkeit entstanden, durch diese aber nicht wesentlich verursacht. Eventuelle besondere versicherungsrechtliche Merkmale, wie beispielsweise die Einwirkung einer bestimmten Belastungsdosis (BK Nr. 4104 und 4111) oder die Aufgabe der krankheitsverursachenden Tätigkeit [gefordert für obstruktive Atemwegserkrankungen (BK Nr. 4301, 4302) und isocyanatbedingte Erkrankungen (BK Nr. 1315)], sind dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu belegen. Das Berufskrankheitenverfahren wird durch die Anzeige eines Arztes, seltener einer anderen Versicherung und nur vereinzelt durch den Arbeitgeber initiiert. Daraufhin führt der Unfallversicherungsträger (Berufsgenossenschaft, Unfallversicherung der öffentlichen Hand) im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht sachdienliche Ermittlungen zu den arbeitstechnischen (Expositionsermittlung) und medizinischen BK-Voraussetzungen durch. Zu letzteren gehören das Heranziehen und Beurteilen früherer und aktueller ärztlicher Untersuchungsbefunde, z. B. von Lungenfunktionswerten und Röntgenbildern. Es folgt meist eine Stellungnahme des beratenden Arztes des Unfallversicherungsträgers, nur noch in wenigen Fällen auch des staatlichen Gewerbearztes. In der
7
208
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Abb. 7.5. Berufskrankheitenverfahren: Von der Anzeige zur Entschädigung/Ablehnung einer Berufskrankheit. (Aus: Baur 1999)
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Regel wird dann ein Auftrag zur ärztlichen Zusammenhangsbegutachtung mit gezielter Untersuchung an einen Fachgutachter gestellt. Im Falle einer BK-Anerkennung ist zwischen Versicherungs- und Leistungsfall zu unterscheiden. Im Leistungsfall sind neben den Voraussetzungen des Versicherungsfalls die weiteren Rehabilitations- bzw. Entschädigungsvoraussetzungen zu erfüllen. Bei der Rente ist dies z. B. ein GdB/MdE in rentenberechtigendem Grade. (Weiterführende Literatur: Mehrtens u. Perlebach 1997; Erlenkämper 1998, Woitowitz 1998; Becker 2004.) Die einzelnen Schritte des Berufskrankheitenverfahrens sind . Abb. 7.5 zu entnehmen.
GdB/MdE Die MdE in der Unfallversicherung richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (gesamtes Gebiet des wirtschaftlichen Lebens; abstrakte Schadensbemessung; § 56 SGB VII). Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20% vermindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Nicht arbeitsbedingte Gesundheitsstörungen und konkurrierende Krankheitsursachen sind hinsichtlich des dadurch bedingten (Vor-)Schadens und seiner Auswirkungen zu erfassen und abzugrenzen. Ein Beispiel ist ein seit Kindheit bestehendes Asthma bronchiale, das durch die berufliche Belastung eine wesentliche (s. oben) Verschlimmerung erfahren hat. Hierbei ist nur der Verschlimmerungsanteil BK und damit von seiten der Unfallversicherung anzuerkennen und zu entschädigen. Sind – neben wesentlichen arbeitsbedingten – zeitgleich auch ar-
beitsunabhängige Faktoren für die Krankheitsentstehung von Bedeutung, so ist der gesamte Schaden als BK anzuerkennen und zu entschädigen. Dieselbe Funktionseinbuße kann in Abhängigkeit von ihren Einschränkungen im jeweiligen Tätigkeitsfeld und der persönlichen Betroffenheit eine unterschiedliche Rentenanspruchhöhe zur Folge haben. Eine gesonderte Betrachtung erfordern Phasen intensiver Behandlung (z. B. einer Fraktur oder einer Lungentuberkulose) und Rehabilitationen; . Tab. 7.6. > Spätestens mit Ablauf von 2 Jahren nach Eintritt des Leistungsfalles (s. oben) wird eine Rente zur Dauerrente. Im Abstand von mindestens 1 Jahr kann eine Dauerrente erhöht bzw. abgesenkt werden.
Einen rentenberechtigenden Grad erreicht die MdE regelmäßig erst dann, wenn die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20% gemindert ist (§ 56 SGB VII). Falls durch mehr als eine Unfall- und/oder BK-Folge mehrere MdEFeststellungen vorliegen, können sog. »Stütz-MdEs« von <20% Bedeutung erlangen. Dabei werden die einzelnen MdE-Feststellungen häufig addiert. Je nach Interaktion kann aber auch die Gesamt-MdE weniger oder mehr als die Summe der Einzel-MdE-Feststellungen betragen.
Kommentar Liegt am Stichtag des Versicherungstages aus anderen (unfallunabhängigen) Gründen bereits völlige Erwerbsunfähigkeit vor, kann kein GdB/MdE-Wert zugeordnet werden, da mehr als 100% GdB/MdE nicht möglich sind.
209 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
. Tab. 7.12. Beurteilung der Einschränkung bei chronischer Bronchitis und Asthma bronchiale ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX 2008, Bundesministerium für Arbeit und Soziales) Erkrankung
GdB/MdE
Leichte Form der chronischen Bronchitis
Symptomfreie Intervalle über mehrere Monate, wenig Husten, geringer Auswurf
0–10
Schwere Form der chronischen Bronchitis
Fast kontinuierlich ausgiebiger Husten und Auswurf, häufige akute Schübe
20–30
Asthma bronchiale (ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion)
Hyperreagibilität mit seltenen (saisonalen) und/oder mit leichten Anfällen
0–20
Hyperreagibilität mit häufigen (mehrmals pro Monat) Anfällen
30–40
Hyperreagibilität mit Serien schwerer Anfälle
50
GdB/MdE bei obstruktiven Lungenerkrankungen Grundsätzlich muss bei der Beurteilung der Einschränkung aus einer Vielzahl von Einzelbefunden eine Synopsis gefunden werden. Es werden anamnestische, klinische und funktionsanalytische Bewertungen einschließlich der bronchialen Hyperreagibilität herangezogen. Hierbei sind nationale und internationale Leitlinien zu berücksichtigen (Baur et al. 2005a b). Der klinisch-funktionelle Anteil von GdB/MdE wird nach den in den . Tab. 7.5, 7.6 und 7.12 angegebenen Kriterien beurteilt. Das Ausmaß der Sensibilisierung bzw. der bronchialen Hyperreagibilität kann ggf. anhand von Provokationstests abgeschätzt werden. Die wesentlichen Kriterien sind 5 Obstruktionsgrad, 5 Reversibilität, 5 persistierender oder reversibler Blähungszustand, 5 bronchiale Hyperreagibilität. Zu berücksichtigen ist ferner, dass obstruktive Atemwegserkrankungen zu einem wechselnden Verlauf mit unterschiedlichen Schweregraden neigen. Insbesondere ist ein exogen allergisches Asthma bronchiale expositionsabhängig stark unterschiedlich ausgeprägt. Eine chronische Bronchitis kann sich in der kalten Jahreszeit verschlechtern. Weiterhin können vorbestehende Atemwegserkrankungen durch das Hinzutreten von beruflichen Belastungen nachhaltig verschlimmert werden. Erwerbsunfähigkeit durch obstruktive Lungenerkrankungen liegt meist vor, wenn bei ausgeschöpfter Therapie Luftnot und Lungenfunktionseinschränkung überwiegend mittelschwer bis schwergradig vorhanden sind. Bezüglich der speziellen Beurteilung nach dem Berufskrankheitenrecht wird auf . Tab. 7.6 verwiesen. Im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht kommen auch die in . Tab. 7.12 aufgeführten Kriterien zur Anwendung.
7.1.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Atopiker und z. T. auch Raucher haben ein erhöhtes Risiko für ein Asthmaleiden. Atopie ist mit Atemwegssensibilisierungen gegen hochmolekulare Allergene wie Mehl, Tierallergene und Enzyme assoziiert. Raucher entwickeln häufiger eine Überempfindlichkeit auf Platinsalze, grüne Kaffeebohnen und Rizinus. Da aber die weit überwiegende Mehrzahl der Raucher und Atopiker später keine arbeitsbedingte Erkrankung entwickeln wird und eine verlässliche Prognose nicht möglich ist bzw. eine große Zahl von Personen von der Tätigkeit ausgeschlossen werden müsste, um einen Krankheitsfall zu verhindern, sind diese Merkmale im Einzelfall kaum weiterführend. Ausnahmen stellen wesentlich erhöhte Erkrankungsrisiken von Personen dar, die eine noch stumme Sensibilisierung gegen Berufsallergene entwickelt haben oder manifeste Allergien gegen mit vorhandenen Berufsallergenen kreuzreagierenden Umweltallergenen aufweisen. Letzteres ist u. a. relevant für Müller und Bäcker, Landwirte, Tierärzte und -pfleger, da Allergenverwandtschaften zwischen Graspollen und Zerealien sowie zwischen Hausund Nutztieren bestehen. > Auch Personen mit einer starken unspezifischen bronchialen Hyperreagibilität sollten wegen des erhöhten Erkrankungsrisikos keiner zusätzlichen Belastung durch chemisch irritative oder toxisch wirkende Luftschadstoffe am Arbeitsplatz ausgesetzt werden.
Dies ist insbesondere für Berufe mit regelmäßiger Exposition gegenüber inhalativen Reizstoffen von Bedeutung, z. B. für Friseure, Lackierer. . Abb. 7.6 stellt schematisch das Risiko der Entwicklung einer arbeitsbedingten obstruktiven Atemwegskrankheit oder der wesentlichen Verschlimmerung einer vorbestehenden Erkrankung in Abhängigkeit von verschiedenen Befundkonstellationen dar.
7
210
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Abb. 7.6. Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen einzelnen und mehreren Risikokonstellationen einerseits und dem Risiko der Entwicklung oder Verschlimmerung einer Atemwegserkrankung bzw. von beruflichen Einschränkungen andererseits. Einzelheiten s. Text
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Zu beachten ist, dass Kombinationen verschiedener Risiken den Arbeitsmarkt zunehmend einengen und zuletzt nur noch sog. »Weiße-Kragen-Berufe« ohne inhalative Belastungen in Frage kommen. Die definitive Entscheidung ist aber stets individuell unter Berücksichtigung der Disposition, des Krankheitsverlaufs, der Lungenfunktionsbefunde und der arbeitshygienischen Situation im speziellen Tätigkeitsbereich zu treffen. Frühere Arzt- und Krankenhausberichte sowie Peak-flow-Registrierungen erlauben eine objektive Einschätzung des Schweregrades, aber auch der Compliance des Patienten und der Qualität der ärztlichen Betreuung. Zur Einschränkung der beruflichen Eignung . Tab. 7.10 und 7.11. Folgende Faktoren können in Abhängigkeit vom Schweregrad der Atemwegserkrankung, der unspezifischen bronchialen Hyperreagibilität und der spezifischen Sensibilisierung Einschränkungen der Arbeit oder sogar Tätigkeitsverbot zur Folge haben: Expositionen gegenüber Kälte, chemisch irritativen oder toxisch wirkenden Stoffen, anorganischen Stäuben. Auch Tätigkeiten unter Tage, mit Atemschutz oder im Unterdruck sind bei höherem Schweregrad einer Atemwegserkrankung kontraindiziert.
Fahrereignung Von einer Nichteignung ist auszugehen, wenn die besonderen körperlichen und geistigen Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen infolge einer vorliegenden Lungen- und Atemwegskrankheit nicht erfüllt werden können. Die Anforderungen umfassen Wachheitszustand, Belastbarkeit, Orientierungs-, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung sowie Reaktionsfähigkeit. Dabei sind ein stabiles Leistungsniveau und die Beherrschung von Belastungssituationen zu fordern. Beispiele einer Nichteignung sind das plötzliche Versagen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit infolge unangekündigter bedrohlicher Asthmaanfälle, Hustensynkopen, ein unbehandeltes oder nicht ausrei-
chend therapierbares Schlafapnoesyndrom, Einnahme sedierend wirkender Pharmaka, schwere Erkrankungen mit Rückwirkungen auf die Herz-Kreislauf-Funktion, den Allgemeinzustand und dergleichen mehr. Im Falle von Bedenken bezüglich der körperlichen oder geistigen Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers oder -inhabers kann die Fahrerlaubnisbehörde ein ärztliches Gutachen anordnen.
7.1.6 Risikobeurteilung
Die Prognose des Bronchialasthmas hat sich unter den heutigen Therapiekonzepten verbessert. In der Regel ist unter adäquater Therapie und – falls exogen ausgelöst – unter entsprechender Karenz keine Progression der Erkrankung zu erwarten. Allerdings führt die Expositionskarenz bei bereits lang andauernder Erkrankung, insbesondere bei chemisch irritativen oder toxischen Auslösern, oft nicht zur Beschwerdefreiheit. In den meisten Fällen ist eine dauerhafte medikamentöse inhalative Therapie erforderlich. Bei der einfachen chronischen Bronchitis ist – v. a. nach Beendigung des inhalativen Zigarettenrauchens – keine wesentliche Progression zu erwarten. Allerdings kann aus der chronischen Bronchitis eine chronische Bronchitis mit Obstruktion (COPD) entstehen. Dies gilt v. a. bei bereits vorliegender bronchialer Hyperreagibilität. > Die COPD und das Lungenemphysem sind progrediente Erkrankungen.
Gehäufte respiratorische Exazerbationen und eine respiratorische Globalinsuffizienz haben eine vorzeitige Mortalität zur Folge.
211 7.1 Erkrankungen der oberen Atemwege, obstruktive Lungenerkrankungen
7.1.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Primärprävention Entscheidend für eine Verhinderung von Lungen- und Atemwegserkrankungen ist eine umfassende Primärprävention. Hierunter versteht man Maßnahmen, um die potenziell krankheitsauslösenden Noxen bereits vor Auftreten von Erkrankungen zu beseitigen (z. B. Austausch eines gefährdenden Arbeitsstoffes durch einen unbedenklichen) oder auf ein gesundheitlich unbedenkliches Maß zu reduzieren. Dabei sollte auch die erhöhte Empfindlichkeit bestimmter Personengruppen, z. B. von Atopikern, berücksichtigt werden (erhöhte Gefährdung bezüglich einer Tierhaar- und Mehlsensibilisierung). Als Idealsituation formulierten Wagner u. Wegman (1998) das Ziel, die Belastungen an den Arbeitsplätzen so niedrig zu halten, dass auch Personen mit bereits manifesten Berufsallergien dort weiter tätig sein können.
Sekundärprävention Die Sekundärprävention zielt auf die Beseitigung bereits stattfindender Gefährdungen und Schädigungen sowie die frühzeitige Erfassung von Krankheitszeichen. > Im Erkrankungsfall ist die konsequente Expositionskarenz die einzig erfolgversprechende Maßnahme.
Rehabilitationsmaßnahmen dienen der Verhinderung von Erwerbsunfähigkeit (»Reha vor Rente«). Die Beurteilung, ob und ggf. welche Rehabilitationsmaßnahme indiziert sind, setzt eine eingehende Beurteilung des Krankheitsverlaufes und der aktuellen Untersuchungsbefunde voraus. Dies betrifft insbesondere die Lungenfunktion, die Ergebnisse der bisherigen Behandlungen inklusive der Rehabilitationsmaßnahmen. Rehabilitationsmaßnahmen sind aktuell nicht indiziert, wenn Krankenhausbedürftigkeit besteht, der Patient weder kur- noch reisefähig ist und kein kurgerechtes Verhalten erkennen lässt. Rehabilitationsmaßnahmen sind spezialisierten klinischen Einrichtungen vorbehalten. In Bezug auf obstruktive Atemwegserkrankungen stehen Patientenschulung, Tabakentwöhnung und krankengymnastische Behandlungen mit Erlernen erleichternder Atemtechniken im Vordergrund. Auch die konsequente Karenz gegenüber relevanten Allergenen ist hierbei von Bedeutung. Eine intensive physikalische Therapie ist indiziert nach Lungenresektion und Strahlentherapie, thorakalen Defektzuständen und Thoraxtraumen, um negative Auswirkungen auf die Mechanik des Thorax zu minimieren. Weitere medizinische Indikationen für stationäre Rehabilitationsmaßnahmen können kardiovaskuläre Komplikationen, erhebliches Übergewicht, z. B. bei schlafbezogenen Atemstörungen oder Unfallfolgen darstellen.
Dies kann Austausch der Arbeitsmaterialien (z. B. von gepuderten Latexhandschuhen), Installation von geschlossenen Systemen und Luftabsaugung oder auch Berufswechsel (z. B. bei einer Floristin mit Blütenpollenasthma) bedeuten. Gemäß § 3 BKV hat der Unfallversicherungsträger bereits bei konkreter Gefahr der Entstehung, der Verschlimmerung oder des Wiederauftretens einer BK mit allen geeigneten Mitteln dieser Gefahr entgegenzuwirken. Dies gilt also auch dann, wenn die formalen Voraussetzungen der Anerkennung noch nicht gegeben sind, z. B. in einem präklinischen Stadium bei höhergradiger Sensibilisierung gegen ein Berufsallergen.
7.1.8 Sonderfragen
Tertiärprävention
Mukoviszidose, primäres Ziliendyskinesiesyndrom etc.
Unter Tertiärprävention versteht man die Wiederherstellung der Gesundheit (medizinische Rehabilitation). Hierfür bieten sich gezielte, für das vorliegende Krankheitsbild geeignete ambulante oder stationäre Heilmaßnahmen an. Eine ausschließliche Pharmakotherapie als Maßnahme der Tertiärprävention bei fortbestehender Exposition ist nicht empfehlenswert; sie kann nur vorübergehende Bedeutung zur Überbrückung, z. B. bis zu einer innerbetrieblichen Versetzung, haben. Eine Hyposensibilisierung mit Berufsallergenen ist wegen nicht überzeugender Wirkung und gegebener erfolgversprechender Alternativen nicht zu empfehlen.
Das Asthma bronchiale hat heute unter adäquater Therapie und ggf. Expositionskarenz eine gute Prognose. In der Regel ergibt sich deshalb kein Grund zum Ausschluss von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst. Die chronische Bronchitis an sich stellt ebenfalls keine wesentliche Einschränkung dar. Die chronische Bronchitis mit Obstruktion und das Lungenemphysem müssen individuell und unter Berücksichtigung des Funktionsverlaufs beurteilt werden. Auch hier gelten die in7 Kap. 7.1.6 angeführten Punkte.
Mukoviszidose und andere angeborene Störungen führen zu einer überwiegend obstruktiven Ventilationsstörung mit entsprechender Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Erkrankungen respiratorische Infekte begünstigen, die erheblich zur Morbidität des Patienten, zur Progredienz der Grunderkrankung und zur Funktionseinschränkung beitragen. Meist liegen weitere schwerwiegende Störungen wie beispielsweise ein Diabetes mellitus und Untergewicht vor. Dies sollte bei der Bewertung nach dem Schwerbehindertenrecht entsprechend berücksichtigt werden.
7
212
Kapitel 7 · Respirationstrakt
1
Steuerrechtlich relevant ist unter Umständen die Tatsache, dass diese Patienten eine hyperkalorische Zusatzernährung benötigen.
5 Spiroergometrie sowie 5 die Röntgenaufnahme des Thorax, insbesondere Computertomographie in Mehrzeilen-/Spiraltechnik.
2
Asthma bronchiale im Kindes- und Jugendalter
Die bronchoalveoläre Lavage kann einerseits wegweisende Befunde liefern (z. B. Asbestkörperchen, Lymphozytose mit vermindertem CD4/CD8-Verhältnis bei exogen allergischer Alveolitis), andererseits Hinweise auf die Pathogenese und den Aktivitätsgrad des industriellen Prozesses aufzeigen. Die transbronchiale Biopsie oder auch die mittels VATS gewonnene Lungenbiopsie sollten bei unklaren Lungengerüsterkrankungen zur Sicherung der Diagnose, Prognoseeinschätzung und optimalen Therapie angestrebt werden. Hiermit lassen sich v. a. die verschiedenen Formen der diffusen Lungenparenchymerkrakungen voneinander abgrenzen. Die Zuordnung von berufsbedingten Lungengerüsterkrankungen kann dabei Probleme aufwerfen. So können exogen allergische Alveolitiden neben typischen epitheloidzelligen Granulomen eine BOOP-Reaktion (Bronchiolitis obliterans mit organisierender Pneumonie) mit Masson-Körperchen und »buds« auch das Bild der »usual interstitial pneumonia« (UIP) oder unspezifischen interstititiellen Pneumonie aufweisen.
3 4 5
Das Asthma bronchiale beginnt häufig im Kindesalter und führt dann – v. a. bei ungenügender medikamentöser Therapie und Schulung des Patienten und der Eltern – zu einer wesentlichen Beeinträchtigung bei körperlichen Tätigkeiten und im Schulalltag. Entsprechende Schulung und Aufklärung der Lehrkräfte sind anzustreben. Versicherungsrechtlich relevant ist das Schwerbehindertenrecht mit der Festlegung des GdB/MdE.
Beeinflussung anderer Erkrankungen
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Das allergische Asthma bronchiale geht häufig mit einer weiteren Allergiemanifestation, insbesondere einer Rhinitis und Konjunktivitis, aber auch Hautreaktionen einher. Beim nichtallergischen Asthma bronchiale kann zusätzlich die Problematik von Nasenpolypen und Sinusitiden bestehen. Die chronische obstruktive Lungenerkrankung (COPD) ist oft kompliziert durch 5 weitere Erkrankungen in Folge des inhalativen Zigarettenrauchens (koronare Herzerkrankung, Lungenkarzinom, periphere arterielle Verschlusskrankheit etc.), 5 Auswirkungen einer schweren obstruktiven Lungenerkrankung und Folgen der Therapie auf das Herz-Kreislauf-System, 5 medikamentöse Nebenwirkungen wie diabetische Stoffwechsellage, Osteoporose oder Katarakt.
Wehrdienst Ein allergisches Asthma bronchiale mit stark ausgeprägter Sensibilisierung kann Probleme bei der Ausübung des Wehrdienstes bereiten. Hausstaubmilben- und Pollenallergien können eine Unterbringung im Mehrbettzimmer oder die Durchführung von Manövern einschränken. Entsprechendes gilt für eine ausgedehnte Nahrungsmittelallergie, die eine Gemeinschaftsverpflegung ausschließt. Durch Belastung induzierbare schwere Asthmaanfälle (v. a. körperliche Belastung im Freien) können ebenfalls die Verwendungsfähigkeit im Wehrdienst einschränken.
7.2
Interstitielle Lungenerkrankungen
7.2.1 Diagnostik
18 19 20
Im Vordergrund der Diagnostik steht 5 die Basislungenfunktionsprüfung, ergänzt durch 5 Bestimmung von – Diffusionskapazität, Compliance und
> Eine spezifische Provokationstestung ist der Goldstandard in der Diagnostik der exogen allergischen Alveolitis.
Kommentar Bei interstitiellen Lungenerkrankungen muss immer bedacht werden, dass sie Teil einer systemischen Erkrankung sein können.
Eine entsprechende klinische Untersuchung ist erforderlich. Bei systemischen Erkrankungen und dem Verdacht auf diese ist eine entsprechende Autoimmunserologie (Basalmembranantikörper, ANCA etc.) indiziert. Die Verdachtsdiagnose der exogen allergischen Alveolitis wird durch den Nachweis antigenspezifischer IgGAntikörper erhärtet. Hier ist allerdings von Bedeutung, dass bis zu 50% der exponierten Personen solche Antikörper aufweisen können, ohne dass sie erkranken. Die Allergiehauttestung ergibt keine verlässlichen Ergebnisse. Mittels des arbeitsplatzbezogenen inhalativen Provokationstests lässt sich das Krankheitsbild reproduzieren. Dabei muss der Patient mindestens 7 Stunden lang überwacht werden. Es sind mindestens 3 der folgenden Kriterien für ein positives Ergebnis zu fordern: 5 Auftreten feuchter Rasselgeräusche, 5 Abfall der Vitalkapazität um mindestens 20%, 5 DL,CO-Abfall um mindestens 15%, 5 pa,O -Abfall um mindestens 7 mm Hg. 2
213 7.2 Interstitielle Lungenerkrankungen
Zusätzlich müssen mindestens 2 der 3 folgenden Zeichen einer systemischen Reaktion vorliegen: 5 Temperaturanstieg um mindestens 1°C, 5 Leukozytenanstieg im peripheren Blut um mindestens 2500/μl, 5 allgemeine Krankheitssymptome wie Gliederschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Schüttelfrost. Diagnostisch und differenzialdiagnostisch hilfreich ist der kurzdauernde Anstieg der polymorphkernigen Granulozyten in der bronchoalveolären Lavage nach Antigenexposition (auf 20–60%); im chronischen Stadium dominiert eine CD8+-Lymphozytose mit einem auf <1 verminderten CD4/CD8-Quotienten.
7.2.2 Krankheitsdefinition
Unter den Begriff der Lungengerüsterkrankungen bzw. der interstitiellen Lungenerkrankungen fallen Krankheiten mit einer sehr unterschiedlichen Ätiologie und Prognose (. Abb. 7.7). Ein nicht unwesentlicher Teil dieser Erkrankungen ist spezifisch arbeitsbedingt und wird gesondert abgehandelt. Dies betrifft v. a. die anorganischen Pneumokoniosen (Asbestose, Silikose), aber auch die exogen allergischen Alveolitiden (Farmerlunge etc.). Es kann sich jedoch durchaus auch um berufsunabhängige Erkrankungen handeln, deren Ätiologie nur teilweise bekannt ist und die zum Teil Ausdruck einer Systemerkrankung sind. Wichtig ist die weitere Aufschlüsselung der fibrosierenden interstitiellen Lungenerkrankungen v. a. aus prognostischen und damit auch therapeutischen Überle-
gungen. Bei den Systemerkrankungen sind beispielsweise die Krankheiten mit pulmorenalem Befall (Wegener-Granulomatose, Goodpasture-Syndrom usw.) zu nennen. Den vorgenannten Erkrankungen gemeinsam ist, dass sie das Lungengewebe befallen. Dies geht mit einer verlängerten Diffusionsstrecke und damit einem gestörten Gasaustausch einher. Je nach Erkrankung kann es sich um ein eher rasch progredientes Leiden (»usual interstitial pneumonia«, UIP) oder eine sehr langsam progrediente Erkrankung (unspezifische interstitielle Pneumonie, NSIP) oder auch um eine spontan remittierende Erkrankung (Sarkoidose) handeln.
Sarkoidose Die Sarkoidose ist eine multisystemische Granulomatose unbekannter Ätiologie. Am häufigsten tritt die Erkrankung im 3. Lebensjahrzehnt auf. In der Mehrzahl der Fälle sind Frauen betroffen. Bei der pulmonalen Form erfolgt international eine Einteilung nach den Röntgenveränderung in 4 Stadien (Übersicht)
Stadieneinteilung der Sarkoidose (pulmonale Form) 5 Stadium I Hiluslymphome, Lungenparenchym radiologisch frei; Spontanremission in 60–80% der Fälle 5 Stadium II Lungenparenchymbefall, Rückbildung der Hiluslymphome; Spontanremission in etwa 60% der Fälle 6
. Abb. 7.7. Einteilung der interstitiellen Lungenerkrankungen nach dem Consensus von ATS und ERS 2002
7
214
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Überdies kommen ungewöhnliche Manifestationen mit Pleuraergüssen und Einschmelzungen vor. Alle anderen Organe können ebenfalls befallen sein. Es gibt einen akuten Verlauf (Löfgren-Syndrom) mit Erythema nodosum, Fieber, Arthralgien, Senkungsbeschleunigung und fakultativ extrapulmonalem Organbefall. Diese »akute Sarkoidose« heilt zu über 90% spontan aus. Beim chronischen Verlauf entwickelt etwa jeder 5. Patient eine Lungenfibrose (Sharma 1984). Von einer chronischen Sarkoidose spricht man bei einer Krankheitsdauer von mehr als 2 Jahren.
lendem Husten, Dyspnoe, Schwächegefühl, Gewichtsverlust. Diese Symptome sind oft mit ulzerösen und granulomatösen Hautveränderungen, v. a. an den Kontaktstellen, sowie mit Rhinitis und Konjunktivitis kombiniert. Hieraus kann sich in den folgenden Tagen ein lebensbedrohliches Bild mit respiratorischer Insuffizienz entwickeln. Das Röntgenbild zeigt dabei eine diffuse, beidseitige Trübung der Lunge. Später treten weiche, fleckige, konfluierende Verschattungen mit Betonung der Lungenmittelfelder hinzu. Funktionsanalytisch fallen Hypoxämie, kombinierte obstruktiv-restriktive Ventilationsstörung und eine verminderte CO-Diffusionskapazität auf. Über der Lunge hört man feinblasige feuchte Rasselgeräusche. Unter Karenzmaßnahmen kommt es meist im Laufe von mehreren Wochen zur Ausheilung. Eine Kortikosteroidtherapie hat sich als nützlich erwiesen. In ca. 17% der Fälle entwickelt sich aus der akuten Bronchopneumonie eine chronische Berylliose.
Berylliose
Chronische Berylliose
Beryllium ist ein silberweißes, sehr leichtes, hartes Metall mit hohem Wärmeleitvermögen, das in der Raumfahrt, im Flugzeugbau, in der Elektronikindustrie und Röntgentechnik Verwendung findet. Exposition besteht im Rahmen der Berylliumextraktion, beim Einschmelzen, Gießen, Schweißen, Schneiden und Polieren von berylliumhaltigen Legierungen.
Während einer Exposition gegenüber Beryllium, aber auch noch viele Jahre danach, kann sich das klinisch und histologisch von der Sarkoidose nicht abgrenzbare systemische Krankheitsbild der chronischen Berylliose entwickeln. Dabei können geringe Mengen als Auslöser genügen. Die Beschwerden, die denen einer Sarkoidose entsprechen, bestehen in hartnäckigem Husten, allmählich zunehmender Dyspnoe, gelegentlich auch in Fieberschüben. Das Röntgenbild ergibt eine diffuse, feinfleckige, schließlich knötchenförmige Lungenzeichnung und Hiluslymphome, später Zeichen einer Lungenfibrose mit Schrumpfungen und Verziehungen. Lungenfunktionsanalytisch fallen eine verminderte CO-Diffusionskapazität, eine restriktive, im Spätstadium meist kombinierte Ventilationsstörung und eine respiratorische Insuffizienz auf. Schwere Krankheitsverläufe gehen mit einem Cor pulmonale einher. Zeichen der extrapulmonalen Manifestation sind Hautgranulome, Arthralgien, Hepato- und Splenomegalie, Hypergammaglobulinämie, Hyperkalziämie, Nephrokalzinose. Anamnese und Berylliumnachweis im Urin (noch nach vielen Jahren möglich) und im Lungengewebe belegen die stattgehabte Exposition. Der positive Ausfall des Lymphozytentransformationstests und der Nachweis des Makrophageninhibitionsfaktors sprechen mit großer Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Erkrankung. Vom Kutantest mit Beryllium wird wegen unsicherer Ergebnisse und wegen der Gefahr einer Sensibilisierung abgeraten. Der differenzialdiagnostisch verwertbare KveimTest (er ist im Gegensatz zur Sarkoidose typischerweise negativ) lässt sich wegen des nicht zur Verfügung stehenden Testextraktes in der Regel nicht durchführen.
5 Stadium III Lungenparenchymbefall, Hili unauffällig; Spontanremission in immerhin noch etwa 30% der Fälle 5 Stadium IV Lungenfibrose
> Etwa 1% der Kontaktpersonen in der Grundstoffindustrie erkrankt an Berylliose.
Der direkte Kontakt mit Beryllium führt zu Reizungen der Augen und des Atemtrakts sowie zu Dermatitis. Pathogen wirken Dämpfe und Stäube von Beryllium, sein Salz und Berylliumoxid. Als pathogenetisches Prinzip wird neben enzyminhibitorischen Wirkungen eine zellulär vermittelte Immunreaktion diskutiert. Diesbezügliche Hinweise sind eine Spätreaktion im Patch-Test mit Berylliumsalzen, der Nachweis eines Makrophageninhibitonsfaktors (MIF) sowie die vermehrte Lymphoblastentransformation nach Inkubation der Blutzellen von Berylliosekranken mit Berylliumsulfat. Luftkonzentrationen <2 μg/m3 sollen keine Gesundheitsstörungen auslösen. > Beryllium ist infolge seiner humankanzerogenen Wirkung als Kategorie (K)1-Stoff eingestuft.
Toxische Berylliumbronchopneumonie
19 20
Kennzeichnend für diese heute kaum mehr anzutreffende Erkrankungsform sind subakutes (nach mehrwöchiger oder mehrmonatiger Exposition) oder akutes (etwa 3 Tage nach einer massiven Einwirkung) Auftreten von quä-
215 7.2 Interstitielle Lungenerkrankungen
Exogen allergische Alveolitis Der exogen allergischen Alveolitis liegen Typ-III- und Typ-IV-Immunreaktionenen auf in hoher Konzentration eingeatmete organische Antigene (v. a. von Schimmelpilzsporen, thermophilen Bakterien, Staub vom Federkleid von Vögeln) zugrunde (. Tab. 7.13). Charakteristisch ist die Latenzzeit zwischen dem intensiven Antigenkontakt und dem Beschwerdebild, wobei sowohl respiratorische als auch systemische Krankheitszeichen vorliegen: Nach einem Intervall von 3–8 Stunden entwickeln sensibilisierte Personen Gliederschmerzen, Frösteln, Fieber, trockenen Husten, thorakales Beklemmungsgefühl, meist auch Atemnot. Differenzialdiagnostisch kommt dem Auskultationsbefund, nämlich den feinblasigen, vorwiegend über den Lungenunterfeldern lokalisierten feuchten Rasselgeräuschen, besondere Bedeutung zu. In der Lungenfunktionsprüfung findet sich eine restriktive Ventilationsstörung mit Verminderung der CO-Diffusionskapazität (DL,CO) und des Sauerstoffpartialdrucks. Die Körpertemperatur steigt auf 39–40°C an; sowohl im Blut als auch in der bron-
choalveolären Lavage ist eine Granulozytose nachweisbar. Nur sehr schwere akute Reaktionen gehen mit röntgenologisch fassbaren Fleckschatten oder einer diffusen milchglasartigen Trübung der Lunge einher. 24–48 Stunden später sind die Befunde wieder normalisiert. Besteht die Exposition fort, entwickelt sich ein chronisches Stadium mit Lungenfibrose, respiratorischer Insuffizienz, allgemeiner Leistungsminderung und Gewichtsabnahme, in der Röntgenaufnahme fällt eine retikuläre Zeichnungsvermehrung der Lunge auf. Das schwere akute Krankheitsbild erfordert die systemische Gabe von Kortikosteroiden, in schweren Schüben vorübergehend auch die Applikation von Sauerstoff. Subchronische und chronische Stadien sind nur durch strikte Antigenkarenz zu unterbrechen; Kortikosteroide verändern die Prognose nicht.
Aluminose und Korundschmelzerlunge Aluminium ist ein silberfarbenes, korrosionsbeständiges, gut wärme- und stromleitendes, weiches und sehr leichtes Material. Lungenerkrankungen werden durch metal-
. Tab. 7.13. Exogen allergische Alveolitiden Krankheiten
Antigene
Antigenreservoir, Exposition
Farmerlunge
Thermophile Aktinomyzeten, Aspergillen
Heustaub
Vogelhalterlunge
(Glyko)proteine
Staub des Federkleides und Exkremente von Tauben, Ziervögeln
Befeuchterlunge
Verschiedene Schimmelpilze und Bakterien
Kontaminierte Klimaanlagen und Luftbefeuchter
Schwimmbadlunge
Mycobacterium avium complex
Vernebeltes Whirlpool-, Schwimmbadwasser
Zimmerspringbrunnenalveolitis
Verschiedene Schimmelpilze und Bakterien
Vernebeltes Springbrunnenwasser
Maschinenarbeiterlunge
Mykobakterien u. a.
Kontaminierte vernebelte, flüssige Kühlschmierstoffe
Bagassose
Thermoactinomyces sacchari
Schimmelige Bagasse (Zuckerrohrfasern)
Malzarbeiterlunge
Aspergillus clavatus, Mucor mucedo
Schimmelige Gerste
Pilzarbeiterlunge
Thermophile Aktinomyzeten
Pferdekompost, Speisepilze
Pilzsporenalveolitis
Speisepilzsporen
Austernseitlingesporen u. a.
Käsewascherlunge
Penicillium casei und glaucum
Schimmel auf Käselaiben
Obstbauerlunge
Penicillium-Spezies, Aspergillus-Spezies
Schimmel in Lagerhallen
Suberose
Penicillium frequentans
Schimmeliger Korkstaub
Sequoiose
Aureobasidium, Graphia u. a.
Sägemehl des Mammutbaums
Holz-, Papierarbeiterlunge
Schimmelpilze
Schimmeliges Sägemehl, Papierstaub
Ahornrindenschälerkrankheit
Cryptostroma corticale
Verschimmelte Baumrinde
Perlmuttalveolitis
Proteine der Muschelschale
Muschelschalenstaub (Schmuckindustrie)
Isocyanatalveolitis
MDI, HDI, TDI, IPDI, NDI und Derivatea
Schaumstoffherstellung, Lackierarbeiten u. a.
a MDI = Diphenylmethandiisocyanat, HDI = Hexamethylendiisocyanat, TDI = Toluylendiisocyanat, IPDI = Isophorondiisocyanat, NDI = Naphthylendiisocyanat.
7
216
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Kapitel 7 · Respirationstrakt
lisches Aluminiumpulver und durch Aluminiumoxid verursacht. Expositionen bestehen bei der Herstellung von Korund (Al2O3) aus Bauxit und reiner Tonerde im Lichtbogenofen (Dämpfe und Rauch), bei der Sprengstoffproduktion, beim Feinstampfen, Sieben, Mischen (Feinstaub) und Schweißen von Aluminium. Frühestens nach 3-monatigem intensivem Kontakt treten Husten, Thoraxschmerzen und eine zunehmende Belastungsdyspnoe auf. Die Auskultation ergibt feuchte und trockene Rasselgeräusche. Meist ist eine kombinierte Ventilationsstörung mit verminderter CO-Diffusionskapazität festzustellen. Die Röntgenaufnahme des Thorax zeigte eine diffuse interstitielle Fibrose, die eine Schrumpfungstendenz aufweist. Knötchen sind nicht erkennbar. Im fortgeschrittenen Stadium beobachtet man ein ausgedehntes bullöses Emphysem, das zu rezidivierenden Spontanpneumothoraces führen kann. Histologisch findet man ein dichtes, kollagenfaseriges Bindegewebe. In den Alveolarmakrophagen und im Interstitium können Aluminiumpartikel nachgewiesen werden. Schwere Verlaufsformen gehen in ein chronisches Cor pulmonale über. Von der Aluminose abzugrenzen ist das in Aluminiumschmelzereien beobachtete Potroom-Asthma.
20
Siderose (Hämatitstaublunge) Die Siderose entsteht durch Einatmen von Eisen- oder Eisenoxidstäuben im Erzbergbau und in der eisenverarbeitenden Industrie. Die reine Hämatitstaublunge verursacht in der Regel nur wenige Beschwerden. Auch eine langjährige Exposition induziert nur eine geringgradige Fibrose. Im auffallenden Gegensatz hierzu steht die retikulonoduläre Zeichnungsvermehrung der Lunge auf dem Röntgenbild, welche sich unter Karenz wieder langsam zurückbildet. Eine gleichzeitige Exposition gegenüber Quarzstaub führt zur sog. Siderosilikose, die der Anthrakosilikose gleicht. Möglicherweise potenziert der Hämatitstaub die fibroblastischen Eigenschaften des Quarzes.
Lungenfibrose der Schweißer Hartmetalllunge Die Hartmetalllunge, eine Lungenfibrose, wird durch Karbide und Oxide, v. a. von Wolfram, Kobalt, Titan, Tantal, Molybdän, Chrom und Vanadium hervorgerufen. Eine Exposition gegenüber Stäuben, Dämpfen und Rauchen derartiger Hartmetalle besteht beim Mahlen und Mischen, beim metallurgischen Verhüttungsprozess in Schmelzöfen, im Rahmen der Roh- sowie Feinbearbeitung (z. B. Werkzeugfabrikation). Die uncharakteristischen Beschwerden umfassen chronischen Husten, Auswurf und Belastungsdyspnoe. Die Lungenfunktion ist meist im Sinne einer restriktiven, seltener einer kombinierten Ventilationsstörung verändert. Histologisch imponieren im Lungengewebe desquamative Entzündungsreaktionen unter Beteiligung von Riesenzellen und fibrotische Veränderungen. Die Röntgenaufnahme der Lunge zeigt kleine lineare und rundliche, z. T. konfluierende Schatten. Das Krankheitsgeschehen kommt unter rechtzeitigen Karenzmaßnahmen zum Stillstand. Ansonsten ist mit einer Progression zu rechnen. Die Diagnose beruht auf Anamnese und Röntgenthorax, in Zweifelsfällen kann sie durch Hartmetallanalysen (z. B. Kobalt) im Lungengewebe unterstützt werden (Normwerte von Kobalt bis ca. 5 μg/kg Nassgewicht).
Zahntechnikerlunge
19
tin, Kobalt, Chrom, Molybdän, Nickel, Aluminium, Silikate und keramische Materialien. Nach neueren Untersuchungen weisen Zahntechniker überhäufig eine pathologische Lungenzeichnung im Röntgenbild auf. Auch Silikosen und Asbestosen wurden beobachtet. Höhergradige, funktionell wirksame Fibrosen treten nur vereinzelt und nur nach langjähriger und hoher inhalativer Exposition auf.
Abstrahlen, Schleifen und Polieren von Zahnprothesen geht mit der inhalativen Aufnahme von Stäuben der verschiedenen Arbeitsmaterialien einher; u. a. handelt es sich um Quarz, Polymethacrylsäuremethylester, Gold, Pla-
Mehrere Publikationen und eigene Beobachtungen belegen, dass Schweißrauche und -gase lokal entzündliche Effekte und nach extremer und langjähriger Einwirkung, z. B. in engen Räumen, eine Lungenfibrose hervorrufen können. In Lungengewebeproben sind neben Eisenablagerungen u. a. Nickel, Fluorid und Chrom festzustellen. Funktionell imponiert eine restriktive Ventilationsstörung. Es handelt sich um eine Berufskrankheit. Obstruktive Atemwegserkrankungen, die von der Lungenfibrose der Schweißer zu unterscheiden sind (Asthma bronchiale), treten nach langjähriger Schweißertätigkeit ebenfalls auf (sie sind der BK Nr. 4302 BKV zuzuordnen).
Anthrakose Es handelt sich um eine Ablagerung von Rußpartikeln, reinem, amorphem und inertem Kohlenstoff in der Lunge. Eine stärkere Exposition findet im Kohlenbergbau statt. Relevante pulmonale Beeinträchtigungen werden hierdurch in der Regel nicht hervorgerufen. Ruß weist infolge seines Gehaltes an kanzerogenen Substanzen (PAH) ein zusätzliches Gesundheitsrisiko auf.
Weitere benigne Pneumokoniosen Hierunter versteht man Pneumokoniosen, die aufgrund von Schwermetalleinlagerungen mit röntgenologischen Veränderungen, in der Regel aber nicht mit wesentlichen Krankheitssymptomen, funktionellen Störungen oder einem höhergradigen fibrotischen Lungenumbau einhergehen. Die wichtigsten ursächlichen Substanzen sind: Antimon (Antimonpneumokoniose), Barium (Baritose),
217 7.2 Interstitielle Lungenerkrankungen
Cer (Cerpneumokoniose), Kaolin (Kaolinlunge), Ockererde (Ockerlunge), Zinn (Stannose).
ten und Lunge, auch z. B. Leber, Milz, Herz, Augen, ZNS, Haut).
Paraquatlunge Das Unkrautvertilgungsmittel Paraquat (Gramoxone) verursacht nach inhalativer Aufnahme eine Bronchitis und pneumonische Infiltrate mit sekundärer Lungenfibrosierung. Perorale Intoxikationen kommen durch Verwechslung und im Rahmen von Suiziden vor. Einige Tage nach Kontakt treten zunehmende Luftnot, respiratorische Insuffizienz und oft ein Multiorganversagen auf. Auch eine perkutane Aufnahme ist möglich; dabei zeigen sich Erytheme und Ulzerationen an den Kontaktstellen. Die Akuttherapie zielt auf die Verhinderung der gastrointestinalen Adsorption durch Gabe von Aluminiumsilikat oder Aktivkohle. Ansonsten ist eine symptomatische Behandlung, z. B. Flüssigkeitssubstitution, angezeigt.
Kommentar Bei einem chronischen Verlauf mit klinischen Aktivitätszeichen und Auswirkungen auf den Allgemeinzustand kann auch ohne Funktionseinschränkung ein GdB/MdE-Wert von bis zu 30% angesetzt werden.
Funktionseinschränkungen betroffener Organe sind zusätzlich zu berücksichtigen. Bei Defektzuständen entspricht die Bewertung den funktionellen Ausfallserscheinungen.
7.2.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten 7.2.3 Fragen zum Zusammenhang
Konkrete und auf einzelne Krankheiten bezogene Zusammenhangsfragen sind bereits bei den Krankheitsdefinitionen (7 Kap. 7.2.2) abgehandelt, da es Überschneidungen zwischen Fragen zum Zusammenhang und der Krankheitsdefinition gibt. Beispiele sind die differenzialdiagnostische Abgrenzung nicht arbeitsbedingter Erkrankungen, etwa verschiedener Formen der exogen allergischen Alveolitiden, ferner der Sarkoidose und von der ein identisches klinisches Bild aufweisenden Berylliose.
7.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Die Bewertung erfolgt v. a. nach den Funktionseinschränkungen, die im Wesentlichen einem restriktiven Muster, teilweise aber auch zusätzlich einem obstruktiven Muster folgen. > Die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit wird am besten spiroergometrisch beurteilt.
Die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit hängen vom Ausmaß des Funktionsschadens ab, zu messen an 5 der Schwere einer Restriktion, 5 der Erniedrigung der Diffusionskapazität, 5 der ergometrischen Belastbarkeit mit eventueller Belastungshypoxämie, 5 den Folgeerkrankungen wie einer pulmonalen Hypertonie, Cor pulmonale und Rechtsherzinsuffizienz. Bei der Sarkoidose richtet sich der GdB/MdE-Wert nach der aktuellen Krankheitsaktivität, ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und den Einschränkungen verschiedener Organfunktionen (thorakale Lymphkno-
Die Berufsausübung kann einerseits durch das Ausmaß der geforderten körperlichen Belastung eingeschränkt sein. Andererseits limitiert ein spezifisches Sensibilisierungsmuster bei der exogen allergischen Alveolitis die Ausübung von Tätigkeiten mit entsprechender Exposition.
7.2.6 Risikobeurteilung
Die Prognose ist je nach Krankheitsbild sehr unterschiedlich, weshalb eine möglichst genaue Abklärung erfolgen sollte. Beispielsweise hat die Sarkoidose quoad vitam und auch bezüglich Funktionseinschränkung eine günstige Prognose. Entsprechendes gilt für exogen allergische Alveolitiden bei frühzeitiger Karenz. Im Gegensatz dazu hat eine idiopathische pulmonale Fibrose vom Typ »usual intersitial pneumonia« (UIP) eine ungünstige Prognose. Meist ist dies eine irreversibel progrediente, medikamentös nicht beeinflussbare Erkrankung, die nur durch eine Lungentransplantation behandelt werden kann.
7.2.7 Sonderfragen
Die Sarkoidose und die frühzeitig diagnostizierte exogen allergische Alveolitis haben eine gute Prognose, sodass in der Regel kein Ausschluss von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst gegeben ist. Eine UIP stellt meist einen Ausschlussgrund dar. Systemerkrankungen nehmen in Abhängigkeit von ihrem Ansprechen auf die Therapie und ihrem Verlauf eine Zwischenstellung ein.
7
218
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Beeinflussung anderer Erkrankungen
1 2 3 4
Ungewöhnliche Verlaufsformen, z. B. der Sarkoidose, mit ausgeprägten Symptomen, aber auch Systemerkrankungen und ein Teil der idiopathischen Fibrosen ergeben die Notwendigkeit einer langfristigen Steroidtherapie oder einer weitergehenden immunsuppressiven Therapie mit Nebenwirkungen. Deshalb kann ein Diabetes mellitus manifest werden, oder es kommt zu einer Verstärkung eines arteriellen Hypertonus, einer Katarakt etc.
Wehrdienst
6
Eine schwer verlaufende interstitielle Lungenerkrankung mit funktioneller Einschränkung schließt die Ableistung des Wehrdienstes aus. Dies kann auch für die Sarkoidose gelten, wenn z. B. bei kardialem Befall bedrohliche Rhythmusstörungen bestehen.
7
7.3
5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Infektionskrankheiten
7.3.1 Diagnostik
Grundsätzlich gelten für die Diagnostik der Infektionskrankheiten der möglichst zu führende Nachweis des Erregers und die Bestimmung des Schweregrades, der Funktionseinschränkung und die prognostische Bewertung. > In der Begutachtungspraxis am wichtigsten ist die Tuberkulose, die deshalb als pars pro toto hier dargestellt wird.
Tuberkulose Die Tuberkulose betrifft meistens die Lungen. Es gibt auch eine Reihe extrapulmonaler Manifestationen. In der Regel entwickeln sich langsam progrediente Symptome wie Leistungsminderung, Nachtschweiß, Gewichtsabnahme und Husten. Hämopthysen, pleuritische Beschwerden oder eine Belastungsdyspnoe aufgrund eines Pleuraergusses sind nicht selten erster Anlass der spezifischen Diagnostik. Ein aktiver tuberkulöser Prozess liegt vor bei 5 mikroskopischem oder kulturellem Nachweis von Tuberkulosebakterien, 5 histologischen Krankheitszeichen, z. B. an einer Pleurastanze oder Lymphknoten, wobei möglichst auch eine Kultur angelegt werden sollte, 5 indirektem Nachweis, z. B. durch eine röntgenmorphologisch typische Dynamik. > Der Tuberkulinhauttest ist bei negativem Vorbefund ein wesentliches diagnostisches Verfahren, wenn ein klinischer Verdacht auf Tuberkulose bzw. eine entsprechende Infektion besteht. Neue Interferon-γ-Release-Assays haben eine höhere Spezifität und Sensitivität als der Tuberkulinhauttest.
Seit August 2005 ist das von der WHO als Referenztuberkulin empfohlene dänische Hauttest-Präparat PPD RT 23 in Deutschland zugelassen. Aufgrund der Kreuzreaktivität mit BCG und Umweltmykobakterien sind falsch positive Reaktionen möglich. Deshalb sollte eine Bestätigung mit einem neuen Interferon-γ-Release-Assay aus sensibilisierten T-Lymphozyten (T SPOT-TB-Test und QuantiFERON-TB Gold) erfolgen. Die Verfahren haben eine höhere Spezifität als der Tuberkulinhauttest, da sie Mycobacterium-tuberculosis-spezifische Antigene verwenden (keine Kreuzreaktion mit BCG-Stämmen). Die Sensitivität ist ebenfalls höher. Sie lassen sich auch mit Lymphozyten aus der bronchoalveolären Lavageflüssigkeit und Pleuraflüssigkeit durchführen. Dabei kann sehr schnell bei höherer Sensivität als mittels Ausstrich eine Diagnose gestellt werden. Mit dem DNA-Fingerprint ist neuerdings eine molekulare Typisierung einzelner Stämme von Mycobacterium tuberculosis möglich. Das Verfahren eignet sich zur Differenzierung einer Reaktivierung einer Tuberkulose und einer exogenen Reinfektion, vorausgesetzt, die frühere, ausreichend behandelte Tbc-Erkrankung bzw. eine Indexperson, die Ursprung einer Mikroepidemie war, wurden ebenfalls auf diese Weise untersucht. Hierbei wird aus der Bakterienkultur DNA extrahiert und analysiert. Der Tuberkuloseschnelltest (TB-ST) misst Antikörper im Blut, er ist billig, und das Ergebnis steht in 10– 15 Minuten zur Verfügung. Seine Spezifität wird mit nahezu 100% angegeben, er bedarf jedoch einer mikrobiologischen Bestätigung. Seine Sensitivität ist allerdings gering (ca. 40%). Für den raschen und sicheren Nachweis der offenen Tuberkulose ist die PCR in Kombination mit dem mikroskopischen Nachweis von Tuberkelbakterien geeignet. Dennoch ist für die endgültige Diagnose der kulturelle Nachweis, möglichst mit Resistenzbestimmung, erforderlich.
7.3.2 Krankheitsdefinition
Infektiöse Erkrankungen betreffen die akute Bronchitis, die Pneumonie und Bronchopneumonie und die Tuberkulose. Gutachterliche Fragestellungen hinsichtlich Ansteckungsfähigkeit, Einschränkung der Arbeitsfähigkeit und Folgeschäden (z. B. Wehrdienstbeschädigung) ergeben sich im Wesentlichen bei der Tuberkulose.
Pneumonie Die Pneumonie ist nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (2000) durch das Hauptkriterium »neu aufgetretenes Infiltrat im Röntgenbild des Thorax« und mindestens 2 der folgenden Nebenkriterien gekennzeichnet:
219 7.3 Infektionskrankheiten
5 5 5 5 5
Fieber ≥38,5°C oder Hypothermie ≤36,5°C, Leukozytose >10.000/μl oder Leukopenie <4.000/μl, purulentes Sputum, physikalische Zeichen der Pneumonie, Nachweis eines typischen Erregers.
Die Pneumonie heilt bei adäquater Behandlung in der Regel ohne wesentlichen Funktionsverlust aus. In seltenen Fällen treten Komplikationen wie das »acute respiratory distress syndrome« (ARDS) oder ein Pleuraempyem hinzu. Als Folgen können eine restriktive Ventilationsstörung und eine Diffusionsstörung resultieren.
Lungentuberkulose Klinische Hinweise auf einen aktiven tuberkulösen Prozess sind reduzierter Allgemeinzustand, Gewichtsabnahme, bronchitische Beschwerden, seltener hämorrhagisches Sputum. Laborchemisch zeigen sich uncharakteristische Entzündungszeichen. Diagnostisch sind neben dem röntgenologischen Befund der mikrobiologische oder radiometrische Nachweis von Tuberkulosebakterien in Sputum, Bronchialsekret oder Magenspülflüssigkeit, das positive Ergebnis des Interferon-γ-Release-Assays und v. a. die kulturelle Bestätigung von Bedeutung. Der Nachweis von atypischen Mykobakterien erfüllt in der Regel nicht die Voraussetzung für die Anerkennung einer BK Nr. 3101. Gefährdet hinsichtlich einer Tuberkulose im Sinne einer Berufskrankheit sind 5 Beschäftigte im Gesundheitsdienst, 5 Beschäftigte in der Wohlfahrtspflege und im medizinischen Labor (Infektionsweg Mensch–Mensch; BK Nr. 3101), 5 Tierärzte und Landwirte [Infektionsweg Tier (meist Rind) –Mensch; BK Nr. 3102] und Personen mit Silikose (aktive Silikotuberkulose; BK Nr. 4102). Hinsichtlich der BK Nr. 3101 kommt versicherungsrechtlich der Identifizierung der Infektionsquelle und dem Zeitpunkt der Infektion eine besondere Bedeutung zu. Von einer Primärinfektion im Sinne der BK ist auszugehen, wenn vor Beginn der Beschäftigung kein Hinweis auf eine Tuberkulose vorlag (unauffällige Röntgenaufnahme des Thorax, negativer Tuberkulintest bzw. Interferon-γBluttest, 7 Kap. 7.1.2 »Diagnostik«), die Erkrankung neu aufgetreten ist und hiermit in schlüssigem zeitlichem Zusammenhang eine Ansteckungsquelle (Indexperson) im Arbeitsbereich belegt werden kann (Latenzzeit mindestens 6 Wochen).
Kommentar Dabei lässt sich heute mittels DNA-Fingerprinting zuverlässig der Infektionsweg verfolgen.
Bei den folgenden Beschäftigten ist auch ohne Indexperson von der gegebenen arbeitstechnischen Voraussetzung auszugehen (Beweislasterleichterung): 5 Beschäftigte auf Tbc-Stationen, in Lungenfachkliniken und -praxen (auch Physiotherapeuten mit Atemtherapie, wenn sie in diesen Einrichtungen arbeiten) und Beschäftigte in Labors, die Sputumproben untersuchen, 5 Beschäftigte auf Infektionsstationen, 5 durchführendes und assistierendes Personal bei Bronchoskopie, Kehlkopfspiegelung und Notfallintubation, 5 durchführendes und assistierendes Personal in Sektionen der Pathologie, Rechtsmedizin, 5 Beschäftigte in Notaufnahmen, bei Rettungsdiensten, 5 Personal bei Betreuung von Hochrisikogruppen (HIV-Patienten, Drogen- und Alkoholabhängige, Gefängnisinsassen, Obdachlose, Immigranten aus Ländern mit hoher Inzidenz), 5 Personen bei Auslandseinsätzen in Gebieten mit bekannter hoher Tbc-Inzidenz. Auch die Tuberkulose von Kindern in Kindergärten, Schülern und Studenten zählt zur BK Nr. 3101, soweit die Erkrankung mit Betreuungs- , Ausbildungsaufenthalten oder Studium zusammenhängt. Für die Anerkennung einer Primärtuberkulose als Wehrdienstbeschädigung ist der Nachweis der Infektionsquelle nicht unbedingt erforderlich. Die Primärtuberkulose muss aber während der Zeit der Ableistung des Wehrdienstes aufgetreten sein. Versicherungsrechtlich spielen Spätschäden der Tuberkulose auch in der Kriegsopfer- und Soldatenversorgung sowie im Rahmen des Schwerbehindertenrechts eine Rolle, wobei hier in der Regel die Versorgungsämter Kostenträger sind (Ausnahmen bilden versicherte Bergleute, für die die Bundesknappschaft zuständig ist, und Landwirte, bei denen landwirtschaftliche Alterskassen die Kosten tragen). Abgesehen hiervon werden die Kosten der Behandlung und Rehabilitation von den Rentenversicherungen und nicht von den Krankenversicherungen getragen. Bei Personen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Rentenversicherung fallen, übernimmt die Sozialbehörde die Kosten (Fritze u. Mai 1996).
Kommentar Zu beachten ist, dass eine Tuberkuloseinfektion auch den Tatbestand eines Arbeitsunfalles darstellen kann (Auslösung der Erkrankung innerhalb einer Arbeitsschicht, z. B. bei zeitlich genau eruierbarer einmaliger Aspiration infektiösen Materials).
7
220
1 2 3
Kapitel 7 · Respirationstrakt
7.3.3 Fragen zum Zusammenhang
7.3.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Die BK-Nummern 3101, 3102 und 4102 beziehen sich auf einen bestimmten Personenkreis mit beruflich besonders hoher Infektionsgefährdung (im Einzelnen 7 Kap. 7.3.2). Auch die Tuberkulose kann eine Berufskrankheit darstellen. Sie ist außerdem in der Kriegsopfer- und Soldatenversorgung sowie im Rahmen des Schwerbehindertenrechts gutachterlich von Relevanz.
Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten
4 7.3.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Solange Ansteckungsfähigkeit (z. B. Ausscheidung von Tuberkelbakterien) vorliegt, ist ein GdB/MdE von 100% zu veranschlagen. Nach Sputumkonversion ist die Einschränkung abhängig vom Allgemeinzustand, von der Funktionseinschränkung und von Nebenwirkungen der Chemotherapie. Während der Chemotherapie wird in der Regel ein GdB/MdE von 20–30% veranschlagt, danach hängt die Höhe von zurückbleibenden Defekten und von eventuellen Therapieschäden (Sehstörungen, Hör- und Gleichgewichtstörungen, Hepatitis) ab. Eine noch bestehende Ansteckungsfähigkeit bei Tuberkulose (Bakterienausscheidung) hat einen GdB/MdE von 100% zur Folge; nach Sputumkonversion sind die Einschränkungen entsprechend Defektwert und der »Befindensstörung durch Chemotherapie« einzuschätzen (oft mit 20%). Nach Beendigung der Behandlung besteht ein GdB/MdE nur bei Defektheilung, z. B bei 5 funktionell relevanter Pleuraschwarte, 5 Bronchiektasien, 5 Zustand nach Resektion und Therapieschäden (z. B. Hepatitis, Hör- und Gleichgewichtsschäden, Sehstörung). Volle und teilweise Erwerbsunfähigkeit kommen heute nur in Einzelfällen in Betracht, z. B. bei chronischen Tuberkelausscheidern oder sehr schwergradigen Lungenfunktionseinschränkungen und Folgeschäden. Im Schwerbehindertenrecht kann Ansteckungsfähigkeit nur berücksichtigt werden, wenn sie nicht nur vorübergehend ist (Dauer mehr als 6 Monate). Eine behandlungsbedürftige, nicht ansteckungsfähige (geschlossene) Tuberkulose ohne Einschränkung der Lungenfunktion und ohne Nebenwirkungen wirkt sich nicht auf den GdB/ MdE aus. Funktionseinschränkungen der Lungen mittleren und schwereren Grades werden nach den Kriterien von . Tab. 7.6 zusätzlich bewertet. Auch bei der tuberkulösen Pleuritis richtet sich der GdB/MdE nach den Folgeerscheinungen.
Während der akuten Erkrankung kann eine Arbeitsunfähigkeit begründet sein durch 5 spezielle Beschwerden wie Hämoptoe oder Fieber, 5 allgemeine Leistungsminderung, 5 Einschränkung der Lungenfunktion, 5 Ansteckungsfähigkeit, 5 Medikamentennebenwirkungen (z. B. INH-bedingte Störungen des pripheren und zentralen Nervensystems). Bei leichteren Formen sind eine Leistungsminderung und Einschränkung der Lungenfunktion selten. Die medikamentöse Therapie begründet für sich allein keine Arbeitsunfähigkeit. Eine gering ausgedehnte, nicht ansteckungsfähige Tuberkulose muss deshalb keine Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen. Es wird jedoch empfohlen, häufige schwere erschöpfende körperliche Belastungen zu vermeiden. > Ansteckungsfähigkeit begründet Arbeitsunfähigkeit.
Diskrepante Auffassungen dazu, wann diese nicht mehr vorliegt, können sich aus der unterschiedlichen Bewertung eines »Restrisikos« und aus einem anderen Blickwinkel beim Abwägen eines Infektionsrisikos gegenüber den Interessen des Betroffenen ergeben. In den Empfehlungen wird ausdrücklich auf eine erforderliche Güterabwägung hingewiesen. Anzustreben ist, zwischen dem behandelnden Arzt, dem Arzt des Gesundheitsamtes und, falls beteiligt, dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) einen Konsens herzustellen. In der Regel ist wenige Wochen nach dem Beginn einer regelrechten Behandlung die Zahl und Virulenz der ausgeschiedenen Keime derart reduziert, dass unabhängig von dem färberischen oder kulturellen Nachweis nicht mehr von Ansteckungsfähigkeit auszugehen ist.
Kommentar Aus Gründen der Sicherheit ist jedoch die Sputumnegativierung abzuwarten. Aus Sicht des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose reichen 3 färberisch negative Sputen nach Beginn einer wirkungsvollen Therapie aus.
7.3.6 Risikobeurteilung
Die Prognose der infektiösen Erkrankungen der Atemwege und der Lungen einschließlich der Lungentuberkulo-
221 7.4 Tumorerkrankungen der Lunge
se und der extrapulmonalen Tuberkulose ist bei adäquater Therapie heutzutage günstig. Ganz überwiegend sind keine wesentlichen bleibenden Einschränkungen zu erwarten.
führen. Auch die Interaktion von antiinfektiösen Medikamenten mit sonstigen Medikamenten ist zu beachten.
7.4
Tumorerkrankungen der Lunge
7.3.7 Sonderfragen
7.4.1 Diagnostik
Die infektiösen Erkrankungen akute Bronchitis, Pneumonie und Bronchopneumonie und auch die Tuberkulose sind adäquat behandelbar. Sie haben meist keinen wesentlichen bleibenden Funktionsverlust und eine gute Prognose und stellen daher in der Regel keinen Ausschluss von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst dar. Während der akuten Krankheitsphase gelten die in 7 Kap. 7.3.5 angeführten Einschränkungen.
Der Krebs der Atmungsorgane muss histologisch oder zytologisch gesichert sein. In der Regel erfolgt deshalb nach bildgebenden Verfahren rasch die Bronchoskopie mit Probenentnahme. Periphere Karzinome sind oft auch einer transthorakalen Punktion zugänglich. Bei Vorliegen eines Pleuraergusses kann die Diagnostik über Punktion desselben, blinde Pleurabiopsie und internistische Thorakoskopie durchgeführt werden. Bei einem metastasierenden Leiden ist evtl. auch an Metastasen eine histologische/zytologische Untersuchung und Diagnosesicherung möglich. Im Zweifelsfalle sollte bei therapeutischen Konsequenzen eine chirurgische Diagnosesicherung angestrebt werden.
Ausschluss von Gemeinschaftseinrichtungen bei Tuberkulose Das Gesundheitsamt muss gegenüber Personen, die beruflich in Schulen zu tun haben, nach § 45 des Bundesseuchengesetzes bei einer ansteckungsfähigen Tuberkulose (und dem begründeten Verdacht darauf) ein Berufsausübungsverbot aussprechen. Praktiziert wird dies auch bei anderen Personen, die beruflich Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben. Das gleiche gilt sinngemäß für die Besucher der Einrichtungen. Nach § 38 des Bundesseuchengesetzes kann das Gesundheitsamt auch die Ausübung »bestimmter«, gesetzlich nicht näher definierter Tätigkeiten untersagen. Das Gesundheitsamt hat hier eine weitreichende Handhabe, bestimmte Tätigkeiten (insbesondere im Fall einer Uneinsichtigkeit) zu verbieten. Für Personen, die einem Ausübungsverbot unterliegen, ist eine Entschädigung vorgesehen. Nach den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts ist ein initial ansteckungsfähiger Erwachsener unter antituberkulöser Therapie mindestens 3 Wochen von Gemeinschaftseinrichtungen auszuschließen. Voraussetzung für ein Aufheben des Verbots ist eine Rückbildung eventuell vorhandener klinischer Krankheitszeichen und eine nicht mehr vorliegende Ansteckungsfähigkeit. Letzteres kann bei 3 färberisch negativen Untersuchungen aus dem Sputum, Bronchialsekret oder Magensaft angenommen werden. Eine radiologische Regredienz wird nicht gefordert. Bei Kindern unter 8 Jahren kann bei nichtkavernöser Tuberkulose auf die genannten bakteriologischen Befunde verzichtet werden, sofern es unter Therapie zu einer deutlichen klinischen Besserung gekommen ist.
Beeinflussung anderer Erkrankungen Infektiöse Erkrankungen der Atmungsorgane können eine vorbestehende Einschränkung des kardiovaskulären Systems oder auch eine obstruktive Lungenerkrankung erheblich verschlechtern und zu akuten Exazerbationen
Kommentar Eine Anerkennung einer Tumorerkrankung als Berufskrankheit ohne eine histologische/zytologische Sicherung, z. B. durch Verlaufsmerkmale bei nicht mehr zumutbarer Diagnostik, setzt einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad voraus. Der Ausgang vom respiratorischen Organ sollte nachgewiesen bzw. ausgeschlossen werden. Eine Lungenmetastase ist mit zumutbaren Maßnahmen auszuschließen.
Nach Sicherung der Diagnose und Feststellung des Ausbreitungsgrades des Tumors und entsprechender Stadieneinteilung wird unter Zuhilfenahme der Funktionsdaten ein Therapieplan aufgestellt.
7.4.2 Krankheitsdefinition
Lungenkarzinom Das Lungenkarzinom wird ganz überwiegend durch langjähriges inhalatives Zigarettenrauchen verursacht. Weitere Risikofaktoren stellen eine familiäre Belastung, Passivrauchen und eine Radonbelastung im Wohnbereich dar. Auf die berufliche Entstehung wird gesondert eingegangen. Auch die Adenokarzinome der Nasenhaupt- und -nebenhöhlen durch Stäube von Eichen- und Buchenholz werden gesondert abgehandelt. Die Therapie im lokal begrenzten frühen Stadium des nichtkleinzelligen Karzinoms besteht in einer chirurgischen Resektion. Eine adjuvante Chemotherapie ist im
7
222
1 2 3 4 5 6
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Stadium II und IIIA prognoseverbessernd. Im lokal fortgeschrittenen Stadium ist die Kombination von Chemotherapie und Strahlentherapie sinnvoll. Beim metastasierten Lungenkarzinom wird heute in der Regel eine palliative Chemotherapie durchgeführt. Beim kleinzelligen Lungenkarzinom steht aufgrund des systemischen Charakters der Erkrankung die Chemotherapie im Vordergrund, wenngleich im lokal begrenzten Stadium Strahlentherapie und z. T. auch Chirurgie additiv zum Einsatz kommen.
Mesotheliom und beruflich bedingtes Lungenkarzinom > Mesotheliome sind praktisch immer Folge einer Jahrzehnte zurückliegenden Asbesteinwirkung, wobei eine nur kurzzeitige Exposition ausreichend gewesen sein kann.
17
Im Gegensatz zum asbestinduzierten Lungenkarzinom ist keine Dosisabhängigkeit des Mesotheliomrisikos festzustellen. Diese bisher meist nicht kurativ angehbaren Tumoren des Rippenfells, seltener des Bauchfells und des Herzbeutels, sind bei stattgehabter beruflicher Asbestexposition von Seiten der Unfallversicherung zu entschädigen. Das Lungenkarzinom ist der häufigste bösartige Tumor des Mannes und der zweithäufigste der Frau (16 bzw. 8% aller Krebstoten). Es dominiert das Plattenepithelkarzinom, gefolgt von dem Adenokarzinom, dem zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits multifokalen kleinzelligen Karzinom, dem großzelligen Karzinom und dem kombinierten adenosquamösen Karzinom. 80–85% der Lungenkarzinome gehen auf inhalatives Zigarettenrauchen zurück; es besteht diesbezüglich eine Dosis-Wirkungs-Beziehung. . Tab. 7.14 zeigt abeitsbedingte Noxen, die die Entstehung von Krebs am Respirationstrakt, v. a. von Lungenkarzinomen, begünstigen können. Nach der derzeit gültigen Liste der Berufskrankheiten können Lungenkarzinome (Lungenkrebs) und andere maligne Neubildungen entschädigt werden, wenn durch die versicherte Tätigkeit eine wesentlich erhöhte Gefährdung infolge Exposition gegenüber den in . Tab. 7.15 aufgelisteten kanzerogenen Substanzen vorliegt. Hierzu zählt auch die intensive Exposition gegenüber quarzhaltigen Stäuben, da sie mit einem erhöhten Lungenkarzinomrisiko verbunden ist; bei Vorliegen einer Silikose ist das Risiko etwa 2- bis 4-fach erhöht.
18
> Synkanzerogenese ist das Zusammenwirken mehrerer krebsauslösender Noxen.
19
Die gleichzeitige oder aufeinanderfolgende Einwirkung mehrerer dieser Noxen führt in der Regel zu einer mindestens additiven Risikozunahme (Synkanzerogenese). Das Zusammenwirken von Asbest und polyzyklischen aroma-
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
20
. Tab. 7.14. Abeitsbedingte Noxen, die die Entstehung von Krebs am Respirationstrakt, v. a. von Lungenkarzinomen, begünstigen können (Eingruppierung der Senatskommission zur Beurteilung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe). (Nach Greim 2007) Substanz
K-Klassifikation
Asbest
K1-Stoff
Antimon und seine anorganischen Verbindungen (Ausnahme: Antimonwasserstoff )
K2-Stoff
Arsensäure und ihre Salze
K1-Stoffe
Beryllium und seine anorganischen Verbindungen
K1-Stoff
Bis(chlormethyl)ether
K1-Stoff
Buchenholzstaub
K1-Stoff
Chrom (VI-)Verbindungen
K2-Stoff
Dichlordiethylsulfid, Senfgas
K1-Stoff
Cadmium und seine anorganischen Verbindungen
K1-Stoff
Dieselmotoremissionen
K2-Stoff
Eichenholzstaub
K1-Stoff,
Formaldehyd
K4-Stoff
Kobalt
K2-Stoff
Nickel- und Nickelverbindungen
K1-Stoff
Ozon
K3B-Stoff
Passivrauch
K1-Stoff
Pyrolyseprodukte aus organischem Material
K1-Stoffe
Quarzstaub
K1-Stoff
Schwefelsäureaerosole
K4-Stoff
Vinylchlorid
K1-Stoff
Zinkchromat
K1-Stoff
K = Kategorie krebsauslösende Arbeitsstoffe.
tischen Kohlenwasserstoffen wird im Berufskrankheitenrecht neuerdings verankert.
Adenokarzinome der Nasenhaupt- und nebenhöhlen durch Stäube von Eichen- und Buchenholz Die jahrzehntelange Exposition gegenüber Eichen- und Buchenholzstäuben, wie sie bei Schreinern oft vorliegt, ist mit dem Auftreten von Adenokarzinomen vom intestinalen Typ meist im mittleren Nasengang am Übergang zum Siebbein assoziiert. Das Karzinogen ist bisher nicht identifiziert. Ein leicht erhöhtes Risiko hinsichtlich dieses Tumortyps ist auch unter Exposition gegenüber anderen
223 7.4 Tumorerkrankungen der Lunge
. Tab. 7.15. Lungenkarzinome, Kehlkopfkarzinome, Karzinome der Nasenhaupt- und -nebenhöhlen oder Mesotheliome, die in der Berufskrankheitenliste berücksichtigt sind BK Nr.
Tumorart
Inhalationsnoxe
Bevorzugte Berufe/Industrie
1103
BC
Chrom (Cr-VI-Salze)
Schweißer, Schleifer
1108
BC
Arsenverbindungen
Arsenbergwerke, Anwendung von Arseninsektiziden
1310
BC, K
Bis(chlormethyl)ether
Chemische Industrie
1311
BC
Dichlorethylensulfid (LOST)
Produktion
2402
BC, K
Ionisierende Strahlen
Uranbergleute
4112
BC
Kristalline Kieselsäure in Verbindung mit BK Nr. 4101 oder BK Nr. 4102
Sandstrahler, Tunnel-, Bergbau
4104
BC, K
Asbest (in Verbindung mit Asbeststaublunge, Asbestpleuraerkrankung oder 25 Faserjahren)
Isolierer, Bauarbeiter, Kfz-Mechaniker
4109
BC, K, NH
Nickel oder seine Verbindungen
Schweißer, Schleifer
4110
BC, K
Kokereirohgase, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe
Kokereiarbeiter, Schornsteinfeger
4105
M
Asbest
Isolierer, Bauarbeiter, Kfz-Mechaniker
4203
NH
Stäube von Eichen- und Buchenholz
Schreiner, Parkettleger
BC = Lungenkarzinome, K = Kehlkopfkarzinome, NH = Karzinome der Nasenhaupt- und Nebenhöhlen, M = oder Mesotheliome, BK= Berufskrankheiten.
Holzstäuben beschrieben. Entsprechendes gilt für Lungenkarzinome.
Kehlkopfkarzinom Kehlkopfkarzinome werden durch die Arbeitsstoffe Asbest (BK Nr. 4104), Nickel (BK Nr. 4109) und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (BK Nr. 4110) hervorgerufen (. Tab. 7.15). In der internationalen Literatur finden sich Hinweise auf weitere im Hals- und Nasenbereich Tumoren auslösende oder begünstigende berufliche Noxen, so in der Lederverarbeitung, Textilindustrie, Landwirtschaft, in Bäckereien/Konditoreien, bei der Müllentsorgung, in der Torfgewinnung und im Arbeitsbereich des Tankwarts (Übersicht bei Baur 1998b).
7.4.3 Fragen zum Zusammenhang
Bösartige Berufskrankheiten sind durch den kausalen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit definiert. Die Anerkennung eines Lungenkrebses als Berufskrankheit setzt mindestens eine wesentliche arbeitsbedingte (Mit)Verursachung voraus (»wesentliche Mitverursachung als Alleinursache im Rechtssinne«). Beim Lungenkrebs ist die Beweisführung des Kausalzusammenhangs einfach, wenn Zeichen der Lungenasbestose oder asbestassoziierte Pleuraplaques vorliegen. Sofern diese Befunde nicht vorhanden sind, reicht eine gesicherte Exposition gegenüber einer kumulativen Asbestfaserdosis von mindestens 25 Faserjahren aus.
Auch für die anderen in . Tab. 7.17 genannten Stoffe muss eine entsprechende Exposition nachgewiesen werden. Weitere Fragen zum Zusammenhang sind bereits bei den Krankheitsdefinitionen in 7 Kap. 7.4.2 besprochen. Ein Mesotheliom tritt praktisch nur im Zusammenwirken mit einer in der Regel Jahrzehnte zurückliegenden, oft deutlich niedrigeren Asbestfaserexposition auf.
7.4.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Ein Lungenkarzinom wird als asbestbedingte Berufskrankheit (BK Nr. 4104) anerkannt und entschädigt, wenn eine Lungenasbestose, asbestassozierte Pleuroplaques, eine sog. Minimalasbestose (Nachweis von Asbestkörperchen in Lungengewebe verbunden mit minimalen Fibrosierungsherden im Bereich der Bronchioli respiratorii und der begleitenden Gefäße) und/oder eine kumulativen Asbestfaserdosis von 25 Faserjahren (z. B. durchschnittlich 1 Mio. Fasern/m3 über 25 Jahre) vorliegen. > Der fehlende licht- und elektronenmikroskopische Nachweis von Asbestfasern in der Lungenstaubanalyse widerlegt nicht das Ergebnis einer qualifizierten Arbeitsanamnese.
In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass Chrysotil, die ganz überwiegend verwendete Asbestform, nach neueren Untersuchungen eine Halbwertzeit von <1 Jahr hat. Analog sind die weiteren tumorbezogenen Berufs-
7
224
1 2 3 4 5 6
Kapitel 7 · Respirationstrakt
krankheiten zu bewerten, die zahlenmäßig in einem deutlich geringeren Umfang anfallen.
Kommentar Die Begutachtung beim Lungenkarzinom und Mesotheliom verlangt im Umgang mit dem Betroffenen Fingerspitzengefühl, da in einem Rentenverfahren auch die Prognose ins Bewusstsein gerufen und eventuell zur Diskussion gestellt wird. Gutachterlicherseits kann deswegen und wegen eines vielleicht noch nicht abzuschätzenden Dauerzustands angeregt werden, zunächst eine Zeitrente zu bewilligen. Umgekehrt entspricht beim vermutlich kurativ operierten Bronchialkarzinom ein »automatisches« Rentenverfahren oft nicht der medizinischen Situation und dem Wunsch des Patienten; es kann auch negative Effekte auf die psychische Verfassung haben.
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Postthorakotomiesyndrom. Nach einer Operation kön-
nen Schmerzen im Bereich der Thorakotomie körperliche Belastungen noch über Monate hinaus erschweren. Von Seiten der Stabilität der Thoraxwand sind körperliche Arbeiten nach wenigen Monaten wieder möglich. Schwere und Häufigkeit sowie Dauer des Postthorakotomiesyndroms werden aber oft unterschätzt.
> Arbeitsunfähigkeit liegt in der Regel vor, wenn von einer Therapie aufgrund der palliativen Situation abgesehen wird sowie während einer Strahlen- oder Chemotherapie. Da die beiden Letzteren nur selten kurative Wirkung haben, ist die Erwerbsfähigkeit hier im Allgemeinen aufgehoben. Eine Krebserkrankung der Lunge und Atemwege begründet zunächst einen GdB/MdE-Wert von 100. Dieser Wert kann bei einem Patienten mit einem kurativ therapierten Karzinom nach 2–5 Jahren herabgesetzt und dem verbliebenen Schaden angepasst werden.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sehr häufig Rezidive auftreten und sogar im chirurgisch festgestellten Stadium IA die 5-Jahres-Überlebensraten nach Operation nur bis zu 70% betragen. Bereits im Stadium IIA betragen die 5-Jahres-Überlebensraten nur noch ungefähr 50%. Nach bisheriger Expertenmeinung verbleibt bei weiterhin bestehender Tumorfreiheit dennoch häufig ein GdB/ MdE-Wert von 50 (–80). Nach Abschluss der Heilungsbewährung von 5 Jahren ist die Höhe des GdB/MdE entsprechend des »Organschadens« bzw. der Klinik und der Lungenfunktionseinschränkung einzustufen. Bei einem kleinzelligen Lungenkarzinom oder beim Mesotheliom beträgt der GdB/MdE-Wert in der Regel 100. Die GdB/MdE-Empfehlungen bei Kehlkopfkarzinomen sind in . Tab. 7.16 und 7.17 angegeben.
Therapienebenwirkungen. Aber auch eine Chemothe-
rapie verursacht Folgeschäden. Durch die Chemotherapie können relevante Schädigungen z. B. der Nierenfunktion, des Hörvermögens oder der Sensibilität auftreten. Im Rahmen von Strahlentherapie und Radiochemotherapie kommt es neben den akuten Folgen, z. B. einer Ösophagitis, auch zu Spätschäden wie einer Narbenstenose des Ösophagus. Lungenresektion. Die nach einer Lungenresektion auf Dauer verbleibende Funktionseinschränkung kann nach einigen Monaten abgeschätzt werden. Nach einer Lobektomie ist eine geringe restriktive Ventilationsstörung zu erwarten. Nach ausgedehnter Lungenresektion und regelhaft nach Pneumonektomien kommt es zu einer Verkleinerung der betroffenen Thoraxhälfte, einer relevanten Funktionseinschränkung und langfristig zu einer Skoliose, die auch Wirbelsäulenbeschwerden nach sich ziehen kann. Nach Pneumonektomien sind anhaltende Kreislaufregulationsstörungen häufig und nur noch leichte Arbeiten möglich. Auch Lob- oder Bilobektomien haben nicht selten eine Einschränkung körperlicher Leistungsfähigkeit zur Folge. Damit kann für bestimmte Tätigkeiten Arbeitsunfähigkeit auf Dauer vorliegen; berufsfördernde Maßnahmen oder eine Erwerbsunfähigkeitsrente kommen dann eventuell in Betracht.
7.4.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Obwohl nach einer Operation Schmerzen im Bereich der Thorakotomie körperliche Belastungen noch über Monate hinaus erschweren können, sind von Seiten der Stabilität der Thoraxwand körperliche Arbeiten wieder möglich. Entscheidend ist dann die Funktionseinschränkung, die nach ausgedehnter Lungenresektion und regelhaft nach Pneumonektomien häufig ausgeprägt ist und in der Regel nur leichte Arbeiten erlaubt. Damit kann für bestimmte Tätigkeiten Arbeitsunfähigkeit auf Dauer vorliegen, berufsfördernde Maßnahmen oder eine Berufsunfähigkeitsrente kommen eventuell in Betracht. Patienten mit kurativ therapiertem Lungenkarzinom bleiben bei gutem Allgemeinzustand oft arbeitsfähig. Bei jüngeren Versicherten sollte unter Ausnutzung aller Rehabilitationsmaßnahmen, auch ggf. unter Gewährung einer Zeitrente, die alsbaldige Wiedereingliederung in das berufliche Umfeld angestrebt werden. Arbeitsunfähigkeit liegt meist vor, wenn von einer Therapie aufgrund der palliativen Situation abgesehen wird, in der Regel auch während einer Strahlen- oder Chemotherapie. Hier ist die Erwerbsfähigkeit im Allgemeinen aufgehoben.
225 7.5 Sonstige Lungenerkrankungen
. Tab. 7.16. GdB/MdE bei Verlust des Kehlkopfes Symptomatik
GdB/MdE
Bei guter Ersatzstimme und ohne Begleiterscheinungen, unter Berücksichtigung der Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit (fehlende Bauchpresse)
70
In allen anderen Fällen 5 Anhaltende schwere Bronchitiden und Beeinträchtigungen durch Nervenlähmungen im Hals- und Schulterbereich sind zusätzlich zu berücksichtigen Bei Verlust des Kehlkopfes wegen eines malignem Tumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten; GdB/MdE-Grad während dieser Zeit
80
100
Tracheostoma: 5 Reizlos oder mit geringen Reizerscheinungen (Tracheitis, Bronchitis), gute Sprechstimme
40
5 Mit erheblichen Reizerscheinungen und/oder erheblicher Beeinträchtigung der Sprechstimme bis zum Verlust der Sprechfähigkeit (z. B. bei schweren Kehlkopfveränderungen)
50–80
. Tab. 7.17. MdE/GdB bei Teilverlust des Kehlkopfes Symptomatik
GdB/MdE
Je nach Sprechfähigkeit und Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit
20–50
Bei Teilverlust des Kehlkopfes wegen eines malignem Tumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilbewährung abzuwarten; GdB/MdE-Grad während dieser Zeit 5 bei Geschwulstentfernung im Frühstadium (T1 N0 M0)
50–60
5 ansonsten
80
7.4.6 Risikobeurteilung
7.4.8 Sonderfragen
Beim noch lokal begrenzten, frühzeitig operierten nichtkleinzelligen Lungenkarzinom besteht Heilungschance. Ansonsten ist bei einem Lungenkarzinom von einer nicht kurativen Situation mit kurzen Überlebenszeiten auszugehen. Ebenso ist das Mesotheliom bis auf die extrem seltene Ausnahme des sehr frühen, lokalisierten und operativ angehbaren Tumors nicht heilbar.
Die Erkrankungen treten in der Regel in einem Alter auf, in dem sich die Frage nach dem Ausschluss von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst nicht mehr stellt. Ausnahmen sind seltene, sehr früh auftretende und rechtzeitig entdeckte Tumoren; hier ist die individuelle Befundkonstellation zu berücksichtigen.
7.5
Sonstige Lungenerkrankungen
7.4.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Details sind auch in7 Kap. 7.1.8 zu finden. Eine Tumornachsorgekur sollte erfolgen, wenn ein diesbezüglicher Wunsch besteht und die Voraussetzungen gegeben sind, dass in anderer Umgebung eine Regenerierung, Besserung der Folgeschäden der durchgeführten Tumortherapie und eine bessere psychische Verarbeitung der Erkrankung zu erwarten sind. Dies trifft in aller Regel nach einer intensiven Therapie, z. B. Polychemotherapie, zu.
7.5.1 Diagnostik
Die diagnostische Domäne dieser Diagnosen ist mit einigen Ausnahmen wie z. B. den schlafbezogenen Atemstörungen die konventionelle Radiologie, die mit Kontrastmittel (z. B. bei Zwerchfellhernien), durch CT, ggf. in AngioCT-Technik (Verdacht auf Lungenembolie) und teilweise noch Lungenperfusions- und Ventilationszintigramm (v. a. bei peripherer Lungenembolie) zu ergänzen ist. Die akuten und chronischen funktionellen Auswirkungen der vorgenannten Traumata und Operationsfolgen sind vom Ausmaß der Veränderungen abhängig. Funktionelle Spätschäden resultieren aus
7
226
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Respirationstrakt
5 5 5 5 5 5
Verschwartungen, Komplikationen wie ARDS, Langzeitbeatmung, Thromboembolien, Verlust oder Fibrosierung von Lungengewebe, Verziehungen/Stenosierungen von Bronchien und Trachea, 5 Bewegungseinschränkungen. Ein Extrem stellt die gefesselte Lunge infolge massiver Pleuraschwarten dar. Funktionell zeigen sich vorwiegend restriktive Ventilationsstörungen. Chronische obstruktive Ventilationsstörungen werden u. a. nach Langzeitbeatmung, z. T. auch nach schweren entzündlichen Lungenprozessen beobachtet.
Schlafbezogene Atemstörung Eine differenzierte Diagnostik der schlafbezogenen Atemstörungen und die Abgrenzung zu anderen Schlafstörungen sind erforderlich. Die Diagnostik der schlafbezogenen Atemstörungen basiert auf einer speziellen Anamnese bezüglich des
Schlafverhaltens und der Tagesmüdigkeit, wobei standardisierte Fragebögen eingesetzt werden können. Als nächstes erfolgt eine ambulante nächtliche Screening-Untersuchung mit Überprüfung der Atem- und Kreislauftätigkeit, der Sauerstoffsättigung und der Schnarchgeräusche. Die genauere Differenzierung der verschiedenen schlafbezogenen Atemstörungen, die Erfassung des Schweregrades der Störung sowie die Abgrenzung zu weiteren schlafbezogenen Störungen erfordert die polysomnographische Untersuchung in einem entsprechend spezialisierten Zentrum. Von Bedeutung sind Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI), Respiratory-disturbance-Index (RDI), Arousals, Bezug zu den Schlafstadien, »periodic leg movement« etc. Beispiele für eine zentrale und eine obstruktive Schlafapnoe zeigt . Abb. 7.8. Oft sind zusätzlich Tests zur Überprüfung der Vigilanz und der Einschlafneigung (»multiple sleep latency tests« etc.) notwendig. Nach Einleitung einer Therapie sind Kontrolluntersuchungen in halbjährlichen bis jährlichen Abständen einschließlich der Überprüfung der Compliance notwendig.
. Abb. 7.8. Beispiele für zentrale Schlafapnoe (a) und für obstruktive Schlafapnoe (b). (Mod. nach Bergner 1992)
227 7.5 Sonstige Lungenerkrankungen
Thorakale Defektzustände, Thoraxtraumen Die Diagnostik hat sich nach den zu erwartenden Schädigungsfällen und Defektzuständen zu richten. Immer erforderlich ist eine Lungenfunktionsprüfung einschließlich der Bestimmung der arteriellen Blutgase in Ruhe und unter Belastung. Die dabei häufigste Einschränkung ist eine restriktive Ventilationsstörug mit Verminderung der Compliance und der totalen Lungenkapazität. Aber es kann sekundär auch zu manifesten obstruktiven Ventilationsstörungen oder einer bronchialen Hyperreagibilität kommen, die im unspezifischen bronchialen Provokationstest zu prüfen ist. Häufig sind Belastungsuntersuchungen wie die Spiroergometrie erforderlich, um das Ausmaß der funktionellen Einschränkung korrekt einschätzen zu können. Persistierende Symptome nach Reizgasexposition können Indikationen für endoskopische Verfahren wie die Bronchoskopie und ggf. Laryngoskopie zur Beurteilung von Schleimhautschäden darstellen. Dies gilt auch für die Beurteilung der Trachealschäden nach Intubation und Beatmung und der Rekurrensparese, wobei die funktionelle Beurteilung des Stenosegrades über die maximalen in- und exspiratorischen Fluss-Volumen-Kurven oder auch die forcierten bodyplethysmografischen Atemmanöver erfolgt. Für die morphologische Darstellung ist die Computertomographie in Spiraltechnik mit hochauflösenden Schichten und Rekonstruktionen geeignet. Zu beachten ist allerdings, dass die Computertomografie im Tracheobronchialsystem nicht alle relevanten Veränderungen erkennen kann. Dies betrifft sehr kurzstreckige, funktionell relevante Trachealstenosen. In Einzelfällen ist in Ergänzung die Bronchographie hilfreich. Für die Frage nach peripheren Lungenembolien kann die Durchführung einer Perfusions- und ggf. Ventilationsszintigraphie der Lungen erforderlich sein. Kardiovaskuläre Folgeschäden sind ebenfalls zu überprüfen. > Bei Unfallschäden sowie beim ARDS ist zwischen Folgeerscheinungen im noch akuten Stadium einschließlich der Rekonvaleszenz und den bleibenden Defektzuständen zu unterscheiden, die erst nach einer gewissen Nachbeobachtungszeit festzustellen sind.
7.5.2 Krankheitsdefinition
Schlafbezogene Atemstörungen Schlafbezogene Atemstörungen, insbesondere die obstruktive Schlafapnoe, sind häufig und von praktischer Relevanz. Sie gehen mit Atemstörungen während des Schlafes einher. Zum Teil gehören sie in den Formenkreis des metabolischen Syndroms, wobei Übergewicht die Manifestation v. a. eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms begünstigt.
Schlafbezogene Atemstörungen bewirken einerseits Weckreaktionen (Arousals), andererseits kann es zu relevanten Entsättigungen und Hypoxien kommen. Folgen sind v. a. Tagesmüdigkeit, verminderte Vigilanz, aber auch Anstieg des pulmonalarteriellen Drucks und Aktivierung des adrenergen Systems. Der negative Einfluss auf einen arteriellen Hypertonus ist inzwischen bekannt; die therapeutische Berücksichtigung eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms ist bei der Behandlung der arteriellen Hypertonie erforderlich. Die schlafbezogenen Atemstörungen werden in zwei Hauptgruppen eingeteilt. Dabei kommen häufig Mischformen und Kombinationen mit weiteren Schlafstörungen vor (Übersicht).
Schlafbezogene Atemstörungen 5 Störungen mit Obstruktion der oberen Atemwege – Obstruktives Schnarchen: partielle Obstruktion der oberen Atemwege, verbunden mit Arousals und z. T. Hypoventilation – Obstruktive Schlafapnoe: komplette (Apnoe) oder inkomplette (Hypopnoe), Obstruktion der oberen Atemwege bei erhaltenem Atemantrieb mit entsprechenden Entsättigungen und Arousals 5 Störungen mit Hypoventilation und zentralen Apnoen – Zentrale Apnoe: fehlender Atemantrieb mit Sistieren der Zwerchfellatmung – Hypoventilation: primär oder sekundär bei muskuloskelettalen, neuromuskulären, zerebralen, pneumologischen oder kardiovaskulären Erkrankungen
Häufig finden sich auch Mischformen oder weitere Schlafstörungen, sodass eine differenzierte Diagnostik notwendig ist. Die Therapieoptionen der schlafbezogenen Atemstörungen reichen dann – abhängig von der Störung – von HNO-ärztlichen Eingriffen über die CPAP-Therapie und die Tracheotomie bis zur nichtinvasiven Beatmung. Die Störungen mit Obstruktion der oberen Atemwege sind deutlich häufiger als die anderen schlafbezogenen Atemstörungen. Von einer obstruktiven Schlafapnoe sind bis zu 1–4% der erwachsenen Bevölkerung insgesamt und 4–8% der Männer zwischen 40 und 59 Jahren betroffen.
7
228
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Thorakale Defektzustände, Thoraxtraumen
1 2 3 4 5
Thoraxverletzungen und Erkrankungen der Atmungsorgane können zu Defektzuständen führen, die von gutachterlicher Relevanz sind (Einteilung in der Übersicht).
Einteilung der Thoraxverletzungen und Erkrankungen der Atmungsorgane 5 5 5 5 5 5
Pleurale Veränderungen Zustand nach Resektionen Neuromuskuläre Störungen Muskuloskelettale Schäden Schäden im Bereich der großen Atemwege Pulmonale interstitielle/bronchioläre Veränderungen (Parenchymschäden)
5 Schäden im Bereich der großen Atemwege – bei direkten Verletzungen (Tracheal- und Bronchusruptur) – bei Inhalationsschäden – bei Trachealstenose und -malazie nach Intubation und Beatmung – bei Rekurrensparese, v. a. nach Operationen 5 Parenchymschäden – lokalisiert nach Aspirationen, Verletzungen (Kontusionen), lokalisierten Entzündungen, Abszedierungen, Lungenembolien – generalisiert nach Inhalationstraumen (NOx, Pyrolyseprodukte, Isozyanate etc.), überstandenem ARDS
6 7
Defektzustände als Folge von Thoraxverletzungen und Erkrankungen der Atmungsorgane sind ebenfalls in einer Übersicht dargestellt.
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Defektzustände als Folge von Thoraxverletzungen und Erkrankungen der Atmungsorgane 5 Pleurale Veränderungen und Veränderungen der Thoraxwand – nach Tuberkulose und einer früheren Kollapstherapie, Thorakoplastik – nach entzündlichen Pleuraerkrankungen und Pleuraempyemen – bei posttraumatischen Pleuraschwarten mit und ohne Einbeziehung des Zwerchfells – bei Zustand nach Hämatothorax – nach Pneumothorax mit kompliziertem Verlauf – bei asbestinduzierten Veränderungen 5 Zustand nach Resektion – bei Teilresektionen und parenchymsparenden Resektionen – bei Lobektomie – bei (erweiterter) Pneumektomie, – bei Thoraxfensterung, Thorakoplastik – bei postoperativen Komplikationen 5 Neuromuskuläre und muskuloskelettale Erkrankungen – nach Verletzungen im Halsbereich (C3–C5) – bei Thoraxdeformitäten – bei Zwerchfellrupturen – bei neuromuskulären Schäden, auch im Rahmen neurologischer Krankheitsbilder 6
Meist handelt es sich um restriktive Funktionsdefekte, jedoch kann eine endobronchiale/endotracheale Veränderung zu einer funktionellen Stenosierung und einer Störung der Klärfunktion führen. Pleuraveränderungen und lokalisierte Defekte können über eine regional gestörte Klärfunktion mit rezidivierenden Infekten (Peribronchitis, deformierende Bronchitis, Bronchiektasen) zusätzlich eine obstruktive Störung bewirken. > Meist handelt es sich bei den Folgen von Thoraxtraumen und sonstigen Defektzuständen um restriktive Funktionsdefekte!
Unfälle, Traumata, Operationsfolgen, Lungenembolien Ein Unfall im Sinne des Unfallversicherungsrechts ist eine innerhalb einer Arbeitsschicht eintretende Gesundheitsschädigung. Dies betrifft auch bestimmte zeitlich zuzuordnende Infektionen wie Aids sowie Inhalationsintoxikationen. Im Vordergrund stehen aber stumpfe oder spitze Thoraxtraumen, die wie oben ausgeführt zu 5 Rippenfrakturen, 5 Hämatothorax, 5 Kontusions- (= Prellungs-)pneumonie, seltener zu 5 Bronchusabriss, 5 Contusio cordis, 5 Perforationen der Thoraxwand oder der oberen Atemwege führen. In Zusammenhang mit diesen Traumen können folgende Komplikationen auftreten: 5 Aspiration von Fremdkörpern, Erbrochenem oder Blut (erhöhte Gefahr besteht v. a. bei Bewusstlosen) mit oft langwierigen Aspirationspneumonien in der Folge. Chronische Pneumonien und Lungenabszesse treten gelegentlich hinzu.
229 7.5 Sonstige Lungenerkrankungen
5 Pneumothorax, v. a. im Zusammenhang mit Rippenfrakturen infolge stumpfer oder spitzer Traumen mit Perforation der Thoraxwand und der Pleura.
nitrose Gase, Chlor, Imprägniersprays, Begasungsmittel, Kampfgase, Isocyanate.
Metallrauchfieber Hiervon abzugrenzen ist der Spontanpneumothorax, der fälschlicherweise oft auf irrelevante alltägliche berufliche oder sportliche Anstrengungen ursächlich zurückgeführt wird. Anamnestische Hinweise für einen Spontanpneumothorax sind spontanes Auftreten, Rezidive und familiäre Häufung. Eine wesentliche berufliche/sportliche Teilursache an einem Pneumothorax ist nur dann anzunehmen, wenn eine ungewöhnlich schwere körperliche Belastung in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Spontanpneumothorax vorlag. Schwere stumpfe Bauch- und Brustkorbtraumata können eine Ruptur des linken oder rechten Zwerchfells zur Folge haben. Darm, Magen und/oder Leber sind dann in den Brustraum verlagert und behindern mehr oder weniger die Atmung. Differenzialdiagnostisch sind postentzündliche Zwerch- und Brustfellverschwartungen, angeborene bzw. spontan aufgetretene Zwerchfellhernien an den kongenital bestehenden Schwachstellen des Zwerchfells abzugrenzen. Zur Zwerchfelllähmung, die mit paradoxer Atembeweglichkeit einhergeht, kommt es durch Verletzungen oder entzündliche Läsionen des N. phrenicus. Differenzialdiagnostisch ist die Relaxatio des Zwerchfells abzugrenzen. Bei Letzterer wölbt sich infolge der Muskelschwäche des Zwerchfells Bauchinhalt in den Brustkorb vor, ohne dass eine Ruptur besteht. Der relaxierte Zwerchfellanteil bewegt sich synchron mit den anderen Zwerchfellabschnitten, in der Regel allerdings in vermindertem Ausmaß. Lungenembolien gehen ganz überwiegend von tiefen Oberschenkel- und Beckenvenenthrombosen aus. Besondere Risikofaktoren sind in der Übersicht dargestellt. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, Ovulationshemmer wirken begünstigend.
Risikofaktoren für Lungenembolien 5 Operative Eingriffe im Becken- und Bauchraum 5 Längere postoperative, posttraumatische (Frakturen) oder sonstige Bettlägerigkeit 5 Rechtsherzinsuffizienz 5 Bösartige Tumoren
Toxisches Lungenödem Eine Reihe inhalativer Noxen schädigt die alveokapillären Membranen, sodass es zur Ausbildung eines lebensbedrohlichen Lungenödems kommen kann. Dabei sind Latenzzeiten zwischen der Exposition und der klinischen Manifestation von bis zu 36 Stunden zu beobachten. Auslöser sind u. a. Cadmiumoxid, Zinknebel, Fluor, Phosgen,
Metallrauche, insbesondere die Komponenten Zink-, Cadmium- und Kupferoxid, können ein an eine exogen allergische Alveolitis (s. S. 225) erinnerndes Krankheitsbild auslösen. Dabei kommt es nach einer mehrstündigen Latenzzeit zu Fieber, Schüttelfrost, Husten. Die Lungenfunktion zeigt eine kurzzeitige Diffusionsstörung und eine leichtgradige Restriktion. In der bronchoalveolären Lavage fällt eine Granulozytose auf. Unter fortgesetzter Exposition kommt es zu Rezidiven, die schließlich in eine persistierende obstruktive oder kombinierte Lungenfunktionsstörung münden können.
Organic-Dust-Toxic-Syndrome (ODTS) Das ODTS wird durch die inhalative Aufnahme endotoxinhaltiger Stäube ausgelöst, wie sie v. a. in der Landwirtschaft (Schweine- und Geflügelstall, bei Drescharbeiten) und in der Verarbeitung von Rohbaumwolle auftreten. Die Krankheitserscheinungen und Veränderungen entsprechen weitgehend jenen des Metallrauchfiebers. Im Vordergrund stehen akute, einen bis mehrere Tage anhaltende grippale Beschwerden mit Husten, Brustschmerzen, Frösteln, Kopfschmerzen, subfebrilen Temperaturen; erschwerte Atmung und leichte kombinierte Lungenfunktionseinschränkungen können hinzutreten. Zahlreiche Rezidive gehen mit dem Risiko einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) einher.
Silikose Die Silikose entsteht durch das Einatmen von kristalliner Kieselsäure (SiO2), in Form von Quarz, Cristobalit oder Tridymit. Die Exposition gegenüber derartigen Feinstäuben ist in der Gewinnung oder Verarbeitung von Sandstein, Quarzid, Grauwacke, Kieselerde, Kieselschiefer, Quarzidschiefer, Granit, Porphyr, Bimsstein, Kieselgur, Steinkohle und keramischen Massen gegeben. Gefährdet sind insbesondere langjährig Beschäftigte im Erz- und Steinkohlenbergbau, im Tunnelbau, Gussputzer, Sandstrahler, Ofenmaurer und -former, aber auch Beschäftigte in Dentallabors. Die in den Bronchien und Alveolen abgelagerten, kristalline Kieselsäure enthaltenden Staubpartikel werden von Makrophagen phagozytiert und in das Lungeninterstitium, z. T. auch in die regionalen Lymphknoten, transportiert. Dabei kommt es zur Makrophagenaktivierung und -proliferation, zur Bildung von Sauerstoffradikalen und Zytokinen. Die Folge sind chronisch inflammatorische Prozesse mit Fibroblastenaktivierung und vermehrter Kollagenfasersynthese. Die nichtabbaubaren Staubpartikel werden immer wieder neu von Makrophagen phagozytiert, die dann unter Freisetzung lytischer Enzyme zugrunde gehen. Im in-
7
230
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 7 · Respirationstrakt
terstitiellen Bindegewebe bilden sich silikotische Herde, die einen typischen Aufbau mit zentraler Hyalinisierung und konzentrisch-lamellenartiger Schichtung (Zwiebelschalenform) aufweisen. Die durch quarzhaltige Mischstäube (z. B. im Steinkohlenbergbau) hervorgerufenen silikotischen Knötchen weisen als Besonderheit eine eher irreguläre Schichtung und einen breiten Saum von Staubmakrophagen auf. Schließlich konfluieren benachbarte Knötchen. In Spätstadien können ausgedehnte Schwielen auftreten, die gelegentlich einschmelzen (»Phthisis atra«). Zwischen den fibrotischen Strukturen bildet sich ein perifokales Narbenemphysem aus. Funktionell treten Störungen der Ventilation (Restriktion und Obstruktion), des Gasaustausches und der Perfusion auf. Verkalkungen der Randsinus von Hiluslymphknoten ergeben in der Röntgenaufnahme gelegentlich das Bild der »Eierschalenhili«. Der frühere Luftgrenzwert am Arbeitsplatz für Quarz in Form von alveolengängigem Staub (Durchmesser <7 μm) von 0,15 mg/m3 wurde aufgrund von dessen kanzerogener Wirkung aufgehoben. Unterhalb dieses früheren Grenzwertes ist nach allgemeiner Erfahrung nur nach jahrzehntelanger Exposition mit dem Auftreten stets geringgradiger Silikosen zu rechnen. Mit zunehmender kumulativer Belastung steigt das Risiko an. Mitentscheidend sind dabei im Einzelnen nicht näher bekannte individuelle Dispositonsfaktoren. Quarzablagerungen in der Lunge von 1 g oder mehr gehen stets mit silikotischen Veränderungen einher. Die für die Höhe von GdB/MdE v. a. relevanten Einschränkungen der Lungenfunktion sind nicht eng an das Ausmaß des radiologisch fassbaren Silikosegrades (Streuung rundlicher Fleckschatten nach ILO 2000) gebunden; es gibt geringgradige radiologische Kategorien mit schweren Lungenfunktionseinschränkungen und umgekehrt. Keineswegs lässt sich radiologisch eine Grenze ziehen, ab der erst ein silikosebedingter GdB/ MdE-Wert wissenschaftlich belegt werden kann (Baur et al. 2005). Vielmehr zeigen gerade die neueren Metaana-
lysen zur Berufskrankheitennummer 4111, dass eine derartige Grenzziehung sich im Gegensatz zu allen detaillierten Auswertungen von Untersuchungsbefunden befinden würde, so u. a. den Daten der Pneumokoniosefeldstudie des National British Coal Board in Großbritannien und der chronischen Bronchitisstudie der DFG (Baur et al. 2005; Marine et al. 1988; Morfeld u. Piekarski 1996).
Akute Silikose Diese seltene, hierzulande nicht mehr beobachtete Form tritt nach massiver Inhalation eines quarzreichen Feinstaubs auf (z. B. bei Sandstrahlern, Mineuren, Arbeitern in der Putzmittelindustrie). Kennzeichnend ist eine rasch progrediente Dyspnoe mit Zyanose; es kommt zu Gewichtsverlust, allgemeiner Hinfälligkeit, Thoraxschmerzen und bronchitischen Krankheitssymptomen. Der Verlauf ist durch begleitende Bronchopneumonien kompliziert. Das Röntgenbild kann einer Miliartuberkulose gleichen. Der Tod tritt nach mehreren Monaten bis Jahren infolge zunehmender respiratorischer Insuffizienz ein. In der feingeweblichen Untersuchung findet man eine diffuse Ablagerung von Quarzstaub im Interstitium; die Knötchen weisen hier nicht den typischen silikotischen Aufbau auf.
Chronische Silikose Diese übliche Form verläuft zunächst über lange Zeit symptomarm bei meist bereits eindrucksvollem Röntgenbefund. Dieser zeigt symmetrisch auftretende kleine Rundschatten unterschiedlichen Durchmessers vermehrt in den Mantelzonen der Oberfelder und der oberen Mittelfelder, in einem späteren Stadium auch schwielige Verschattungen, Schrumpfungen und Empyhsemblasen. Ein Fallbeispiel zeigt . Abb. 7.9. Die meisten Betroffenen entwickeln bronchitische Beschwerden. In fortgeschrittenen Stadien kommt eine langsam progrediente Belastungsdyspnoe hinzu. Beachtenswert ist der nach Beendigung der Exposition nicht selten progrediente Verlauf.
15 16 17 18 19 20
. Abb. 7.9. Thoraxröntgenaufnahme eines 79-jährigen Steinkohlenbergmanns, der bis 1971 über 17 Jahre unter Tage tätig war. Etwa seit 1970 bestehen eine chronische Bronchitis und eine langsam zunehmende Belastungsdyspnoe. In der Lungenfunktionsprüfung war eine vollreversible Bronchialobstruktion festzustellen. Die Röntgenaufnahme zeigte 1974 eine dichte Streuung runder Herde entsprechend einer Silikose 3/2 q/q nach ILO 2000. 1998 ist ein progredienter Befund im Sinne einer Schwielenbildung (rechts) erkennbar. (Röntgenaufnahmen freundlicherweise überlassen von Dr. A. Weber, Institut für Radiologie und Nuklearmedizin der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil, Bochum)
231 7.5 Sonstige Lungenerkrankungen
. Abb. 7.10a–c. Lungenfunktionsbefund eines 76-jährigen Bergmanns mit Silikose und kombinierter Ventilationsstörung. Für eine geringe Restriktion sprechen die leichten Verminderungen von Totalkapazität (TLC), intrathorakalem Gasvolumen (IGV), Residualvolumen (RV) und die grenzwertig niedrige Vitalkapazität (VC). Die Obstruktion wird durch die Erhöhung der Atemwegswiderstände Rt, Reff, die Verminderung von FEV1/VC % und der forcierten exspiratorischen Flüsse (»peak expiratory flow«, PEF; mittlere exspiratorische Flüsse zu 25%, 50% bzw. 75% der bereits ausgeatmeten Vitalkapazität, FEF25, FEF50 und FEF75) belegt. Außerdem ist eine respiratorische Partialinsuffizienz (Hypoxämie) nachweisbar. V1–V5: einzelne geatmete Atemkurven (Versuche); Best = bester Wert. Beachte den ATS-Fehlercode 10 (das Akzeptanzkriterium Ausatemzeit von mindestens 6 Sekunden wurde nicht erreicht)
a
Die Lungenfunktion ist im fortgeschrittenen Stadium höhergradig eingeschränkt. Funktionsanalytisch steht eine obstruktive Ventilationsstörung im Vordergrund, typisch sind kombinierte Ventilationsstörungen (. Abb. 7.10) und Befunde eines Lungenemphysems. Eine ausschließlich restriktive Funktionseinschränkung und ein Emphysem mit geringgradiger Silikose (»Pinhead-Silikose«, »schwarze Löcherlunge«) kommen ebenfalls vor. Zeichen des Cor pulmonale und der kardiorespiratorischen Insuffizienz können hinzutreten.
Caplan-Syndrom und Sklerodermie In seltenen Fällen entwickeln Patienten mit Silikose aus bisher ungeklärten Gründen eine chronische Polyarthritis mit bis zu 5 cm großen Lungenrundherden. Nach intensiver Exposition gegenüber quarzreichem Feinstaub werden in massiv exponierten Kollektiven (Uranerzbergbau) Sklerodermien beobachtet, vereinzelt auch andere
Autoimmunerkrankungen, z. T. ohne eindeutige Silikose.
Silikotuberkulose Das Vorliegen einer Silikose begünstigt eine Lungentuberkulose. Eine derartige aktive Begleittuberkulose, die eine eigene Berufskrankheitennummer besitzt (BK Nr. 4102), ist umso häufiger anzutreffen, je schwerer die Silikose ausgeprägt ist. Sie befällt vorwiegend ältere Patienten. Hinweisend sind Leistungsknick, Gewichtsabnahme, Temperaturerhöhung, verstärkte Luftnot und BSG-Erhöhung, Auftreten von Husten und Auswurf sowie neu hinzugekommene, infolge der Grundkrankheit manchmal schwer erkenn- und interpretierbare radiologische Lungenverschattungen im Röntgenbild. Bevorzugt sind die Spitzenoberfelder, die Hiluslymphknoten und der Pleurabereich betroffen. Der Erregernachweis von Tuberkelbakterien in Sputum oder Magensaft sichert die Diagno-
7
232
Kapitel 7 · Respirationstrakt
b
1 2 3 4 5 6 7 8
c
. Abb. 7.10a–c. Lungenfunktionsbefund eines 76-jährigen Bergmanns mit Silikose und kombinierter Ventilationsstörung. Für eine geringe Restriktion sprechen die leichten Verminderungen von Totalkapazität (TLC), intrathorakalem Gasvolumen (IGV), Residualvolumen (RV) und die grenzwertig niedrige Vitalkapazität (VC). Die Obstruktion wird durch die Erhöhung der Atemwegswiderstände Rt, Reff, die Verminderung von FEV1/ VC % und der forcierten exspiratorischen Flüsse (»peak expiratory flow«, PEF; mittlere exspiratorische Flüsse zu 25%, 50% bzw. 75% der eingeatmeten Vitalkapazität, FEF25, FEF50 und FEF75) belegt. Außerdem ist eine respiratorische Partialinsuffizienz (Hypoxämie) nachweisbar. V1–V5: einzelne geatmete Atemkurven (Versuche); Best = bester Wert. Beachte den ATS-Fehlercode 10 (das Akzeptanzkriterium Ausatemzeit von mindestens 6 Sekunden wurde nicht erreicht)
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
se (7 Kap. 7.1.2). Chronische Infektionen mit atypischen Mykobakterien werden gehäuft beobachtet, wobei die klinische Relevanz uneinheitlich ist. Die Therapie entspricht den üblichen Dreier- oder Viererkombinationsschemata. Nach Abheilung sind die kardiorespiratorischen Folgeerscheinungen der vorangegangenen Berufskrankheit Silikose (BK Nr. 4101) zuzuordnen.
Asbestose und asbestbedingte benigne Erkrankungen der Pleura Unter der technischen Bezeichung »Asbest« werden mineralogisch verschiedene faserförmige Silikate subsu-
miert. Im Vordergrund steht Serpentinasbest (Chrysotil = Weißasbest; Magnesiumsilikat). Amphibolasbeste (Krokydolith = Blauasbest; Natrium-Eisen-Silikat; Amosit = Braunasbest; Magnesium-Eisen-Silikat; Antophyllit) spielen mengenmäßig eine untergeordnete Rolle. Die Exposition gegenüber faserförmigem Asbeststaub war bis 1990 weit verbreitet, u. a. in der Asbestaufbereitung, bei der Herstellung und Bearbeitung von Asbestzement, Bremsbelägen, Asbesttextilprodukten, Platten und Spritzmassen zur Wärme- und Feuerdämmung, säure- und hitzebeständiger Materialien und dergleichen mehr.
233 7.5 Sonstige Lungenerkrankungen
> Heute besteht in Deutschland bis auf umschriebene Ausnahmen ein Anwendungsverbot für Asbest. Relevante Expositionen kommen noch bei Sanierungs- und Abbrucharbeiten vor, die unter Beachtung aller Schutzmaßnahmen der Gefahrstoffverordnung auszuführen sind.
Nach langjähriger Exposition gegenüber asbestfaserhaltigen Stäuben können unspezifische Atembeschwerden wie Husten, thorakale Schmerzen und Belastungsdyspnoe auftreten. Bronchoskopisch findet man dabei Zeichen einer chronischen Bronchitis, auch wenn radiologisch noch kein pathologischer Lungenbefund festzustellen ist. Die Lungenfunktion ist oft grenzwertig. Die benigne asbestbedingte Pleuraveränderung (zu unterscheiden vom Pleuramesotheliom) zeichnet sich in der Röntgenaufnahme des Thorax durch bilaterale hyaline oder verkalkte Plaques, manchmal auch eine diffuse Pleurafibrose (Hyalinosis complicata) aus. Ausgedehnte pleurale Veränderungen sind mit einer restriktiven, gelegentlich aber auch mit einer obstruktiven Ventilationsstörung und eingeschränkter Belastbarkeit assoziiert (Niebecker et al. 1995; Shih et al. 1994). Jahrelang persistierende benigne Pleuraergüsse kommen vor. In seltenen Fällen findet man Plaques des Perikards. Die ILO-Klassifikation (. Abb. 7.1) ist für eine genaue und standardisierte Beurteilung der pleuralen Veränderungen und der vorwiegend in den Lungenunterfeldern anzutreffenden irregulären Verschattungen hilfreich. Die radiologisch erfassbare Lungenasbestose geht mit einer restriktiven Ventilationsstörung, einer Hypoxämie und einer verminderten CO-Diffusionskapazität einher.
Talkose Talk ist ein blättchenförmiges, hydriertes Magnesiumsilikat, das mindestens bis in die 1960er-Jahre mit Quarz und Asbest kontaminiert war. Die unter Exponierten beobachteten Pneumokoniosen entsprechen daher teils einer Silikose, teils einer Asbestose. Es gibt aber Hinweise darauf, dass auch reines Talkum, wie es beispielsweise in der Reifenindustrie in großem Umfang eingesetzt wird, eine Pneumokoniose hervorrufen kann. Die Beschwerden sind uncharakteristisch; oft trifft man Belastungsdyspnoe und Bronchitis an.
7.5.3 Fragen zum Zusammenhang
Schlafbezogene Atemstörungen Gutachterlich von Bedeutung ist die Frage, ob die schlafbezogene Atemstörung auf äußere Einflüsse, z. B. Traumen, zurückzuführen ist. Sehr selten kann es nach Unfällen zu muskuloskelettalen oder zentralen schlafbezogenen Atemstörungen, in der Regel im Sinne der Hypoventilation oder zentralen Apnoe, kommen. Ob weiterhin
bei langjähriger Lösungsmittelexposition ein Schlafapnoesyndrom entstehen kann, wird diskutiert.
Thorakale Defektzustände, Thoraxtraumen Die Berufskrankheiten sind durch den ursächlichen Zusammenhang mit beruflicher Tätigkeit definiert. Gutachterlich zu beantworten ist oft die Frage, ob Defektzustände Folge der angeschuldigten äußeren Einflüsse, z. B. von Traumen oder Infektionen, sind. Unerlässlich sind dabei Kenntnisse über den Unfallhergang und konkrete Nachweise der unmittelbaren Unfallfolgen sowie ggf. der Brückensymptome. Davon zu differenzieren sind vorbestehende Erkrankungen wie v. a. ein Asthma bronchiale oder die Folgen des inhalativen Zigarettenrauchens. Die Abgrenzung und Diagnostik von umschriebenen Obstruktionen der großen Atemwege beruhen v. a. auf dem Nachweis einer lokalisierten morphologischen Veränderung (Computertomographie, Bronchoskopie, evtl. Bronchographie). Auch die Anamnese vor dem Ereignis mit möglichst objektiven Nachweisen (Arztberichte, Krankenkasseneintragungen etc.) ist von besonderem Gewicht. Thoraxverletzungen können bei vorbestehenden Erkrankungen nicht abgrenzbare, richtunggebende Verschlimmerungen auslösen. Ein traumatischer Pneumothorax kommt außer bei direkten offenen Verletzungen, Rippenfrakturen und schweren stumpfen Verletzungen mit sichtbaren Folgeerscheinungen nur selten als Arbeitsunfall in Frage. Bei Zwerchfellverletzungen ist die Abgrenzung gegenüber den viel häufigeren angeborenen Zwerchfellhernien und Zwerchfellrelaxationen erforderlich. Infektionen können dann als Arbeitsunfall gewertet werden, wenn die Einwirkung »überfallsartig« innerhalb einer Arbeitsschicht erfolgt, wie z. B. bei Tuberkulose und Infektion an einem offen Erkrankten. Nach Unfällen, die primär nicht den Thorax betrafen, kann es sekundär zu Schädigungen der Atmungsorgane kommen wie 5 Lungenembolie nach Trauma mit konsekutiver Thrombose, 5 Aspiration, 5 Infektion und Abszedierung, 5 Fettembolie, 5 ARDS, 5 persistierender respiratorischer Insuffizienz (z. T. mit erforderlicher Langzeitbeatmung), 5 Trachealstenose.
7.5.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Die Bewertung der anorganischen Pneumokoniosen (Asbestose) richtet sich neben der radiologischen Beurtei-
7
234
Kapitel 7 · Respirationstrakt
1
lung prinzipiell nach den Funktionsausfällen, wie oben und z. T. in 7 Kap. 7.1 und 7. 2 beschrieben.
2
Besonderheiten bei schlafbezogenen Atemstörungen
3 4 5 6
Bedeutsam für die Leistungsfähigkeit sind v. a. direkte Folgen (Übersicht).
Direkte Folgen von schlafbezogenen Atemstörungen 5 5 5 5 5
Tagesmüdigkeit Verminderte Vigilanz Allgemeine Leistungsminderung Psychische Veränderungen Respiratorische Insuffizienz (bei den Hypoventilationssyndromen)
7 8 9 10 11 12 13 14
Des Weiteren sind die oft vergesellschafteten Störungen zu berücksichtigen (Übersicht).
Mit schlafbezogenen Atemstörungen vergesellschaftete Störungen 5 Arterielle Hypertonie 5 Herzinsuffizienz und weitere kardiovaskuläre Störungen 5 Störungen im Rahmen des metabolischen Syndroms
Für die obstruktive Schlafapnoe sind Bewertungen in den Anhaltspunkten für die gutachterliche Tätigkeit enthalten (. Tab. 7.18). Eventuell damit in Verbindung stehende Erkrankungen (Hypertonie etc.) sind zusätzlich zu bewerten. Eine schwer behandelbare oder mit schweren Folgeerscheinungen einhergehende Schlafapnoe kann die Erwerbsfähigkeit stark reduzieren oder sogar zur Erwerbsund Berufsunfähigkeit führen.
15 16 17 18 19 20
. Tab. 7.18. GdB/MdE bei obstruktiver Schlafapnoe (OSA) nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2, SGB IX 2008; Bundesministerium für Arbeit und Soziales) Ausprägung der OSA
GdB/MdE
Ohne Notwendigkeit der CPAP-Therapie
0–10
Notwendigkeit der CPAP-Therapie
20
CPAP-Therapie indiziert, aber nicht durchführbar
≥50
Besonderheiten bei thorakalen Defektzuständen, Thoraxtraumen Die Minderung der Leistungsfähigkeit mit eventuellen Folgen für die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit hängt v. a. vom Ausmaß der Funktionsschäden ab, die in der Regel zu messen sind, konkret von 5 dem Ausmaß der Restriktion, 5 der (spiro-)ergometrischen Belastbarkeit, 5 eventuellen Folgekrankheiten, wie einer Hypoventilation, einer pulmonalarteriellen Hypertonie, einem Cor pulmonale und einer Rechtsherzinsuffizienz. Die Bemessung von GdB/MdE beruht auf dem Beschwerdebild und dem Funktionsdefekt. Der meist vorherrschende restriktive Funktionsdefekt wird nach den in . Tab. 7.5 und 7.6 festgelegten Kriterien beurteilt. Zusätzliche obstruktive Ventilationsstörungen müssen in der Beurteilung ergänzend berücksichtigt werden. Hierzu gelten entsprechend die Ausführungen in 7 Kap. 7.1. Die Folgen von Brüchen und Defekten werden zusätzlich nach den in . Tab. 7.19 zusammengestellten Kriterien beurteilt. > Die endgültige Beurteilung sollte erst nach dem Erreichen eines stabilen Defektzustandes erfolgen, die kann bis zu eineinhalb Jahre nach dem Erstereignis dauern.
7.5.5 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Schlafbezogene Atemstörungen Personen mit schlafbezogenen Atemstörungen sind bei Tätigkeiten mit Anforderungen an Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit gefährdet. Fortbestehende Tagesmüdigkeit und/oder verminderte Vigilanz können dazu führen, dass Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit nicht mehr ausgeführt werden dürfen. Dies gilt insbesondere, wenn Eigen- oder Fremdgefährdung möglich sind, wie beispielsweise beim Führen von Fahrzeugen oder Bau- oder anderen Maschinen, bei Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten, eventuell auch Arbeiten mit Absturzgefährdung. > Eine entsprechende Behandlung und regelmäßige Kontrolle (ggf. einschließlich der Überprüfung der Compliance) sollte vor Fortsetzung dieser Tätigkeiten erfolgen.
Nacht- und Schichtarbeit ist problematisch, da sich die Störungen des Schlafs ungünstig verstärken können. Zumindest Kraftfahrer mit Schlafapnoesyndrom sollten davon ausgeschlossen werden.
Thorakale Defektzustände, Thoraxtraumen Die Einschränkung der Berufsausübung hängt von den Funktionsschäden ab, die nach den Unfällen als bleibende
235 7.5 Sonstige Lungenerkrankungen
. Tab. 7.19. Bewertung von Unfallfolgen des Brustkorbs (in Anlehnung an die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Teil 2, SGB IX 2008; Bundesministerium für Arbeit und Soziales) Zustand
GdB/MdE
Fremdkörper im Lungengewebe oder in der Brustwand reaktionslos eingeheilt
0
Brüche und Defekte im Brustkorbbereich ohne Funktionsstörung verheilt, abhängig vom Ausmaß des Defekts
0–10
Rippendefekte mit Brustfellschwarten ohne wesentliche Funktionsstörung
0–10
Brustfellverwachsungen und -schwarten ohne wesentliche Funktionsstörungen
0–10
Bei sehr ausgedehnten Defekten einschließlich entstellender Wirkung
20
Bei schweren Defekten
Entsprechend dem Funktionsausfall
Schäden bestehen. Bei restriktiven Störungen ist primär die Belastbarkeit eingeschränkt. Bei obstruktiven Störungen ist zusätzlich die Verstärkung bzw. Verschlimmerung bei Exposition gegenüber Rauch, Staub, Kälte etc. zu beachten (7 Kap. 7.1.1).
7.5.6 Risikobeurteilung
Schlafbezogene Atemstörungen Schlafbezogene Atemstörungen mit Obstruktion der oberen Atemwege sprechen auf Therapiemaßnahmen gut an, sodass meist wieder eine uneingeschränkte Leistungsfähigkeit erreicht wird. Relevante Komplikationen oder eine Einschränkung der Lebenserwartung sind dann nicht zu erwarten. Relevant ist jedoch eine bestehende Adipositas mit Folgeerscheinungen. Eine Gewichtszunahme kann auch die Therapie, insbesonderes mittels CPAP, erschweren oder sogar unmöglich machen, da die Beatmungsdrücke gesteigert werden müssen. Bei den sonstigen schlafbezogenen Atemstörungen lässt sich in der Regel durch eine nichtinvasive Beatmung eine Normalisierung des Gasaustausches erreichen. Dies kann zur kardialen Rekompensation führen. Die Prognose hängt dann primär von der Grundkrankheit ab.
Thorakale Defektzustände, Thoraxtraumen Die Prognose nach Thoraxtraumen und bei Defektzuständen der Atmungsorgane ist – mit Ausnahme schwerer Defekte mit Funktionsverlust – günstig. Die Beurteilung sollte nach Erreichen des stabilen Defektzustandes erfolgen. Dieser Zeitpunkt ist nach 6–18 Monaten erreicht.
7.5.7 Verbesserung der Prognose durch
7.5.8 Sonderfragen
Schlafbezogene Atemstörungen Ein gut eingestelltes obstruktives Schlafapnoesyndrom stellt keine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit dar, wesentliche Komplikationen sind nicht zu erwarten. Deshalb ist das gut eingestellte obstruktive Schlafapnoesyndrom ohne zusätzliche Erkrankungen kein Ausschluss von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst. Nacht- und Schichtdienst sollten jedoch vermieden werden. Bei den Hypoventilationssyndromen und der zentralen Apnoe sind die individuelle Situation und die Krankheitsursache von wesentlicher Bedeutung. Schwere Krankheitsbilder rechtfertigen meist einen Ausschluss von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst.
Beeinflussung anderer Erkrankungen Eine Behandlung des obstruktiven Schlafapnoesyndroms wirkt sich vielfältig positiv aus. Die Therapie kann zu einer deutlichen Besserung der Blutdruckregulation, einer evtl. bestehenden Herzinsuffizienz und eines Diabetes mellitus beitragen. Aufgrund geringerer Tagesmüdigkeit wird eine Gewichtsabnahme durch vermehrte körperliche Aktivität erleichtert. Eine Linksherzinsuffizienz mit CheyneStokes-Atmung lässt sich durch eine CPAP-Beatmung positiv beeinflussen. Patienten mit einer obstruktiven Schlafapnoe leiden häufig an einer Adipositas und einer diabetischen Stoffwechsellage. Mehraufwendungen für eine Diät werden jedoch von den Krankenkassen nicht erstattet. Auch können Mehraufwendungen für Diät nicht steuerlich geltend gemacht werden, allenfalls Kosten für eine Behandlung, die nicht erstattet werden (sog. »außergewöhnliche Belastung«).
Rehabilitation Wehrdienst Einzelheiten zu diesem Themenkomplex sind in 7 Kap. 7.1.8 dargestellt.
Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe bedürfen meist einer nasalen CPAP-Therapie. Die Geräusche des Gerätes machen eine Unterbringung im Mehrbettzimmer proble-
7
236
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 7 · Respirationstrakt
matisch. Da die ständige CPAP-Beatmung sichergestellt sein sollte, stellt dies Hindernisgründe für den Wehrdienst dar. Ähnliches gilt für Personen mit nichtinvasiver Beatmung.
Wehrdienst Thoraxtraumen haben häufig eine gute Erholungsfähigkeit mit geringen funktionellen Defektzuständen. Allein funktionell ausgeprägte Defektzustände führen zu einer Einschränkung der Wehrdienstfähigkeit.
Thorakale Defektzustände, Thoraxtraumen Ein Zustand nach Thoraxtrauma ohne wesentliche Funktionseinschränkung stellt keine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit dar. Wesentliche Komplikationen sind nach Erreichen des stabilen Defektzustandes nicht zu erwarten. Somit ist ein Zustand nach Thoraxtrauma ohne zusätzliche Erkrankungen kein Ausschlussgrund von pensionsberechtigten Anstellungen im öffentlichen Dienst. Bei schweren Defektzuständen mit Funktionseinschränkungen ist eine individuelle Beurteilung erforderlich.
7.6
Anhang
7.6.1 Liste der Berufskrankheiten aus dem
Anhang der Berufskrankheitenverordnung vom 05.09.2002 Die Liste der Berufskrankheiten ist in . Tab. 7.20 dargestellt.
Beeinflussung anderer Erkrankungen Eine vorbestehende obstruktive Lungenerkrankung kann durch ein Thoraxtrauma vorübergehend, ggf. dauernd verschlechtert werden. Dies gilt auch für eine interstitielle Lungenerkrankung oder eine neuromuskuläre Erkrankung. Das Trauma kann weiterhin andere Organe betreffen, beispielsweise in Form einer Ösophagusruptur oder einer Contusio cordis. Ebenso kann eine vorbestehende kardiale Erkrankung oder Herzinsuffizienz durch einen zusätzlichen thorakalen Defektzustand negativ beeinflusst werden.
7.6.2 Anamnesefragebogen für Patienten mit
Verdacht auf berufsbedingte Lungen- und Atemwegskrankheiten Einen beispielhaften Anamnesefragebogen Patienten mit Verdacht auf arbeitsbedingte Lungen- und Atemwegskrankheiten aus unserem Institut zeigt . Abb. 7.11.
. Tab. 7.20. Liste der Berufskrankheiten: Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), zuletzt geändert durch die Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV-ÄndV) vom 5. September 2002 BK Nr.
Krankheiten
1
Durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten
11
Metalle und Metalloide
1101
Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen
1102
Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen
1103
Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen
1104
Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen
1105
Erkrankungen durch Mangan oder seine Verbindungen
1106
Erkrankungen durch Thallium oder seine Verbindungen
1107
Erkrankungen durch Vanadium oder seine Verbindungen
1108
Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen
1109
Erkrankungen durch Phosphor oder seine anorganischen Verbindungen
18
1110
Erkrankungen durch Beryllium oder seine Verbindungen
12
Erstickungsgase
19
1201
Erkrankungen durch Kohlenmonoxid
1202
Erkrankungen durch Schwefelwasserstoff
20
13
Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide) und sonstige chemische Stoffe
12 13 14 15 16 17
237 7.6 Anhang
. Tab. 7.20. (Fortsetzung) BK Nr.
Krankheiten
1301
Schleimhautveränderung, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine
1302
Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe
1303
Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
1304
Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge
1305
Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff
1306
Erkrankungen durch Methlyalkohol (Methanol)
1307
Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen
1308
Erkrankungen durch Fluor oder seine Verbindungen
1309
Erkrankungen durch Salpetersäureester
1310
Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide
1311
Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylarylsulfide
1312
Erkrankungen der Zähne durch Säuren
1313
Hornhautschädigungen des Auges durch Benzochinon
1314
Erkrankungen durch Para-tertiär-Butylphenol
1315
Erkrankungen durch Isocyanate, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
1316
Erkrankungen der Leber durch Dimethylformamid
1317
Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische Zu den Nummern 1101 bis 1110, 1201 und 1202, 1303 bis 1309 und 1315: Ausgenommen sind Hauterkrankungen. Diese gelten als Krankheiten im Sinne dieser Anlage nur insoweit, als sie Erscheinungen einer Allgemeinerkrankung sind, die durch Aufnahme der schädigenden Stoffe in den Körper verursacht werden, oder gemäß Nummer 5101 zu entschädigen sind.
2
Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten
21
Mechanische Einwirkungen
2101
Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2102
Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überschnittlich belastenden Tätigkeiten
2103
Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen
2104
Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2105
Chronische Erkrankungen der Schleimbeutel durch ständigen Druck
2106
Druckschädigung der Nerven
2107
Abrißbrüche der Wirbelfortsätze
2108
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2109
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
7
238
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 7 · Respirationstrakt
. Tab. 7.20. (Fortsetzung) BK Nr.
Krankheiten
2110
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
2111
Erhöhte Zahnabrasionen durch mehrjährige quarzstaubbelastende Tätigkeit
22
Druckluft
2201
Erkrankungen durch Arbeit in Druckluft
23
Lärm
2301
Lärmschwerhörigkeit
24
Strahlen
2401
Grauer Star durch Wärmestrahlung
2402
Erkrankungen durch ionisierende Strahlen
3
Durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten
3101
Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war
3102
Von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten
3103
Wurmkrankheit der Bergleute, verursacht durch Ankylostoma duodenale oder Strongyloides stercoralis
3104
Tropenkrankheiten, Fleckfieber
4
Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenfells und Bauchfells
41
Erkrankungen durch anorganische Stäube
4101
Quarzstaublungenerkrankung (Silikose)
4102
Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Siliko-Tuberkulose)
4103
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte Erkrankungen der Pleura
4104
Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren {(25 × 106 [(Fasern/m3) × Jahre])}
4105
Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Pericards
4106
Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Aluminium oder seine Verbindungen
4107
Erkrankungen an Lungenfibrose durch Metallstäube bei der Herstellung oder Verarbeitung von Hartmetallen
4108
Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Thomasmehl (Thomasphosphat)
4109
Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen
4110
Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokereirohgase
4111
Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m3) x Jahre]
4112
Lungenkrebs durch die Einwirkung von kristallinem Siliziumdioxid (SiO2) bei nachgewiesener Quarzstaublungenerkrankung (Silikose oder Siliko-Tuberkulose)
42
Erkrankungen durch organische Stäube
4201
Exogen-allergische Alveolitis
4202
Erkrankungen der tieferen Atemwege und der Lungen durch Rohbaumwoll-, Rohflachs- oder Rohhanfstaub (Byssinose)
13 14 15 16 17 18 19 20
239 7.6 Anhang
. Tab. 7.20. (Fortsetzung) BK Nr.
Krankheiten
4203
Adenokarzinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichen- oder Buchenholz
43
Obstruktive Atemwegserkrankungen
4301
Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie), die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
4302
Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
5
Hautkrankheiten
5101
Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
5102
Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe
6
Krankheiten sonstiger Ursache
6101
Augenzittern der Bergleute
7
240
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Anamnesebogen
1 2 3
für Beschäftigte/Patienten mit beruflicher Belastung gegenüber Inhalationsstoffen Ordinariat für Arbeitsmedizin Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin
Name/Vorname:_______________________________________
Arbeitsmedizinische Poliklinik
Anschrift:_________________________________________ ___
4
Direktor: Prof. Dr. med. X. Baur
Telefon:______________________________________________
ZfAM:
Untersuchungstermin:__________________________________
5
Seewartenstr. 10, Haus 1 20459 Hamburg
Anmeldung unter: Telefon: 040 – 428 894-501 Telefax: 040 – 428 894-514
Untersuchungsort:__________________________________ ___
6 Bitte gehen Sie die Fragen der Reihe nach durch und beantworten Sie diese, indem Sie ein
7
X in das zutreffende Kästchen setzen oder die Antwort an die durch einen Strich
8
Bitte achten Sie darauf, dass alle Fragen beantwortet werden. Wenn Sie Schwierigkeiten
9 10
______ beziehungsweise durch einen grauen Kasten bezeichnete Stelle schreiben. bei der Beantwortung der Fragen haben, helfen wir Ihnen gerne. Ihre Antworten unterliegen selbstverständlich der ärztlichen Schweigepflicht, eine Weitergabe an den Arbeitgeber ist ausgeschlossen.
Ausbildung, Beschäftigung, Arbeitsplatz 1 Haben Sie eine Berufsausbildung abgeschlossen?
11
Nein, ich bin noch in beruflicher Ausbildung als _______________ seit
Jahr
12 13
Nein, kein beruflicher Abschluss
Ja, und zwar:
Lehre/ Ausbildung als _______________ von
bis Jahr
Jahr
Gesellenprüfung als ____________________________ Abschluss
14
Jahr
Meisterprüfung als _____________________________ Abschluss
15 16 17 18 19 20
Jahr
Anderer Ausbildungsabschluss (welcher: ________________________________) 2 Sind Sie zur Zeit erwerbstätig? (Unter Erwerbstätigkeit wird jede bezahlte, bzw. mit einem Einkommen verbundene Tätigkeit verstanden, egal welchen zeitlichen Umfang sie hat) Ich bin vollzeit-erwerbstätig Ich bin teilzeit-erwerbstätig Ich bin Umschüler/Auszubildende(r)/Lehrling Ich bin in Mutterschafts-/Erziehungsurlaub oder in sonstiger Beurlaubung Ich bin zur Zeit nicht erwerbstätig Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,
© Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
. Abb. 7.11. Anamnesefragebogen für Patienten mit Verdacht auf berufsbedingte Lungen- und Atemwegskrankheiten der Universität Hamburg
241 7.6 Anhang
2b In welcher Firma bzw. bei welchem Arbeitgeber arbeiten Sie zur Zeit bzw. haben Sie zuletzt gearbeitet? Name des Firma (Beispiel: Firma Blau _________________
Beruf Lagerarbeiter _________________
Art der Tätigkeit Verpacken von Tee
seit (Monat/Jahr) 0 3 9 8)
________________________
3 Haben Sie im Rahmen Ihrer derzeitigen (bzw. letzten) Tätigkeit mit den folgenden Stäuben oder Reizstoffen Kontakt gehabt? (Mehrfachnennungen sind möglich) anorganische Stäube (z.B. Stein, Sand, Zement, Asbest, Keramikfasern, Glas-, Steinwolle) organische Stäube (z.B. Latex, Holz, Mehl, Textilien, Bio-, Hausmüll) Lösungsmittel (z.B. Benzol, Toluol, Tri) Schweißrauche/-gase Kunststoffe (z.B. Polystyrol, PVC, PU-Schaum, Isocyanate) Farben, Lacke Andere Stoffe, und zwar: ___________________________________ 3b Wurden durch vorgenannte Stoffe Beschwerden ausgelöst?............ ja nein Falls ja, welche Beschwerden: ______________________________________________ _______________________________________________________________________ 4 Haben Sie früher in anderen Betriebsteilen der Firma gearbeitet?............ ja nein Falls ja: Betriebsteil Tätigkeit von (Jahr) bis (Jahr) Dabei belastet durch folgende Stäube, Gase oder Reizstoffe (Beispiel: Werkstatt
Lackierer
9 8 - 9 9
- ___________________ -
Lösungsmittel und Lacke
)
I ________________ ___________________
____________________________
II ________________
____________________________
5 In welchen Betrieben haben Sie vor Eintritt in die jetzige Firma bzw. Arbeitsstelle gearbeitet? Firma/Wirtschaftszweig Tätigkeit von (Jahr) bis (Jahr) Dabei belastet durch folgende Stäube, Gase oder Reizstoffe (Beispiel: REWE / Transport Fahrer
98 - 9 9
- II. ________________ ________________ - III. _______________ ________________ -
I. ________________ ________________
Dieselmotorabgase
)
___________________________ ___________________________ ___________________________
6 Haben Sie während Ihrer derzeitigen (bzw. letzten) Tätigkeit persönliche Schutzmöglichkeiten beim Arbeiten benutzt? ............................................ ja nein Falls ja, welche (Mehrfachnennungen sind möglich)? Atemschutz (Staub-, Zellstoff-, Gas-, Filtermaske) Handschuhe Schutzkleidung Andere und zwar______________________________________________________ Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,,
. Abb. 7.11. (Fortsetzung)
2 © Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
7
242
1 2 3 4
Kapitel 7 · Respirationstrakt
7 Gibt es an Ihrem derzeitigen (bzw. letzten) Arbeitsplatz weitere Schutzmöglichkeiten?................................................................................. Falls ja, welche (Mehrfachnennungen sind möglich)? Absauganlage Klimaanlage 8 Wurden bei Ihnen arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen durchgeführt?............................................................................................... Falls ja:
.
8a Wann und wo zuletzt?
6
nein
ja
nein
______________________________
Monat
5
ja
Jahr
Name der Institution, Ort
Beschwerden und Erkrankungen 9 Haben Sie momentan Beschwerden bzw. eine Erkrankung, die eventuell durch Ihre berufliche Tätigkeit hervorgerufen wurde?............................ ja Falls ja, schildern Sie bitte die Tätigkeiten, die Sie dafür verantwortlich machen:
nein
7
_____________________________________________________________________
8
9a Seit wann haben Sie die genannten Beschwerden ? Seit
. Monat
9 10
10 Haben Sie Ihre Tätigkeit wegen arbeitsplatzbezogener / -bedingter Beschwerden eingestellt?............................................................................. Falls ja: Monat
14 15 16
nein
ja
nein
Jahr
10b Wurden Sie innerbetrieblich umgesetzt?.............................................
.
Falls ja, wann?
12 13
ja
.
10a Wann?
11
Jahr
Monat
Jahr
10c Wie sind seit der Einstellung der Tätigkeit bzw. der innerbetrieblichen Umsetzung Ihre Beschwerden? unverändert nicht mehr vorhanden etwas besser verstärkt 11 Sind Sie zur Zeit vom Arzt krank (arbeitsunfähig) geschrieben?
.
Ja, wegen (Diagnose): _____________________ seit Monat
Jahr
Nein
17 18
11a Waren Sie während des letzten Jahres arbeitsunfähig? Ja, wegen ____________________ von
bis Monat
Tage
für Monat
Anzahl
Nein
19 20
Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,,
. Abb. 7.11. (Fortsetzung)
3 © Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
243 7.6 Anhang
11b Waren Sie früher schon einmal wegen derselben Erkrankung arbeitsunfähig? Ja, wegen ____________________ von
bis für Tage Jahr
Jahr
Anzahl
Nein 12 Leiden oder litten Sie unter anhaltendem Fließschnupfen, Niesattacken oder verstopfter Nase?................................................................................ Falls ja: 12a In welchem Zeitraum? Von
ja nein
bis Jahr
Jahr
12b Trat oder tritt dies vermehrt am Arbeitsplatz auf? .............................
ja nein
Wenn ja, bei welcher Tätigkeit:_____________________________ 12c Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?.......................
ja nein
Wenn ja, welcher Substanz:________________________________ 12d Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden ausgelöst?_____________________________________________ 12e Sind die genannten Beschwerden im Urlaub gebessert?......................
ja nein
13 Haben Sie oder hatten Sie jemals anhaltendes Augenbrennen, Augenjucken, Augentränen oder Augenrötung?........................................ ja nein Falls ja: 13a In welchem Zeitraum? Von
bis Jahr
Jahr
13b Trat oder tritt dies vermehrt am Arbeitsplatz auf? ............................. ja nein Wenn ja, bei welcher Tätigkeit:____________________________ 13c Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?.......................
ja nein
Wenn ja, welcher Substanz:_______________________________ 13d Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden ausgelöst?_____________________________________________ 13e Sind die genannten Beschwerden im Urlaub gebessert?......................
Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,,
. Abb. 7.11. (Fortsetzung)
ja nein
4 © Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
7
244
1 2 3 4
Kapitel 7 · Respirationstrakt
14 Haben Sie oder hatten Sie jemals gehäuft Husten?.................................... Falls ja: 14a In welchem Zeitraum? Von
ja
nein
ja
nein
ja
nein
bis Jahr
Jahr
14b Trat oder tritt dies vermehrt am Arbeitsplatz auf?................................ Wenn ja, bei welcher Tätigkeit:______________________________ 14c Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?........................ Wenn ja, welcher Substanz:________________________________
5 6 7 8 9
14d Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden ausgelöst?_____________________________________________ 14e Falls ja, haben oder hatten Sie dabei vermehrt Auswurf für mindestens 3 Monate pro Jahr in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Jahren? .. ja
nein
14f Sind die genannten Beschwerden im Urlaub gebessert?.......................
ja
nein
15 Haben Sie oder hatten Sie jemals ein pfeifendes oder brummendes Geräusch in Ihrem Brustkorb?.................................................................... Falls ja:
ja
nein
ja
nein
ja
nein
15a In welchem Zeitraum? Von
10 11 12
bis
15b Trat oder tritt dies vermehrt am Arbeitsplatz auf?................................ Wenn ja, bei welcher Tätigkeit:_____________________________ 15c Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?........................ Wenn ja, welcher Substanz:________________________________
15d Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden
13 14 15 16 17
ausgelöst?_____________________________________________ 15e Sind die genannten Beschwerden im Urlaub gebessert?......................
ja
nein
15f Hatten Sie dieses Pfeifen oder Brummen, wenn Sie nicht erkältet waren?.................................................................................................. 15g Hatten Sie jemals Atemnot, als dieses pfeifende Geräusch auftrat?......
ja ja
nein nein
ja
nein
16 Haben Sie oder hatten Sie jemals Luftnot beim Treppensteigen?............. Falls ja, 16a nach wievielen Stockwerken? 16b in welchem Zeitraum? Von
(Anzahl)
bis
18 19 20
Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,,
. Abb. 7.11. (Fortsetzung)
5 © Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
245 7.6 Anhang
17 Haben Sie oder hatten Sie jemals Anfälle von Kurzatmigkeit?................ Falls ja:
ja nein
17a In welchem Zeitraum? Von bis 17b Trat oder tritt dies vermehrt am Arbeitsplatz auf?................................. ja nein Wenn ja, bei welcher Tätigkeit:____________________________ 17c Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?......................
ja nein
Wenn ja, welcher Substanz:_______________________________ 17d Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden ausgelöst?_____________________________________________ 17e Sind die genannten Beschwerden im Urlaub gebessert?......................
ja nein
18 Haben Sie oder hatten Sie jemals Fieberschübe, Schüttelfrost, Grippegefühl mit Gliederschmerzen und Kurzatmigkeit während oder nach einer Arbeitsschicht?............................................................................ ja nein Falls ja: 18a In welchem Zeitraum? Von
bis
18b Nach welcher Tätigkeit:____________________________________ 18c Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?.......................
ja nein
Wenn ja, welcher Substanz:_______________________________ 18d Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden ausgelöst?_____________________________________ 18e Sind die genannten Beschwerden im Urlaub gebessert?...................... 18f Traten diese Symptome auch außerhalb der Erkältungszeit auf?.........
ja nein ja nein
19 Haben Sie oder hatten Sie jemals Hautausschläge oder Ekzeme?............ ja nein Falls ja: 19a An welchen Körperstellen treten diese auf:________________________ 19b In welchem Zeitraum? Von
bis
19c Trat oder tritt dies vermehrt am Arbeitsplatz auf?................................ ja nein Wenn ja, bei welcher Tätigkeit: _____________________________ 19d Können sie dies einer bestimmten Substanz zuordnen?.......................
ja nein
Wenn ja, welcher Substanz:________________________________ 19e Durch welche sonstigen Stoffe und Gegebenheiten werden diese Beschwerden ausgelöst?______________________________________________ 19f Haben Sie eine Unverträglichkeit gegenüber Modeschmuck?............. Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,,
. Abb. 7.11. (Fortsetzung)
ja nein
6 © Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
7
246
1 2
Kapitel 7 · Respirationstrakt
20 Haben Sie oder hatten Sie Heuschnupfen?................................................. Falls ja, 20a In welchem Zeitraum?
von
bis
21 Löst Tierkontakt bei Ihnen Beschwerden aus?..........................................
3
ja nein
ja nein
Falls ja, 21a Welche Tiere?______________________________________________________
4
21b Welche Beschwerden? _______________________________________________
5
21c Haben Sie Haustiere?...................................................................
6
Falls ja, welche Tiere?____________________________________________________
7 8 9 10 11 12 13 14
ja nein
Allgemeine Angaben 22 Welchen Schulabschluss haben Sie? Haupt-/Volksschule Realschulabschluss / Mittlere Reife Anderer Schulabschluss (welchen: ________________________) Keinen Schulabschluss 23 Welche Staatsangehörigkeit haben Sie? Deutsche Andere 24 Haben Sie früher Zigaretten geraucht oder rauchen Sie zur Zeit? Habe noch nie geraucht (bis auf ganz seltenes Probieren) Ja, rauche zur Zeit Ja, habe früher geraucht, rauche jetzt nicht mehr Falls Sie rauchen bzw. früher geraucht haben: - Wieviel rauchen Sie zur Zeit gewöhnlich am Tag, bzw. wieviel haben Sie früher durchschnittlich geraucht? Pro Tag:
Zigaretten
Zigarren Pfeifen
- Wie alt waren Sie, als Sie angefangen haben, regelmäßig zu rauchen?...
Jahre
bzw. 200
15
- Falls zutreffend, wann haben Sie aufgehört zu rauchen?.... 19
16
Sollten sich Ihre Rauchgewohnheiten wiederholt geändert haben, so geben Sie bitte das Jahr an, in dem Sie das letzte Mal aufgehört haben zu rauchen.
17
25 Weitere Kommentare von Ihrer Seite: _________________________________________________________________________
18 19 20
Vielen Dank für die Beantwortung! Bitte überprüfen Sie, ob Sie alle Fragen beantwortet haben! Allgemeiner Fragebogen.doc 03.08.07,,
. Abb. 7.11. (Fortsetzung)
7 © Ordinariat und Zentralinstitut für Arbeitsmedizin, Hamburg
247 Literatur
Literatur ATS (American Thoracic Society)/ERS (European Respiratory Society) (2002) International multidisciplinary consensus classification of the cdiopathic interstitial pneumonias Am J Respir Crit Care Med 165: 277–304 American Thoracic Society (2005) ATS/ERS Recommendations for standardized procedures for the online and offline measurement of exhaled lower respiratory nitric oxide and nasal nitric oxide. Am J Respir Crit Care Med 171: 912–930 Baur X (1993) Allergie und Berufswahl. Allergologie 16: 96–98 Baur X (Hrsg) (1998a) Lungenfunktionsprüfung und Allergiediagnostik. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, München-Deisenhofen Baur X (1998b) Arbeitsmedizinische Aspekte der nasalen Erkrankungen. Laryngo Rhino Otol 77: 191–195 Baur X (2000) Lungenfunktionsprüfung und Allergiediagnostik. DustriVerlag Dr. Karl Feistle, München-Deisenhofen Baur X (2006) Skriptum Arbeitsmedizin. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, München-Deisenhofen Baur X (2008a) Lungenfunktionsprüfung und Allergiediagnostik. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, München-Deisenhofen (im Druck) Baur X (in press) Airborne allergens and irritants in the workplace (mit 3 Tabellen). In: Kay AB (ed) Allergy and allergic diseases, 2nd edn. Blackwell (im Druck) Baur X, Hillenbach C, Degens P (1994) Literaturstudie »Chronische Bronchitis und Emphysem – eine Berufskrankheit der Bergleute?« Bochum: Eigendruck BGFA Baur X, Nowak D, Triebig G, Schneider J (2005a) Arbeitsmedizinische Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. – Lungenfunktionsprüfungen in der Arbeitsmedizin. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 40 (6): 358–367 Baur X, Haamann F, Heutelbeck AR, Jaeckel, Hallier E, Kraus T, Merget R, Nowak D, Triebig G, van Kampen V, Schneider, Woitowitz (2005b) Arbeitsmedizinische Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. Arbeitsplatzbezogener Inhalationstest (AIT). Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 40 (4): 260–267 Baur X, Köhler D, Voshaar T (2005c) Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie zur Begutachtung der Silikose. Pneumologie 59: 549–553 Becker P (2004) Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeits- und Wegeunfälle, Berufskrankheiten (dtv Beck Rechtsberat. 50628). Deutscher Taschenbuchverlag, München Börger HH (1987) EKG-Information, 5. Aufl. Steinkopff, Darmstadt Brändli O, Leuenberger Ph, Schindler Ch, Baur X, Degens P, Künzli N, Keller R, Perruchoud A P (2000) Reestimated reference equations for the 5th percentiles of lung function variables in the adult population of Switzerland (SAPALDIA-study). Thorax 55: 173–174 Brändli O, Schindler Ch, Künzli N, Keller R, Perruchoud A P, SAPALDIA team (1996) Lung function in healthy neber smoking adults: reference values an lower limits of normal of a Swiss population. Thorax 51: 277–283 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (1993) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz. Köllen Druck und Verlag GmbH, Bonn (das sog. »Blaue Buch«; Anm. der Autoren) Cote J, Kennedy S, Chan-Yeung M (1990) Outcome of patients with cedar asthma with continuous exposure. Am Rev Respir Dis 141: 373–376 Deutsche Atemwegsliga und Deutsche Gesellschaft für Pneumologie (2002) Leitlinie der Deutschen Atemwegsliga und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie zur Diagnostik und Therapie von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis und Lungenemphysem (COPD) Pneumologie 56: 704–738
Deutsche Gesellschaft für Pneumologie (1997) Empfehlungen zur Diagnostik der ambulant erworbenen Pneumonie. Pneumologie 51: 69–77 Deutsche Gesellschaft für Pneumologie (2000) Empfehlungen zur Diagnostik des Bronchialkarzinoms. Pneumologie 54: 361–371 Deutsche Gesellschaft für Pneumologie (2001) Leitlinien zur Sauerstoff-Langzeittherapie. Pneumologie 55,454–464 Deutsche Gesellschaft für Pneumologie, Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie, Deutsche Gesellschaft für Thoraxchirurgie und Arbeitsgemeinschaft für Internistische Onkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft (2002) Gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie, der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie, der Deutschen Gesellschaft für Thoraxchirurgie und der Arbeitsgemeinschaft für Internistische Onkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft. Empfehlungen zur Therapie des Bronchialkarzinoms. Pneumologie 56: 113–131 Erlenkämper A (1998) Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs bei Berufskrankheiten. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 33: 9 Fischer J, Mayer G, Penzel T, Riemann D, Sitter H (2005) Nicht erholsamer Schlaf. Leitlinie »S2« der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Thieme, Stuttgart New York Fritze E, Mai B (1996) Die ärztliche Begutachtung. Rechtsfragen, Funktionsprüfungen, Beurteilungen, Beispiele, 6. Aufl. Steinkopff, Darmstadt Gemeinsamer Beirat für Verkehrsmedizin (2002) Krankheit und Verkehr. Bundesministerium für Verkehr, Bonn Greim H (2007) MAK- und BAT-Werte Liste. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Mitteilung 43. VCH-Verlagsgesellschaft, Weinheim Hausmann G, Schilling M, Wendler U (2005) VdK Deutschland, eds. Sozialrecht –Begutachtungsrelevanter Teil, Sozialmedizinischer. Karen Schillings, Mönchengladbach Hering KG, Jacobsen M, Bosch-Galetke E, Elliehausen HJ, Hieckel HG, Hofmann-Preiß K, Jacques W, Jeremie U, Kotschy-Lang N, Kraus T, Menze B, Raab W, Raithel HJ, Schneider WD, Straßburger K, Tuengerthal S, Woitowitz HJ (2003) Die Weiterentwicklung der Internationalen Staublungenklassifikation – von der ILO 1980 zur ILO 2000 und zur ILO 2000/Version Bundesrepublik Deutschland. Pneumologie 57: 576–584 Huber RM, ed. (2006) Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Tumoren der Lunge und des Mediastinums. 7. Aufl. Zuckschwerdt, München Jacobi W (1993) Verursachungs-Wahrscheinlichkeit von Lungenkrebs durch die berufliche Strahlenexposition von Uran-Bergarbeitern der Wismut AG. GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit GmbH, Neuherberg Kroidl RF, Nowak D, Seysen U (Hrsg) (2002) Bewertung und Begutachtung in der Pneumologie. Thieme, Stutgart New York Marine WM, Gurr D, Jacobsen M (1988) Clinically important respiratory effects of dust exposure and smoking in British coal miners. Am Rev Respir Dis 137 (1): 106–112 Marquardt H, Schäfer SG (1994) Lehrbuch der Toxikologie. Wissenschaftsverlag, Mannheim Matthys H, Zaiss AW Theissen JL, Virchow JC, Werner P (1995) Definitionen, Soll- und Messwerte zur Diagnose obstruktiver, restriktiver sowie gemischter Ventilationsstörungen für die klinische Lungenfunktionsdiagnostik. Atemw Lungenkrkh 21: 130–138 McNicholas WT (1999) ERS task force on »Public health and medicolegal implications of sleep apnoea«: Sleep apnoea and driving risk. Eur Respir J 13: 1227–1229 McNicholas WT, Krieger J on behalf of the Task Force members (2002) Public health and medicolegal implications of sleep apnoea. Eur Respir J 20: 1594–1609 Miller MR, Crapo R, Hankinson J, Brusasco V, Brugos F, Casaburi R, Coates A, Enright P, Grinten van der CPM, Gustafsson P, Jensen R, Johnson DC, MacIntyre N, McKay R, Navajas D, Petersen OF, Pellegrino R,
7
248
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 7 · Respirationstrakt
Viegi G, Wanger J (2005a) General considerations for lung function testing. Eur Respir J 26: 153–161 Miller MR, Hankinson J, Brusasco V, Burgos F, Casaburi R, Coates A, Crapo R, Enright P, Grinten van der CPM, Gustafsson P, Jensen R, Johnson DC, MacIntyre N, McKay R, Navajas D, Pedersen OF, Pellergrino R, Viegi G, Wanger J (2005b) Standardisation of spirometry. Eur Respir J 26: 319–338 Morfeld P, Piekarski C (1996) Chronische Bronchitis und Emphysem als Berufskrankheit der Steinkohlenbergleute. Haefner, Heidelberg (Schriftenreihe des Zentralbl Arbeitsmed 15) Muttray A, Klimek K, Jung D, Rose D-M, Man W, Konietzko J (1998) Die toxische Hyp- und Anosmie – eine »vergessene« Berufskrankheit? Zentralbl Arbeitsmed 48: 113–117 Niebecker M, Smidt U, Gasthaus, Worth G (1995) Zur Häufigkeit einer Atemwegsobstruktion bei der Asbestose. Pneumologie 49: 20–26 Nowak D, Baur X (1999) Konsensuspapier zur Begutachtung der neuen Berufskrankheit »Chronische Bronchitis/Emphysem bei Steinkohlenbergleuten« (BK 4111). Pneumologie 53: 150–154 Pauwels RA, Buist AS, Calverley PM, Jenkins CR, Hurd SS; GOLD Scientific Committee (2001) Global strategy for the diagnosis, management, and prevention of chronic obstructive pulmonary disease. Am J Respir Crit Care Med163: 1256–1276 Pellegrino R, Viegi G, Brussasco V, Crapo RO, Burgos F, Casaburi R, Coates A, Grinten van der CPM, Gustafsson P, Hankinson J, Jensen R, Johnson DC, MacIntyre N, McKay R, Miller MR, Navajas D, Pedersen OF, Wanger J (2005) Interpretative strategies for lung function tests. Eur Respir J 26: 948–968 Quanjer PH (1983) Standardized lung function testing. Bull Eur Physiopath Respir 5: 1–92 Reichel G (1984). Epidemiologische Untersuchung zur Frage von Bronchial- und Lungenerkrankungen bei Elektroschweißern. Atemw Lungenkrkh 10: 444–447 Ruckley VA, Fernie JM, Chapman JS, Collings P, Davis JM, Douglas AN, Lamb D, Seaton A (1984a) Comparison of radiographic appearances with associated pathology and lung dust content in a group of coal workers. Br J Ind Med 41 (4): 459–467 Ruckley VA, Gauld SJ, Chapman JS, Ruckley VA, Gauld SJ, Chapman JS, Davis JM, Douglas AN, Fernie JM, Jacobsen M, Lamb D. (1984b) Emphysema and dust exposure in a group of coal workers. Am Rev Respir Dis 129 (4): 528–532 Rühle K-H, Mayer G (1998) Empfehlungen zur Begutachtung von SchlafWachstörungen und Tagesschläfrigkeit. Somnologie 2: 89–95 Shih JF, Wilson JS, Broderick A, Watt JL, Galvin JR, Merchant JA, Schwartz DA (1994) Asbestos-induced pleural fibrosis and impaired exercise physiology. Chest 105 (5): 1370–1376 Smidt U (1974) Distribution of inhaled air in coal workers with and without silicosis. Int Arch Gewerbepathol Gewerbehyg 3–15 Sommerwerck D (1977) Begutachtung von bleibenden Schäden nach Thoraxverletzungen. Prax Pneumol 31: 239–248 Sommerwerck D (1979) Funktionelle Spätschäden nach stumpfem Thoraxtrauma und ihre Begutachtung. Prax Pneumol 33: 523–528 Ulmer WT, Reichel G, Nolte D, Islam MS (1991) Die Lungenfunktion. Physiologie, Pathophysiologie, Methodik. 5. Aufl. Thieme, Stuttgart New York van Kampen V (1997) Atemwegsschädigende Wirkung organischer landwirtschaftlicher Aerosole. Atemw-Lungenkrkh 23: 475–477 Verband der Haftpflichtversicherer, Unfallversicherer, Autoversicherer und Rechtsschutzversicherer e.V. (HUK-Verband) (2003) Hinweise für die Bemessung des Invaliditätsgrades in der privaten Unfallversicherung. Allgemeine Unfallversicherungs-Bedingungen – AUB 2002 Wasserman K, Hansen JE, Sue DY, Stringer WW, Whipp BJ (2005) Principles of exercise testing and interpretation. Including pathophysiology and clinical applications. 4th edn. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Baltimore New York London:
Wendland ME, Wolff HF, Mehrtens G, Perlebach E (2005) Die Berufskrankheitenverordnung (BKV). Schmidt, Berlin Woitowitz HJ (1989) Anforderungen an die arbeitsmedizinische Begutachtung von Berufskrankheiten. Med Sachverst 85: 197–206 Woitowitz HJ (1998) Kriterien für neue Berufskrankheiten aus arbeitsund sozialmedizinischer Sicht. Med Sachverst 94: 105–110 Woitowitz HJ, Szadkowski D, Lehnert G (1969) Feldstudie zum Normverhalten der arteriellen Blutgase und des pH berufstätiger Männer und Frauen vor und gegen Ende dosierter Belastungen im Hinblick auf die Begutachtung. Archiv für Kreislaufforschung 58: 3653 Zober A (1981) Symptome und Befunde am bronchopulmonalen System bei Elektroschweißern. entralbl Bakt Hyg, I Abt Orig B 173: 92– 119 Zober A (1989) Der Schweißerarbeitsplatz. In: Konietzko J, Dupuis H (Hrsg) Handbuch der Arbeitsmedizin, Kap VI-9.20.1. Ecomed, Landsberg Zschiesche W, Engel K, Goede M, Lehnert G, Haferkamp H (1994) Vergleichende Untersuchungen zur Emission thermischer Zersetzungsprodukte beim Zerschneiden von Kunststoffen unter arbeits- und umweltmedizinischen Gesichtspunkten. Verlagsgesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin. Gentner Verlag, Stuttgart
Internetadressen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2008) http: //www.bmas.de/coremedia/generator/22788/ property=pdf/2007__12__11__anhaltspunkte__gutachter.pdf Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX). Bonn, Berlin: BMAS Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. www-dgaum.med.uni-rostock.de/Hauptfeld_home.htm Fachgesellschaft Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. www.pneumologie.de/ Fachgesellschaft DGAUM www-dgaum.med.uni-rostock.de/asu_H.htm Fachzeitschrift »Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin« Dr. Curt Haefner-Verlag GmbH www.haefner-verlag.de/chv/fachmedien/255632. html?rubid=254927 Fachzeitschrift »Zentralblatt für Arbeitsmedizin« Georg Thieme Verlag KG Stuttgart www.thieme.de/fz/pneumologie/impressum.html Fachzeitschrift »Pneumologie« National Institute of Health. National Heart, Lung and Blood Institute (2007) www.ginasthma.com Global Initiative for Asthma (GINA). Global strategy for asthma management and prevention (revised) Robert Koch-Institut und Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (Hrsg) (2002) www.osl-online.de/gesundheitsamt/downloads/kinder_wiederzulassung1.pdf Empfehlungen für die Wiederzulassung in Schulen und sonstigen Gemeinschaftseinrichtungen. Merkblatt für Ärzte. Bundesgesundheitsblatt 830–843; Erläuterung im Epidemiologischen Bulletin 2002: 158–159. Aktualisierung 2004
249
Leber – Gallenwege – Pankreas G. Jäger, R. Zachoval
8.1
Erkrankungen der Leber
8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.1.7
Fettleber, alkoholbedingte Lebererkrankung, nichtalkoholische Steatohepatitis – 251 Virushepatitiden – 252 Nichtvirale Lebererkrankungen – 258 Akutes Leberversagen – 258 Primär maligne Lebertumoren – 259 Toxische und medikamentenbedingte Leberschäden – 259 Zustand nach Lebertransplantation – 260
8.2
Erkrankungen der Gallenwege
8.3
Erkrankungen des Pankreas
8.3.1 8.3.2
Pankreatitis – 263 Pankreaskarzinom – 264
Literatur
– 264
– 250
– 262
– 263
8
250
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
Bildgebende Diagnostik
))
1
Mehr als 80% aller Leberkranken klagen über Müdigkeit, rasche Ermüdbarkeit, allgemeine Leistungsschwäche – alles Symptome, die schwer objektivierbar und graduierbar sind und als Kriterium für die sozialmedizinische Beurteilung nur sehr eingeschränkt geeignet sind. Der Grad der Leberschädigung selbst ist die entscheidende Grundlage für die gutachterliche Beurteilung. Eine strenge Korrelation zwischen subjektiver Beeinträchtigung und Schweregrad der Lebererkrankung gibt es nicht. In ähnlicher Weise gibt es keine enge Korrelation zwischen dem Ausmaß pathologischer Serumleberwerte und dem Grad der Leberschädigung, falls es sich nicht um Beurteilung der Syntheseleistung bei Leberzirrhose handelt. Gallensteine, die häufigste Erkrankung der Gallenwege, sind sehr oft asymptomatisch. Kommt es zu Beschwerden, ist eine Cholezystektomie bzw. ein endoskopisches Vorgehen bei Choledocholithiasis die Therapie der Wahl. Akute und chronische Entzündungen des Pankreas sind klinisch oft schwere Krankheitsbilder, die zu vielfältigen Komplikationen führen können. Insbesondere die chronische Pankreatitis hat eine zweifelhafte Prognose im Langzeitverlauf.
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
8.1
Erkrankungen der Leber
Diagnostik Anamnese Für die Begutachtung Leberkranker sind selbstverständlich die vollständige Anamnese, Angaben über die Erstmanifestation der Erkrankung, den bisherigen Verlauf und die Art und Dauer bisher durchgeführter Behandlungsmaßnahmen von entscheidender Bedeutung.
Körperliche Untersuchung
14 15 16 17 18 19 20
Bei der körperlichen Untersuchung ist auf eventuell vorhandene Zeichen einer fortgeschrittenen Lebererkrankung (Ikterus, verhärtete, vergrößerte Leber, vergrößerte Milz, Aszites, Ödeme, Verlust der Sekundärbehaarung, Palmarerythem, Spider-Nävi) zu achten.
Morphologische Beurteilung der Leber 5 Klinische Untersuchung – Größe – Konsistenz – Oberfläche 5 Sonographie 5 Computertomographie (CT) 5 Magnetresonanztomographie (MRT) 5 Biopsie, die perkutan (»blind«), ultraschallgesteuert oder laparoskopisch erfolgen kann
Zur Abklärung fokaler Leberläsionen und vor therapeutischen Eingriffen ist nach einer orientierenden Sonographie die MRT zu empfehlen; mit den verschiedenen Wichtungen in der Nativuntersuchung, der Beurteilung der Vaskularisation mittels Gadolinium und gewebespezifischen Bildgebungen durch hepatobiliäre oder eisenhaltige Kontrastmittel ist eine effiziente Diagnostik ohne Strahlenbelastung möglich. Ein Vorteil der CT ist die Möglichkeit einer Bildgebung als komplettes thorakoabdominelles Staging bei Malignomen. > Die CT ist als Methode der Wahl in allen Notfallsituationen anzusehen.
Sonographie. Die Sonographie behält ihren Stellenwert als erstes, schnell einsetzbares Verfahren. Nachteile sind die Untersucherabhängigkeit und das Problem der Reproduzierbarkeit. Die Sonographie ist trotz verbesserter technischer Möglichkeiten und Kontrastmittelgabe kein ideales Verfahren in der präoperativen oder präinterventionellen Situation. Die Duplexsonographie ist geeignet für die Abklärung der Durchblutung portohepatischer Gefäße, insbesondere zur Messung der Pfortaderdurchblutung. In Zentren ist die Druckbestimmung im portalvenösen System durch Lebervenenverschlussdruckmessung möglich. Angiographie. Die Angiographie als rein diagnostische
Untersuchung ist durch die Entwicklung der Schnittbildverfahren in den Hintergrund getreten, behält aber weiterhin ihre Bedeutung zur Planung und Durchführung therapeutischer Interventionen (transarterielle Chemoembolisation [TACE] oder selektive interne Radiotherapie [SIRT]). Ösophago-, Gastro-, Duodenoskopie. Zum Nachweis/ Ausschluss von Varizen im oberen Gastrointestinaltrakt und zur Beurteilung und Graduierung der Varikosis ist bei bestehender/vermuteter Leberzirrhose die Durchführung einer Ösophago-, Gastro-, Duodenoskopie sinnvoll. ERC. Die endoskopische retrograde Cholangiographie (ERC) ist Methode der Wahl für therapeutische Eingriffe am Gallengangsystem (Steinextraktion, Bougierung von Stenosen, Stenteinlage). > Rein diagnostische Fragestellungen können häufig durch nichtinvasive bildgebende Verfahren (z. B. MRCP) beantwortet werden.
Labordiagnostik Klinisch-chemische, virologisch-serologische und immunologische Parameter. Die Beurteilung der Leberfunk-
tion erfolgt durch Bestimmung von Serumalbumin, glo-
251 8.1 Erkrankungen der Leber
balen Gerinnungstests oder Bestimmung der Einzelgerinnungsfaktoren sowie der Pseudocholinesterase. Quantitative Leberfunktionstests (Galaktoseeliminationstest, Aminopyrinatemtest, Meg-X-Test) sind nicht etabliert. Eine Thrombopenie ist oft ein Hinweis auf portale Hypertension/Zirrhose. Cholestaseenzyme sind die alkalische Phosphatase und γ-GT, Marker der Zellintegrität sind: AST, ALT, GLDH. Zu den bei Lebererkrankungen wichtigen virusserologischen und molekularen Testverfahren gehören die Bestimmung von Anti-HAV IgG+M, Anti-HAV IgM, HBsAg, Anti-HBs, Anti-HBc (IgG+M), Anti-HBc IgM, HBeAg, Anti-HBe und die quantitative Bestimmung der HBVDNA. Eine Hepatitis-D-Ko- oder -Superinfektion bei Hepatitis B wird ausgeschlossen/nachgewiesen durch AntiHDV (IgG+M) und HDV-RNA. Die Diagnose der HCVInfektion basiert auf dem Nachweis von Anti-HCV und der HCV-RNA. Ist eine antivirale Therapie geplant, sind ergänzend noch der HCV-Genotyp und die Viruslast quantitativ erforderlich. Die bei uns seltene akute Hepatitis E wird nachgewiesen durch ein positives Testergebnis von Anti-HEV (IgG+M) in Verbindung mit der klinischen Symptomatik. In speziellen Labors ist auch der direkte Nachweis von HEV mittels PCR im Stuhl oder Serum möglich. Neben den typischen Hepatitisviren A–E gibt es noch hepatotrope Viren, zu denen z. B. die Herpesviren wie Epstein-Barr-Virus (EBV), Zytomegalievirus (CMV), Herpes-simplex-Virus (HSV) sowie andere Viren gehören, die ebenfalls eine akute Hepatitis verursachen können, insgesamt jedoch eine geringe Rolle spielen. Autoantikörper im Rahmen der Diagnostik autoimmuner Lebererkrankungen sind: ANA, ASMA, LKM, SLA, AMA, M2, p-ANCA. Der IgG-Spiegel dient zur Abschätzung der entzündlichen Aktivität bei Autoimmunhepatitis; für unklare Befundkonstellationen steht ein Autoimmunhepatitis-Score zur Diagnoseabklärung zur Verfügung. IgM ist ein diagnostischer Marker und Verlaufsparameter bei cholestatischen Lebererkrankungen. Coeruloplasmin im Serum und Kupfer im 24-Stunden-Urin dient zur Diagnostik des Morbus Wilson. Ferritin-Spiegelbestimmung, Transferrinsättigung und molekulargenetische Untersuchungen sind angezeigt bei Verdacht auf hereditäre Hämochromatose. Die Bestimmung des α1-Antitrypsin-Spiegels, ggf. molekulargenetische Untersuchungen, erfolgen bei Verdacht auf α1-AntitrypsinMangel.
Neuropsychiatrische Diagnostik Eine hepatische Enzephalopathie (HE) kann bei neuropsychiatrisch auffälligen Zirrhotikern mit Hilfe des »Zahlenverbindungstests« oder des »Liniennachfahrtests« demaskiert werden. Als neues Verfahren zur Objektivierung der latenten (subklinischen) HE muss
sich die Flimmerfrequenzanalyse im klinischen Alltag noch bewähren.
8.1.1 Fettleber, alkoholbedingte
Lebererkrankung, nichtalkoholische Steatohepatitis Krankheitsdefinition Fettleber Histologisch findet sich eine mittel- bis großtropfige Fettakkumulation in über 50% der Hepatozyten. Die Lipidansammlung – v. a. Triglyceride – ist ein allgemeiner Ausdruck der Leberzellschädigung, ausgelöst durch unterschiedliche Ursachen, u. a. Ernährung, Alkohol, Übergewicht, parenterale Ernährung, Adipositaschirurgie, metabolische Faktoren (Diabetes, Hyperlipidämie) oder Medikamente (Amiodaron, Methotrexat, Östrogene, Steroide). Ein charakteristisches Muster der Veränderung der Serumleberwerte bei Fettleber existiert nicht; ALT, AST, aP und/oder GGT können erhöht sein. Sonographisch findet sich eine homogen vermehrte Echogenität (»helle Leber«). Die Abgrenzung der Steatose zur Steatohepatitis ist nur histologisch möglich.
Alkoholische Lebererkrankung In Abhängigkeit von Alkoholmenge, Dauer des Konsums und anderen Faktoren wie Alter, genetischer Disposition oder Begleiterkrankungen kommt es zur Fettleber und ausgehend von der Fettleber zur Steatohepatitis und zur Fibrose/Zirrhose. Histologisch ist bei der alkoholischen Lebererkrankung eine makrovesikuläre Steatose nachweisbar. Zusätzlich findet sich eine Ballonierung der Hepatozyten und sog. Mallory-Körper (alkoholisches Hyalin). Das Entzündungsinfiltrat besteht vorwiegend aus neutrophilen Granulozyten. Fibrotische Veränderungen sind bei alkoholischer Fettleberhepatitis (ASH) in unterschiedlicher Ausprägung und Erscheinungsform (perivenulär, perisinusoidal) vorhanden.
Nichtalkoholische Steatohepatitis (NASH) Patienten mit NASH weisen histologisch Zeichen der alkoholischen Steatohepatitis bei fehlendem Alkoholkonsum auf. Für die Pathogenese von NASH wird eine 2-HitHypothese vorgeschlagen: Entstehung einer Fettleber auf dem Boden von Adipositas/Insulinresistenz und Diabetes mellitus Typ 2 (1. Hit). Die Insulinresistenz führt zur Erhöhung der Konzentration von freien Fettsäuren, die gestörte mitochondriale β-Oxidation freier Fettsäuren zur Induktion von Entzündungsmediatoren und zur Entstehung reaktiver Sauerstoffspezies (2. Hit) und Lipidperoxidation. Genetische Faktoren spielen wahrscheinlich eine zusätzliche Rolle.
8
252
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
Fragen zum Zusammenhang
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Eine Fettleber findet sich bei 20% der deutschen Bevölkerung (m : w = 3 : 1), bei Übergewichtigen steigt die Prävalenz auf über 70%, oft als Manifestation des metabolischen
Eine Einschränkung der allgemeinen Leistungsfähigkeit ist ebenfalls nur bei erhöhtem Alkoholkonsum im Sinne einer Suchterkrankung anzunehmen.
Syndroms:
5 5 5 5
Insulinresistenz, Übergewicht, Hypertonie, Dyslipoproteinämie.
Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass bei einer Prävalenz von Übergewicht bzw. Diabetes von 25% in der untersuchten Bevölkerung 80% davon eine Fettleber und wiederum 20% davon NASH aufweisen; 10% der NASHPatienten haben bereits eine Leberzirrhose. Die Diagnostik von NASH besteht in der Abgrenzung zu ASH und einer histologischen Sicherung, insbesondere bei Männern im Alter >45 Jahre. Die Fettleber ist die häufigste Form der alkoholischen Lebererkrankung. > Der Schwellenwert für eine Leberschädigung wird bei regelmäßigem Konsum für Männer mit 40–60 g/Tag für Frauen mit 20 g/Tag angenommen.
Die Klinik ist unspezifisch und gibt keinen sicheren Hinweis auf den Schweregrad der Leberschädigung. Bei einer vermuteten alkoholischen Leberschädigung sollte zur Überprüfung des Alkoholkonsums auch eine Fremdanamnese oder standardisierte Fragebögen (CAGE, AUDIT) zu Hilfe genommen werden. Laborwerte wie GGT/MCV haben keine hohe Sensitivität oder Spezifität, typischerweise ist der AST/ALT-Quotient >2.
Risikobeurteilung Eine Minderung der Lebenserwartung ist nur bei Ausbildung einer Leberzirrhose aufgrund von ASH/NASH zu erwarten.
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Die Behandlung der Fettleber besteht in der Behandlung der Risikofaktoren (z. B. kontrollierte Gewichtsabnahme, optimale Blutzuckereinstellung).Hierbei können Rehabilitationsmaßnahmen hilfreich sein. Eine etablierte medikamentöse Therapie der NASH steht nicht zur Verfügung.Randomisierte Placebo-kontrollierte Studien mit Insulinsensitizern (Biguanide, Glitazone) mit ausreichenden Patientenzahlen stehen noch aus. Die therapeutischen Möglichkeiten beschränken sich derzeit auf die Behandlung des metabolischen Syndroms. Bei der alkoholisch bedingten Fettleber/Fettleberhepatitis besteht die Therapie in strikter Abstinenz. Falls notwendig, sollte eine Entziehungskur durchgeführt werden.
8.1.2 Virushepatitiden
Krankheitsdefinition Akute Virushepatitis
Während die reine Fettleber alkoholischer oder nichtalkoholischer Genese bei Ausschaltung der Noxe bzw. Behandlung der zugrunde liegenden Störung voll rückbildungfähig ist, besteht bei der Steatohepatitis die Gefahr des Übergangs in eine Fibrose/Zirrhose mit dem Risiko eines hepatozellulären Karzinoms.
Die akute Hepatitis, hervorgerufen durch die molekularbiologisch und serologisch eindeutig zu identifizierenden 5 Hepatitisvirustypen A–E ist die weltweit häufigste Lebererkrankung. Akute Infektionen verlaufen in der Mehrzahl der Fälle subklinisch und bleiben unentdeckt. Die klinischen Symptome sind bei allen Ätiologien ähnlich: Krankheitsgefühl, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Fieber, Druckgefühl im rechten Oberbauch, Durchfall, Gelenkbeschwerden, Juckreiz, oft auch Gelbsucht. Für die spezifische Diagnostik der verschiedenen Hepatitisformen stehen kommerzielle Tests zur Verfügung (7 Kap. 8.1.1). Spezifische antivirale Maßnahmen werden für die akute Hepatitis B und C diskutiert (s. unten). Im Allgemeinen ist die Behandlung jedoch unspezifisch und symptomatisch.
Unfallversicherung
Chronische Virushepatitis
Ein erhöhtes Risiko für ein Unfallgeschehen ist lediglich bei Vorliegen eines Alkoholsuchtproblems anzunehmen.
Definitionsgemäß wird von einer chronischen Virushepatitis gesprochen, wenn Marker der persistierenden Virusinfektion für mindestens 6 Monate im Blut nachweisbar sind. Chronische Verlaufsformen der viralen Hepatitis kommen nur bei der HBV-, HBV/HDV- und HCVInfektion vor. Chronische Virushepatitiden werden nach
Bewertung nach dem Sozialrecht GdB/MdE-Grad richten sich nach dem Ausmaß der Leberfunktionsstörung. Bei der reinen Fettleber ist die Erwerbsfähigkeit nicht wesentlich (<20%) eingeschränkt.
Begutachtung privat versicherter Schäden Lebensversicherung
253 8.1 Erkrankungen der Leber
der Ätiologie und histologisch nach dem Grad der Entzündung (Grading) und dem Fibrosegrad (Staging) eingeteilt.
Hepatitis A Serologisch ist eine sichere Diagnostik durch den Nachweis von Anti-HAV-IgM (bis 12 Wochen nach Infektion) in einer einzelnen Serumprobe möglich. Anti-HAVIgG persistiert über viele Jahre, evtl. lebenslang, und zeigt Immunität gegen HAV an. Eine passive Immunisierung durch Immunserumglobulin und aktive Impfung durch Totimpfstoffe sind verfügbar.
Hepatitis B Die serologische Diagnostik erfolgt durch Nachweis von HBsAg, HBeAg, Anti-HBc (IgG + IgM), Anti-HBs und Anti-HBe. Mit molekularen Tests kann das Virus direkt im Blut (und Geweben) nachgewiesen werden. Der Nachweis von HBeAg und HBV-DNA spricht für Infektiosität. Akute Hepatitis B
Vor Beginn der klinischen Symptome sind HBsAg, HBeAg, HBV-DNA und dann auch Anti-HBc-IgM (gelegentlich auch als einziger Marker) im Serum nachweisbar. Es kommt dann zum Transaminasenanstieg, bei Ausheilung verschwindet HBeAg, HBV-DNA und schließlich auch HBsAg aus dem Serum. Anti-HBc-IgM sinkt nach 3–4 Monaten unter die Nachweisgrenze, Anti-HBe und der virusneutralisierende Antikörper Anti-HBs zeigen die Ausheilung an.
entscheidung hilfreich sein, sie ist jedoch hierfür nicht die unbedingte Voraussetzung. Virusserologisch kann eine HBeAg-positive von einer HBeAg-negativen HBV-Infektion unterschieden werden, wobei Letztere in aller Regel einer Infektion mit einem in der Precore-Region mutierten Virus entspricht, das kein HBeAg mehr produziert.
Hepatitis D (Hepatitis Delta) Die Infektion mit HDV tritt entweder gleichzeitig mit HBV als Simultaninfektion oder als Superinfektion bei chronischen HBsAg-Trägern auf. Das klinische Erscheinungsbild einer Koinfektion unterscheidet sich nicht von der akuten Hepatitis B, jedoch ist ein vermehrtes Auftreten fulminanter Verläufe beschrieben. Serologisch wird die Diagnose durch Nachweis der HDV-RNA sowie Anti-HDV (IgG+M) gestellt bei gleichzeitigem Nachweis von Anti-HBc-IgM in hohem Titer mit oder ohne HBsAg. Die Hepatitis-Delta-Superinfektion bei chronischer Hepatitis B kann selbstlimitiert mit vorübergehendem Nachweis der HDV-RNA verlaufen, häufiger jedoch kommt es zur Chronifizierung (persistierende HDVRNA) mit Fibroseprogression und beschleunigtem Übergang in eine Zirrhose.
Hepatitis C
Eine antivirale Behandlung der akuten Hepatitis B mit Nukleosid-/Nukleotidanaloga wird für schwere fulminante Formen diskutiert und scheint einen günstigen Effekt auf den klinischen Verlauf zu haben.
Zur Diagnostik der HCV-Infektion werden Antikörper gegen HCV-Antigene (Anti-HCV-Test) bestimmt. Der Anti-HCV-Test ermöglicht keine Unterscheidung zwischen akuter, chronischer oder abgelaufener Infektion. Für den Beweis einer HCV-Infektion ist der direkte Virusnachweis (HCV-RNA) im Serum mittels PCR-Technik erforderlich. Die Transaminasen und die Höhe der Virämie korrelieren nicht mit dem Grad der Leberfibrose. Bei einem Teil der asymptomatischen Patienten mit normalen Serumleberwerten findet sich histologisch eine deutliche Fibrose. Die HCV-Infektion ist mit einer Reihe extrahepatischer Manifestationen assoziiert: gemischte Kryoglobulinämie, Glomerulonephritis, Vaskulitis, Urtikaria, Porphyria cutanea tarda u. v. a.
Chronische Hepatitis B
Hepatitis E
Bei der chronischen HBV-Infektion findet man verschiedene Konstellationen biochemischer und serologischer Marker, die mit der Aktivität der Erkrankung korrelieren und für die Prognose von Bedeutung sind. Neben der allgemeinen Diagnostik wie Transaminasen etc. sind die virologischen Parameter für die Differenzialdiagnose der chronischen Hepatitis-B-Verlaufsformen entscheidend: HBsAg, HBV-DNA quantitativ, HBeAg, Anti-HBe. Für die Therapieindikation ist die Höhe des HBVDNA-Spiegels, die Höhe der Transaminasen, der Grad der Leberschädigung und das Vorhandensein oder Fehlen von extrahepatischen Manifestationen ausschlaggebend. In Zweifelsfällen kann die Leberhistologie bei der Therapie-
Die HEV-Infektion verläuft ähnlich der Hepatitis A, ist bei uns selten und wird typischerweise bei Reisen in Endemiegebiete wie z. B. den indische Subkontinent, Mittelamerika und Nordafrika durch fäkal-orale Übertragung (kontaminierte Speisen und Getränke) erworben. Zur Diagnostik ist ein Anti-HEV-ELISA-Test kommerziell erhältlich. Das Virus ist in der späten Inkubationsphase/frühen Erkrankungsphase auch im Stuhl/Blut Infizierter nachweisbar. Eine Chronifizierung ist wie bei Hepatitis A nicht beschrieben. Eine hohe Letalität wird bei Infektion Schwangerer aus den Endemiegebieten berichtet.
> Bei ca. 5% der betroffenen Erwachsenen (jedoch bei bis zu 90% infizierter Neugeborener) wird das Virus nach der akuten Phase nicht eliminiert, es kommt zur chronischen HBV-Infektion (HBsAg Nachweis ≥6 Monate).
8
254
1 2 3
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
Fragen zum Zusammenhang Hepatitis A Die Hepatitis A ist in Mitteleuropa typischerweise eine Erkrankung bei nichtimmunen Personen nach Reisen in Endemiegebiete. Das HAV wird fäkal-oral meist indirekt durch kontaminierte Nahrungsmittel oder Trinkwasser übertragen; sie wird nie chronisch. Die Hauptmenge des Virus wird in der späten Inkubationszeit im Stuhl ausgeschieden.
4
Hepatitis E
5
Die HEV-Infektion verläuft ähnlich der Hepatitis A, ist bei uns selten und wird ebenfalls bei Reisen in Endemiegebiete durch fäkal-orale Übertragung (Ingestion kontaminierter Speisen und Getränke) erworben.
6 7 8 9 10 11 12 13 14
Hepatitis B Das Hepatitis-B-Virus wird im Blut und in mehreren anderen Körperflüssigkeiten (Samen, Speichel, Galle, Tränenflüssigkeit, Vaginalsekret), nicht jedoch im Urin oder Stuhl nachgewiesen. Der wichtigste Übertragungsweg ist der ungeschützte Sexualkontakt oder der Tausch kontaminierter Kanülen bei i.v.-Drogenkonsumenten. In Ländern mit hoher HBV-Prävalenz spielt auch die Virusübertragung infizierter Mütter auf das Neugeborene eine große Rolle. > Eine passive Immunisierung durch Hepatitis-B-Immunglobulin und aktive Impfung durch HBsAg-Vakzinen ist verfügbar.
Bei medizinischem Personal zeigt die höhere Durchseuchung an HBV-Markern im Vergleich zur Normalbevölkerung eine vermehrte Gefährdung (Nadelstichverletzung, Übertragung über Schleimhäute oder verletzte Haut) an. Das Risiko für eine HBV-Infektion ist bei nicht immunem medizinischem Personal, das regelmäßig mit Patienten und deren Körpersekreten sowie Blut, Serum oder kontaminierten Instrumenten in Kontakt kommt, erhöht.
15 Kommentar
16 17 18 19 20
Bei diesem Personenkreis muss im Falle eines Anerkennungsverfahrens ein konkreter Infektionsnachweis nicht geführt werden (Beweiserleichterung im Berufsfeststellungsverfahren). Ähnliches gilt für die Hepatitis C, wenngleich das Infektionsrisiko deutlich niedriger ist als bei Hepatitis B.
Hepatitis D Das Hepatitis-D-Virus benötigt das HBV zur Vermehrung, bei einer HDV-Infektion ist immer gleichzeitig HBsAg nachweisbar. Die Infektion kommt endemisch im
Mittelmeerraum, Teilen Osteuropas (z. B. Rumänien) und epidemisch im Amazonasgebiet vor, in den Industrieländern Mitteleuropas findet sich die Hepatitis D hauptsächlich in Risikogruppen wie Drogenkonsumenten.
Hepatitis C Die Hepatitis C wird parenteral übertragen. Hauptrisikogruppen sind Drogenkonsumenten und Empfänger von Blut oder Blutprodukten vor 1992. Die Übertragung durch Sexualkontakt ist nicht effektiv: In Studien sind ca 2,5% der Partner/Partnerinnen von Patienten ebenfalls anti-HCV-positiv. Die Inzidenz der HCV-Übertragung von infizierten Müttern auf das Neugeborene beträgt in Mitteleuropa ca 5%. Bei medizinischem Personal findet sich selbst im operativen Bereich lediglich eine gering erhöhte Prävalenz von anti-HCV-Antikörpern. Die oft asymptomatische akute Hepatitis erschwert insbesondere bei Hepatitis C die konkrete Festlegung auf einen bestimmten Infektionszeitpunkt.
Kommentar Ein restriktives Vorgehen hinsichtlich Anerkennung einer beruflich bedingten Erkrankung ist bei vorangegangenem i.v.-Drogenkonsum zu empfehlen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Für die Zeit der klinisch-symptomatischen akuten Virushepatitis (A–E) besteht Arbeitsunfähigkeit; die Zeitdauer ist variabel und übersteigt in aller Regel nicht 6–8 Wochen. Nach Normalisierung der Serumleberwerte besteht bei manchen Patienten für einige Wochen bis Monate noch eine Leistungsschwäche (»Posthepatitissyndrom«), möglicherweise auch mitbedingt durch Trainingsmangel. Dieser Zustand ist mit einem GdB/MdE von maximal 20– 30% zu bewerten. Das Risiko der Chronifizierung beträgt bei der frischen HBV-Infektion 5% (bei Erwachsenen), bei der symptomatischen frischen HCV-Infektion ca. 50% und bei der häufigen asymptomatischen Verlaufsform der akuten Hepatitis C nahezu 100%. Die chronische Virushepatitis ist definiert durch den Nachweis der persistierenden Infektion (HBsAg oder HCV-RNA) für >6 Monate. Das Spektrum der Verläufe bei chronischer Hepatitis B oder C reicht vom chronischen asymptomatischen Virusträger mit normaler Histologie oder minimalen Veränderungen und konstant normalen Transaminasen über die chronische Hepatitis mit entzündlicher Aktivität und Fibrose bis zur kompletten Leberzirrhose. > Die Leberbiopsie ist die einzige Untersuchungsmethode, die genaue Auskunft über Aktivitätsgrad (Grading) und Fibrosestadium (Staging) einer chronischen Hepatitis gibt.
255 8.1 Erkrankungen der Leber
. Tab. 8.1. Klassifizierung der chronischen Hepatitis nach Ishak: Modifizierter histologischer Aktivitätsindex (HAI), Grading mit semiquantitativer Beurteilung sowie modifizierte Bestimmung von Fibrose/Zirrhose mit semiquantitativer Beurteilung nach Ishak. Score je nach Ausprägung der Parameter
. Tab. 8.2. Klassifizierung der chronischen Hepatitis nach Ishak bzw. Desmet und Scheuer
Score-Wert HAI
Parameter
Einteilung nach Ishak
Einteilung nach Desmet und Scheuer
Entzündliche Aktivität (Grading)
1–3
Minimal
4–8
Mild (gering)
Piece-meal-Nekrosen
Score 0–4
9–12
Mäßig (mäßig)
Konfluierende Nekrosen
Score 0–6
13–18
Schwer (stark)
Fokale lytische Nekrosen, Apoptosen und fokale Entzündung
Score 0–4
0
Keine Fibrose
1–2
Minimale Fibrose (gering)
Portale Entzündung
Score 0–4
3
Mäßige Fibrose (mäßig)
4–5
Schwere Fibrose (stark)
6
Zirrhose
Fibrosestadium (Staging) (HAI)
Maximaler Score: 18 Bestimmung von Fibrose/Zirrhose Keine Fibrose
Score 0
Fibrose einzelner Portalfelder ± Septen
Score 1
Fibrose der meisten Portalfelder ± Septen
Score 2
Fibrose der meisten Portalfelder mit einzelnen portoportalen Brücken
Score 3
Fibrose der Portalfelder mit portoportalen/portozentralen Brücken
Score 4
Inkomplette Zirrhose
Score 5
Komplette Zirrhose
Score 6 Maximaler Score 6
Nichtinvasive diagnostische Parameter korrelieren nicht zwingend mit dem histopathologischen Befund. Aus pathoanatomischer Sicht wurden für die oben genannten Kriterien Schemata und Scoring-Systeme zur semiquantitativen Erfassung des histopathologischen Schädigungsmusters erstellt. Am häufigsten wird die Klassifizierung der chronischen Hepatitis nach Ishak oder Desmet und Scheuer vorgenommen (. Tab. 8.1 und 8.2). Die Schemata in . Tab. 8.1 und 8.2 dienen als Grundlage, nach morphologischen Bewertungskriterien eine Einschätzung der MdE vorzunehmen. Eine Einschätzung
des GdB/MdE unter Berücksichtigung von Entzündungsaktivität und Fibrosegrad liefert . Tab. 8.3. Eine komplette Leberzirrhose ist definiert als pseudolobulärer Umbau des Organs – histopathologisch nachgewiesen oder aufgrund der klinischen Untersuchungsbefunde mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Gutachterlich von Bedeutung ist die Entwicklung von Komplikationen – wie Dekompensation, portale Hypertension und deren Folgen, hepatische Enzephalopathie, Kachexie und primäres Leberzellkarzinom –, die zusätzlich zu einem Basis-GdB/MdE von 50 zu einer Erhöhung führen. Eine etablierte Einschätzung der Leberfunktion bei Zirrhose, die mit der Lebenserwartung der Patienten korreliert, stellt der Child-Pugh Score (. Tab. 8.4) dar.
Hepatische Enzephalopathie (HE) Unter dem Begriff der hepatischen Enzephalopathie (HE) versteht man die Gesamtheit neurologischer und psychiatrischer Symptome, die bei akuten und chronischen Lebererkrankungen mit Leberinsuffizienz mit oder ohne portokavale Shunts auftreten können. Die Stadieneinteilung erfolgt nach neuropsychiatrischen Kriterien (subklinische HE bis HE Grad 4 mit Koma). Auslösende Faktoren sind Elektrolytentgleisungen, gastrointestinale Blutungen, Medikamente/Noxen, Infektionen, Obstipation oder exzessive Proteinzufuhr.
. Tab. 8.3. Chronische Hepatitis: Einschätzung von GdB/MdE unter Berücksichtigung von Entzündungsaktivität und Fibrosegrad Entzündliche Aktivität
Fibrose
Zirrhose
null bis gering
mäßig
stark
Gering
20
30
40
50
Mäßig
30
40
50
60
Stark
40
50
60
≥ 70
8
256
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
. Tab. 8.4. Child-Pugh-Klassifikation Parameter
1 Punkt
2 Punkte
3 Punkte
Albumin [g/dl]
>3,5
2,8–3,5
<2,8
Bilirubin [mg/dl]
<2,0
2,0–3,0
>3,0
Quick-Wert (%)
>70%
40–70%
<40%
Aszites
Keiner
Leicht
Mittelgradig
Enzephalopathie
Keine
I–II
III–IV
Child A: 5–6; Child B: 7–9; Child C: 10–15
Begutachtung privat versicherter Schäden Lebensversicherung Inaktive HBsAg-Träger mit dauerhaft normalen Transaminasen und fehlender Virusreplikation haben einen günstigen Spontanverlauf. Die Entwicklung einer Zirrhose ist sehr selten, es besteht jedoch aufgrund im Genom integrierter HBV-DNA möglicherweise ein gering erhöhtes Lebenszeitrisiko von unter 10% für die Entstehung eines hepatozellulären Karzinoms (HCC). Patienten mit erhöhten Transaminasen, Entzündungsaktivität und deutlicher HBV-Replikation >10.000 Kopien/ml haben ein Zirrhoserisiko von 20–30%. Das Risiko ein HCC zu entwickeln, ist gegenüber Gesunden um den Faktor 60 erhöht. Die antivirale Therapie mit dauerhafter effektiver Virussuppression vermindert die Komplikationsrate und verbessert das Überleben dieser Patientengruppe. Bei chronischer Hepatitis C ist bei fehlender oder erfolglos durchgeführter Therapie innerhalb von 20–25 Jahren bei ca 30% der Patienten mit einer Leberzirrhose zu rechnen. Nach deren Auftreten droht bei bis zu 5% der Patienten pro Jahr die Entwicklung eines HCC. Prognoseparameter für einen ungünstigen Verlauf sind u. a. Infektion nach dem 40. Lebensjahr, männliches Geschlecht, Alkoholkonsum >50 g/Tag, Koinfektionen (HIV, HBV), hohe Transaminasen, fortgeschrittene Fibrose und Steatose der Leber.
Unfallversicherung
16
Ein Zusammenhang zu einem Unfallgeschehen kann hergestelt werden bei Vorliegen einer Zirrhose mit hepatischer Enzephalopathie (s. unten).
17
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung
18
Eine Einschränkung der Berufs-, Erwerbs- und Dienstfähigkeit ist bei Ausbildung einer progredienten Lebererkrankung mit höhergradiger Fibrose/Zirrhose zu erwarten.
19 20
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Bei Leberzirrhose und portaler Hypertension mit Ausbildung von Ösophagusvarizen sollten schwere körperliche
Tätigkeiten, insbesondere das Heben schwerer Lasten (Erhöhung des intraabdominellen Drucks), vermieden werden. Besteht eine hepatische Enzephalopathie, ist eine Eignung für eine Vielzahl von Tätigkeiten, bei denen eine normale geistige und körperliche Leistungsfähigkeit zu fordern ist, nicht gegeben. Bei der hepatischen Enzephalopathie (HE) sind Tätigkeiten auszuschließen, die eine erhöhte Anforderung an das Reaktionsvermögen stellen, insbesondere muss hier die Beurteilung der Fahrereignung erwähnt werden. Generell muss festgestellt werden, dass zur Begutachtung der Fahreignung bei HE bisher keine eindeutigen, allgemein akzeptierten Kriterien (z. B. Fahrsimulation, psychometrische Tests) für die Beurteilung verkehrsicherheitsrelevanter neuropsychologischer Funktionsausfälle definiert sind. Es ist zu berücksichtigen, dass wichtige Komplikationen wie eine gastrointestinale Blutung, Kachexie oder quälender Juckreiz und Osteopenie bei cholestatischen Lebererkrankungen durch die Child-Pugh-Klassifikation nicht erfasst werden. Generell muss ab dem Stadium Child B ein GdB/MdE von 100 angenommen werden.
Risikobeurteilung Das Risiko chronischer Virushepatitiden besteht in der Progression der Erkrankung zur Zirrhose, deren Komplikationen – Leberinsuffizienz, portale Hypertension mit Bildung von Aszites und spontaner bakterieller Peritonitis, Varizen im oberen Gastrointestinaltrakt und hepatozelluläres Karzinom (HCC) – zur Verkürzung der Lebenserwartung führen. Dieses Risiko wird durch erfolgreiche antivirale Therapie vermindert.
Therapiemöglichkeiten Hepatitis B
Ziel der Hepatitis-B-Therapie ist die komplette HBV-Elimination (HBsAg negativ, Anti-HBs positiv), ein Ziel, das nur sehr selten erreicht wird. Realistische Ziele sind dagegen die Absenkung der HBV-DNA auf <1000 Kopien/ml (= 200 IU/ml), Normalisierung der Transaminasen, Verbesserung der Histologie, Verhinderung der Zirrhose und von Leberkrebs sowie Verbesserung der Überlebensra-
257 8.1 Erkrankungen der Leber
te. Unbehandelt muss bei der chronischen Hepatitis B bei einem Drittel der Patienten im Verlauf von 20–30 Jahren mit einer Zirrhose gerechnet werden. Das Leberkrebsrisiko ist bei HBV-assoziierter Zirrhose deutlich erhöht und korreliert mit der Höhe des HBV-DNA-Spiegels. Für die Therapieindikation bei chronischer Hepatitis B sind die entscheidende Marker die Höhe der HBVDNA, die Entzündungsaktivität und das Fibrosestadium. Eine HBV-DNA von >104 Kopien/ml bzw. 2.000 IU/ml gilt bei Patienten mit erhöhten Transaminasen oder entzündlicher Aktivität in der Histologie als Indikation zur Behandlung. Besonders behandlungsbedürftig sind Patienten mit fortgeschrittener Fibrose oder Zirrhose. Bei dieser Patientengruppe wird eine antivirale Therapie bei positiver HBV-DNA unabhängig von der Höhe der Viruslast empfohlen, um das Risiko einer Dekompensation oder die Entstehung eines HCC zu minimieren. Als Medikamente für die Behandlung der chronischen Hepatitis B stehen neben Peg-Interferon-α-2a, das subkutan einmal pro Woche gegeben wird, die Nukleosid-/Nukleotidanaloga Lamivudin (Zeffix), Adefovir (Hepsera), Telbivudin (Sebivo) und Entecavir (Baraclude) als Hemmer der HBV-Polymerase in Tablettenform zur Verfügung. Peg-Interferon-α-2a bei Hepatitis B ist für die Dauer von 48 Wochen zugelassen (s.c. Injektion 1-mal/Woche) und häufig mit deutlichen Nebenwirkungen verbunden, die die Lebensqualität beeinträchtigen (Grippesymptome, Depressionen, Reizbarkeit, Asthenie, Gewichtsverlust). Die Interferon-Behandlung sollte einer Untergruppe von Patienten (HBeAg positiv, Genotyp A, hohe Transaminasen) vorbehalten bleiben. Ziel der Behandlung ist die HBeAg-Anti-HBe-Serokonversion. Nukleosid-/Nukleotidanaloga sind für alle virämischen Hepatitis-B-Patienten geeignet und frei von ernsthaften Begleiterscheinungen. Nachteil der Therapie mit Nukleosid-/Nukleotidanaloga ist die oft jahrelange Behandlungsdauer, verbunden mit dem Risiko der Resistenzbildung. Die Zulassung weiterer Substanzen ist in nächster Zeit zu erwarten. Die Auswahl der optimalen Behandlungsstrategie sollte individuell erfolgen und sich nach den aktuellen Empfehlungen der Fachgesellschaften richten.
fektionen verlaufen subklinisch, bei 80% der Betroffenen ist mit einer Chronifizierung zu rechnen, davon entwickeln 20% im Verlauf von 15–20 Jahren eine Leberzirrhose. Die Standardtherapie der chronischen Hepatitis C besteht derzeit aus der Gabe von Depot-Interferon subkutan 1-mal/Woche plus Ribavirin 2-mal täglich für die Dauer von 24–48 Wochen je nach HCV-Genotyp. Die Erfolgschancen, eine dauerhafte Viruselimination zu erreichen, sind von HCV-Genotyp, Viruslast, Alter, Grad der Leberschädigung und weiteren Faktoren abhängig (Genotyp 1: 40–50%, Genotyp 2/3: 70–90%).
Hepatitis D
> Vorsicht ist geboten bei der Beurteilung der HBeAg-negativen chronischen HBV-Infektion, da hier eine chronische Hepatitis B mit fluktuierenden Virämie- und Transaminasenwerten und zweifelhafter Prognose übersehen und falsch eingeschätzt werden kann, falls nicht wiederholte Transaminasen- und HBV-DNA-Werte über längere Zeiträume vorliegen. In Zweifelsfällen ist eine Leberbiopsie zu empfehlen.
Zur Behandlung der chronischen Hepatitis D ist Peg-Interferon-α-2a für die Dauer von 48 Wochen zugelassen. Die Chancen auf dauerhafte HDV-Elimination betragen lediglich ca. 25%. Hepatitis C
Die symptomatische akute Hepatitis C hat eine spontane Ausheilungschance von ca. 50% und sollte, falls die Virämie über 3–4 Monate andauert, antiviral behandelt werden mit einer Heilungsquote von >90%. Die meisten HCV-In-
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Über die Notwendigkeit von Rehabilitationsmaßnahmen bei chronischer Virushepatitis und Folgezuständen muss individuell entschieden werden.
Sonderfragen Extrahepatische Manifestationen bei chronischer Hepatitis B und C Arthralgien/Arthritiden sind häufige extrahepatische Manifestationen einer chronischen Virushepatitis. Die Differenzialdiagnose zu rheumatischen Erkrankungen im eigentlichen Sinn wie der rheumatoiden Arthritis kann schwierig sein, da bei 50% der Hepatitispatienten die Rheumafaktoren positiv sind. Bei chronischer Hepatitis C findet sich eine Assoziation zur Immunvaskulitis evtl. kombiniert mit vaskulitischer Purpura und Kryoglobulinämie. Die Panarteriitis nodosa tritt eher im Zusammenhang mit der chronischen Hepatitis B auf und ist als ernsthafte Komplikation zu werten, die bei der Bemessung von GdB/ MdE zu berücksichtigen ist. Eine weitere extrahepatische Manifestation chronischer Virushepatitiden stellt die Glomerulonephritis mit oder ohne nephrotisches Syndrom dar.
Bewertung des asymptomatischen Hepatitis-Boder -C-Virusträgers Eine chronische Hepatitis-B-Virusinfektion mit niedriger (<104 Kopien/ml) oder nicht nachweisbarer Replikation, normalen Serumleberwerten und normaler/minimal entzündlicher Histologie bewirkt einen GdB/MdE unter 20.
Patienten mit chronischer HCV-Infektion weisen in 10– 15% der Fälle konstant normale Serumleberwerte auf; in
8
258
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
aller Regel sind dann, falls eine Leberbiopsie erfolgt, nur geringe histopathologische Veränderungen nachzuweisen (GdB/MdE maximal 20), dennoch besteht bei 5–10% dieser Patienten eine deutliche Fibrose/Zirrhose.
Bewertung der antiviralen Therapie bei chronischer Hepatitis B oder C Für die Dauer einer antiviralen Interferon-basierten Therapie bei Hepatitis B oder Interferon-Ribavirin-Kombinationsbehandlung bei chronischer Hepatitis C kann aufgrund der Nebenwirkungen und der hierdurch bedingten Arbeitsunfähigkeit ein GdB/MdE von 100 resultieren. Etwa 40% der Patienten unter Interferon-Therapie sind während der Behandlung für mehr als 3 Monate arbeitsunfähig, ca. 20% über die gesamte Therapiedauer. Bei der replikativen chronischen Hepatitis B werden heute in der Mehrzahl der Fälle Nukleosid-/Nukleotid-Analoga eingesetzt, um die Virämie und damit den Krankheitsprogress zu verhindern; diese Substanzen haben in aller Regel keine wesentlichen Nebenwirkungen. Hat der Patient auf die antivirale Therapie angesprochen, sollte sich die Neueinschätzung des GdB/MdE an der Dauer der anhaltenden Remission orientieren. > Die Rückbildung histologischer Veränderungen ist ein langsamer Prozess und kann erst mit einer Latenz von 1–2 Jahren beurteilt werden.
11
8.1.3 Nichtvirale Lebererkrankungen
12
Krankheitsdefinition Hämochromatose
13 14 15 16 17 18 19 20
Die Hämochromatose ist eine genetisch bedingte Erkrankung des Eisenmetabolismus und gekennzeichnet durch erhöhte Eisenresorption und Ablagerung des Eisens in verschiedenen Organen (Leber, Herz, Pankreas, Gelenken, gonadotropen Zellen). Die Eisenakkumulation bei fortgeschrittener Hämochromatose manifestiert sich klinisch als Lebererkrankung, Hautpigmentierung, Insulinresistenz und Diabetes mellitus, Arthropathie, Impotenz, Amenorrhö, Hypothyreose, Kardiomyopathie und Herzrhythmusstörungen.
α1-Antitrypsin-Mangel Dem α1-Antitrypsin-Mangel liegt eine Mutation des Gens für α1-Antitrypsin zugrunde. In der Regel erkranken nur homozygote Merkmalsträger des durch Mutation entstandenen Z-Allels. Als Folge kann das in Hepatozyten gebildete Protein nicht mehr freigesetzt werden und schädigt die Leberzelle (erhöhte Leberwerte, Leberzirrhose und hepatozelluläres Karzinom). Darüber hinaus prädisponiert der Mangel an Antiproteasen im Serum für ein Lungenemphysem.
Morbus Wilson Es handelt sich um einen Gendefekt, der zur Kupferüberladung des Organismus mit vermehrter Einlagerung in Leber, Nieren, Hornhaut und Gehirn führt. In der Leber manifestiert sich die Erkrankung als Fettleber, akute oder chronische Hepatitis, fulminantes Leberversagen oder Leberzirrhose.
Autoimmunhepatitis Die Autoimmunhepatitis ist eine durch autoreaktive TLymphozyten vermittelte Leberentzündung, die ausgehend von einer portalen Hepatitis bis zur Zerstörung der Läppchenarchitektur und Zirrhose führen kann.
Fragen zum Zusammenhang Da die genaue Ursache der oben genannten Erkrankungen nicht bekannt ist, ergeben sich keine Zusammenhangsfragen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Die Bewertung der Leberschädigung bei den oben genannten Erkrankungen richtet sich nach der Beurteilung bei chronischer Virushepatitis und Zirrhose.
Begutachtung privat versicherter Schäden Insbesondere bei Vorliegen einer Leberzirrhose aufgrund einer Hämochromatose oder α1-Antitrypsin-Mangel ist das Risiko für die Entwicklung eines HCC erhöht. Ansonsten gilt die Bewertung der Leberschädigung gemäß der Beurteilung bei chronischer Virushepatitis und Zirrhose.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Hier spielt der Grad der Leberschädigung eine entscheidende Rolle; die Einschätzung der Tätigkeitseignung orientiert sich an der chronischen Hepatitis oder Leberzirrhose.
Risikobeurteilung Das Risiko der oben genannten Erkrankungen wird günstig beeinflusst durch die zur Verfügung stehenden Behandlungsmaßnahmen: Eisenentzug durch Aderlasstherapie bei Hämochromatose, entkupfernde medikamentöse Therapie durch Chelatbildner oder Zink bei Morbus Wilson und immunsuppressive Behandlung mit Kortikoiden/Azathioprin bei Autoimmunhepatitis. Für die Leberschädigung bei α1-Antitrypsin-Mangel steht keine medikamentöse Therapie zur Verfügung.
8.1.4 Akutes Leberversagen
Krankheitsdefinition und Fragen zum Zusammenhang Das akute Leberversagen wird als eine akute, schwere Leberfunktionsstörung mit massivem Abfall der Syntheselei-
259 8.1 Erkrankungen der Leber
stung (Gerinnungsfaktoren, Albumin), Ikterus und Enzephalopathie in Abwesenheit einer chronischen Lebererkrankung definiert. Ursachen sind virale Hepatitiden, Autoimmunhepatitis, toxische und medikamenteninduzierte Ätiologien, metabolische Erkrankungen, vaskuläre und unbekannte Ursachen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Wird der lebensbedrohliche Krankheitszustand überlebt, bleiben in der Regel keine dauerhaften Leberschäden zurück; kommt es dennoch zur Narbenbildung, kann als Folge eine Narbenleber mit portaler Hypertension bei meist guter Leberfunktion resultieren. Bei ischämischem Leberversagen kann sich im Langzeitverlauf eine sekundär sklerosierende (ischämische) Cholangitis mit der Gefahr von bakteriellen Cholangitiden, Sepsis und der Entwicklung einer sekundär biliären Zirrhose entwickeln. Die Bewertung solcher Folgezustände entspricht derjenigen der chronischen Virushepatitis.
Begutachtung privat versicherter Schäden Bei Leberschädigung nach akutem Leberversagen erfolgt die Einschätzung des Risikos bei privat versicherten Schäden analog der Virushepatitis und Zirrhose.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten und Risikobeurteilung Bei Restitutio ad integrum der Leberfunktion ist eine Einschränkung der Eignung für bestimmte Tätigkeiten nicht gegeben, ansonsten gelten die Bewertungsmaßstäbe wie bei Virushepatitiden.
8.1.5 Primär maligne Lebertumoren
Krankheitsdefinition Das hepatozelluläre Karzinom (HCC) geht von den Leberparenchymzellen aus und entsteht meist auf dem Boden einer Leberzirrhose. Als Ursache der zugrunde liegenden Zirrhose spielt in Afrika und Asien die chronische Hepatitis B eine große Rolle, in den westlichen Ländern sind häufiger die chronische Hepatitis C oder die äthyltoxische Leberzirrhose verantwortlich. Seltenere Ursachen sind die hereditäre Hämochromatose oder ein α1-AntitrypsinMangel. Bei jüngeren Patienten kommt als Variante das fibrolamelläre HCC ohne Vorerkrankung vor, das einen günstigeren Verlauf zeigt. Nach Exposition gegenüber Thorotrast, Vinylchlorid oder Arsen kann nach einer Latenzzeit ein Angiosarkom der Leber entstehen.
Diagnostik und Therapie Die Diagnose des HCC basiert auf einem geeigneten bildgebenden Verfahren, einem AFP-Spiegel >400 ng/ml oder ggf. einer histologischen Sicherung. Klinisch macht sich
ein HCC bei bestehender Zirrhose oft durch eine relativ akute Verschlechterung der Leberfunktion oder Komplikationen der Zirrhose (z. B. Blutung, Aszitesbildung) bemerkbar. Das HCC kann nach Größe (TNM-Klassifikation) oder unter Mitberücksichtigung der Leberfunktion (Okuda- oder CLIP-Klassifikation) eingeteilt werden. Primär kurative Ansätze sind die chirurgische Resektion oder bei geeigneten Patienten die Lebertransplantation. Bei fortgeschrittenen Tumoren stehen als lokal ablative Verfahren die perkutane Alkoholinjektion (PEI), Radiofrequenzablation (RFA), die transarterielle Chemoembolisation (TACE) oder als neuere Methode die selektive interne Radiotherapie (SIRT) zur Verfügung. Systemische Chemotherapie oder strahlentherapeutische Maßnahmen sind gerimg wirksam. > Bei Patienten mit Leberzirrhose wird ein 6-monatliches HCC-Screening mit AFP-Bestimmung und Ultraschalluntersuchung des Oberbauches empfohlen, da bei Erkennung früher Stadien deutlich bessere therapeutische Optionen bestehen.
Fragen zum Zusammenhang Das HCC entsteht in aller Regel als Komplikation einer Leberzirrhose aufgrund einer chronischen Hepatitis B oder C, der nutritiv-toxischen Zirrhose oder bestimmter Stoffwechselerkrankungen wie der Hämochromatose und des α1-Antitrypsin-Mangels. Zwischen Exposition gegenüber einer Noxe oder infektiösem Agens und Tumorentstehung liegt in gewöhnlich eine längere Latenzzeit. Voraussetzung einer Anerkennung als berufsbedingte HCC-Erkrankung ist neben der Sicherung der Diagnose ein Ausschluss des Tumorleidens vor Beginn der beruflichen Tätigkeit und Nachweis eines örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs zwischen Schädigung und Tumorentwicklung.
Bewertung nach dem Sozialrecht Nach Entfernung eines malignen Lebertumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten (GdB/MdE während dieser Zeit: 100). Falls eine Lebertransplantation als Therapiemaßnahme durchgeführt wurde, gelten die Aussagen in 7 Kap. 8.1.7.
8.1.6 Toxische und medikamentenbedingte
Leberschäden Diagnostik Diagnostische Kriterien medikamentös bedingter Lebererkrankungen sind der Auschluss anderer Ätiologien, ein Zeitintervall zwischen Einnahme und Auftreten klinischer Symptome von 1–12 Wochen, Rückbildung nach Absetzen der Noxe, erneutes Auftreten nach akzidenteller
8
260
1 2 3
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
Reexposition, Einnahme verschiedener Medikamente, Alter >50 Jahre, Einnahme bekannter hepatotoxischer Medikamente, Nachweis spezifischer Autoantikörper und bestimmte histologische Merkmale wie z. B. mikrovesikuläre Steatose, eosinophile Infiltrate, zentrilobuläre Nekrosen oder Granulome, die für einen medikamentös verursachten Leberschaden charakteristisch sind.
Krankheitsdefinition
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Unter toxischen/medikamentös bedingten Leberschäden versteht man akut oder chronisch verlaufende Lebererkrankungen als Folge einer Toxin- oder Arzneimittelreaktion. Die Klinik der hepatischen Medikamententoxizität umfasst das gesamte Spektrum akuter und chronischer hepatobiliärer Erkrankungen. Die Erkrankung präsentiert sich meist als vorwiegend zytolytische oder cholestatische Hepatitis, in seltenen Fällen als fulminantes Leberversagen. Bei einem immunoallergischen Mechanismus besteht nicht selten ein Hypersensitivitätssyndrom mit Fieber, Exanthem und Eosinophilie.
Fragen zum Zusammenhang Toxische Leberschäden Toxische Substanzen, denen ein Betroffener berufsbedingt ausgesetzt ist, können zur Leberschädigung führen. Die Liste der potenziell hepatotoxischen Substanzen umfasst z. B. Arsen und seine Verbindungen, Phosphor und organische Phosphorverbindungen, Beryllium, Halogenwasserstoffe, Benzol und Homologe inklusive der Nitround Aminoverbindungen, Methylalkohol und eine Vielzahl weiterer Toxine. In der Mehrzahl der Fälle ist die Leberschädigung reversibel, einzelne Substanzen können jedoch zur Leberzirrhose führen (Vinylchlorid, Arsen, Nitrotoluole, Tetrachloräther, u. a.).
14
> Ein Zusammenhang der Exposition gegenüber Vinylchlorid oder Arsen und der Entstehung primärer Lebertumoren gilt als gesichert.
15
Medikamentenbedingte Leberschäden
16 17 18 19 20
Akute oder chronische medikamentös verursachte Lebererkrankungen sind für 50% aller fulminanten Leberversagen sowie 20–40% aller stationär behandelten Hepatitiden bei Patienten über 50 Jahren verantwortlich! Man unterscheidet obligate, vorhersehbare, dosisabhängige Schädigungen mit kurzer Latenzzeit (z. B. Paracetamol-Intoxikation) von nicht vorhersehbaren, dosisunabhängigen, idiosynkratischen Schädigungen. Bei Letzteren wird noch eine metabolische Idiosynkrasie von einer immunologisch bedingten Hypersensibilitätsreaktion unterschieden.
Bewertung nach dem Sozialrecht Toxische Leberschäden Zur Anerkennung einer Leberschädigung durch chemische Substanzen mit resultierender Anerkennung von GdB/MdE sollten folgende Voraussetzungen gegeben sein: 5 Arbeitsplatzanamnese, 5 Untersuchung und Quantifizierung der Schadstoffexposition, 5 zeitlicher Zusammenhang, 5 bekanntes Schädigungsmuster der angeschuldigten Substanz, 5 differenzialdiagnostische Abklärung und 5 Ausschluss konkurrierender zusätzlicher Einflüsse wie Alkoholkonsum oder Medikamente. Für die Einschätzung von Leberschäden, die auf eine Noxe zurückzuführen sind, ist bei einer Fettleber/toxischen Hepatitis ein GdB/MdE von 20–40, bei einer stark entzündlichen Hepatitis von 70–80 zu veranschlagen. Bei Zirrhose oder malignem Tumor gelten die für Virushepatitiden und Folgezustände üblichen Richtlinien.
Medikamentenbedingte Leberschäden In der Mehrzahl der Fälle erfolgt eine Restitutio ad integrum. Während der akuten Erkrankung besteht Arbeitsunfähigkeit. In Einzelfällen muss geprüft werden, ob eine chronische Hepatopathie als Folge einer arzneimittelbedingten Schädigung anzusehen ist. Die Beurteilung des GdB/MdE erfolgt analog der Einschätzung der chronischen Hepatitis/Zirrhose. Ein Reexpositionstest ist obsolet. In-vitro-Tests zur Aufdeckung des ätiologischen Zusammenhangs sind aufwändig und als nicht etabliert anzusehen.
Begutachtung privat versicherter Schäden, Eignung für bestimmte Tätigkeiten, Risikobeurteilung Für die Einschätzung eventueller Leberschäden toxischer oder medikamentöser Ursache gelten die Richtlinien analog zur chronischen Virushepatitis und Zirrhose.
8.1.7 Zustand nach Lebertransplantation
Krankheitsdefinition Die Lebertransplantation ist ein etabliertes Therapieverfahren bei akutem Leberversagen oder im Endstadium chronischer Lebererkrankungen. Wichtige Komplikationen im postoperativen Verlauf sind akute und chronische Abstoßungen, Wiederauftreten der Grunderkrankung, Infektionen, Gallenwegskomplikationen sowie Nebenwirkungen der Immunsuppressiva.
261 8.1 Erkrankungen der Leber
Fragen zum Zusammenhang
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Erkrankungen, die mit der Maßnahme der Lebertransplantation in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang stehen, betreffen Komplikationen des chirurgischen Eingriffs wie z. B. Gefäß- und Gallenwegskomplikationen, Wundheilungsstörungen, Hernien. Mögliche weitere Folgen einer Lebertransplantation sind Abstoßungsreaktionen, das Wiederauftreten der Grunderkrankung oder Folgen der Immunsuppression wie Infektionen, arterieller Hypertonus, Niereninsuffizienz, Störungen des Glukose- oder Fettstoffwechsels und die erhöhte Tumorinzidenz.
Die Eignung für bestimmte Tätigkeiten ist bei Lebertransplantierten im Individualfall zu prüfen; Besonderheiten wie z. B. Infektanfälligkeit sind zu berücksichtigen.
Bewertung nach dem Sozialrecht
> Abstoßungsbedingte Organverluste sind selten.
Nach Lebertransplantation ist eine Heilungsbewährung abzuwarten (im Allgemeinen 2 Jahre; GdB/MdE während dieser Zeit: 100). Danach muss die Leistungsbeurteilung eines Lebertransplantierten individuell getroffen werden. Allgemeinzustand des Patienten, Narbenverhältnisse, Transplantatfunktion, Komplikationen und Nebenwirkungen der Immunsuppression sind zu berücksichtigen. Die Arbeitsplatzsituation (Infektionsgefahr) und Arbeitsbelastung (Vermeidung schwerer körperlicher Arbeit, im 1. Jahr kein Heben schwerer Lasten wegen Narbenbruchgefahr) bedarf besonderer Beachtung.
Begutachtung privat versicherter Schäden Lebensversicherung Die Mortalität von Patienten nach Lebertransplantation wird einerseits durch die Grunderkrankung, die zur Transplantation führte, andererseits durch Komplikationen im Langzeitverlauf entscheidend beeinflusst. Nach Angaben des »European Liver Transplant Registry« betragen die 10-Jahres-Überlebensraten nach Lebertransplantation wegen Leberzirrhose, akuten Leberversagens und Malignomen 60%, 55% und 40%.
Unfallversicherung Ein Zusammenhang zu einem eventuellen Unfallgeschehen ist bei einem lebertransplantierten Patienten möglich bei nicht optimal therapierten Begleiterkrankungen wie z. B. im Rahmen von Hypoglykämien bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus oder in Form von Knochenfrakturen bei nicht ausreichend behandelter Osteoporose.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Die Berufs-, Erwerbs- und Dienstfähigkeit kann bei Lebertransplantierten aufgrund der Operationsfolgen und der Nebenwirkungen der notwendigen immunsuppressiven Medikation eingeschränkt sein
Risikobeurteilung Akute und chronische Abstoßungen Bei etwa 30% der Patienten kommt es meist in den ersten Wochen nach Transplantation zu einer akuten Abstoßung, die durch eine intensivierte Kortison-Bolustherapie (3–5 Tage 500 mg Methylprednisolon) in der Regel erfolgreich behandelbar ist.
Die chronische Abstoßungsreaktion, die bei 5–10% der Lebertransplantierten vorkommt, zeigt histologisch im Verlauf eine Affektion der Gallengänge mit Übergang in das Gallengangverlustsyndrom. Diagnostisch muss eine Perfusionsstörung der A. hepatica ausgeschlossen werden. Als Therapie bleibt oft nur die Retransplantation.
Wiederauftreten der Grunderkrankung Das Rezidiv einer Hepatitis B nach Transplantation ist durch medikamentöse antivirale Prophylaxe in aller Regel zu verhindern im Gegensatz zur Hepatitis-C-Infektion, die regelhaft nach Transplantation wieder nachweisbar ist und bei 20% der Patienten innerhalb von 5 Jahren wieder zur Zirrhose führt. Zu den anderen Erkrankungen, die post transplantationem rezidivieren können, gehören 5 die cholestatischen Lebererkrankungen primäre biliäre Zirrhose (PBC) und primär sklerosierende Cholangitis (PSC), 5 die Autoimmunhepatitis und 5 die nichtalkoholische Steatohepatitis. Das Rezidiv eines HCC nach Lebertransplantation ist bei Beachtung der Mailänder Kriterien im Rahmen der Transplantationsindikation selten.
Immunsuppression Etwa 30% der Patienten entwickeln postoperativ unter der Gabe der Calcineurin-Inhibitoren Ciclosporin (CiA) oder Tacrolimus (TAC) eine arterielle Hypertonie, 50% entwickeln einen Diabetes mellitus, 4–7% werden insulinpflichtig. Jeder 5. Patient hat im Laufe der Jahre eine Niereninsuffizienz. Ein weiteres Problem ist das gehäufte Auftreten maligner Erkrankungen, insbesondere von Hauttumoren und Lymphomen, im Langzeitverlauf.
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Rehabilitative Maßnahmen im Rahmen einer Anschlussheilbehandlung sind wie nach jeder großen Operation insbesondere auch nach einem Organersatz wie der Lebertransplantation von großer Bedeutung: psychosoziale
8
262
1
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
Betreuung, gezielter Muskelaufbau, Ernährungsberatung und Einstellung der Immunsuppression sind die zentralen Rehabilitationsziele.
2 8.2
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Erkrankungen der Gallenwege
Diagnostik Standardmäßig wird zur Abklärung vermuteter Gallenwegserkrankungen die Sonographie eingesetzt, ergänzt durch die retrograde Cholangiographie und immer häufiger durch die MR-Cholangiographie. Die hepatobiliäre Sequenzszintigraphie oder die Funktionsszintigraphie erlauben Aussagen über den Gallefluss.
Krankheitsdefinition Cholelithiasis Die Pathogenese der Gallensteinbildung ist assoziiert mit erhöhter Lithogenität der Galle, Funktionsstörungen der Gallenblase, Stase und Entzündungen. Eine erhöhte Inzidenz von Gallensteinen findet sich bei Diabetes mellitus, Adipositas, hämolytischer Anämie, Leberzirrhose, Dünndarmerkrankungen und bei Schwangerschaft. Die Diagnose wird durch Anamnese, Klinik, Labor und Bildgebung (Sonographie, ERC, ggf. PTC) gestellt.
Cholezystitis/Cholangitis Es handelt sich um ein Entzündung der Gallenblase bzw. Gallengänge. In der Regel liegt eine Abflussbehinderung durch Stein-/Narbenbildung oder Tumor in den abführenden Gallenwegen vor. Die Diagnose wird durch den Nachweis bakterieller Erreger in der Blutkultur, die Dokumentation der Abflussbehinderung und die laborchemischen Entzündungszeichen in Verbindung mit Lokalsymptomen gestellt.
Primäre biliäre Zirrhose (PBC), primär sklerosierende Cholangitis (PSC) Die PBC ist die häufigste chronische cholestatische Lebererkrankung. Meist sind Frauen im mittleren Lebensalter betroffen. Die Erkrankung zeigt unbehandelt einen chronisch-progredienten Verlauf von portaler Entzündung interlobulärer/septaler Gallenwege bis zur biliären Zirrhose über 10–15 Jahre. Leitsymptome sind Juckreiz, Müdigkeit, Oberbauch-, Gelenkschmerzen und ein Sicca-Syndrom. Die Diagnose beruht auf dem Nachweis erhöhter Cholestaseparameter und antimitochondrialer Antikörper (Subtyp M2) und einer kompatiblen Histologie, die zur Abschätzung der Prognose hilfreich ist. Die PSC ist eine seltene cholestatische Lebererkrankung unklarer Genese, die die intra- und extrahepatischen Gallengänge betrifft und oft mit entzündlichen Darmerkrankungen assoziiert ist. Die Erkrankung manifestiert sich zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr, hauptsächlich sind Männer betroffen. Die PSC ist eine Präkanzerose, das
Risiko eines cholangiozellulären Karzinoms beträgt geschätzt 1,5% pro Jahr. Die Symptome der PSC sind unspezifisch (Juckreiz, Oberbauchbeschwerden, Ikterus). Die Diagnose stützt sich auf erhöhte Cholesteraseparameter, die kompatible Histologie und die Assoziation mit einer entzündlichen Darmerkrankung. Die Erkrankung wird gesichert durch die typischen entzündlichen Gallengangsveränderungen bei der ERCP oder MRCP.
Fragen zum Zusammenhang Die Inzidenz von Gallensteinen ist während einer Schwangerschaft erhöht. Bestimmte Erkrankungen mit Gallensäureverlust (Morbus Crohn, Ileozökalresektion, jejunoilealer Bypass) führen ebenfalls zu vermehrter Gallensteinbildung. Die Pathogenese von PBC/PSC ist ungeklärt, sodass sich hier eine Zusammenhangsfrage nicht stellt.
Bewertung nach dem Sozialrecht, Begutachtung privat versicherter Schäden Bei akuter steinbedingter Kolik besteht Arbeitsunfähigkeit. Im Intervall kann völlige Beschwerdefreiheit bestehen; bei häufigen Attacken mit oder ohne Entzündung kann ein dauernder GdB/MdE vorliegen. Eine operative Sanierung ist anzustreben. Bei chronischen Zuständen ohne Gelbsucht richtet sich die Bemessung des GdB/MdE nach Auswirkung des Leidens auf den Allgemeinzustand des Patienten und die Einschränkung von Organfunktionen (biliäre Zirrhose). Eine operative oder endoskopische Beseitigung von Abflusshindernissen ist – soweit möglich – anzustreben. Die Entfernung maligner Gallenblasen-/Gallenwegstumoren bedingt in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung mit einem GdB/MdE-Grad von 100. Bei PBC/PSC ist der GdB/MdE-Grad je nach Aktivität und Verlauf analog zur chronischen Hepatitis oder Leberzirrhose zu beurteilen.
Risikobeurteilung Die Mehrzahl der symptomatischen Gallensteinträger muss im Verlauf mit rezidivierenden Beschwerden und Komplikationen rechnen: akute Cholezystitis/Cholangitis, Steinperforation, Steinwanderung und Komplikationen sowie eine chronisch-rezidivierende Cholezystitis. Bei chronischer Cholezystitis kann als Spätfolge einer »Porzellangallenblase« ein Gallenblasenkarzinom entstehen. Bei den primär cholestatischen Leberkrankheiten PBC und PSC wird die lebenslange Gabe von Ursodesoxycholsäure empfohlen. Für die PBC ist die Wirksamkeit dieser Therapie im Sinne einer Lebensverlängerung nachgewiesen; bei der PSC steht dieser Beweis noch aus. Bei der PSC verbessert die endoskopische regelmäßige Behandlung (Dilatation) dominanter Gallengangstenosen das Überle-
263 8.3 Erkrankungen des Pankreas
ben der Patienten. Eine wichtige Komplikation der PSC im Langzeitverlauf ist das Auftreten eines cholangiozellulären oder kolorektalen Karzinoms.
8.3
Erkrankungen des Pankreas
Dem Diabetes mellitus ist ein eigenes 7 Kap. 16 gewidmet.
Diagnostik Die Sonographie und die Computertomographie dienen zum Nachweis von Größen- und Formveränderungen des Organs. Die Darstellung des Gangsystems erfolgt durch retrograde Füllung der Gänge mittels Kontrastmittel (retrograde Cholangiopankreatographie; ERCP). Die exokrine Pankreasfunktion kann durch direkte und indirekte Funktionsprüfungen (z. B. Stuhlfettausscheidung, Elastasebestimmung im Stuhl, Sekretin-Pankreozymin-Test) abgeschätzt werden. Die endokrine Funktion wird mit den konventionellen Methoden zur Beurteilung des Kohlenhydratstoffwechsels überprüft. Bei akuter Entzündung oder Abflussbehinderung kommt es zum Anstieg der Amylase und Lipase im Serum sowie zu vermehrter Amylaseausscheidung im Urin.
8.3.1 Pankreatitis
Diagnostik Die Diagnose der akuten und chronischen Pankreatitis wird aufgrund der Anamnese, der typischen Klinik bei sorgfältigem Ausschluss anderer Ursachen für abdominelle Beschwerden, der Erhöhung von Amylase und Lipase im Serum und bildgebender Verfahren (Abdomenübersicht, Sonographie Abdomen, CT, ggf. ERCP) gestellt.
Krankheitsdefinition und Fragen zum Zusammenhang Akute Pankreatitis Die akute Pankreatitis ist eine Entzündung des Pankreas mit variabler Beteiligung anderer regionaler Gewebe oder entfernterer Organsysteme. Klinisch kann eine milde oder schwere Verlaufsform unterschieden werden. Die schwere Pankreatitis ist durch ein Organversagen oder lokale Komplikationen wie Abszesse oder Pseudozysten gekennzeichnet. Die Ausprägung reicht von einer interstitiellen bis zur nekrotisierenden Pankreatitis. Erstere ist durch ödematöse Veränderungen bei erhaltener Organstruktur gekennzeichnet, während die nekrotisierende Pankreatitis mit Verlust der Parenchymstruktur assoziiert ist. Chronische Pankreasentzündungen gehen mit irreversibler Gewebeschädigung und Organdysfunktion einher. Der klinische Verlauf kann sich in akuten wiederhol-
ten Attacken oder in einer stetigen Progression der Symptome äußern. Die häufigsten Ursachen der akuten Pankreatitis sind Gallensteine und »sludge« ampullär, präpapillär oder durch spontane Passage. Alkohol gilt ebenfalls als eine sehr häufige Ursache der akuten Pankreatitis, möglicherweise handelt es sich hier aber sehr oft um die akute Exazerbation einer chronischen Pankreatitis. Weitere, seltenere Ursachen der akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung sind metabolische Störungen wie Hyperkalzämie, Hyperlipoproteinämie, Medikamente und genetische Faktoren. Vaskuläre Ursachen sind postoperative Zustände, die Panarteriitis, Embolien und ischämische Ereignisse dar. Infektiöse virale (Coxsackie-, Mumps-, Hepatitisviren) oder bakterielle Erreger können ebenfalls zur akuten Pankreatitis führen. > Die pathophysiologischen Grundlagen der akuten Pankreatitis sind letztlich unklar.
Chronische Pankreatitis Rund 70% der Patienten mit chronischer Pankreatitis in Industriestaaten haben eine Alkoholanamnese von >150 g/Tag über 6–12 Jahre. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. > Ähnlich wie bei der akuten Pankreatitis ist auch bei der chronischen Form die Entstehung der Erkrankung letztlich nicht geklärt.
Weitere Ursachen der chronischen Pankreatitis sind genetische Faktoren, autoimmune Erkrankungen, Hyperkalzämie, Zustand nach Trauma und die tropische Pankreatitis.
Bewertung nach dem Sozialrecht Bei der akuten Pankreatitis liegt Arbeitsunfähigkeit vor. Bei der chronischen Pankreatitis bestimmt das Ausmaß der endokrinen oder exokrinen Insuffizienz und deren Folgen (Osteopenie, Anämie, Polyneuropathie, Diabeteskomplikationen) die Höhe des GdB/MdE. Schmerzzustände, auch ohne exokrine/endokrine Insuffizienzzeichen, müssen bei der Bemessung des GdB/MdE berücksichtigt werden. Durch Komplikationen (Verschlussikterus, Zysten) wird der Allgemein- und Kräftezustand der Patienten oft zusätzlich beeinträchtigt. Operative Eingriffe (z. B. Operation nach Whipple) führen unter Umständen zu eingreifenden funktionellen Veränderungen (Maldigestion, Diabetes mellitus, Cholangitis), die dann mit einem GdB/ MdE von 60–90 einzuschätzen sind.
8
264
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 8 · Leber – Gallenwege – Pankreas
Begutachtung privat versicherter Schäden Lebensversicherung Die Morbidität und Mortalität von Patienten mit akuter und chronischer Pankreatitis kann durch die Komplikationen der Grunderkrankung erhöht sein. Die chronische Pankreatitis resultiert in einer verminderten Lebenserwartung mit einer Mortalität von ca. 50% innerhalb von 20–25 Jahren nach Diagnosestellung und ist außerdem mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung eines Pankreaskarzinoms verbunden.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Die Erwerbsfähigkeit bei chronischer Pankreatitis im Langzeitverlauf wird durch das Ausmaß der endokrinen und exokrinen Insuffizienz und deren möglichen Folgezuständen (Osteopenie, Anämie, Polyneuropathie, diabetische Spätkomplikationen) bestimmt. Allgemein- und Kräftezustand der Patienten wird des Weiteren durch die chronischen Schmerzzustände und die funktionellen Folgen nach operativen Eingriffen am Pankreas beeinträchtigt.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Durch die Langzeitfolgen einer chronischen Pankreatitis wie z. B. Diabetes mellitus mit Komplikationen, Kachexie oder chronische Schmerzzustände kann die Eignung für eine Vielzahl von Tätigkeiten erheblich eingeschränkt oder nicht gegeben sein.
Risikobeurteilung Die Prognose des Verlaufs einer akuten Pankreatitis ist schwer vorhersehbar; hierzu wurden verschiedene Prognose-Scores wie z. B. der Ranson/Imrie-Score entwickelt. Die Letalität hängt entscheidend vom Schweregrad der Erkrankung und deren Komplikationen ab. Die Mortalität von Patienten mit chronischer Pankreatitis ist erhöht (s. oben).
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
15 16
Rehabilitationsmaßnahmen wie z. B. die diätetische und medikamentöse Einstellung bei Diabetes im Verlauf einer chronischen Pankreatitis oder nach partieller oder totaler Pankreasresektion können sinnvoll sein und die Prognose verbessern.
17
19 20
Fragen zum Zusammenhang Die Ätiologie des Pankreaskarzinoms ist unbekannt; eine genetische Disposition spielt eine Rolle. Als Risikofaktoren sind Nikotin- und Alkoholkonsum anzusehen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Nach Entfernung eines malignen Bauchspeicheldrüsentumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten (GdB/MdE während dieser Zeit: 100).
Literatur Caspary W, Leuschner U, Zeuzem S (2001) Therapie von Leber- und Gallekrankheiten. Springer, Berlin Heidelberg New York Cornberg M, Protzer U, Dollinger MM et al. (2007) Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Hepatitis-B-Virus Infektion. Z Gastroenterol 45: 150 Göke B, Beglinger C (2007) Gastroenterologie systematisch. Uni-Med Verlag, Bremen London Boston Manns MP, Wedemeyer H (2006) Handbuch Hepatitis C: Diagnostik, Verlauf, Therapie. Uni-Med Verlag, Bremen London Boston Pape GR, Göke B (2006) Hepatologie für die Praxis. Urban & Fischer, München Jena Selmair H, Manns MP (2003) Virushepatitis als Berufskrankheit. Ecomed, Landsberg
Internetadressen Leber EASL – The European Association for the Study of the Liver http://www.easl.ch AASLD – The American Association for the Study of Liver Diseases www.aasld.org Kompetenznetz Hepatitis www.kompetenznetz-hepatitis.de Robert Koch-Institut www.rki.de Deutsche Stiftung Organtranspiantation www.dso.de Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte www.bfarm.de
Gallenwege 8.3.2 Pankreaskarzinom
18
mor oder die Pankreaslinksresektion mit Splenektomie bei Korpus-/Schwanztumoren. Für fortgeschrittene Stadien bleiben palliative Maßnahmen (systemische Chemotherapie, Schmerztherapie). Die Prognose des Pankreaskarzinoms, das oft erst spät diagnostiziert wird, ist schlecht: Nur 10–20% der Patienten können reseziert werden.
Krankheitsdefinition Meist handelt es sich um ein Adenokarzinom mit Lokalisation im Pankreaskopf: Die Symptome ähneln oft denen einer chronischen Pankreatitis. Die therapeutischen Optionen umfassen in Frühstadien die pyloruserhaltende partielle Duodenopankreatektomie bei Pankreaskopftu-
Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten e. V. www.dgvs.de American College of Gastroenterology www.acg.gi.org/ American Gastroenterological Association www.gastro.org International Union Against Cancer http://uicc.org
265 Literatur
Pankreas Deutsches Ärzteblatt www. deutschesaerzteblatt.de Universitätsklinikum Heidelberg www.klinikum.Uni-Heidelberg.de/Europaeisches-Pankreaszentrum.104335.0.html Europäisches Pankreaszentrum Tumorzentrum München http://tumorzentrum-muenchen.de
8
267
Gastrointestinaltrakt W. Zoller, T. Heubach
9.1
Diagnostik – 268
9.2
Ösophagus – 268
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6 9.2.7 9.2.8
Diagnostik – 268 Krankheitsdefinition – 268 Fragen zum Zusammenhang – 269 Bewertung nach dem Sozialrecht – 270 Begutachtung privat versicherter Schäden – 272 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 272 Risikobeurteilung – 272 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 273
9.3
Magen und Duodenum
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7
Diagnostik – 273 Krankheitsdefinition – 273 Fragen zum Zusammenhang – 276 Beurteilung nach dem Sozialrecht – 277 Privat versicherte Schäden – 279 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 279 Risikobeurteilung und Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
9.4
Dünn- und Dickdarm
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.4.7
Diagnostik – 280 Krankheitsdefinition – 280 Fragen zum Zusammenhang – 282 Bewertung nach dem Sozialrecht – 283 Begutachtung privat versicherter Schäden – 284 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 284 Risikobeurteilung – 285
Literatur
– 285
– 273
– 280
– 280
9
268
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
))
1
9.2
In diesem Kapitel soll auf häufige gutachterlich relevante gastrointestinale Fragestellungen eingegangen werden. Es werden Erkrankungen der Speiseröhre und des Magens thematisiert. Weiter werden chronisch entzündliche Darmerkrankungen und das kolorektale Karzinom behandelt.
2 3
Ösophagus
9.2.1 Diagnostik
Die diagnostischen Maßnahmen sind in 7 Kap. 9.1 dargestellt.
9.2.2 Krankheitsdefinition
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
9.1
Diagnostik
Neben einer ausführlichen Anamnese u. a. mit Fragen nach B-Symptomen, Dysphagie, Schmerzen im Abdomen, Stuhlbeschaffenheit und Stuhlfrequenz sowie Gewichtsverlauf ist eine körperliche Untersuchung unerlässlich. Diese Diagnostik wird durch Laboruntersuchungen ergänzt. Für die meisten gastrointestinalen Erkrankungen sind die Sonographie des Abdomens sowie endoskopische Untersuchungen des Magens und des Darms einschließlich der Endosonographie unerlässlich. Die Röntgenuntersuchung nach Sellink wurde inzwischen durch wesentlich sensitivere Verfahren wie die Kapselendoskopie oder die Doppelballonendoskopie abgelöst. Dagegen konkurriert die virtuelle Koloskopie zumindest bei der Diagnostik von Dickdarmerkrankungen mit der endoskopischen Koloskopie. Die Röntgendarstellung des Magens ist heute obsolet. Der Ösophagusbreischluck wird jedoch noch bei verschiedenen Fragestellungen eingesetzt. Die Ösphagusmanometrie ist mittlerweile der Goldstandard zum Nachweis motorischer Fehlfunktionen des oberen und unteren Ösophagussphinkters sowie der tubulären Speiseröhre geworden. Auch die pH-Metrie ist ein wichtiges diagnostisches Mittel. Weitere Untersuchungsverfahren stellen die H2-Atemtests bei Verdacht auf Kohlenhydratunverträglichkeiten dar. Selten kommen auch nuklearmedizinische Verfahren wie der Schilling-Test oder der D-Xylosetest zum Einsatz. Die Diagnostik zur Erkennung von Magen- und Duodenalkrankheiten ist durch Testverfahren zur Erkennung eines Helicobacter pylori wie z. B. 13C-Atemtest zu erweitern. Die CT oder MRT des Abdomens und des Beckens sowie die Minilaparoskopie als Staging-Untersuchungen haben ihren festen Platz. Tumormarker wie Ca 72–4 oder weniger sensitiv CEA oder CA 19–9 gehören zur postoperativen Nachsorge. Weitere spezifische Laboruntersuchungen sind die Bestimmung von Vitamin B12 sowie Autoantikörper gegen Parietalzellen und »intrinsic factor«.
Refluxösophagitis Die gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD) zählt zu den häufigsten Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts. Alters- und geschlechtsunabhängig klagen ca. 10–20% der Bevölkerung über zumindest mehrmals wöchentlich auftretende Refluxsymptome. > Von einer gastroösophagealen Refluxerkrankung spricht man, wenn durch den Reflux von Mageninhalt in die Speiseröhre eine signifikante Störung der Lebensqualität und/oder ein erhöhtes Risiko für organspezifische Komplikationen verursacht werden.
Hervorgerufen wird die GERD durch eine inkompetente Antirefluxbarriere. Häufige Mechanismen sind ein permanent erniedrigter Druck im unteren Ösophagussphinkter (UÖS), vermehrte transiente Relaxation des UÖS oder veränderte anatomische Verhältnisse wie eine Hiatushernie. Auch die Aggressivität des Refluats und eine gestörte Selbstreinigung der Speiseröhre durch Störung der motorischen Funktion der Speiseröhre oder verminderte Produktion oder mangelnde Qualität des neutralisierenden Speichels spielen eine Rolle. Bei der GERD wird unterschieden zwischen 5 einer nichterosiven Refluxkrankheit (NERD) und 5 einer endoskopisch positiven, erosiven Refluxkrankheit (ERD) mit makroskopisch nachweisbaren Schleimhautläsionen (Erosionen, Ulzera, Strikturen). Komplikationen sind peptische Ulzera mit oder ohne Blutungen, entzündliche Stenosen, Strikturen und Aspirationspneumonien. Eine weitere Komplikation ist der Barrettösophagus. Die Zylinderzellmetaplasie der distalen Ösophagusschleimhaut gilt als Präkanzerose, allerdings ist die Lebenserwartung nicht beeinträchtigt. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Karzinomrisiko beim Barrettösophagus niedriger ist als bisher angenommen.
Motorische Störungen Bei der Achalasie handelt es sich um eine motorische Störung der glatten Muskulatur des Ösophagus. Der untere Ösophagussphinkter ist dabei hypertensiv und relaxiert nicht ausreichend beim Schluckvorgang. Ursächlich ist ein Verlust intramuraler Neurone in den glattmuskulären Anteilen v. a. des UÖS.
9
269 9.2 Ösophagus
Bei den diffusen Ösophagusspasmen handelt es sich ebenfalls um eine Störung der glatten Muskulatur mit dadurch bedingten multiplen spontanen, aber auch durch den Schluckakt induzierten unkoordinierten Kontraktionen des Ösophagus. Dabei werden peristaltische Ösophaguskontrakturen mit hoher Amplitude auch als »Nussknackerösophagus« bezeichnet.
Ösophaguskarzinom In Deutschland beträgt die Inzidenz bei Männern ca. 5 : 100.000 Einwohner, bei Frauen bei ca. 0,5–1 : 100.000. Ösophaguskarzinome werden meist erst im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, dementsprechend ist die Prognose sehr ernst. Die 5-Jahres-Überlebensrate für die Gesamtheit der Ösophaguskarzinome liegt bei 5–10%. Unterschieden werden das Plattenepithelkarzinom und das Adenokarzinom, welches meist im distalen Ösophagus auftritt. Die Inzidenz der sich vom Drüsenepithel ableitenden Tumoren ist in den letzten Jahren angestiegen, sodass in den westlichen Nationen mittlerweile vom Adenokarzinom als häufigstem Tumor in der Speiseröhre ausgegangen werden muss. Die TNM-Klassifikation und die UICC-Stadieneinteilung der Ösophagustumoren sind in . Tab. 9.1 und 9.2 dargestellt. Als Risikofaktoren für die Entstehung von Karzinomen der Speiseröhre sind Nikotin- und Alkoholabusus, weiter eine obst- und gemüsearme Ernährung anzusehen. Diese Faktoren gelten insbesondere für das Plattenepithelkarzinom. Die entscheidenden Risikofaktoren beim Adeno-
. Tab. 9.1. TNM-Klassifikation der Ösophagustumoren TX
Keine Aussage zur direkten Tumorausdehnung möglich
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor infiltriert Lamina propria oder Submukosa
T2
Tumor infiltriert Muscularis propria
T3
Tumor infiltriert Adventitia
T4
Tumor infiltriert benachbarte Strukturen
Nx
Keine Aussage zum Befall regionärer Lymphknoten möglich
N1
Regionäre Lymphknoten befallen
M0
Keine Fernmetastasen
M1a
Unteres Drittel: Metastasierung in zöliakale Lymphknoten Mittleres Drittel: Metastasierung in zervikale Lymphknoten Oberes Drittel: keine Anwendung
M1b
Andere Fernmetastasierung
. Tab. 9.2. UICC-Stadieneinteilung der Ösophaguskarzinome Stadium 0
Tis
N0
M0
Stadium 1
T1
N0
M0
Stadium IIA
T2; T3
N0
M0
Stadium IIB
T1; T2
N1
M0
Stadium III
T3
N1
M0
T4
N0; N1
M0
Stadium IVA
T1–4
N0; N1
M1a
Stadium IVB
T1–4
N0; N1
M1b
karzinom sind eine chronische Refluxerkrankung, Übergewicht und männliches Geschlecht (Baumhoer 2005).
9.2.3 Fragen zum Zusammenhang
Refluxkrankheit Ein gastroösophagealer Reflux kann dann auftreten, wenn der Druckgradient des unteren Ösophagus zum Magen aufgehoben ist. Dies kann durch einen intragastralen Druckanstieg oder durch einen transienten oder dauerhaften Abfall des Tonus des UÖS geschehen. Sekundäre Ursachen liegen in einer gestörten Aktivität der diaphragmalen Kruralmuskulatur, die den Hiatus im Diaphragma umgibt und in Veränderungen der anatomischen Struktur des ösophagealen Übergangs, z. B. bei der Hiatushernie. Auch Medikamente beeinflussen den UÖS, zudem kann es durch eine Myotomie, eine Ballondilatation oder nach einer chirurgischen Resektion zur Sphinkterinsuffizienz kommen. Durch eine Schwangerschaft, Aszites oder raumfordernde Prozesse kann der intragastrale Druck erhöht und ein Reflux begünstigt werden. Auch häufiges Bücken, Tragen schwerer Lasten oder Nahrungs- und Genussmittel verschlechtern eine Refluxsymptomatik.
Refluxbegünstigende Faktoren 5 Intraabdominelle Druckerhöhung – Adipositas – Aszites – raumfordernde Prozesse 5 Medikamente – α-Blocker – Anticholinergika – Psychopharmaka – Kalziumantagonisten – Nitroglycerin-Präparate – Theophyllin 6
270
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
5 Nahrungsmittel – Alkohol – Fette – Nikotin – Schokolade – Kaffee
Da axiale Hiatushernien in Zusammenhang mit operativen Eingriffen am Diaphragma und Magen entstehen können, ist zu prüfen, ob der Eingriff aufgrund eines entschädigungspflichtigen Traumas erforderlich war, um so einen möglichen Zusammenhang zwischen dem entschädigungspflichtigen Ereignis, der Hiatushernie und der GERD zu eruieren. > Da es bei der GERD nicht nur zu ösophagealen Symptomen und Erkrankungen kommen kann, sondern auch zu extraösophagealen Manifestationen, ist die Kenntnis dieser Beschwerden insbesondere deshalb wichtig, da diese gutacherlich zusätzlich zu den Refluxbeschwerden bewertet werden müssen.
12
Dazu zählt man chronischen Husten, Asthma bronchiale, Laryngitis und den nichtkardialen Thoraxschmerz. Hierbei handelt es sich um häufige Erkrankungen, aber nur bei einem kleinen Teil der Patienten scheint als Ursache eine GERD zugrunde zu liegen. Meist kann versucht werden, durch eine Probetherapie mit einem Protonenpumpeninhibitor die Kausalität zwischen Reflux und extraösophgealer Manifestation nachzuweisen. Direkte, kausale pathogenetische Mechanismen sind jedoch nicht gesichert.
13
Ösophaguskarzinom Adenokarzinom
10 11
16
In den letzten Jahren hat die Häufigkeit des Adenokarzinoms in den westlichen Industrienationen deutlich zugenommen. Dies kann auf die erhöhte Inzidenz von Refluxösophagitiden zurückgeführt werden. Vor allem bei Patienten mit einer GERD entwickelt sich häufiger als in der Normalbevölkerung ein Barrettösophagus. Er besteht dann vermutlich bereits früh im Krankheitsverlauf und verläuft in der Regel nicht progressiv.
17
> Das Barrettepithel gilt als Präkanzerose für die Entwicklung eines Adenokarzinoms der Speiseröhre.
14 15
traepithelialer Neoplasie (IEN) in den nächsten Jahren eine »high-grade« IEN zu entwickeln, wurde mit 10–28% angegeben, die Entwicklung eines invasiven Karzinoms bei einer »high-grade« IEN mit bis zu 59% in 5–8 Jahren. Das Karzinomrisiko bei Vorliegen eines Barretts ohne IEN ist nicht genau bekannt, es wird ca. 40- bis 100-fach höher als in der Normalbevölkerung angegeben. Jüngste Untersuchungen zeigen aber, dass das Karzinomrisiko niedriger ist als bisher angenommen; die jährliche Karzinominzidenz wird mit ca. 0,5% vermutet.
Plattenepithelkarzinom Beim Plattenepithelkarzinom wird davon ausgegangen, dass Alkoholkonsum allein, v. a. aber in Verbindung mit einem Nikotinabusus, einen wesentlichen Risikofaktor darstellt. Bei einem Konsum von >80 g Alkohol und >20 Zigaretten täglich ist das Risiko, an einem Plattenepithelkarzinom zu erkranken, stark erhöht, da sich das Risiko multipliziert. Etwa 75% der Plattenepithelkarzinome sind mit diesen Risikofaktoren vergesellschaftet. Auch die Aufnahme von Nitrosamin, z. B. in gepökelter Nahrung, oder Narbenstenosen nach Laugenverätzungen sowie eine genetische Disposition stellen Risikofaktoren (Übersicht) dar.
Risikofaktoren für die Entstehung von Ösophaguskarzinomen 5 Adenokarzinom – chronische Refluxkrankheit – männliches Geschlecht – Übergewicht – (Nikotinabusus) – (Alkoholabusus) – (obst- und gemüsearme Ernährung) 5 Plattenepithelkarzinom – Alkoholabusus – Nikotinabusus – obst- und gemüsearme Ernährung – genetische Prädisposition – Infektion mit humanen Papillomaviren – Achalasie – andere Plattenepithelkarzinome im aerodigestiven Trakt in der Vorgeschichte
9.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
18 19 20
Es kann zwischen einem Short-Segment-Barrett (<3 cm) und einem Long-Segment-Barrett (<3 cm) unterschieden werden. Während die Bedeutung der intestinalen Metaplasie für die eigentliche Karzinogenese noch nicht abschließend geklärt ist, stellt die intraepitheliale Neoplasie die erste sichere neoplastische Veränderung der Zelle dar. Die Wahrscheinlichkeit, bei vorbekannter »low-grade« in-
Refluxkrankheit Arbeitsunfähigkeit In der Regel kommt es bei der Refluxerkrankung in Abhängigkeit von den Beschwerden zu einer nur kurzfristigen Arbeitsunfähigkeit, die nur selten die Dauer von 14 Tagen überschreitet.
271 9.2 Ösophagus
Erwerbsunfähigkeit Aufgrund der guten Therapiemöglichkeiten ist bei der Refluxerkrankung nur selten mit einer Erwerbsunfähigkeit zu rechnen. Im Einzelfall kann eine Erwerbsunfähigkeit resultieren bei schwerer Beeinträchtigung mit hochgradigen Stenosen, die einer kontinuierlichen Bougierungstherapie bedürfen, und einer infolge der eingeschränkten Nahrungsaufnahme bestehenden Mangelernährung mit Kräfteverfall.
bei Patienten mit sekundären Funktionsstörungen des Ösophagus können akute Exazerbationen die Arbeitsunfähigkeit begründen.
Erwerbsunfähigkeit Eine Erwerbsunfähigkeit liegt nur dann vor, wenn es in fortgeschrittenen Stadien durch eine Folge der Mangelernährung zu einem zunehmenden Kräfteverlust oder -verfall kommt.
GdB/MdE
GdB/MdE
In Maßgebend für die Beurteilung ist der Schweregrad der Refluxkrankheit nach Savary und Miller. Die oben genannten extraösophagealen Manifestationen der Refluxerkrankung sind bei eindeutig erbrachtem Nachweis eines Zusammenhangs zwischen gastroösophagealem Reflux und extraösophagealer Manifestation zusätzlich zu bewerten (. Tab. 9.3). Da ein Reflux durch eine Erhöhung des intraabdominalen Drucks begünstigt wird, sollten Tätigkeiten, die das Heben oder Tragen schwerer Lasten oder häufiges Bücken beinhalten, vermieden werden.
Bei nachgewiesener Behinderung der Nahrungsaufnahme beträgt die GdB/MdE 20–40. Kommt als Folge noch eine Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands (Kachexie, BMI <18) hinzu, kann sich ein GdB/GdE von bis zu 70 ergeben (. Tab. 9.4).
Funktionelle Störungen Arbeitsunfähigkeit Primäre Funktionsstörungen des Ösophagus können verursacht sein durch stark ausgeprägte Beschwerden wie retrosternale Schmerzen, Regurgitation von Speichel und unverdauter Nahrung oder Komplikationen wie eine Aspirationspneumonie oder Beeinträchtigung des Kräftezustands durch unzureichende Nahrungsaufnahme. Auch . Tab. 9.3. GdB/MdE bei Refluxerkrankung GdB/MdE Organische Stenose der Speiseröhre (z. B. angeboren, nach Laugenverätzung, Narbenstenose, peptische Striktur) 0–10
5 mit deutlicher Behinderung der Nahrungsaufnahme je nach Auswirkung (Einschränkung der Kostform, verlängerte Essdauer)
20–40
5 mit erheblicher Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands
50–70
Erwerbsunfähigkeit Patienten mit einem palliativen Therapieansatz sind fast immer erwerbsunfähig, ebenso Patienten unter laufender palliativer oder adjuvanter Therapie (Operation, Radiotherapie, Chemotherapie). Bei einem kurativen Therapieansatz sind die Patienten bis zum Erreichen der vollständigen körperlichen Leistungsfähigkeit als zeitlich begrenzt berufs- und erwerbsunfähig einzustufen.
Bei einem kurativen Therapieansatz ist zunächst eine Heilungsbewährung von 5 Jahren abzuwarten, bevor eine Rückstufung des GdB/MdE erfolgen kann. Während die-
. Tab. 9.4. GdB/MdE bei funktionellen Stenosen der Speiseröhre (Ösophagusspasmus, Achalasie)
Refluxkrankheit der Speiseröhre 10–30
GdB/MdE Funktionelle Stenosen der Speiseröhre (Auswirkungen auf Nachbarorgane, z. B. Aspirationschäden der Lungen, sind zusätzlich zu bewerten)
0–10
5 ohne wesentliche Behinderung der Nahrungsaufnahme
Nach der Entfernung eines malignen Speiseröhrentumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten. GdB/MdE während dieser Zeit 5 je nach Beeinträchtigung des Ernährungsund Kräftezustands
Aufgrund der Tatsache, dass das Ösophaguskarzinom häufig erst in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert wird, besteht bei den meisten Patienten bereits zum Zeitpunkt der Diagnose eine Arbeitsunfähigkeit. Bei Patienten mit kurativem Ansatz im frühen Tumorstadium ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten.
GdB/MdE
5 ohne wesentliche Behinderung der Nahrungsaufnahme je nach Größe und Beschwerden
5 mit anhaltenden Refluxbeschwerden je nach Ausmaß (Auswirkungen auf Nachbarorgane sind zusätzlich zu bewerten)
Ösophaguskarzinom Arbeitsunfähigkeit
80–100
5 mit deutlicher Behinderung der Nahrungsaufnahme
20–40
5 mit erheblicher Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands, häufige Aspiration
50–70
9
272
1 2
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
9.2.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
. Tab. 9.5. GdB/MdE beim Ösophaguskarzinom GdB/GdE Nach der Entfernung eines malignen Speiseröhrentumors ist in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten. GdB/MdE während dieser Zeit
3
5 je nach Beeinträchtigung des Ernährungsund Kräftezustands
80–100
4
Der GdB/MdE ist nach den Auswirkungen (z. B. Schluckstörungen, Reflux, Narben) jedoch nicht unter 20 zu bewerten
>20
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
ser Zeit beträgt der GdB/MdE mindestens 80, bei erheblicher Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands oder starken Schmerzen 90–100 (. Tab. 9.5). Nach einem Speiseröhrenersatz ist ein GdB/MdE nicht unter 20 anzunehmen. Treten nach Operationen oder Radiochemotherapien Stenosen auf, werden zur Aufrechterhaltung der Nahrungspassage endoskopische Dilatationen, Bougierungen, Endoprothesen oder gar eine perkutane Gastroenterostomie (PEG) erforderlich. Bei Patienten, die wieder im Arbeitsprozess integriert sind, muss in Abhängigkeit von der individuell vorliegenden Situation über die Neubewertung von Arbeitsund Erwerbsfähigkeit entschieden werden.
19 20
In der Berufsausübung können sich Einschränkungen beim Tragen schwerer Lasten oder bei Arbeiten in gebückter Haltung ergeben. Bei Stenosen müssen ausreichend lange Pausen berücksichtigt werden, das diese Patienten in der Regel für die Nahrungsaufnahme z. T. wesentlich mehr Zeit benötigen.
Funktionelle Störungen Bei funktionellen Störungen ist bei Patienten mit Stenosen auf ausreichend lange Pausen zu achten (s. auch oben »Refluxkrankheit«).
Ösophaguskarzinom Bei der ungünstigen Prognose stellt sich die Frage nach der Eignung für bestimmte Berufe nicht. Einschränkungen der Fahrereignung können sich bei medikamentösen Therapien, insbesondere bei Schmerzoder Chemotherapien, ergeben, wenn durch z. B. häufiges Erbrechen ein konzentriertes Fahren nicht mehr möglich ist. Dies gilt auch für opioidhaltige Schmerzmittel. Außerdem kann ein zunehmender Kräfteverfall mit einer eingeschränkten Fahrereignung einhergehen.
9.2.7 Risikobeurteilung 9.2.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Refluxkrankheit
Narbenstenosen des Ösophagus können durch Laugenoder Säureexposition verursacht werden. Eine solche versehentliche Exposition kann in Einzelfällen als Unfall (Definition in den Allgemeinen Unfallbedingungen) angesehen werden.
Vor allem die Refluxösophagitis im Stadium II und III erfordern einer Langzeittherapie mit Protonenpumpeninhibitoren. Nach Absetzen der Therapie kommt es häufig zum Rezidiv. Wie bereits in 7 Kap. 9.2.3 erläutert, kann eine Refluxsösophagitis mit einem Barrettösophagus der erste Schritt zur intraepithelialen Neoplasie und damit zur erhöhten Inzidenz für ein Ösophaguskarzinom sein.
Lebensversicherung
Funktionelle Störungen
Hier kommt es darauf an, die Todesursache festzustellen, um eventuelle Obliegenheitsverletzungen bei Antragstellung zu erkennen. So ist z. B. darauf zu achten, dass eine Refluxösophagitis oder ein Barrettösophagus bei Abschluss der Lebensversicherung angegeben werden muss, da sich bei diesen Erkrankungen das Risiko, ein Ösophaguskarzinom zu entwickeln, erhöht.
Bei den meisten Patienten liegt eine primäre idiopathische Achalasie vor. Die sekundäre Achalasie kann durch ein den Ösophagus infiltrierendes Magenkarzinom, durch Lymphome, die Chagas-Krankheit oder eine Radiatio ausgelöst werden. Die konservative Therapie mit weicher oder flüssiger Nahrung, Sedativa und Nitraten ist in der Regel nicht ausreichend. Kalziumantagonisten sind mit etwas Erfolg eingesetzt worden. Mit einer Ballondilatation ist eine Verbesserung der Dysphagie bei bis zu 85% der Patienten auch langfristig möglich.
Unfallversicherung
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung
18
Refluxkrankheit
Hier gilt es, die Leistungsbeeinträchtigung der versicherten Person in Bezug auf den Beruf festzustellen. Es ist zu beurteilen, inwieweit die normale körperliche Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtig ist. Hierbei können . Tab. 9.3 bis 9.5 als Grundlage zur Beurteilung dienen.
> Die Achalasie gilt als Präkanzerose. Rund 2–7% der Patienten entwickeln ein Ösophaguskarzinom.
Bei Patienten mit diffusem Ösophagusspasmus und hyperkontraktilem Ösophagus sind die Therapieverfahren
273 9.3 Magen und Duodenum
weniger erfolgreich, sodass hier oft keine dauerhafte Beschwerdefreiheit erreicht wird.
9.3.2 Krankheitsdefinition
Gastritis Ösophaguskarzinom Karzinome der Speiseröhre sind trotz aller medizinischen Bemühungen der letzten Jahre immer noch mit einer fast unverändert schlechten Prognose assoziiert. So konnte das durchschnittliche Überleben seit den 1970er-Jahren im Vergleich zu den späten 1990er-Jahren nur von 8% auf 13% angehoben werden. 90–95% der Patienten sterben an der Erkrankung. Die durchschnittliche Überlebenszeit liegt bei 9 Monaten ab Diagnosestellung, bei Nachweis von Lymphknotenmetastasen verkürzt sich diese auf nur 6 Monate. Der Anteil der im Stadium I (T1 N0 M0) diagnostizierten Ösophaguskarzinome liegt bei knapp unter 10% und spiegelt damit in etwa die 5-Jahres-Überlebensrate wider. Diese ungünstige Prognose lässt sich in erster Linie durch die relative Symptomarmut in den frühen Krankheitsstadien einerseits und die frühe lymphogene Metastasierung andererseits erklären. Umso wichtiger ist eine primäre Prävention und das Erkennen und Beseitigen von Risikofaktoren. Auf diese wurde in 7 Kap. 9.2.3 eingegangen.
9.2.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Refluxerkrankung Spezielle Rehabilitationsmaßnahmen spielen im Rahmen der Begutachtung von Refluxkranken meist keine Rolle. Allerdings kann bei Patienten mit reduzierem Kräftezustand eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme dazu beitragen, eine Besserung zu erzielen.
Funktionelle Erkrankungen Spezielle Rehabilitationsmaßnahmen spielen nur bei reduziertem Kräftezustand eine Rolle (s. oben »Refluxerkrankung«).
Die Gastritis oder Entzündung der Magenschleimhaut ist keine einheitliche Erkrankung, sondern repräsentiert eine Gruppe von Störungen, die alle entzündliche Veränderungen der Magenmukosa hervorrufen, sich jedoch in ihrem klinischen Erscheinungsbild, in histologischen Charakteristika und ihren ursächlichen Mechanismen unterscheiden.
Klassifikation Es gibt verschiedene Einteilungen der Gastritis. Auf der Basis des klinischen Erscheinungsbildes unterscheidet man eine akute und eine chronische Gastritis. Da die akute Gastritis gutachterlich eine untergeordnete Rolle spielt, wird im Folgenden überwiegend die chronische Gastritis besprochen. Histologisches Merkmal der chronischen Gastritis ist die Infiltration der Lamina propria mit Lymphozyten und Plasmazellen. Die chronische Gastritis kann weiter eingeteilt werden in einen Typ A mit Befall überwiegend des Korpus und des Fundus. Die Typ-A-Gastritis macht nur ca. 5% aller chronischen Gastritiden aus. Diese Form kann zur perniziösen Anämie führen. Das häufige Vorkommen von Antikörpern gegen Parietalzellen und »intrinsic factor« lässt auf eine Immun- oder Autoimmunpathogenese schließen. Sehr viel häufiger kommt die B-Gastritis vor. Rund 50% aller Menschen >50 Jahre leiden an einer Oberflächengastitis vom Typ B, bei Patienten >70 Jahre sind es fast 100%. Studien aus verschiedenen Teilen der Welt haben gezeigt, dass Helicobacter pylori (HP) verantwortlich für die Entstehung dieser chronischen Gastritis ist. Die chronische Typ-C-Gastritis wird chemisch-toxisch verursacht. Hauptursachen sind der duodenogastrale Reflux, Alkohol und nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID).
Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni Ösophaguskarzinom Nach Durchführung einer adjuvanten Therapie ist zur schnelleren Wiedererlangung des Kräftezustands eine Rehabilitationsmaßnahme sicherlich förderlich, eine Verbesserung der Prognose jedoch nicht nachgewiesen.
9.3
Magen und Duodenum
9.3.1 Diagnostik
Die diagnostischen Maßnahmen sind in 7 Kap. 9.1 dargestellt.
Das peptische Ulkus kann als histologisch gutartige, meist über die Muscularis mucosae hinausreichende Läsion des Magens oder des Duodenums definiert werden. In der Pathogenese spielen Magensäure und Pepsin eine wichtige Rolle. Die Hauptformen des peptischen Ulkus sind das Ulcus ventriculi und das Ulcus duodeni. Beide sind chronische Erkrankungen, die häufig durch das magensaftresistente Bakterium Helicobacter pylori (HP) verursacht werden. Ulcera duodeni kommen häufiger vor als Ulcera ventriculi. Die Inzidenz beträgt ca. 150 : 100.000 Einwohner/Jahr, beim Ulcus ventriculi sind es ca. 50 : 100.000 Einwohner/Jahr. Das Ulcus duodeni tritt häufiger beim Männern auf (3 : 1), während es beim Ulcus ventriculi keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt.
9
274
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
Als Ursache für das peptische Ulkusleiden wird eine Störung das Gleichgewichts zwischen den aggressiven, entzündungsfördernden Faktoren wie z. B. Magensäure und Pepsin, und andererseits protektiven Faktoren einschließlich des Mukus, der Bikarbonatsekretion und der Prostaglandine angenommen. > Eine Infektion mit Helicobacter pylori (HP) spielt eine wichtige Rolle in der Pathogenese des peptischen Ulkus.
So ist z. B. eine Infektion mit HP mit einem deutlich höheren Risiko verbunden, an einem Ulcus ventriculi oder duodeni zu erkranken. 95% aller Patienten mit Ulcus duodeni und ca. 75% aller Patienten mit einem Ulcus ventriculi (einschließlich aller Fälle, die nicht auf eine Einnahme von NSAID zurückzuführen sind), sind mit HP infiziert. Andererseits erkranken nur ca. 15% der mit HP infizierten Personen während ihres gesamten Lebens an einem Ulkus, was darauf hindeutet, dass zusätzliche pathogenetische Faktoren eine Rolle spielen müssen (Übersicht).
8 9 10 11 12 13
Pathogenetische Faktoren für die Entwicklung von Ulcus ventriculi und Ulcus duodeni 5 Hypersekretion von Magensäure 5 Gesteigerte Sensibilität der Parietalzellen gegenüber Gastrin 5 Gestörte Mukosabarriere (vermindere Prostaglandinsynthese) 5 Motilitätsstörungen 5 Verminderte duodenale Bikarbonatsekretion 5 Nikotin- und Alkoholabusus 5 Nichtsteroidale Antiphlogistika (v. a. in Kombination mit Steroiden) 5 Genetische Faktoren 5 Zöllinger-Ellison-Syndrom
nach dem 50. Lebensjahr, wobei zum Zeitpunkt der Diagnose bei 50–75% der Patienten ein lokal fortgeschrittenes oder metastasiertes Stadium vorliegt. Die genaue Ätiopathogenese ist nicht genau geklärt. Die Risikofaktoren für die Entwicklung eines Magenkarzinoms sind in der Übersicht dargestellt.
Risikofaktoren für die Entwicklung eines Magenkarzinoms 5 Allgemein – Rauchen – hoher Eiweißkonsum – geräucherte Nahrungsmittel – vitaminarme Kost – hoher Nitratgehalt in der Nahrung – übermäßiger Alkoholgenus 5 Spezifische Karzinogene – Benzpyren – Nitrostilbene – Arsen – Nitrosamine 5 Genetische Faktoren und nationale Herkunft – Blutgruppe A – Positive Familienanamnese – hohe Inzidenz in China, Japan, Finnland, Chile 5 Erkrankungen mit erhöhtem Karzinomrisiko – positive Familienanamnese – Morbus Ménétrier – Zustand nach Magenresektion – chronisch atrophische Autoimmungastritis – adenomatöse Magenpolypen
Hervorzuheben ist die Helikobaktergastritis. > Helicobacter pylori ist für den Magen ein Karzinogen.
14 15 16 17 18 19 20
Der Einfluss von »Stress« wird kontrovers diskutiert. Bei Patienten mit Ulcus ventriculi ist die Säuresekretion im Gegensatz zu Patienten mit Ulcus duodeni nicht erhöht. Beim Ulcus ventriculi ist bei fast allen Patienten eine chronisch-aktive Gastritis nachweisbar, entweder als Folge einer Helikobakterinfektion, eines gastroduodenalen Refluxes oder beidem.
Magenkarzinom Seit mehreren Jahrzehnten ist in den westlichen Industrienationen ein stetiger Rückgang der Inzidenz des Magenkarzinoms zu verzeichnen. Diese Reduktion wird mit einem deutlichen Rückgang der distalen Karzinome erklärt, während die subkardialen und kardialen Karzinome zugenommen haben. Männer sind häufiger betroffen als Frauen, die Inzidenz liegt bei ca. 15 : 100.000 gegenüber 9 : 100.000. Die Neoplasie manifestiert sich häufig erst
Über 90% der Patienten mit einem Magenfrühkarzinom haben eine HP-Gastritis. Epidemiologische und experimentelle Daten der letzten Jahre weisen der Infektion mit HP eindeutig Risikopotenzial für das distale Magenkarzinom zu. Eine weitaus engere Beziehung besteht zwischen der HP-Infektion und den gastralen B-Zelllymphomen vom MALT-Typ (»muscosa associated lymphoid tissue«). Die charakteristische Metastasierung erfolgt in die perigastralen Lymphknoten wie die Virchow-Drüse der linken Supraklavikulärgrube. Häufige Metastasen findet man in Ovarien, Lunge, Leber und Knochen.
Der operierte Magen und seine Folgeerkrankungen Noch vor 30 Jahren erfolgten die meisten chirurgischen Eingriffen am Magen wegen eines Geschwürleidens. Sie bestanden in resezierenden und vagotomierenden Ope-
275 9.3 Magen und Duodenum
rationen. Der breite Einsatz von Protonenpumpeninhibitoren sowie die Eradikationstherapie bei Vorliegen eines HP-positiven peptischen Ulkus hat das Spektrum der Magenchirurgie grundsätzlich verändert. Heute ist die Gastrektomie beim Magenkarzinom die häufigste Operation am Magen.
tritis aus. Endoskopisch lässt sich hierbei eine deutliche Hyperämie der restlichen Magenschleimhaut beobachten. Die Gastritis scheint beim Billroth-II-Magen mit einer retrokolischen Anastomose ausgeprägter zu sein als beim Billroth-I-Magen. Bei Nachweis einer intestinalen Metaplasie liegt eine fakultative Präkanzerose vor.
Alkalische Refluxösophagitis Kommentar Gutacherlich haben daher meist die die postoperativen Syndrome nach Gastrektomie besondere Bedeutung.
Sie ist vornehmlich Folge eines verstärkten Refluxes von galligem Sekret in den Restmagen und in den Ösophagus und häufiger nach Billroth-II- als nach Billroth-I-Operation.
Ösophagusstenose an der Anastomose Die partielle oder totale Magenresektion geht zum einen mit einem Verlust der Kontinuität des oberen Gastrointestinaltrakts, zum andern mit dem Verlust der Reservoirfunktion einher. Diese Veränderungen können die bekannten Syndrome nach Gastrektomie hervorrufen.
Kommentar Wegen des GdB/MdE hat das Dumping-Syndrom erhebliche gutachterliche Bedeutung. Es kann nach allen Operationen am Magen auftreten, auch nach distalen Magenresektionen.
Früh- und Spätdumping Zu unterscheiden ist ein Früh-Dumping-Syndrom und ein Spät-Dumping-Syndrom. Bei Ersterem kommt es ca. 10–30 Minuten nach einer großvolumigen Mahlzeit durch eine beschleunigte Passage des hyperosmolaren Speisebreis in das Duodenum zu einer mechanischen Dehnung des oberen Dünndarms. Dies bewirkt eine reflektorische Kreislaufreaktion. Aufgrund des hohen osmotischen Drucks kommt es zum Wassereinstrom aus der Blutbahn in das Darmlumen. Dieser Effekt geht mit Hypovolämie und Blutdruckabfall einher. Die Freisetzung vasoaktiver Peptide führt zur hypovolämen Kreislaufreaktion. Für das Auftreten des selteneren Spät-Dumping-Syndroms ist eine übersteigerte Insulinsekretion, ausgelöst durch die zu rasch ansteigende Blutzuckerkonzentration bei einer beschleunigten Passage von Kohlenhydraten in den oberen Dünndarm, verantwortlich. Hieraus kann sich bei Sistieren der Kohlenhydratresorption ein Missverhältnis zwischen dem im Überschuss sezernierten Insulin und dem Blutzucker ergeben, sodass es 2–3 Stunden nach dem Essen zu einer reaktiven Hypoglykämie mit den klassischen Symptomen kommt. Das Spät-Dumping wird v. a. nach dem Billroth-II-Verfahren beobachtet.
Atrophische Gastritis Innerhalb von 10 Jahren nach einer Magenteilresektion bildet sich bei fast allen Patienten eine atrophische Gas-
An der Ösophagojejunostomie kann es zur Ausbildung erheblicher Stenosen kommen. Hierbei spielen sowohl eine ödematöse Schwellung, Entzündung oder Narbenschrumpfung oder ein Tumorrezidiv eine Rolle. Gutacherlich spielen meist die beiden Letzteren eine Rolle, da die Frühstenose im Rahmen einer postoperativen ödematösen Schwellung meist nach wenigen Wochen unter Therapie abklingt.
Metabolische Folgezustände Untergewicht. Während etwa 10–20% der Patienten nach
einer Magenteilresektion untergewichtig werden, sind dies fast 50% der Gastrektomierten. Ursache ist eine unzureichende Nahrungsaufnahme und das Auftreten einer Malassimilation. In den ersten Monaten nach Gastrektomie werden meist weniger als 50% der üblichen Portionen toleriert, sodass eine bedarfsdeckende Energie- und Nährstoffaufnahme nur durch 7–10 Mahlzeiten pro Tag erreicht werden kann. Im weiteren Verlauf steigt die tolerierte Mahlzeitengröße individuell an. Eisenmangelanämie. Die Häufigkeit wird mit bis zu 50%
angegeben. Neben einer verminderten Resorption durch das alkalische Milieu kommen ein vermehrter Eisenverlust als Folge chronischer Blutungen, Anastomosenulzera oder eine Jejunitis durch bakterielle Fehlbesiedelung in Frage. Ist weiter das Duodenum als der Hauptresorbtionsort des Eisens durch Rekonstruktionsverfahren aus der Speisepassage ausgeschlossen, wird die Eisenmangelanämie begünstigt. »Intrinsic factor«. Durch den Mangel an »intrinsic factor«
und der damit verbundenen Abnahme der Vitamin-B12Resorption im terminalen Ileum entwickelt sich, mit einer Latenz von Jahren, eine megaloblastäre Anämie. Somit laufen nur Langzeitüberlebende Gefahr, eine megaloblastäre Anämie zu einwickeln. Knochenstoffwechsel. Veränderungen des Knochenstoffwechsels nach Magenresektion sind bei bis zu 40% der Patienten beschrieben. Hauptursache ist das Meiden
9
276
1 2 3
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
von Milch und Milchprodukten. Nach Gastrektomie kann sich bei bis zu 50% der Patienten eine Laktoseintoleranz durch einen sekundären Laktasemangel einstellen. So findet sich bei über 50% der Patienten nach Gastrektomie infolge mangelnder Kalziumaufnahme eine gesteigerte Kalziummobilisation bis hin zur Ausbildung einer Osteoporose. Steatorrhö. Aufgrund der fehlenden Durchmischung des
4 5 6
Nahrungsbreis mit Gallesalzen und Pankreasfermenten an typischer Position konnte bei etwa 90% der Patienten ein pathologisch erhöhter Stuhlfettgehalt bestimmt werden. Je nach Ausmaß der Steatorrhö muss von einer nicht bedarfsdeckenden Versorgung mit fettlöslichen Vitaminen ausgegangen werden.
Magenstumpfkarzinom
8
Ein Tumor, der im Magenstumpf frühesten 5 Jahre nach einer wegen benigner Erkrankung durchgeführten Magenoperation auftritt, wird als primäres Magenstumpfkarzinom definiert. Die chronisch atrophische Gastritis mit intestinaler Metaplasie gilt als fakultative Präkanzerose.
9
> Nach einem Zeitraum von 15 Jahren ist bei ca. 3% der Patienten mit einem Stumpfkarzinom zu rechnen.
7
10 11 12 13 14 15 16
Ulcus pepticum jejuni In der Anastomose nach Magenresektion können Rezidivulzera auftreten, die aufgrund ihrer peptischen Ätiologie als Ulcus pepticum jejuni beschrieben werden. Im Magenrest wie auch im Duodenalstumpf kann Antrumschleimhaut mit gastrinproduzierenden Zellen verbleiben, sodass es bei fehlender Säurehemmung zu einer vermehrten Gastrinausschüttung kommen kann. Weiter spielen ulzerogene Medikamente eine erhebliche Rolle beim Anastomosenulkus.
9.3.3 Fragen zum Zusammenhang
Der endoskopisch-bioptisch erbrachte Nachweis einer chronischen Gastritis ist häufig ohne klinisches Korrelat. In solchen Fällen stellen sich in der Begutachtung auch keine Zusammenhangsfragen.
Kommentar
19 20
Mögliche Ursachen für Magenschleimhautschäden 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Acetylsalicylsäure Kaliumchlorid Alkohol NSAID Chemotherapeutika Verbrennungen Sepsis Schock Verätzungen
Gastritis
17 18
Hierbei kommen z. B. Blei, Nitro- und Aminoverbindungen sowie Quecksilberchlorid in Frage. Auch bei einer Langzeittherapie mit Arzneimitteln, die die Magenschleimhaut schädigen, können sich Zusammenhangsfragen ergeben. Bei einer Typ-C-Gastritis kann auch ein galliger Reflux zugrunde liegen. Dies könnte nach resezierenden Operationen von Bedeutung sein, insbesondere, wenn nach dem operativen Eingriff persistierende Beschwerden auftreten, für die kein anderes Korrelat gefunden wird. Der Zusammenhang zwischen der HP-Infektion der Magenschleimhaut und einem MALT-Lymphom besitzt in der gutachterlichen Praxis nur eine untergeordnete Bedeutung, da eine Typ-B-Gastritis, die mit Beschwerden einhergeht, durch eine Eradikationstherapie sehr häufig beseitigt werden kann. Bei ausbleibendem Behandlungserfolg, der diagnostisch belegt sein muss, kann der kausale Zusammenhang zwischen MALT-Lymphom und Typ-BGastritis gutachterliche Bedeutung gewinnen, insbesondere bei Wohn- und Lebensbedingungen mit Defiziten bei den hygienischen Standards. Eine Vielzahl von Faktoren kann Ursache für akut auftretende Schäden der Magenschleimhaut sein. Diese Zusammenhangsfragen sind in der Regel leicht zu beantworten. Von klinischer Bedeutung sind u. a. die in der Übersicht genannten Faktoren.
Die Anerkennung einer chronischen Gastritis als Berufserkrankung ist dann relevant, wenn persistierende Beschwerden vorliegen und eine chronische Schadstoffexposition vorliegt, die den histologischen Befund einer chemisch-toxisch induzierten Typ-CGastritis erklärt.
Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni In der sozialmedizinischen Beurteilung der Ulkuskrankheit hat sich in den letzten Jahren ein Wandel vollzogen, da die Ulkuskrankheit als chronisches Leiden immer mehr an Bedeutung verliert. Sowohl chronisch-rezidivierende Verläufe als auch Komplikationen sind rückläufig. Bei Nachweis eines chronisch-rezidivierenden Verlaufs sind der oder die Faktoren nachzuweisen, denen eine ursächliche Bedeutung zukommt. Hier kommen z. B. anhaltende psychische oder physische Extrembelastungen in Betracht, zudem dauerhafte Noxen wie Medikamente (NSAID und/oder Steroide). Auch ein nicht eradizierter HP muss bedacht werden. Langzeiteinwirkungen, die sich
277 9.3 Magen und Duodenum
im Arbeitsleben ulkusfördernd auswirken, sind in der Übersicht dargestellt.
Ulkusfördernde Langzeiteinwirkungen 5 Akkordarbeit 5 Wechselschichtdienst 5 Arbeitsprogramme, die keine regelmäßigen Mahlzeiten zulassen 5 Mobbing am Arbeitsplatz 5 Psychosomatische Einflussgrößen wie Aggressivität und impulsive Feindseligkeit
Der Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Ulkusentstehung ist durch epidemiologische Studien gestützt. Bei Menschen, die aus einer tragenden sozialen Gemeinschaft herausgelöst werden, oder bei Menschen mit seelisch belastenden Trennungserlebnissen kommen Ulzera häufiger vor.
Komplikationen Hat ein chronischer Verlauf zu Komplikationen wie Magenausgangsstenose, Ulkusperforation oder Ulkuspenetration und Blutungen geführt, gelten die Richtlinien für den operierten Magen.
Kommentar Akute Ulzera des Magens und des Duodenums, die unter Stressbedingungen (wie Polytrauma, SchädelHirn-Trauma, Beatmungstherapie, notwendige Therapie mit NSAID oder anderen Medikamenten) die Ulkusentstehung fördern, sollten als mittelbare Schädigungsfolge anerkannt werden.
Magenkarzinom Während ein pathophysiologischer Zusammenhang zwischen chronisch-rezivierenden Ulzera, z. B. im Rahmen von Stresssituationen am Arbeitsplatz, und einem Magenkarzinom nach heutigem Kenntnisstand nicht gestellt werden kann, so kann das Auftreten eines Magenstumpfkarzinoms nach entschädigungspflichtiger Magenoperation entschädigungspflichtig sein. Die Zusammenhangsfrage zwischen maligner Neoplasie und einem nichttherapierten, HP-positiven Ulcus ventriculi könnte hinsichtlich der Arzthaftung gestellt werden. In dieser Richtung können auch suboptimal therapierte rezidivierende Ulzera mit HP-Nachweis bei späterer Manifestation eines Magenkarzinoms Fragen aufwerfen. Hinsichtlich der verschiedenen karzinogenen Substanzen ist im Fall einer Tumormanifestation der Nachweis einer Exposition oder der Ingestion zu erbringen.
Bei gesicherten Präkanzerosen können sich Zusammenhangsfragen hinsichtlich der Arzthaftung ergeben, wenn diagnostische Maßnahmen zum Nachweis oder Ausschluss eines Malignoms trotz Beschwerden unterblieben sind.
Der operierte Magen und seine Folgeerkrankungen > Folgen einer Operation, ob akut oder chronisch, sind entschädigungspflichtig, wenn die Operation aufgrund einer entschädigungspflichtigen Erkrankung durchgeführt wurde.
Beispiele sind die chirurgische notwendige Magenteilresektion bei blutendem Stressulkus nach Arbeitsunfall oder eine Operation nach Bauchtrauma beim Wegeunfall. Bei der Beurteilung der Operationsfolgen muss immer die Grunderkrankung mitberücksichtigt werden. Die chronische Atrophie nach Magenteilresektion mit intestinaler Metaplasie gilt als fakultative Präkanzerose, sodass auch die Entwicklung eines Magenstumpfkarzinoms mindestens 5 Jahre nach einer Magenteilresektion entschädigungspflichtig ist, sofern die durchgeführte Operation auf ein entschädigungspflichtiges Ereignis zurückzuführen ist. Zahlreiche Zusammenhänge zwischen Magenresektion und postoperativen Syndromen sind bekannt. Vor allem Störung des Kalziumhaushalts und die damit einhergehenden Knochenstoffwechselstörungen können gutachterliche Relevanz erlangen, wenn Frakturen durch inadäquate Traumata auftreten und eine primäre Osteoporose abgegrenzt werden kann. Auch Vitaminmangelzustände wie z. B. der Mangel an Vitamin-B12 sind bei fehlender Substitution eindeutig mit einer Magenteilresektion assoziiert. Nicht nur funikuläre Spinalerkrankungen mit Gangunsicherheit oder spastischen Paresen, sondern auch psychiatrische Erkrankungen können auf eine Magenresektion zurückzuführen sein. Da der Vitamin-B12Speicher meist erst nach Jahren entleert ist und es dann zu einem relevanten Mangel kommt, sollte nach der Magenresektion und dem Auftreten der Beschwerden ein Zeitraum von 3–5 Jahren vergehen.
9.3.4 Beurteilung nach dem Sozialrecht
Gastritis Arbeitsunfähigkeit Sowohl bei einer akuten als auch bei einer chronischen Gastritis ist die Arbeitsunfähigkeit nur dann gegeben, wenn stärker ausgeprägte Beschwerden wie Oberbauchschmerzen, Erbrechen oder gar Blutungen mit relevanter Anämie auftreten. Die Arbeitsunfähigkeit ist meist nur für einer sehr kurze Zeit gerechtfertigt.
9
278
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
Erwerbsunfähigkeit
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit sind Auswirkungen der chronischen Gastritis auf den Allgemeinzustand maßgebend. Da dieser nur in sehr wenigen Fällen erheblich beeinträchtigt ist, kommt eine Erwerbsunfähigkeit in der Praxis nur selten vor. Dies gilt auch für Patienten mit megaloblastärer Anämie infolge einer Typ-AGastritis. Bei den wenigen Patienten mit endoskopischbioptisch nachgewiesener chronischer Gastritis, persistierenden Beschwerden und darauf zurückgeführtem Gewichtsverlust mit zunehmendem Kräfteverfall müssen berufliche Einschränkungen berücksichtigt werden. Andere Ursachen, v. a. Karzinome als weitere Ursache, müssen ausgeschlossen werden. Auch bei Morbus Crohn, Tuberkulose oder der Sarkoidose können chronische Gastritiden auftreten. Die Beurteilung muss dann aber in Zusammenschau mit der Grunderkrankung erfolgen.
16 17 18 19 20
Magenkarzinom Arbeitsunfähigkeit Arbeitsunfähigkeit liegt sowohl bei inoperablen als auch bei operablen Tumoren bis zum Zeitpunkt der Intervention vor.
GdB/MdE Chronische Gastritiden haben in der Sozialmedizin keine besondere Bedeutung. Ein GdB/MdE kann in sehr seltenen Fällen bis zu 10 betragen, und nur in sehr schweren Fällen kann ein GdB/MdE von 20–30 resultieren.
Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni Arbeitsunfähigkeit Akute Ulzera des Magens und des Duodenums rechtfertigen die Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit. Bei der Bemessung der Arbeitsunfähigkeit ist die Gefährdung der Gesundheit bei der jeweiligen Anforderung, der der Ulkuskranke am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, sorgfältig abzuwägen. Durch die Therapie mit Protonenpumpeninhibitoren kann eine Beschwerdefreiheit innerhalb weniger Tage erreicht werden, sodass die meisten Patienten nach 3–5 Tagen wieder arbeitsfähig sind. Bei komplizierten Verläufen mit Blutungen kann die Dauer auch auf 1–2 Wochen ausgedehnt werden.
Erwerbsunfähigkeit
15
Komplikationen anerkannt. Bei häufigen Rezidiven wird er mit 20–30 eingeschätzt. Aufgrund der guten Therapiemöglichkeiten kommen solche Rezidive meist nur bei Patienten mit multiresistentem HP-Befall oder ausgebliebener Eradikation vor. Ist es im Verlauf der Erkrankung jedoch zu Komplikationen wie einer Magenausgangsstenose, penetrierendem oder gar perforierendem Ulkus oder einer schweren Blutung gekommen, liegt ein höherer GdB/MdE vor. Hier kann ein GdB/MdE bis 50 angenommen werden. Bei Patienten, bei denen die Ulkuserkrankung zu operativen Maßnahmen geführt hat, können Neueinstufungen in Abhängigkeit vom postoperativen Verlauf notwendig werden (s. unten).
Die Erwerbsfähigkeit ist bei Ulzera in der Regel gewährleistet. Allerdings können bei chronisch-rezidivierenden Verläufen der Allgemein- und/oder der Ernährungszustand eingeschränkt sein. Hier liegt eine Erwerbsunfähigkeit aber nur dann vor, wenn der Versicherte auf unbestimmte Zeit nicht regelmäßig erwerbstätig sein oder nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Die ist v. a. bei auftretenden Komplikationen wie einer narbigen Magenausgangsstenose oder rezidivierenden Blutungen der Fall.
GdB/MdE Der GdB/MdE wird vom Schweregrad der Ulkuskrankheit abhängig gemacht. So wird ein GdB/MdE praktisch nur noch bei chronisch-rezidivierendem Verlauf oder bei
Erwerbsunfähigkeit Bei einer palliativen Situation sind die Patienten fast immer erwerbsunfähig, dies gilt auch für Patienten mit adjuvantem Therapieansatz unter einer laufenden Radio- oder Chemotherapie. Bei einem kurativen Therapieansatz sind die Patienten bis zum Erreichen der vollständigen körperlichen Leistungsfähigkeit als zeitlich begrenzt berufs- und erwerbsunfähig einzustufen.
GdB/MdE Wurde eine Gastrektomie aufgrund eines fortgeschrittenen Karzinoms durchgeführt, so beträgt der GdB/MdE in Abhängigkeit vom Kräfte- und Allgemeinzustand 90– 100. Bei Operierten mit einem Magenfrühkarzinom ist – wieder unter Rücksichtnahme auf den Allgemeinzustand – ein GdB/MdE von 50 anzunehmen. Eine definitive Beurteilung ist erst nach Ablauf einer Heilungsbewährung möglich. Beim Magenfrühkarzinom beträgt dieser Zeitraum in der Regel 2 Jahre, beim weiter fortgeschrittenen Karzinom 6 Jahre.
Der operierte Magen und seine Folgeerkrankungen Arbeitsunfähigkeit Die Grundkrankheit, die zur Operation geführt hat, geht immer mit in die Beurteilung ein. Arbeitsunfähigkeit besteht bei komplikationsloser Wundheilung für körperlich gering oder nicht belastende Tätigkeiten für 4–6 Wochen. Mittelschwere oder schwere körperliche Arbeiten können nach einer Magenoperation für die Dauer von bis zu 8 Wochen nicht ausgeführt werden. Maßgebend für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit sind der Schweregrad der postoperativen Syndrome sowie die Geschwindigkeit der Verhaltensanpassungen an die neuen anatomischen Gegebenheiten.
279 9.3 Magen und Duodenum
Erwerbsunfähigkeit
9.3.5 Privat versicherte Schäden
Die Erwerbsfähigkeit kann nach Magenresektionen aufgrund benigner Erkrankungen in Abhängigkeit von postoperativen Folgesyndromen gemindert sein, eine Erwerbsunfähigkeit kann jedoch nur selten anerkannt werden.
GdB/MdE Hierbei spielt die Operationsindikation eine Rolle. Während für die Operation eines Karzinoms das oben Gesagte gilt, ist nach einer Magenteilresektion oder Gastrektomie eine Heilungsbewährung abzuwarten. Diese ist in der Regel auf 2 Jahre begrenzt. Die nach diesem Zeitraum festgestellte Beeinträchtigung entscheidet über den GdB/MdE (. Tab. 9.6). Nach einer selektiven proximalen Vagotomie kommt ein GdB/MdE nur in Betracht, wenn postoperative Darmstörungen oder noch Beschwerden der Grundleidens vorliegen. Nach Entfernung eines malignen Magentumors ist eine Heilungsbewährung abzuwarten.
. Tab. 9.6. GdB/MdE bei Erkrankungen des Magens
Unfallversicherung Die private Unfallversicherung gewährt Leistungen für die Folgen von Unfällen. Pathogenetisch kommen Unfälle als Ursache der oben genannten Erkrankungen nicht in Betracht, sodass sich diese Fragestellung erübrigt.
Lebensversicherung Bei der Lebensversicherung kommt es meist nur dann zu einem Anspruch auf Leistungen, wenn der Versicherungsnehmer an einer Krankheit stirbt, an der der Versicherte vor Versicherungsbeginn nicht erkrankt war. Für den Gutachter ist es deshalb wichtig, den kausalen Zusammenhang von Vorerkrankungen (Risikofaktoren) zu kennen, da nur dann Obliegenheitsverletzungen erfasst werden können. Beispielsweise sollte ein Morbus Ménétrier oder eine atrophische Gastritis bei Versichungsabschluss angegeben werden, da diese Erkrankungen mit einer erhöhten Inzidenz an Magenkarzinomen einhergehen.
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung GdB/MdE
Reizmagen
0–10
Chronische Gastritis
0–10
Gastroduodenale Ulzera 5 mit Rezidiven in Abständen von 2–3 Jahren
0–10
5 mit häufigeren Rezidiven und Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands
20–30
5 mit erheblichen Komplikationen (z. B. Magenausgangsstenose) und andauernder erheblicher Minderung des Ernährungs- und Kräftezustands
40–50
Hier gilt es, Leistungsbeeinträchtigungen der versicherten Person festzustellen. Der Gutachter muss die Symptome einer Erkrankung bzw. Gesundheitsbeeinträchtigungen beschreiben und beurteilen und wie sie sich bei der Ausübung des Berufs auswirken wird. Bei der Einteilung der Leistungsbeeinträchtigung kann als Grundlage . Tab. 9.6 herangezogen werden.
9.3.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten Einschränkungen in der Berufsausübung. Da im beruf-
Teilentfernung des Magens, Gastroenterostomie 5 mit guter Funktion, je nach Beschwerden
0–10
5 mit anhaltenden Beschwerden (z. B. Dumping-Syndrom)
20–40
Totalentfernung des Magens 5 ohne Beeinträchtigung des Ernährungsund Kräftezustands je nach Beschwerden
20–30
5 bei Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands und/oder Komplikationen (z. B. Dumping-Syndrom)
40–50
Nach Entfernung eines malignen Magentumors ist eine Heilungsbewährung abzuwarten: 5 GdB/MdE bei einer Heilungsbewährung von 2 Jahren nach Entfernung eines Magenfrühkarzinoms
50
5 GdB/MdE bei einer Heilungsbewährung von 5 Jahren nach Entfernung aller anderen Magenkarzinome je nach Stadium und Auswirkung auf den Kräfte- und Allgemeinzustand
80–100
lichen Alltag häufig keine regelmäßigen Mahlzeiten möglich sind, sollten bei Patienten mit chronischer Gastritis und gastroduodenalen Ulzera Akkordarbeit oder Wechselschicht vermieden werden. Bei gastrektomierten Patienten sollten Zwischenmahlzeiten ermöglicht werden. Außerdem können sich hier Einschränkungen bei Arbeiten, die mit dem Tragen schwerer Lasten oder mit Zwangshaltungen (bücken, über Kopf arbeiten) ergeben. Bei Verdacht auf Dumping-Syndrom können Arbeiten mit Absturzgefahr und an laufenden Maschinen, bei denen zur Vermeidung von Verletzung ständig Konzentration und Aufmerksamkeit gefordert wird, sowie das Führen von Fahrzeugen z. T. gar nicht durchgeführt werden. Auch Untergewicht und schlechter Ernährungszustand können die körperliche Belastbarkeit reduzieren und Tätigkeiten mit mittlerer und schwerer körperlicher Belastung unmöglich machen. Fahrereignung. Bei der Ulkuskrankheit kann die Fahre-
reignung vorübergehend schmerzbedingt beeinträchtigt sein, ebenso bei rezidivierendem Erbrechen. Bei Ulkus-
9
280
1 2 3 4
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
komplikationen wie z. B. Blutungen kann es ebenfalls vorübergehend zur Fahruntauglichkeit kommen. Minderung des Kräftezustands kann die Fahrereignung beeinträchtigen, insbesondere dann, wenn sie mit Be- und Entladetätigkeit verbunden ist. Der behandelnde Arzt muss den Patienten bei starken Schmerzen und ausgeprägten Anämien auf die eingeschränkte Fahrereignung hinweisen. Weiter kann bei Patienten mit Dumping-Syndrom aufgrund der Kollapsepisoden und beim Spät-Dumping mit den reaktiven Hypoglykämien eine Fahruntauglichkeit bestehen.
5 9.3.7 Risikobeurteilung und Verbesserung der
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Prognose durch Rehabilitation Gastrektomierte Patienten können mit einer Vielzahl von Beschwerden und Folgeerkrankungen belastet sein. Die Effektivität von Rehabilitationsmaßnahmen nach Gastrektomie ist hinreichend belegt. Die Frage der beruflichen Reintegration ist in jedem Einzelfall unter Zugrundelegung des erzielten Rehabilitationsresultats und nach sorgfältiger Prüfung der jeweiligen Bedingungen am Arbeitsplatz zu beantworten. > Die psychosoziale Betreuung des operierten Patienten muss obligater Bestandteil jeder Rehabilitationsmaßnahme sein.
Auch nach Magenresektion sind Anschlussheilbehandlungen sinnvoll, insbesondere bei postoperativen Syndromen zur Verhaltensanpassung. Bei komplikationslosem Verlauf und rascher Stabilisierung ohne wesentliche Beschwerden sind Rehabilitationsmaßnahmen allerdings nicht immer indiziert. Auf der anderen Seite sollten Verlängerungen der Anschlussheilbehandlung bei kompliziertem postoperativem Verlauf und Folgeerkrankungen gewährt werden.
9.4
Dünn- und Dickdarm
16
9.4.1 Diagnostik
17
Die diagnostischen Maßnahmen sind in 7 Kap. 9.1 dargestellt.
18
9.4.2 Krankheitsdefinition
19 20
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Pathogenese Die Ätiologie des Morbus Crohn (MC) und der Colitis ulcerosa (CU), die nachfolgend als chronisch entzünd-
liche Darmerkrankungen bezeichnet werden, ist trotz intensiver Forschungsaktivitäten weiterhin ungeklärt. Es ist jedoch bekannt, dass sowohl eine genetische Disposition wie auch Umweltfaktoren eine etwa gleich große Rolle spielen. Morbus Crohn. Die überschießende Immunreaktion ist
bei Patienten mit MC nicht im Sinne einer Autoimmunerkrankung gegen die Mukosa gerichtet, sondern es kommt zu einer Aufhebung der Toleranz gegenüber der luminalen bakteriellen Flora. Die Mukosa von MC-Patienten befindet sich auch in Remissionsphasen in einem Zustand der erhöhten Aktivität, das Gleichgewicht von Entzündungsmediatoren ist sowohl auf der Ebene der spezifischen zellulären Abwehr als auch auf der Interleukinebene proinflammatorisch verschoben. Die eigentliche Ursache dieser Phänomene ist unklar. Es wird aber eine Störung der mukosalen antibakteriellen Barriere vermutet, andererseits ist auch eine primäre Dysregulation der Immunreaktion möglich. Colitis ulcerosa. Bei der CU unterstreicht die Koinzi-
denz mit anderen Autoimmunerkrankungen in Verbindung mit dem Nachweis verschiedener Antikörper zunehmend die Hypothese, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Als Risikofaktoren werden ähnlich wie beim MC orale Kontrazeptiva, Ernährungsverhalten und psychosoziale Faktoren diskutiert, ohne dass die pathophysiologischen Zusammenhänge im Einzelnen hinreichend geklärt sind. Basierend auf der Beobachtung, dass Nichtraucher häufiger als Raucher an einer CU erkranken, wurde dem Nikotinkonsum eine protektive Wirkung zugeschrieben. Als mögliche pathophysiologische Mechanismen werden ein veränderter mukosaler Blutfluss und/ oder Änderung der mukosalen Glykoproteinsynthese diskutiert.
Symptomatik und Therapie Morbus Crohn. Leitsymptom des MC sind Durchfälle und krampfartige Bauchschmerzen, evtl. verbunden mit subfebrilen Temperaturen. Dabei ist der häufigste isolierte Befall bei 30% der Patienten das terminale Ileum, das u. U. auch eine Appendizitis imitieren kann. Bei den meisten Patienten herrscht ein diskontinuierlicher Befall an mehreren Stellen im Gastrointestinaltrakt vor, wobei der obere Anteil seltener betroffen ist. Typische Komplikation ist das Ausbilden von Fisteln wie z. B. einer enterovesikalen oder enteroenteritischen Fistel. Bei knapp der Hälfte der Patienten liegt ein remittierender Krankheitsverlauf vor mit längeren Phasen der Remission, die durch Krankheitsschübe unterbrochen werden. Bei Persistenz der Beschwerden über 6 Monate spricht man von einem chronisch-aktiven Verlauf. Dabei wird ein steroidabhängiger von einem steroidrefraktären Verlauf unterschieden. Bei Letzterem kann die Krank-
281 9.4 Dünn- und Dickdarm
heitsaktivität durch anhaltend hohe Steroidgaben nicht durchbrochen werden. Beim steroidabhängigen Verlauf benötigen die Patienten eine individuell unterschiedlich hohe Schwellendosis von Steroiden, um die Krankheitsaktivität kontrollieren zu können. Rund ein Drittel aller MC-Patienten erlebt einen chronisch-aktiven Verlauf, sodass auf Dauer aufgrund des Nebenwirkungsprofils neben der Therapie mit Steroiden auch eine Therapie mit Azathioprin notwendig wird. Das Ziel in der Behandlung dieser Patienten sind die Remissionsinduktion und zügige Steroidreduktion.
. Tab. 9.7. TNM-Klassifikation bei kolorektalem Karzinom T
Primärtumor
TX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden
T0
Kein Anhalt für Primärtumor
Cis
Carcinoma in situ (Ausbreitung auf die Mukosa beschränkt)
T1
Tumor infiltriert Submukosa
T2
Tumor infiltriert die Muskularis propria
T3
Tumor infilitriert die Subserosa oder nichtperitonealisiertes perikolisches oder perirektales Gewebe
T4
Tumor infiltriert direkt in andere Organe oder Strukturen und/oder perforiert das viszerale Peritoneum
N
Regionäre Lymphknoten
NX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
N0
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
N1
Metastasen in 1–3 regionären Lymphknoten
N2
Metastasen in mehr als 3 regionären Lymphknoten
M
Fernmetastasen
MX
Fernmetastasen sind nicht beurteilbar
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen
Colitis ulcerosa. Bei der CU beobachtet man bei ca. 40%
der Patienten einen intermittierenden Verlauf, der durch unterschiedlich lange Remissionsphasen gekennzeichnet ist, unterbrochen durch akute Schübe. Bis zu 15% der Patienten haben einen chronisch-aktiven Verlauf, ohne dass eine länger dauernde Remissionsphase erreicht werden kann. Hier ist bei Steroidabhängigkeit neben der Option einer Kolektomie die Gabe von Immunsuppressiva wie Azathioprin als Therapie etabliert. Bei ca. 5% der Patienten mit CU findet sich eine akutfulminante Verlaufsform mit Ausbildung eines toxischen Megakolons. Nur etwa 20% aller Patienten mit einer CU bedürfen während ihrer Krankheitsgeschichte einer Operation. Als Indikationen gelten mit am häufigsten das Versagen der konservativen Therapie, weiter die Kolonperforation, das kolorektale Karzinom oder hochgradige Dysplasien, Blutungen sowie das toxische Megakolon mit einer hohen Mortalität. Extraintestinaler Befall. Typischerweise sind die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen nicht auf den Gastrointestinaltrakt beschränkt, sondern können sich in diversen extraintestinalen Organen manifestieren. Hierbei stehen Augen, Gelenke, Haut, Leber und Gallenwege im Vordergrund. Bei MC ist ein extraintestinaler Befall häufiger anzutreffen, während die primär sklerosierende Cholangitis häufiger mit der CU assoziiert ist.
Pathogenese
Kolorektales Karzinom
Klinik und Therapie
Die Bedeutung des kolorektalen Karzinoms ist unverändert hoch. 2006 erkrankten in der Bundesrepublik Deutschland 65.000 Menschen an einem kolorektalen Karzinom, knapp 30.000 starben an den Folgen der Erkrankung. In der Statistik der tumorbedingten Todesursachen nimmt das kolorektale Karzinom den 2. Platz hinter den Bronchialkarzinomen ein. Man schätzt, dass ca. 75% der kolorektalen Karzinome sporadisch auftreten, während ca. 10% mit Nachweis einer Keimbahnmutation verknüpft sind (familiäre Adenomatose, hereditäres nichtpolypöses kolorektales Karzinom). Die TNM-Klassifikation zeigt . Tab. 9.7.
Klinisch hat nur einer Minderzahl der Patienten im Anfangsstadium Beschwerden. Mit zunehmender Größe können okkulte Blutungen mittels Haemoccult-Test detektiert werden, z. T. zeigen sich aber auch makroskopische rektale Blutungen. Weitere Symptome, die meist bei fortgeschrittenen Karzinomen auftreten, können sind Tenesmen, Veränderungen der Stuhlgewohnheiten, Gewichtsverlust oder Fieber. Hämatogene Metastasen finden sich am häufigsten in der Leber. Distale Rektumkarzinome können auch primär in die Lunge metastasieren. Weiter finden sich ossäre Metastasen. Abdominelle Lymphknotenmetastasen sind häufig.
Das kolorektale Karzinom entwickelt sich aus normalen Epithelzellen des Darms durch eine Kette von molekularen Veränderungen. In der Regel stellen adenomatöse Polypen einen Zwischenschritt bei dieser Entwicklung dar. Diese finden sich v. a. im höheren Lebensalter, so finden sich bei 50-Jährigen in 30%, bei 70-Jährigen sogar bei 50% der Bevölkerung.
9
282
1 2
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
Therapeutisch wird die klassische antitumorale Therapie mit Chemo-, Radiotherapie und Operation eingesetzt. Mit zunehmender Kenntnis über die molekularen Mechanismen maligner Erkrankungen gibt es seit wenigen Jahren sog. molekulare Therapieformen, die auch beim kolorektalen Karzinom mit gutem Erfolg eingesetzt werden.
3
Kommentar Der Gutachter ist angehalten, bei der Bewertung der CED diese Arzneimittelnebenwirkungen mit in die Begutachtung einzubeziehen und in Abhängigkeit von der Schwere und der Dauer der medikamentös bedingten Organschäden den GdB/MdE entsprechend anzuheben.
9.4.3 Fragen zum Zusammenhang
4
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
5
Psychosoziale Faktoren wie Stress und einschneidende Lebensereignisse können ein Rezidiv der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) bedingen oder die Symptome der aktiven Erkrankung verschlechtern.
6 Kommentar
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Begutachtung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen hat daher psychosoziale und psychiatrische Faktoren als potenzielle Einflussgrößen bei der Rezidivauslösung zu bewerten und gleichzeitig zu prüfen, welchen Einfluss die individuellen Bewältigungsstrategien auf den Krankheitsverlauf haben.
Auch schwere körperliche Belastungen können in Einzelfällen eine akute Exazerbation der Erkrankung auslösen. Zudem sind Verletzungen der Darmwand, die bei endoskopischen Untersuchungen in hochfloriden Phasen auftreten können, zusätzliche Belastungen, die eine Verschlechterung bedingen. Da fast die Hälfte der Patienten einen remittierenden Krankheitsverlauf und ca. ein Drittel einen chronisch-aktiven Verlauf aufweisen, ist häufig eine Langzeittherapie mit Medikamenten notwendig. Hierbei kann es z. T. zu erheblichen kortikoidbedingten Nebenwirkungen kommen: 5 Steroidosteopathie, 5 kortikoidinduzierte Dermatosen, 5 Steroiddiabetes, 5 Katarakt, 5 Steroidpsychose, 5 Steroidmyopathie, 5 Blutbildveränderungen. Weitere häufig eingesetzte Medikamente wie Aminosalicylate, Immunsupressiva wie Azathioprin und Methotrexat können weitere Nebenwirkungen hervorrufen, die den chronisch-aktiven Verlauf der Erkrankung weiter komplizieren. Auch neuere Wirkstoffe wie Infliximab können mit Nebenwirkungen bis hin zur Reaktivierung einer Tuberkulose und Begünstigung weiterer Infektionserkrankungen septische Krankheitsbilder fördern.
Auch operative Eingriffe können CED-Patienten sowohl körperlich als auch psychisch transient, aber auch dauerhaft belasten. Beispiele sind Stomakomplikationen, Inkontinenz und nach wiederholten Dünndarmresektionen auch das Kurzdarmsyndrom. Hier ist v. a. bei einer Restdünndarmlänge von unter 100 cm regelhaft mit Komplikationen zu rechnen. Fast alle Patienten haben einen deutlich reduzierten Ernährungs- und Kräftezustand, der eine spezielle Ernährungsstrategie bis hin zur dauerhaften parenteralen Ernährung notwendig macht. Der GdB/MdE richtet sich nach dem Schweregrad der Gesamtbeeinträchtigung und der Notwendigkeit einer besonderen Diätform. CED-Patienten mit vorausgegangenen kontinenzerhaltenden Kolektomien (subtotale Kolektomie mit ileoanaler Anastomose, totale Proktokolektomie mit ileoanaler Anastomose, totale Proktokolektomie mit Ileum-Pouch) sind trotz zumeist befriedigender Operationsresultate nicht selten mit Inkontinenzproblemen konfrontiert. Für die Beurteilung des jeweiligen Schweregrades sind strukturierte Anamnesebögen eine gute Hilfe.
Kolorektales Karzinom Ernährungsgewohnheiten nehmen Einfluss auf die Inzidinz des kolorektalen Karzinoms. So fördern starkes Übergewicht, Rauchen und regelmäßiger Alkoholkonsum die Tumorentstehung. Dagegen scheint der Verzehr von Obst und Gemüse eine protektive Wirkung zu haben. Neben diesen nutritiven Faktoren ist bei bis zu 10% der Patienten mit kolorektalem Karzinom eine genetische Prädisposition vorhanden, sodass diese Tumoren familiär gehäuft auftreten. Diese genetisch determinierten Tumorerkrankungen umfassen mehrere klinisch und molekulargenetisch differenzierbare Krankheitsbilder. Hierzu gehören das am häufigsten beobachtete hereditäre kolorektale Karzinom ohne Polyposis (HNPCC) und die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP). Während die Diagnose einer FAP in der Regel schon aufgrund der klinischen Befunde und des Phänotyps gestellt werden kann, ist die Diagnose einer HNPCC schwieriger. Die Kenntnis dieser Erkrankung sollte dem Gutachter bekannt sein, da sich bei mangelnder Abklärung des behandelnden Arztes haftungsrechtliche Konsequenzen ergeben können.
283 9.4 Dünn- und Dickdarm
Das klinische Bild eines Patienten mit einem HNPCCassoziierten kolorektalen Karzinom unterscheidet sich zunächst kaum von dem eines Patienten mit einem sporadischen Karzinom. Es finden sich jedoch häufig Hinweise auf eine familiäre Karzinomdisposition. Wegen des autosomal-dominanten Erbgangs mit 80%iger Penetranz ist eine positive Familienanamnese mit Erkrankten in mehreren aufeinander folgenden Generationen zu erwarten. Vor allem sollte an ein HNPCC bei Patienten mit Karzinom vor dem 50. Lebensjahr gedacht werden. Neben einer Häufung syn- oder metachroner kolorektaler Karzinome treten auch extrakolische Karzinome auf. Bei Verdacht auf auf ein HNPCC-assoziiertes Karzinom helfen die Amsterdam-Kriterien weiter. > Das Risiko für HNPCC-Anlageträger, ein kolorektales Karzinom zu entwickeln, beträgt bis zum 70. Lebensjahr 60–90%. Daher sollten bei Verdacht auf HNPCC oder Nachweis einer Keimbahnmutation alle Risikopersonen in ein spezielles Früherkennungsprogramm aufgenommen werden.
9.4.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen Arbeitsunfähigkeit Die Arbeitsfähigkeit ist im akuten Schub chronisch entzündlicher Darmerkrankungen nicht gegeben. Auch operative Eingriffe bedingen passagere Arbeitsunfähigkeit, deren Dauer vom Ausmaß des operativen Eingriffs, dem postoperativen Verlauf und möglichen Komplikationen abhängt. Im Jahr der Diagnose sind nur ein Drittel der Patienten mit MC voll arbeitsfähig, nach 10 Jahren Krankheitsverlauf können i. Allg. jedoch drei Viertel der Betroffenen als vollschichtig erwerbsfähig eingestuft werden. Weitere Gründe für eine Arbeitsunfähigkeit sind psychosomatische und psychiatrische Auffälligkeiten wie Depression, Panikattacken und Angstzustände, die in Abhängigkeit von Schwere und Dauer zu beurteilen sind. Zudem können bei CED-Patienten medikamentenassoziierte psychische und psychatrische Auffälligkeiten den Krankheitsverlauf beeinflussen.
GdB/MdE Der medizinische Sachverständige hat bei der Beurteilung der chronisch entzündlichen Darmerkrankung zu berücksichtigen, dass der GdB/MdE ein Maß für die Auswirkung eines Mangels an funktioneller Intaktheit ist. Funktionsbezogene Anamnesen sind daher unverzichtbare Bestandteile im gesamtdiagnostischen Gefüge. So können z. B. 6– 10 flüssige Stühle pro Tag ein harmloses Symptom sein, andererseits eine quälende, ans Haus fesselnde Krankheit darstellen.
Kommentar Häufig haben CED-Patienten mehrere Funktionsstörungen zugleich. Der Sachverständige kann hierfür zwar jeweils einen GdB/MdE-Werte ermitteln, für die Beurteilung entscheidend ist aber das Gesamtausmaß der Funktionsbeeinträchtigung. Der Beurteilung wird deshalb nur ein GdB/MdE zugrunde gelegt. Maßgebend sind daher die Auswirkungen der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Zugrundelegung der wechselseitigen Beziehungen zueinander.
Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB/MdE chronisch entzündlicher Darmerkrankungen wird zunächst von der Funktionsbeeinträchtigung ausgegangen, die den höchsten Einzel-GdB/MdE bedingt. Im Falle weiterer Funktionsbeeinträchtigungen wird geprüft, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Gesamtbehinderung höher einzuschätzen ist. Bei weiteren Funktionstörungen werden dem höchsten GdB/MdE 10, 20 oder mehr Punkte hinzugefügt, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (. Tab. 9.8). Kommentar Abgesehen von Ausnahmefällen führen zusätzliche leichte Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB/ MdE von 10 nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch dann nicht, wenn mehrere solcher leichten Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen.
Neben den körperlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen werden bei der Bestimmung von GdB/MdE seelische Begleiterscheinungen berücksichtigt. Dies gilt auch für extraintestinale Manifestationen und Komplikationen, die sich durch die CED ergeben.
Kolorektales Karzinom Arbeitsunfähigkeit Arbeitsunfähigkeit liegt sowohl bei inoperablen als auch bei operablen Tumoren bis zum Zeitpunkt der Intervention vor. Dies ist auch für Patienten mit adjuvantem Therapieansatz unter einer laufenden Radio- oder Chemotherapie anzunehmen. Bei einem kurativen Therapieansatz sind die meisten Patienten bis zum Erreichen der vollständigen körperlichen Leistungsfähigkeit arbeitsunfähig.
GdB/MdE Wurde eine Darmoperation aufgrund eines fortgeschrittenen Karzinoms durchgeführt, so beträgt der GdB/MdE in Abhängigkeit vom Kräfte- und Allgemeinzustand 90–100.
9
284
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
. Tab. 9.8. GdB/MdE bei Colitis ulcerosa, Morbus Crohn GdB/MdE Chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn) 5 mit geringer Auswirkung (geringe Beschwerden, keine oder geringe Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands, selten Durchfälle)
10–20
5 mit mittelschwerer Auswirkung (häufig rezidivierende oder länger anhaltende geringe bis mittelschwere Beschwerden, geringe bis mittelschwere Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands, häufiger Durchfälle)
30–40
5 mit schwerer Auswirkung (anhaltende oder häufig rezidivierende erhebliche Beschwerden, erhebliche Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands, häufige, mehrfach tägliche Durchfälle, nächtliche Durchfälle)
50–60
5 mit schwerster Auswirkung (häufig rezidivierende oder anhaltende schwere Beschwerden, schwere Beeinträchtigung des Ernährungs- und Kräftezustands, ausgeprägte Anämie)
70–80
Fisteln, Stenosen, postoperative Folgezustände (z. B. Kurzdarmsyndrom, Stomakomplikationen), extraintestinale Manifestationen (Arthritiden) sind zusätzlich zu werten. Ileostoma und Kolostoma 5 mit guter Verschlussmöglichkeit
50
5 mit Komplikationen (Prolaps, Hernie, Stenose, Blutungen)
60–80
Fisteln in der Umgebung des Afters 5 geringe, nicht ständige Sekretion
10
5 sonstige
20–30
Afterschließmuskelschwäche
9 10 11 12
5 mit seltenem, nur unter besonderen Belastungen auftretendem unwillkürlichem Stuhlgang
10
5 sonstige
20–40
Funktionsverlust des Afterschließmuskels
≥50
Beim kolorektalen Karzinom im Frühstadium (Dukes A, T1/2 N0 M0) ist dieser in der Regel für 2 Jahre, nach Operation eines weiter fortgeschrittenen Karzinoms für 5 Jahre anzunehmen. Eine definitive Beurteilung ist erst nach Ablauf einer Heilungsbewährung möglich.
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung
9.4.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
9.4.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Unfallversicherung
Chronisch entzündliche Darmerkrankung und kolorektales Karzinom
Eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ist bei den oben genannten Erkrankungen aufgrund eines eingeschränkten Kräfte- oder Ernährungszustands nicht selten. Für die genaue Einschätzung kann . Tab. 9.8 dienen.
13 14 15
Die oben genannten Erkrankungen können pathophysiologisch nicht auf einen Unfall zurückgeführt werden, sodass sich diese Frage nicht stellt.
16
Lebensversicherung
17 18 19 20
Erkrankungen wie die familiäre adenomatöse Polyposis gehen in der Regel mit einem deutlich erhöhten Risiko für die Entwicklung eines kolorektalen Karzinoms einher. Bei Antragstellung müssen diese bei Vertragsabschluss angegeben werden. Ebenso gilt dies für die Colitis ulcerosa. Auch ein Morbus Crohn mit einem schweren Verlauf kann u. a. durch Komplikationen der Therapie die Lebenserwartung reduzieren. Um solche Obliegenheitsverletzungen erkennen zu können, muss der Gutachter die pathophysiologischen Grundlagen und den klinischen Verlauf dieser Erkrankungen kennen.
Allgemein gilt, dass Berufe, die einen CED-Patienten psychosomatisch stark belasten, nicht zumutbar sind, z. B. Berufe, 5 die im Schichtdienst ausgeführt werden, 5 bei denen die häufigen Stuhlentleerungen nicht toleriert werden können, 5 die Akkordarbeit, ständige Wechselschichen und Nachtarbeit erfordern, 5 die mit verantwortungsvollen Fahrdiensten verbunden sind, 5 die aufgrund von Inkontinenzproblemen oder schweren, häufig rezidivierenden Schmerzzuständen für die CED-Patienten eine starke, dauerhafte Belastung sind.
285 Literatur
Bei Patienten mit Ileostoma oder Kolostoma muss berücksichtigt werden, dass Tätigkeiten, die eine Prolapsgefahr bedingen, nicht ausgeführt werden sollten. Hierzu zählen: 5 Schwerarbeiten, 5 Arbeiten mit Wechselschicht, 5 Arbeiten in überwiegend gebückter Haltung, 5 Arbeiten mit großer Hitzeentwicklung, 5 Arbeiten, die die Benutzung einer Toilette über längere Zeiträume unmöglich machen, 5 unter Umständen auch Fließbandarbeiten und Akkordarbeit. Bei Berufen, die mit häufigem oder überwiegendem Fahren verbunden sind, kann die Fahrereignung aus verschiedenen Gründen eingeschränkt sein: 5 Inkontinenz, 5 sehr hohe Stuhlfrequenz, 5 Schmerzzustände, insbesondere, wenn sie einer medikamentösen Behandlung mit Analgetika bedürfen, die die Fahrtüchtigkeit einschränken, 5 Störungen des Bewusstseins, etwa unter dem Einfluss von Psychopharmaka und Sedativa, 5 reduzierter Ernährungs- und Kräftezustand, der konzentriertes Fahren erschwert.
9.4.7 Risikobeurteilung
Chronisch entzündliche Darmerkrankung Morbus Crohn. Mit zunehmender Krankheitsdauer und der Häufung florider Phasen nehmen die Komplikationen zu. Prognostisch bedeutsam ist der Einfluss von Partnerschaft und sozialem Netzwerk. MC-Patienten, die in einer stabilen Partnerschaft leben, bewältigen ihre Erkrankung besser als Patienten ohne feste Partnerschaft. > Ein Morbus Crohn heilt nie aus. Patienten mit langjährigem MC haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Karzinoms.
Die meisten Patienten müssen sich in ihrer Krankheitsgeschichte mindestens einmal operieren lassen. Die Wahrscheinlichkeit einer Operation beträgt ca. 40% nach 5 Jahren und 70% nach 10 Jahren. Colitis ulcerosa. Eine hohe Letalität (bis zu 40%) hat ein
akut fulminant verlaufender Schub einer CU, wie er bei ca. 5% der Patienten auftreten kann. Bei einem alleinigen Befall des Rektums und weitgehend komplikationslosem Verlauf dagegen ist die Gesamtprognose der von Gesunden gleichzusetzen.
. Tab. 9.9. Lebenserwartung nach UICC-Tumorstadien UICCStadium
TMNStadien
DukesStadium
5-JÜR [%]
I
T1/2 N0 M0
A
78–95
II
T3/4 N0 M0
B
70–77
III
Tx N1/2 M0
C
45
IV
Tx Nx M1
D
4–7
> Nach Subtraktion der Todesfälle im ersten Schub der Erkrankung ist die Lebenserwartung mit der der Normalbevölkerung vergleichbar.
Allerdings sind regelmäßige Koloskopien mit bioptischen Kontrollen ab einer Krankheitsdauer von >8 Jahren nötig, um frühzeitig ein Karzinom zu entdecken. Nach 10 Jahren Krankheitsdauer erhöhen sich Kolitiskarzinome auf einen Anteil bis zu 1%, nach 30 Jahren steigt dieser Anteil auf bis zu 17%. Bei Vorliegen einer Pankolitis ist das Entartungsrisiko auf das 15-Fache erhöht. Durch eine Proktokolektomie mit ileoanaler PouchAnlage ist die CU heute heilbar. Allerdings steht dieser Schritt häufig erst am Ende der Therapiekaskade.
Kolorektales Karzinom Während ca. 30% der Tumoren bei Diagnosestellung aufgrund einer Metastasierung nicht mehr kurativ zu therapieren sind, können ca. 20% trotz lokal fortgeschrittenen Tumorwachstums (T3/4) potenziell kurativ reseziert werden. Dabei kommt es allerdings auch bei einer R0-Resektion in bis zu 50% der Fälle zu einem Rezidiv. Die mittlere Überlebenszeit ist den letzten Jahren auf inzwischen über 20 Monate nach Diagnose eines inoperablen/metastasierten Kolonkarzinoms (UICC-Stadium IV) unter Therapie angestiegen. Die Lebenserwartung nach UICC-Tumorstadium gibt . Tab. 9.9 wieder.
Literatur Baumhoer (2005) Esophageal carcinoma – current status in diagnosis and therapy. Z Gastroenterol 43: 399–405 Dignass AU et al. (2004) Chronisch aktiver Verlauf der C. ulcerosa. Z Gastroenterol 42: 1012–1016 Eloubeidi MA, Mason AC, Desmond RA, El-Serag HB (2003) Temporal trends (1973–1997) in survival of patients with esophageal adenocarcinoma in the United States: a glimmer of hope? Am J Gastroenterol 98 (7): 1627–1633 Koop H et al. (2005) Gastroösophageale Refluxkrankheit. Z Gastroenterol 43: 163–164 Leitlinienkonferenz Kolorektales Karzinom (2004) Z Gastroenterol 42: 1129–1177 Schreiber et al. (2003) Klinische Diagnostik – Klassifikation. Z Gastroenterol 41: 21–23
9
286
Kapitel 9 · Gastrointestinaltrakt
Internetadresse
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten www.dgvs.de Leitlinien im Bereich der Gastroenterologie.
287
Haut und Hautanhangsgebilde P. Schulze
10.1
Ekzemgruppe – 290
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.1.6 10.1.7 10.1.8
Diagnostik – 290 Krankheitsdefinition – 290 Fragen zum Zusammenhang – 290 Bewertung nach dem Sozialrecht – 291 Begutachtung privat versicherter Schäden – 292 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 292 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 292 Sonderfragen – 292
10.2
Urtikaria – 294
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7 10.2.8
Diagnostik – 294 Krankheitsdefinition – 294 Fragen zum Zusammenhang – 294 Bewertung nach dem Sozialrecht – 294 Begutachtung privat versicherter Schäden – 294 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 294 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 294 Sonderfragen – 295
10.3
Blasenbildende Hauterkrankungen – 295
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5 10.3.6 10.3.7 10.3.8
Diagnostik – 295 Krankheitsdefinition – 295 Fragen zum Zusammenhang – 295 Bewertung nach dem Sozialrecht – 295 Begutachtung privat versicherter Schäden – 295 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 295 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 295 Sonderfragen – 296
10.4
Psoriasis – 296
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6 10.4.7 10.4.8
Diagnostik – 296 Krankheitsdefinition – 296 Fragen zum Zusammenhang – 296 Bewertung nach dem Sozialrecht – 296 Begutachtung privat versicherter Schäden – 297 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 297 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 297 Sonderfragen – 297
10
288
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
10.5
Ichthyosis – 297
10.5.1 10.5.2 10.5.3 10.5.4 10.5.5 10.5.6 10.5.7 10.5.8
Diagnostik – 297 Krankheitsdefinition – 297 Fragen zum Zusammenhang – 298 Bewertung nach dem Sozialrecht. – 298 Begutachtung privat versicherter Schäden – 298 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 298 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 298 Sonderfragen – 298
10.6
Erregerbedingte Erkrankungen – 298
10.6.1 10.6.2 10.6.3 10.6.4 10.6.5 10.6.6 10.6.7 10.6.8
Diagnostik – 298 Krankheitsdefinition – 299 Fragen zum Zusammenhang – 299 Bewertung nach dem Sozialrecht – 299 Begutachtung privat versicherter Schäden – 299 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 299 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 299 Sonderfragen – 300
10.7
Gutartige Neubildungen der Haut
10.7.1 10.7.2 10.7.3 10.7.4 10.7.5 10.7.6 10.7.7 10.7.8
Diagnostik – 300 Krankheitsdefinition – 300 Zusammenhangsfragen – 300 Bewertung nach dem Sozialrecht – 300 Begutachtung privat versicherter Schäden – 300 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 300 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 300 Sonderfragen – 300
10.8
Bösartige Neubildungen der Haut
10.8.1 10.8.2 10.8.3 10.8.4 10.8.5 10.8.6 10.8.7 10.8.8
Diagnostik – 300 Diagnostik – 300 Fragen zum Zusammenhang – 301 Bewertung nach dem Sozialrecht – 301 Begutachtung privat versicherter Schäden – 302 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 302 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 302 Sonderfragen – 303
– 300
– 300
289
10.9
Nagelerkrankungen – 303
10.9.1 10.9.2 10.9.3 10.9.4 10.9.5 10.9.6 10.9.7 10.9.8
Diagnostik – 303 Krankheitsdefinition – 303 Fragen zum Zusammenhang – 303 Bewertung nach dem Sozialrecht – 304 Begutachtung privat versicherter Schäden – 304 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 304 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 304 Sonderfragen – 304
10.10
Haarkrankheiten – 304
10.10.1 10.10.2 10.10.3 10.10.4 10.10.5 10.10.6 10.10.7 10.10.8
Diagnostik – 304 Krankheitsdefinition – 304 Fragen zum Zusammenhang – 305 Bewertung nach dem Sozialrecht – 305 Begutachtung privat versicherter Schäden – 305 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 305 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 305 Sonderfragen – 305
10.11
Chronische Bindegewebskrankheiten – 305
10.11.1 10.11.2 10.11.3 10.11.4 10.11.5 10.11.6 10.11.7 10.11.8
Diagnostik – 305 Krankheitsdefinition – 306 Fragen zum Zusammenhang – 306 Bewertung nach dem Sozialrecht – 306 Begutachtung privat versicherter Schäden – 306 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 306 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 307 Sonderfragen – 307
Literatur
– 307
10
290
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
10.1.2 Krankheitsdefinition
Die Haut als integratives Organ eines jeden Lebewesens erfüllt nicht nur mechanische Schutzfunktionen nach außen hin, sondern verfügt aufgrund ihres vielfältigen immunologischen Potenzials auch über zahlreiche andere »Abwehrmechanismen«. Die Funktion kann durch angeborene oder erworbene Störungen permanent oder passager unterschiedlich stark beeinträchtigt sein, sodass nicht in jedem Fall eine Restitutio ad integrum erreicht werden kann. Eine Risikobeurteilung für diesen Themenkomplex ist nicht zu erstellen und entfällt.
10.1
Ekzemgruppe
10.1.1 Diagnostik
Folgende diagnostische Verfahren unter besonderer Berücksichtigung gutachterlicher Fragestellungen sind in praxi üblich: 5 Die Anamnese des Ekzems ist ein Grundpfeiler der Diagnostik. Mit ihrer Kenntnis lässt sich der chronologische Ablauf und die wahrscheinlich in Frage kommenden Noxen erfassen. Da diese nicht immer im alltäglichen Umfeld angesiedelt und somit augenscheinlich sind, ist eine akribisch erhobene Anamnese sowohl des beruflichen als auch des privaten Milieus unerlässlich, aus der sich richtungsweisende Impulse für entsprechende Testungen ableiten lassen. 5 Die individuelle Disposition lässt sich u. a. anhand des vorhandenen Hauttyps ablesen. 5 Zur Erfassung der Pufferkapazität des Hautorgans wird traditionell der Alkalineutralisationstest nach Burckhardt durchgeführt. 5 Zur Detektion allergisch wirkender Substanzen hat sich der Epikutantest etabliert. Bei der Auswahl der Testsubstanzen sollten neben den beruflich relevanten auch die außerberuflich wirkenden (Haushalt, Hobby) Noxen herangezogen werden. Die Epikutantests sollen in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Deutschen Kontaktallergiegruppe (DKG) (Schnuch et al. 2005) erfolgen. Ablesungen sind nach 24 bzw. 48 sowie 72 Stunden zwingend durchzuführen. In Zweifelsfällen sind weitere Ablesungen (z. B. nach 96 Stunden) notwendig. Substanzen, die in Vortestungen zu starken Reaktionen (3-fach positiv) geführt haben, sollen nur begründet reproduziert werden. Eine Wiederholung von Epikutantests innerhalb von 6 Monaten ist in der Regel nicht notwendig.
Ekzeme gehören zu den entzündlichen Dermatosen, zu deren Manifestation neben einer individuellen Disposition exogene oder endogene Noxen erforderlich sind. Man unterscheidet nach dem vorherrschenden Pathomechanismus eine allergische oder eine nichtallergische Bedingtheit. Der Verlauf kann akut, subakut oder chronisch sein. Im täglichen Sprachgebrauch hat sich als Synonym für Ekzem auch der Begriff Dermatitis durchgesetzt.
Akutes Kontaktekzem Das akute Kontaktekzem kann durch einmalige Einwirkung einer exogenen Noxe in obligat toxischer Konzentration entstehen und führt nach strikter Karenz dieser Noxe in der Mehrheit der Fälle zu einer Restitutio ad integrum. Befallen sind stets nur die Kontaktflächen der Haut mit dem schädigenden Agens.
Chronisches Kontaktekzem Das chronische Kontaktekzem entsteht als Kumulationseffekt mehrfach einwirkender Noxen in subtoxischen Konzentrationen (= chronisch-kumulativ-toxisches Ekzem, kumulativ-subtoxische Dermatitis) bei entsprechender individueller Disposition. Ursächlich sind häufig wiederholte tägliche Reinigungsprozeduren mit Stoffen, die eine Schwächung der normalen Barrierefunktion der Haut hervorrufen. Eine symmetrische Anordnung der Hautveränderungen ist die Regel. > Die chronische Irritation kann zur Aktivierung des Immunsystems der Haut führen, wodurch wiederum Voraussetzungen für zusätzliche Kontaktsensibilisierung entstehen können.
10.1.3 Fragen zum Zusammenhang
Wichtig für die Bewertung eines allergischen Kontaktekzems ist seine Verursachung, d. h. ob sie im beruflichen oder privaten Milieu angesiedelt ist. Unter den beruflich bedingten Ekzemen, die unter der BK Nr. 5101 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung genannt sind, werden schwere, wiederholt rückfällige Hauterkrankungen zusammengefasst, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können (. Tab. 7.20).
291 10.1 Ekzemgruppe
10.1.4 Bewertung nach dem Sozialrecht Erläuterungen zu GdB/MdE bei Allergie
Das Zusammenhangsgutachten, das in der Regel durch einen Dermatologen erstellt wird, muss die oben genannten Voraussetzungen überprüfen und im Bestätigungsfall die Höhe des daraus resultierenden GdB/MdE einschätzen. Bei der zusammenfassenden Beurteilung ist die gängige Lehrmeinung zugrunde zu legen, denn nur dadurch kann gewährleistet werden, dass gleiche Situationen gleich bewertet werden. Die Diagnose der Hautkrankheit muss im Vollbeweis gesichert sein. Für das Gutachten ist erheblich, dass die Frage nach der beruflichen Bedingtheit »mit hinreichender Wahrscheinlichkeit« nachgewiesen werden kann. Hinreichende Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernsthafte Zweifel hinsichtlich anderer Verursachung ausscheiden. Die Schwere einer Hauterkrankung ergibt sich 5 aus dem klinischen Bild, 5 aus der Ausdehnung und 5 aus dem Verlauf, insbesondere der Dauer der Erkrankung (in der Regel Behandlungsbedürftigkeit von 6 Monaten). Die wiederholte Rückfälligkeit liegt vor, wenn mindestens 3 Krankheitsschübe, also 2 Rückfälle, vorliegen. Zwischen den Rückfällen muss Arbeitsfähigkeit bestehen. Für die 3. Prämisse, den »Zwang zur Unterlassung aller Tätigkeiten, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Erkrankung ursächlich waren oder sein können«, gilt nicht zwingend die völlige Aufgabe der ursprünglichen Berufstätigkeit, sondern der konkret gefährdenden Tätigkeit. Der objektive Zwang zur Tätigkeitsaufgabe ist erst dann zu bejahen, wenn die Möglichkeiten zur Abhilfe ausgeschöpft sind: Ersatzstoffprüfung, technisch/organisatorische Maßnahmen, persönliche Schutzmaßnahmen (Schutzhandschuhe/Hautschutzmittel), Beratung/Schulung über hautschonende Arbeitstechniken, ambulante oder stationäre hautärztliche Behandlung oder Heilverfahren/medizinische Rehabilitation. Weiter muss gewährleistet sein, dass der Versicherte jede ihn gefährdende Tätigkeit tatsächlich aufgegeben hat und sie auch auf Dauer unterlässt. Ein /GdB/MdE von 20 oder mehr nach Aufgabe der schädigenden Tätigkeit begründet die Gewährung einer Rente. Diese Rente kann vorläufig oder als Dauerrente gewährt werden, wobei nach 2 Jahren entschieden wird, ob die Voraussetzungen zur Gewährung der Dauerrente unverändert fortbestehen. Eine Dauerrente kann nur entzogen oder verändert werden, wenn eine wesentliche Besserung der Erkrankungnachgewiesen ist; das bedeutet eine Änderung um 10 Punkte. Für die Festlegung von GdB/ MdE gilt . Tab. 10.1.
Das Ausmaß der Hauterscheinungen, auch nach irritativer Schädigung, ist folgendermaßen charakterisiert (. Tab. 10.1): 5 Leicht – Hauterscheinungen, die bis zu 3-mal pro Jahr auftreten und bei adäquater Therapie schnell wieder abheilen. Gering lichenifizierte oder gering atrophische Haut als Folgezustand eines langwierigen beruflichen Ekzems oder nach Kortikosteroidbehandlung. – Unverträglichkeit intensiver sonstiger (irritativer, toxischer etc.) Hautbelastung. 5 Mittel – Häufig auftretende Rezidive, Krankheitsschübe, die trotz adäquater Therapie mehrere Wochen bestehen. Lichenifizierte oder dünne, leicht vulnerable Haut als Folgezustand eines langwierigen beruflichen Ekzems oder nach Kortikosteroidbehandlung. – Unverträglichkeit mäßiger sonstiger Hautbelastung. 5 Schwer – Ausgedehnte Krankheitsschübe oder dauernd bestehende Hauterscheinungen mit Rhagaden, Lichenifikation oder Superinfektion. – Unverträglichkeit schon geringer sonstiger Hautbelastung. Die Auswirkungen einer Allergie werden folgendermaßen beurteilt (. Tab. 10.1): 5 Geringgradig – Einzelner Berufsstoff (wenig verbreitet auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt). 5 Mittelgradig – Einzelner Berufsstoff (weit verbreitet) oder mehrere Berufsstoffe (gering verbreitet auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt), bzw. einzelner Berufsstoff (wenig verbreitet bei klinisch besonders intensiver Sensibilsierung). 5 Schwergradig – Mehrere Berufsstoffe (weit verbreitet), einzelner Berufsstoff (sehr weit verbreitet auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch mit Berücksichtigung möglicher Kreuzallergien und/ oder bei klinisch besonders intensiver Sensibilisierung).
Bei der Bewertung der Verbreitung von Allergenen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in krankheitsauslösender Form ist auf den aktuellen Stand der berufsdermatologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zurückzugreifen.
10
292
1 2 3 4
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
. Tab. 10.1. GdB/MdE bei Allergie Auswirkung einer Allergie
Ausmaß der Hauterscheinungen, auch nach irritativer Schädigung Keine
Leicht
Mittel
Schwer
Keine
0
10
20
25
Geringgradig
0
10
20
25
Mittelgradig
10
15
25
30
Schwergradig
20
20
30
≥30
5
> Die Rente bei der BK Haut beginnt frühestens mit dem Tag nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit.
6
Der GdB/MdE besteht in der Einschränkung der Fähigkeit des Versicherten, sich unter Ausnutzung aller Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Bei der Bemessung des GdB/MdE werden Nachteile berücksichtigt, die der Versicherte dadurch erleidet, dass er bestimmte von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalles nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden.
7 8 9 10 11
10.1.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
12 13 14 15 16 17
Die in 7 Kap. 10.1.4 genannten Feststellungen treffen vollinhaltlich auch für privat versicherte Schäden zu. > Da ein GdB/MdE >50 bei berufsbedingten Hautkrankheiten, insbesondere bei der Ekzemgruppe, praktisch niemals erreicht wird, stellt eine berufliche »Umorientierung« die beste rehabilitative Maßnahme dar.
Kommentar Es sollten aber exakt die absolut verschlossenen Berufszweige aufgezeigt und entsprechend mögliche Alternativen genannt werden, die jeweils das individuell vorhandene Umschulungspotenzial, das sich am Bildungsniveau orientieren muss, berücksichtigen müssen.
bisherigen Tätigkeit unter Zuhilfenahme von Schutzmaßnahmen möglich.
10.1.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Berufsausübung Eine Berufsausübung unter strikter Meidung der gefährdenden Noxen ist weiterhin möglich. Diese Meidung kann auch durch Zuhilfenahme geeigneter Schutzmaßnahmen realisiert werden. Die Aussagen zum Zwang zur Tätigkeitsaufgabe in 7 Kap. 10.1.4 gelten auch hier.
Fahrereignung Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung kann nur im akuten Behandlungsfall entstehen, wenn zentral wirksame und somit sedierende Antihistaminika eingesetzt werden müssen. In der Rehabilitationsphase werden prinzipiell peripher wirksame Antihistaminika, d. h. mit zu vernachlässigender sedierender Komponente, eingesetzt.
10.1.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die Prognose des beruflich erworbenen Kontaktekzems ist quoad vitam nicht beeinflusst, quod sanationem jedoch nicht immer exakt vorauszubestimmen, weil die absolute Meidung mancher Noxen wegen ihres ubiquitären Vorkommens nicht möglich ist. Durch einen geeigneten beruflichen Einsatz kann der Versicherte beruflich rehabilitiert werden. Zur Einschätzung eines fortbestehenden GdB/MdE werden Wiederholungsgutachten in 2- bis 3-jährlichen Abständen durchgeführt.
18 19 20
Bei rezidivierenden Handekzemen sind alle sog. Nassberufe einschließlich Friseur- und Kraftfahrzeugreparaturhandwerk zu meiden. Mögliche Alternativen stellen je nach Bildungsgrad entsprechende Umschulungen in sog. Bürotätigkeiten dar. Meist ist jedoch ein Verbleib in der
10.1.8 Sonderfragen
Besondere Fragestellungen ergeben sich hinsichtlich der Kontaktekzeme nicht.
293 10.1 Ekzemgruppe
Atopisches Ekzem Diagnostik Für die Diagnose des atopischen Ekzems müssen folgende 3 Hauptkriterien erfüllt sein: 5 massiver Pruritus, 5 Ekzem in typischer Morphe und Anordnung, 5 chronischer und/oder rezidivierender Verlauf.
Behandlung pro Jahr erforderlich ist, sollte ein GdB/MdE festgelegt werden, der im Regelfall 50 nicht übersteigt. Allerdings kann es – besonders bei zusätzlicher pulmonaler Mitbeteiligung – zur Erwerbsunfähigkeit kommen (konsequente Zusammenarbeit mit dem Pulmologen erforderlich!).
Begutachtung privat versicherter Schäden
Außerdem erlangen folgende Nebenkriterien diagnostische Relevanz: 5 positive Eigen- bzw. Familienanamnese für Atopie, 5 erhöhte Serum-IgE-Werte, 5 positive Hautreaktionen auf potenzielle Allergene, 5 weißer Dermographismus 5 nicht auslösbarer Rachenreflex.
Für Patienten mit trotz intensiver Therapie bestehenden sichtbaren ekzematösen Veränderungen, besonders im Bereich des Gesichtes und der Hände, sind die Einsatzmöglichkeiten bei Tätigkeiten mit überwiegend Publikumsverkehr, z. B. in der Gastronomie und/oder Hotelbranche, deutlich eingeschränkt. Außerdem entfallen alle im folgenden Abschnitt genannten Tätigkeiten.
Krankheitsdefinition
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Das atopische Ekzem (Synonyme: atopische Dermatitis, endogenes Ekzem, Neurodermitis constitutionalis, Prurigo Besnier) ist Ausdruck einer polygen vererbten Überempfindlichkeit der Haut und Schleimhaut gegenüber Umweltfaktoren, die mit erhöhter Immunoglobulin-ESynthese und/oder veränderter unspezifischer Reaktivität einhergeht. Die Prävalenz des atopischen Ekzems im Erwachsenenalter beträgt 1–3%, während 10–23% der Kinder ein Ekzem erleben. Die genetische Prädisposition ergibt sich aus der Tatsache, dass zwei Drittel der atopischen Ekzematiker eine positive Familienanamnese aufweisen. Die atopischen Erkrankungen weisen einen Gipfel in der Kindheit (im 1. Lebensjahr bzw. in den 4 folgenden Jahren) auf, um in der Pubertät abzuheilen. Bei einem kleinen Teil der Kranken persistiert das Ekzem auch nach der Pubertät bzw. tritt erstmalig im Erwachsenenalter auf. Diese späten Manifestationen stellen meist überdurchschnittlich schwere Verläufe dar, die oft mit weiteren Atopiemanifestationen (z. B. Asthma bronchiale, Rhinoconjunctivitis allergica) gemeinsam imponieren.
Fragen zum Zusammenhang Wenn ein Zusammenhang zwischen Exazerbation des atopischen Ekzems und bestimmter Allergenexposition ermittelt werden kann, muss versucht werden, das in Frage kommende Allergen zu eliminieren bzw. eine Hyposensibilisierung durchzuführen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Diese Patienten leiden häufig an quälendem Juckreiz, massiver Entzündung des gesamten Hautorgans mit gesteigerter Irritabilität und Verdickung der Haut. Sie stehen insgesamt unter sehr hohem Leidensdruck, der zu Persönlichkeitsveränderungen führen kann. Wenn alle Facetten des atopischen Formenkreises bei einem Patienten gemeinsam vorkommen und eine mehrmalige stationäre
Berufsausübung
Wegen der gesteigerten Irritabilität der Haut des atopischen Ekzematikers und seiner verminderten Wärmeregulationsfähigkeit sind Berufe, die sowohl im Feuchtmilieu angesiedelt sind als auch mit hoher Staub- und/oder Wärmebelastung einhergehen, ungeeignet. Besonders ungeeignete Berufe sind: Bäcker, Friseur, Koch, Gärtner, Krankenschwester/-pfleger, Maler, Maurer u. a. Fahrereignung
Wie beim Kontaktekzem kommen nur für den akuten Erkrankungsfall Antihistaminika mit zentraler Wirkung zum Einsatz; im Regelfall besteht durch die verwendeten moderneren Antihistaminika keine Beeinträchtigung der Fahrereignung, dennoch sollte die individuelle Verträglichkeit getestet werden.
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Die Prognose ist im Einzelfall nicht zu stellen, weil es sowohl zur völligen dauerhaften Abheilung des Ekzems kommen kann, andererseits auch ein sog. »Etagenwechsel« statthaben kann, d. h. anstelle des Ekzems bzw. zusätzlich kommt es zum Asthma bronchiale, sodass schließlich gleichzeitig mehrere klinische Ausdrucksformen der Atopie nebeneinander bestehen können. Im Regelfall verringert sich die Akuität der Atopie jedoch mit steigendem Lebensalter. Für die Rehabilitation sind neben stationären Behandlungen besonders Klimaheilkuren geeignet, ggf. spezielle Hyposensibilisierungen, außerdem eine ständige sorgfältige Hautpflege.
Sonderfragen Fragestellungen z. B. im öffentlichen Dienstrecht ergeben sich hinsichtlich des atopischen Ekzems nicht.
10
294
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
10.2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Urtikaria
10.2.1 Diagnostik
Während die akute Urtikaria sich ohne oder nach symptomatischer Therapie schnell zurückbildet, muss bei der chronisch rezidivierenden Urtikaria stets versucht werden, die Ursache zu finden und diese ggf. zu eliminieren. Den chronischen Verläufen liegt häufig eine physikalische Ursache zugrunde, die durch entsprechende Tests verifiziert werden kann. Andere häufige Ursachen können Infekte, Nahrungsmittelintoleranzen, Medikamentenunverträglichkeiten, Hypazidität des Magensaftes, Darmparasiten u. a. sein.
10.2.2 Krankheitsdefinition
Die Urtikaria ist eine besondere Reaktionsform der Haut, die klinisch durch das Auftreten von Quaddeln gekennzeichnet ist. Als Ursachen kommen sowohl immunologische als auch nichtimmunologische Pathomechanismen in Frage. Die akute Urtikaria besteht in der Regel selten länger als 24 Stunden und stellt per se ein harmloses Krankheitsbild dar, das aber durch Einbeziehung der Schleimhäute (z. B. als Glottis- und Larynxödem) zu lebensbedrohlichen Zuständen führen kann.
10.2.3 Fragen zum Zusammenhang
Lässt sich eine Ursache eruieren, sollte diese möglichst ausgeschaltet werden. Da häufig kein auslösendes Agens ermittelt werden kann, ist nur eine symptomatische Therapie mit nichtsedierenden Antihistaminika möglich.
10.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Bei der chronisch-rezidivierenden Urtikaria mit jahrelangem Verlauf und entsprechender medikamentöser Behandlungsbedürftigkeit kann ein GdB/MdE von 40–50 entstehen. Durch den persistierenden Juckreiz ist die Konzentrationsfähigkeit oft erheblich beeinträchtigt, woraus sich eine reduzierte berufliche Einsatzmöglichkeit ergibt.
17 10.2.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
18 19 20
Die akute Urtikaria hat in der Regel keine Konsequenz für die berufliche Tätigkeit, während für Patienten mit behandlungsbedürftiger, chronisch-rezidivierender Urtikaria einige Berufe, z. B. Flugzeug-, Lok-, Kran- oder Bootsführer, für die Zeit der Erkrankung nicht möglich sind, weil es im Rahmen der Grunderkrankung zu plötz-
lichen Angioödemen mit Dyspnoe und Ähnlichem kommen kann. Bei bestehender Nahrungsmittel- bzw. Zusatzstoffintoleranz sind berufliche Tätigkeiten, bei denen vorwiegend Gaststättenkost verzehrt werden muss, z. B. bei Auslandseinsätzen, ungeeignet.
10.2.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsausübung
Bei den physikalisch bedingten Urtikariaformen muss neben einer entsprechenden Konditionierung und eventuell symptomatischen Therapie stets die strikte Meidung der Auslöser erfolgen, besonders im Hinblick auf thermisch belastende Berufe. Es muss also bei einem Patienten mit Kältekontakturtikaria der berufliche Kontakt mit Kälte unbedingt vermieden werden, d. h. es ist ein entsprechender Arbeitsplatzwechsel vorzunehmen. Als Sonderform der chronischen Urtikaria kann das Angioödem als Folge eines C1-Esterase-Inhibitor-Mangels aufgefasst werden, das einer kontinuierlichen Substitutionstherapie bedarf. Die Auslösung des Angioödems kann u. a. durch exzessive Stresssituationen erfolgen, sodass Berufe mit häufigen Stresssituationen ungeeignet sind. Fahrereignung
Wie bei Kontaktekzemen kommen nur für den akuten Erkrankungsfall Antihistaminika mit zentraler Wirkung zum Einsatz; im Regelfall besteht jedoch durch die verwendeten Antihistaminika keine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit.
10.2.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die akute Urtikaria heilt – besonders wenn der Auslöser erkannt und beseitigt worden ist – schnell ab. Die chronisch-rezidivierende Urtikaria kann sich auch nach jahrelanger Bestandsdauer selbst limitieren. Bei den physikalisch bedingten Urtikariaformen können bei Meidung der physikalischen Ursache lange erscheinungsfreie Intervalle bestehen. > Gelingt es, die auslösende Ursache zu beseitigen, ist eine komplette Rehabilitation möglich.
Bei häufigen Rezidiven der Attacken des angioneurotischen Ödems trotz Langzeitprophylaxe mit Androgenderivaten bzw. einer Langzeitsubstitution mit C1-EsteraseInhibitor kann ein GdB/MdE von 40–50 bestehen.
295 10.3 Blasenbildende Hauterkrankungen
10.2.8 Sonderfragen
10.3.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Lediglich beim C1-Esterase-Inhibitor-Mangel-bedingten Angioödem kann bei ständiger Behandlungsbedürftigkeit in Form der Dauersubstitution eine Auslandstätigkeit unmöglich sein, weil die Bereitstellung des Medikaments nicht garantiert werden kann.
Je nach Ausprägungsgrad und Subtyp der hereditären bullösen Dermatosen ist die Prognose quoad vitam zu stellen. Mit den mildesten Formen ist eine Berufsausübung vereinbar, jedoch sollten Tätigkeiten vermieden werden, die mit übermäßigem Laufen (Blasenbildung an den Fußsohlen) bzw. mit überdurchschnittlich hoher Gefahr von Mikrotraumen einhergehen. Im Regelfall beträgt der GdB/ MdE zwischen 10 und 30. Bei den autoimmunologisch ausgelösten blasenbildenden Dermatosen können Therapienebenwirkungen (z. B. Osteoporose, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus bzw. Leberparenchymalterationen) nach Langzeittherapie mit hochdosierten Steroiden und/oder Immunsuppressiva bzw. Zytostatika begutachtungsrelevant werden. Auch die häufigen Rezidive der Grundkrankheit sind zu beurteilen. Wenn trotz kontinuierlicher Therapie diese Rezidive nicht zu vermeiden sind, die häufig eine stationäre Behandlung erforderlich machen, kann daraus ein GdB/MdE von ≤80 entstehen.
10.3
Blasenbildende Hauterkrankungen
10.3.1 Diagnostik
Für die hereditären blasenbildenden Erkrankungen wird die Diagnose anhand des klinischen Bildes, des Erbgangs und der Probeexzision gestellt, während für die autoimmunologisch bedingten blasenbildenden Dermatosen zusätzlich zur lichtmikroskopischen immer eine direkte und eine indirekte immunfluoreszenzmikroskopische Untersuchung erforderlich sind.
10.3.2 Krankheitsdefinition 10.3.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Blasen können in verschiedenen Etagen der Haut vorkommen und durch unterschiedliche Pathomechanismen bedingt sein. Neben physikalischen Ursachen können genetisch fixierte Defekte an verschiedenen Strukturproteinen der Keratinozyten und der dermoepidermalen Junktionszone bestehen, die spontan und nach geringsten Traumen zur Blasenbildung führen. Gleiche Phänomene können auch durch pathogene Autoantikörper gegen die oben genannten Strukturen ausgelöst werden. Die hauptsächlichen klinischen Vertreter sind: 5 verschiedene Formen der Epidermolysis bullosa hereditaria, 5 Dermatitis herpetiformis Duhring, 5 Pemphigusvarianten, 5 bullöses Pemphigoid.
Für die mechanisch ausgelöste Blasenbildung sind Tätigkeiten mit hohem Laufaufwand bei überwiegender Beteiligung der Füße und hohem Anspruch an Grob- und Feinmotorik der Hände ungeeignet. Für die autoimmunbedingten blasenbildenden Dermatosen entscheidet sowohl das Ausmaß der Hautveränderungen als auch die aktuelle Therapie darüber, ob überhaupt Erwerbsfähigkeit besteht. Beim vernarbenden Schleimhautpemphigoid kann es trotz intensiver Therapie durch Symblepharonbildung zu partiellem bzw. totalem Visusverlust kommen, woraus eine Erwerbsunfähigkeit resultiert.
10.3.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Für Patienten mit kongenitaler Blasenbildung sind alle Berufe zu meiden, bei denen es gehäuft zu Traumatisierungen 10.3.3 Fragen zum Zusammenhang
Die immunologischen blasenbildenden Erkrankungen können mit anderen Autoimmunerkrankungen (Myasthenia gravis, Thymome, Lupus erythematodes), Malignomen (Lymphome, Karzinome) assoziiert sein oder durch Medikamente ausgelöst bzw. physikalisch bedingt (z. B. Röntgenbestrahlung) sein.
– auch Mikrotraumen – der Haut kommen kann. Bei den bullösen Autoimmundermatosen sollten Tätigkeiten unter exzessiver UV-Exposition vermieden werden. Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung besteht nicht.
10.3.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die Prognose der mechanobullösen Erkrankungen ist je nach Ausprägungsgrad zu stellen, wobei eine Spontanheilung nicht zu erwarten ist.
10
296
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
Die Prognose der immunologisch bedingten blasenbildenden Dermatosen hängt trotz erheblicher Fortschritte in der Therapie vom Ausmaß und der Rezidivhäufigkeit ab. Die Rehabilitation der angeborenen blasenbildenden Veränderungen besteht in der regelmäßigen dermatologisch betreuten externen Therapie. Für die immunologisch bedingten Erkrankungen ist eine meist jahrelange immunsuppressive Therapie erforderlich.
riger Bestandsdauer. Ausnahmen stellen Arthritiden dar, die sich vor bzw. synchron mit der Schuppenflechte an der Haut manifestieren. Die Einteilung der Psoriasis erfolgt unter klinischen Gesichtspunkten in: 5 Psoriasis vulgaris, 5 Psoriasis vulgaris partim inversa, 5 Psoriasis exsudativa (= Psoriasis pustulosa palmoplantaris sive generalisata, Psoriasis arthropathica, Erythrodermia psoriatica).
10.3.8 Sonderfragen
10.4.3 Fragen zum Zusammenhang
6
Fragestellungen ergeben sich aus diesen Dermatosen nicht.
7
10.4
Bei häufigen Rezidiven der Psoriasis ist immer nach rezidivierenden Infekten zu fahnden (Immunaktivierung durch Superantigene) bzw. nach Komedikation von βRezeptorenblockern, Lithium, Chloroquin, Interferon-α und -γ.
1 2 3 4 5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Psoriasis
10.4.1 Diagnostik 10.4.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Das Erstmanifestationsalter der Psoriasis liegt gewöhnlich im 2. bzw. 3. Lebensjahrzehnt, ausnahmsweise kann sie auch bei Neugeborenen bzw. im Senium auftreten. Das klinische Bild der Psoriasis ist meist so typisch, dass auf Zusatzuntersuchungen (Histologie, HLA-Bestimmung) verzichtet werden kann. Bei isolierten Nagelveränderungen (Tüpfelnägel und der sog. psoriatische Ölfleck) muss differenzialdiagnostisch u. a. eine Mykose ausgeschlossen werden. Bei zusätzlicher Gelenkbeteiligung müssen in die Differenzialdiagnose Arthralgien/ Arthritiden anderer Genese einbezogen werden. Die Diagnose Psoriasis arthropathica ist per exclusionem zu stellen.
Während die vulgäre Psoriasis selten zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit führt, können die pustulösen Varianten – auch die lokalisierten Formen – in manchen Berufen (Zahnarzt, Friseur, Krankenpflege etc.) zur Berufsunfähigkeit führen, wenn keine alternativen Einsatzmöglichkeiten bestehen. Die exakte Einschätzung der Funktionsminderung in den betroffenen Gelenken kann nicht in jedem Fall nur durch die klinische und/oder röntgenmorphologische Untersuchung erfolgen, sondern häufig kann nur die Synopsis aus den bereits genannten diagnostischen Verfahren und Laborwerten (z. B. Entzündungsparametern) sowie weiteren Methoden (Szintigraphie, Sonographie u. a.) hilfreich sein.
10.4.2 Krankheitsdefinition
Die Ätiologie und Pathogenese sind bisher nur teilweise bekannt, wobei an einer genetischen Prädisposition kein Zweifel mehr besteht. Das Erkrankungsrisiko steigt, je mehr Blutsverwandte ebenfalls an Psoriasis erkrankt sind (bei einem betroffenen Elternteil beträgt es ca. 20%, bei beiden Eltern bis zu 70%). Die Psoriasis weist viele klinische Varianten auf, sie verläuft im Regelfall chronisch-rezidivierend und zeigt gelegentlich saisonal gebundene Erkrankungsgipfel im Frühjahr und Herbst. Zwischen den Exazerbationen und Remissionen können unterschiedlich lange Zeiträume liegen. Etwa 10% der Psoriasispatienten weist zusätzlich eine seronegative Arthritis (= Psoriasis arthropathica) auf, häufig mono- bzw. oligoartikulär. Diese Arthritis folgt der Hauterkrankung normalerweise nach deren etwa 10-jäh-
> Röntgenmorphologische Kontrolluntersuchungen eignen sich gut für die Prognoseabschätzung.
Als Maximalvariante kann der GdB/MdE 100 betragen. Die Schuppenflechte, die praktisch das gesamte Integument in den Krankheitsprozess einbezieht (= Erythrodermia psoriatica), kann bei zahlreichen Rezidiven, die im Regelfall jedes Mal eine stationäre Behandlung erforderlich machen, ebenfalls zur Erwerbsunfähigkeit führen, weil interkurrent nur selten eine komplette Remission eintritt (GdB/MdE 100). Die Erythrodermie führt ihrerseits beispielsweise durch Hypalbuminämie, Eisenmangel, Harnsäureerhöhungen und Hypokalzämie zu erheblichen Beeinträchtigungen des Allgemeinbefindens, die besonders durch den hohen Energieverbrauch im Rahmen der generalisierten Entzündung und die Hyperthermie in eine massive
297 10.5 Ichthyosis
kardiale Mehrbelastung bzw. letal endende Dekompensation einmünden können.
10.4.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Uneingeschränkt gelten für privat versicherte Schäden die im Folgepunkt getroffenen Feststellungen. Bei massivem Befall der Hände trotz kontinuierlicher Therapie sollten Tätigkeiten mit überwiegend Publikumsverkehr gemieden werden, z. B. den direkten Klienten- bzw. Patientenkontakt in einer Anwaltskanzlei bzw. ärztlichen Einrichtung; auch unter der Bedingung, dass Schutzhandschuhe (aus Baumwollgewebe oder Gummi-/oder Kunststoffmaterialien) getragen werden. Die Fortführung der anwaltlichen bzw. ärztlichen Tätigkeit ohne diese Kontakte ist hingegen davon nicht betroffen.
> Die Prognose kann durch den Einsatz von Biologika deutlich verbessert werden.
Die Arthritiden im Rahmen der Psoriasis machen eine medikamentöse Dauertherapie oft unumgänglich, weil durch physiotherapeutische Maßnahmen allein selten eine Restitutio ad integrum erreicht werden kann. Der Verlauf der Psoriasis arthropathica weist in der Regel unter entsprechender Langzeittherapie eine geringe Progredienz auf.
10.4.8 Sonderfragen
Besondere Fragestellungen ergeben sich aus dieser Dermatose nicht.
10.5
Ichthyosis
10.4.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten 10.5.1 Diagnostik Berufsausübung
Bei ausgeprägten psoriatischen Nagelveränderungen (Tüpfelnägel, Ölflecke bzw. Dystrophie der Nägel) und bei der pustulösen Variante (Psoriasis pustulosa palmoplantaris) kann der Einsatz in manchen Berufen aus hygienischer und/oder ästhetischer Sicht unmöglich sein. Schließlich kann die Psoriasis arthropathica manuum bzw. generalisata zum völligen Verlust der Grob- und Feinmotorik führen, sodass eine Erwerbsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Es gibt Patienten, bei denen trotz regelmäßiger Therapie die Psoriasis arthropathica in Mutilationen, Synostosen und Kontrakturen einmündet, wodurch sowohl die Lebensqualität als auch die aktive Restbeweglichkeit deutlich reduziert sind.
Die Diagnose kann klinisch gestellt werden und histologisch und ultrastrukturell bestätigt werden. Familiengenetische Untersuchungen sind oft hilfreich.
Fahrereignung
Die molekularen Grundlagen der Ichthyosen sind bisher nur partiell bekannt. Es handelt sich um Fehlbildungen des Keratins und/oder der Matrix. Der Vererbungsmodus kann autosomal-dominant, X-chromosomal-rezessiv oder autosomal-rezessiv sein. Spontanmutationen kommen vor. Die autosomal-dominant vererbte Ichthyosis vulgaris manifestiert sich häufig bereits in der frühen Kindheit, kann fast das gesamte Integument betreffen und lässt oft nur die großen Beugen und das Gesicht frei. Bei geringer Ausprägung besteht lediglich ein im Wesentlichen durch die Trockenheit der Haut verursachter Juckreiz. Die kongenitalen Ichthyosen weisen morphologisch eine große Variabilität und eine genetische Heterogenität auf.
Bei bereits eingetretenen Mutilationen bzw. Kontrakturen im Bereich der Hände bzw. Füße sowie bei Synostosierungen der Ileosakralgelenke kann der entsprechende Umbau eines Fahrzeuges notwendig sein.
10.4.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die vulgäre Form der Psoriasis ist im Allgemeinen durch ambulante externe Therapiemaßnahmen gut behandelbar. Die pustulösen und/oder exsudativen Varianten erfordern oft eine mehrmalige stationäre Behandlung und den Einsatz systemischer Antipsoriatika. Bei der Psoriasis arthropathica ist die Aktivität unterschiedlich ausgeprägt und muss langzeitig sowohl zytostatisch als auch antientzündlich und analgetisch therapiert werden.
10.5.2 Krankheitsdefinition
Die Ichthyosis kommt im Wesentlichen in 2 Varianten vor: 5 Ichthyosis vulgaris, meist milde Ausprägung, immer ohne entzündliche Komponente, 5 kongenitale Ichthyosen mit ausgeprägter klinischer Symptomatik und mit entzündlicher Komponente.
10
298
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
10.5.3 Fragen zum Zusammenhang
10.5.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsausübung
2
Diese Dermatose erfordert immer eine kontinuierliche Pflege bzw. Therapie. Verschlechterungen in der warmen Jahreszeit sind häufig.
3
10.5.4 Bewertung nach dem Sozialrecht.
1
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bei den vulgären Formen besteht bei stärkerer Ausprägung eine Neigung zu Ekzemen, weil die ichthyotische Hornschicht im Vergleich zur normalen eine verminderte Barrierefunktion sowohl gegen Waschprozeduren als auch bezüglich der Penetration von Fremdstoffen, z. B. Kontaktallergenen, aufweist, sodass sich häufig kumulativ-toxische Ekzeme (7 Kap. 10.1) als Eczema in ichthyotico manifestieren können. Bei eingetretenen beruflich erworbenen Kontaktsensibilisierungen treten die bereits genannten Maßnahmen (entsprechende Festlegung des GdB/MdE) in Kraft (7 Kap. 10.1.4). Bei exzessiver Ausbreitung besonders der kongenitalen Ichthyosisformen kann der GdB/MdE bis zu 80 betragen, da bisher keine kausale Therapie existiert und stattdessen eine tägliche aufwändige Hydro- und Salbentherapie notwendig ist. Neben den Verhornungsstörungen am gesamten Integument gibt es im Wesentlichen auf Palmae und Plantae beschränkte Hyperkeratosen (= palmoplantare Hyperkeratosen). Da diese Hautveränderungen häufig mit anderen Erkrankungen vergesellschaftet sind (Innenohrschwerhörigkeit, Plattenepithelkarzinomen des Ösophagus, Epitheldystrophie der Cornea, allgemeine Retardierung, neurologische Symptome u. a.), resultiert der GdB/MdE aus der Berücksichtigung aller Teilsymptome. Bei isolierten Palmoplantarkeratosen besteht häufig eine Minderung der Feinmotorik, des Tastsinns und der Temperaturempfindung, woraus sich ein GdB/MdE zwischen 20 und 30 ergeben kann.
10.5.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Bei minimaler Ausprägung – bis zu 40% der Bevölkerung können davon betroffen sein – stellt die Ichthyosis vulgaris keine Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit dar. Bei der Ichthyosis congenita bestimmt der Ausprägungsgrad, ob überhaupt eine Erwerbstätigkeit wahrgenommen werden kann. Das »Restleistungsvermögen« des Ichthyosiskranken bestimmt immer individuell seine Erwerbsmöglichkeiten.
Für die erwachsenen Patienten sind die Arbeitsmöglichkeiten a priori deutlich eingeschränkt, zum einen wegen ihres äußerlichen Erscheinungsbildes und zum anderen wegen der Geruchsentstehung infolge häufiger bakterieller Superinfektionen der Haut. > Nur bei mäßiger Krankheitsausprägung sind Berufe im »Trockenmilieu« möglich.
Als Präventivmaßnahme sollten deshalb ichthyosiskranke Jugendliche keine Berufe erlernen, die häufige stärkere Reinigungsprozeduren erfordern oder häufigen Kontakt mit Fettlösemitteln bzw. bekannten Sensibilisatoren bedingen. Fahrereignung
Krankheitsbedingt besteht keine Beeinträchtigung der Fahrereignung, ausgenommen durch Mutilationen der Hände und/oder Füße bei den kongenitalen Formen.
10.5.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die Prognose quoad vitam ist sowohl bei der Ichthyosis vulgaris als auch bei der Ichthyosis congenita nicht beeinträchtigt, quoad sanationem bisher aber als infaust zu bewerten. Möglichkeiten zur Rehabilitation bestehen bei der Ichthyosis nur in geringem Maße. Durch stationäre Behandlungen kann die externe Therapie intensiviert werden, bei manchen Formen kann eine medikamentöse Therapie versucht werden.
10.5.8 Sonderfragen
Aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes können unter Umständen Ichthyosiskranke für Tätigkeiten beispielsweise im öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr nicht geeignet sein.
10.6
Erregerbedingte Erkrankungen
10.6.1 Diagnostik
Für eine optimale Antibiotikatherapie bzw. Chemotherapie ist die Isolation des betreffenden Erregers notwendig. Leider gelingt mitunter weder die Anzüchtung noch der direkte Erregernachweis, sodass die Therapie sich primär
299 10.6 Erregerbedingte Erkrankungen
nach dem klinischen Bild richtet und ggf. nach dem Kulturergebnis korrigiert wird.
10.6.2 Krankheitsdefinition
Die Haut als Grenzfläche zwischen »außen« und »innen« stellt nicht zuletzt wegen ihrer Größe das Organ dar, das den mannigfaltigsten Attacken durch Mikroben ausgesetzt ist. Im Normalfall ist die Haut mit ihren Abwehrmechanismen imstande, eine stattgehabte Infektion relativ schnell zur Abheilung zu bringen. Bei Störung der Barrierefunktion der Haut – entweder in Folge lokaler Veränderungen oder allgemein reduzierter Abwehrleistung des Organismus – kann sich jede Hautinfektion in darunter liegende Schichten ausdehnen und zu Krankheitsbildern mit Allgemeinerscheinungen führen. Infektionen der Haut können durch Bakterien, inklusive Mykobakterien, Viren, Pilze, Insekten, Spinnentiere, Protozoen und Würmer ausgelöst werden.
fenen Extremität daraus entwickeln (= Elephantiasis nostras). Die Therapie dieser Lymphödeme gestaltet sich oft schwierig, sodass ständig Kompressionsverbände getragen werden und häufige manuelle Lymphdrainagen durchgeführt werden müssen. Sind die oberen Extremitäten betroffen, kann die manuelle Geschicklichkeit deutlich beeinträchtigt sein, was einen GdB/MdE von 20–40 bedeutet.
10.6.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Rezidivierende erregerbedingte Erkrankungen verpflichten, nach Immunkompetenz bzw. -defizienz zu fahnden. Ist die Ursache der Rezidivhäufigkeit eine angeborene oder erworbene Immunsuppession, ist die zugrunde liegende Erkrankung für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ausschlaggebend.
10.6.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten 10.6.3 Fragen zum Zusammenhang
Die Mehrzahl der Hautinfektionen heilt ohne Hinterlassung von Residuen ab. Bei hoher Rezidivrate ist immer nach Triggerfaktoren zu fahnden, z. B. Diabetes mellitus, Immundefizienz u. a.
Da Hautinfektionen im Regelfall nur kurzzeitig bestehen, ergibt sich daraus keine Einschränkung bezüglich der Berufsausübung. Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung resultiert aus den Infektionskrankheiten der Haut nicht.
10.6.7 Verbesserung der Prognose durch 10.6.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Ein GdB/MdE kann entweder durch trotz Therapie eintretende häufige Rezidive, beispielsweise bei Herpes simplex-Infektionen, bedingt sein oder durch Komplikationen nach bakteriellen Infektionen, am häufigsten dem Erysipel. Die häufigste Virusinfektion der Haut, der Herpes simplex, dessen Typ I eine 80%ige Durchseuchung der Bevölkerung bis zum Pubertätsalter erreicht, stellt per se eine unproblematische Infektion dar, kann aber als Herpes simplex recidivans über viele Jahre mit unterschiedlicher Frequenz rezidivieren und dabei häufig erhebliche Beeinträchtigungen des Allgemeinbefindens (Fieber, Abgeschlagenheit, Schmerzen) hervorrufen. Es kann an den »Rezidivtagen« eine Arbeitsunfähigkeit bestehen, und in manchen Fällen, überwiegend bei Herpes genitalis recidivans, auch ein GdB/MdE, im Regelfall von 20. Das Erysipel ist in der Regel eine Erkrankung mit einer Restitutio ad integrum bei rechtzeitig einsetzender Therapie. Bestehen gleichzeitig venöse oder Lymphödeme, kann es zu chronisch-rezidivierenden Verläufen kommen und wegen der »Verlötung« der ableitenden Lymphbahnen zur Größenzunahme der vorbestehenden Lymphödeme, sodass sich schließlich gigantische Schwellungen der betrof-
Rehabilitation Die Prognose der Hautinfektionen ist bei Patienten ohne Begleiterkrankungen prinzipiell gut, sie kann aber durch Zweiterkrankungen erheblich getrübt sein, z. B. eine Candidasepsis bei Immundefizienz. > Die Candidasepsis hat trotz moderner Antimykotika auch heute noch eine bedenkliche Prognose wegen einer hohen Mortalität (bis zu 40%).
Kommentar Überlebt der Patient ein solches septisches Geschehen, können erhebliche Spätfolgen auftreten, z. B. Blindheit, die ihrerseits einen organbezogenen GdB/ MdE verursachen können, dessen Einschätzung durch die entsprechende Fachrichtung zu erfolgen hat.
Rehabilitative Maßnahmen sind in der Regel nicht erforderlich, lediglich sollte bei rezidivierenden Erysipeln neben einer antibiotischen Langzeitprophylaxe eine begleitende Physiotherapie durchgeführt werden.
10
300
1 2 3
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
10.6.8 Sonderfragen
10.7.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Besondere Fragestellungen ergeben sich aus den Hautinfektionen nicht.
Aus gutartigen Neubildungen der Haut resultiert im Regelfall keine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit.
10.7
Gutartige Neubildungen der Haut
10.7.1 Diagnostik
4 5 6
Die Diagnose wird in der Mehrheit der Fälle klinisch gestellt und kann durch Zuhilfenahme beispielsweise der Auflichtmikroskopie einen noch höheren Sicherheitsgrad erlangen. Ergeben sich Notwendigkeiten zur Entfernung der Neubildung, stellt die diagnostische Exzision mit nachfolgender histologischer Befundung die Methode der Wahl dar.
10.7.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Die gutartigen Neubildungen der Haut haben keinen Einfluss auf die Berufsausübung. Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung besteht bei gutartigen Neubildungen der Haut ebenfalls nicht.
10.7.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Die Prognose ist insgesamt als gut zu stellen. Rehabilitationsmaßnahmen sind nicht erforderlich.
7 10.7.2 Krankheitsdefinition
8
11
Die Haut weist von allen Organen des Körpers die größte Vielfalt an Tumoren auf, von denen die Mehrzahl nach ihrer Dignität als benigne einzustufen ist. Die benignen Tumoren der Haut können von der Epidermis ausgehen, sie können epithelausgekleidete Hohlräume der Dermis (= Zysten) darstellen sowie sich von allen Anhangsgebilden der Haut herleiten, z. B. vom Haarfollikel, von den Talgdrüsen, von den ekkrinen und apokrinen Schweißdrüsen u. a.
12
10.7.3 Zusammenhangsfragen
9 10
16
Gutartige Neubildungen mit Systemcharakter, z. B. die Neurofibrome beim Morbus Recklinghausen, können in hundertfacher Anzahl nebeneinander bestehen, bis zu mehrere Zentimeter groß sein und schließlich manchmal riesige Läsionen bilden, die als Wamme eine gesamte Extremität einschließen. Bei den Maximalformen besteht nicht nur ein kosmetisch störender Zustand, sondern durch subkutan gelegene teils plexiforme Neurofibrome können therapeutisch schwer beeinflussbare Schmerzzustände entstehen.
17
10.7.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
13 14 15
18 19 20
Im Regelfall bedingen gutartige Neubildungen der Haut keinen GdB/MdE, lediglich bei der Neurofibromatose Recklinghausen, bei der eine Assoziation mit Minderbegabung und/oder Epilepsie bestehen kann, ist ein GdB/ MdE von bis zu 80 möglich.
10.7.8 Sonderfragen
Besondere Fragestellungen sind aus diesen Erkrankungen nicht abzuleiten.
10.8
Bösartige Neubildungen der Haut
10.8.1 Diagnostik
Die klinisch gestellte Diagnose muss immer histologisch unterlegt werden, gelegentlich sind zahlreiche Schnitte notwendig zur Entscheidung, ob die Exzision in sano erfolgt ist. > Für das Melanom ist die frühzeitige Metastasensuche unerlässlich.
10.8.2 Krankheitsdefinitionen
Neben den benignen Tumoren existieren die malignen Tumoren der Haut: 5 Basalzellkarzinom, 5 Plattenepithelkarzinom, 5 Melanom.
Basalzellkarzinom Das Basalzellkarzinom entsteht stets in Körperregionen mit Haarfollikeln, d. h. Palmae und Plantae bleiben stets frei. Basalzellkarzinome stammen von Zellen des Basallagers ab. Nach klinischen Erscheinungsbildern unterscheidet man solide, zystische, oberflächliche, sklerodermiforme, ulzerierte Basalzellkarzinome und das Ulcus
301 10.8 Bösartige Neubildungen der Haut
rodens bzw. Ulcus terebrans. Als Kokarzinogene werden hauptsächlich das UV-Licht und Arsen angesehen. Das Basalzellkarzinom (Synonyme: Epithelioma basocellulare, Basaliom) zählt zu den häufigsten Neubildungen der Haut und weist eine steigende Inzidenz auf. In Deutschland wird die Zahl der Neuerkrankungen mit 150.000/Jahr angegeben.
Plattenepithelkarzinom Das Plattenepithelkarzinom (Synonyme: Epithelioma spinocellulare, Stachelzellkarzinom, spinozelluläres Karzinom oder Spinaliom) ist nach dem Basalzellkarzinom die zweithäufigste bösartige Neubildung der Haut, wobei das Verhältnis von Spinaliomen zu Basaliomen etwa 1 : 10 beträgt. Als klinische Varianten kommen der flächige, knotigexophytische und der diffus infiltrierende, oberflächlich oder tief ulzerierte Typ vor. Als Kokarzinogene werden neben dem UV-Licht das Tabakrauchen (Mundschleimhaut- und Lippenbereich) und HPV-Infektionen vermutet.
Melanome entstehen etwa in einem Drittel aus Nävuszellnävi und zu zwei Dritteln auf scheinbar intakter Haut. Risikofaktoren. Für die Auslöung von Melanomen scheint
die kumulative UV-Dosis von untergeordneter Bedeutung zu sein, vielmehr spielt die Zahl der ausgeprägten Sonnenbrände eine wichtige Rolle. Außerdem stellen der Pigmentierungstyp, Störungen im DNA-Repair-Mechanismus, positive Familienanamnese und das Geschlecht (Gynäkotropie!) wichtige Risikofaktoren dar.
10.8.3 Fragen zum Zusammenhang
Wie bereits erwähnt, spielen Kokarzinogene eine erhebliche Rolle. Während ein Basalzellkarzinom (besser: Carcinoma in situ) überwiegend de novo entsteht, entwickeln sich Plattenepithelkarzinome häufig aus Präkanzerosen. Mögliche Zusammenhänge zur Melanomentstehung sind in 7 Kap. 10.8.2 diskutiert.
Melanom Das Melanom (Synonym: Melanozytoblastom) ist ein von Melanozyten ausgehender invasiver maligner Tumor, der sich primär in mehr als 90% an der Haut entwickelt. > In der Embryogenese können die vom Neuroektoderm abstammenden Pigmentzellen auch in der Dermis und den Schleimhäuten, den Leptomeningen, der Uvea und Retina des Auges und der Cochlea sowie dem vestibulären Labyrinth des Innenohres verbleiben, woraus Melanome entstehen können, sodass dieser Tumor auch primär von Nichtdermatologen diagnostiziert werden kann.
Kommentar Diese außerhalb der sichtbaren Haut bzw. einsehbaren Schleimhäute gelegenen primären Entstehungsorte für Melanome muss man immer berücksichtigen, wenn sich der Patient bereits mit Hautmetastasen eines malignen Melanoms vorstellt.
Klinische Klassifikation des Melanoms 5 5 5 5 5 5 5
»superficial spreading melanoma« Lentigo-maligna-Melanom noduläres Melanom akrolentiginöses Melanom unklassifizierbares Melanom Schleimhautmelanome Melanome innerer Organe.
10.8.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Basalzellkarzinom Die Methode der Wahl bei der Behandlung von Basalzellkarzinomen ist die Exzision mit primärem Wundverschluss. Erlaubt die Größe des Tumors und seine Topographie dieses Vorgehen nicht, müssen Lappenplastiken durchgeführt werden. Angestrebt wird jeweils die Methode, mit der das beste ästhetische Ergebnis erzielt werden kann. Dennoch gelingt ein kosmetisch befriedigendes Resultat nicht in jedem Fall, sodass Entstellungen resultieren können. Je nach deren Grad ist ein GdB/MdE analog den Festlegungen im HNO-Bereich bis 30 anzunehmen. Diese unbefriedigenden Operationserfolge treten häufig bei den sog. Problembasalzellkarzinomen auf, d. h. Rezidivtumoren, die zuvor wiederholt und insuffizient operativ, kryochirurgisch, chemochirurgisch oder radiologisch behandelt worden sind. Diese Tumoren weisen oft einen Wandel in ihrer Dignität auf, d. h. sie wachsen destruierend und erlangen unter Umständen Metastasierungspotenz. Bei metastasierten Basalzellkarzinomen richtet sich der GdB/MdE nach dem Ort und dem Ausmaß der Metastasierung und kann 50 und mehr betragen.
Plattenepithelkarzinom Die Metastasierung beim Plattenepithelkarzinom erfolgt primär lymphogen und zu einem relativ späten Zeitpunkt. Die Lymphknotenmetastasen können aber erhebliche Größe erlangen und benachbarte anatomische Strukturen infiltrieren, sodass ausgedehnte operative Maßnahmen notwendig werden. Nach Zugrundelegung der Stadieneinteilung von Plattenepithelkarzinomen durch die UICC (Wittekind et al. 2005) ist bei jedem Tumor in den Stadien
10
302
1
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
T1–2 N0–2 M0 ein GdB/MdE von 50 anzusetzen. Hierfür notwendig sind die exakten Tumordaten.
Melanom
2 3 4 5 6 7 8 9 10
Für die Begutachtung des Melanoms sind in erster Linie natürlich auch die exakten Tumordaten relevant, doch darf der Allgemeinzustand des Patienten nicht außer Acht gelassen werden. Ein radikal operierter Tumor kann bezüglich seiner Rezidivgefahr bzw. Spätmetastasierungstendenz nach formellen Kriterien als »erfolgreich behandelter Fall« zum Begutachtungszeitpunkt betrachtet werden. Für den Betroffenen kann er aber entweder infolge der operationsbedingten sichtbaren Defekte besonders im Gesichtsbereich oder infolge allgemeiner psychischer Alteration einen sehr großen GdB/MdE (bis 100) darstellen, sodass praktisch Erwerbsunfähigkeit besteht. Diese Gesichtspunkte gelten analog auch für Plattenepithelkarzinome oder die semimalignen Basalzellkarzinome, besonders wenn sie an sichtbaren Stellen und multilokulär auftreten. > Wenngleich bei den aufgeführten malignen Neubildungen der Haut durch rechtzeitige Diagnosestellung und adäquate Therapie eine deutlich bessere Prognose als bei fortgeschrittenen Stadien zu erwarten ist, sollte bei der Begutachtung solcher Tumorpatienten stets der Allgemeinsituation des Patienten sorgfältig Rechnung getragen werden.
11 10.8.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bei den bösartigen Neubildungen der Haut (Basalzellbzw. Plattenepithelkarzinom), die in der Regel im höheren Lebensalter, also jenseits des Erwerbstätigkeitsalters, behandlungsrelevant werden, erübrigt sich normalerweise eine entschädigungswirksame Begutachtung. Beim Melanom legt das Tumorstadium (lokalisiert oder metastasiert) die Erwerbstätigkeit fest.
10.8.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsausübung
Für das Basalzellkarzinom und das Plattenepithelkarzinom ergeben sich für die Berufstätigkeit selten Konsequenzen, da es sich in der Regel um Erkrankungen des höheren Lebensalters handelt. Von Melanomen können auch jüngere Altersgruppen betroffen sein, sodass beispielsweise Bewegungseinschränkungen postoperativ auftreten können, die einen vorübergehenden oder permanenten Arbeitsplatzwechsel erfordern bzw. eine Berufsunfähigkeit begründen.
Fahrereignung
Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung ist nur bei den primär extrakutanen Melanomen (Auge, ZNS) zu erwarten.
10.8.7 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Basalzellkarzinom Im Regelfall wächst das Basalzellkarzinom langsam verdrängend ohne große Gewebsdestruktion. Die Prognose quoad vitam ist als günstig zu bewerten und häufig auch quoad sanationem. Das Metastasierungsrisiko für Basalzellkarzinome liegt zwischen 0,003 und 0,4% und ist direkt proportional zur Tumorgröße. Sowohl für die erreichte Größenausdehnung als auch für eine lange Bestandsdauer spielt eine gewisse Indolenz seitens des Patienten eine nicht unerhebliche Rolle. Die durchschnittliche Überlebenszeit nach Auftreten von Metastasen beträgt 10–16 Monate. Ein letaler Verlauf kann auch ohne Filialisierung bei besonders aggressivem Wachstum im Kopfbereich durch zerebrale Infiltration entstehen (Ulcus terebrans).
Plattenepithelkarzinom Die Prognoseeinschätzung beim Plattenepithelkarzinom erfolgt unter Berücksichtigung der Stadieneinteilung in . Tab. 10.2. Die 5-Jahres-Überlebensraten für metastasierende Plattenepithelkarzinome liegen zwischen 25 und 50%. Da das Plattenepithelkarzinom ein Tumor des höheren Alters ist, d. h. häufig eine Multimorbidität besteht, sterben in dem angegebenen Zeitraum weitere 15–20% der Patienten an anderen gleichzeitig bestehenden Erkrankungen.
Melanom > Der wichtigste Prognosefaktor ist beim Melanom wie bei allen anderen malignen Tumoren die Tumorausbreitung. Anders als bei der Mehrzahl der Tumoren ist beim Mela-
. Tab. 10.2. Stadieneinteilung von Plattenepithelkarzinomen durch die UICC 2003. (Nach Wittekind et al. 2005) Stadium
TNM-Klassifikation
Metastasierungsrate [%]
Stadium I
T1 N0 M0
ca. 4
Stadium II
T2 N0 M0
ca. 13
T3 N0 M0
ca. 20
T4 N0 M0
ca. 20–40
Stadium III
jedes T N1 M0 Stadium IV
jedes T jedes N M1
303 10.9 Nagelerkrankungen
nom der vertikale Tumordurchmesser (Tumordicke nach Breslow) der entscheidende Parameter.
10.9
Nagelerkrankungen
10.9.1 Diagnostik
Nach der Tumordicke entscheidet sich auch den empfohlene Sicherheitsabstand für die Exzision bzw. Nachexzision. Bei Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren (Ulzeration, Regressionszeichen im Primärtumor) kann ein größerer Sicherheitsabstand in Erwägung gezogen werden. Aufgrund vorliegender Studien kann davon ausgegangen werden, dass die Wahl des Sicherheitsabstandes keinen entscheidenden Einfluss auf das Risiko der Fernmetastasierung und damit auf die Gesamtüberlebensrate hat (Kaufmann et al. 1998). Für die Prognoseabschätzung beim malignen Melanom wurde von der Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Onkologie (ADO) eine Modifikation der Stadieneinteilung des Melanoms nach der UICC von 2003 vorgenommen, die auch die 10-Jahres-Überlebensrate enthält (. Tab. 10.3). > Für das Schicksal des Patienten ist prinzipiell neben einer möglichst frühzeitigen Diagnosestellung eine zeitnahe adäquate Therapie des Melanoms ausschlaggebend. Frühzeitig operierte Melanompatienten können in Abhängigkeit vom Erkrankungsstadium voll rehabilitiert werden.
Eine epithetische Versorgung bei ausgedehnten Operationen im Gesichtsbereich kann erforderlich werden (Zustand nach Basalzellkarzinom- bzw. Plattenepithelkarzinomexzision).
Die Nagelanomalien werden makroskopisch diagnostiziert. Bei Verdacht auf eine mykotische Infektion wird sowohl der mikroskopische als auch der kulturelle Pilznachweis geführt. Für subunguale Melanome, die mit Hämorrhagien verwechselt werden können, stellt die Auflichtmikroskopie ein wichtiges supportives Diagnostikverfahren dar.
10.9.2 Krankheitsdefinition
Ein intakter Nagelapparat ist Voraussetzung für die Erfüllung zahlreicher Funktionen der Finger und Zehen. Der Nagel trägt zum Feingefühl, zum Schutz und nicht zuletzt zur Ästhetik der Finger und Zehen bei. Nagelerkrankungen sind Folge von Schädigungen an der Nagelplatte in Form von Matrixstörungen, am Nagelbett bzw. der Nagelumgebung. Kombinationen von Teilschäden sind häufig und treten klinisch als Verformung, Konsistenzänderung oder Verfärbung der Nägel zutage. Nagelveränderungen können genetisch bedingt oder erworben sein. Sie können außerdem irreversibel oder reversibel sein.
10.9.3 Fragen zum Zusammenhang
Nagelveränderungen können einerseits genetisch fixiert sein und andererseits eine Mitbeteiligung im Rahmen von schwer verlaufenden Dermatosen bzw. schwer verlaufenden Systemerkrankungen darstellen.
10.8.8 Sonderfragen
Besondere Fragestellungen können im Individualfall Relevanz erlangen, z. B. bei ausgeprägter zerebraler Metastasierung. . Tab. 10.3. Stadieneinteilung des Melanoms durch die UICC 2003 und 10-Jahres-Überlebensrate. (Nach Wittekind et al. 2005) Stadium
pT
N
M
10-JahresÜberlebensrate [%]
Stadium Ia
pT1 (<0,75 mm)
N0
M0
97
Stadium Ib
pT2 (0,76–1,5 mm)
N0
M0
90
Stadium IIa
pT3 (1,51–4,00 mm)
N0
M0
67
Stadium IIb
pT4 (>4,00 mm)
N0
M0
43
Stadium IIIa
pTaa, pTbb
N0
M0
28
Stadium IIIb
jedes pT
N1, N2
M0
19
Stadium IV
jedes pT
jedes N M1
a Satellitenmetastasen. b In-transit-Metastasen.
3
10
304
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
10.9.4
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Bewertung nach dem Sozialrecht
Die Anomalien der Nagelform (Uhrglasnagel, Trommelschlägelfinger, Löffelnägel, Trompetennagel, Röhrennagel, Hakennagel u. a.) sind gelegentlich für die Berufswahl ausschlaggebend. Für die Feststellung einer Behinderung erlangen sie insofern Bedeutung, als sie in vielen Fällen erworben sind und ein Indiz für interne Erkrankungen darstellen. Eine Onychoatrophie kann mit und ohne Pterygiumbildung bei einigen in der Regel schwer verlaufenden Dermatosen (Lichen ruber planus, Stevens-Johnson-Syndrom, vernarbendes Pemphigoid, Psoriasis) auftreten und findet beim durch die Grundkrankheit eventuell bedingten GdB/MdE Berücksichtigung. Die Onychoatrophie per se kann einen GdB/MdE von 50 hervorrufen, weil betroffenen Patienten viele Berufe mit überwiegend manuellen Tätigkeiten verschlossen sind. Dazu kommen häufig noch erhebliche psychische Störungen, sodass insgesamt ein noch höherer GdB/MdE resultieren kann.
10.9.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
Es ergeben sich keine besonderen Begutachtungsrichtlinien für privat versicherte Schäden.
11 10.9.6
12 13
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Wie bereits erwähnt, sind einige Berufe für Patienten mit bestimmten Nagelanomalien bzw. Nagelatrophien verschlossen. Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung in Folge von Nagelerkrankungen besteht nicht.
14 10.9.7
15 16 17
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Genetisch bedingte Nagelläsionen lassen sich nicht beeinflussen, bei Nagelatrophie sind kosmetische Korrekturen möglich. Wenn die Nagelveränderungen Ausdruck eines Organleidens sind, bestimmt dieses die Prognose. Eine Rehabilitation ist prinzipiell nur bei behandelbaren Nagelerkrankungen, z. B. Mykosen, möglich.
18 10.9.8
19 20
Sonderfragen
Besondere Fragestellungen ergeben sich nicht.
10.10
Haarkrankheiten
10.10.1
Diagnostik
Mittels Trichogramm wird nach mikroskopischer Betrachtung der Haarwurzeln der Anteil der Telogenhaare bestimmt. Außerdem kann die Rate der Anagenhaare und ihre Textur (dystrophe Anagenhaare) ermittel werden. Durch histologische Untersuchung einer Probebiopsie der Kopfhaut wird die Unterscheidung in vernarbendes und nichtvernarbendes Effluvium möglich.
10.10.2
Krankheitsdefinition
Das Haarkleid spielt in der Evolution eine unterschiedliche Rolle. Für die Jetztzeit ist besonders das Kopfhaar ein wichtiger Bestandteil des äußeren Erscheinungsbildes. Erkrankungen oder Anomalien des Haarapparates stellen für den Betroffenen ein oft viel größeres Problem dar, als dass sie tatsächlich medizinische Relevanz erlangen. Neben dem erworbenen Haarausfall, der in eine Alopezie und schließlich eine Haarlosigkeit (Glatze) einmünden kann, existiert die angeborene partielle oder totale Haarlosigkeit (= Hypo- oder Atrichie). Den Vorgang des Haarausfalls bezeichnet man als Effluvium und unterscheidet diffuses und umschriebenes und nichtvernarbendes und vernarbendes Effluvium. Die häufigste Form des Haarausfalls ist das Androgeneffluvium, dessen Prävalenz bei postpuberalen Personen zwischen 30 und 80% geschätzt wird. Irrtümlicherweise wird dafür eine deutliche Androtropie angenommen.Tatsächlich tritt diese Form des Haarausfalls bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig auf, bei Frauen allerdings in »höherem« Lebensalter, und selten kommt es bei Frauen zur typischen Glatzenbildung. Junge Männer können unter frühzeitig und exzessiv einsetzendem Haarverlust erhebliche psychische Alterationen erleiden, sodass sie sich trotz kosmetisch hervorragenden Haarersatzes »minderwertig« fühlen, wodurch ihre Leistungsfähigkeit deutlich reduziert wird. Gelingt es dem Dermatologen allein nicht, den Betroffenen von der medizinischen Harmlosigkeit seines Haarverlustes zu überzeugen, ist eine Zusammenarbeit mit einem Psychiater und/oder Psychologen dringend erforderlich, die Vorschläge für einen eventuellen GdB/MdE unterbreiten. Der umschriebene Haarausfall (= Alopecia areata) ist vermutlich autoimmunologisch bedingt, verläuft in Schüben und kann auch eine permanente Alopezie nach sich ziehen. Prognostisch sind 3 Verläufe zu unterscheiden: 5 Spontanheilung, 5 chronisch-rezidivierend, wobei sich das Krankheitsgeschehen nach gelegentlich jahrelangem Verlauf un-
305 10.11 Chronische Bindegewebskrankheiten
ter Hinterlassung einiger permanent haarloser Bezirke erschöpft, 5 progredienter Verlauf, der schließlich zur Alopecia areata totalis (d. h. das gesamte Kapillitium ist betroffen) oder Alopecia areata universalis (d. h. Befall auch zusätzlicher behaarter Körperregionen) führt.
10.10.5
Die Hypertrichosen können angeboren oder erworben sein und eine Körperregion (= lokalisiert) oder das gesamte Integument (= generalisiert) betreffen.
10.10.6
10.10.3
Fragen zum Zusammenhang
Es sollte immer versucht werden, die Ursache des Haarausfalls bzw. der Überbehaarung zu ermitteln, um günstigenfalls eine Heilung zu erreichen, wobei es allerdings Krankheiten gibt, die obligat zu irreversiblem Haarverlust führen. Die generalisierte erworbene Hypertrichose gilt als (fast) obligate Paraneoplasie, wobei zwischen Hypertrichose und Detektion des Tumors Jahre vergehen können. Diese dramatisch einsetzende Überbehaarung muss in jedem Fall eine sehr subtile Tumorsuche in Gang setzen, aus dessen Dignität sich dann der GdB/MdE ableiten lässt.
10.10.4
Bewertung nach dem Sozialrecht
Die Alopecia areata universalis, besonders wegen des gleichzeitigen Verlustes von Kopfhaaren, Augenbrauen und Wimpern, kann einen GdB/MdE von 50 hervorrufen. Bei weiblichen Kranken entwickelt sich eine ausgesprochene Menschenscheu, sodass sie häufig nur in kleinsten Arbeitskollektiven und ohne Publikumsverkehr eingesetzt werden können. Trotz guter kosmetischer Korrekturmöglichkeiten, z. B. Tätowieren von Augenbrauen, künstlicher Wimpern und gutsitzenden Perücken, verlieren diese Patientinnnen ihre Minderwertigkeitsgefühle nur selten, zumal die Umwelt diese Haarkrankheiten selten toleriert. Episodische Haarausfälle, beispielsweise nach massiven Blutverlusten, schweren Infektionskrankheiten, Schockzuständen, Exazerbationen von Systemkrankheiten (z. B. Kollagenosen), besonderen Diäten und einigen Medikamenten, erlangen für die Begutachtung keine Relevanz. Der Hirsutismus stellt ebenso wie die früheinsetzende androgenetische Alopezie des Mannes mehr ein psychisches Problem als ein somatisches dar und bedarf wie bereits erwähnt der Zusammenarbeit mit Vertretern des entsprechenden Fachgebietes.
Begutachtung privat versicherter Schäden
Es ergeben sich keine besonderen Begutachtungsrichtlinien für privat versicherte Schäden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Nach kosmetisch befriedigender Korrektur des interkurrenten bzw. permanenten Haarverlustes beispielsweise durch Perücken ergeben sich keine Einschränkungen bezüglich des Berufslebens. Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung besteht durch die Haarerkrankung nicht, kann aber durch die assoziierte Grundkrankheit bedingt sein.
10.10.7
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Die Prognose einer der häufigsten Haarerkrankungen, des androgenetischen Haarausfalls, kann durch die Therapie mit 5α-Reduktasehemmern deutlich verbessert werden. Die Prognose der Alopecia areata hängt von der Familienanamnese, assoziierten Systemerkrankungen, der Anzahl der Herde, ihrer Bestandsdauer und ihrer Erstmanifestation (im Erwachsenenalter deutlich bessere Prognose) und schließlich der Rezidivhäufigkeit ab (wenige Rezidive deuten auf gute Prognose hin). Im Regelfall sind spezielle rehabilitative Maßnahmen nicht indiziert.
10.10.8
Sonderfragen
In bestimmten Fällen ist wegen Fehlinterpretation der tatsächlichen »Haarkrankheit« durch den Betroffenen eine psychiatrische Mitbehandlung dringend erforderlich.
10.11
Chronische Bindegewebskrankheiten
10.11.1
Diagnostik
Für die Diagnose gibt es keinen pathognomischen Befund, sondern sie wird aufgrund typischer Befundkonstellationen bzw. klinischer Symptome gestellt: beschleunigte Blutsenkung, Leukopenie, Hypergammaglobulinämie, Autoantikörper, hohes Fieber, Myalgien/Arthralgien, Lichtüberempfindlichkeit, Verhärtung der Haut, Abnahme der Tränen- und Speichelflüssigkeit. Für die Diagnostik sind je nach betroffenem Organsystem Biopsien erforderlich bzw. Funktionstests oder elektrophysiologische Untersuchungen.
10
306
Kapitel 10 · Haut und Hautanhangsgebilde
10.11.2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Krankheitsdefinition
Die chronischen Bindegewebskrankheiten werden irrtümlich auch als »Kollagenosen« – ein Begriff, den Klemperer 1935 inaugurierte – bezeichnet. Das namensgebende kollagene Bindegewebe ist aber nicht die entsprechende erkrankte Struktur, sondern es findet sich eine fibrinoide Degeneration des Kollagens in Läsionen des Lupus erythematodes. Zu den chronischen Bindegewebserkrankungen zählen auf dermatologischem Gebiet 5 der Lupus erythematodes, 5 die Sklerodermie, 5 die Dermatomyositis. Diesen Krankheiten gemeinsam ist eine gestörte Immunregulation sowohl auf zellulärer als auch humoraler Ebene. Die Attacke des eigenen Immunsystems gegen körpereigene Zellen bzw. Zellbestandteile kann praktisch zu pathologischen Veränderungen an jedem Organsystem des Körpers führen. Eine Beteiligung des lichtexponierten Integuments tritt in 70–80% der Fälle auf, ein Schleimhautbefall (Lippen, Mundhöhle, Auge) in ca. 20%, verläuft aber oft klinisch asymptomatisch.
10.11.3
Fragen zum Zusammenhang
Beim CDLE (chronisch-diskoiden Lupus erythematodes) stellt die Haut den Hauptmanifestionsort der Erkrankung dar. Wegen der obligaten exzessiv gesteigerten Photosensitivität können Patienten trotz regelmäßiger Anwendung von Sonnenschutzmitteln keine Tätigkeiten im Freien verrichten, wodurch sich ihre Einsatzmöglichkeiten deutlich reduzieren. Außerdem bedürfen Patienten mit CDLE einer konsequenten Überwachung, da einerseits Übergänge in einen systemischen Lupus erythematodes (SLE) möglich sind und andererseits ein gewisses Risiko zur Entwicklung von Plattenepithelkarzinomen in abgeheilten, vernarbten Lupus-erythematodes-Läsionen besteht. Bei der systemischen Sklerodermie ist die gesteigerte Kälteempfindlichkeit in Form des Raynaud-Syndroms ein Kardinalsymptom, sodass jede Kälteexposition zur Exazerbation der Erkrankung führen kann.
17
19 20
10.11.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
Bei mit Defektheilung einhergehenden chronischen Bindegewebserkrankungen ist eine berufliche Rehabilitation nur partiell möglich. Patienten, die eine immunsuppressive Langzeitbehandlung erhalten müssen, sind für diese Zeiträume nicht erwerbsfähig. Prinzipiell können keine Tätigkeiten mit erhöhter Muskelarbeit bzw. unter gesteigerter UV-Exposition verrichtet werden. Bisher ausgeübte Tätigkeiten können unter Meidung der zwei genannten Prämissen im Regelfall beibehalten werden.
10.11.6 10.11.4
18
lässt sich ein »spezifischer« dermatologischer GdB/MdE nicht veranschlagen. Bei voller Ausprägung des Krankheitsbildes beträgt der GdB/MdE 80–100. Die häufigste und mildeste Form der zirkumskripen Sklerodermie (= Morphea) ist eine bevorzugt am Rumpf lokalisiert Plaque. Der Krankheitsverlauf ist in der Regel selbstlimitierend und mündet in ein oft hyperpigmentiertes, atrophisches Stadium ein. Bei isolierten Herden ergibt sich kein GdB/MdE. Der lineäre Typ beginnt zwar meist im Kindesalter, kann sich aber auch im frühen Erwachsenenalter erstmanifestieren. Er zeigt ein schwereren Verlauf, da tiefe Faszien in den Krankheitsprozess einbezogen werden, wodurch es zur straffen Umkleidung der Muskulatur kommen kann, woraus sich einerseits erhebliche Bewegungseinschränkungen und andererseits beispielsweise ein Karpaltunnelsyndrom entwickeln können. Im weiteren Verlauf folgen Schrumpfung und Atrophie des Bindegewebes, unter Umständen auch der Muskulatur und des Knochens. Die komplett ausgebildete lineäre Variante kann eine gesamte Körperhälfte betreffen und bei frühkindlichem Beginn zur Verkürzung der entsprechenden Extremität führen. Trotz immunsuppressiver Therapie lässt sich dieser Defekt nicht beheben, sodass ein GdB/MdE von 20–30 entstehen kann. Eine weitere Sonderform, die eosinophile Fasziitis (Shulman-Syndrom), geht ebenfalls häufig mit einer Defektheilung einher (Beugekontrakturen, Ab- und Adduktionseinschränkungen) und führt zu einem GdB/MdE von 20–30.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Bewertung nach dem Sozialrecht
Für den Lupus erythematodes der Haut kann der GdB/ MdE 20 betragen, die endgültige Festsetzung darf jedoch nur unter Berücksichtung gleichzeitig bestehender anderer Organalteration geschehen. Da sowohl die systemische Sklerodermie als auch die Dermatomyositis Allgemeinerkrankungen darstellen,
Die Einschränkungen im Berufsleben resultieren aus der jeweils vorherrschenden Organalteration. Wichtig für alle Formen des Lupus erythematodes ist wegen der gesteigerten Photosensitivität ein zuverlässiger UV-Schutz, d. h. Tätigkeiten im Freien sollten immer unterbleiben. Eine Beeinträchtigung der Fahrereignung kann einerseits durch aktuelle Therapieformen (beispielsweise Ta-
307 Literatur
gessteroiddosen von 100 mg und mehr) und andererseits durch krankheitsbedingte Defektzustände, insondere bei der systemischen Sklerodermie, bedingt sein.
10.11.7
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
> Die Prognose des Lupus erythematodes, der systemischen Sklerodermie und der Dermatomyositis wird insgesamt durch den Organbefall (Herz, Nieren, Gelenke, blutbildendes System) bestimmt.
Sie ist quoad sanationem wegen der Mannigfaltigkeit der Organalterationen (Raynaud-Symptomatik, pulmonale, renale, muskuläre Insuffizienz, Polyarthralgien, nutritive Dysblance infolge von Dysphagie oder gastrointestinalen Motilitätsstörungen u. a.) infaust zu stellen. Durch zahlreiche supportive Maßnahmen lassen sich die Beschwerden lindern bzw. in ihrer Progression aufhalten. Eine Rehabilitation des kutanen Lupus erythematodes ist meist nicht erforderlich, stark vernarbende Läsionen im Gesicht können durch eine Camouflage abgedeckt werden. Die systemische Variante erfordert oft eine jahrelange Therapie, sodass dadurch bedingte Nebenwirkungen unvermeidbar sind. Ziel der Therapie ist die Unterdrückung der akuten Symptomatik. Außer der klinischen Beobachtung eignet sich die Dynamik der antidsDNS-Antikörper gut als Therapiekontrolle. Diese Antikörperspezifität kommt bei der systemischen Sklerodermie selten vor, hier sind allein klinische Befunde, unterstützt durch objektivierbare Funktionstests (Lungenfunktion, akrale Wiedererwärmungszeit u. a.) ausschlaggebend. Eine spezielle Physiotherapie kann unterstützend zur medikamentösen Therapie eingesetzt werden. Neben einer medikamentösen Langzeittherapie ist bei der Dermatomyositis eine angepasste physikalische Therapie sinnvoll. Ein schlechtes therapeutisches Ansprechen sowie verzögerte regrediente CK-Werte weisen häufig auf die Assoziation mit einem internen Neoplasma hin, die Inzidenz wird mit 25–75% angegeben. Trotz diffiziler Diagnostik kann der assoziierte Tumor gelegentlich erst in tabula detektiert werden. Einige Formen können auch spontan, meist mit Defekten ausheilen.
10.11.8
Sonderfragen
Eine eingehende Beratung von Frauen im gebärfähigen Alter ist dringend erforderlich.
Literatur Christophers E, Mrowietz U, Sterry W (Hrsg) (2002) Psoriasis auf einen Blick. Blackwell Wissenschaftsverlag, Berlin Wien Hof H (2003) Mykologie für Mediziner. Thieme, Stuttgart New York Kaufmann R, Tilgen W, Garbe C (1998) Diagnostische und therapeutische Standards in der Dermatologischen Onkologie. Hautarzt 49: 30–38 Schnuch A, Aberer W, Agathos M et al. (2005) In: Korting HC et al. (Hrsg) Dermatologische Qualitätssicherung: Leitlinien und Empfehlungen. ABW Wissenschaftsverlag, Berlin, S 414–417 Wittekind C, Klimpfinger M, Sobin LH (2005) TNM-Atlas. Illustrierter Leitfaden zur TNM/pTNM-Klassifikation maligner Tumoren, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Zillikens D (2005) Bullöse Autoimmundermatosen. In: Braun-Falco 0, Plewig G, Wolff HH, BurgdorfW, Landthaler M (Hrsg) Dermatologie, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 607–638
Internetadressen ABW-Wissenschaftsverlag www.abw-verlag.de Breitgefächertes Angebot dermatologischer Fachliteratur. Blackwell-Verlag www.blackwell-synergy.com www.blackwellpublishing.com Aktuelles zur gesamten Dermatologie (deutsch und englisch). Derma.de www.derma.de Informationsangebot der deutschsprachigen Dermatologie: Dermatologische Qualitätssicherung, Leitlinien und Empfehlungen. Deutsche Dermatologische Gesellschaft www.jddg.de Offizielles Organ der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft.
10
309
Nervensystem C.J.G. Lang, H. Stefan
11.1
Schädel-Hirn-Trauma – 310
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.1.6 11.1.7 11.1.8 11.1.9
Diagnostik – 310 Krankheitsdefinition – 312 Fragen zum Zusammenhang – 316 Bewertung nach dem Sozialrecht – 317 Begutachtung privat versicherter Schäden – 318 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 319 Risikobeurteilung – 319 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 320 Sonderfragen – 320
11.2
Schlaganfall – 321
11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 11.2.6 11.2.7 11.2.8 11.2.9
Diagnostik – 321 Krankheitsdefinition – 322 Fragen zum Zusammenhang – 327 Bewertung nach dem Sozialrecht – 328 Begutachtung privat versicherter Schäden – 330 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 330 Risikobeurteilung – 331 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 331 Sonderfragen – 331
11.3
Epilepsie – 332
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.3.6 11.3.7 11.3.8 11.3.9
Diagnostik – 332 Krankheitsdefinition – 332 Fragen zum Zusammenhang – 333 Bewertung nach dem Sozialrecht – 335 Begutachtung privat versicherter Schäden – 335 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 337 Risikobeurteilung – 338 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 339 Sonderfragen – 339
11.4
Peripheres Nervensystem – 340
11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5 11.4.6 11.4.7 11.4.8 11.4.9
Diagnostik – 340 Krankheitsdefinition – 343 Fragen zum Zusammenhang – 351 Bewertung nach dem Sozialrecht – 352 Begutachtung privat versicherter Schäden – 352 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 357 Risikobeurteilung – 357 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 357 Sonderfragen – 358
Literatur
– 358
11
310
Kapitel 11 · Nervensystem
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
nanztomographie, Kernspintomographie), alternativ die transaxiale Röntgencomputertomographie (CCT).
In diesem Kapitel werden Ursachen, Formen und Auswirkungen von Schädel-Hirn-Traumata, von Schlaganfällen, Epilepsien und Erkrankungen des peripheren Nervensystems dargestellt mit Würdigung der gutachtenrelevanten Probleme. Traumatische Hirnverletzungen gehören zu den am häufigsten zu begutachtenden Schäden auf neurologischem Gebiet. Sie kommen noch etwas zahlreicher vor als Schlaganfälle. Hier rangieren an erster Stelle Hirninfarkte, gefolgt von intrazerebralen Blutungen, Subarachnoidalblutungen und Hirnvenenthrombosen. Nachdem sich Schlaganfälle nicht zuverlässig verhindern lassen und sich meist ohne äußere Einwirkung ereignen, stehen in der Regel Fragen der optimalen Therapie, der Ursächlichkeit für Folgeschäden und -erkrankungen sowie daraus resultierende Behinderungen im Vordergrund. Zur Frage der Epilepsie Stellung zu nehmen wird der Gutachter v. a. in denjenigen Fällen gefordert, in denen ein bestimmtes Ereignis (z. B. Schlaganfall) als Auslöser der Anfälle behauptet wird, die Natur des Anfalls unklar ist oder Fragen der krankheitsbedingten Einschränkung von Berufs- oder Erwerbsfähigkeit zur Debatte stehen. Erkrankungen des peripheren Nervensystems, ob nun Einzelnervschädigungen oder Polyneuropathien, sind ebenfalls ein nicht seltener Anlass für Begutachtungen.
11.1.1 Diagnostik
Damit können auch Komplikationen wie epi- oder subdurale Hämatome neben intrazerebralen Hämatomen (Parchenymblutungen) leicht erfasst werden. Knochenverletzungen sind besonders im Röntgen-CCT gut darzustellen. Ein EEG ist praktisch immer entbehrlich, es sei denn im Zusammenhang mit der Frage nach einem epileptischen Anfall als Auslöser oder Folge eines SHT. Es kann ebenso wie bildgebende funktionelle Verfahren (SPECT, PET) grundsätzlich keine Strukturveränderung nachweisen. Gefäßdarstellungen tragen zur Untersuchung eines Schädel-Hirn-Traumas kaum etwas bei. Ganz selten einmal findet man ein Aneurysma als Ursache einer Subarachnoidalblutung, die einen Sturz nach sich zog. Evozierte Potenziale (insbesondere SEP) werden häufig zum Monitoring in der Akutphase oder zur Dokumentation von Spätschäden eingesetzt. Intrakranielle Druckmessungen oder ultraschalldopplersonographische Verfahren, etwa zum Nachweis von Gefäßspasmen, haben ebenfalls ihren Platz in der Akutphase. Liquoruntersuchungen sind in der Akut- und damit Schwellungsphase des Gehirns in aller Regel kontraindiziert, es sei denn, eine Meningitis müsste ernsthaft erwogen werden, und eine signifikante Raumforderung und damit die drohende Einklemmung wären durch Bildgebung zuverlässig ausgeschlossen. Liquoruntersuchungen sind aber nach offenen Hirnverletzungen bei Infektionsverdacht zum Keimnachweis wichtig. Maßgeblich ist v. a. die vom Verletzten zu erfragende Amnesie (Erinnerungslücke), die meist in eine retround anterograde Komponente unterteilt werden kann (. Abb. 11.3), ggf. in Verbindung mit einer von Dritten beobachteten Bewusstlosigkeitsdauer (Koma). Die Amnesiedauer muss grundsätzlich länger ausfallen als die Komadauer. Im leichtesten Fall kommt es zu einer vollständig reversiblen Störung des Funktionszustandes ohne morphologische Läsion, etwa über eine Beeinträchtigung der synaptischen Transmission und Depolarisationsvorgänge, die durch die mechanische Stoßwelle auf das massenträge Gehirn ausgelöst werden. Bei stärkeren Beschleunigungen treten zerebrale Kontusionsherde mit oft typischer Verteilung in Erscheinung. Die später sichtbaren kontusionellen Blutungen entstehen häufig aus winzigen, quasi petechialen Blutaustritten, die durch Sickerung und Konfluktion erst mit Verzögerung im CT oder MRT sichtbar werden (»aufblühende« hämorrhagische Kontusionsherde; . Abb. 11.1).
> Standard für den Nachweis einer morphologischen Hirnläsion, mit der man ab einem mittelschweren SHT zu rechnen hat, ist heute die MRT oder NMR (Magnetreso-
> Wenn eine Mehrfachverletzung (Multitrauma) vorliegt, können systemische Effekte wie eine schwere arterielle Hypotension, ein Herzkreislaufstillstand, eine Fettembolie
11.1
Schädel-Hirn-Trauma C.J.G. Lang
In Deutschland erleiden jährlich mehr als 200.000 Patienten ein akutes stationär behandlungsbedürftiges Schädel-Hirn-Trauma (SHT; Wallesch u. Schmidt 2007). Das Verhältnis von leichten zu mittelschweren zu schweren Schädel-Hirn-Traumata beträgt etwa 8 : 1 : 1. Obwohl der initiale Verletzungsgrad anhand anamnestischer Daten relativ leicht einzuschätzen ist, ist eine möglichst exakte Erhebung und Würdigung des Status praesens ebenfalls von großer Bedeutung. Hier werden die verschiedenen Typen und Schweregrade mechanischer Hirnverletzungen dargestellt und ihre gutachterliche Bewertung erläutert. Leitlinien dazu finden sich als Beitrag der Arbeitsgemeinschaft Neurologische Begutachtung (ANB) im Auftrag der Kommission »Leitlinien« der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN, Wallesch et al. 2005).
18 19 20
311 11.1 Schädel-Hirn-Trauma
. Abb. 11.1a,b. »Aufblühende« kontusionelle Blutungen, die erst mit Verzögerung im kranialen CT sichtbar werden. a Am Unfalltag keine signifikanten Auffälligkeiten. b Einige Tage später intrazerebrales Hämatom rechts parietal
oder Ähnliches zu sekundären Hirnschäden führen oder primäre komplizieren.
Während die primäre Schädigung synchron zum Unfallgeschehen auftritt, können sich sekundäre Hirnschäden auch klinisch verzögert manifestieren. Schwerste Körpertraumen sind aber durchaus auch ohne Beteiligung des Gehirns möglich. Ebenso gibt es reine Schädelverletzungen ohne oder mit nur sehr geringfügiger Beteiligung des Gehirns und seiner Funktionen (Kopfplatzwunde, Schädelfraktur, Schädelprellung). Während in diesen Fällen regelmäßig keine dauerhaft gestörte Hirnfunktion angenommen werden darf, ist der Umkehrschluss, dass makroskopisch sichtbare zerebrale Strukturveränderungen stets eine bleibende Funktionsbeeinträchtigung hervorrufen müssten, unzulässig. > Es gibt sehr wohl Hirngewebsnarben, die nur temporäre Funktionsausfälle hinterlassen und folgenlos ausheilen.
Die Erklärung hierfür ist in der Plastizität auch des Erwachsenengehirns zu suchen, die sich im Wesentlichen nach der unversehrt gebliebenen Hirnmasse und zu einem geringeren Teil nach dem Lebensalter des Verletzten bemisst. Andererseits ist zu bedenken, dass bleibende strukturelle Veränderungen den Grundstein für spätere epileptische Anfälle legen können (Wallesch et al. 2005). > Bleibende strukturelle Veränderungen aufgrund eines SHT können die Ursache für spätere epileptische Anfälle sein.
Häufig sind frontopolare, orbitale, temporobasale und temporolaterale Foci (Rindenprellungsherde). Die Hirnmasse kommt dabei nicht nur mit dem verletzten oder unverletzten Schädelknochen, sondern auch mit Durasepten (Falx, Tentorium) in Kontakt. Kommen Rotationskräfte hinzu, treten durch Scher- und Zugwirkungen nicht sel-
ten auch Zerreißungen von Brückenvenen mit der Folge intrakranieller extrazerebraler Blutungen auf. Das Kleinhirn ist nur selten involviert. Nach den Gesetzen der Mechanik und Erkenntnissen aus Tierexperimenten sind Verletzungen nahezu regelhaft in der Peripherie des Gehirns stärker als in dessen Zentrum, dem Hirnstamm. Die sofort einsetzende Bewusstseinsstörung erklärt man sich durch die ausgedehnte Beeinträchtigung größerer Neuronenverbände, die mit dem aufsteigenden retikulären Aktivierungssystem (ARAS) in Verbindung stehen, das für Wachheit und Bewusstseinshelligkeit (Arousal) verantwortlich ist. Mikroskopisch findet der Pathologe nach schwereren Hirnschädigungen neben Entmarkungszonen multiple Mikrogliawucherungen, die einer narbigen Umwandlung lädierten Hirngewebes entsprechen. Hinsichtlich der oft beschworenen diffusen axonalen Hirnschädigung (»diffuse axonal injury«, DAI) gibt es mitunter irrige Vorstellungen. Man findet sie bei rund der Hälfte aller Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma, wo sie für rund ein Drittel aller Todesfälle verantwortlich gemacht wird. Auch sie kann nur mikroskopisch-autoptisch belegt werden. Begleitende Hämorrhagien können bildgebend am besten mittels T2*-gewichtetem MRT dargestellt werden (Scheid et al. 2003). Erklärt wird sie als Ausdruck einer Schädigungskaskade von traumatisch induzierten metabolischen Veränderungen, die über neurotoxische Mediatorsubstanzen eine morphologisch fassbare Axonläsion hinterlassen. Der Verdacht auf eine solche Schädigung ist gerechtfertigt, wenn sich bei komatösen hirntraumatisierten Patienten mit schwersten klinischen Veränderungen und anhaltender autonomer Dysfunktion im CT keine fokale Schädigung oder allenfalls eine leichte Hirnschwellung nachweisen lässt. Als aussagekräftiger hat sich hier das MRT erwiesen.
11
312
1 2 3
Kapitel 11 · Nervensystem
Kommentar
Kommentar
Das Konzept darf aber nicht zu der Annahme verführen, dass bei jedwedem, auch leichtestem Schädel-Hirn-Trauma eine strukturelle Hirnläsion mit bleibenden schweren klinischen Auffälligkeiten (die in diesen Fällen häufig psychogener Natur sind) zu begründen sei.
Neuropsychologische Testungen setzen eine hinreichende Kooperationsfähigkeit voraus und sind deshalb den späteren Phasen der Remission, Rehabilitation oder des stabilen Defektstadiums vorbehalten. Diese Untersuchungen gehören in die Hand entsprechend erfahrener Spezialisten und sind für die Gesamtwürdigung des Zustandes oft entscheidender als der Neurostatus.
4 Bleibende Verletzungsfolgen
5 6 7 8
> Das Endresultat der Remission kann leicht nach der Glasgow Outcome Scale (GOS) gradiert werden (gute Erholung, mäßige Behinderung, schwere Behinderung, apallisches Syndrom).
Einige ausgewählte quantifizierende neuropsychologische Testverfahren sind in . Tab. 11.1 zusammengestellt.
11.1.2 Krankheitsdefinition
Eine genaue Bewertung der zentralnervösen Verletzungsfolgen macht häufig eine detaillierte neuropsychologische Testung erforderlich, wobei die verbreitetsten Minderleistungen die Bereiche Konzentration und Gedächtnis, seltener klassische fokale Syndrome wie Aphasie, Apraxie, Neglect oder Ähnliches betreffen.
Unter Trauma versteht man eine rasch und überraschend von außen auf den Körper einwirkende physikalische Kraft, die zu unmittelbaren Organschäden führen kann. Vom SHT spricht man deswegen, weil das – beim Erwachsenen – fast vollständig von einer festen knöchernen Hül-
9 10
. Tab. 11.1. Neuropsychologische Testverfahren Testparameter
Tests
11
Allgemeine Intelligenz
5 Leistungsprüfsystem (LPS) 5 Intelligenzstrukturtest (IST-70)
12
Schätzung der verbalen Ausgangsintelligenz und des Bildungsniveaus
5 Mehrfachwahl-Wortschatztest (MWT) 5 Wortschatztest (WT)
Gedächtnis
5 5 5 5
Wechsler-Gedächtnisskala (WMS-R) Verbaler und nonverbaler Lerntest (VLT, NVLT) Auditiver verbaler Lerntest nach Rey (AVLT oder RAVLT) Berliner Amnesie-Test (BAT)
Konzentration und Aufmerksamkeit
5 5 5 5 5 5
d2-Aufmerksamkeitsbelastungstest Trail Making Test (TMT) Form A und B Daueraufmerksamkeit (Wiener Testsystem) Vigilanz (Wiener Testsystem) Reaktionszeit (Wiener Testsystem) Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP)
Persönlichkeit
5 5 5 5
Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI-2) Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R) Beck Depressionsinventar (BDI-II) Hamilton-Depressionsskala (HAMD)
Fokale Hirnleistungsstörungen
5 5 5 5 5
Aachener Aphasietest (AAT) Kurze Aphasieprüfung (KAP) Mosaiktest (MT, im HAWIE) Visual Line Orientation Test (VLOT) Neglect-Test (Swets & Zeitlinger, in TAP; s. oben)
Planungs- und Umstellungsvermögen
5 Turm von Hanoi, (New) Tower of London (NTL) 5 Wisconson Card Sorting Test (WCST) 5 Frontal Assessment Battery (FAB)
13 14 15 16 17 18 19 20
313 11.1 Schädel-Hirn-Trauma
le umgebene Gehirn nur mittelbar über diese und nicht unmittelbar betroffen werden kann. Ausnahmen gibt es z. B. bei noch offener Fontanelle oder knöchernen Schädeldefekten (Trepanation, Hemikraniektomie). Eine äußere Hirnverletzung ohne vorherige Krafteinwirkung auf den knöchernen Schädel kommt aber in praxi so gut wie nie vor. Diese Verhältnisse bringen es mit sich, dass Schädigungsmuster und Verlaufsformen – zumindest beim anderweitig nicht vorgeschädigten Gehirn – relativ uniform verlaufen und recht gut zu klassifizieren und vorherzusagen sind, sieht man einmal von den Komplikationen ab. > Impuls und Richtung der einwirkenden Kraft bestimmen im Wesentlichen die Klinik. Dabei sind Anamnese und sorgfältige Erstdokumentation von überragender Bedeutung.
Anstoßort und -richtung lassen sich außer durch eine Rekonstruktion des Verletzungsherganges oft aus äußeren Verletzungszeichen und – bei höheren Schweregraden – aus der Lokalisation sichtbarer zerebraler Gewebszerstörungen (»coup« und »contre-coup«) ermitteln.
Klinische Einteilung SHT werden klinisch nach der Dauer der Bewusstlosigkeit bzw. Erinnerungslücke, nach den neurologischen und neuropsychologischen Defiziten und schließlich auch nach dem visualisierbaren Verletzungsgrad in leicht, mittelschwer und schwer eingeteilt. Leichte SHT (Grad I) nach dieser Nomenklatur entsprechen im Wesentlichen der Commotio cerebri (Gehirnerschütterung), mittelschwer (II) und schwer (III) der leichteren und schwereren Contusio cerebri (Gehirnquetschung). Vorsicht ist im Umgang mit dem englischen Terminus »concussion« geboten, da dieser das Spektrum von Schädelprellung bis SHT I beschreibt, wobei erst die »concussion grade 3« den Schweregrad einer commotio erreicht.
Daneben werden offene und geschlossene SHT unterschieden. Ein offenes SHT liegt vor, wenn über eine Durazerreißung eine Verbindung zwischen dem Liquorraum und der Außenluft entstanden ist. Häufige Ursachen offener SHT sind penetrierende Hirnverletzungen (z. B. Schuss, Stich, Pfählung) oder Schädelfrakturen. Heutige Notarzteinsatzprotokolle (. Abb. 11.2) enthalten die Glasgow Coma Scale (GCS), die sich als sehr wertvoll zur Einschätzung des initialen Schweregrades erwiesen hat. Allerdings enthält sie auch Reaktionen, die im Koma nicht mehr möglich sind, sodass sie also entgegen ihrer Bezeichnung eher den Zustand der Bewusstseinstrübung differenziert. Die Punktwertung reicht von 3 (schwerster Verletzungsgrad) bis 15 (leichtester Verletzungsgrad bzw. fehlende Beeinträchtigung).
Schweregradbestimmung Klinisches Leitsymptom ist die Bewusstseinsstörung. Quantitative Gradmesser sind Amnesiedauer und Dauer der beobachteten Bewusstlosigkeit bzw. Bewusstseinstrübung (. Tab. 11.2).
Leichtes Schädel-Hirn-Trauma Die Festellung eines leichten SHT (Commotio cerebri, SHT Grad I) erfordert stets eine Bewusstlosigkeit – wie kurz auch immer sie sein mag – oder eine vollständige Erinnerungslücke. Liegt weder das eine noch das andere vor, kann es sich bei einer gedeckten Verletzung nur um eine Schädelprellung (Contusio capitis) gehandelt haben, die unkompliziert – was fast immer der Fall ist – stets und dauerhaft ohne neurologische Folgen bleibt. Anamnestisch hört man in diesen Fällen, dass der Anstoß oder Anprall erlebt und etwa von einer Benommenheit oder andersartigen qualitativen Bewusstseins- oder Wachheitsveränderung, nicht aber von einem Abreißen des Erinnerungskontinuums gefolgt wurde. Meist werden psychische und hormonelle Begleiterscheinungen des Ereignisses (weiche Knie, Zittern, Angst, Ohnmachtsgefühl) er-
. Tab. 11.2. Einteilung der Schweregrade des SHT nach klinischen Kriterien Schweregrad
Klinische Kriterien
I
Leicht
5 Bewusstlosigkeit maximal 1 Stunde 5 Amnesiedauer maximal 1 Tag 5 Komplette Remission, kein fokales neurologisches Defizit
II
Mittelschwer
5 5 5 5
III
Schwer
5 Bewusstlosigkeit über 24 Stunden 5 Bewusstlosigkeit und Bewusstseinstrübung länger als 1 Tag, oft mehrere Tage oder Wochen 5 Nicht selten Zeichen der Hirnstammdysfunktion oder traumatische Psychose von mehr als 1 Tag Dauer 5 Regelmäßig neurologische Ausfälle bzw. Herdsymptome, unvollständige Remission (Defektheilung)
Bewusstlosigkeit über 1 Stunde Bewusstlosigkeit und Bewusstseinstrübung maximal 24 Stunden Erinnerungslücke länger als 1 Tag Fokales neurologisches Defizit möglich, komplette oder inkomplette Remission
11
314
Kapitel 11 · Nervensystem
. Abb. 11.2. Notarzteinsatzprotokoll
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
lebt und berichtet. Derartige Zustände als Gehirnerschütterung anzusprechen, wie es gelegentlich geschieht, ist grundsätzlich falsch.
17
> Beim leichten Schädel-Hirn-Trauma setzt ein unmittelbarer Bewusstseinsverlust ein.
18 19 20
Der Verletzte kann sich in diesem Zustand also unmöglich aufrecht halten. Der initiale GCS-Wert kann grundsätzlich jeden beliebigen Betrag annehmen, wird beim Eintreffen des Notarztes (d. h. nach mehreren Minuten) aber häufig mit 14 oder 15 bestimmt. Die später berichtete Amnesie kann vom Kontaktzeitpunkt aus rückwirkend in die Vergangenheit gerichtet das Ereignis selbst
oder die unmittelbare Zeitspanne davor (retrograde Amnesie) auslöschen, in die Zukunft vorauswirkend (anterograd) eine solche von maximal 24 Stunden hinterlassen (s. oben). In der auf die Bewusstlosigkeit von maximal 1 Stunde Dauer (häufig unter 15 Minuten) folgenden Periode werden verschiedene Stadien der Bewusstseinstrübung mit Desorientierung, Verwirrtheit, Unruhe, Konzentrationsund Gedächtnisstörung oder fehlender Krankheitseinsicht durchlaufen, die sich sukzessive, aber immer rasch auflösen. Auch Somnolenz oder Dämmerzustände sind möglich. Die sich an die Bewusstseinstrübung anschließende und bei weitgehend wiedererlangter Orientierung v. a. durch Gedächtnis- oder Konzentrationsmängel ge-
315 11.1 Schädel-Hirn-Trauma
zeichnete Phase wird auch als Durchgangssyndrom bezeichnet. In jedem Fall ist eine deutliche Rückbildungsdynamik erkennbar. Wenn nach Wiedererlangung des Bewusstseins eine erhebliche sekundäre Verschlechterung einsetzt, muss von einer Komplikation (s. unten) ausgegangen werden. Im Rahmen vegetativer Begleiterscheinungen, die übrigens auch bereits bei einer Schädelprellung auftreten können, kommt es nicht selten zu Übelkeit und Erbrechen. Unmittelbar an das Ereignis anschließende, natürlich erst nach Wiedererlangung des Erinnerungsvermögens berichtsfähige posttraumatische Kopfschmerzen sind die Regel, klingen aber meist sehr rasch ab.
weniger des Gedächtnisses, nachzuweisen sind, erfolgt eine vollständige Remission meist innerhalb von längstens 9 Monaten. Nach dem Abklingen der Symptomatik neu auftretende Beschwerden oder Ausfälle sind nicht als traumatisch bedingt zu werten.
Kommentar Da für die Einschätzung der Verletzungsschwere die Amnesiedauer, insbesondere diejenige der anterograden Amnesie, von außerordentlicher Bedeutung ist, weil sie am besten mit der Verletzungsschwere korreliert, hat die Exploration mit größter Akribie zu erfolgen.
Kommentar Grundsätzlich können dabei als posttraumatisch nur solche Kopfschmerzen anerkannt werden, die sich längstens innerhalb von 14 Tagen nach Wiedererwachen einstellen (s. unten).
Schließlich darf mit einer regelmäßigen und vollständigen Rückbildung und letztlich auch mit einer weitestgehenden subjektiven Beschwerdefreiheit gerechnet werden. Die Arbeitsunfähigkeit beträgt meist nur Tage bis Wochen, auch wenn ein subjektives Gefühl der verminderten geistigen Leistungsfähigkeit, das sich testpsychologisch nicht sicher objektivieren lässt, länger bestehen bleiben mag. Die American Academy of Neurology (AAN) empfiehlt bei Sportlern eine 2-wöchige Wettkampfpause. Rund 90% der Patienten mit leichtem SHT sind nach einem Jahr gänzlich beschwerdefrei. Nur rund 10% entwickeln einen längeranhaltenden posttraumatischen Beschwerdekomplex, der durch die Faktoren weibliches Geschlecht, anhängige Rechtsstreitigkeiten, niedriger sozioökonomischer Status, SHT in der Vorgeschichte, vorbestehende Kopfschmerzanamnese und ernsthafte zusätzliche unfallbedingte Verletzungen begünstigt wird. Selbst wenn in schwereren Fällen (Bewusstlosigkeit über 10 Minuten, Amnesiedauer über 4 Stunden) mit subtilen neuropsychologischen Methoden nach 3 Monaten noch leichte Einbußen, überwiegend im Bereich der Konzentration,
Dabei hat man sich zunächst nur auf die Eigenangaben des Patienten und nie auf dessen eventuelle Wiedergaben von Äußerungen aus zweiter Hand zu stützen, die separat zu erheben sind. Dabei ist wichtig zu wissen, dass die retrograde Amnesie regelhaft durchschnittlich um einen dreistelligen Faktor (nach einer jüngeren Untersuchung um bis zu 200-mal) kürzer ausfällt als die anterograde. Beide, die anterograde deutlich mehr als die retrograde Amnesie, schrumpfen mit zeitlichem Abstand vom Traumazeitpunkt, bis sie ein nicht mehr verringerungsfähiges Maß erreicht haben. Eine gegenläufige Entwicklung, d. h. eine Ausdehnung, ist organisch nicht begründbar. Diese hirntraumatologisch wichtigen und gesicherten Fakten sind in . Abb. 11.3 zusammengefasst. Auch bei längerer posttraumatischer Amnesie (PTA) kann die retrograde Amnesie so kurz sein, dass Ereignisse knapp vor dem Eintritt des Traumas noch erinnert werden. Eine gelegentlich angegebene rezidivierende anterograde Amnesie ist meist durch therapeutische Maßnahmen (Sedativa, Narkose) erklärbar. Natürlich müssen alle in der Amnesiephase einsetzenden und sie künstlich verlängernden Eingriffe beachtet werden. Insofern kann ein Unfallopfer mit einer mehrtägigen Amnesie ohne weiteres nur eine Commotio cerebri erlitten haben, wenn eine langanhaltende Narkose oder Hypnosedativa (z. B. Tranquillanzien) ein früheres Erwachen verhinderten.
. Abb. 11.3. Kontinuierliches prätraumatisches Erinnerungsvermögen. Die Wiederherstellung prämorbider Gedächtnisleistungen kann nach Abklingen der anterograden Amnesie noch einige Zeit andauern. Bei SHT II und III ist Defektbildung möglich
11
316
Kapitel 11 · Nervensystem
Mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma
1 2 3 4 5
Ein mittelschweres SHT ist anamnestisch durch eine Bewusstlosigkeit oder mindestens eine Bewusstseinstrübung von bis zu 24 Stunden gekennzeichnet, korrespondierend zu einem Notarzt-GCS-Wert von häufig zwischen 9 und 12–13. In jedem Fall beweist eine in morphologisch-bildgebenden Verfahren auftauchende, als eindeutig traumatisch zu wertende Verletzung ein mindestens mittelschweres SHT und schließt eine alleinige Commotio cerebri aus. In sehr seltenen Fällen, z. B. begünstigt durch eine gesteigerte Blutungsneigung, kann es auch zu Hirnblutungen und damit einer mittelschweren bis schweren Hirnverletzung (Contusio cerebri) ohne initiale Bewusstlosigkeit kommen (sog. Contusio sine commotione).
6 Kommentar
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Eine gutacherlich diffizile Fragestellung ist, ob bei nachgewiesener Gehirnblutung diese als primäres Ereignis den Sturz verursachte, oder ob dieser Sturz eine Hirnblutung nach sich zog.
Für letztere Annahme sprechen mit der Kontusionslokalisation übereinstimmende äußere Verletzungszeichen, eine den Aufprall auslöschende Erinnerungslücke, multiple und/oder »aufblühende« hämorrhagische Herde, die sich nicht scharf gegen die Umgebung abgrenzen, Contre-coup-Herde und ein fehlendes vaskuläres Risikoprofil. Für eine primär hämorrhagische oder Rhexisblutung sprechen daneben eine große solitäre weitgehend homogene Hämorrhagie, ein Ventrikeleinbruch, Gefäßmissbildungen, ein sofortiges Sichtbarwerden des gesamten Blutungsausmaßes, fehlende Bewusstlosigkeit, eine strikt einseitige Symptomatik und frühere ähnliche Ereignisse. Auch hier ist – wie fast stets – eine Fremdanamnese sehr hilfreich. Das mittelschwere SHT zeigt in gut einem Drittel aller Fälle nach 3 Monaten und in gut zwei Drittel aller Fälle nach einem halben Jahr ein günstiges Ergebnis, jedoch treten ungünstigere Verläufe mit einem Defektsyndrom mit mäßiggradiger Veränderung bei rund einem Viertel der Patienten auf. 7% münden in eine schwere Behinderung und 7% in ein apallisches Syndrom oder den Tod.
Schweres Schädel-Hirn-Trauma Ein schweres SHT liegt dann vor, wenn die initiale Bewusstlosigkeit oder Bewusstseinstrübung bzw. posttraumatische Psychose länger als 24 Stunden anhalten. Sofern ein eindeutiges Hirnstammsyndrom vorliegt, wird dieser Schweregrad auch diagnostiziert, wenn sich Bewusstlosigkeit oder Bewusstseinstrübung vor Ablauf von 24 Stunden zurückbilden. Der initial beobachtbare GCS-Wert liegt meist unterhalb von 9 (3–8).
Diese Schweregrade beinhalten in aller Regel eine mit makroskopischen Methoden nachweisbare strukturelle Hirnverletzung (z. B. Dichteminderung oder Blutungsherd im CCT). Sie differenzieren die nach älterer Nomenklatur sog. Hirnquetschung (Contusio cerebri). Das schwere SHT hat eine noch schlechtere Prognose als das mittelschwere SHT: Die Mortalität liegt hier bei rund einem Drittel, wobei sich eine deutliche Schere zwischen den günstigeren Verläufen jüngerer Patienten und den schlechteren älterer Patienten auftut. Alle diese Patienten bedürfen einer stationären Behandlung. Im Rückbildungsverlauf werden sehr häufig psychopathologische Besonderheiten beschrieben, die in Verwirrtheit, Unruhe, fehlender Krankheitseinsicht, herabgesetztem Kritikvermögen, Antriebsminderung oder -steigerung und wahnhaften Episoden bestehen können. Nach deren Abklingen treten oft zentrale Herdsymptome fassbar hervor. Besonders komplikationsträchtig sind Alkoholiker oder Patienten mit aus therapeutischen oder internen Gründen herabgesetztem Gerinnungsvermögen. In diesen Fällen ist auch bei einem SHT I eine stationäre Überwachung für einen bis wenige Tag(e) indiziert. Hirnnervenstörungen oder Ausfälle der peripheren Sinnesorgane inklusive des Gleichgewichtsorgans (z. B. paroxysmaler peripherer Lagerungsschwindel) dürfen nicht irrtümlich als Beleg einer zentralnervösen oder gar Hirnstammläsion gewertet werden. > Grundsätzlich gilt, dass zentralvestibuläre Ausfälle, wie sie manchmal nach neurootologischen Untersuchungen behauptet werden, ohne begleitende Neurologie nicht denkbar sind.
11.1.3 Fragen zum Zusammenhang
Meist ist die Ereigniskette 5 Trauma 5 traumatische Hirnschädigung 5 funktionelle Schädigungsfolgen so evident, dass keine vernünftigen Zweifel an der Ursächlichkeit bestehen. Schwieriger wird die Situation da, wo Erinnerungslücken durch Narkosen verlängert, Sekundärschäden durch operative Eingriffe gesetzt und vorbestehende, aber nicht immer bekannte Erkrankungen wirksam werden. Typisch ist jedenfalls ein Symptommaximum im Zeitpunkt des Traumas mit einem umgekehrt exponentiellen Abklingen (Decrescendo) bis zur Symptomfreiheit oder einem nicht mehr besserungsfähigen Defekt. > Eine Zunahme von Symptomen im Verlauf spricht dezidiert gegen einen ursächlichen Zusammenhang und weist häufig auf eine somatoforme Störung oder ein hirndegeneratives Leiden hin. Letztere – wie z. B. ein Morbus Alzheimer – können jedoch unter bestimmten
317 11.1 Schädel-Hirn-Trauma
Umständen und nach schweren Traumata in ihrem Verlauf akzentuiert werden.
Nicht leicht zu beantworten ist manchmal die Frage, ob ein primäres Trauma eine intrakranielle Blutung ausgelöst hat oder ob eine Hirnblutung Anlass zu einem Sturz mit nachfolgendem SHT war. Hier sind Multiplizität der Hämorrhagien, deren Dichte, Lokalisation, begleitende zerebrale Veränderungen und Erkrankungen zu berücksichtigen.
Komplikationen Hier sind v. a. intrakranielle extrazerebrale (epidurale und subdurale) Hämatome, posttraumatische Epilepsien, Meningitiden nach offenen Hirnverletzungen, Hirnembolien (Fettembolien), Pneumatozelen, Gefäßverletzungen, Liquorzirkulationsstörungen und Hydrocephali (häufig nach traumatischer SAB) zu erwähnen. Extrazerebrale intrakranielle Blutungen können einen zweizeitigen Schädigungsverlauf induzieren. Nach einem freien Intervall mit partieller oder vollständiger Wiedererlangung des Bewusstseins kann eine sekundäre Eintrübung oder ein progredientes fokal-neurologisches Defizit auftreten. Posttraumatische epileptische Anfälle treten oft in den ersten Tagen nach der Verletzung, zu 80% innerhalb von 2 Jahren nach dem Ereignis, auf und setzen stets eine Contusio cerebri als Mindestschädigungsgrad voraus.
Posttraumatische Kopfschmerzen Kopfschmerzen sind bemerkenswerterweise nach leichteren SHT häufiger als nach schwereren, was u. a. damit zusammenhängen dürfte, dass 5 bei leichten SHT das Trauma vollständiger miterlebt wird, 5 sich Verletzungen nozizeptiver Strukturen während einer längeren Bewusstlosigkeitsphase bessern können, sodass sie beim Wiedererwachen bereits in Remission sind, und 5 schwerere SHT mit einer größeren Indolenz und verminderten Krankheitswahrnehmung verbunden sind. In jedem Fall ist sorgsam nach prätraumatischen Kopfschmerzen zu fahnden, die auch durch ärztliche Unterlagen und fremdanamnestische Auskünfte zu untermauern sind. Mitunter wird – manchmal sogar in gutem Glauben – behauptet, man habe vor der Verletzung keine Kopfschmerzen gekannt, obwohl dies nicht den Tatsachen entspricht. Eine Migräne ist ein konstitutionelles Leiden mit einer erheblichen genetischen Komponente, das durch ein Trauma nicht verursacht, sondern nur getriggert, verschlimmert oder erstmalig ausgelöst werden kann. Anders Spannungskopfschmerzen, die in abklingender Form häufig einem Schädel-Hirn-Trauma folgen. Chronischen Spannungskopfschmerzen eignet so gut wie immer eine psychische Komponente als wesentliche Teilur-
sache. Da es sich hierbei um eine der am dürftigsten definierten Kopfschmerzformen handelt, ist bei der Bewertung größte Zurückhaltung geboten, zumal die Diagnose nicht objektiviert werden kann, sondern ausschließlich auf den Angaben des Verletzten gründet. Zu achten ist auch auf die Möglichkeit pharmakainduzierter Kopfschmerzen, zumal bei längerfristiger Einnahme von Mischpräparaten. Zervikogene Kopfschmerzen sensu stricto sind dagegen bemerkenswert selten. Ohne weiteres verständlich und ableitbar sind neben unmittelbar verletzungsbedingten Schmerzen, etwa nach einer Kopfplatzwunde oder einem Schädelbruch, Schmerzen nach Durazerreißungen oder zentrale (thalamische) Schmerzen nach entsprechend gelagerten tiefen – v. a. thalamischen – Hirnverletzungen. Während diese sich typischerweise mit einer Latenz von Tagen, Wochen oder Monaten manifestieren, gilt für die anderen Formen der erwähnte Grundsatz, dass eine Verknüpfung mit dem Trauma nur in Frage kommt, wenn sie im unmittelbaren Anschluss an das Ereignis, längstens innerhalb von 2 Wochen nach Wiedererlangen des Bewusstseins, berichtet werden.
11.1.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Berufsgenossenschaften Das SHT ist nicht als Berufskrankheit anerkannt. Es werden aber Begutachtungen im Rahmen von BG-Verfahren bei Wege- und Arbeitsunfällen verlangt. Der evtl. traumatisch verursachte Anteil an einer Gesamtbehinderung muss in diesen Fällen sorgfältig abgeschätzt werden.
Gesetzliche Unfall- und Rentenversicherung Hier ist in erster Linie nach der Erwerbsunfähigkeit gefragt. Bei der Begutachtung für die großen Rentenversicherungen (BfA, LVA, berufsständisch orientierte RV-Träger) können verschiedene Einschränkungen hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit geltend gemacht und die Tätigkeit zeitlich gestaffelt werden. Die aktuelle Arbeitsmarktlage bleibt dabei unberücksichtigt. Voraussetzung für die Feststellung einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit ist, dass die Rehabilitationsmaßnahmen ausgeschöpft wurden und seit dem Trauma eine Frist von 3 Jahren verstrichen ist. Erwerbsunfähigkeit leitet sich häufiger aus hirnorganischen als aus körperlich-neurologischen Verletzungsfolgen her, was die Bedeutung einer detaillierten Erfassung des psychologischen Status und des neuropsychologischen Bereichs unterstreicht. Eine hochgradige Verlangsamung, Umstellungserschwerung, Gedächtnis- und Sprachstörungen können eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben auch bei sonst normalem Neurostatus verunmöglichen. Die Bewertungstabellen hinsichtlich GdB/MdE bei Schädel-Hirn-Trauma sind in . Tab. 11.3 zusammengefasst.
11
318
1
Kapitel 11 · Nervensystem
. Tab. 11.3. GdB/MdE bei Schädel-Hirn-Trauma Gehirnschaden
Gesetzliche Unfallversicherung
Soziales Entschädigungsrecht
Vegetative Funktionsstörungen
10–30
≤30
Synkopale Anfälle
20–40
≤40
5 leicht
10–30
30–40
20–35
5 mittelgradig
40–50
50–60
50
5 schwer
60–100
70–100
70–80
2 3
GdB/MdE Private Unfallversicherung
Organisches Psychosyndrom
4 5 6 7 8
Organische Wesensänderung 5 leicht
10–20
≤30
≤20
5 mittelgradig
30–50
50–60
40
5 schwer
60–100
70–100
≤90
5 leicht
30
30
5 mittelgradig
50
Nach Gliedertaxe
5 schwer
50
Nach Gliedertaxe
5 klein, mehrfach groß
30
40
5 groß in Monatsabständen, kleine wöchentlich
≤40
50–60
5 groß wöchentlich, klein täglich
50–100
60–100
5 leicht bis mittelgradig
20–40
30–50
5 schwer bis hochgradig
50–100
60–100
5 leicht, Restaphasie
10–30
30–40
5 mittelgradig (Broca, Wernicke, leicht global)
30–70
50–80
5 schwer (schwer global)
70–100
80–100
Agnosie, Apraxie, Akalkulie u. a.
Individuell
analog zu
Aphasien
Posttraumatische Belastungsstörung
0–40
Sprechstörungen, Recurrenslähmung einseitig
10–20
0–30 (Aphonie 50)
5–20
Recurrenslähmung doppelseitig
30–50
20–30 (Kanüle 50)
15–25
Hemianopsie
20–40
20–40
15–60
Posttraumatische Kopfschmerzen, häufig und schwer
0–50
Lähmungen (Hemiparese)
Epileptische Anfällen
9 10 11
Zerebelläre Schäden, sensomotorische Störungen
Aphasien
12 13 14 15 16 17
11.1.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
18
Unfallversicherung, Lebensversicherung, Schwerbehindertengesetz
19 20
Die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung ist dann gegeben, wenn der unfallbringende Vorgang zu einem körperlich schädigenden Ereignis führte (haftungsbegründende Kausalität), das den Körperschaden bewirkte oder eine Verschlimmerung zur Folge hatte (haf-
tungsausfüllende Kausalität). In der privaten Unfallversicherung wird nach dem Grad der Invalidität gefragt, der nach der sog. Gliedertaxe bemessen wird. Für den Zusammenhang zwischen Schädigungsereignis und Gesundheitsschädigung ist die Adäquanztheorie maßgeblich, wonach die Bedingung im Allgemeinen geeignet war, den Gesundheitsschaden herbeizuführen. Im Einzelfall ist die schwierige Entscheidung zu treffen, ob psychische Störungen (im Sinne eines organischen
319 11.1 Schädel-Hirn-Trauma
Psychosyndroms) von einer organischen Hirnschädigung oder einer nichtorganisch (funktionell) bedingten psychischen Reaktion herrühren. Hirngeschädigte mit Reststörungen oder bleibenden psychopathologischen Ausfällen und Leistungsminderungen können über das Schwerbehindertengesetz eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben erreichen oder einen erleichterten Zugang hierzu finden. Die sonst maßgebliche Gliedertaxe ist für die Beurteilung von Schädel-Hirn-Traumata nicht vorgesehen. Deshalb ist für die Bewertung der Funktionseinschränkung die dauerhafte Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit ausschlaggebend. Maßgeblich hierfür sind die ärztlichen Befunde, nicht, wie in der Sozialversicherung, die GdB/MdE-Tabellen. In der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) oder Berufsunfähigkeitsversicherung (BV) wird ein Bezug zwischen dem Restleistungsvemögen und der in gesunden Tagen ausgeübten Tätigkeit hergestellt. Ist der Versicherte 6 Monate vollständig oder teilweise (= Grad der Einschränkung des beruflichen Restleistungsvermögens) außerstande gewesen, seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit oder einem der Lebensstellung gleichwertigen Beruf nachzugehen, so gilt die Fortdauer dieses Zustandes als vollständige oder teilweise Berufsunfähigkeit. Ein Anspruch auf Leistungen entsteht in der Regel dann, wenn eine Berufsunfähigkeit von mindestens 50% erreicht wird.
11.1.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Fahrereignung Für Hirnverletzungen gelten die Einschränkungen zur Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr, wie sie in den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (2000) niedergelegt sind. Hierzu werden die Fahrerlaubnisklassen in zwei Gruppen eingeteilt. Gruppe 1 sind die Führer von Fahrzeugen der Klassen A1, B, BE, M, L und T, Gruppe 2 die Führer von Fahrzeugen der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, D1E und in der Fahrgastbeförderung Tätige (7 Anhang). In diesen Richtlinien heißt es in 7 Kap. 3.9.5:
»
Wer eine Schädelhirnverletzung erlitt … ist im allgemeinen für die Dauer von 3 Monaten nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden. Eine Ausnahme gilt für Schädelhirnverletzungen, wenn durch eine nervenärztliche/neurologische Untersuchung der Nachweis erbracht wird, dass hirnorganische Leistungsstörungen im Sinne des Kapitels 3.10.2 (Demenz und organische Persönlichkeitsveränderungen) nicht oder nicht mehr feststellbar sind. Auch wer unter persistierenden epileptischen Anfällen oder anderen anfallsartig auftretenden Bewusstseinsstörungen leidet, ist in der Regel nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden, solange ein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven besteht (Kap. 3.9.6).
«
Natürlich sind auch an Piloten und Kapitäne besonders hohe Anforderungen zu stellen. Umschriebene neurologische Syndrome wie Neglect, Hemianopsie oder Aphasie können die Teilnahme am Straßenverkehr ausschließen. > Im Zweifelsfall ist ein ausreichend langer kritisch und kontinuierlich überwachter Fahrversuch geboten.
Beamtenrecht und öffentlicher Dienst Auftraggeber ist der Dienstherr des Beamten. Das Beamtenrecht stellt besondere hohe Anforderungen an die Belastbarkeit und Gesundheit des Bewerbers. Es kommt also hier besonders auf den Grad der funktionellen Einschränkung oder deren Prognose an. Erfahrungsgemäß spielen psychische Belastbarkeit und Zuverlässigkeit eine große Rolle, die manchmal eine psychiatrische Beurteilung – auch im Hinblick auf posttraumatische Persönlichkeitsstörungen – erforderlich macht. Dienstunfähigkeit kann bereits bei entsprechend kritisch gelagerten und auf den ersten Blick scheinbar geringfügigen Störungen vorliegen.
Wehrdienst Bei den hohen Anforderungen an kognitive Leistungsfähigkeiten und körperliches Einsatzvermögen werden oft bereits mittelschwere SHT zu Einschränkungen der Wehrtauglichkeit oder gar zur Wehruntauglichkeit führen. Eine einmalige Commotio reicht hierzu aber grundsätzlich nicht aus. Anderes gilt nur für die auch aus dem Sport (Boxsport) bekannte Möglichkeit einer sukzessiven Summierung der Folgen zahlreicher wiederholter Commotiones in kürzerem Abstand und der Ausbildung einer Encephalopathia pugilistica.
11.1.7 Risikobeurteilung
Prognosekriterien Die gutachterliche Praxis zeigt, dass SHT von Nichtfachleuten und Nichtfachärzten häufiger als gravierender denn als leichter eingeschätzt werden. So liest man nicht selten von einer Commotio cerebri, wenn eine Schädelprellung vorgelegen hat, und einer Contusio cerebri bei Commotio cerebri. Einstellung und Haltung des Verletzten und der maßgeblichen Therapeuten sowie deren Aufklärung können je nach Objektivität und Adäquanz das subjektive Beschwerdebild wesentlich beeinflussen. Aber auch juristische Probleme und persönliche Querelen vermögen das Ergebnis zu modulieren. Nachdem der initiale Schweregrad von entscheidender Bedeutung ist – auch zur Bewertung etwaiger später erhobener und nicht immer zutreffender Behauptungen –, sollte man es sich zur Regel machen, die gesamten Krankenunterlagen des oder der Erstversorger(s) einschließlich des Notarzteinsatzprotokolls (s. oben) genauestens
11
320
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 11 · Nervensystem
zu studieren. Während in der Akutphase Bewusstseinslage, Motorik, Hirnstammreflexe und vegetative Symptome ausschlaggebend sind, sind in der chronischen oder Remissionsphase psychische Besonderheiten (organisches Psychosyndrom) und neurologische Herdsymptome führend. Eine unkomplizierte Schädelprellung schließt dauerhafte Schäden am Nervensystem zuverlässig aus. Nach einem einmaligen leichten SHT (Commotio cerebri) ist grundsätzlich mit einer schließlich vollständigen Erholung zu rechnen. Das Gros der Besserung bei schwereren Verletzungsgraden stellt sich meist in den ersten 6 Monaten oder früher ein; nach 2 Jahren werden nennenswerte Änderungen kaum noch registriert, obgleich sie bei Jüngeren noch vorkommen. Nach 3 Jahren sind sie nicht mehr zu erwarten (von der seltenen Möglichkeit einer Spätepilepsie abgesehen). Zuversichtlich stimmt, dass selbst nach schwerem Schädel-Hirn-Trauma bis zu 75% der Überlebenden wieder einem Beruf nachgehen können.
8 11.1.8 Verbesserung der Prognose durch
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Rehabilitation SHT ab dem Schweregrad II (Contusio) sind nach der Akutbehandlung nicht selten rehabilitationsbedürftig (Schönle 2005). Häufige Probleme sind Vergesslichkeit, Verlangsamung, Reizbarkeit, Antriebsminderung, Persönlichkeitsänderungen und emotionale Probleme. Voraussetzung einer erfolgreichen Rehabilitation ist eine gründliche neurologische, neuropsychologische und ggf. psychiatrische Untersuchung (Assessment BAR 1998) als Voraussetzung einer Formulierung realistischer Therapieziele (Teilhabeplan, SGB IX). Dabei ist auf die besonderen Erfordernisse abzustellen, die Alter, Beruf, soziale und Interessenslage im Einzelfall stellen. Erfolgversprechend sind v. a. Ansätze, die eine hohe Therapieintensität mit einer ausreichenden Therapiedauer – ggf. in Blöcken zusammengefasst – und einem multimodalen und interdisziplinären Konzept integrieren. Phase B widmet sich v. a. der Vitalkompetenz und den Basisfunktionen, Phase C der Alltagskompetenz, die Phasen D und E der Berufskompetenz und Phase F der Aufrechterhaltung des einmal erzielten Status. Erfahrungsgemäß treten im Verlauf psychische und soziale Probleme in den Vordergrund, wobei die Belastung der Angehörigen, die oft ebenfalls einer Betreuung bedürfen, eher zunimmt. Während in der Akutsituation Alter, Motorik und Pupillenreaktion die größte Aussagekraft besitzen, lassen sich Fähigkeitsstörungen und Störungen der Teilhabe nur begrenzt anhand von v. a. neuropsychologischen Daten vorhersagen. Multimodal evozierte Potenziale (AEP, VEP, SEP) haben bei pathologischem Ausfall in der Frühphase einen relativ hohen negativen Aussagewert; ereigniskorre-
lierte Potenziale können diese Diagnostik positiv ergänzen. > Da alle prognostischen Parameter sowohl falsch positive wie falsch negative Voraussagen machen können, dürfen sie nicht allein für die Entscheidung über lebenswichtige Behandlungsmaßnahmen herangezogen werden.
Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass frühzeitig einsetzende und syndromadäquate Rehabilitationsprogramme sowohl effektiv wie Kosten-Nutzen-effizient sind (Mammi et al. 2006).
11.1.9 Sonderfragen
Betreuungsrecht (Geschäftsfähigkeit nach § 104 BGB Abs. 2) Sind Hirnleistungs- oder Persönlichkeitsveränderungen geblieben, die die eigenverantwortliche Ausübung bestimmter Bereiche des täglichen Lebens einschränken, so sind mit Zustimmung des Betroffenen Betreuungen einzurichten, die sich entweder auf alle Belange oder auf Teilbereiche wie Finanzen, Aufenthaltsbestimmung etc. erstrecken können. Im Zweifelsfall ist das Vormundschaftsgericht einzuschalten.
Schlichtungsstellen Im Gegensatz zu anderen Gesundheitsschäden gelangen SHT selten in dieses Verfahren. Behandlungsfehler könnten evtl. über eine unterlassene oder mangelhaft ausgeführte Überwachung und die Nichterkennung von Komplikationen entstehen.
Beispiel Fall eines Alkoholikers mit Schädel-Hirn-Trauma vor der Schlichtungsstelle Typisches Beispiel für ein SHT, das vor der Schlichtungsstelle zu entscheiden ist, ist die Commotio cerebri eines Alkoholikers durch einen epileptischen (Entzugs-)Anfall, der wegen einer erhöhten Blutungsneigung von einem intrakraniellen Hämatom gefolgt wird, das operationspflichtig wird. Aufklärungsfehler treten demgegenüber ganz in den Hintergrund, da der Patient initial nicht aufklärbar ist und in aller Regel im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) gehandelt werden muss.
Krankenversicherung Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit beträgt beim leichten SHT in der Regel Tage bis wenige Wochen, bei mittelschweren Wochen bis Monate. Bei schweren und schwersten SHT, die eine permanente Arbeitsunfähigkeit
321 11.2 Schlaganfall
zur Folge haben können, erhebt sich die Frage nach der Dauer der Krankenhausbehandlungsnotwendigkeit im Sinne von SGB V § 27 und 39.
Strafrecht Ausgeprägte traumatische Wesensveränderungen, insbesondere eine erhebliche Reizbarkeit oder Explosivität, vermögen zwar weniger die Einsichtsfähigkeit, sehr wohl aber die Steuerungsfähigkeit so weit zu beeinträchtigen, dass eine verminderte, in Extremfällen sogar aufgehobene Schuldfähigkeit bejaht werden wird (§§ 20 und 21 StGB). Dies betrifft aber nur eine kleinere Risikogruppe; insgesamt stehen Hirnverletzte nicht häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt vor Gericht. Bei Verkehrsstrafsachen kann die Frage auftauchen, ob ein Dämmerzustand vorgelegen hat, d. h. ob die Tat in einer psychischen Ausnahmesituation oder wissentlich begangen wurde. Nach Art des Ablaufs und der Amnesie ist in der Regel eine Unterscheidung möglich.
11.2
onsgewichteten Aufnahmen erlaubt sogar eine Prognoseabschätzung und eine Entscheidung darüber, ob eine Lysetherapie sinnvoll ist. Dies wird man bejahen, wenn ein sog. »mismatch« besteht, d. h. wenn das Perfusionsdefizit deutlich größer ist als das Diffusionsdefizit. Mit beiden Methoden gelingt auch eine Darstellung des Gefäßbaumes inklusive eventueller Dissektionen, womit manchmal eine invasive Darstellung (Angiographie) umgangen werden kann. Kontrastmittel können in beiden Fällen die Aussagekraft erhöhen. Bezüglich des Nachweises von Gefäßmissbildungen, Sinusvenenthrombose (SVT) und Läsionen im infratentoriellen Bereich ist die MRT der CT überlegen. Jene erfordert aber neben höheren Kosten auch eine längere Untersuchungszeit und einen größeren logistischen Aufwand. Die Bilder sollten, wo immer möglich, vom Gutachter persönlich eingesehen und beurteilt werden; nicht selten liefert auch der zeitliche Verlauf wertvolle Aufschlüsse. Fehlende Aufnahmen können im Bedarfsfall, da nichtinvasiv, nachgeholt werden.
Schlaganfall Kommentar
C.J.G. Lang Schlaganfälle als gefäßabhängige akute Hirnschädigungen und dritthäufigste Todesursache sind in Deutschland für rund 150.000 Neuerkrankungen pro Jahr und 1 Million Betroffene verantwortlich, stehen aber weit seltener zur Begutachtung an als Schädel-Hirn-Traumata. An erster Stelle rangieren Hirninfarkte (HI; 77%), gefolgt von intrazerebralen Blutungen (IZB; 17%) und Subarachnoidalblutungen (SAB; 6%), wobei Hirnvenenthrombosen (HVT) mit einer Inzidenz von etwa 1 : 100.000 noch nicht inbegriffen sind, die einige weitere Prozente (2–4%) ausmachen.
11.2.1 Diagnostik
Die Behandlung eines Schlaganfalls in einer Einrichtung, die nicht über die Möglichkeit einer zerebralen Bildgebung verfügt, ist heute nicht mehr zeitgemäß und nur noch zu vertreten, wenn keine Alternative erreichbar ist. Inzwischen bieten sich zahlreiche sog. Stroke Units (Schlaganfallstationen) an, die hierfür apparativ und personell optimal ausgestattet sind. Meist wird man zunächst ein kraniales Computertomogramm anfertigen, das IZB sofort, auch größere SAB, HVT zu 80% und HI mit einer Verzögerung von rund 4– 48 Stunden anzeigt. Noch aussagekräftiger ist die Kernspinresonanztomographie (MRT), die inzwischen praktisch allen Aspekten gerecht werden kann, die in Zusammenhang mit Schlaganfällen relevant sind (Jansen et al. 2002). Der Vergleich diffusionsgewichteter mit perfusi-
Gutachterlich wichtig ist, dass der begründete Verdacht auf eine SAB ohne Nachweis im CCT oder MRT zu einer Lumbalpunktion und im positiven Fall zu einer Angiographie zwingt.
Die Röntgenangiographie mit Kontrastmitteln ist auch heute noch dann erforderlich, wenn nach einem sonst nicht oder ungenügend darstellbaren Aneurysma oder andersartigen Gefäßmissbildungen gesucht wird, bei zweifelhaften HVT, evtl. bei Dissektionen und zunehmend bei der lokalen Thrombolyse, wo bei liegendem (Seldinger)Katheter nach dem Kontrastmittel gleich das Lysemittel (rt-PA, rekombinierter Gewebsplasminaktivator) gegeben werden kann, sofern nicht eine systemische intravenöse Lyse in Frage kommt. Invasive Verfahren sind im Rahmen gutachterlicher Fragestellungen nicht duldungspflichtig. Ultraschalluntersuchungen (Dopplersonographie) im direktionalen und im bildgebenden (B-) Modus, häufig auch kombiniert in Form einer bildgebenden Farbduplexsonographie, dienen zur beliebig oft wiederholbaren nichtinvasiven Darstellung von Stenosen und Verschlüssen größerer extra- wie intrakranieller Gefäße und zum Nachweis von Spasmen oder zur Verlaufskontrolle von Dissektionen. Sie können in einigen Fällen die Angiographie ersetzen. Die Darstellung von kardialen Embolien, »high intensity transient signals« (HITS), z. B. als Hinweis auf ein persistierendes Foramen ovale oder eine kardiale Emboliequelle, sind weitere Einsatzgebiete. Das EEG hat viel von seiner früheren Bedeutung verloren und wird in diesem Zusammenhang eigentlich nur noch zum sehr frühen Herdnachweis (beispielsweise im
11
322
1
Kapitel 11 · Nervensystem
Rahmen einer Migräne mit Aura) oder zur Abschätzung einer epileptischen Anfallsneigung herangezogen.
2
> Alle elektrophysiologischen Verfahren sind grundsätzlich ätiologieunspezifisch und ungeeignet, morphologische Befunde zu liefern.
3
Skalen
4 5 6 7 8 9 10
Für die Bewertung des funktionalen Defizits nach Schlaganfall hat sich der Barthel-Index (BI) eingebürgert (. Tab. 11.4), der 10 Funktionen des täglichen Lebens einschließlich Kontinenz umfasst und diese mit Punktzahlen zwischen 0 (schwer beeinträchtigt) und 100 (ungestört) bewertet. Er wird auch zur Beurteilung des Rehabilitationsergebnisses verwendet. Dieser Index bildet allerdings kognitive und andere psychische Funktionen nicht ab und ist insofern einseitig. Das funktionelle Defizit kann nach dem BI oder anderen geeigneten Skalen bewertet werden (National Institutes of Health Stroke Scale NIHSS, Rankin-Skala; Masur 2000). Häufig sind Hemiparese, Gesichtsfeldeinschränkungen, Aphasien, andere neuropsychologische Störungen, v. a. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen im Rahmen eines organischen Psychosyndroms, Ataxie, Schluckstörung, Dysarthrophonie, aber gelegentlich auch Sphinkterstörungen, zentrale Schmerzen oder epileptische Anfälle anzutreffen.
11
11.2.2 Krankheitsdefinition
12
Schlaganfall Schlaganfalltypen und ihre Ätiopathogenese
13 14
Die Zusammenfassung gefäßabhängiger Hirnerkrankungen als »Schlaganfall« hat sich erst wieder unter dem Einfluss
der angloamerikanischen Rubrik »Stroke« eingebürgert. Im Grunde handelt es sich um ätiopathogenetisch unterschiedliche Erkrankungen mit wiederum unterschiedlichem Verlauf und unterschiedlicher Prognose (7 Kap. 11.2.8), denen nur die Herkunft aus dem Gefäßsystem und damit ein relativ plötzlicher – schlagartiger (»Apoplexie«) – Beginn gemeinsam sind. Betroffen sind Menschen höheren Lebensalters (HI und IZB), während SAB und HVT nicht selten auch jüngere Erwachsene betreffen. Die wichtigsten Risikofaktoren sind Hypertonie, Rauchen, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Dyskrasien (Hyperfibrinogenämie, Hämatokriterhöhung, Polyzythämie), Herzerkrankungen (absolute Arrhythmie bei Vorhofflimmern), Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, Adipositas, genetische Veranlagung (Protein-C- und -S-Mangel, Antithrombin-III-Mangel), orale Kontrazeptiva und Alter. Auch eine asymptomatische hochgradige Gefäßstenose und vorausgegangene transitorisch-ischämische Attacken erhöhen natürlich das Infarktrisiko. Häufige Ursachen vaskulär bedingter Hirnschädigungen sind in . Tab. 11.5 zusammengefasst. Hirninfarkt
Das Gehirn als sehr stoffwechselaktives Organ macht zwar nur ca. 2% des Körpergewichts aus, verbraucht aber rund 20% des Herzminutenvolumens. Sein praktisch ausschließliches Nährsubstrat ist Glukose, wovon es normalerweise 29–32 μmol/100 g/min verbraucht. Eine Unterbrechung der Blutzirkulation für nur 30 Sekunden führt bereits zu einer Störung des Hirnmetabolismus. Nach rund 3 Minuten wird eine Kaskade schädigender Ereignisse angestoßen, die zum irreversiblen Gewebsuntergang führt, wenn nicht die Noxe aufgehoben oder über Umgehungskreisläufe, Auflösung eines frischen Thrombus etc. für eine Unterbrechung gesorgt wird.
. Tab. 11.4. Barthel-Index zur Beurteilung des funktionalen Defizits nach Schlaganfall. (Nach Masur 2000) Tätigkeit (ADL)
Mit Hilfe
Selbstständig
1.
Essen (inklusive Schneiden der Nahrung)
5
10
2.
Bett/(Roll-) Stuhltransfer (inklusive Aufsitzen)
5–10
15
16
3.
Körperpflege (Waschen, Kämmen, Rasieren, Zähne putzen)
0
5
4.
Toilette benutzen (inklusive Freimachen, Abputzen, Spülen)
5
10
17
5.
Baden
0
5
6.
Gehen bzw. Rollstuhlfahren auf Flurebene
10
15
7.
Treppensteigen
5
10
8.
An- und Auskleiden (inklusive Schuhe zubinden, Veschlüsse befestigen)
5
10
9.
Stuhlkontrolle (gelegentliche Inkontinenz, einmal/Woche)
5
10
10.
Urinkontrolle (gelegentliche Inkontinenz, maximal einmal/Tag)
5
10
45–50
100
15
18 19 20
Mögliche Gesamtpunktzahl
323 11.2 Schlaganfall
. Tab. 11.5. Häufige Ursachen vaskulär bedingter Hirnschädigungen Hirnschädigung
Ursachen
Hirninfarkt
5 Kardial-embolisch 5 Arteriosklerotisch – thromboembolisch (Gefäß zu Gefäß) – stenotisch (Einengung bis Verschluss; Makro- und Mikroangiopathie) 5 Dissektion (subintimale Einblutung) 5 Vaskulitis 5 Andere degenerative Gefäßwandschäden (z. B. kongophile Angiopathie) 5 Koagulopathie 5 Vasospasmen (selten Migräne) 5 Unbekannt (kryptogen)
Hirnblutung
5 Hypertonus (Rhexis) 5 Amyloidangiopathie (erworbene Gefäßwandschwäche) 5 Gefäßmissbildungen (Angiome, AVMissbildungen, Aneurysmen) 5 Subarachnoidalblutung 5 Aneurysmen
Hirnvenenund Sinusthrombose
5 Bei besonderen prädisponierenden Faktoren: – Schwangerschaft – entzündlich – Koagulopathie
Es kommt zum Versagen der Natrium-KaliumPumpe, zur Depolarisation der Nervenzellmembran, der Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter und zur Öffnung von Kalziumkanälen, die ihrerseits schädigend wirkt. Am Ende kann der Zelltod im Kerngebiet der gestörten Gefäßregion stehen. Dieses ist vom sog. ischämischen Halbschatten (»ischemic penumb-
ra«) umgeben, in dem es zur Störung des Funktions- , nicht jedoch des Strukturstoffwechsels kommt (<50% der Perfusion). Tritt der Infarkt ein (<15–20% der Perfusion), kommt es zur Erweichung (Malazie) und schließlich Verflüssigung des Hirngewebes (Liquefaktionsnekrose). Ein HI im Frühstadium kann sekundär hämorrhagisch transformiert werden. Die Ausdehnung der Malazie kann eines oder mehrere Gefäßterritorien widerspiegeln (. Abb. 11.4), und zwar umso vollständiger, je weniger Kompensationsmöglichkeiten bestehen (Umgehungskreisläufe, penetrierende kortikale Arterien), sodass Infarkte durch Verschlüsse von großen intrazerebralen Gefäßstämmen und funktionellen Endarterien sich besonders deletär auswirken. Die klinische Symptomatik richtet sich nach dem betroffenen Gefäßterritorium und tritt rasch, innerhalb von Sekunden bis Minuten auf. Nur selten entwickelt sich ein progredienter ischämischer Insult über Stunden bis wenige Tage. Die Symptomatik kann also zunehmen, remittieren und rezidivieren. Bildet sich die Symptomatik innerhalb von 24 Stunden vollständig zurück, spricht man von transitorisch-(vorübergehend) ischämischen Attacken (TIA), danach vom reversiblen ischämischen Defizit (RIND), schließlich vom vollendeten Infarkt. Dies bedeutet aber nicht, dass bei einer TIA regelmäßig kein Infarkt in morphologisch bildgebenden Verfahren zu sehen wäre oder in jedem Fall eines vollendeten Infarktes ein sichtbares Korrelat vorliegen müsste. Nach einer Statistik der Northern Manhattan Stroke Study 1993–1997 liegen folgende Ursachen einem Hirninfarktgeschehen zugrunde: 41% nicht definiert, 21% kardioembolisch, 19% lakunär, 7% intrakranielle Arteriosklerose, 7% extrakranielle Arteriosklerose, 3% mehrere der genannten Ursachen, 2% andere definierte Ursachen.
. Abb. 11.4a,b. Kraniale Computertomogramme eines Patienten mit frühen Infarktzeichen im Versorgungsbereich der A. cerebri media rechts (Pfeile) in Form einer leichten Volumenzunahme und angedeuteter flauer Dichteminderung, jedoch ohne definitiv demarkierten Infarkt (a). Tage später zeichnet sich ein immer noch raumfordernder stark hypodenser, jetzt gut abgrenzbarer Infarkt nahezu des gesamten Mediagebiets ab (b)
11
324
Kapitel 11 · Nervensystem
Arteriosklerotischer Infarkt
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Arteriosklerose oder Atheromatose entwickeln sich plaqueförmig an nahezu jeder Stelle des arteriellen Systems, am häufigsten (bezogen auf den Hirnkreislauf) an der Bifurkation der A. carotis communis (ACC), dem Beginn der A. cerebri media (ACM) und A. cerebri anterior (ACA) sowie dem Ursprung der Vertebralarterie (VA) aus der A. subclavia. Kritische Perfusionsverhältnisse beginnen ab einem Stenosegrad von 70–80%. Arteriosklerotische Verschlüsse oder Stenosen, selbst ulzerierte Plaques, können aber auch Ursache von Embolien sein, die nach Ablösung kaliberschwächere Gefäße verschließen. Kardiale Embolie
Bis zu 40% aller Hirninfarktpatienten haben kardiale Emboliequellen. Ursächlich ist meist ein Vorhofflimmern, seltener Erweiterungen (Aneurysmen) des linken Vorhofes oder Ventrikels (nach Herzinfarkten), wandständige Thromben oder Klappenfehler (Mitralklappenprolaps, künstliche Herzklappe). Auch andere Partikel wie Tumormaterial, Fett, Luft oder Fremdkörper können zu Embolien führen. Von paradoxen Embolien spricht man dann, wenn ein Übertritt vom rechten ins linke Herz erfolgt, etwa durch ein persistierendes Foramen ovale (PFO). An kardioembolische Infarkte muss insbesondere dann gedacht werden, wenn es sich um multiple Hirninfarkte und kleine rindennahe Infarktzonen oder hämorrhagische Infarzierungen handelt. > Eine kardiale Untersuchung sollte routinemäßig bei jedem Hirninfarktpatienten erfolgen.
Lakunäre Infarkte
Von lakunären Infarkten spricht man bei einzelnen oder multiplen kleinen (1 cm3) Infarkten. Hintergrund sind meist Mikroemboli oder Arteriolopathien auf dem Boden eines Hypertonus oder Diabetes mellitus. In ihrer Summe können sie ebenfalls zu signifikanten klinischen Beeinträchtigungen führen. Koagulopathien
Protein-C- oder -S-Mangel, Antithrombin-III-Mangel, das Vorhandensein des Lupusantikoagulans, Polyzythämien oder Leukämien spielen eine nur untergeordnete Rolle. Kryptogene Infarkte
Bei einem nicht unbeträchtlichen Prozentsatz (s. oben) aller Infarkte bleibt die Ursache unklar.
20
Kommentar In gutachterlicher Hinsicht wichtig ist, dass keine der Maßnahmen einen drohenden Hirninfarkt sicher abwenden kann.
Die wahrscheinlich kostengünstigste und effektivste Therapie ist die Kontrolle der atherogenen Risikofaktoren. Ist eine Rehabilitaionsbehandlung erforderlich, soll diese so zügig und nahtlos wie möglich eingeleitet werden.
Intrazerebrale Blutungen (Hämorrhagien, IZB) Therapie
19
Eine Hyper- wie Hypoglykämie, Elektrolytstörungen, Hyperkapnie und Hypoxämie sind auszugleichen, die Temperatur zu normalisieren. Bei bettlägerigen Patienten ist eine Low-dose-Heparinisierung zur Thromboseprophysaxe Standard. Eine Hämodilutionsbehandlung wird nicht mehr befürwortet. Neuroprotektiva haben sich bisher nicht bewährt. Die Behandlung von Herzrhythmusstörungen erfolgt nach internistischen Regeln. Acetylsalicylsäure verbessert bereits in der Frühphase die Prognose und wird allgemein erfolgreich zur Sekundärprophylaxe eingesetzt (alternativ Dipyridamol, auch in Kombination mit ASS, Clopidogrel). Bei Basilarisverschlüssen wird man – falls entsprechende Voraussetzungen gegeben sind und idealerweise innerhalb eines Zeitfensters von 3 Stunden – eine lokale Lyse mit rt-PA oder Pro-Urokinase erwägen. Der Stellenwert eine Lysetherapie bei Hemisphäreninfarkten ist noch unklar, ebenso der einer systemischen Lyse oder einer Hemikraniektomie beim malignen Hirnödem. Eine Streptokinasebehandlung wird nicht mehr empfohlen. Vielfach wird beim progredienten Hirninfarkt, bei Koagulopathien, hohem kardialem Embolierisiko, Dissektion und hochgradigen Stenosen eine Vollheparinisierung durchgeführt, obwohl die hierzu vorliegenden Daten widersprüchlich sind. Kardiale Emboliequellen stellen meist eine Indikation zur Antikoagulation dar. Die definitive Therapie bei persistierendem Foramen ovale, embologenen Klappenfehlern und höchstgradigen extrakraniellen Stenosen (Endarteriektomie) ist meist die Operation. Eine extra-intrakranielle Bypassoperation bei Mediastenosen wird heute nur noch selten unter sehr strengen Prämissen erwogen. Neuerdings wird in Fällen, in denen eine Kontraindikation für einen offenen Eingriff, eine sonst schwer zugängliche Stenose oder eine Rezidivstenose vorliegen, auch eine Stent-Behandlung durchgeführt.
Die Therapie erfolgt auf der Grundlage einer gesicherten Ätiologie so ursachennah wie möglich. Eine Blutdrucksenkung wrid nur bei Werten über 220/120 mm Hg empfohlen, Werte bis zu 180/105 mm Hg sind zu tolerieren.
Sie entstehen durch Blutung ins Hirnparenchym, gewöhnlich aus einer kleinen penetrierenden Arterie. Häufigste Ursache ist eine Nekrose der Arterien- oder Arteriolenwand oder die Bildung von Mikroaneurysmen v. a. als Folge eines arteriellen Hypertonus. Weitere Ursachen sind
325 11.2 Schlaganfall
arteriovenöse Malformationen, größere ins Parenchym reichende Aneurysmen, die Moyamoya-Erkrankung, Koagulopathien, Tumoren etc. Da die Arterienwand unter Druck reißt und das Gewebe unmittelbar durch den Blutaustritt geschädigt wird, ist der Beginn besonders plötzlich, die Sichtbarkeit in der Bildgebung unmittelbar gegeben. Bevorzugte Blutungsorte sind im supratentoriellen Bereich (85%) Putamen und Thalamus, seltener Caudatum und andere Stammganglien, ferner Lobärblutungen, im infratentoriellen Bereich das Kleinhirn und seltener auch die Brücke. Bei älteren Personen ohne bekannten Hypertonus muss – zumal bei atypischer Lokalisation – an eine kongophile (Amyloid)Angiopathie gedacht werden. Wird die Blutung überlebt, ist wegen des initialen Masseneffektes und des Rückzugs des Defektes auf eine relativ kleine Blutungshöhle die Remission oft besonders eindrücklich.
Therapie In Absprache mit dem Neurochirurgen wird bei kleinen, mit nur geringer klinischer Symptomatik einhergehenden Hämorrhagien konservativ, sonst operativ (offene oder stereotaktische Entlastung) vorgegangen. Allfällige hämostaseologische Auffällgikeiten sind zu beseitigen, bei Cumarin-Blutungen wird man Vor- und Nachteile einer Antagonisierung genauestens abwägen. Bei Ventrikeleinbruchsblutungen ist oft eine Shunt-Anlage erforderlich. Zur Überbrückung der hinsichtlich Hirndruck und -schwellung kritischen Phase ist oft eine intensivmedizinische Betreuung unumgänglich. Im Falle atypischer Blutungen muss ggf. eine Angiographie nach Blutungsresorption zeigen, ob eine behandelbare Gefäßmissbildung zugrunde liegt.
meist aus einem Aneurysma – in den Subarachnoidalraum und damit in den Liquor. Entsprechend der hierdurch verursachten weiten Verteilung des als Noxe wirkenden Extravasates tritt einer Sofortsymptomatik mit Kopfschmerzen, Nackensteife oder sogar Bewusstlosigkeit auf. Die Schweregradeinteilung erfolgt heute meist nach Hunt u. Hess und ist prognostisch bedeutsam (. Tab. 11.6). 8–20% aller Patienten sterben, bevor sie das Krankenhaus erreichen. Weitere 5–20% sterben dort in der ersten Behandlungsstunden, sodass sich die 1-Tages-Letalität bereits auf ca. 20–30% beläuft. Die Gesamtletalität bei einer ersten Blutung wird zum Ende des 1. Monats auf etwas über 40%, diejenige bei einer Nachblutung auf deutlich mehr als 50% geschätzt. Die Morbidität der Überlebenden beläuft sich auf rund 50(–90)%. Diese Zahlen machen der Wert einer möglichst frühzeitigen operativen Intervention deutlich. Ursächlich sind nämlich meist aneurysmatische Fehlbildungen, die besonders häufig im Bereich des Circulus arteriosus Willisii sitzen, insbesondere an der A. communicans anterior. Aber auch mit Aneurysmata an den Hauptstämmen der großen intrakraniellen Gefäße und der A. carotis interna ist zu rechnen. Arteriovenöse Malformationen, Koagulopathien und Amyloidangiopathien kommen ebenfalls als Ursache von SAB in Betracht. Ohne nachweisbare Ursache bleiben rund 20% aller Fälle. Betroffen sind v. a. Patienten in der 5.–6. Lebensdekade, vor dem 40. Lebensjahr mehr Männer, nach dem 50. Lebensjahr mehr Frauen. Sekundärschäden können durch die Auslösung von Vasospasmen und daraus resultierenden Ischämien entstehen. Besonders häufig resultieren kognitive (Aufmerksamkeits- und Gedächtnis-) Störungen.
Subarachnoidalblutungen (SAB) Die SAB hat eine jährliche Inzidenz von durchschnittlich 10/100.000 Einwohner und ist bei Patienten mit Zystennieren, Marfan- und Ehlers-Danlos-Syndrom besonders häufig. Es kommt zum plötzlichen Austritt von Blut –
. Tab. 11.6. Klinische Klassifikation der Subarachnoidalblutung nach Hunt und Hess Grad
Befund
1
Asymptomatisch oder leichte Kopfschmerzen und Meningismus
2
Mäßige bis starke Kopfschmerzen, Meningismus, evtl. Hirnnervenbeteiligung
3
Benommen- oder Verwirrtheit, evtl. leichtes neurologisches Defizit, Somnolenz
4
Sopor, mäßige bis schwere neurologische Ausfälle, vegetative Störungen
5
Koma, Dezerebrationszeichen, Bulbärhirnsyndrom, drohender Hirntod
Kommentar Gutachterlich bedeutsam ist, dass die Verkennung einer Nackensteife als Halswirbelsäulenblockade Unkundige zu chiropraktischen Manipulationen mit dem fatalen Ergebnis der Provokation einer Nachblutung oder Gefäßdissektion führen kann.
Therapie Wo immer möglich wird man das ursächliche oder auch allfällige akzidentell entdeckte Aneurysma operativ ausschalten. Beim Grad 1–3 ist eine Frühoperation die Methode der Wahl, von einigen Autoren wird ein früher Eingriff auch noch beim Grad 4 empfohlen. Neuerdings werden auch endovaskuläre Verfahren (Coiling, Kunststoffe) angewandt. Die konservative Behandlung besteht in schonender Blutdrucksenkung in den Normalbereich und einer Spasmenprophylaxe (Nimodipin). Hirndrucksteigerungen werden durch korrekte Lagerung, evtl. Ventrikeloder Lumbalpunktion bzw. Shunt behandelt. Epileptische
11
326
1
Kapitel 11 · Nervensystem
Anfälle sollen nach den üblichen Kriterien angegangen werden.
Hirnvenen- und Sinusthrombosen
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Der Häufigkeitsgipfel liegt im 3. Lebensjahrzehnt, Frauen sind etwa 1,5-mal häufiger betroffen als Männer. Es handelt sich um Thrombosen oder Thrombophlebitiden der Hirnvenen oder Hirnsinus, die auch fortgeleitet (Infektionen der Gesichtsweichteile, Sinusitiden, Otitis media, Mastoditis) auftreten können. Am häufigsten betroffen sind die Sinus sagittalis superior, transversus, sigmoideus und cavernosus. Die Risikofaktoren ähneln denjenigen für arteriosklerotische Schlaganfälle mit dem Unterschied, dass hier auch endokrine Faktoren (Schwangerschaft, Kontrazeption), Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma, Tumoren, Marasmus und lokale Infektionen (septische Thrombosen) eine Rolle spielen. Auch die Symptomatik unterscheidet sich: Sie tritt eher subakut als akut auf, Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Hirndruckzeichen, epileptische Anfälle zu Beginn, Stauungspapille, Bewusstseintrübung und Koma sind häufiger als bei Hirninfarkten. Die Diagnose ist besser aus dem Nativ-MRT als aus dem Nativ-CT zu stellen und erfordert im Verdachtsfall eine gezielte Gefäßdarstellung (Magentresonanzangiographie; MRA). Inzwischen bietet aber auch die Röntgen-CT verbesserte Möglichkeiten der Gefäßdarstellung (CT-Venographie). Eine invasive Arterio- oder Venographie mit Kontrastmittel lässt sich aber in Zweifelsfällen nicht umgehen. Die Letalität liegt vermutlich zwischen 10 und 30%.
Therapie Therapie der Wahl ist heute die sofortige intravenöse Vollheparinisierung. Nach Abklingen der Akutsymptomatik oder Stabilisierung wird für einen längeren Zeitraum (3–12 Monate) antikoaguliert, bei entsprechenden Koagulopathien auch lebenslang. Bei septischen Thrombosen wird antibiotisch behandelt und der Infektionsherd ausgeräumt.
Einteilungsprobleme zerebral-ischämischer Ereignisse Die übliche klinische Einteilung zerebral-ischämischer Ereignisse nach ihrer zeitlichen Verlaufsform begegnet mehreren Schwierigkeiten. Zum einen ist die zeitliche Abgrenzung rein willkürlich. Die Festlegung kann immer erst ex post facto getroffen werden. TIA oder transitorische globale Amnesie (TGA) können eo ipso natürlich keine gutachterlich relevanten Folgen hinterlassen, ebensowenig RIND und PRIND. Die ätiologische Vermutung gilt natürlich nur unter der zunächst meist unbewiesenen Annahme, dass es sich tatsächlich um ein ischämisches Ereignis handelt. Differenzialdiagnostisch kommen durchaus Blutungen, epileptische Anfälle, Enzephalitiden oder sogar Tumoren in Betracht.
Zum anderen ist die Einteilung inkommensurabel mit der morphologischen Klassifikation. Eine TIA kann sehr wohl – wenngleich selten – einen im CT sichtbaren Hirninfarkt hinterlassen, genauso wie ein vollendeter Infarkt – ebenfalls nicht oft – ohne sichtbares Korrelat im CT einhergehen kann. Auch sollte versucht werden, das Gefäßterritorium zu definieren und Durchblutungsstörungen des vorderen (Karotis-) und hinteren (vertebrobasilären) Kreislaufs zu unterscheiden, da dies u. a. Implikationen für die Thrombolysetherapie birgt (s. unten). Zeitgleiche multiple Hirninfarkte wecken den Verdacht auf ein kardioembolisches Geschehen. Eine TIA bei nachgewiesenen territorial korrelierten hochgradigen Gefäßstenosen an operabler Stelle stellt einen gefäßchirurgischen Notfall dar.
Prognose bei zerebral-ischämischen Ereignisse Hinsichtlich der Letalität rangiert die SAB vor IZB, die wiederum vor HI und SVT steht. Ungünstig sind der Einbruch einer Blutung ins Ventrikelsystem, die Infarzierung großer oder multipler Gefäßterritorien mit der Gefahr der Hirnschwellung (maligner Hirninfarkt), eine SAB mit initialer Bewusstseinsbeeinträchtigung und das Auftreten früher epileptischer Anfälle bei der SAB und SVT. Bei HI und IZB ist mit Spätepilepsien zu rechnen. Wo erforderlich und möglich wird heute bei drohender Einklemmung als Folge eines massiven Hirnödems eine partielle Kraniektomie zur Entlastung versucht. Damit kann die Letalität verringert werden; die Häufigkeit schwerer Defektzustände nimmt aber zu. Grundsätzlich ungünstig für die Morbiditäts- und Überlebensprognose sind Multimorbidität (Hypertonie, Diabetes mellitus, Herz- oder Lungenerkrankungen, Adipositas, Rauchen, Alkoholismus), der Befall multipler, auch extrakranieller Gefäßprovinzen, vorausgegangene Hirnschädigungen, große oder ungünstig gelegene (infratentorielle) Läsionen, persistierende Globalaphasien oder Neglect und hohes Lebensalter. Auf die Bedeutung des Vergleichs von perfusions- und diffusionsgewichteten MRT-Aufnahmen wurde bereits hingewiesen. Die Anwendung einer Lyse innerhalb der aktuellen Zeitfenster (derzeit 3–6 Stunden) wird zwar heute u. a. bei Hirnstamminfarkten als günstig angesehen und empfohlen, kann aber nur dann gefordert werden, wenn die dafür erforderlichen technischen und personellen Voraussetzungen inklusive radiologischer Rufbereitschaft gegeben sind und der Patient sich dafür eignet (Ringleb et al. 2002; Hacke et al. 2001; Schellinger et al. 2001). Bis heute handelt es sich um eine risikoträchtige Therapie, die eben erst dem experimentellen Stadium entwachsen ist. Die fehlende Einwilligungsfähigkeit bei schweren Aphasien birgt bei Hemisphäreninfarkten ein zusätzliches Problem und kann auch durch eine Notbetreuung unter Einschaltung des Vormundschaftsgerichtes nicht immer überbrückt werden. Von daher wird eine zwingende In-
327 11.2 Schlaganfall
dikation bei Hemisphäreninfarkten ebenso wie die einer Hemikraniektomie gegenwärtig nicht bejaht werden können. Im Regelfall spielt das Lebensalter bei der Dauer einer möglichen Remission eine nicht unbeträchtliche Rolle. Je jünger die Patienten sind, desto länger darf mit einer spontanen oder rehabilitativ unterstützten Verbesserung gerechnet werden. Vorsichtige Anhaltszahlen gehen davon aus, dass sich die Zeitspanne von bis zu 3 Jahren bei unter 30-Jährigen auf minimal 3 Monate bei über 65-Jährigen verkürzt (Marx u. Widder 2007).
Komplikationen Hier sind v. a. Blutdruck- und Blutzuckerentgleisungen, Pneumonie, Lungenembolien und Harnwegsinfekte zu nennen. Ein Dekubitus sollte bei sachgerechter Pflege nicht mehr auftreten. Anfälle sind im Akutstadium selten und am ehesten noch bei IZB und SVT zu erwarten. Symptomatische Anfallsleiden nach Hirninfarkten dagegen sind durchaus nicht ungewöhnlich und müssen auch in die Prognoseabschätzung einbezogen werden. Wichtig für die Beurteilung ist eine Kongruenz von Lokalisation der Hirnläsion und Anfallstyp. Bei der metastatischen (bakteriellen, septischen) Herdenzephalitis werden vom Herzen ausgehende infizierte (v. a. Strepto- und Staphylokokken) Emboli in abhängige Gefäßprovinzen eingeschleppt, wo sie außer zu multiplen Hirninfarkten auch zur multiplen Abszessbildung führen können, die antibiotisch behandelt werden muss, weil sie sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich endet.
Nackenschmerzen) und ein plausibles Zeitfenster zu fordern (s. oben).
Entferntere Zusammenhänge sind gelegentlich im Rahmen posttraumatischer Gerinnungsstörungen, zerebraler Fettembolien und paradoxer Embolien bei Thoraxkompressionen zu sehen. Äußere Faktoren für das Auftreten eines Schlaganfalls werden kaum je gegeben sein. Vorstellbar sind etwa externer Druck im Sinne eines Valsalva-Manövers bei persistierendem Foramen ovale mit der Folge eines Hirninfarktes, Schwerstarbeit unter ungünstigen Bedingungen, z. B. in einem Bergwerk bei Hirnblutung, Handkantenschlag auf eine Carotisarterie bei Dissektion.
Kommentar Andererseits kann niemand einen drohenden Schlaganfall aus innerer Ursache zuverlässig abwenden, sodass die Vorstellung, man hätte durch geeignete ärztliche Maßnahmen das Geschehen sicher unterbinden können, einer Grundlage entbehrt. Dagegen findet man bei zahlreichen Begutachtungen erwiesene interne Risikofaktoren wie Hypertonus, Diabetes mellitus, Rauchen und Alkoholkonsum. Für Frauen ist die Kombination von Ovulationshemmern und Nikotinkonsum besonders brisant, da sie das Risiko der Einzelfaktoren auf das bis zu 6-Fache erhöht und zuverlässig vermeidbar ist.
Subarachnoidalblutung 11.2.3 Fragen zum Zusammenhang
Hirninfarkt und Trauma Nur bei engem zeitlichem Zusammenhang, i. Allg. bis allenfalls Tagen, äußerstenfalls 2–3 Wochen (Ginsberg u. Bogousslavsky 1998), kann von einem Zusammenhang bei der Dissektion großer Gefäße ausgegangen werden. Prädisponierende Faktoren (z. B. Marfan- oder EhlersDanlos-Syndrom, fibromuskluäre Dysplasie etc.) sind zu berücksichtigen. In Frage kommen stumpfe oder penetrierende Halstraumen. Dazu gehören auch schwere HWS-Distorsionen (z. B. Sturz aus großer Höhe rücklings ins Seil beim Bergsteigen) oder chiropraktische Manöver (Hufnagel et al. 1999), wobei sowohl Carotiden als auch Vertebrales in Mitleidenschaft gezogen werden können. Commotiones oder Contusiones kommen nur insoweit in Betracht, als sie dislozierende Impulse auf die entsprechenden Gefäße, insbesondere massive Verbiegungen oder Torsionen, hervorrufen. > Neben einem adäquaten Trauma sind eine Sofortsymptomatik (regionale Kopf- oder Halsschmerzen, vegetative Symptomatik, Horner-Syndrom, Bewusstlosigkeit oder
SAB können ohne Weiteres bei höheren Schweregraden (Hunt u. Hess >3; . Tab. 11.6) zu Stürzen führen. Bei schwereren SHT (Grad II und III; . Tab. 11.2) können traumatische SAB entstehen; die Auslösung einer aneurysmatischen SAB durch ein Trauma ist dagegen unwahrscheinlich. Ausgedehnte SAB und solche höherer Schweregrade hinterlassen wie Schädel-Hirn-Traumata eine Erinnerungslücke.
Hirnblutung Traumatische intrazerebrale Blutungen und Subarachnoidalblutungen sind von primär gefäßbedingten und ohne äußere Einwirkung auftretenden Blutungen streng abzugrenzen. Häufiger wird danach gefragt, ob ein Trauma (Sturz) Ursache für eine intrazerebrale Blutung oder SAB war oder umgekehrt jene erst zum Trauma geführt hat. Hier gilt es, auf folgende Besonderheiten zu achten: 5 prädisponierende Faktoren (endogenes Risiko), 5 Adäquanz des Traumas: eine Schädelprellung führt praktisch nie zu einer hypoxisch-ischämischen Hirnblutung (IZB) oder SAB, 5 vorbestehende Gefäßmissbildungen (Angiom und Aneurysmata sprechen für innere Ursachen),
11
328
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 11 · Nervensystem
5 zeitlicher Zusammenhang (ein Schädel-Hirn-Trauma führt nicht mit einer zeitlichen Latenz zur SAB, beachte aber sog. aufblühende parenchymatöse Blutungen in 7 Kap. 11.1.1 und 11.1.2). 5 Lokalisation. Entspricht eine Coup-Blutung äußeren Verletzungszeichen, ist von einer traumatischen Verursachung auszugehen. > Als Faustregel gilt, dass ein stärkeres Ereignis leicht ein schwächeres (Contusio o petechiale hirnparenchymatöse Blutungen oder leichte SAB; IZB o Schädelprellung) zur Folge haben kann, nicht aber umgekehrt.
Bei Schädel-Hirn-Trauma findet man meist eine typische Blutungslokalisation, z. B. nach Art eines Coup/Contre-coup-Mechanismus oder lokal an der Anstoßstelle (Rindenprellungsherd), dann aber auch zunächst petechiale, schließlich multiple konfluierende Blutungen (7 Kap. 11.1). Stammganglien- oder in der Tiefe gelegene Blutungen sprechen für ein Geschehen aus innerer Ursache. Einen begünstigenden Faktor sowohl für Traumata (Sturz im intoxizierten Zustand, epileptischer Anfall) als auch für intrakranielle Blutungen stellt der Alkoholismus dar.
Kommentar Ist nach einer Abgrenzung zwischen primärer Blutung und sekundär-traumatischer Hämorrhagie gefragt, müssen sorgsamst Vorgeschichte (früherer Hirninfarkt, Blutung, Gefäßanomalien, kongophile Angiopathie, epileptische Anfälle etc.) gewürdigt, das Lebensalter in Rechnung gestellt und wo möglich eine genaue Fremdanamnese erhoben werden.
13 Hirnvenenthrombosen
14 15
Sie sind selten im Zusammenhang mit einem SchädelHirn-Trauma zu sehen, allenfalls dann, wenn über eine offene Schädel-Hirn-Verletzung die anatomischen Verhältnisse der venösen Blutleiter verändert oder eine Eintrittspforte für Keime geschaffen wurde.
16 11.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
17 18 19 20
Eine Bewertung des Grades der Behinderung und der Minderung der Erwerbsfähigkeit (GdB/ MdE) findet sich in . Tab. 11.7. In der privaten Unfallversicherung werden Invaliditätsleistungen nach der tatsächlichen Funktionseinschränkung entsprechend dem Endzustand nach 3 Jahren gewährt (Marx u. Widder 2007). Die Bewertung erfolgt nach der sog. Gliedertaxe. Andere zerebrale oder spinale Funktionseinschränkungen werden in Prozent der Be-
einträchtigung (Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, BdL) angegeben. Eine vaskuläre Demenz ist selten. Es muss aber ausdrücklich betont werden, dass in vielen Fällen eine rein neurologische Betrachtungsweise zu kurz greift und psychologischer Status und neuropsychologische Funktionen gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Bei einer subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie (SAE, Binswanger-Syndrom) beispielsweise kontrastieren geringe neurologische Ausfälle mit erheblichen kognitiven Einbußen. Für sie gelten Einschätzungen in Anlehnung an Schädel-Hirn-Traumata (7 Kap. 11.1.4). Auch eine Auswahl an geeigneten Testverfahren ist dort aufgeführt (7 Kap. 11.1.1). Der Gutachtenaufbau ist entsprechend zu modifizieren, aber durchaus ähnlich, da es sich zwar um keine von außen verursachten, aber um ein- oder mehrmalige abgrenzbare akute Ereignisse handelt.
Gesetzliche Rentenversicherung Die Einschätzung, ob eine Berentung erforderlich ist, hat in besonderer Weise auch kognitive Fähigkeiten zu berücksichtigen. Auch hier gilt der Grundsatz »Rehabilitation vor Rente«. Man orientiert sich hinsichtlich der Funktions- und Leistungseinbußen an denjenigen eines körperlich und geistig gesunden altersgleichen Versicherten mit ähnlicher Ausbildung, Kenntnissen und Fähigkeiten, im übrigen an den GdB/MdE-Werten (. Tab. 11.7). Da eine Zeitrente meist für die Dauer von 2 Jahren gewährt wird, in diesem Zeitraum sich aber erhebliche Änderungen, sowohl Verbesserungen wie Verschlechterungen, abspielen können, ist in jedem Fall nach einem, spätestens nach zwei Jahren eine Neubewertung erforderlich.
Krankenversicherung/Arbeitsunfähigkeit In der Akutphase stellt die Frage nach der Arbeitsunfähigkeit meist keine Schwierigkeit dar. Problematisch sind eher der Zeitpunkt und der Umfang der Wiederaufnahme der Berufstätigkeit. Ein besonders erhöhtes Arbeitsplatzrisiko durch das erneute oder wiederholte Auftreten ischämischer oder hämorrhagischer Ereignisse sollte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein. Bei einer relevanten Behinderung sollte sich ein AHB- und evtl. Berufserprobungsverfahren anschließen, um zum einen durch sorgfältige umfangreiche Untersuchungen (neurologisch/psychiatrisch/neuropsychologisch/verhaltensneurologisch) das Ausmaß nicht nur der Behinderung, sondern auch das positive Leistungsprofil möglichst exakt zu definieren, zum anderen aber auch, um die Frage zu klären, ob ein Verbleib in der alten Tätigkeit möglich oder eine Umschulung angezeigt ist. Bei sprachlich besonders anspruchsvollen Berufen (Politiker, Schriftsteller, Jurist) kann auch eine leichte Sprachstörung bereits völlige Berufsunfähigkeit bedingen.
329 11.2 Schlaganfall
. Tab. 11.7. GdB/MdE bei den häufigsten Konstellationen zerebraler vaskulärer Ereignisse. (Mod. nach Widder u. Gaidzik 2007) MdE (GUV)
GbB/MdE
Leicht (Restlähmungen und Tonusstörungen)
30
30
Mittelgradig
40–50
Schwer
60–80
Invalidität
Zerebral bedingte (Teil-) Lähmungen je Gliedmaße
Plegie Allenfalls Stehen für Transfer möglich
80–90
Plegie vollständig
100
1/1 Arm/Bein
Zerebral bedingte Hemiparesen Obere Extremität einsetzbar, Gehfähigkeit nur leicht behindert
30–40
Obere Extremität einsetzbar, Gehfähigkeit für kurze Strecken
50
Obere Extremität unterstützend einsetzbar, Gehfähigkeit leicht p
60–70
Obere Extremität unterstützend einsetzbar, kurzstreckig gehfähig
70–80
Obere Extremität plegisch, kurzstreckig gehfähig
80–90
Obere Extremität plegisch, nicht gehfähig, allenfalls Transfer
100
Hinzuzurechnen, wenn in ihrem behindernden Umfang das Ausmaß der Paresen übertreffend: Aphasie leicht (z. B. Residual-, amnestisch)
0–30
30–40
Aphasie mittelgradig (z. B. Broca- und Wernicke)
40–60
50–80
Aphasie schwer (z. B. Globalaphasie)
70–100
90–100
Hemineglectt und/oder Apraxie
30–100
Organisches Psychosyndrom leicht
20–40
30–40
Organisches Psychosyndrom mittelgradig
40–50
50–60
Organisches Psychosyndrom schwer
60–100
70–100
Zentrale Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen
30–100
30–100
Schluckstörungen
10–70
Dysarthrophonie
10–50
Homonyme Quadranten- oder Hemianopsie
20–40
Schmerzen
10–40
30–50
Blasenentleerungsstörung
10–40
20–50
Symptomatische Anfallsleiden 7 Kap. 11.3
SGB/Invaliditätsgrad und GdB/MdE
BG-Heilverfahren und Berufskrankheiten
Die Vergabe des Merkzeichens GB (gehbehindert) und RF (Rollstuhlfahrer) führt nur selten zu Problemen. Problematischer ist die des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung), weil dies mehr auf mechanisch/orthopädische als auf neurologische Behinderungen abstellt. Deshalb scheint es sinnvoll, die selbstständig zurückzulegende Gehstrecke und die Gebrauchsfähigkeit von Gliedmaßen in Anlehnung etwa an die Gliedertaxe einzuschätzen.
Schlaganfälle spielen hier sicherlich eine untergeordnete Rolle. Probleme können sich bei Berufs- und Wegeunfällen mit traumatischer Gefäßverletzung, Infektionen mit zerebraler Gefäßbeteiligung und evtl. Tauchunfällen ergeben. Eine als Berufskrankheit anerkannte Gefäßkrankheit gibt es nicht.
11
330
Kapitel 11 · Nervensystem
11.2.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
1 2 3 4 5 6 7 8
Pflegeversicherung Die Einstufung in die drei Stufen der Pflegeversicherung hat die gesundheitliche Gesamtsituation zu berücksichtigen. Da Gefäßpatienten oft multimorbide sind, müssen meist andere Fachgebiete, zumindest das internistische, miteinbezogen werden. Jedes neue Ereignis kann eine Neubewertung erforderlich machen.
10 11 12 13
Schwere motorische oder kognitive Ausfälle inklusive Globalaphasie bedingen fast immer eine Betreuungspflichtigkeit. Ist diese wegen des erforderlichen raschen Vorgehens, z. B. bei einer geplanten Lyse, nicht einholbar, greift das Konstrukt der Geschäftsführung ohne Auftrag. Sollte in einer Patientenverfügung nichts anderes dargelegt sein, ist in solchen Fällen davon auszugehen, dass der Patient die für den jeweiligen Fall nach dem Stand der Wissenschaft optimale Behandlung wünscht, also beispielsweise auch eine Lysetherapie.
Siehe unten (Berufsunfähigkeitszusatzversicherung) und 7 Kap. 11.2.7.
Unfallversicherung Sie spielt in diesem Zusammenhang nur insofern eine Rolle, als ein Unfall- oder traumatisches Ereignis als Ursache eines Schlaganfalls in Frage kommt (Zusammenhangsfragen 7 Kap. 11.2.3). Hinsichtlich der Bewertung von Schlaganfallfolgen in der privaten Unfallversicherung 7 Kap. 11.2.4.
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung
17
Bei einer isolierten oder mit einer Lebensversicherung kombinierten Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ) sind die Vorgaben des Vertrages und die exakte Einschätzung der jeweiligen Berufsunfähigkeit inklusive eventueller Umschulungsmöglichkeit zu beachten. Probleme bei der Gewährung einer Lebensversicherungssumme im Rahmen einer Kapitallebensversicherung sind eigentlich nur dann zu gewärtigen, wenn Vorereignisse verschwiegen oder wissentlich sonstige unzutreffende Angaben zum vaskulären Risikoprofil gemacht wurden. In diesen Fällen ist es unter Umständen sogar möglich, dass der Versicherer leistungsfrei gestellt wird.
18
11.2.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
14 15 16
19 20
Schwere ischämische Ereignisse mit kognitiven oder neurologischen Einbußen dürften ebenso wie ein signifikantes Risiko für weitere ähnliche Geschehnisse jede fortgesetzte Verwendung ausschließen.
Fahrereignung Auch hier muss im Einzelfall genauestens geprüft werden, ob sowohl neurologische wie psychische Funktionen ein sicheres Führen eines Fahrzeugs erlauben.
Betreuung
Lebensversicherung
9
Wehrdienst
Beamte Hier gilt das Gleiche wie für Schädel-Hirn-Traumapatienten (7 Kap. 11.1.6). Es ist genauestens auf das jeweilige Betätigungsfeld und Einsatzgebiet abzustellen.
»
Wer an den Folgen einer Hirnblutung oder -schämie leidet, ist bei Vorliegen relevanter neurologischer und/oder neuropsychologischer Ausfälle (z. B. Lähmungen, Aphasien, Gesichtsfeldausfällen) nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kfz beider Gruppen gerecht zu werden. (Lewrenz 2000)
«
Die Voraussetzung für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 dürften häufig nicht gegeben sein. Hinsichtlich des Führens von Kfz der Gruppe 1 führt Lewrenz (2000, S. 33) aus: Nach erfolgreicher Therapie kann, abhängig von den besonderen Umständen des Einzelfalles, angenommen werden, dass der Betreffende bedingt wieder in der Lage ist, ein Kfz zu führen. Die Beurteilung setzt in der Regel eine stationäre Untersuchung voraus. Im Zweifelsfall kann ein Fahrversuch entscheiden (Hannen et al. 1998). Es sind zwei unterschiedliche Problemkreise zu berücksichtigen (Widder 2000): 5 bleibende Störungen und 5 paroxysmale Störungen. Die Beurteilung bleibender Defizite kann jederzeit erfolgen und orientiert sich insbesondere an kognitiven Leistungen, die meist weniger auffällig sind als die evidenten motorischen Leistungen. Diese werden von den Betroffenen selbst zuverlässiger realisiert und können durch Hilfsmittel leichter ausgeglichen werden. Kognitive und Verhaltensstörungen dagegen, insbesondere ein Neglect oder eine Anosognosie, werden aufgrund der Natur der Erkrankung von den Betroffenen selbst nicht wahrgenommen; sie müssen vielmehr – wie Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen – fremdanamnestisch erfragt und durch Testung oder Verhaltensbeobachtung evaluiert werden. Geeignete Verfahren finden sich im Kapitel Schädel-Hirn-Traumata (7 Kap. 11.1.1; . Tab. 11.1). Zusätzlich kann der KFP-30 verwendet werden. Besonders geeignet zur Aufdeckung häufiger Konzentrationsstörungen sind das Wiener Testsystem, das eine besondere Batterie zur realitätsnahen Simulation von verkehrsrelevanten Situationen beinhaltet, und die Aufmerksamkeitstestbatterie nach Zimmermann u. Fimm (TAP). Auch Aphasien, räumliche Orientierungsstörungen, Apraxien und Hemianopsien können die Fahrereignung
331 11.2 Schlaganfall
einschränken oder aufheben, weshalb gezielt danach gefahndet werden muss. Paroxysmale Ereignisse in Gestalt von vaskulären Reizanfällen oder einer symptomatischen Epilepsie nach Schlaganfall unterliegen den gleichen Kriterien wie epileptische Anfälle. Die Situation bei TIA/TGA ist weniger genau definiert. Dazu heißt es in den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung (Lewrenz 2000):
»
Bei Vorliegen transitorisch-ischämischer Attacken, die mit Bewusstseinsstöungen oder relevanten neurologischen Ausfällen einhergehen, ist risikolose Teilnahme am Straßenverkehr nur dann gegeben, wenn nach entsprechender Diagnostik und Therapie keine signifikant erhöhte Rezidivgefahr mehr besteht.
«
11.2.7 Risikobeurteilung
Angaben zur BUZ finden sich in 7 Kap. 11.2.5, die Bewertung von Risikofaktoren in 7 Kap. 11.2.2. Angaben zur Prognose sind in 7 Kap. 11.2.2 und 11.2.8 enthalten. Lebensversicherer haben nur Anspruch auf Nennung aller zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bekannten und für ihn relevanten Risikofaktoren. Nach herrschender Meinung ist eine weiterführende Untersuchung, insbesondere eine genetische Analyse auf bislang unbekannte anlagebedingte Risikofaktoren, z. B. für das Gerinnungssystem maßgebliche Mutationen, unzulässig und nicht duldungspflichtig.
11.2.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Eine zunehmend häufiger gestellte Frage ist die, ob ein sich anbahnender Hirnstamminfarkt auch von nichtspezialisierten Einrichtungen als solcher erkannt und unverzüglich einer Lyse zugeführt werden muss.
Kommentar Wegen der noch eingeschränkten Verfügbarkeit geeigneter Einrichtungen, der mit dem Transport und der Therapie verbundenen Risiken und der aus einer Therapie resultierenden höheren Anzahl schwerer Defektzustände (bei Verringerung der Todesfälle) ist diese Frage im Allgemeinen restriktiv zu beantworten.
Ärzte oder Einrichtungen, die nicht in der Lage sind, eine adäquate Schlaganfallbehandlung zu gewährleisten, sollten aber eine schnellstmögliche Verlegung in die nächstgelegene Stroke Unit anstreben, da sich das kürzeste Zeitfen-
ster, das für eine optimale Therapie vorgesehen ist, bereits nach 3 Stunden schließt.
11.2.9 Sonderfragen
Schlichtung Die Anrufung von Schlichtungsstellen in Fällen eines vermuteten Behandlungsfehlers wird i. Allg. sinnvoll sein, zumal das Risiko und die Erfolgsaussichten von langwierigen Zivil- und Strafprozessen durch Laien oft nicht realistisch eingeschätzt werden. Auch wird manchmal nicht bedacht, dass fast alle Schlaganfälle innere Ursachen haben und niemals sicher abgewendet werden können. Ein experimentelles und noch nicht allgemein bewährtes Verfahren – wie es etwa im Rahmen von Therapiestudien untersucht wird – kann nicht eingefordert werden. Dennoch sollte heute Standard sein, dass kleinere Krankenhäuser ohne geeignete Einrichtungen Patienten so zügig wie möglich an nächstgelegene größere Häuser oder Stroke Units abgeben, in denen optimale Voraussetzungen herrschen. Die Risikoreduktion durch ein derartiges Vorgehen wird immerhin auf ca. 15% geschätzt.
Strafrecht Die Frage der Schuld(un)fähigkeit wird nur in Ausnahmefällen von Schlaganfällen berührt. Am ehesten könnte man sich noch vorstellen, dass eine transitorische globale Amnesie für die Begründung herangezogen wird. Dabei ist aber zu bedenken, dass diese nur das Neueinspeichern von Informationen und die aktuelle Orientierung betrifft. Wesensfremde Handlungen, insbesondere krimineller Art, werden auch dann nicht in exkulpationsfähiger Weise begangen, wenn der Betreffende später eine vollständige Amnesie für die Episode zurückbehält. Erstmalige ischämische Ereignisse während kritischer Tätigkeiten, z. B. dem Autofahren, begründen keine Verletzung der Sorgfaltspflicht, da sie nicht vorhersehbar waren. Anders ist dies, wenn über ein zukünftig erhöhtes Risiko aufgeklärt wurde und der Betreffende sich nicht an die Empfehlungen hielt.
Aufklärungspflicht Die Aufklärungsverpflichtung des Arztes ist umso strenger zu sehen, je potenziell riskanter und je unerprobter der Eingriff ist. Oberste Maxime ist stets das Selbstbestimmungsrecht des Patienten (bei nicht einwilligungsfähigen ist das Betreuungsrecht anzuwenden). Nur in lebensbedrohlichen Situationen, die keinen Aufschub dulden, greift das juristische Konstrukt der Geschäftsführung ohne Auftrag. Inzwischen häufen sich Klagen über eine unterlassene Lysetherapie, während im Gegensatz dazu Klagen über eine unnötigerweise oder unsachgemäß durchgeführte Lyse die Ausnahme sind (Weintraub 2006).
11
332
Kapitel 11 · Nervensystem
Finanzgeschäfte
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bei schweren funktionellen Beeinträchtigungen (z. B. Globalaphasie), wird man unbedingt eine entsprechende Betreuung einrichten; diese kann aber auch schon im Falle einer Frontalhirnläsion (Planungsunvermögen, Kritikminderung) oder bei einer Akalkulie (Rechenunvermögen) gerechtfertigt sein. Eine sehr schwer, manchmal gar nicht zu beantwortende Frage ist die nach der Geschäftsfähigkeit zu einem zurückliegenden Zeitpunkt, wenn keine im unmittelbaren Zusammenhang damit stehende gezielte Untersuchung stattfand. Deshalb sollte vor Geschäften großer Tragweite immer eine zeitnahe einschlägige Untersuchung erfolgen.
11.3
Epilepsie C.J.G. Lang, H. Stefan
Epilepsien sind mit einer Prävalenz von 0,5–1% in der Gesamtbevölkerung häufige neurologische Erkrankungen. Zwischen 2 und 5% aller Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens mindestens einen epileptischen Anfall. Als äußere Ursache spielt u. a. chronischer Alkoholmissbrauch eine Rolle, durch den jährlich ca. 5000 Epilepsiepatienten hinzukommen. Etwa 5,5 % aller Anfallsleiden sind auf Hirntraumata zurückzuführen (Schumacher 2005).
11.3.1 Diagnostik
Entscheidend für die Diagnose ist zunächst die Anamnese, zumal die Fremdanamnese, im Idealfall die persönliche Beobachtung eines Anfalls durch den Untersucher. Das EEG liefert im Intervall nur in einem Teil der Fälle (40–50%) wegweisende Indizien, es kann auch vollkommen normal sein. Im Anfall oder interiktual ergeben sich allerdings in bestimmten Fällen aussagekräftige Befunde wie ein 3 Hz-spike-wave-Muster bei Absencen, Poly-spike-wave-Komplexe beim Impulsiv-petit-mal, Sharpoder Spike-wave-Foci bei benigner Epilepsie mit Rolan-
do-Fokus oder symptomatischen Epilepsien, generalisierte Spike-wave-Komplexe bei Grand-mal-Epilepsien oder umschriebene Verlangsamungsherde als Hinweis auf eine fokale Funktionsstörung z. B. nach Contusio cerebri oder bei Hirntumoren. Beweiskraft kommt der simultanen Doppelbildaufzeichnung (SDA) zu, bei der per Video das Verhalten im Anfall gleichzeitig mit dem EEG registriert und korreliert wird. Nachdem zahlreiche Menschen EEG-Veränderungen iktualen Gepräges bieten, ohne je einen epileptischen Anfall erlitten zu haben oder zu erleiden, ist das EEG für sich genommen oft wenig aussagekräftig. > Als bildgebendes Verfahren hat sich zum Nachweis morphologischer Veränderungen die Magnetresonanztomographie (MRT) durchgesetzt. Hauptvorteil ist neben einer besseren Differenzierungsfähigkeit des Hirnparenchyms die Möglichkeit der koronaren Schnittführung.
11.3.2 Krankheitsdefinition
Epilepsien sind durch episodische Funktionsstörungen des Gehirns charakterisiert, die durch exzessive elektrische Entladungen von Neuronenverbänden infolge entweder gesteigerter Erregbarkeit oder verminderter Hemmung zustande kommen. Grundsätzlich ist jedes menschliche Gehirn krampffähig. Von einer Epilepsie spricht man jedoch erst dann, wenn sich mehr als ein unprovozierter epileptischer Anfall ereignet. Gelegenheitsanfälle sind Anfälle, die sich nur unter bestimmten äußeren oder inneren Bedingungen ereignen (z. B. Flackerlicht, Alkoholentzug). Fokale Epilepsien sind auf einen umschriebenen Herd im Gehirn zurückzuführen und manifestieren sich an bestimmten Körperpartien, während generalisierte Anfälle eine initiale Symptomatik in beiden Hemisphären aufweisen und in kürzester Zeit das gesamte Gehirn ergreifen. Hier ist zumeist ein Bewusstseinsverlust vorhanden (zur Nomenklatur . Tab. 11.8).
. Tab. 11.8. Klassifikation epileptischer Anfälle. (Nach der revidierten Fassung der Internationalen Liga gegen Epilepsie 1981, Kurzfassung nach Spatz 2000) Fokale Anfälle
Generalisierte Anfälle
5 Einfach-fokale Anfälle – mit motorischen Symptomen – mit sensiblen oder sensorischen Symptomen – mit vegetativen Symptomen – mit psychischen Symptomen 5 Komplex-fokale Anfälle – einfach-fokaler Beginn – mit initialer Bewusstseinsstörung 5 Fokale Anfälle – sekundär generalisiert
5 5 5 5 5 5
Absencen Myoklonische Anfälle Klonische Anfälle Tonische Anfälle Tonisch-klonische Anfälle (Grand mal) Atonische (astatische) Anfälle
333 11.3 Epilepsie
Unter komplex-fokalen Anfällen versteht man solche, deren gemeinsame Charakteristika im Beginn innerhalb einer Hemisphäre und einer begleitenden Bewusstseinsveränderung liegen. Einfach-fokale Anfälle lassen dagegen das Bewusstsein intakt. Der Sitz des Anfallsgenerators bestimmt die Symptomatik (sensibel, sensorisch, motorisch, autonom). Die Bedeutung ätiologischer Realisationsfaktoren ist je nach Lebensalter unterschiedlich: Während im Verlauf der ersten beiden Lebensdekaden genetische Faktoren eine größere Rolle spielen, treten in den folgenden beiden Lebensjahrzehnten Hirnverletzungen, in der 4.–6. Dekade Tumoren und danach zerebrale Durchblutungsstörungen (v. a. Hirninfarkte, Hirnblutungen, seltener Hirnvenenthrombosen und Subarachnoidalblutungen; 7 Kap. 11.2) in den Vordergrund. Epileptische Anfälle können auch Folge von benignen wie malignen Hirntumoren, jeder anderen Raumforderung, von Hirnentzündungen (Enzephalitiden, Meningoenzephalitiden), hirndegenerativen Erkrankungen (Morbus Alzheimer) und Stoffwechselstörungen (z. B. Hypoglykämie, Hypoparathyreoidismus) sein. Über die Häufigkeit verschiedener Ursachen informiert . Tab. 11.9. Da es keine einheitliche Epilepsie gibt, sondern unterschiedliche Syndrome mit unterschiedlichen Ursachen, sind auch die Krankheitsverläufe höchst unterschiedlich. Man unterscheidet 5 idiopathische, 5 kryptogene und 5 symptomatische Epilepsien. Idiopathisch werden diejenigen genannt, bei denen sich
interiktual weder ein pathologischer Befund noch eine morphologische Läsion nachweisen lässt. Es liegen jedoch bestimmte phänomenologisch-diachronische Charakteristika, eine Altersbindung und manchmal auch eine familiäre Disposition vor.
. Tab. 11.9. Ursachen von Epilepsien (metabolische oder toxische Ursachen, z. B. Alkohol, Medikamente, waren ausgeschlossen) Ursachen
Häufigkeit [%]
Prä-/perinatale/kongenitale Faktoren
8,0
Trauma
5,5
Vaskuläre Ursachen
10,9
Tumoren
4,1
Infektionen
2,5
Degenerative Veränderungen (z. B. Morbus Alzheimer)
3,5
Kryptogen/idiopathisch
65,5
Kryptogen heißen diejenigen Epilepsien, bei denen sich keine eindeutigen klinischen Befunde sichern lassen, die den Schluss auf eine zweifelsfreie Ätiologie zulassen, gleichzeitig aber auch nicht als idiopathisch angesprochen werden können. Symptomatisch schließlich sind alle diejenigen Epilepsien, bei denen sich eine Ursache aufdecken lässt. Verfeinerte diagnostische Möglichkeiten haben in den letzten Jahrzehnten diese Gruppe ständig anwachsen lassen. Die Prognose ist für viele idiopathische Epilepsien (z. B. benigne Partialepilepsie im Kindesalter, AbsencenEpilepsie im Schulkindesalter, juvenile myoklonische Epilepsie und das tonisch-klonische Aufwach-grand-mal) am günstigsten. Weniger günstig ist sie für kryptogene Partialepilepsien, noch ungünstiger – je nach Ätiologie – für symptomatische Partialepilepsien. Weitere Indikatoren für einen eher ungünstigen Verlauf sind begleitende psychische Störungen im Intervall und Allgemeinveränderungen im EEG. Die Frage der Differenzialdiagnose ist nicht trivial. Kardiovaskuläre Synkopen, Stoffwechselstörungen, psychogene Anfälle, Tics, Hirnstammanfälle, Spasmen, schlafgebundene Bewegungsstörungen, ischämische Ereignisse, Panikattacken und Migräne müssen bedacht und sorgfältig abgegrenzt werden.
11.3.3 Fragen zum Zusammenhang
Traumata > Eine Schädelprellung führt nie und eine Commotio cerebri (7 Kap. 11.1) grundsätzlich nicht zu einer Epilepsie, die erst ab dem Schweregrad einer Contusio cerebri oder bei intrakraniellen Blutungskomplikationen zu erwarten ist.
Bei einer Commotio cerebri sind im Grunde nur Sofortanfälle bekannt. Hierbei kommt es unmittelbar nach dem Trauma zu einer Bewusstlosigkeit mit einer kurzen tonischen und anschließenden klonischen Anfallsphase. In Untersuchungen an australischen Footballspielern wurden bei einer mittleren Verlaufszeit von 3,5 Jahren keine weiteren Anfälle beobachtet, sodass keine Epilepsie entstand. > Als Folge von substanziellen Hirnverletzungen können Frühanfälle innerhalb der 1. Woche oder Spätanfälle nach Ablauf der 1. Woche und danach eine posttraumatische Epilepsie entstehen.
Frühanfälle ziehen in 48% eine Epilepsie nach sich, Spätanfälle in 82%. Eine Contusio cerebri erhöht das Epilepsierisiko auf 3%, eine Impressionsfraktur auf 5%, eine offene Impressionsfraktur oder ein Epiduralhämatom auf 30%, eine operierte Kontusionsblutung auf 35%, ein aku-
11
334
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Nervensystem
tes Subduralhämatom auf 40%, ein Intrazerebralhämatom auf 50% und eine Impressionsfraktur mit posttraumatischer Amnesie, die länger als 24 Stunden dauert oder mit einem Frühanfall einhergeht, oder eine penetrierende Hirnverletzung sogar auf über 50%. Eine offene Impressionsfraktur mit posttraumatischer Amnesie, die länger als 24 Stunden dauert und einen Frühanfall nach sich zieht, führt in rund 70% zu einer Epilepsie. Das Epilepsierisiko kann nach Hirnverletzungen bei einem leichteren Trauma (Contusio cerebri) auf rund das 1,5-Fache, bei einem mittelschweren Trauma auf das 3-Fache und bei einem schweren Trauma auf das 17Fache des Grundrisikos eingeschätzt werden. Während im 1. Jahr nach einem Trauma etwa 55% und im 2. Jahr ca. 10% der Anfälle auftreten, ereignen sich in den Folgejahren nur noch je 1–2%. Rund 65% aller posttraumatischen Epilepsien manifestieren sich also innerhalb von 2 Jahren. Die längsten Latenzen, die in der Literatur für traumatisch ausgelöste Epilepsien mitgeteilt wurden, liegen um die 30 Jahre. Die Möglichkeit eines Zusammenhangs nimmt mit längerer Latenz zwischen Schädeltrauma und Epilepsie ab. Falls ein Zeitintervall über 3 Jahre nach dem Trauma vorliegt, muss für die Anerkennung eines Zusammenhangs deshalb ein besonders stringenter Nachweis geführt werden, z. B. die Übereinstimmung des initialen Herdbefundes mit der fokalen Anfallssymptomatik. Bei zivilen Schädel-Hirn-Traumata liegen in bis zu 20% gedeckte, in bis zu 40% offene Schädel-Hirn-Traumata vor. Diese sind in bis zu 44% der Fälle temporal oder parietal und in bis zu 24% frontal oder okzipital lokalisiert. Nach supratentoriellen chirurgischen Eingriffen ist zu 17% mit Anfällen zu rechnen. Bei Kriegsverletzungen infolge von Geschossen traten in 45% der Fälle innerhalb von 5 Jahren Spätepilepsien auf.
Eine Remission posttraumatischer Epilepsien innerhalb von 2 Jahren ist in 50%, danach in bis zu 5 Jahren in 20% und danach in bis zu 16 Jahren in nurmehr 13% der Fälle zu erwarten. Nur selten kommt es zu dauerhaften Remissionen. Bei der Beurteilung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Trauma und Epilepsie muss eine Reihe von Fragen beantwortet werden: 5 Handelt es sich wirklich um epileptische Anfälle? 5 Liegt eine substanzielle Hirnschädigung vor? 5 Ist diese geeignet, eine symptomatische Epilepsie auszulösen? 5 Gibt es Hinweise auf dispositionelle Faktoren (EEG, Familienanamnese)? 5 Gibt es Hinweise auf frühere neurologische Erkrankungen oder Läsionen, die ihrerseits für eine Verursachung oder eine Verschlimmerung anzuschuldigen sind? Es müssen verschiedene Faktoren aus Anamnese und Befund gewichtet und sorgfältig gegeneinander abgewogen werden (. Tab. 11.10). Bei der Begutachtung ist auch zu berücksichtigen, dass Entzugskrämpfe nicht nur nach Alkoholabusus, sondern auch bei Patienten mit Medikamentenabhängigkeit, besonders vom Barbiturat-/Benzodiazepin-Typ, auftreten können. Schließlich sind auch Überdosierungen und Intoxikationen mit Psychopharmaka (Neuroleptika, Antidepressiva, Lithiumsalze) sowie gelegentlich auch Antibiotika, Analeptika, Steroide, Insulin, Anästhetika und Sympathikomimetika (z. B. Bronchodilatatoren) geeignet, epileptische Anfälle überwiegend vom generalisierten Typ hervorzurufen. Stets ist eine genaue Medikamentenanamnese zu erheben, da einer Reihe von Stoffen ein anfallsbegünstigendes Potenzial eignet (Übersicht).
. Tab. 11.10. Zusammenhang zwischen Trauma und Epilepsie Faktoren, die im Zweifelsfall eher für einen Zusammenhang zwischen Trauma und Epilepsie sprechen
Faktoren, die im Zweifelsfall eher gegen einen Zusammenhang zwischen Trauma und Epilepsie sprechen
Schwere ausgedehnte Hirnverletzung
Leichte Hirnverletzung
Offene Hirnverletzung
Gedeckte Hirnverletzung
Verletzung der Parietal-, Temporal- und Frontalregion
Verletzung der Okzipitalregion
Nach gedeckter Hirnverletzung erste Anfälle in den ersten 2 Jahren
Nach gedeckter Hirnverletzung erste Anfälle erst nach über 2 Jahren
Fokale und fokal beginnende Annfälle in Übereinstimmung mit dem Verletzungssitz
Tageszeitliche Bindung der Anfälle
Status-epilepticus-Attacken insbesondere bei Stirnhirnverletzungen
Auch eindeutige Petit-mal-Anfälle
EEG-Herdbefund
Im EEG generalisierte Krampfaktivität
Keine familiäre Belastung mit Anfällen
Familiäre Belastung mit Anfällen Alkoholabusus
335 11.3 Epilepsie
Potenziell anfallsauslösende Medikamente 5 Antidepressiva Imipramin, Amitriptylin, Doxepin, Nortriptylin, Maprotilin, Mianserin, Nomifensin, Bupropion 5 Antipsychotika Chlorpromazin, Thioridazin, Perphenazin, Trifluoperazin, Prochlorperazin, Haloperidol 5 Analgetika Fentanyl, Meperidin, Pentazocin, Propoxyphen, Cocain, Mefenaminsäure, Tramadol, Lidocain, Mepivacain, Procain, Bupivacain, Etidocain, Ketamin, Halothan, Althesin 5 Antibiotika Penicillin, Oxacillin, Carbenicillin, Ticracillin, Ampicillin, Cephalosporine, Metronidazol, Nalidinsäure, Isoniazid, Cycloserin, Pyrimethamin, Imipenem 5 Antineoplastika Chlorambucil, Vincristin, Methotrexat, Cytosinarabinosid, Misonidazol 5 Bronchodilatatoren Aminophyllin, Theophyllin 5 Sympathikomimetika Ephedrin, Terbutalin, Phenylpropanolol 5 Andere Antihistaminika, Anticholinergika, Baclofen, Ciclosporin A, Lithium, Atenolol, Disopyramid, Phencyclidin, Amphetamin, Domperidon, Doxapram, Ergonovin, Folsäure, Kampher, Methylxanten, TRH, Ocytocin, Methylphenidat, in einigen seltenen Fällen sogar Antiepileptika
11.3.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
sätzlich schwerere körperliche oder geistige Funktionsstörungen vorliegen. . Tab. 11.11 lässt erkennen, dass eine Hirnverletzung mit leicht verlaufender Epilepsie, also seltenen Anfällen, im Versorgungswesen und nach dem Schwerbehindertengesetz bereits einen GdB/MdE-Grad von mindestens 50 zur Folge hat. Damit ist der Betroffene schon als Schwerbehinderter anzuerkennen. Sicherlich ist es von Bedeutung, ob ein Geschädigter ausschließlich große generalisierte (Grand-mal-Anfälle) erleidet oder nur abortive fokale, evtl. sogar einfach-partielle Anfälle. > Ein Anfallsleiden gilt als abgeklungen, wenn ohne Medikamente für 3 Jahre Anfallsfreiheit besteht.
Ohne nachgewiesenen Hirnschaden ist dann kein GdB/ MdE mehr anzunehmen (. Tab. 11.12).
Erwerbs- und Dienstunfähigkeit Grundsätzlich werden Erwerbsunfähigkeitsrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei Patienten mit Epilepsie nur dann gewährt, wenn diese bei Eintritt in die Versicherung noch nicht bestanden. Somit darf nur eine zur EU führende Verschlechterung des Leidens anerkannt werden. Das Durchschnittsalter der wegen einer Epilepsie berenteten Arbeitnehmer liegt immer noch um mehr als ein Jahrzehnt unter dem aller wegen anderer Erkrankungen berenteter Patienten. Bei der EU geht es um alle Tätigkeiten, mit denen ein Erwerb möglich ist, d. h. man bezieht sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Hier ist auch der interiktuale Befund ins Kalkül zu ziehen. Entscheidenden Einfluss hat daneben der Anfallstyp. Ein Grand mal vom diffusen Verlaufstyp wirkt sich natürlich besonders ungünstig aus, während ein solcher vom Schlaftyp eher vorteilhaft ist. Anfallskranke mit Aufwach-Grand-mal können durchaus am Arbeitsplatz völlig anfallsfrei sein.
Schwerbehindertengesetz Die im Schwerbehindertengesetz (SchwBG) vorgesehenen gesundheitlichen Merkmale für Nachteilsausgleiche umfassen die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (G), die Notwendigkeit ständiger Begleitung (B) und Hilflosigkeit (H). Die für Epilepsiekranke gegebenen Voraussetzungen und damit verbundenen Vergünstigungen sind in den vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen »Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit« beschrieben. Im Allgemeinen ist auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erst ab einer mittleren Anfallshäufigkeit zu schließen, wenn die Anfälle überwiegend untertags auftreten. Dann ist auch die Notwendigkeit ständiger Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel gegeben. Die anderen Merkzeichen sind gewöhnlich nur dann zu vergeben, wenn zu-
Pflegebedürftigkeit Auch für Anfallskranke gilt, dass die Voraussetzungen für die Feststellung von Hilflosigkeit dann gegeben sind, wenn eine Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muss, weil Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist. Ob die Voraussetzungen für Pflegebedürftigkeit vorliegen, ist vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung zu prüfen.
11.3.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Berufsunfähigkeit Ein Arbeitsplatz für Anfallskranke darf nicht mit einem größeren als dem alltäglichen Gefahrenrisiko verbunden sein. In jedem Fall müssen Anfallsart und Behandlungsstand des Berufstätigen mit Epilepsie mit zu den
11
336
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 11 · Nervensystem
. Tab. 11.11. GdB/MdE bei Epilepsien aufgrund von Hirnverletzungen Private Unfallversicherung, Schwerbehindertengesetz
Gehirnfunktionsstörung
GdB/MdE (BVG)
Gesetzliche Unfallversicherung
Epileptische Anfälle je nach Art, Schwere, Häufig-keit und tageszeitlicher Verteilung
40–100
30–100
Sehr selten (generalisierte – große – und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von mehr als 1 Jahr, kleine Anfälle mit Pausen von Monaten)
40
30–40
Selten (generalisierte – große und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Monaten; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen)
50–60
40–50
40
Mittlere Häufigkeit (generalisierte – große – und komplex-fokale Anfälle mit Pausen von Wochen; kleine und einfach-fokale Anfälle mit Pausen von Tagen)
60–80
50–60
50–60
Häufig (generalisierte – große – und komlex-fokale Anfälle wöchentlich oder Serien von generalisierten Krampfanfällen, von fokal betonten oder von multifokalen Anfällen; kleine und einfach-fokale Anfälle täglich)
90–100
70–100
70–100
Nach 3 Jahren Anfallsfreiheit bei weiterer Notwendigkeit antikonvulsiver Behandlung wegen fortbestehender Anfallsbereitschaft
30
20
20
Zur Anfallshäufigkeit . Tab. 11.12.
9 . Tab. 11.12. Definition der Anfallshäufigkeit von Epilepsien
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Anfallshäufigkeit
Einfach- oder komplex-partielle Anfälle
Grand-mal-Anfälle
Selten
≤6 Anfälle im Jahr
≤3 Anfälle im Jahr
Untermittelhäufig
≤12 oder 24 Anfälle im Jahr
≤6 Anfälle im Jahr
Mittelhäufig
≤48 Anfälle im Jahr
≤12 Anfälle im Jahr
Häufig, Frage der BU
>48 Anfälle im Jahr
>12 Anfälle im Jahr
Sehr häufig, EU?
>120 Anfälle im Jahr
>48 Anfälle im Jahr
BU = berufsunfähig, EU = erwerbsunfähig.
am Arbeitsplatz auftretenden speziellen Risiken in Relation gesetzt werden. So ist ein Arbeiter mit Anfällen berufsunfähig, wenn er gezwungen ist, auf Gerüsten zu arbeiten (Maurer, Anstreicher, Dachdecker, Monteur u. a.). Ein ähnliches Risiko besteht bei beruflicher Tätigkeit im Bereich von Gewässern, im Schiffsbau, an Wasserkraftwerken und z. B. in der Stahl- und Chemieindustrie. Es ist deshalb im Einzelfall eine genaue Arbeitsplatzanalyse erforderlich (. Tab. 11.13). Besondere Regeln gelten für Kraftfahrer (7 Kap. 11.3.6). Noch detailliertere Einstufungen zur Berufsfähigkeit wurden seitens des Arbeitskreises zur beruflichen Eingliederung von Menschen mit Epilepsien durchgeführt.
Unfallversicherung Grundsätzlich nehmen Versicherungen wie Unfall- oder Lebensversicherer auch Anfallskranke auf. Nach der Krankheit dürfen sie nur dann fragen, wenn es für die Ab-
schätzung des Risikos von Bedeutung ist. Nach ärztlicher Begutachtung kann bereits nach 3-jähiger Anfallsfreiheit unter individueller Berücksichtigung von einer Normalsituation ausgegangen werden. Häufig verlangen Versicherungen in Kenntnis einer Epilepsie beträchtliche Risikozuschläge. Tritt aber die Erkrankung nach Abschluss der Versicherung erstmalig auf, so realisiert sich das versicherte Risiko, und der Versicherer ist zur Leistung verpflichtet. Bei privaten Unfallversicherern besteht in der Regel ein Ausschluss der Leistungspflicht für Unfälle, die durch Anfälle verursacht sind. Gelegentlich wird also der Gutachter zur Beantwortung der Frage aufgefordert, ob ein Unfall durch einen Krampfanfall verursacht wurde. Ist dies zu bejahen, entfällt der Versicherungsschutz. In die gesetzliche Krankenversicherung sind aber Patienten mit Epilepsie eingeschlossen, ohne einen erhöhten Beitragssatz bezahlen zu müssen. Schwierigkeiten bei der
337 11.3 Epilepsie
. Tab. 11.13. Berufseinschränkung bei Patienten mit Epilepsie Nicht geeignet
In der Regel nicht zumutbar
Häufig Bedenken bei
5 5 5 5 5 5 5
5 5 5 5 5 5
5 5 5 5 5
Berufskraftfahrt Absturzgefahr Offenes Wasser Offenes Feuer Starkstrom und ungeschützte Maschinen Überwachungs- und Steuertätigkeit Mitgefährdung anderer Personen
Nachtschicht Akkordarbeit Einzelarbeit Optokinetische Reize Publikumsverkehr Langer Arbeitsweg
gesetzlichen Rentenversicherung treten dann auf, wenn die Patienten schon bei Eintritt ins Berufsleben erwerbsunfähig sind. Arbeiten sie dennoch, so erwerben sie einen Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente nur, wenn sie eine Versicherungszeit von mindestens 20 Jahren erreicht haben. Ansonsten ist es erforderlich, dass vor Eintritt der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten erreicht wurde.
Angabepflicht vor Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit Grundsätzlich Bei einer Bewerbung muss keine Auskunft über frühere Anfälle gegeben werden, wenn die Epilepsie als ausgeheilt betrachtet werden kann. Wird der Bewerber nicht direkt nach früheren Erkrankungen gefragt, muss er nur über solche berichten, die seine Arbeitsleistungen beeinträchtigen. Werden relevante Erkrankungen verschwiegen, stellt dies einen Entlassungsgrund dar. Ein Arbeitgeber kann bei Vorliegen einer Epilepsie die Kündigung aussprechen, sofern der Arbeitnehmer deshalb seine Tätigkeit nicht aufnehmen kann. Zuvor ist jedoch zu erwägen, ob die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung im Betrieb besteht.
11.3.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Fahrereignung Grundsätzlich Das selbstständige Führen eines Flugzeugs ist bei aktiver Epilepsie untersagt. Das Vorgehen im Einzelfall oder bei speziellen epileptischen Syndromen muss unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Faktoren sorgfältig und individuell diskutiert werden. Flugreisen sind für Epilepsiepatienten grundsätzlich möglich. Allerdings wird das Leiden von verschiedenen Fluggesellschaften unterschiedlich beurteilt. Bei schweren und häufigen Anfällen ist in der Regel eine Begleitperson, evtl. ein begleitender Arzt zu empfehlen. > Die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges besteht nicht, solange noch Anfälle auftreten.
Hitze Kälte Lärm Früh- und Spätschicht Unterrichtstätigkeit
Maßgeblich sind hierzulande die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz 2000). Hier heißt es unter 3.9.6 Anfallsleiden, Leitsätze Gruppe 1:
»
Wer unter persistierenden epileptischen Anfällen oder anderen anfallsartig auftretenden Bewusstseinsstörungen leidet, ist in der Regel nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 (A, A1, B, BE, M, L und T, im wesentlichen der früheren Klasse III entsprechend) gerecht zu werden, solange ein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven besteht.
«
Gleiches gilt bei nichtepileptischen Anfällen mit akuter Beeinträchtigung des Bewusstseins oder der Motorik wie narkoleptischen Reaktionen, affektiven Tonusverlusten, kardiovaskulären Synkopen, psychogenen Anfällen u. a. (Krämer 2000). Ausnahmen sind gerechtfertigt bei einfach-fokalen Anfällen, die keine Bewusstseinsstörung und keine motorische, sensorische oder kognitive Behinderung für das Führen eines Fahrzeuges zur Folge haben und bei denen nach mindestens 1-jähriger Verlaufsbeobachtung keine relevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplex-fokalen oder generalisierten Anfällen erkennbar wurde, und bei ausschließlich schlafgebundenen Anfällen nach mindestens 3-jähriger Beobachtungszeit. Ein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven ist in folgenden Situationen nicht anzunehmen nach einem einmaligen Anfall (nach einer Beobachtungszeit von 3–6 Monaten): 5 Wenn der Anfall an bestimmte Bedingungen geknüpft war (Gelegenheitsanfall) wie z. B. bei Schlafentzug, Alkoholkonsum oder akuter Erkrankung (Fieber, Vergiftung und akute Erkrankung des Gehirns oder Stoffwechselstörung) und der Nachweis erbracht wurde, dass jene Bedingungen nicht mehr gegeben sind. Bei Gelegenheitsanfällen im Rahmen einer Alkoholabhängigkeit ist eine zusätzliche Begutachtung der Fachärzte für Neurologie, Psychiatrie oder Rechtsmedizin erforderlich. 5 Wenn die neurologische Abklärung weder Hinweise auf eine ursächliche morphologische Läsion noch auf eine beginnende idiopathische Epilepsie ergeben hat. 5 Wenn der Betroffene 1 Jahr anfallsfrei geblieben ist und kein wesentliches Risiko weiterer Anfälle besteht.
11
338
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Nervensystem
Bei langjährig bestehenden, bislang therapieresistenten Epilepsien beträgt die erforderliche anfallsfreie Zeit 2 Jahre. Das EEG muss dabei nicht von den für Epilepsie typischen Wellenformen frei sein. Eine massiv ausgeprägte Spike-wave-Tätigkeit im EEG, eine im Verlauf nachgewiesene Zunahme von generalisierten Spike-wave-Komplexen und fokalen »sharp waves« sowie die Persistenz einer Verlangsamung der Grundaktivität können Indikatoren für eine Rezidivneigung sein. Nach einem einmaligen Anfall im Erwachsenenalter ohne Anhalt für eine beginnende Epilepsie oder eine andere hirnorganische Erkrankung ist eine anfallsfreie Zeit von einem Jahr abzuwarten. Anfallsrezidive sind nicht anzunehmen nach Anfällen, die nur kurze Zeit (etwa 2 Wochen) nach Hirnoperationen oder Hirnverletzungen aufgetreten sind, wenn ein anfallsfreies Intervall von einem halben Jahr verstrichen ist. Nach einem Anfallsrezidiv wird ein 6-monatiges Fahrverbot ausgesprochen. Die Voraussetzung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E und Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung, im Wesentlichen der früheren Klasse II entsprechend) bleibt nach mehr als zwei epileptischen Anfällen in der Regel ausgeschlossen. Als Ausnahme gilt eine durch ärztliche Kontrolle nachgewiesene 5-jährige Anfallsfreiheit ohne antiepileptische Behandlung. Bei Fahrerlaubnisinhabern beider Gruppen sind Kontrolluntersuchungen in Abständen von 1, 2 und 4 Jahren erforderlich. Mit zunehmender Dauer der Anfallsfreiheit verlieren EEG-Befunde an Bedeutung. Nach einem Gelegenheitsanfall ist bei Vermeiden der provozierenden Faktoren nach 6 Monaten keine wesentliche Risikoerhöhung anzunehmen. Am EEG als obligatorischer Untersuchung zur Fahrtauglichkeitsbeurteilung wird nicht mehr festgehalten. Beim Absetzen von Antiepileptika sind die Betroffenen über das erhöhte Anfallsrisiko zu informieren. Die Informationspflicht des Arztes beinhaltet aber keine Meldepflicht gegenüber den Behörden. Der Informationsnachweis erfolgt durch Unterschrift des Patienten unter ein entsprechendes Formular, eine Protokollierung in der Krankenakte oder einen Hinweis im Arztbrief (Krämer 2000).
Wehrdienst In aller Regel wird beim Auftreten von epileptischen Anfällen eine Befreiung vom Wehrdienst ausgesprochen werden. Besonders kritisch sind Einsatzgebiete, die die kontinuierliche Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit (Vigilanz, Luftraumüberwachung) oder einen Schusswaffengebrauch erfordern.
11.3.7 Risikobeurteilung
Beamtenrecht Patienten mit Epilepsie, die eine Beamtenlaufbahn einschlagen wollen, müssen individuell auf ihre Eignung hin untersucht werden. Dies erfordert meist eine Begutachtung durch einen Nervenarzt (Neurologen, Psychiater) einschließlich EEG-Untersuchung. Hier geht es um die Frage der uneingeschränkten oder eingeschränkten Einsetzbarkeit eines Beamten mit Epilepsie im Vergleich mit einem Gesunden. Es wird meist verlangt, zu beurteilen, ob gemäß § 42 BBG/LBG (Bundesbzw. Landesbeamtengesetz) innerhalb von 6 Monaten voraussichtlich die volle Dienstfähigkeit wiederhergestellt werden kann. Es wird auch festgestellt, ob der zu Begutachtende nicht nur für die konkrete Tätigkeit, sondern für die gesamte Laufbahn geeignet ist. Das Vorliegen einer deutlichen Wesensänderung oder einer beginnenden Demenz schließt die Dienstfähigkeit aus. Gleiches ist der Fall, wenn Beamte mit Epilepsien in Positionen tätig sind, in denen sie für die Sicherheit anderer Menschen verantwortlich sind (Verkehrsbetriebe, Bundesbahn, Polizei). Sie können dann auf einen anderen Arbeitsplatz, z. B. in den Innendienst, versetzt werden. Die deutsche Sektion der Internationalen Liga gegen Epilepsie hat 1966 Richtlinien für die Aufnahme von Anfallskranken in den Beamtenstand aufgestellt, die wie folgt lauten (Krämer 2007): 1. Epileptische Anfallskranke generell von der Beamtenlaufbahn auszuschließen ist aus medizinischen Gründen nicht mehr gerechtfertigt. 2. Anfallskranke sind auch nach erfolgreicher Behandlung in keinem Fall für eine Beamtenlaufbahn geeignet, in der sie für das Leben und die Gesundheit der Allgemeinheit direkt verantwortlich sind. 3. Anfallskranke ohne psychopathologische Auffälligkeiten, die mindestens 2 Jahre nach Beendigung der Behandlung anfallsfrei geblieben sind und im EEG keine für Epilepsie typischen Wellenformen mehr zeigen, können als geheilt gelten und sind für alle Positionen im Beamtendienst geeignet (mit Ausnahme von 2.). 4. Anfallskranke ohne psychopathologische Auffälligkeiten, die noch der medikamentösen Behandlung bedürfen, um anfallsfrei zu bleiben, oder dabei nur seltene Anfälle haben, sind entsprechend den Unfallverhütungsvorschriften nur für Positionen geeignet, in denen ein möglicher epileptischer Anfall zu keiner Gefährdung des Beamten oder Dritter führen kann.
339 11.3 Epilepsie
11.3.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Prognose der verschiedenen Epilepsieformen Die Prognose hängt von den verschiedensten Faktoren ab und kann im Einzelfall außerordentlich unterschiedlich sein; stets muss dabei eine evtl. bekannte Grunderkrankung neben dem Anfallsgeschehen als solchem berücksichtigt werden. Eine Abschätzung lässt sich bei Kenntnis aller verschiedenen epileptischen Syndrome im Kindesund Erwachsenenalter differenziert ermöglichen (Baumgartner u. Stefan 2008). > Eine Epilepsie kann durch geeignete Behandlung praktisch folgenlos ausheilen oder ungünstigstenfalls zu schwerer Behinderung und Tod führen. Ein früher Beginn verschlechtert in der Regel die Gesamtprognose; Spätepilepsien, die nach dem 50. Lebensjahr einsetzen, verlaufen häufig günstiger.
Günstig sind auch pyknoleptische Absencen, myoklonisch-impulsive Anfälle und das Aufwach-Grand-Mal, ebenso fokale Anfälle mit extratemporalem Fokus und die sog. Rolando-Epilepsie. Ungünstiger ist die Prognose für Blitz-Nick-Salaam-, tonisch-astatische und komplex-partielle Anfälle, besonders wenn sie mit Grand-mal-Anfällen kombiniert auftreten. Weitere günstige Zeichen sind das prompte Ansprechen auf eine antiepileptische (Mono-) Therapie und seltene Anfälle (Oligoepilepsie). Sogenannte »idiopathische« Epilepsien sind günstiger zu sehen als Prozessepilepsien oder Epilepsien bei fortschreitender Grunderkrankung. Schwere neurologische oder psychiatrische Defekte vor oder bei Epilepsiebeginn verdüstern die Prognose ebenso wie der Nachweis ausgedehnter struktureller Hirnveränderungen. Konstante Störungen der EEG-Grundaktivität, Verlangsamungen, schwere Dysrhythmien und kontinuierliche abnorme Rhythmisierungen sind negative Prädiktoren. Statistisch ist die Lebenserwartung Epilepsiekranker etwas kürzer als die gesunder Menschen. Maßgeblich hierfür ist zum einen eine mögliche schwerwiegende oder progrediente Grunderkrankung, zum anderen der Todeseintritt als unmittelbare Anfallsfolge, was allerdings infolge der heutigen guten Behandlungsmöglichkeiten an Bedeutung verliert. Schließlich ist auch die Suizidrate (Versuche etwa 5-mal, vollendete etwa 3- bis 4-mal) höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Eine erfolgreiche Anfallsbehandlung und eine gute soziale Integration sind die beste Prophylaxe dagegen.
Therapie Bei pharmakoresistenten fokalen Epilepsien führt die Epilepsiechriurgie z. B. des Temporallappens in 60–80% zur Anfallskontrolle.
Die Behandlungsmöglichkeiten durch moderne Antiepileptika und epilepsiechirurgische Eingriffe sind heute so vielfältig, differenziert und erfolgreich, dass der Mehrzahl aller Epilepsiekranken gut geholfen werden kann. Problematisch sind v. a. diejenigen Fälle, bei denen ein fortschreitendes hirneigenes Leiden sich u. a. in epileptischen Anfällen manifestiert (z. B. progressive Myoklonusepilepsie). Andererseits können Epilepsien durchaus »ausheilen« oder durch Medikamente oder operative Eingriffe dauerhaft erfolgreich unterdrückt werden.
Berufsaussichten In bestimmten Fällen ist eine Umschulung unumgänglich. Besonders zu achten ist nicht nur auf das Leistungsverhalten, sondern auch die Dauerbelastungsfähigkeit, die Gruppenfähigkeit und soziale Auswirkungen der Erkrankung. Auf eine straffe Führung zur Erzielung einer hohen Compliance ist großer Wert zu legen. Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen ist bei Umschulung und Anlernung mit einem Ergebnis von 60–70% anschließend Berufstätiger zu rechnen. Schwierigkeiten bereitet immer noch die Arbeitsvermittlung inkl. der beruflichen Eingliederung. Dazu gehören auch spezielle Trainingsprogramme und die Förderung einer gegenüber Anfallskranken positiven Einstellung in der Bevölkerung. > Hervorzuheben ist, dass Arbeitgeber bei der Einstellung eines Erwerbstätigen mit Epilepsie kein Haftungsrisiko für im Anfall auftretende Gesundheitsschäden eingehen.
11.3.9 Sonderfragen
Schuldfähigkeit und Haftungsfragen Da ein Patient mit einer Epilepsie insbesondere bei generalisierten oder komplex-partiellen Anfällen nicht handlungsfähig ist, besteht das Problem der Zurechnungsfähigkeit nicht. Sehr selten werden während einer nur Sekunden dauernden Aura Straftaten möglich sein, wobei dann die Zurechnungsfähigkeit aufgehoben ist. Ein fokaler auf eine Gliedmaße beschränkter Anfall hebt diese aber nicht auf. Präiktuale Verstimmungszustände sind über längere Zeiten möglich, bedingen aber i. Allg. keine wesentliche Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit. Postiktuale Bewusstseinsstörungen mit gelegentlichen Aggressionshandlungen sind ebenso wie langanhaltende bis zu Wochen dauernde postiktuale Dämmerzustände mit Produktivpsychosen exkulpierbar, bedürfen jedoch hierzu einer genauen Dokumentation und Diagnose.
11
340
Kapitel 11 · Nervensystem
1
Kommentar
2
Sogenannte epileptische Wesensänderungen und Pseudodemenzen durch schwerwiegende Hirnschädigungen und langjährige antikonvulsive Medikation werfen schwierige Fragen auf, die zum Teil auch nach einem forensischen Psychiater verlangen.
3
Normalisierung des EEG unter Medikation die psychische Störung zunimmt. Die Suizidrate von Patienten mit Epilepsie ist auf das 5-Fache der Durchschnittsbevölkerung erhöht. Eine Betreuung wird nur selten, z. B. bei Status epilepticus oder schwerem organischem Psychosyndrom erforderlich.
11.4
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit muss sowohl die Zeiträume zwischen den Anfällen als auch den psychopathologischen Befund des Patienten im Anfall und zwischen den Anfällen berücksichtigen. Interiktual sind die meisten Patienten mit Epilepsie genauso wie Normalpersonen zu beurteilen. Eine besondere Situation ergibt sich beim Vorliegen einer Wesensänderung oder einer zusätzlichen Hirnerkrankung. Eine Aura oder ein interiktualer Verstimmungszustand führt i. Allg. zu keiner wesentlichen Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit; diese ist jedoch regelmäßig im postiktualen Dämmerzustand anzunehmen, welcher über Minuten bis Tage oder im Extremfall sogar Wochen dauern kann. Insgesamt ist aber die Kriminalität bei Anfallskranken nicht größer als in der Allgemeinbevölkerung. Andere Betrachtungsweisen greifen nur, wenn dafür hätte Vorsorge getroffen werden können, dass keine Schäden entstehen. Die strafrechtliche Schuldfähigkeit wird nach § 20/21 StGB geregelt. Die Einordnung der Diagnose Epilepsie erfolgt unter der forensischen Kategorie »krankhafte seelische Störungen«. Dies würde aber vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten implizieren. Hinsichtlich der Unfallverhütung kann ein Gefahrenrisiko, das dem des täglichen Lebens entspricht, in Kauf genommen werden; der Arbeitsplatz darf demnach nicht mit größeren als alltäglichen Risiken behaftet sein. Dies hat der Arbeitgeber zu entscheiden. Eine unmittelbare Haftung besteht nur bei Vorsatz, ein Regress seitens der Versicherung auch bei grober Fahrlässigkeit.
Peripheres Nervensystem C.J.G. Lang
Die Prävalenz peripherer Nervenläsionen beträgt rund 30, die Inzidenz 15/100.000 Einwohner, unfall- oder iatrogen bedingte Schädigungen inbegriffen (Masuhr u. Neumann 1998). Ein besonderes Thema stellen exogen-toxische Polyneuropathien dar, zumal wenn sie beruflich verursacht wurden. Nervenschädigungen im Zusammenhang mit ärztlichen Eingriffen sind ein häufiger Grund für die Anrufung ärztlicher Schiedsstellen. Es sind deshalb genaue Kenntnisse des peripheren Nervensystems und seiner Schädigungsmöglichkeiten eine unerlässliche Voraussetzung für jeden mit der Materie befassten Gutachter. Besondere Bedeutung kommt der Abgrenzung gegenüber nicht exogen verursachten Schäden, der Aufklärung über eingriffstypische Risiken und dem Einsatz nicht zugelassener Medikamente zu. Eine umfassende Aufklärung erfordert neben laborchemischen, elektrophysiologischen und manchmal auch invasiven diagnostischen Maßnahmen häufig die Kooperation des Neurologen mit Chirurgen, Internisten, Anästhesisten, Orthopäden und Arbeitsmedizinern. In 7 Kap. 11.4 werden Läsionen einzelner peripherer Nerven und wichtige Polyneuropathien abgehandelt. Erkrankungen der Muskulatur, der neuromuskulären Endplatte und der Nervenwurzeln bleiben einem eigenen Kapitel vorbehalten.
11.4.1 Diagnostik
15 16 17 18 19 20
Psychische Störungen Es gibt zwar keine typische epileptische Wesensänderung, man muss aber doch damit rechnen, dass 30–50% aller Patienten mit zerebralen Anfallskrankheiten während ihres Lebens schwererwiegende psychische Störungen aufweisen. Diese können episodisch oder chronisch, während oder nach einem Anfall auftreten und sowohl reversibel wie nicht reversibel sein. Das Spektrum umfasst Persönlichkeitsstörungen, Verhaltensstörungen, Angststörungen, Psychosen, Depressionen, Intelligenzminderungen, auch Demenzen, antiepileptikainduzierte Syndrome und psychogene Anfälle. Am häufigsten sind iktuale Psychosen (55–60%), seltener interiktuale Psychosen (10–30%). Von alternativen Psychosen spricht man dann, wenn mit einem Rückgang der Anfallsfrequenz und einer
Nomenklatur und Ätiopathogenese Mechanisch bedingte Nervenverletzungen Bei der Einteilung mechanisch bedingter Nervenverletzungen hat sich weitgehend die Nomenklatur von Seddon durchgesetzt. Danach werden je nach Art und struktureller Beteiligung in einer schweregradgegliederten Folge unterschieden: 5 Neurapraxie, 5 Axonotmesis, 5 Neurotmesis. Neurapraxie. Neurapraxie ist eine Störung des Nervs und
seiner Funktion ohne bleibende Strukturveränderung als Folge einer kurzdauernden Leitungsunterbrechung mit ei-
341 11.4 Peripheres Nervensystem
ner distal der Läsionsstelle erhaltenen elektrischen Erregbarkeit, quasi eine Commotio nervi. Axonotmesis. Dies ist die Unterbrechung der Axone
(des »Nervenmarks«) bei erhaltenen Hüllstrukturen (der »Markscheide«). Im distalen Nervenabschnitt, also gewissermaßen zentrifugal, kommt es dabei zur sekundären Waller-Degeneration, wonach bei erhaltener Ganglienzelle die Neuaussprossung des proximalen Stumpfes folgt. Die Regenerationsgeschwindigkeit beträgt unter sonst physiologischen Verhältnissen etwa 1 mm pro Tag. Neurotmesis. Darunter versteht man eine komplette Kontinuitätsunterbrechung mit Dehiszenz der Nervenenden, ebenfalls einer Waller-Degeneration und fehlender Muskelantwort nach elektrischer Reizung des distalen Nervenstumpfes. In diesen Fällen muss mit der Entwicklung eines Narbenneuroms am proximalen Ende gerechnet werden. Die Möglichkeit der Wiederherstellung der Nervenfunktion erfordert in diesen Fällen eine – primäre oder sekundäre – Nervennaht oder -transplantation (Interponat). Durch stumpfe Traumen oder chronische Kompression kann es zu einer segmentalen Demyelinisierung kommen, gleichsam dem Gegenstück zur Axonotmesis. Unter den mechanischen Schädigungen am häufigsten sind Schnittverletzungen, Quetschungen, Zug- und Druckschädigungen. Schuss-/Rissverletzungen machen nur in Kriegszeiten einen nennenswerten Anteil aus. Es kann aber auch aus innerer Ursache, durch besondere Prädilektion oder repetitive Belastung (»Beschäftigungslähmung«) zu einem der charakteristischen Kompressionssyndrome kommen (s. u.).
Polyneuropathie Polyneuropathien (PNP) sind mehr oder weniger systematisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems gewissermaßen als eigenständigem Organ. Sie können symmetrisch oder asymmetrisch, distal oder proximal verteilt sein und verschiedene Funktionsanteile (motorisch, sensibel, autonom) in unterschiedlicher Ausprägung betreffen (Engelhardt 1994; Neundörfer 1995; Neundörfer et al. 1989; Neundörfer u. Heuß 2007).
Ätiologie der Polyneuropathien 5 Metabolisch (z. B. Diabetes mellitus) 5 Toxisch (z. B. Alkohol, Arsen) 5 Hereditär (z. B. hereditäre motorisch-sensible Neuropathie, HMSN) 5 Entzündlich (z. B. Lepra) 5 Physikalisch (z. B. Blitzschlag) 6
5 Immunvermittelt (z. B. Guillain-Barré-Syndrom, GBS) 5 (Para-)neoplastische (z. B. Morbus Kahler) 5 Vaskulär (Periarteriitis nodosa, arteriosklerotische PNP)
Bei der Begutachtung der Polyneuropathien stehen – abgesehen von den exotoxisch verursachten – meist nicht Zusammenhangsfragen, sondern solche der Auswirkung auf die berufliche Tätigkeit und die Alltagsfunktionalität im Vordergrund.
Untersuchungsmethoden und -kriterien Besondere Bedeutung haben hier neben Anamnese und Befund elektrophysiologische Zusatzuntersuchungen, insbesondere die Elektromyographie (EMG) und die Elektroneurographie (ENG) bzw. Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG). Das EMG zeigt frühestens 2 Wochen post laesionem Denervierungspotenziale in Gestalt von Fibrillationen und positiven scharfen Wellen (Conrad u. Bischoff 1998; Stöhr et al. 2004). Es kommt zur Rarefizierung oder Aufhebung des Willkürinnervationsmusters (. Abb. 11.5). Nach längerer Zeit können polyphasisch aufgesplittete Potenziale als Ausdruck von Reinnervationsvorgängen abgeleitet werden. Je nach Ausmaß und bevorzugtem Befall sind die motorische oder sensible Nervenleitgeschwindigkeit herabgesetzt oder nicht mehr messbar (Demyelinisierung), während bei rein axonalen Läsionen die NLG normal und die Amplitude des Reizantwortpotenzials (RAP; auch »motor unit potenzial«, MUP) reduziert ist. Häufig hat man es jedoch mit demyelinisierend-axonalen Mischbildern zu tun. In der Muskelbiopsie kann man eine neurogene Atrophie beobachten, womit eine verlässliche Unterscheidung von primären Muskelerkrankungen möglich ist. Weitere in bestimmten Fällen nützliche apparative Zusatzuntersuchungen sind 5 somatosensibel evozierte Potenziale (SEP), 5 Vibratometrie, 5 Thermotestung, 5 Leitungsblockuntersuchung, 5 F-Welle und H-Reflex, 5 sowie bei autonomen Störungen auch die sympathische Hautantwort (SSR), Schweißtest (Sudorimetrie), Herzfrequenzanalyse und Kipptischuntersuchung. Damit erfolgen Abgrenzungen zu psychogenen Störungen, Myopathien, Kompartmentsyndrom, Wurzelschädigungen, zentralen und Rückenmarkschädigungen sowie Motoneuronerkrankungen. Ein besonderes Thema sind sympathische Reflexdystrophien (Sudeck-Syndrom)
11
342
Kapitel 11 · Nervensystem
1
Spontanaktivität
motorische Einheiten mit EMG-Nadel (Schema)
Histologie
3 4
a Normal
2
Willküraktivität Einzelne Aktivitätsmuster Potentiale motorischer Einheiten
mE 1
keine mE 2
6 7
b Myopathie
5 mE 1
0,+
mE 2
9 10
c Neuropathie
8 mE 1
+++
mE 2
11 12 13 14
. Abb. 11.5a–c. Morphologische und elektromyographische Charakteristika des normalen Muskels und der Veränderungen bei neurogener Muskelatrophie. a Schematische Darstellung der Innervation von Muskelfasern durch 2 motorische Einheiten, rechts daneben der histologische Befund und das Elektromyogramm. Im Normalfall sind beide motorischen Einheiten intakt und versorgen ihre zugeordneten Muskelfasern. Histologisch finden sich normale polygonale Muskelquerschnitte von gleichem Kaliber. Im EMG keine Spontanentladungen, bi- bis triphasische Potenziale motorischer Einheiten (ME) und dichtes interferentes Aktivitätsmuster bei maximaler Willkürinnervation. b Myopathie (hier nicht mehr besprochen). c Bei der neurogenen Muskelatrophie ist eine ME ganz ausgefallen. Eine dieser Fasern ist vom gesunden Neuron kollateral innerviert (Pfeil). Histologisch feldförmig gruppierte Atrophie einzelner Muskelfasern bei normaler Histologie der verbleibenden und Vermehrung randständiger Kerne. Im EMG pathologische Spontanaktivität in Form positiver scharfer Wellen und und Fibrillationen. Bei maximaler Willküraktivität werden große polyphasisch aufgesplitterte Potenziale mit hoher Frequenz rekrutiert, das Aktivitätsmuster ist von hoher Amplitude, aber gelichtet. (Aus Poeck u. Hacke 2006)
15 16 17 18 19 20
bzw. komplexe regionale Schmerzsyndrome (CRPS Typ I und II), für die es eigene Empfehlungen gibt (s. unten). Zur ätiologischen Abklärung von Polyneuropathien nützliche laborchemische Untersuchungen zeigt die Übersicht.
Nützliche Laboruntersuchungen zur ätiologischen Differenzierung von Polyneuropathien 5 Blutzuckertagesprofil, oraler Glukosetoleranztest, HbA1c 5 BSG/CRP 5 Blutbild (Eosinophilie?, makrozytäre Anämie? MCV-Erhöhung?) 5 Leberenzyme, CDT (Alkohol?) 5 Elektrophorese 6
343 11.4 Peripheres Nervensystem
5 Immunelektrophorese (monoklonale Gammopathie?) 5 Bence-Jones-Proteine im Urin 5 Porphyrine im Urin 5 Phytansäure im Serum 5 Schilling-Test/Xylosetest 5 Vitamine B1, B6, B12, Folsäure 5 Lipide (evtl. überlangkettige Fettsäuren bei Verdacht auf Adrenomyeloneuropathie) 5 Harnstoff/Kreatinin 5 Schilddrüsenwerte (T3, T4, TSH) 5 GM1-Antikörper (bei motorischer Neuropathie) 5 Infektionsserologie (Borreliose, Lues, Aids) 5 Liquordiagnostik (Zellzahl, Eiweiß, Zytologie) 5 Molekulargenetische Untersuchung auf HMSN I oder tomakulöse Neuropathie 5 Tumorsuche 5 Vaskulitissuche
11.4.2 Krankheitsdefinition
Hirnnerven (nach Hopf u. Kömpf 2006) 5 I. Hirnnerv Eine Schädigung von Riechfasern ist im Rahmen von Schädel-Hirn-Traumata (7 Kap. 11.1) und Eingriffen im Bereich der vorderen Schädelbasis häufig und sollte in diesem Zusammenhang stets untersucht werden. Einer tiefergreifenden Hirnbeteiligung oder Schädelfraktur bedarf es dazu nicht. Die klinische Prüfung erfolgt seitengetrennt mit Riech- und Trigeminusreizstoffen. Besonders gut, weil quantifizierbar und genormt, eignen sich hierzu die sog. Sniffin‘ Sticks (www. burghart.net) oder der in den USA gebräuchliche UPSIT nach Doty (Sensonics Inc., USA). Eine noch weitergehende Objektivierung verlangt die Ableitung olfaktorisch evozierter Potenziale (OEP), die Spezialeinrichtungen vorbehalten ist. Meist wird sich eine Hals-Nasen-Ohren-ärztliche Konsultation empfehlen. 5 II/III. Hirnnerv Orbita- und Schädelbasis- oder Gesichtsschädelfrakturen können neben dem N. IV/VI opticus auch die für die Bulbusmotilität verantwortlichen Nerven betreffen. Der II. Hirnnerv ist ferner bei Operationen intra- und parasellärer Tumoren über einen front(otempor)alen Zugang gefähr6
det. Es gibt daneben eine Reihe metabolischer und medikamentös-toxischer Schädigungsmöglichkeiten (Mexaform, Diabetes mellitus, Methanol; Hopf 2000). Auch bei Eingriffen am Sinus cavernosus und Ganglion Gasseri oder bei der Jannetta-Operation werden in 1,5–6,5% Augenmuskelnerven in Mitleidenschaft gezogen (Stöhr 1996). Der N. abducens wird häufig bei Eingriffen in der hinteren Schädelgrube tangiert. Die abschließende Wertung erfordert oft die Hinzuziehung eines Ophthalmologen. 5 V. Hirnnerv Zahnextraktionen und Leitungsanästhesien können Schäden am ehesten des N. V (N. mandibularis, Ramus lingualis, N. mentalis) bewirken. Ähnliches vermögen kosmetische Eingriffe (Face-Lifting, Implantate) oder Operationen prä- oder parapontiner Prozesse. Bei Frakturen des Gesichtsschädels ist sorgfältig nach Läsionen aller 3 Trigeminusäste einschließlich der motorischen Portio minor zu fahnden, die auch bei Eingriffen zur Therapie einer Trigeminusneuralgie lädiert werden kann. 5 VII. Hirnnerv Häufig wird – auch unvermeidlich – der N. facialis bei Parotistumoroperationen und Operationen im Bereich des Kleinhirnbrückenwinkels und Ganglion Gasseri (1,6–4,8%) in Mitleidenschaft gezogen. Felsenbeinfrakturen oder Eingriffe am Mittelohr und zur Behandlung eines Morbus Menière sind eine geläufige Ursache. Selten kommen Halsoperationen (Carotisendarteriektomien) in Betracht. Am häufigsten aber ist die idiopathische Fazialisparese. Unter den entzündlichen Ursachen ragen Borrelieninfektionen und Zoster oticus hervor. Oft sieht man nach teilregenerierten Fazialisparesen pathologische Synkinesien, die sich v. a. für Schauspieler oder andere im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehende Personen als behindernd erweisen. 5 VIII. Hirnnerv Schädigungen des N. vestibulocochlearis sind in erster Linie Hals-Nasen-Ohren-ärztlich und neuro(oto)logisch bzw. otoneurologisch zu begutachten. Eine Hypakusis erfordert eine exakte Audiometrie. Schädigungsmöglichkeiten gibt es bei Schädelbasisfrakturen, der operativen Behandlung einer Trigeminusneuralgie, des Fazialisspasmus und von Prozessen in der hinteren Schädelgrube. Für den Gutachter wichtig zu kennen ist der durch Otokoniendetritus verursachte 6
11
344
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Nervensystem
benigne periphere paroxysmale Lagerungsschwindel, der im mittleren und höheren Lebensalter spontan, zum Teil aber auch nach geringfügigen Schädeltraumata (Schädelprellung) oder Ohroperationen auftreten kann, dessen Prognose zumal unter geeigneter Behandlung aber als grundsätzlich gut einzustufen ist. 5 IX/X. Hirnnerv Schädigungen der Nn. glossopharyngeus und vagus stehen nicht selten nach Operationen am Hals (Strumektomien, Thrombarteriektomien oder »neck dissections«) oder im Kleinhirnbrückenwinkel an, wobei ebenfalls in aller Regel eine Hals-Nasen-Ohren-ärztliche oder phoniatrische Beurteilung erforderlich ist. Die Häufigkeit einer Recurrensparese nach Strumektomien (2– 19%) macht eine Aufklärung über eine mögliche Stimm- oder Atemstörung zwingend, zumal sie beispielsweise für Sänger, Schauspieler oder Politiker Berufsunfähigkeit bedeuten kann. 5 XI. Hirnnerv Die Schädigung des N. accessorius erfolgt als Besonderheit am häufigsten iatrogen, zumal der Nerv sehr kaliberschwach und oberflächlich gelegen ist. Dennoch wird manchmal auch nach Lymphknotenexstirpationen oder »neck dissection« nicht sofort an diese Möglichkeit gedacht, da sich Beschwerden und Symptome (Schulterschmerz, Fehlhaltung, eingesunkenes Relief des oberen Trapeziusrandes) erst mit Latenz einstellen und sichtbar werden. Da die Kraft der Schulterhebung normal bleiben kann, ist in jedem Verdachtsfall sehr sorgfältig inspektorisch und palpatorisch oder durch EMG danach zu fahnden. Das Risiko bei Eingriffen im seitlichen Halsdreieck kann durch eine gezielte präparative Darstellung gesenkt werden. 5 XII. Hirnnerv Eine Schädigung des N. hypoglossus kann ebenfalls im Rahmen von Operationen am Hals wie beispielsweise einer Thrombendarteriektomie oder »neck dissection«, aber auch durch Intubation, Laryngoskopie oder Tonsillektomie vorkommen. Insbesondere die unteren Hirnnerven IX, X und XII können auch leicht radiogen geschädigt werden. Ein Ausfall des N. hypoglossus verrät sich v. a. durch eine walnussartige Atrophie und eine verminderte Beweglichkeit, die gut zu hören ist, während eine Seitabweichung (zur kranken Seite) ohne die beschriebenen Begleitsymptome nicht viel besagt und auch willkürlich hervorgerufen werden kann. Dabei ist die besondere Auswirkung auf alle Sprechberufe (z. B. Lehrer) zu bedenken.
Die Einschätzung des GdB/MdE von Hirnnervenläsionen ergibt sich aus . Tab. 11.17 (nach Suchenwirth et al. 2000; Widder u. Gaidzik 2007).
Peripheres Nervensystem Die Ausführungen sind angelehnt an Stöhr (1996) und Mumenthaler u. Schliack (1998).
Obere Extremitäten Plexus brachialis
Der Plexus brachialis wird seiner stärker exponierten Lage und des größeren Bewegungsumfanges der oberen Extremitäten wegen häufiger geschädigt als der Plexus lumbosacralis, insbesondere durch Motorradunfälle, wo sogar eine Zerreißung möglich ist. Stumpfe Traumen kommen auch beim Sport vor (vgl. Lang u. Stefan 1999). Iatrogene Schäden treten nach Verbänden, als Lagerungsschaden (Trendelenburg-Lagerung), bei Entbindungen (Erbund Klumpke-Lähmung), Injektionen (Stellatumblockade, Subklaviakatheter, Leitungsanästhesie, Interskalenusoder Winnie-Block) und nach Bestrahlungen auf. Schädigungen des N. phrenicus sind selten, aber nach »neck dissection«, Skalenotomie, Eingriffen an der A. subclavia, Winnie-block und Anlage eines Katheters der Vv jugularis oder subclavia bekannt. Bei traumatischen Läsionen des oberen Armplexus ist dieser Nerv oft mitbetroffen. Differenzialdiagnostisch sind insbesondere entzündliche Erkrankungen (neuralgische Schulteramyotrophie, Neuroborreliose) zu bedenken. N. axillaris
Auch Läsionen des N. axillaris sind ein häufiges Element einer oberen Armplexusläsion. Injektionsschäden sind bei dorsalem Zugang über dem M. deltoideus möglich. Selten sind Gips- oder sonstige Verbände oder Lagerungsschäden dafür maßgeblich, häufig dagegen Schulterluxationen oder Humeruskopffrakturen. Schädigungen des N. axillaris oder des Armplexus aufgrund einer durch einen Sicherheitsgurt abgefangenen Beschleunigungsverletzung sind ebenso wie Spritzenlähmungen eine Rarität. N. suprascapularis
Er wird bei Schulterluxationen und Schulterblattfrakturen, dem Tragen schwerer Lasten auf der Schulter (Rucksack) oder schwerem Heben und manchen Sportarten (Volleyball, Speerwurf, Kunstturnen) geschädigt (Lang u. Stefan 1999). N. thoracicus longus
Häufigstes Schädigungsmoment dieser zur Scapula alata führenden Läsion sind das Tragen von Lasten (Rucksack), wuchtiges Schlagen (Schmied, Holzfäller), ein Gipsverband, eine Abduktionsschiene oder Schulterstütze.
345 11.4 Peripheres Nervensystem
N. musculocutaneus
Seltene Läsionsmöglichkeiten sind Schulterluxationen, Oberarmfrakturen, lokaler Druck, Sport (Tennis) oder das Tragen sehr schwerer Lasten. Der sensible Endast, der N. cutaneus antebrachii, kann auch durch Blutentnahme oder eine Infusion beeinträchtigt werden. N. ulnaris
Er wird am häufigsten in Ellbogenhöhe, zumal im Sulcus ulnaris, lädiert, wobei das Sulcus-ulnaris-Syndrom (SUS) als Beschäftigungslähmung oder durch direkten Druck, z. B. bei flachem oder obliteriertem Sulcus, auftreten kann. Stumpfe Traumata oder Kondylenfrakturen sind geeignet, den Nerv unmittelbar und akut zu schädigen. Von einer Ulnarisspätlähmung spricht man dann, wenn traumatische anatomische Veränderungen (z. B. Kallusbildung) Monate oder Jahre später eine fortschreitende Lähmung erzeugen. Häufig sind auch Schäden durch Aufstützen der Ellbogen, zumal bei flachem Sulcus und oberflächlicher oder gar luxierbarer Lage des Nervs, und Tätigkeiten mit häufiger forcierter und extensiver Ellbogenbeugung. Bei dieser Lokalisation ist typischerweise der zu den tiefen ulnaren Fingerbeugern ziehende Ast eingeschlossen. Als bestätigend gewertet wird eine relative Reduktion der segmentalen Nervenleitgeschwindigkeit über dem Sulcus ulnaris um 15 m/s. Schädigungen in Handgelenkshöhe (»loge de Guyon«) treten nach distalen Radius-, Ulnar- oder Handwurzelknochenfrakturen auf, sind aber auch bereits nach Stoß, langanhaltenden Erschütterungen (Presslufthammer) oder starker Extension und direktem Druck (Radfahrer, Gehen an Krücken) zu sehen. Iatrogene Schädigungsmöglichkeiten bestehen in der Anlage eines Gefäß-Shunts zur Dialyse, der operativen Frakturversorgung (z. B. Metallentfernung, Bohrdrahtosteosynthese) oder Eingriffen in Blutleere (Tourniquet). Therapeutisch wird beim SUS oft ein extremitätenchirurgischer Eingriff zur Verlagerung aus dem Sulcus erforderlich. N. medianus
Für ihn gilt mutatus mutandis Ähnliches wie für den N. ulnaris. Häufige traumatische Ursachen sind distale Humerusfrakturen und direkte Schnitt- oder Stichverletzungen. Auch eine Druckschädigung im Schlaf (durch den Kopf des Partners) oder durch ein Tourniquet ist möglich. Am häufigsten aber ist sicherlich die distale Schädigung in Form des Karpaltunnelsyndroms (CTS), die typischerweise unter der Einwirkung prädisponierender Faktoren oder repetitiver Belastung auftritt. Auch hier kommen iatrogene Schädigungen durch Punktionen (der A. brachialis), Anlage eines Dialyseshunts (Shaldon-Katheter), Herzkatheterangiographie oder Anästhesie vor. Wegen seiner reichen Versorgung mit autonomen Fasern neigen Schädigungen des Nervs zur Ausbildung eines
CRPS (s. unten). Weil eine hochgradige Medianusparese die Oppositionsfunktion des Daumens aufhebt, resultiert bei entsprechenden Berufen (z. B. Pianist) sehr schnell eine Berufsunfähigkeit. > Eine sorgfältige und sachgerechte chirurgische Intervention ist beim fortgeschrittenen CTS allen anderen Behandlungsformen überlegen.
N. radialis
Dieser Nerv wird besonders häufig traumatisch, nämlich bei Humerusschaftfrakturen, geschädigt (10–20%!), da er in spiralig gewundener Form dem mittleren Drittel unmittelbar anliegt. Es resultiert das Bild einer mittleren Radialisparese, wie sie auch als sog. Schlaflähmung geläufig ist. Auch die spätere Versorgung der Fraktur (Verplattung) kann den Nerv lädieren. Eine weiter distal gelegene Schädigungsform ist das Supinatorlogensyndrom, das man manchmal nach repetitiver forcierter Extension und Supination von Handgelenk und Unterarm sieht. Unter den ärztlichen Schädigungsmöglichkeiten sind (selten) Injektionen in den Oberarm oder die Unterarmstreckseite, Drahtextensionen (Fixateur externe) oder Drahtspickungen (Ramus superficialis nach distaler Radiusfraktur loco typico) und Oberarm-Tourniquets oder Blutdruckmanschetten hervorzuheben. Schädigungen durch Gipsverbände sind dagegen selten. Lagerungsschäden sind jedoch immer noch häufig (Lagerung der Oberarmrückseite auf einer harten Kante, seitlicher Druck gegen unnachgiebige Unterlage, seitliche Lagerung des Körpers auf dem Oberarm). Bei einer Schädigung des Fasciculus posterior des Armplexus ist im Unterschied zur Radialisparese der N. axillaris mit der Folge einer Lähmung des M. deltoideus mitbetroffen. Eine hohe Radialisläsion durch Achselstützkrücken kommt heute praktisch nicht mehr vor.
Untere Extremitäten Plexus lumbosacralis
Erhebliche Schädigungen bedürfen meist massiver mechanischer oder physikalischer Einwirkung, z. B. sieht man sie gelegentlich nach Becken- oder Kreuzbeinfrakturen. Leichteste oder leichtere Läsionen können aber durchaus bereits nach Hüftgelenkseingriffen (TEP) oder gynäkologischen Bestrahlungen vorkommen, für die gilt, dass das Ausmaß umso größer und die Latenz umso geringer ausfallen, je höher die Dosis gewählt wurde.
11
346
1 2 3
Kapitel 11 · Nervensystem
Kommentar Eine notorische Crux der gutachterlichen Bewertung stellen komplexe regionale Schmerzsyndrome CRPS (nach alter Nomenklatur Sudeck-Syndrom, sympathische Reflexdystrophie, Algodystrophie, Kausalgie) dar, die auf einer Beteiligung autonomer Fasern beruhen, ohne dass in jedem Fall ein schwerwiegendes Trauma zu eruieren wäre.
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Oft genügen Verletzungen wie beispielsweise eine Bänderruptur oder -zerrung. Damit liegt häufig ein Missverhältnis zwischen Anlass und objektivierbaren Ausfällen einerseits und den subjektiven Beschwerden des Verletzten andererseits vor. Man unterscheidet zwei Typen (Übersicht).
Einteilung des CRPS 5 Nach Typen (Widder 2000): – Typ I Ohne offensichtliche somatische Läsion größerer Nerven meist nach schmerzhaften Traumen – Typ II Mit klinisch und elektrophysiologisch nachweisbaren partiellen peripheren Nervenläsionen 5 Nach Schweregraden: – Grad I Geringer Schmerz, geringe Funktionsstörung, kein hoher Analgetikabedarf, rasche Besserung bei Hochlagerung – Grad II Stärkere Schmerzen mit Funktionsstörung, sofortige Besserung bei Immobilisation, protrahierter Verlauf, – Grad III Ausgeprägte Schmerzen und Funktionsstörung, keine Schmerzreduktion durch Immobilisation, ausgeprägte trophische Störungen
15 16 17 18 19 20
Charakteristisch sind zum einen die Beschwerdeschilderung mit einem bohrenden oder brennenden, affektiv oder physikalisch modulierten Dauerschmerz, der insbesondere bei Bewegung, Belastung oder in abhängiger Lage zu-
nimmt, zum anderen objektivierbare Korrelate in Gestalt trophischer Störungen, sichtbarer Verfärbung, Schwellung, Temperaturunterschieden oder sogar motorischer Phänomene (Reflexsteigerung, Tremor, diskrete Parese). Radiologische (Entkalkung), szintigraphische (vermehrte oder verminderte Durchblutung oder Stoffwechselumsatz) oder magnetresonanztomographische Befunde können die Diagnose stützen. Wenn das Syndrom hier aufgeführt wird, so deswegen, weil es nach Plexus- oder Ischiadicusschädigungen besonders häufig auftritt. Es kann aber sehr wohl auch an den oberen Extremitäten (N. medianus) oder sogar an anderen Körperpartien auftreten. Treffen all die genannten Elemente zusammen, kann eine GdB/MdE-Bewertung erfolgen (ausgenommen private Unfallversicherung), die über die mit der Nervenläsion bereits implizierte Schmerzhaftigkeit (. Tab. 11.14) hinausgeht. Weitere Angaben dazu sind über die Arbeitsgemeinschaft neurologische Begutachtung (ANB) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zu erhalten (www. anb-ev.de). Für außergewöhnliche Schmerzen, wie sie das CRPS impliziert, die durchaus inkapazitierend, opioidbedürftig oder zu Suizidalität führend sein können, kommt ein zusätzlicher GdB/MdE in Frage. N. ischiadicus
Der größte Nerv des menschlichen Körpers, der N. ischiadicus, wird manchmal durch intramuskuläre Injektionen in einen ungeeigneten Quadranten der Glutäalregion (Spritzenlähmung) oder operative Eingriffe (Hüftgelenkersatz, Totalendoprothese) geschädigt. Im ersten Fall sind Beeinträchtigungen möglich durch 5 direkte Kanülenverletzung mit oder ohne Erzeugung eines Hämatoms bei Einspritzung in einen falschen (z. B. den unteren inneren) Quadranten, 5 Einspritzung eines Pharmakons in den immerhin rund 1 cm dicken Nerv mit der Folge einer mechanischen (Gewebsdruck) oder toxischen (chemischen) Schädigung, die selbst bei Applikation in unmittelbarer Nachbarschaft auftreten kann (unter den Schmerzmitteln sind Butazolidin und Diclofenac als besonders kritisch hervorzuheben), 5 Injektion in die Vasa nervorum (Hopf 2000); schlimmstenfalls entsteht eine langstreckige Nekrose des Nervs mit der Folge eines Ausfalls aller distal davon versorgten Funktionen.
. Tab. 11.14. GdB/MdE bei CRPS Symptomatik
GdB/MdE
Außergewöhnliche Schmerzen
Erhöhung um 10–20
5 in Sonderfällen
Erhöhung um bis zu 50
5 seltene Extremfälle mit dezidierter Begründung
Gesamtwert bis 100 möglich
347 11.4 Peripheres Nervensystem
Für die gutachterliche Beurteilung wichtig ist, dass die Ausfälle sofort oder mit nur wenigen Minuten Latenz auftreten, etwa die Hälfte der Patienten klagt über einen heftigen Nervenschmerz. > Da die Unterscheidung von L5/S1-Wurzelschädigungen und Ischiadikusschäden nicht selten Schwierigkeiten bereitet, ist nicht nur aus haftungsrechtlichen Gründen dringend davon abzuraten, Injektionen in die ipsilaterale Glutäalmuskulatur vorzunehmen.
Es scheint oft vergessen zu werden, dass auch oral gegebene Substanzen wirksam sind und bei parenteraler Applikation auch eine intravenöse Verabfolgung möglich ist. Im Schädigungsfall überwiegen meist motorische die sensiblen und – wie bei der intraoperativen Traktionsoder Drucklähmung – die peronealen die tibialen Ausfälle. Auch thermische (Koagulation), traumatische (Becken- oder Oberschenkelfrakturen) und Lagerungsschäden (im Koma oder bei Intoxikation) kommen – wenngleich selten – vor. Die Behandlung kann eine neuro- oder extremitätenchirurgische Intervention erforderlich machen, bei perinervaler Injektion kann ein Dilutionsversuch mit Natriumchlorid angezeigt sein. Die Erholung derartiger Schäden ist meist protrahiert und unvollständig; nur leichtere Paresen bessern sich rasch und spontan. Spätere Neurolysen oder Überbrückungsoperationen sind selten erfolgreich. Differenzialdiagnostisch ist an eine Nekrose der Glutäalmuskulatur zu denken, die sich durch eine sofortige Verfärbung der Haut verrät (Embolia cutis medicamentosa, Nicolau-Syndrom). Die Differenzialdiagnose zu einer Schädigung der lumbosakralen Wurzeln, die fast immer nichtiatrogener Natur ist, erfolgt durch 5 genaue Beachtung des Paresemusters (Kniebeuger, M. glutaeus medius), 5 Reflexprüfung (Beteiligung des M. biceps femoris und Biceps-femoris-Reflexes bei der Ischiadikuslähmung), 5 Prüfung der Sensibilität (radikulär versus nerval), 5 Prüfung von Dehnungszeichen (Lasègue-Zeichen positiv bei Wurzelläsionen), 5 Untersuchung auf autonome Ausfälle (Fehlen bei Wurzelschädigungen), 5 elektroneurographische Untersuchung (sensible NLG, oft auch motorische NLG bei Wurzelschädigung normal), 5 elektromyographische Untersuchung (M. biceps femoris bei Ischiadikusläsion, paravertebrale Muskulatur und M. glutaeus medius bei Wurzelläsion verändert).
Äste des N. ischiadicus: N. peroneus und N. tibialis
Der N. peroneus, ohnehin aus neuroanatomischen Gründen meist schwerer geschädigt als der N. tibialis, kann durch Druck oder Frakturen in Höhe des Fibulaköpfchens oder durch Knieoperationen, Traumata oder Lagerungsschäden in Mitleidenschaft gezogen werden. Bei entsprechend prädisponierten Individuen (u. a. tomakulöse Neuropathie oder »hereditary neuropathy with liability to pressure palsies«, HNPP) kann ein längeres Sitzen mit gekreuzten Beinen oder Arbeiten in kniender Position genügen. Auch bei Therapiemaßnahmen kann es zu Schädigungen kommen: Extensionen, Verlängerungsosteotomien, Gips- oder Schienenanlage, die Verwendung eines Tourniquets und direkte Verletzungen durch Fixationsdrähte, Nägel oder Schrauben kommen vor, sind aber selten. Die Differenzialdiagnose zur L5-Läsion hat v. a. dessen Kennmuskel, den M. tibialis posterior mit dem gleichnamigen Reflex, zu berücksichtigen. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist die Beteiligung des M. glutaeus medius bei der L5-Schädigung. Die Differenzialdiagnose zum Tibialis-anterior-Logensyndrom hat die initiale derb-pralle Verhärtung und fixe (Volkmann) Kontraktur zu berücksichtigen. Das sog. vordere Tarsaltunnelsyndrom ist eine Schädigung des sensiblen Endastes des N. peroneus profundus. Läsionen des Nervenstammes des N. tibialis sind selten und nur bei schweren Traumen zu erwarten. Denkbar sind sie auch nach einer Kniegelenkarthroskopie und -ersatz. Bei der Suche nach dem Läsionsort ist es wichtig zu wissen, dass die Teilung des N. ischiadicus in einen peronealen und tibialen Anteil bereits weit proximal und damit 20–30 cm oberhalb der Kniekehle stattfinden kann. Distale Schädigungen kommen nach dem Tragen zu engen Schuhwerks, stumpfen Traumen oder Sprunggelenkfrakturen vor. Als Engpasssyndrom verdient das hintere Tarsaltunnelsyndrom (N. plantaris medialis und lateralis) Erwähnung. N. femoralis
Der N. femoralis verläuft über eine lange Strecke geschützt im Becken und wird am ehesten bei Beckenfrakturen (Schambeinfrakturen), plötzlicher stumpfer Gewalteinwirkung (Überstreckung), Blutung (Psoashämatom, z. B. bei Antikoagulation), Operationen im Abdomen, Hüftgelenkersatz oder Bestrahlungen geschädigt, bei Letzteren häufig mit z. T. sehr langer Latenz. Auch die Punktion der A. femoralis in der Leistenbeuge kommt in Betracht. Während komplette Läsionen mit einer Parese der Hüftbeugung und Kniestreckung und somit einem Verlust des Patellarsehnenreflexes meist keine diagnostischen Schwierigkeiten bereiten (Differenzialdiagnose: L4-Läsion), sind Schädigungen des sensiblen Endastes, des N. saphenus, schwerer zu fassen.
11
348
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Nervensystem
Es kommen Druckläsionen durch Lagerung, v. a. aber scharfe Verletzungen nach Varizenoperationen (Stripping) und Kniegelenkeingriffen vor. In diesen Fällen sind eine exakte klinische Bestimmung des Läsionsareals und eine sorgfältige sensible Neurographie von großer Bedeutung. Neurombildungen können Anlass für schmerzhafte Reizerscheinungen sein, die nach diagnostischer Infiltration sistieren und mitunter einem neuro- oder extremitätenchirurgischen Eingriff zugänglich sind. Auch die Gabe von Antikonvulsiva (Carbamazepin, Gabapentin) ist in diesen Fällen erwägenswert.
. Tab. 11.15. Ätiologie der Polyneuropathien
N. cutaneus femoris lateralis
Dieser Nerv kann bei Kompressionen des Oberschenkels, Operationen mit vorderem Zugang zur Hüfte, Eingriffen im Leistenbereich, Hyster- und Appendektomie, Nierenoperationen und Knochenspanentnahme am Beckenkamm geschädigt werden. Auch Bestrahlungen oder zu feste Verbände kommen in Betracht. Häufig und alltäglich sind aber chronische Einengungen durch zu enge oder einschnürende Bekleidung, zumal bei adipösen Individuen. Geläufige Folge ist eine Meralgia paraesthetica.
Polyneuropathien Die Ausführungen erfolgen in Anlehnung an Grehl u. Reinhardt (2002) und Neundörfer u. Heuß (2007). Polyneuropathien sind systematisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems, die überwiegend in symmetrischer, akral betonter Form auftreten und sowohl motorische wie sensible und autonome Bahnen betreffen können. Ätiologisch führt, statistisch gesehen, der Diabetes mellitus vor den alkoholbedingten Polyneuropathien und der Gruppe der ätiologisch ungeklärten (. Tab. 11.15; Engelhardt 1999; Neundörfer u. Heuß 2007). Eine klinische Vorsortierung ist möglich. Hierbei wird unterschieden nach 5 dem Verteilungstyp (symmetrisch/asymmetrisch, Mononeuropathia multiplex; Engelhardt 1994), 5 dem bevorzugten Befall motorischer, sensibler oder autonomer Fasern, 5 einer zusätzlichen Tiefensensibilitätsstörung oder dissoziierten Sensibilitätsstörung und 5 einer Hirnnervenbeteiligung. Die hier besonders interessierenden Polyneuropathien als Ausdruck einer Berufskrankheit sind in der Berufskrankheitenverordnung zusammengefasst: Blei (BK Nr. 1101); Quecksilber (BK Nr. 1102); Mangan (BK Nr. 1105); Kohlenmonoxid (BK Nr. 1201); Schwefelkohlenstoff (BK Nr. 1305); organische Phosphorverbindungen (BK Nr. 1307); organische Lösungsmittel (BK Nr 1317) (BK-Report 1999). Auftraggeber der Gutachten sind oft Berufsgenossenschaften, aber auch zunehmend Gerichte oder Krankenkassen in denjenigen Fällen, in denen Art und Erstattungspflicht der Behandlung strittig sind. In diesem Abschnitt wer-
Ätiologie
Häufigkeit [%]
Diabetes mellitus
34,8
Ungeklärt
21,0
Alkohol
11,1
Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
6,3
Infektiös
5,4
Vaskulitis
4,1
Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
4,1
Malabsorption
3,8
Paraneoplastisch
2,7
Hereditäre motorisch-sensible Neuropathie (HMSN)
2,2
Paraproteinämie
1,1
Toxisch (ohne Alkohol)
0,9
Amyloidose
0,5
Tomakulöse Neuropathie
0,2
Sonstige
0,9
den die exogenen-toxischen Formen angesprochen und auf Besonderheiten der Diagnostik und Therapie eingegangen. Eine Übersicht über medikamentös-toxische Formen findet sich bei Gleichmann u. Limmroth (2003). Aus ihr ist ersichtlich, dass die meisten axonal und von distaler Präferenzlokalisation sind (. Tab. 11.16). In diesem Zusammenhang ist eine exakte arbeits- und umweltmedizinische Analyse meist unerlässlich. Eine endgültige Klärung ist aber dennoch nicht immer möglich, zumal die sehr aussagekräftige Biopsie nicht duldungspflichtig ist.
Spezielle Formen Alkohol
Da Alkoholiker bekanntlich ihre Trinkmengen selten korrekt angeben, muss sich der Gutachter auf besser objektivierbare Verfahren stützen wie Fremdanamnese, Leberenzyme, CDT, Blutbild, internistische Befunde und die Blutalkoholkonzentration. Hilfreich sind auch Bewertungen mit Hilfe standardisierter Fragebögen wie dem Münchner Alkoholismustest (MALT; Feuerlein et al. 1999). Arsen
Die Manifestation der Symptomatik und die Ausscheidung im Urin hängen davon ab, ob der Betreffende Arsen gewöhnt ist oder nicht (»Arsenesser«). Der Stoff ist in Insektiziden, Lacken, Farben und Desinfektionslösungen
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ZNS-Beteiligung
+
Hirnnerven
+
Kompression
Symmetrisch
Distal
Proximal
Schmerz
Autonom
Sensibel
Motorisch
Axonal
Demyelinisierend
Ätiologie
Bemerkungen
Medikamente Almitrin Amiodiaron
+ +
+ +
+
Antiretrovirale Medikamente
+
+
Cisplatin
+
+
Dapson
+
Disulfiram
+
Goldverbindungen
+
Interferon-α
+
+
+
+
+
Isoniazid
+
+
*
+
+
Lithium
+
Metronidazol
+
+
Nitrofurantoin
+
+
Paclitaxel (Taxol)
+
+
Phenytoin
+
Pyridoxin Statine Vincaalkaloide
+
+
+ + *
+
*
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
VIII
II *
+
11.4 Peripheres Nervensystem
. Tab. 11.16. Medikamentös-toxische Polyneuropathien
Immunvermittelt, Fieber und Exanthem möglich
+
+
Fatigue, Depression
*
+
Meist im Rahmen akuter Intoxikationen
Bei akuter Intoxikation meist motorische Ausfälle
v. a. Vincristin ist neurotoxisch
349
11
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
350
ZNS-Beteiligung
Hirnnerven
Kompression
Symmetrisch
Proximal
Distal
Schmerz
Autonom
Sensibel
Motorisch
Axonal
Demyelinisierend
Ätiologie
Bemerkungen
Schadstoffe Acrylamid
+
+
Arsen
+
Benzol
+
Blei
+
Hexacarbone
+
Organophosphatester (Triorthokresylphosphat)
+
Quecksilber
+
Schwefelkohlenstoff
+
Thallium
+
+
+
Vacor
+
+
+
+
+
+
+
+
Nur Monomere sind neurotoxisch
*
Gastrointestinale Symptome
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
Erstes Motoneuron auch betroffen
+
+
+
+
ZNS-Symptome dominieren
+
+
+
+
*
+
+
*
*
+
*
+
+
*
*
*
+
+
+
+ + +
*
*
Leberschäden *
Anämie, abdominale Koliken, Mononeuropathie Schwere Verläufe bei »Schnüfflern«
Alopezie
Sonstiges Alkohol * = Häufig, aber nicht führend.
+
+
+
Schmerzhafte Parästhesien, autonome Beteiligung
Kapitel 11 · Nervensystem
. Tab. 11.16. (Fortsetzung)
351 11.4 Peripheres Nervensystem
enthalten und wird in der Lederverarbeitung und Gießereien verwendet. Die Polyneuropathie kann auch noch einige Zeit nach Exposition auftreten, im Mittel nach 1–2 Wochen. Sie ist axonal, sensibel oder sensomotorisch distal, schmerzhaft und verläuft unter autonomer Beteiligung mit trophischen Veränderungen; häufig ist auch der N. facialis beteiligt. Weitere Formen lassen sich aus . Tab. 11.16 ablesen.
> Bei staatlich empfohlenen Impfungen tritt für die Folgen die öffentliche Hand ein.
Blei
Lösungsmittel
Besonders gefährdet sind Berufe wie Schweißer, Maler oder Arbeiter in Bleihütten und Akkumulatorenfabriken. Werte >80 μg/100 ml im Blut oder >300 μg/Tag im Urin gelten als Intoxikationshinweis. Begleitend zur PNP können Symptome von Seiten des zentralen Nervensystems, des Blutbildes und des Intestinums auftreten. Die Polyneuropathie ist vom gemischten Typ (Gleichmann u. Limmroth 2003), nicht selten motorisch, distal betont und mit Schmerzen verbunden. Besonders charakteristisch ist eine Mononeuropathie mit bevorzugtem Befall der Extremitätenstrecker. Der charakteristische Bleisaum am Zahnfleisch ist nur selten ausgeprägt.
Leitsymptome der Lösungsmittelpolyneuropathie (Benzol, Styrol, Methanol, Xylol, Toluol etc.) sind distalsymmetrische sensomotorische Ausfälle, die in bestimmten Fällen mit Hirnnervenstörungen kombiniert sein können (BK-Report 1317, 2007). Auch neurovegetative Begleitsymptome werden beobachtet. Eine Besonderheit ist das häufige kombinierte Auftreten mit einer toxischen Enzephalopathie.
Critical-illness-Polyneuropathie
Eine besondere Form ist die sog. Critical-illnes-Neuropathie, die aus bislang noch nicht ganz verstandener Ursache auftritt, z. B. durch Lagerungs- oder Druckschädigung, metabolische und zirkulatorische Störungen oder die Gabe von Medikamenten, z. B. Muskelrelaxanzien, häufig nach längerer Intensivbehandlung im Koma. Diabetes mellitus > Rund 30% aller PNP sind durch einen Diabetes mellitus bedingt; deshalb sollte diese Möglichkeit in jedem Fall und an vorderster Stelle geprüft werden, zumal die neurologischen Ausfälle erstes Anzeichen der Grunderkrankung darstellen können.
Man orientiert sich an den Leitsymptomen nächtliche Parästhesien, Reflexabschwächung v. a. der Beine (Achillessehnenreflex; ASR), Verminderung oder Aufhebung der Vibrationsempfindung und Hypo- bis Anhidrose (Poeck u. Hacke 2001). Nicht selten findet man auch Zeichen einer Beteiligung des autonomen Nervensystems oder der Hirnnerven (externe Ophthalmoplegie). Am häufigsten ist die distale symmetrische sensomotorische Form, man muss aber auch die seltenere proximale asymmetrische motorische (diabetische Amyotrophie) bedenken. Impfschäden
Nach verschiedenen empfohlenen Impfungen, z. B. gegen Diphtherie, wurden immunologisch vermittelte Krankheitsbilder nach Art eines Guillain-Barré-Syndroms beobachtet.
Im Rahmen des zum sozialen Entschädigungsrecht gehörenden Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sind auch Impfschäden mitversichert. Ein ursächlicher Zusammenhang ist anzuerkennen, wenn die »Inkubationszeit« eingehalten wird.
Quecksilber
Gefährdungen bestehen bei der Herstellung von medizinischen Geräten, Spiegeln, Lampen, Filzhüten und der Goldschmelze. Es muss zwischen einer metallischen und organisch gebundenen Form unterschieden werden. Epidemiologisch haben die durch Nahrungsmittelkontaminationen bedingten Fälle der Minamata- und NiigataKrankheit Beachtung gefunden. Urinspiegel über 50 μg pro 24 Stunden sind verdächtig. Klinisch überwiegt die Form mit distaler Betonung sensibler Fasern, auch eine Beteiligung des II. Hirnnervs kommt vor. Histopathologisch und elektrophysiologisch findet man überwiegend eine axonale oder gemischte Form. Eine ZNS-Beteiligung ist häufig und äußert sich als zerebelläre Ataxie, Bewusstseinsstörung oder als Myoklonien. Thallium
Vergiftungen mit diesem Metall können auch heute noch vorkommen und zeichnen sich durch ihre Schmerzhaftigkeit und ZNS-Beteiligung aus. Die PNP ist axonal, sensibel und distal betont, auch die HirnnervenII, III und VI werden involviert.
11.4.3 Fragen zum Zusammenhang
Ursächlichkeit Wenn hier der Ausdruck iatrogen verwendet wird, so nur als wertfreie Bezeichnung des Auftretens einer Schädigung im Zusammenhang mit einer ärztlichen Maßnahme. Dies beinhaltet zunächst weder eine Ursächlichkeit noch einen sog. Kunstfehler. Bestimmte Nervenschädigungen ereignen sich fast unvermeidlich. Der Patient muss aber umfassend darüber aufgeklärt werden, um sich in Kenntnis des Risikos eigenverantwortlich für oder gegen einen Eingriff entschei-
11
352
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 11 · Nervensystem
den zu können, und zwar umso ausführlicher, je besser planbar und je weniger strikt indiziert der Eingriff ist. Hat nämlich der Kläger in der Sache keinen Erfolg, beruft er sich heute oft auf eine mangelhafte Aufklärung.
Kommentar Die gutachterliche Bewertung hat den Status quo ante genauso exakt zu prüfen wie den Befund nach dem Ereignis.
Ein Auftreten mit sehr langer Latenz nach Exposition sowie ein ständiges Fortschreiten nach deren Beendigung sprechen eindeutig gegen einen Kausalzusammenhang. Im Bedarfsfall wird man bei konkurrierenden Ursachen den jeweiligen Anteil kritisch und sorgfältig gegeneinander abwägen müssen. In Zweifelsfällen wird man sogar eine stationäre Untersuchung oder invasive Maßnahmen befürworten.
Kommentar
Für traumatisch verursachte Nervenläsionen gilt das Gesetz der Traumatologie, wonach die Schädigung im Verursachungszeitpunkt am stärksten ist. Es kommt dann zu einem schwersten dauerhaften oder nach und nach bis auf ein nicht mehr besserungsfähiges Residuum abklingenden Defekt, wenn nicht die Läsion vollständig remittiert. Liegen mehrere Noxen vor, so ist die Wahrscheinlichkeit der Verusachung nach der typischen Ausprägung des klinischen Bildes und klinischen Befunden abzuwägen. > Ein ursächlicher Zusammenhang bei PNP ist anzunehmen, wenn die Exposition gegenüber einem Toxin gegeben war, die Noxe nachgewiesen ist, diese typischerweise eine PNP hervorruft und die Symptomatik zeitlich eng an die Schädigungsphase gebunden auftritt.
Nur in seltenen Fällen, etwa bei Schwermetallintoxikation, kann eine PNP verspätet auftreten. Bei einer beruflich bedingten Schädigung innerer Organe, z. B. der Leber, Niere oder des Pankreas, kommt die Ausbildung einer Polyneuropathie als Folge dieser Organschädigung in Betracht. Medikamentös-toxische Polyneuropathien können auch aufgrund mangelnder Aufklärung entschädigungspflichtig werden. Die Notwendigkeit zur Feststellung der Kausalität bleibt davon unberührt. Eine abschließende Bewertung erfordert eine arbeitsmedizinische Untersuchung. Besondere Probleme entstehen aus der Tatsache, dass prinzipiell unabhängige Wirkursachen insofern miteinander verknüpft sein können, als die eine (z. B. Diabetes mellitus) durch eine vermehrte Vulnerabilität die Basis für eine andere (z. B. mechanische Druckschädigung) liefern kann. In jedem Fall, besonders bei vermutlich berufsbedingter PNP, ist sorgfältig nach Ausprägung und Verlauf, konkurrierenden Ursachen oder begleitenden Erkrankungen zu fahnden. > Die beiden häufigsten, Diabetes mellitus und Alkoholkonsum, sollten stets geprüft werden.
Die PNP ist als mittelbare Schädigungsfolge anzuerkennen, wenn das Schädigungsereignis Schädigungsfolge ist (Hopf 2000).
Eine Neuropathie oder PNP kann auch eine entschädigungspflichtige Krankheit sein, wenn sie als Folge einer Infektion auftritt, die im Rahmen der Berufstätigkeit oder Dienstverpflichtung erworben wurde. Unter den Einzelnerveschädigungen nehmen der N. accessorius und der N. ischiadicus eine besondere Stellung ein: Ersterer, weil seine Schädigung am häufigsten iatrogen erfolgt, Letzterer, weil durch die oft geübte intraglutäale Injektion im Rahmen von Lumboischialgien sich häufig die Frage nach einer Spritzenschädigung stellt. Diese Aspekte wurden bereits oben bei der Darstellung der einzelnen Nerven berücksichtigt.
11.4.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Die Bewertung von Einzelnervschäden hinsichtlich ihrer Minderung der Erwerbsfähigkeit und Invalidität kann relativ einfach und einheitlich anhand von Tabellen erfolgen (. Tab. 11.17 und 11.18). Modifizierend sind das jeweilige Ausmaß der Nervenschädigung und die Händigkeit zu berücksichtigen. Spezifische Richtwerte für die Einschätzung des GdB/ MdE bei Polyneuropathien liegen nicht vor. Es ist bislang üblich, dafür die Werte der Einzelnerven zu benutzen (. Tab. 11.18), wobei man aber auf die resultierende sensomotorische Gesamtschädigung eingehen muss.Hinweise zur Bewertung von Polyneuropathien bei technischen Lösungsmitteln, Organophosphaten und Insektiziden finden sich bei Kunze (2000).
353 11.4 Peripheres Nervensystem
. Tab. 11.17. Bewertung von Hirnnervenschäden. (Nach Widder u. Gaidzik 2007) Hirnnerv
Lädierte Struktur
GdB/Schwb
MdE/GUV
MdE/BVG I
II
Völliger Verlust des Riechvermögens mit der damit verbundenen Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung
15
10
1/1 Geruchssinn
Völliger Verlust des Geschmackssinns
10
10–20*
1/1 Geschmackssinn
Verlust oder Blindheit beider Augen
100
100
1/1 Auge
Verlust oder Blindheit eines Auges
25
30
Homonym
40
40
Bitemporal
30
30
Binasal (bei beidäugigem Sehen)
10
10
5 in der oberen Gesichtshälfte
20
20
5 in der unteren Gesichtshälfte
30
30
Blendungsempfindlichkeit oder Nachtblindheit ohne sonstige Minderung des Sehvermögens
0–10
0–10
Isolierte beidseitige Farbsinnstörung
0
0–10
Totale Halbseitenblindheit beidseitig
Homonymer Quadrantenausfall beidseitig
II/III
Lähmung des Oberlids 5 mit vollständigem Verschluss des Auges
30
30/70
5 mit Ptose und Sehbehinderung
10–20
10–20/20–30
5 mit Ptose ohne Sehbehinderung III, IV, V
Invalidität private UV
Augenmuskellähmung an einem Auge, wenn das Auge vom Sehen ausgeschlossen werden muss (Okklusion)
0/10 30
30
5 mit erheblicher Störung des binokulären Sehens
10–25
20
5 ohne wesentliche Störung des binokulären Sehens
10
10
Doppeltsehen in alle Blickrichtungen ohne Kompensation
20–25
III
Ausfall des N. oculomotorius
10–30
IV
Ausfall des N. trochlearis
10–20
V
Sensibilitätsstörung im Gesichtsbereich 5 leicht
0–10
5 ausgeprägt, den oralen Bereich einschließend
20–30
Gesichtsneuralgien (z. B. Trigeminusneuralgie)
5–80
5 leicht (seltene, leichte Schmerzen)
0–10
5 mittelgradig (leichte bis mittelgradige Schmerzen, schon durch geringe Reize auslösbar)
20–40
5 schwer (häufige, mehrmals im Monat auftretende starke Schmerzen bzw. Schmerzattacken)
50–60
5 besonders schwer (Dauerschmerz oder Schmerzattacken mehrmals wöchentlich)
70–80
11
354
1
Kapitel 11 · Nervensystem
. Tab. 11.17. (Fortsetzung) Hirnnerv
Lädierte Struktur
GdB/Schwb
MdE/GUV
MdE/BVG
2
noch V
4 5
Behinderung der Mundöffnung 5 mit deutlicher Auswirkung auf die Nahrungsaufnahme
20–40
5 mit Notwendigkeit der Aufnahme flüssiger oder passierter Nahrung und entsprechenden Sprechstörungen
50
VI
Ausfall des N. abducens
10–20
VII
Fazialisparese
3
6 7
Invalidität private UV
30
5 einseitig
10–30
5 kosmetisch nur wenig entstellende Restparese
0–10
10
5 ausgeprägtere Restparese oder Kontrakturen
20–30
20
Komplette Lähmung oder entstellende Kontraktur
40
30
Beidseitige komplette Lähmung
50
30–50
Verlust des Geschmackssinns (s. oben)
8 VIII
9 10 11
13
15
18 19 20
Taubheit beidseitig im Erwachsenenalter erworben
80
80
An Taubheit grenzende Schwerhörigkeit 70
70
70
Hochgradige Schwerhörigkeit beidseitig
50
50
Mittelgradige Schwerhörigkeit beidseitig
30
30
Leichte Schwerhörigkeit beidseitig
15
15
5 ohne wesentliche Folgen
0–10
5 mit leichten Folgen
20
5 mit mittelgradigen Folgen
30–40
5 mit schweren Folgen
50–70
5 mit Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder zu stehen
80
Schwindelanfälle (z. B. M. Menière)
14
17
0–20
Schwindelsyndrome
12
16
Störung der Speichelsekretion
IX
5 1–2 Anfälle im Jahr
0–10
0–10
5 Anfälle mit Pausen von Monaten, je nach Schweregrad
20–40
20–40
5 schwere Anfälle mit Pausen von Wochen
40–50
50
5 schwere Anfälle mit Pausen von Tagen
60–80
Schluckstörung 5 ohne wesentliche Behinderung der Nahrungsaufnahme
0–10
5 mit erheblicher Behinderung der Nahrungsaufnahme
20–40
5 mit häufiger Aspiration und erheblicher Beeinträchtigung der Kräfte und des Ernährungszustandes
50–70
1/1 Gehör beidseits
355 11.4 Peripheres Nervensystem
. Tab. 11.17. (Fortsetzung) Hirnnerv
Lädierte Struktur
GdB/Schwb
MdE/GUV
MdE/BVG X
Rekurrenslähmung
10–20
5 kompensiert mit guter Stimme
0–10
5 mit dauernder Heiserkeit
20–30
5 mit Flüsterstimme
40
5 mit Aphonie
50
30
5 mit Notwendigkeit, eine Dauerkanüle zu tragen
50
50
XI
N.-accessorius-Lähmung
XII
Artikulationsstörung durch Lähmung oder Veränderung in Mundhöhle oder Rachen
Invalidität private UV
10
20
5 mit gut verständlicher Sprache
10
5 mit schwer verständlicher Sprache
20–40
5 mit unverständlicher Sprache
50
1/10 Arm
In der PUV sind Störungen des Geruchs, Geschmacks, des Sehens und des Gehörs nach der Gliedertaxe, bezogen in Bruchteilen der Funktionsbeeinträchtigung des entsprechenden Sinnesorgans zu bewerten. * Nur bei besonderem beruflichem Betroffensein.
. Tab. 11.18. Bewertung peripherer Nervenschäden Lädierte Struktur
GdB/Schwb
MdE
Invalidität
MdE/BVG
gesetzliche Unfallversicherung
private Unfallversicherung
Totaler Ausfall des Armplexus (an der Gebrauchshand jeweils 0–10% mehr)
80
75
1/1 Arm
Ausfall des oberen Armplexus (Erb)
50
40–50
4/10 Arm
Ausfall des unteren Armplexus (Klumpke)
60
50–60
1/2 Arm
Ausfall des N. axillaris
30
30
2/10 Arm
Ausfall des N. thoracicus longus
20
20
2/10 Arm
Ausfall des N. suprascapularis
10
Ausfall des N. musculocutaneus
20
20–25
3/10 Arm
Ausfall des N. radialis, ganzer Nerv
30
30
2/5 Arm
Ausfall des N. radialis, mittlerer Bereich
20
25
3/10 Arm
Ausfall des N. radialis, distal
20
20
1/5 Arm
Ausfall des N. ulnaris, proximal
30
25
7/20 Arm
Ausfall des N. ulnaris, distal
30
20
1/4 Arm
Ausfall des N. medianus, proximal
40
35
7/20 Arm
Ausfall des N. medianus, distal
30
25
Ausfall des N. medianus, vorw. sensibel
20
5 mit starken trophischen Störungen (CRPS)
60
Ausfall der Nn. radialis und axillaris
50
60
3/5 Arm
Ausfall der Nn. radialis und ulnaris
50
50–60
7/10 Arm
Ausfall der Nn. radialis und medianus
50
60
7/10 Arm
Ausfall der Nn. ulnaris und medianus
50
60
6/10 Arm
1/20 Arm
11
356
1
Kapitel 11 · Nervensystem
. Tab. 11.18. (Fortsetzung) Lädierte Struktur
GdB/Schwb
MdE
Invalidität
MdE/BVG
gesetzliche Unfallversicherung
private Unfallversicherung
2 Ausfall der Nn. radialis, ulnaris und medianus in Schulterhöhe
3 4 5 6 7 8 9 10
75
Ausfall der Nn. radialis, ulnaris und medianus im Unterarmbereich
60
60
Totaler Ausfall des Plexus lumbosacralis, Gebrauchsunfähigkeit eines Beines
80
75
1/1 Bein
Ausfall der Nn. glutaei
20–25
Ausfall des N. glutaeus superior
20
20
5/20 Bein
Ausfall des N. glutaeus inferior
20
20
5/20 Bein
Ausfall des N. obturatorius
10
Ausfall des N. cutaneus femoralis lateralis
10
0–10
1/20 Bein
Ausfall des N. femoralis
40
30–40
5/10 Bein
Ausfall des N. ischiadicus mit N. glutaeus
60
60–70
8/10 Bein
Ausfall des N. ischiadicus proximal isoliert
50
Ausfall der Nn. peronei communis und tibialis
50
45
6/10 Bein
Ausfall des N. peroneus communis
30
20
3/10 Bein
Ausfall des N. peroneus superficialis
20
15
1/20 Bein
Ausfall des N. peroneus profundus
30
20
5/20 Bein
Ausfall des N. tibialis
30
25
7/20 Bein
Kausalgie
50
8/10 Bein
11 12 13 14 15 16 17
11.4.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung Periphere Nervenschäden spielen bei der Feststellung der Todesursache praktisch nie eine Rolle. Zu erwägen ist allenfalls, inwieweit eine schwere Lähmung mit Immobilisation oder Bettlägerigkeit einer Thromboembolie oder Lungenembolie mit Todesfolge Vorschub geleistet haben kann. Ein arglistiges Verschweigen von Vorerkrankungen liegt nur dann vor, wenn die Erkrankung zum Zeitpunkt der Antragstellung bekannt war. Dies muss bei leichten Polyneuropathien oder peripheren Nervenläsionen, die noch nicht fachärztlich untersucht worden waren, nicht unbedingt der Fall sein.
Unfallversicherung
18 19 20
Eine Bewertung peripherer Nervenschäden in der privaten Unfallversicherung (PUV) findet sich in . Tab. 11.17 und 11.18. Im Gegensatz zur gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) erfolgt hier die Bewertung nicht nach den Grundsätzen nach GdB/MdE, sondern in Form einer Gliedertaxe. Eine komplette Läsion des N. peroneus superficialis schlüge im ersten Fall mit 15, im zweiten Fall mit 1/20 Bein
zu Buche. Während die GUV für Unfälle im Rahmen der versicherten Tätigkeit sowie Wegeunfälle aufkommt, leistet die PUV für alle Unfälle des täglichen Lebens mit in den Policen genannten individuellen Beschränkungen. Im ersten Fall greift die Relevanz-, im zweiten die Adäquanztheorie.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Berufsunfähigkeit Polyneuropathien mit schweren oder schwersten motorischen Ausfällen oder der vollständige Verlust mehrerer großer Einzelnerven können Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bedingen. Je höher die Anforderung an die (senso-)motorische Kraft und Geschicklichkeit, desto früher wird eine Berufsunfähigkeit eintreten. Die mit der Schädigung von Nerven oder mit Polyneuropathien verbundene Schmerzhaftigkeit ist bereits mit der entsprechenden Wertung abgegolten (Ausnahmen siehe unter CRPS). Ist davon auszugehen, dass die berufliche Tätigkeit selbst Ursache oder Auslöser einer Nervenschädigung war, kommen die Zuteilung eines anderen Arbeitsplatzes oder Umschulungsmaßnahmen in Betracht.
357 11.4 Peripheres Nervensystem
Erwerbsfähigkeit Entsprechende Bewertungen finden sich in . Tab. 11.17 und 11.18. Maßstab für einen GdB/MdE ist stets der (abstrakte) allgemeine Arbeitsmarkt und nicht der konkrete Beruf. Beispielsweise kann ein Schauspieler oder Musiker mit einer kompletten einseitigen Fazialisparese zweifellos berufsunfähig sein, wohingegen sich der GdB/MdE nur auf 30 bzw. 40 beläuft.
Öffentliches Dienstrecht Während des Dienstes erworbene periphere Nervenverletzungen sind entsprechend den dienstrechtlichen Voraussetzungen abzugelten. Grundlage ist bei Beamten die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, basierend auf rechtlichen Vorgaben, z. B. dem Beamtenversorgungsgesetz. Eine Besonderheit des Militärdienstes ist das z. B. nach sehr langen Märschen mögliche Tibialis-anterior-Logensyndrom, das neben einer ischämisch-ödematösen Schädigung des Muskels auch die in einem Kompartment verlaufenden Nerven, z. B. den N. peroneus, betreffen kann. Die Bewertung erfolgt analog den GdB/MdE-Kriterien (. Tab. 11.18).
11.4.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Fahrereignung Das Führen eines Kraftfahrzeugs oder Flugzeugs ist nur soweit beeinträchtigt, als die Ausfälle gravierend sind und entsprechende sensomotorische Leistungen nicht mehr zur Verfügung stehen oder nicht mehr kompensierbar sind (Lewrenz 2000; dort wird in 7 Abschnitt 3.9.2 »Erkrankungen der neuromuskulären Peripherie« sinngemäß auf Polyneuropathien eingegangen). Die Beurteilung ist vom Verlauf und Ausprägungsgrad des Einzelfalles abhängig zu machen. Manchmal können entsprechende Hilfsmaßnahmen, z. B. der Einbau von Lenkhilfen oder eines Automatikgetriebes, eine Fahrereignung auch noch in fortgeschrittenen Fällen erlauben. Die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 kann nur im Einzelfall und abhängig vom Ausprägungsgrad der Störungen durch eine nervenärztliche/ neurologische Untersuchung nachgewiesen werden.
Einschränkung in der Berufsausübung Personen, die auf ihre Stimme angewiesen sind oder besondere feinmotorische Fähigkeiten mitbringen müssen (Berufssportler, Schauspieler und Musiker), können bereits durch ansonsten leichtgradige Schädigungen berufsunfähig werden.
11.4.7 Risikobeurteilung
Periphere Nervenschäden auf mechanischer Grundlage kommen v. a. bei schwerer körperlicher und unfallgeneigter Tätigkeit vor. Ein Beispiel ist die Beschäftigungslähmung bei monotoner repetitiver mechanischer Belastung (Fließbandarbeit, Bedienung von Hebeln, Stanzen etc.). Auch die Exposition gegenüber neurotoxischen Stoffen ist zu beachten. Einen Sonderfall bildet die tomakulöse Neuropathie oder »hereditary neuropathy with liability to pressure palsy« (HNPP), bei der auf konstitutionell-genetischer Basis eine erhöhte mechanische Vulnerabilität peripherer Nerven besteht. Tätigkeiten mit besonderer physikalischer Beanspruchung oder dem Risiko einer Traumatisierung sind demnach für diese Personengruppe ungeeignet. Die Regenerationsfähigkeit einer mechanischen Einzelnervschädigung hängt vom Ausmaß der Läsion und dem Zustand des Gesamtorganismus ab. Durchblutungsoder Stoffwechselstörungen (Diabetes mellitus) wirken sich ungünstig aus. > Als Faustregel gilt unter sonst normalen Verhältnissen eine Regenerationsgeschwindigkeit von 1 mm/Tag, aus der sich die zu erwartende Gesamtregenerationsdauer errechnen lässt. Sie kann also durchaus 2 Jahre oder mehr betragen.
Ist die Läsion schwerwiegend und das Ergebnis unbefriedigend, kann bei erhaltenem Erfolgsorgan (Muskel) auch noch nach Monaten ein chirurgischer Eingriff erwogen werden.
Kommentar Ein verlässlich beurteilbarer Endzustand nach Polyneuropathie ist i. Allg. nach 3 Jahren erreicht.
Polyneuropathien folgen meist einem eigengesetzlichen Verlauf – abhängig von der jeweiligen Ätiologie und deren Beeinflussbarkeit. In denjenigen Fällen, in denen keine Therapie möglich ist, ist die wahrscheinlichste Annahme die, dass der zukünftige Verlauf dem bisherigen gleicht. Schwer vorherzusagen sind asymmetrische oder vaskulär bedingte Schäden vom Typ der Mononeuropathia multiplex, da hier in manchmal rascher Folge unterschiedliche Körperpartien betroffen werden.
11
358
Kapitel 11 · Nervensystem
11.4.8 Verbesserung der Prognose durch
1 2 3 4
Rehabilitation Bei mechanisch entstandenen Nervenläsionen kommt im Grunde nur eine ebenfalls mechanische Behandlung in Form von Krankengymnastik, gestuftem Muskelaufbau, Reizstrom und Ergotherapie in Betracht. Gelegentlich sind operative Eingriffe mit dem Ziel eines Interponats oder einer Ersatzoperation möglich. Manchmal ist dennoch eine Umschulung unerlässlich. Physikalische Maßnahmen können auch insofern langfristig sinnvoll sein, als sie einem Funktionserhalt dienen.
5 11.4.9 Sonderfragen
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Erstattungspflicht für Off-label-use-Therapeutika Im Zuge der zunehmenden Reglementierung der Medizin unter ökonomischen Gesichtspunkten und dem Angebot von teilweise sehr teuren, aber durchaus wirksamen Therapieformen wird zunehmend um die Indikation und Erstattungspflicht von Therapeutika gerungen. Hier ist der Begriff des »off label use« von Bedeutung, der die Anwendung eines für diese Indikation nicht zugelassenen, gleichwohl wissenschaftlich begründbaren und wirksamen Mittels meint. Die Aufführung in fachspezifischen Leitlinien impliziert allerdings noch keine Leistungspflicht der Kassen. Für diese müssen laut Bundessozialgericht die Bedingungen 5 schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung, 5 keine andere Therapie verfügbar und 5 Aussicht auf Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) aufgrund der Datenlage gleichzeitig erfüllt sein (Fritze 2004). In strittigen Fällen werden Gerichte bemüht. Es ist deshalb ratsam, die Herstellerinformationen und Zulassungsbedingungen eines Pharmakons genau zu studieren und sich im Zweifelsoder Abweichungsfall die Deckungszusage der Kasse vorab einzuholen. Dies betrifft z. B. die Gabe intravenöser Immunglobuline.
Literatur
Literatur zu Kap. 11.1
18 19 20
BAR (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation). Empfehlungen zur stationären Langzeitpflege und Behandlung von Menschen mit schweren und schwersten Hirnschädigungen in den Phasen B und C. Frankfurt, 2. Aufl. 1998 Brandt T, J Dichgans, H-C Diener (Hrsg) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 5. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart, 2007 Keidel M, H-C Diener. Der posttraumatische Kopfschmerz. Nervenarzt 1997; 68: 790–799
Lewrenz H (Bearbeiter) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen – Mensch und Sicherheit. Heft M 115. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, 2000 Mammi P, B Zaccaria, M Franceschini. Early rehabilitative treatment in patients with traumatic brain injuries: outcome at one-year followup. Eur Medicophys 2006; 42: 17–22 Quality Standards Subcommitte of the American Academy of Neurology. Practice Parameter: The management of concussion in sports (summary statement). Neurology 1997; 48: 581–585 Richardson, JTE.. Clinical and Neuropsychological Aspects of Closed Head Injury. 2nd edn. Psychology Press, Hove (UK), 2000 Scheid R, CPreul, O Gruber, C Wiggins, DY von Cramon. Diffuse axonal injury associated with chronic traumatic brain injury: Evidence from T2*-weighted gradient-echo imaging at 3 T. AJNR 2003; 24: 1049–1056 Schirmer M (Hrsg) Neurochirurgie. Eine Einführung. 10. Auflage. Urban und Fischer, München, 2004 Schönle PW. Prognose und Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma. In: C-W Wallesch, A Unterberg, V Dietz (Hrsg) Neurotraumatologie. Thieme, Stuttgart New York 2005, pp 95–117 Suchenwirth RMA, A Kunze, OE Krasney (Hrsg) Neurologische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. 3. Auflage. Urban & Fischer, München 2000 Suchenwirth RMA, G Ritter (Hrsg) Begutachtung der hirnorganischen Wesensänderung. Fischer, Stuttgart, 1994 Suchenwirth RMA, G Ritter (Hrsg) Qualitätssicherung bei der neurologischen Begutachtung. Fischer, Stuttgart, 1996 Todorow S, P Oldencott. Praktische Hirntraumatologie. 4. Auflage. Deutscher Ärzteverlag, Köln, 1998 Wallesch, C-W, P Marx, M Tegenthoff, A Unterberg, R Schmidt, W Fries. Leitlinie »Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirn-Trauma«. Akt Neurol 2005; 32: 279–287 Wallesch C-W, R Schmidt. Schädel-Hirn-Traumen. In: B. Widder, P. W. Gaidzik (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart New York 2007, pp 313–324 Wallesch C-W, A Unterberg, V Dietz (Hrsg) Neurotraumatologie. Thieme, Stuttgart New York 2005 Widder B, PW Gaidzik (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart New York 2007
Literatur zu Kap. 11.2 Ginsberg MD, Bogousslavsky J (Hrsg) Cerebrovascular Disease. Vols. 1 und 2. Blackwell, Malden, Mass., USA, 1998 Hacke W, Kaste M, Olsen TS, Orgogozo JM, Bogousslavsky J. Empfehlungen der Europäischen Schlaganfall-Initiative zur Versorgung und Behandlung des Schlaganfalls. Nervenarzt 2001; 72: 807–819 Hannen P, Hartje W, Skreczek W. Beurteilung der Fahreignung nach Hirnschädigung. Neuropsychologische Diagnose und Fahrprobe. Nervenarzt 1998; 69: 864–872 Hufnagel A, Hammers A, Schönle P-W, Böhm K-D, Leonhardt G. Stroke following chiropractic manipulation of the cervical spine. J Neurol 1999; 246: 683–688 Hunt WE, Hess RM. Surgical risk as related to time of intervention in the repair of intracranial aneurysms. J Neurosurg 1968; 28: 14–20 Jansen O, Schellinger PD, Fiebach J, Sartor K, Hacke W. Magnetresonanztomographie beim akuten Schlaganfall: Möglichkeiten, Ergebnisse und Perspektiven. Dtsch Ärztebl 2002; 99: A-1361-A1370 Lewrenz H (Bearbeiter) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen – Mensch und Sicherheit. Heft M 115. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, 2000 Marx P. Gefäßerkrankungen von Gehirn und Rückenmark. In: Suchenwirth RMA, Kunze K, Krasney OE (Hrsg) Neurologische Begutachtung. 3. Aufl. Urban & Fischer, München, 2000, Kapitel 24, pp 373– 408
359 Literatur
Marx P, Widder B. Vaskulär bedingte ZNS-Erkrankungen. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg). Begutachtung in der Neurologie, Kapitel 31. Thieme, Stuttgart New York 2007: 358–366 Masur H. Skalen und Scores in der Neurologie. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart New York 2000 Ringleb PA, Schellinger PD, Schranz C, Hacke W. Thrombolytic therapy within 3 to 6 hours after onset of ischemic stroke: useful or harmful? Stroke 2002; 33: 1437–1441 Schellinger PD, Fiebach JB, Ringleb PA, Jansen O, Hacke W. Thrombolyse bei zerebraler Ischämie. Eine Übersicht. Nervenarzt 2001; 72: 590–599 Weintraub MI. Thrombolysis (tissue plasminogen activator) in stroke: a medicolegal quagmire. Stroke. 2006; 37: 1917–1922 Widder B, Gaidzik PW (Hrsg). Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart New York 2007
Literatur zu Kap. 11.3 Baumgartner C, Stefan H. Epilepsien. In: Stefan H, Mamoli B (Hrsg) Aktuelle Therapie in der Neurologie. Ecomed, Landsberg 2008 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung: Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht. 2004 Krämer G. Epilepsie und Führerschein: Neue Begutachtungs-Leitlinien. Akt Neurol 2000; 27: 90–92 Lewrenz H (Bearbeiter) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen – Mensch und Sicherheit. Heft M 115. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven, 2000 Krämer G. Epileptische Anfälle und Epilepsien. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart New York 2007, S 221–227 Schumacher J. Epilepsie: Systematik der Begutachtung. Med Sach 2005; 101: 6–11 Spatz R. Zerebrale Anfallsleiden (Epilepsien). In: Suchenwirth RMA, Kunze K, Krasney OE (Hrsg) Neurologische Begutachtung. 3. Aufl. Urban & Fischer, München 2000, S 429–461 Stefan H. Begutachtung traumatischer Epilepsien. Akt Neurol Sonderband Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Neurologie 2002, Hrsg Hacke W, Hennerici M, Diener HC, Felgenhauer K, Wallesch CW, Busch E, Thieme, Stuttgart, 2002, S 540–555 Stefan H. Krämer G. Epilepsien. Diagnose und Behandlung. 4. Aufl. Thieme, Stuttgart New York 2008.
Literatur zu Kap. 11.4 BK-Report 1317. Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische. HVBG, St. Augustin 2007 Conrad B, Bischoff D. Das EMG-Buch, Thieme, Stuttgart, 1998 Engelhardt A. Vaskulitische Neuropathien: Klinische und nervenbioptische Befunde. Roderer, Regensburg 1994 Engelhardt A, Polyneuropathien. In Berlit P (Hrsg) Klinische Neurologie, Springer, Berlin 1999, Kapitel 16, Seite 408 – 433 Feuerlein W, Küfner H, Ringer C, Antons-Volmerg K. MALT. Münchner Alkoholismustest. 2. Aufl. Beltz, Weinheim 1999 Fritze J. »Off-Label-Use« – Therapie mit zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassener Indikation. Versicherungsmedizin 2004; 56: 61–62 Gleichmann M, Limmroth V. Polyneuropathien. In: Brandt T, Dichgans J, Diener HC (Hrsg) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 4. Aufl., Kohlhammer, Stuttgart 2003, S 1203–1217 Grehl H., Reinhardt F. unter Mitarbeit von Neuberger J. Checkliste Neurologie, Thieme, Stuttgart, 2. Auflage 2002 Hopf HC, Kömpf D. Erkrankungen der Hirnnerven. Thieme, Stuttgart New York 2006
Kunze K. Polyneuropathien und Enzephalopathien. In: Suchenwirth RMA, Kunze K, Krasney OE, Neurologische Begutachtung, 3. Auflage, Urban & Fischer, München 2000, Kapitel 32, Seite 578–598 Lang CJG, Stefan H. Sportverletzungen des Nervensystems. Fortschr Neurol Psychiat 1999; 67: 373–386 Lewrenz H (Bearb.) Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen. Mensch und Sicherheit. Heft M 115. Wirtschaftsverlag, Bremerhaven, 2000 Masuhr KF, Neumann M. Neurologie, 4. Auflage. Hippokrates, Stuttgart 1998 Mumenthaler M, Schliack H, Stöhr M (Hrsg) Läsionen peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. Thieme, Stuttgart New York 1998 Neundörfer B. Polyneuropathien: Standards. Nervenheilkunde 1995; 14: 164–174 Neundörfer B, Heuß D (Hrsg) Polyneuropathien. Thieme, Stuttgart New York 2007 Poeck K., Hacke W. Neurologie. 12. Auflage, Springer, Berlin Heidelberg New York 2006 Schwenkreis P und Tegenthoff M. Radikulo- und Neuropathien. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart, 2007, Seite 239–250 Stöhr M, Pfister R, Schleglmann K. Klinische Elektromyographie und Neurographie – Lehrbuch und Atlas, 5. Auflage, Kohlhammer, Stuttgart 2004 Suchenwirth RMA, Kunze K, Krasney OE. Neurologische Begutachtung, 3. Auflage, Urban & Fischer, München 2000 Sunderland S Nerves and Nerve Injuries. 2nd edn. New York, Churchill Livingston 1978 Widder B. Schmerzsyndrome. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart, 2007, Seite 278–298 Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie. Thieme, Stuttgart New York 2007
Internetadressen Arbeitsgemeinschaft neurologische Begutachtung (ANB) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) www.anb-ev.de Fragen zur neurologischen Begutachtung, Leitlinien. Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften e. V. www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF Leitliniendatenbank. Berufsverband Deutscher Neurologen www.bv-neurologie.de Berufsständische Vereingigung. Deutsche Gesellschaft für klinische Neurophysiologie www.dgkn.de Elektrophysiologische und bildgebende Untersuchungen. Deutsche Gesellschaft für Neurologie www.dgn.org Allgemeine neurologische Fragen. Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie e. V. www.neuroradiologie.de Neuroradiologie, Bildgebung in Neurologie und Neurochirurgie.
11
361
Sinnesorgane B. Lachenmayr, K.-F. Hamann
12.1
Visuelles System
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.1.6 12.1.7 12.1.8 12.1.9
Diagnostik – 362 Krankheitsdefinition – 364 Fragen zum Zusammenhang – 365 Bewertung nach dem Sozialrecht – 365 Begutachtung privat versicherter Schäden – 367 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 368 Risikobeurteilung – 369 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 369 Sonderfragen – 370
12.2
Ohrerkrankungen – 370
12.2.1 12.2.2
Erkrankungen des Hörorgans – 370 Gleichgewichtsstörungen und Schwindel – 389
Literatur
– 399
– 362
12
362
Kapitel 12 · Sinnesorgane
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Die augenärztliche Begutachtung (7 Kap. 12.1) basiert auf der Bewertung von funktionellen Beeinträchtigungen im Bereich der kardinal wichtigen Sehfunktionen, wie z. B. Sehschärfe, Gesichtsfeld, Dämmerungssehvermögen sowie Augenstellung und Motilität. Andere funktionelle Störungen, wie z. B. Störungen des Farbensehens, Verlust der Akkommodationsfähigkeit, die Notwendigkeit des Tragens einer Brille werden in gewissen Bereichen zwar mitbewertet, sind aber eher als nachrangig einzustufen. Von entscheidender Bedeutung ist durchwegs die Bewertung von Sehschärfe, Gesichtsfeld und Augenstellung sowie Motilität (Problematik der Diplopie). Die Übersicht in diesem Kapitel ist naturgemäß nur sehr knapp gehalten, für Details sei der Leser auf die Literatur verwiesen: Burggraf u. Burggraf (1994), Gramberg-Danielsen et al. (2005), Lachenmayr (2003), Sachsenweger (1976). Die Begutachtung von Ohrerkrankungen (7 Kap. 12.2) richtet sich in erster Linie an den Nicht-HNO-Arzt. Deswegen wurde der Schwerpunkt auf die für die Begutachtung wichtigen Zusammenhänge zwischen funktioneller Anatomie und Pathophysiologie des Ohres einerseits und auf die für die Begutachtung wichtigen Krankheitsbilder andererseits gelegt. Die bei Begutachtungen eingesetzten Untersuchungsmethoden und ihre Aussagekraft werden kritisch vorgestellt. Wenn es gelingt, auch dem Nichtspezialisten die Problematik der Beurteilung von Ohrerkrankungen nahezubringen, sodass ein darüber angefertigtes HNO-ärztliches Gutachten auch für ihn verständlich wird, dann hat dieser Beitrag sein Ziel erreicht. Demjenigen, der tiefer in die Begutachtung in der HNO-Heilkunde eindringen will, dem sei das ausführliche Standardwerk von Feldmann (2006) empfohlen.
14 12.1
15 16 17 18 19 20
Visuelles System B. Lachenmayr
12.1.1 Diagnostik
Sehschärfe Die Bewertung der Tagessehschärfe ist einer der kardinalen Eckpunkte der augenärztlichen Begutachtung. Daher muss sie sehr sorgfältig und nach standardisierten Bedingungen durchgeführt werden. Für die Prüfung der Sehschärfe sind sog. Landolt-Ringe zu verwenden, wie sie von den entsprechenden Normen festgelegt sind (DIN 58 220, ISO 8597). In den Normen sind die genaue Konfiguration und Abstufung der Sehzeichen in einer logarithmischen Folge festgelegt, die ge-
nauen Darbietungsbedingungen (Kontrast, Leuchtdichte des Umfeldes, Gestaltung der Raumbeleuchtung etc.) und die Häufigkeit, wie oft die geraden und die schrägen Richtungen der Landolt-Ringe dargeboten werden müssen. > Ganz entscheidend ist die Verwendung des korrekten Abbruchkriteriums.
Das Abbruchkriterium definiert den genauen Grenzwert, der als Ergebnis der gutachterlichen Sehschärfeprüfung in das Gutachten eingetragen wird. Der Untersucher beginnt bei Optotypen, die der Patient noch sicher erkennen kann, wobei pro Stufe mindestens 5 Opotypen gleicher Visusanforderung dargeboten werden müssen. Zunächst erkennt also der Proband alle Sehzeichen, 5/5 richtige Antworten werden gegeben. Dann kommen die ersten Fehler. Mit zunehmend kleineren Optotypen nimmt die Zahl der Fehler zu. In dem Moment, wo 3/5 Fehler gemacht werden, wird die Untersuchung abgebrochen, und als erzielte Sehschärfe wird eine Visusstufe größer als die Stufe des Abbruches eingetragen. Genau dieser Wert wird in das Gutachten geschrieben, nicht irgendwelche Angaben über »partiell« oder »pt« oder dergleichen mehr, wie dies klinisch üblich ist. Für die gutachterliche Bewertung muss ein exakter Messwert im Gutachten stehen. Die Sehschärfe sollte unkorrigiert monokular für jedes Auge getrennt und binokular geprüft werden, zudem korrigiert monokular für jedes Auge und binokular. Gerade die binokulare Sehschärfe wird für manche Bereiche der Begutachtung als wichtiger Parameter herangezogen.
Gesichtsfeld Die Prüfung des Gesichtsfeldes ist die zweite kardinale Säule für die Bewertung von funktionellen Veränderungen im Rahmen der augenärztlichen Begutachtung. Sie hat obligat mittels einer manuell-kinetischen Methode am Perimeter nach Goldmann oder einem dazu äquivalenten Gerät zu erfolgen. Die Prüfung am statischen automatischen Perimeter ist nur in Ausnahmefällen zugelassen (z. B. im Rahmen der Fahrereignungsbegutachtung), sie kann allenfalls Zusatzinformationen liefern für spezielle Fragestelltungen. Prinzipiell muss bei der Begutachtung die manuell-kinetische Perimetrie zur Anwendung kommen. Das Gesichtsfeld sollte monokular seitengetrennt für jedes Auge und binokular geprüft werden. Die Standardsequenz für die Prüfmarken am Perimeter nach Goldmann oder einem dazu äquivalenten Gerät ist die Prüfmarke III/4 für die Außengrenzen und dann üblicherweise die Sequenz I/4, I/3, I/2 und I/1, wobei sich hier naturgemäß je nach Befundlage Variationen ergeben können. > Entscheidend ist jedoch, dass die Außengrenzen mit der Marke III/4 geprüft werden.
363 12.1 Visuelles System
Prüfung von Augenstellung und Motilität und des Binokularsehens Die dritte kardinale Säule der Begutachtung im augenärztlichen Bereich ist die Bewertung von Augenstellung, Motilität und Binokularsehen. Entscheidend dabei ist die Wertung des Auftretens von Doppelbildern, wobei eine Prüfung im Prinzip für die Ferne erfolgen muss, üblicherweise also an der Tangententafel nach Harms, die einen Prüfabstand von 2,5 m gewährleistet. Die Prüfung der Augenstellung am Perimeter nach Goldmann, was auch möglich ist, v. a. bei der Bestimmung des binokularen Einfachsehfeldes (BES), ist nur bei bestimmten klinischen Konstellationen zulässig, jedoch nicht generell. Hier ist auf eine Prüfung an der HarmsWand zu drängen, da diese standardisierte Befunde gestattet und eine Prüfung für die Ferne ermöglicht. Als Behelf kann auch eine Prüfung am Maddox-Kreuz für die Ferne erfolgen. Bei Motilitätsstörungen muss festgestellt werden, ob überhaupt binokulares Einfachsehen vorliegt, und wenn ja, wie groß die Zone ist, in der der Patient binokular einfach sieht (binokulares Einfachsehfeld; BES). Die Bewertung von Doppelbildern erfolgt nach dem Schema von Haase u. Steinhorst (Gramberg-Danielsen et al. 2005), das in . Abb. 12.1 wiedergegeben ist. Es werden dabei 5 unterschiedliche Zonen definiert. Wenn Doppelbilder in der Zone 4, also im zentralen Blickfeldbereich von 10° Abstand nach rechts und links, 5° nach oben und 10° nach unten auftreten, so ist dies die stärkste Beeinträchtigung für den Patienten, was entsprechend hoch bewertet wird. So ergibt sich beispielsweise im Rahmen der Gesetzlichen Unfallversicherung bei Doppelbildern in Zone 4 ein GdB/MdE von 25, der gleiche Wert ergibt sich für das Soziale Entschädigungsrecht.
Für die Private Unfallversicherung ergibt sich für die AUB alt eine MdG (Minderung der Gebrauchsfähigkeit eines oder beider Augen) in Höhe von 30%, für die AUB 88 eine MdG von 50%. Für Einzelheiten zur Bewertung von Motilitätsstörungen sei auf Gramberg-Danielsen et al. (2005) verwiesen.
Farbensehen Die Prüfung des Farbensehens ist v. a. für die verschiedenen Verkehrsbereiche von Bedeutung, beispielsweise für den Straßen- oder Schienenverkehr, aber auch für den Flugverkehr, sowie für die berufliche Eignung (z. B. Elektriker, Mechatroniker, graphische Berufe etc.). Es geht primär um die Erfassung von hereditären Farbsinnstörungen, die den Rot-grün-Bereich betreffen. Die Untersuchung des Farbensehens muss in diesen Fällen am Anomaloskop nach Nagel oder einem dazu äquivalenten Gerät erfolgen, um im Falle einer Anomalie (Protanomalie oder Deuter-Anomalie) einen oberen und unteren Grenzwert für den Anomalquotienten zu ermitteln.
Kommentar Im Falle einer Protanopie (Rotblindheit) oder DeuterAnopie (Grünblindheit) kann naturgemäß aus mathematischen Gründen kein Anomalquotient berechnet werden.
Dämmerungssehvermögen und Blendempfindlichkeit Für viele Berufe, v. a. für den Straßenverkehr, aber auch für verschiedene berufliche Bereiche im Rahmen des Be-
. Abb. 12.1. Schema nach Haase und Steinhorst zur Bewertung von binokularen Doppelbildern gemäß den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft und des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands. (Nach Gramberg-Danielsen et al. 2005)
12
364
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Abb. 12.2. Prüfanordnung von Nyktometer und Mesotest bzw. Mesoptometer. Die Prüfbedingungen entsprechen den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft. (Aus Lachenmayr 1995)
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
rufsgenossenschaftlichen Grundsatzes G25 ist die Prüfung von Dämmerungssehvermögen und Blendempfindlichkeit wichtig. Hierzu sind standardisierte Geräte zu verwenden, die den Empfehlungen von DOG und BVA (Lachenmayr 2003, wird in Kürze neu aufgelegt) entsprechen. Die Prüfung von Dämmerungssehvermögen und Blendempfindlichkeit erfolgt mit Optotypen mit einer geringen Visusanforderung von nur 0,1, heute üblicherweise mit einem Landolt-Ring, dessen Kontrast zum Umfeld abgestuft werden kann. Jede Kontraststufe sollte ähnlich wie bei der Sehschärfeprüfung 5-mal dargeboten werden. Es sollte auch ein ähnliches Abbruchkriterium (3/5 richtig erkannt wird akzeptiert) angewendet werden. Wenn selbst die stärkste Kontraststufe von 1 : 23,5, wie sie im Mesotest oder im Nyktometer enthalten ist, nicht erkannt wird, besteht keine Eignung für berufliche Tätigkeiten in der Dämmerung oder bei Nacht. Bei der Prüfung der Blendempfindlichkeit wird eine definierte Blendquelle zugeschaltet und ähnlich wie bei der Prüfung des Dämmerungssehvermögens diejenige Kontraststufe ermittelt, die der Betrachter noch erkennen kann. Die Prüfanordnung von Nyktometer und Mesotest bzw. Mesoptometer ist in . Abb. 12.2 dargestellt.
Sonstiges
14 15 16 17 18 19 20
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass für spezielle Fragestellungen unter Umständen auf die automatische statische Perimetrie des gesamten oder des zentralen 30°oder 10°-Gesichtsfeldes zurückgegriffen werden muss. Unter Umständen muss ein kompletter orthoptischer Status erhoben werden mit Prüfung der Fusionsbreite für Ferne und Nähe und der Phorie für Ferne und Nähe. Möglicherweise muss die Akkommodationsbreite ermittelt werden. Diese und evtl. weitere Zusatzuntersuchungen zur funktionellen Bewertung von Schadensfolgen oder Erkrankungsfolgen hängen vom jeweiligen Einzelfall ab.
12.1.2 Krankheitsdefinition
Kommentar Bei der gutachterlichen Bewertung von Erkrankungen des Auges, der Augenmuskeln, des Sehnervs oder der afferenten Sehbahn ist in der Regel nicht die Ätiologie per se entscheidend, sondern das Ausmaß der funktionellen Störungen, die durch die Erkrankung bzw. durch das Unfallgeschehen hervorgerufen worden sind.
So kann bei lokalen Störungen der Augenmuskeln ebenso wie bei zentralen Störungen im Bereich der zugehörigen Hirnnervenkerne eine Motilitätsstörung zustande kommen mit dem Auftreten von Doppelbildern und Einschränkung des binokularen Einfachsehfeldes. Störungen der optischen Medien, beispielsweise von Hornhaut, Linse und Glaskörper, können zu Änderungen der Refraktion führen, zu irregulären Oberflächenveränderungen, v. a. im Bereich der Hornhaut (irregulärer Astigmatismus, beispielsweise nach Verätzung) oder bei einseitigem Linsenverlust zu einer hohen Anisometropie, was zu einer erheblichen Funktionsbeeinträchtigung eines Auges führen kann. > Hier ist in der Regel die Sehschärfe das entscheidende Leitkriterium neben der Bewertung des Kontrastsehens im Rahmen der Prüfung von Dämmerungssehvermögen und Blendempfindlichkeit.
Erkrankugen der Netzhaut können je nach Ätiologie zu einer Minderung der zentralen Sehschärfe und zum Auftreten von Gesichtsfelddefekten führen (z. B. Makuladegeneration, Venenastverschluss, Arterienastverschluss). Bei dystrophischen Netzhauterkrankungen, z. B. der Retinopathia pigmentosa, kommt es typischerweise zur konzentrischen Gesichtsfeldeinschränkung. Erkrankungen des Sehnervs können zu Störungen im Gesichtsfeld und zu einer Herabsetzung der zentralen Sehschärfe führen. Läsionen im Bereich der afferenten Sehbahn (Chiasma, Tractus opticus, Corpus geniculatum laterale, Gratiolet-Sehstrahlung und visueller Kortex) ge-
365 12.1 Visuelles System
hen als Leitsymptome mit Gesichtsfeldstörungen einher, im Bereich des Chiasma opticum heteronym gelagert, suprachiasmal homonym gelagert. Es kann aber durchaus auch zu Störungen der zentralen Sehschärfe kommen. Letztlich entscheidend ist, wie eingangs erwähnt, die funktionelle Bewertung einer Erkrankung oder eines Schadens unabhängig von der zugrunde liegenden Ätiologie.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist der Hinweis, dass die berufsgenossenschaftlichen Unfallmeldungen immer sorgfältig ausgefüllt werden. Es sollte immer komplett und vollständig kommentiert werden, dass eine genaue Prüfung der Sehschärfe unkorrigiert und korrigiert stattgefunden hat. Oftmals stellen diese Unfallbögen die einzigen greifbaren Vorbefunde bei Folgeschäden dar.
Kommentar 12.1.3 Fragen zum Zusammenhang In vielen Fällen ist die Kausalität eindeutig:
5 Tritt beispielsweise eine Venenastthrombose mit Makulaödem auf, so kommt es zu einer Herabsetzung der zentralen Sehschärfe und zu einem Gesichtsfeldausfall. 5 Kommt es zu einer schweren Contusio bulbi, etwa durch eine Squashballverletzung oder durch einen Kuhhornstoß, so kann dies zu einer Eintrübung der Augenlinse und zur Entwicklung einer Netzhautablösung führen. In diesen Fällen kann die Kausalität eindeutig beantwortet werden. Es muss allerdings sichergestellt werden, dass die im Endzustand vorliegenden funktionellen Beeinträchtigungen auch mit den objektiven Befunden übereinstimmen. Hier muss die gutachterliche Erfahrung entscheiden, ob die erzielten Befunde bei der Sehschärfeprüfung und der Gesichtsfelduntersuchung mit den objektiven morphologischen Befunden übereinstimmen oder ob Verdacht auf Simulation oder Aggravation besteht. Wenn sich hier Verdachtsmomente ergeben, so muss gezielt mit entsprechenden Simulationstests nachgeforscht werden. Hierauf wird ausführlicher 7 Kap. 12.1.9 eingegangen. Schwierig kann die Begutachtung werden, wenn Vorerkrankungen oder Vorschäden bestehen, insbesondere wenn diese nicht hinreichend oder mit ungeeigneten Untersuchungsmethoden dokumentiert wurden.
Beispiel Sturzverletzung bei vorbestehendem Glaukom Ein Patient hat seit Jahren ein chronisches Glaukom, das bereits zu erheblichen Gesichtsfeldschäden geführt hat. Er erleidet nun ein Schädel-Hirn-Trauma im Rahmen einer Sturzverletzung mit nachfolgender posttraumatischer Optikusatrophie mit einer weiteren Schädigung von Gesichtsfeld und Sehschärfe. Wenn jetzt keine geeigneten und ausreichend dokumentierten Vorbefunde zum präexistenten Glaukom bestehen, wird es schwierig, das genaue Ausmaß des Unfallschadens festzulegen.
Der Gutachter muss sich aber im Klaren darüber sein, dass bei Rückgriff auf derartige Vorbefunde, auch auf augenärztliche Befunde, die nicht im Rahmen einer Begutachtung erstellt worden sind, in der Regel keine Prüfung von Sehschärfe und Gesichtsfeld nach gutachterlichen Kriterien erfolgt ist, sondern dass klinisch übliche Maßstäbe angewendet werden, wie z. B. die Prüfung der Sehschärfe mit Zahlen oder Buchstaben oder die Prüfung des Gesichtsfeldes an einem Automaten, was für die Begutachtung im Prinzip nicht verwendbar ist. Wenn keine anderen Befunde vorliegen, muss der Gutachter notgedrungen auf derartige Dinge zurückgreifen, allerdings eben mit Einschränkung.
Grundsätzlich muss immer eine nachvollziehbare Kausalität zwischen einer Erkrankung oder einem Unfallereignis und der danach folgenden funktionellen Beeinträchtigung belegt werden können. Wenn dies nicht der Fall ist, so muss dies vom Gutachter entsprechend kritisch gewertet werden. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass viele Patienten, die beispielsweise im Lebensalter von 38 oder 39 Jahren einen Unfall erleiden und dann ab dem 40. Lebensjahr in den Zustand der beginnenden Presbyopie (Altersweitsichtigkeit) kommen, gemäß dem von der menschlichen Natur gegebenen Kausalitätsbedürfnis das Unfallereignis dafür anschuldigen, dass eine Altersweitsichtigkeit eingetreten ist. Dies ist ein häufiger Umstand, der gutachterlich berücksichtigt werden muss.
12.1.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Gesetzliche Unfallversicherung Im Rahmen der Gesetzlichen Unfallversicherung muss die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bzw. der Grad der Behinderung (GdB) bewertet werden. Bei Vorliegen von Vorschäden oder Vorerkrankungen muss der Gesamt-GdB/MdE in einen unfallabhängigen GdB/MdE, der dem betreffenden Unfallereignis zugeordnet wird, und einen unfallunabhängigen GdB/MdE getrennt werden. Für die Bewertung der Sehschärfe wird die beidäugige Gesamtsehschärfe (bG) und die Sehschärfe des schlechteren Auges (sA) herangezogen (. Tab. 12.1). Als wich-
12
366
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Tab. 12.1. Schätzung von GdB/MdE im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung (Gramberg-Danielsen et al. 2005). Aufgetragen ist die Sehschärfe des schlechteren Auges (sA, waagerecht) gegenüber der binokularen Gesamtsehschärfe (bG, senkrecht) Sehschärfe
sA
bG
1,0
0,8
0,63
0,5
0,4
0,32
0,25
0,2
0,16
0,1
0,08
0,05
0,02
0
5/5
5/6
5/8
5/10
5/12
5/15
5/20
5/25
5/30
5/50
1/12
1/20
1/50
0
1,0
5/5
0
0
0
5
5
10
10
10
15
20
20
25
25
25
0,8
5/6
0
0
5
5
10
10
10
15
20
20
25
30
30
30
0,63
5/8
0
5
10
10
10
10
15
20
20
25
30
30
30
40
0,5
5/10
5
5
10
10
10
15
20
20
25
30
30
35
40
40
0,4
5/12
5
10
10
10
20
20
25
25
30
30
35
40
50
50
0,32
5/15
10
10
10
15
20
30
30
30
40
40
40
50
50
50
0,25
5/20
10
10
15
20
25
30
40
40
40
50
50
50
60
60
0,2
5/25
10
15
20
20
25
30
40
50
50
50
60
60
70
70
0,16
5/30
15
20
20
25
30
40
40
50
60
60
60
70
80
80
0,1
5/50
20
20
25
30
30
40
50
50
60
70
70
80
90
90
0,08
1/12
20
25
30
30
35
40
50
60
60
70
80
90
90
90
0,05
1/20
25
30
30
35
40
50
50
60
70
80
90
100
100
100
0,02
1/50
25
30
30
40
50
50
60
70
80
90
90
100
100
100
0
0
25
30
40
40
50
50
60
70
80
90
90
100
100
100
tiger Eckwert, der bei der Bewertung von komplexeren Schadensfolgen zu berücksichtigen ist, bedingt eine einseitige Erblindung einen GdB/MdE von 25. Wenn Komplikationen durch äußerlich in Erscheinung tretende Veränderungen, wie ausgeprägte Bewegungseinschränkungen, Ptosis, entstellende Narben und/oder chronischen Reizzustand oder das Tragen eines Kunstauges hinzukommen, erhöht sich der GdB/MdE bei einseitiger Erblindung auf 30. Dies gilt allerdings nur, wenn durch diese zusätzlichen Veränderungen der Einsatz des Patienten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erschwert ist. Ein weiterer wichtiger Eckwert aus . Tab. 12.1 ist eine Minderung der Sehschärfe beider Augen auf 0,5: Dies würde lediglich einen GdB/MdE von 10 ergeben. Wenn ein Auge erblindet ist und das andere Auge noch eine Sehschärfe von 0,5 aufweist, also die beidäugige Sehschärfe bei 0,5 liegt, so ergibt sich ein GdB/MdE von 40. Als Eckwerte der Bewertung von Gesichtsfeldausfällen sei die komplette homonyme Hemianopsie im Rahmen einer Sehbahnschädigung erwähnt, die mit einem GdB/MdE von 40 taxiert wird. Die bitemporale Hemianopsie im Rahmen eines Chiasmasyndroms wird mit 30 bewertet, der Ausfall eines homonymen Quadranten nach oben lediglich mit 20, der Ausfall eines homonymen Quadranten nach unten mit 30.
Komplexere Defekte an beiden Augen müssen entsprechend analog bewertet werden, hierzu sei auf Gramberg-Danielsen et al. (2005) verwiesen. Die Bewertung von Doppelbildern erfolgt nach dem Schema von Haase und Steinhorst, worauf in 7 Kap. 12.1.1 hingewiesen wurde (. Abb. 12.1): So resultiert für eine permanente Diplopie in allen Blickrichtungen einschließlich Zone 4 ein GdB/MdE in Höhe von 25. Bei einseitiger Exklusion ohne Konfusion oder Diplopie (Okklusion nicht erforderlich) resultiert ein GdB/MdE von 10. Muss wegen einer permanenten Diplopie eine Okklusion getragen werden, die zur kosmetischen Entstellung führt (z. B. Brillenglasokklusion), so resultiert ein GdB/MdE in Höhe von 30. Weitere funktionelle Störungen können in geringem Umfang zusätzlich bewertet werden, beispielsweise eine permanente Mydriasis nach Pupillenschädigung mit erhöhter Blendempfindlichkeit mit einem Aufschlag des GdB/MdE von 5. Gleiches gilt für eine Akkommodationslähmung bei einem jungen Patienten, hier kann ebenfalls ein Aufschlag von 5 Punkten gegeben werden. Die intra- oder extraokular korrigierte Aphakie orientiert sich in einer (leider) sehr groben Tabellierung an der erzielten Sehschärfe: Liegt der Visus bei 0,4 oder besser, so ist der GdB/MdE bei 10, liegt der Visus bei 0,1 bis <0,4, so
367 12.1 Visuelles System
ergibt sich ein GdB/MdE von 20, liegt er bei <0,1, so resultiert ein GdB/MdE von 25.
Gesetzliche Rentenversicherung Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung muss festgestellt werden, ob wegen einer verminderten Erwerbsfähigkeit eine Berufsunfähigkeit (BU) oder eine Erwerbsunfähigkeit (EU) mit einem entsprechenden Rentenanspruch besteht. Mit eingeschränkter oder aufgehobener Erwerbsfähigkeit hat diese Rente den Charakter eines Lohnersatzes, der nur bis zum vollendeten 65. Lebensjahr bezahlt wird, dann erfolgt der Übergang in die Altersrente. Berufsunfähigkeit liegt dann vor, wenn bei einem Versicherten die Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung oder gleichwertigen Kenntnissen oder Fähigkeiten herabgesunken ist. Ausgangspunkt ist der bisherige Beruf bzw. die bisherige Beschäftigung. Es ist die Verweisbarkeit zu berücksichtigen. Erwerbsunfähigkeit liegt demgegenüber vor, wenn ein Versicherter, der wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgeld oder -einkommen in mehr als nur geringfügigem Ausmaße zu erzielen. Der Ausgangspunkt ist hierbei der allgemeine Arbeitsmarkt. Für Einzelheiten zur Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit sei auf 7 Kap. 2 und Gramberg-Danielsen et al. (2005) verwiesen. Der augenärztliche Gutachter muss unter Bewertung der eingetretenen funktionellen Beeinträchtigungen beurteilen, ob aus augenärztlicher Sicht Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt. Oftmals kann von Seiten der augenärztlich festzustellenden Veränderungen bei komplexen Schäden nur ein Teilbereich dazu beigesteuert werden, hier muss dann eine Gesamtbegutachtung für alle Schadensbereiche durchgeführt werden.
Soziales Entschädigungsrecht Das soziale Entschädigungsrecht umfasst eine Vielzahl von Gesetzeswerken, die bei Gramberg-Danielsen et al. (2005) aufgeführt sind. In manchen Fällen kommt eine sog. kausale Begutachtung zum Tragen: Es geht um die Ursache eines Augenleidens mit der Entschädigung bei kausalem Zusammenhang. Ein Beispiel hierfür wäre etwa ein Unfallschaden im Rahmen des Wehrdienstes. In vielen anderen Fällen geht es um die sog. finale Begutachtung mit Bewertung des gegenwärtigen Endzustandes ohne Berücksichtigung der Ursache, z. B. die Feststellung des GdB/MdE im Rahmen des Schwerbehindertengesetzes. Für diese Bewertung gibt es die sog. »Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP)«, die sich im Prinzip an der Gesetzlichen Unfallversicherung mit der
entsprechenden GdB-MdE-Tabellierung orientieren (. Tab. 12.1). Mittlerweile wurde aber für diese Zwecke aus nicht nachvollziebaren Gründen die ursprüngliche Tabellierung, die 5%-Schritte verwendet hat, in eine Tabelle umgewandelt, die nur noch 10%-Schritte aufweist, also wesentlich gröber gestaffelt ist (. Tab. 12.2). Die übrigen Bewertungen, insbesondere hinsichtlich des Gesichtsfeldes, orientieren sich weitgehend an den Vorgaben der gesetzlichen Unfallversicherung. Für Einzelheiten sei wiederum auf Gramberg-Danielsen et al. (2005) verwiesen.
12.1.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Private Unfallversicherung Im Rahmen der privaten Unfallversicherung muss die Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG) der beiden Augen seitengetrennt festgestellt werden unter Berücksichtigung der speziellen beruflichen Tätigkeit des Patienten und der Besonderheiten des Arbeitsplatzes. Dies unterscheidet den gutachterlichen Ansatz grundsätzlich von der Begutachtung im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung, bei der die spezielle berufliche Tätigkeit und die Besonderheiten des Arbeitsplatzes keine Berücksichtigung finden. Die MdG wird grundsätzlich seitengetrennt für jedes Auge angegeben. Dies kann zu unsinnigen Konstellationen führen, z. B. bei suprachiasmalen Sehbahnläsionen mit homonymen kompletten oder inkompletten Halbseitenausfällen. Dann sollte anstelle der MdG besser der Invaliditätsgrad IG angegeben werden. Wie beim GdB/MdE muss auch die Gesamt-MdG in eine unfallabhängige MdG und eine unfallunabhängige MdG (Vorschaden, Vorerkrankung) getrennt werden. Die Trennung erfolgt mathematisch nach dem zugrunde liegenden Bruchwertschlüssel. Es existieren nebeneinander zwei grundsätzlich verschiedene Bewertungssysteme, die sog. AUB alt und die AUB 88. Der Unterschied liegt im »Augenwert«: Der Invaliditätsgrad bei Verlust eines Auges wird bei der AUB alt mit 30% beziffert, bei der AUB 88 mit 50%. Auch ist die Abstufung hinsichtlich der Bruchwerte unterschiedlich: Bei der AUB alt wird eine 1/30-Stufung verwendet, bei der AUB 88 eine 1/25-Stufung.
Berechnung des Invaliditätsgrades (IG) 5 AUB alt: n/30 aus . Tab. 12.2 (in %) 5 AUB 88: n/25 aus . Tab. 12.2 ×2 (in %)
12
368
1 2
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Tab. 12.2. MdE/GdB bei Visusminderung gemäß § 69 SGB IX (VR = Visus rechts, VL = Visus links) VR VL
1
0,8
0,63
0,5
0,4
0,32
0,25
0,2
0,16
0,1
0,08
0,05
0,02
0
5/5
5/6
5/8
5/10
5/12
5/15
5/20
5/25
5/30
5/50
1/12
1/20
1/50
0
1
5/5
0
0
0
0
0
10
10
10
10
20
20
20
30
30
0,8
5/6
0
0
0
0
10
10
10
10
20
20
20
30
30
30
0,63
5/8
0
0
10
10
10
10
10
20
20
20
30
30
30
40
0,5
5/10
0
0
10
10
10
10
20
20
30
30
30
30
40
40
0,4
5/12
0
10
10
10
30
30
30
30
30
30
30
40
50
50
5
0,32
5/15
10
10
10
10
30
30
30
30
40
40
40
50
50
50
0,25
5/20
10
10
10
20
30
30
40
40
40
50
50
50
60
60
6
0,2
5/25
10
10
20
20
30
30
40
50
50
50
60
60
70
70
0,16
5/30
10
20
20
30
30
40
40
50
60
60
60
70
80
80
7
0,1
5/50
20
20
20
30
30
40
50
50
60
70
70
80
90
90
0,08
1/12
20
20
30
30
30
40
50
60
60
70
80
90
90
90
8
0,05
1/20
20
30
30
30
40
50
50
60
70
80
90
100
100
100
0,02
1/50
30
30
30
40
40
50
60
70
80
90
90
100
100
100
0
0
30
30
40
40
50
50
60
70
80
90
90
100
100
100
3 4
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
In der Regel erfolgt die Berechnung des IG durch den Versicherer gemäß den vertraglich vereinbarten Bedingungen. Dies ist grundsätzlich nicht Aufgabe des augenärztlichen Gutachters. Der Augenarzt beschränkt sich in der Regel auf die Angabe der MdG für jedes Auge getrennt, in den oben genannten Fällen mit der Angabe des IG. Auch in diesen Bereichen muss die Sehschärfe normgerech geprüft werden und das Gesichtsfeld manuell-kinetisch untersucht werden, wie in 7 Kap. 12.1.1 ausgeführt. Als Beispiel sei eine einseitige Herabsetzung der Sehschärfe des rechten Auges von zunächst 1,0 auf 0,5 nach einem Unfall angeführt. Dies ergibt eine MdG nach AUB alt von 5/30, nach AUB 88 von 4/25. Die genauen Tabellierungen finden sich bei Gramberg-Danielsen et al. (2005). Eine komplette homonyme Hemianopsie wird nach AUB alt mit einem IG von 40% bewertet, nach AUB 88 mit 60%. Die Bewertung von Doppelbildern erfolgt ebenfalls nach dem Schema von Haase und Steinhorst (. Abb. 12.1): Doppelbilder in der Zone 4, also im zentralen Blickfeldbereich, ergeben eine MdG nach AUB alt in Höhe von 30%, nach AUB 88 in Höhe von 50%. Bei der privaten Unfallversicherung gibt es einen sog. Brillenzuschlag, der bei geringen bis mittelgradigen Korrekturen von +10 dpt. bis –13 dpt. mit 3% aufgeschlagen wird, bei hochgradigen Korrekturen von über +10 dpt. und –13 dpt. mit 5%.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeit Bei Fragen der Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeit muss unter Berücksichtigung der eingetretenen funktionellen Einschränkungen, insbesondere hinsichtlich Sehschärfe und Gesichtsfeld, aber auch Dämmerungssehvermögen und Blendempfindlichkeit unter der besonderen Berücksichtigung der beruflichen Tätigkeit und der speziellen Erfordernisse des Arbeitsplatzes nach den oben genannten Kriterien bewertet werden und festgestellt werden, ob die individuelle Tätigkeit noch verrichtet werden kann, ob Einschränkungen vorgenommen werden müssen oder ob die Tätigkeit überhaupt nicht mehr durchgeführt werden kann.
12.1.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Einschränkung in der Berufsausübung Das Farbensehen ist für manche Berufe von besonderer Bedeutung, heutzutage v. a. für den Elektriker und Mechatroniker, der farbig kodierte elektronische Bauteile und Kabel sicher identifizieren und zuordnen muss. Wenn eine hereditäre Farbsinnstörung im Rot-grün-Bereich vorliegt, so muss im Zweifelsfall ein Praxistest entscheiden, ob mit hinreichender Sicherheit Farbkodierungen erkannt werden können. So muss dem Kandidaten beispielsweise eine Auswahl von 100 verschiedenen Bauteilen oder Kabelstücken vorgelegt werden, die er farblich zuordnen und
369 12.1 Visuelles System
kodieren muss. Wenn er dies schafft, ist er geeignet, wenn er es nicht schafft, eben nicht. Ebenso wichtig ist eine richtige Farberkennung für viele Berufe im graphischen Bereich, auch im Bereich des CAD (»computer aided design«). Wenn durch einen Unfall ein Auge hochgradig funktionsgemindert ist oder vollständig verloren geht und somit akut funktionelle oder anatomische Einäugigkeit eintritt, so fehlt dem Betroffenen das gewohnte Binokularsehen, insbesondere das stereoskopische Sehen (räumliches Tiefensehen). Dies führt zu Problemen bei der korrekten Tiefeneinschätzung von Objekten und deren Nachbarschaftsbeziehung. Somit darf ein einäugig gewordener Arbeiter nicht mehr an gefährlichen rotierenden Maschinen arbeiten, zumindest so lange, bis eine ausreichende Gewöhnung an den Zustand der Einäugigkeit eingetreten ist. Bei hochdifferenzierter Tätigkeit, die stereoskopisches Sehen erfordert, ist der Einäugige definitiv ungeeignet. Gleiches gilt für Arbeiten auf Gerüsten oder hohen Leitern, auch hier ist für die erforderliche Trittsicherheit räumliches Sehen unerlässlich. Einer der wenigen Berufe, der auf hochwertiges stereoskopisches Sehen angewiesen ist, ist der Gabelstaplerfahrer, der in hohen Hubhöhen von beispielsweise 8 m oder mehr in Hochregalen zentimetergenau tonnenschwere Lasten einmanövrieren muss. Hierfür ist hochwertiges stereoskopisches Sehen erforderlich. Wenn dagegen ein Gabestaplerfahrer nur in geringen Hubhöhen arbeitet, beispielsweise für das Be- und Entladen eines Lkw oder für Arbeiten an einer Lagerhausrampe, so ist kein hochwertiges Stereosehen erforderlich. Hier muss ein Praxistest zeigen, ob Eignung besteht. In diesem Zusammenhang sei auf den berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G25 verwiesen, der für diverse Fahr- und Steuertätigkeiten Anforderungen an die verschiedenen Sehfunktionen stellt, u. a. auch an das stereoskopische Sehen. > Es ist nicht möglich, für alle denkbaren Berufe die Anforderungen an das Sehvermögen zu charakterisieren und zu umreißen. Hier muss im Einzelfall anhand der Arbeitsplatz- und Tätigkeitsbeschreibung entschieden werden, ob bei Vorliegen von funktionellen Störungen Eignung vorliegt.
Eine gute Übersicht gibt das mittlerweile ältere Buch von Pape et al. (1976), das dennoch wertvolle Hinweise auch für die heutige Zeit liefert.
des Straßenverkehrs herausgegriffen werden, welche Anforderungen an einen Kraftfahrer der Klasse B (Pkw) gestellt werden: Die zentrale Tagessehschärfe muss bei 0,7 an beiden Augen liegen, um den sog. einfachen Sehtest zu bestehen. Wenn dies nicht gelingt, muss im Rahmen der Begutachtung mindestens eine Sehschärfe von 0,5 und 0,2 erreicht werden, bei Einäugigkeit mindestens 0,6, wenn das schlechtere Auge eine Sehschärfe unter 0,2 aufweist. Die Anforderungen für die Fahrerlaubnis der Klassen C (Lkw), D (Bus) und Fahrgastbeförderung (Taxi etc.) sind höher. Für den arbeitsmedizinischen Sehtest muss eine Sehschärfe von mindestens 1,0/0,8 erreicht werden, zudem muss das Farbensehen intakt sein, das Gesichtsfeld muss normal ausfallen und das Stereosehen muss an zwei unterschiedlichen Tafelsystemen voll vorhanden sein. Wenn diese Kriterien nicht erfüllt sind, muss eine augenärztliche Begutachtung erfolgen mit den Grenzwerten von 0,8/0,5. Details zu den sehr differenzierten Anforderungen an die unterschiedlichen Sehfunktionen sind der Empfehlungsschrift von DOG und BVA (Lachenmayr 2003, wird in Kürze neu aufgelegt) zu entnehmen.
12.1.7 Risikobeurteilung
Bei Abschluss einer Lebensversicherung oder etwa beim Eintritt in ein Beamtenverhältnis wird der augenärztliche Gutachter gefragt, ob Erkrankungen oder Veränderungen vorliegen, die ein erhöhtes Risiko für eine frühzeitige Funktionsminderung oder Erblindung mit sich bringen. Hier muss im Einzelfall unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Erkrankung sorgfältig abgewogen werden, ob Beschränkungen bestehen. Wenn progredient verlaufende Augenerkrankungen vorliegen, beispielsweise eine proliferative diabetische Retinopatie, die sich während der letzten Monate oder Jahre rasch weiterentwickelt hat, so ist natürlich auch mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen, was entsprechend zu bewerten ist. Ähnliches gilt für ein progredient verlaufendes Glaukom. In solchen Fällen muss der Gutachter das Risiko bewerten und artikulieren. Hier muss im Einzelfall auf die Literatur zurückgegriffen werden (Burggraf u. Burggraf 1994; Sachsenweger 1976).
12.1.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Fahrereignung Für alle Verkehrsbereiche ist genau geregelt, welche Anforderungen an das Sehvermögen gestellt werden (7 Anhang). Auch hier muss auf die entsprechenden rechtlichen Vorschriften verwiesen werden, ohne sie hier im Einzelnen anzuführen. Es soll nur beispielhaft für den Bereich
Es stehen heutzutage für viele Augenerkrankugen Möglichkeiten der visuellen Rehabilitation zur Verfügung: So kann beispielsweise bei eingetrübter Hornhaut durch eine Keratoplastik ein besseres Sehvermögen erzielt werden, eine eingetrübte Linse (Katarakt) kann entfernt und durch
12
370
Kapitel 12 · Sinnesorgane
11
eine Kunstlinse ersetzt werden, bei einer dichten Glaskörperblutung, die sich nicht resorbiert, kann durch eine Vitrektomie wieder ein besseres Sehvermögen erzielt werden. Aktuell stehen für die Behandlung von Makulaödemen im Rahmen einer diabetischen Retinopathie oder bei venösen Verschlüssen potente Wachstumsinhibitoren zur Verfügung, die intravitreal, also in den Glaskörper, injiziert werden und zu einer Rückbildung des Ödems führen können. Auch für verschiedene Formen der feuchten Makuladegeneration sind operative und medikamentöse Behandlungsverfahren vorhanden. So kann in vielen Fällen unter geeigneten Umständen durch operative Maßnahmen eine Verbesserung erzielt werden. Dies gilt allerdings natürlich nicht für alle Fälle, insbesondere nicht für Gesichtsfeldschäden im Rahmen eines Glaukoms oder anderer Sehnervenerkrankungen oder für Gesichtsfeldschäden im Rahmen von Läsionen im Bereich des Chiasmas oder der suprachiasmalen Sehbahn. Hier bestehen leider keine Möglichkeiten der Rehabilitation. In vielen Fällen kann Patienten mit einer Sehbehinderung durch vergrößernde Sehhilfen geholfen werden, sodass unter Umständen wieder Lesefähigkeit erzielt werden kann. Dies hängt von den Ursachen der Sehbehinderung ab: Günstig sind Beeinträchtigungen des Sehvermögens durch Veränderungen der optischen Medien, ungünstig sind Gesichtsfelddefekte im zentralen Bereich, die das Lesen erschweren. Hier muss wiederum der Einzelfall entscheiden, welche Maßnahmen möglich sind und zum Erfolg führen können.
12
12.1.9 Sonderfragen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
13 14 15 16 17 18 19 20
rasch begreift, worum es geht. Optimal in diesem Zusammenhang ist der moderne Zeiss-Polatest E, der eine geräuschlose Umschaltung der Polarisatoren in einem LCDBildschirm ermöglicht, sodass der Patient definitiv nicht bemerkt, wenn die Zuordnung von rechtem und linkem Auge verändert wird. Hier gelingt es durchaus, so manchen Simulanten aufs Glatteis zu führen. Auch einfache praktische Tests sollten herangezogen werden, insbesondere wenn es um eine hochgradige beidseitige Gesichtsfeldeinschränkung geht, für die kein Korrelat besteht. Hier ist der sog. »Hindernislauf« zu nennen, bei dem dem Patienten unbemerkt Hindernisse in den Weg gestellt werden, beispielsweise ein Abfalleimer oder ein Hocker. Wenn er mit einem angegebenen Gesichtsfeld von 5° zentraler Restinsel sicher einen Hocker, der ihm vor die Füße gerollt wird, erkennt und daneben vorbei geht, so ist dies ein Beweis dafür, dass keine derartige hochgradige Gesichtsfeldeinschränkung vorliegen kann. An objektiven Verfahren kann auf das Muster-VECP zurückgegriffen werden (visuell evozierte kortikale Potenziale). Hierzu erfolgt eine symmetrische Ableitung zwischen rechtem und linkem Auge mit unterschiedlichen Reizmustergrößen. Die Karos werden Schritt für Schritt verkleinert, um herauszufinden, ob auch bei den kleinsten Karogrößen ein Seitenunterschied zwischen beiden Augen besteht. Wenn selbst für die kleinsten Karogrößen normale Antworten ableitbar sind, so ist beispielsweise eine angegebene Sehschärfe von 0,05 oder »Handbewegungen« auf einem Auge nicht glaubhaft. Mit diesen und diversen anderen Tests, die sich im Laufe der Jahre bewährt haben, muss der Gutachter versuchen, Simulanten und Agravanten zu überführen.
Prüfung auf Simulation und Aggravation
Kommentar
Es wurde bereits in 7 Kap. 12.1.3 darauf hingewiesen, dass der augenärztliche Gutachter nicht selten mit der Problematik konfrontiert ist, dass eine hochgradige Funktionsminderung, beispielsweise eine Herabsetzung der zentralen Sehschärfe oder Gesichtsfeldeinschränkung, angegeben wird, für die kein organisches Korrelat besteht und für das er keine rechte Erklärung findet. In Fällen von Simulation und Aggravation muss auf spezielle Prüfmethoden zurückgegriffen werden, mit denen versucht wird, Aufschluss über die tatsächliche Sehschärfe oder das tatsächlich vorhandene Gesichtsfeld des Patienten zu erhalten. Hier sind zunächst sog. Verwechslungstests zu nennen, bei denen versucht wird, die Sehzeichen unterschiedlich und randomisiert dem linken und rechten Auge zuzuordnen, möglichst so, dass der Patient dies nicht bemerkt. Dies wurde früher mit einfachen mechanischen Vorrichtungen gemacht (sog. Gratama-Röhre) oder am Phoropter mit polarisierten Sehzeichen durch Umschalten der Polarisatoren. Leider sind diese Tests leicht zu durchschauen, sodass der intelligente Patient
Wenn der Gutachter nicht sicher ist, ob es sich um Simulation und Agravation handelt oder tatsächlich um einen echten Schaden, so sollte er sich nicht scheuen, dies im Gutachten auch so zu formulieren und seine Bedenken sowohl in der einen wie in der anderen Richtung zu artikulieren. Auch diese Information ist für den Auftraggeber des Gutachtens schon von großer Wichtigkeit.
12.2
Ohrerkrankungen K.-F. Hamann
12.2.1 Erkrankungen des Hörorgans
Funktionelle Anatomie des Hörorgans Das Hörorgan stellt für den Menschen eines der wichtigsten, wenn nicht überhaupt das wichtigste Sinnesorgan
371 12.2 Ohrerkrankungen
dar, weil es neben Funktionen wie Lernen, Signalerkennung und Musikgenuss die zwischenmenschliche Kommunikation ermöglicht. Die eigentlichen Hörreize sind, physikalisch betrachtet, Schwingungen von Materie in einem Frequenzbereich von 20–20.000 Hz. Die dem menschlichen Hörorgan zugeführten Schwingungen sind i. Allg. Schwingungen der Luft. Der Hörvorgang lässt sich in 5 Hauptabschnitte gliedern, die an anatomische Strukturen gekoppelt sind. Eine der Hauptaufgaben der audiologischen Diagnostik besteht darin, Störungen des Hörvorgangs in den einzelnen Abschnitten der Hörbahn zu lokalisieren. Das äußere Ohr mit Ohrmuschel und äußerem Gehörgang dient dem Schallantransport. Nur ein kompletter Verschluss – z. B. durch einen Zeruminalpropf, eine Gehörgangsatresie oder durch ein Trauma – führt zu einer Schwerhörigkeit, einer Schallleitungsschwerhörigkeit von 40–50 dB Hörverlust. Das Trommelfell bildet die Grenze zwischen äußerem Ohr und Mittelohr, das neben den Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel die Mittelohrmuskeln enthält. Hier findet eine Schalldruckverstärkung durch Flächenreduktion (das Trommelfell ist größer als das ovale Fenster) einerseits und eine Impedanzanpassung des Schalls in Luft an die im Innenohr vorhandene Flüssigkeitssäule andererseits statt. Eine Perforation im Trommelfell führt je nach Lage und Größe zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit. Fehlende oder verletzte Gehörknöchelchen beeinträchtigen gleichfalls die Schallübertragung. Am ovalen Fenster wird die Schallenergie aus dem lufthaltigen Mittelohr auf das flüssigkeitsgefüllte Innenohr übertragen. Nach Passieren des Vestibulums wird die in der Schnecke liegende Basilarmembran, die von einer Flüssigkeitssäule umgeben ist, frequenzspezifisch zu Bewegungen (Wanderwelle) angeregt. Dies führt schließlich zu einer Abscherung der auf der Basilarmembran liegenden Sinneshärchen der inneren Haarzellen. Die äußeren Haarzellen funktionieren durch ihre aktiven Mechanismen als Verstärker, indem sie die Auslenkungen der Basilarmembran erhöhen, wodurch die inneren Haarzellen leichter erregt werden. Die Abscherung der Härchen der inneren Haarzellen wirkt sich auf das Membranpotenzial dieser Sinneszellen aus und führt bei entsprechender Stärke zu einer fortgeleiteten Erregung. Die inneren Haarzellen sind der eigentliche Ort der mechanoelektrischen Wandlung. Dieser Vorgang geschieht frequenzspezifisch, hohe Töne werden an der Basis der Schnecke (basocochleär), tiefe Töne mehr an der Spitze (apikocochleär) abgebildet. Frequenzbetonte Hörverluste erlauben also Rückschlüsse auf den Ort der Schädigung an der Basilarmembran. Störungen in diesem Bereich der Hörbahn äußern sich als Schallempfindungsschwerhörigkeit.
Schon hier sei darauf hingewiesen, dass schädigende Einflüsse wie Lärm, mechanische Erschütterungen, aber auch chemische Noxen hauptsächlich die äußeren Haarzellen angreifen. Das Ergebnis der mechanoelektrischen Wandlung wird, von den einzelnen inneren Haarzellen kommend, über feine Nervenfasern, die sich zum N. cochlearis bündeln und mit dem N. vestibularis verlaufen, als VIII. Hirnnerv in das Gehirn weitergeleitet. Im Gehirn erfolgt schließlich in einem System verschiedener Nervenkerne mit aufsteigenden und auch zur Gegenseite kreuzenden Verbindungen die Verarbeitung der akustischen Information. Dazu gehören das Verstehen von Sprache, die Bewertung von Schalleindrücken, die Lokalisation von Schallquellen und alle anderen Arten der akustischen Wahrnehmung.
Diagnostik Mit Hilfe von Hörprüfungen sollen folgende Fragen beantwortet werden: 5 Welcher Typ Schwerhörigkeit liegt vor? 5 Wo ist die geschädigte Struktur der Hörbahn lokalisiert? 5 Wie hoch ist der Grad der Schwerhörigkeit? Im Folgenden sind die wichtigsten Hörprüfmethoden beschrieben und der Wert der einzelnen Methoden, besonders für die Begutachtung, kritisch dargestellt. Eine ausführliche Schilderung der audiologischen Untersuchungsverfahren findet sich in Lehnhardt (2000) oder auch bei Böhme u. Welzel-Müller (2005). Man kann die Hörprüfmethoden in subjektive und objektive Hörprüfmethoden einteilen. Die subjektiven Hörprüfmethoden sind auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen. Er antwortet, ob er Hörreize gehört hat. Die objektiven Hörprüfmethoden sind keine Hörprüfmethoden im eigentlichen Sinne des Wortes, sie messen Phänomene, die am Hörvorgang beteiligt sind. Sie können ohne aktive Mitarbeit des zu Untersuchenden durchgeführt werden.
Subjektive Hörprüfmethoden »Klassische Hörprüfung«
Die einfachste Hörprüfmethode ist die »klassische Hörprüfung«. Zu ihr gehören die Bestimmung der Hörweite für Flüstersprache und Umgangssprache sowie die Stimmgabelversuche nach Rinne und Weber. Die Hörweitenprüfung, die den Abstand ermittelt, aus dem Flüstersprache oder Umgangssprache gerade noch verstanden werden, ist eine äußerst ungenaue Methode, die nur mit Zurückhaltung für die Begutachtung angewandt werden sollte. Sie kann bestenfalls zur Überprüfung und Bestätigung quantitativ erhobener exakter audiometrischer Befunde dienen. Hauptgrund für die Unsicherheit ist die von Untersucher zu Untersucher unter-
12
372
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 12 · Sinnesorgane
schiedliche Auffassung von Flüster- und Umgangssprache. Die Methode ist also nicht eindeutig quantitativ. Die Kombination der Stimmgabelversuche nach Rinne und Weber gestattet die Unterscheidung zwischen einer Schallleitungsschwerhörigkeit, die alle Schwerhörigkeiten des Schallantransportes und der Schallweiterleitung im Mittelohr umfasst, und einer Schallempfindungsschwerhörigkeit, zu der alle Schwerhörigkeiten mit Ursachen im Innenohr, am Hörnerv oder in den Hörzentren zählen. Bei den Stimmgabelversuchen ist zu berücksichtigen, dass sich ihre Aussage immer nur auf das Hören der Frequenz des Stimmgabeltones bezieht. Tonschwellenaudiogramm > Die mit elektroakustischen Geräten durchgeführte Tonschwellenaudiometrie ist noch immer die wichtigste audiologische Methode, obwohl sie mit der Bestimmung der Tonhörschwelle ein Phänomen überprüft, das unter natürlichen Verhältnissen nicht vorkommt.
Die frequenzspezifische Bestimmung des Schalldruckes, mit dem gerade noch ein Höreindruck zu erzielen ist (. Abb. 12.3), erlaubt eine Differenzierung des Typs der Schwerhörigkeit in Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit. Neben dieser Unterscheidung lassen sich verschiedene Schwerhörigkeitsmuster beschreiben, die für bestimmte Erkrankungen wie beispielsweise eine Lärmschwerhörigkeit charakteristisch sind.
Kommentar Es gibt jedoch kein Tonschwellenaudiogrammbild, das beweisend für eine ganz bestimmte Erkrankung wäre. Da die Tonschwellenaudiometrie nur das Erkennen von Tönen fordert, ist sie auch bei Ausländern nach entsprechender Einweisung gut durchführbar und für die Begutachtung verwertbar.
Sprachaudiogramm
Die Sprachaudiometrie ist die einzige Hörprüfmethode, die das Verstehen prüft. Bei dieser Prüfung geht es nicht um eine Schwellenbestimmung, vielmehr soll erfasst werden, wieviel an Sprachinformation auch bei überschwelligem Reizangebot verstanden wird. In Deutschland wird die Sprachaudiometrie i. Allg. mit dem Freiburger Sprachtest durchgeführt. Zum einen wird der Wert des 50%igen Verständnisses für zweistellige Zahlen erfasst, zum anderen das maximale Verständnis einsilbiger Wörter bei definierten Sprachlautstärken (. Abb. 12.4, . Tab. 12.3). Über einen Kopfhörer werden aus einem feststehenden Katalog Zahlen oder Einsilbler dem Probanden mit unterschiedlichen Schalldrücken vorgesprochen. Für gutachterliche Fragestellungen wird das Sprachverständnis für Einsilbler bei 60 dB, 80 dB und 100 dB überprüft. Die dabei erreichten Werte werden addiert und für jede Seite als Gesamtwortverstehen berechnet (s. unten). Da bei dieser Vorgehensweise die niedrigeren Schalldrücke, die aber für die normalen Lebensbedingungen eine wichtige Rolle spielen, nicht ausreichend gewürdigt werden, wurde durch Feldmann das gewichtete Wortverständnis eingeführt (s. unten). > Für die Begutachtung von Schwerhörigkeiten ist das Sprachaudiogramm die mit Abstand wichtigste Methode, weil sie die eigentliche Behinderung durch die Schwerhörigkeit am besten wiedergibt.
Methodische Probleme treten dann auf, wenn die zu untersuchende Person die deutsche Sprache nicht beherrscht. In solchen Fällen ist die Sprachaudiometrie nicht anwendbar. Überschwellige Hörprüfmethoden
Während es mit dem Tonschwellenaudiogramm zwar gelingt, qualitativ zwischen einer Schallleitungs- und einer Schallempfindungsschwerhörigkeit zu unterschei-
15 16 17 18 19 20
. Abb. 12.3. Tonschwellenaudiogramm. a Normalhörender (Luftleitung = Knochenleitung). b Typische Tonschwellenkurve eines Patienten mit Lärmschwerhörigkeit. Maximum der Schwerhörigkeit um 4.000 Hz (Luftleitung = Knochenleitung)
373 12.2 Ohrerkrankungen
. Abb. 12.4. Sprachaudiogramm eines Normalhörenden. Die 50%ige Sprachverständlichkeit der Zahlen wird bei 20 dB erreicht, die Wortverständlichkeit für Einsilber erreicht 100%. Hervorgehoben sind die Schalldruckpegel von 60 dB, 80 dB und 100 dB, die bei der Berechnung des prozentualen Sprachverständnis benötigt werden (. Tab. 12.3)
den, ist eine weitere Differenzialdiagnose, insbesondere der Schallempfindungsschwerhörigkeiten, nicht möglich. Diese Lücke versucht man, mit den überschwelligen Hörprüfmethoden zu schließen. Sie sollen differenzieren, ob eine Schallempfindungsschwerhörigkeit ihre Ursache in der Schnecke (cochleäre Schwerhörigkeit, Innenohrschwerhörigkeit) hat oder hinter der Schnecke, am Hörnerv oder im Gehirn (retrocochleäre Schwerhörigkeit). Um dieses Ziel zu erreichen, stützt man sich auf bestimmte Phänomene, die an eine schon reduzierte, aber noch intakte Restfunktion der äußeren Haarzellen geknüpft sind, also an Strukturen des Innenohres. Während bei einer retrocochleären Störung alle im Innenohr ablaufenden Phänomene nicht oder nur eingeschränkt weitergeleitet werden, bleiben bei einer cochleären Schwerhörigkeit diese Phänomene grundsätzlich erhalten und messbar. Im Folgenden werden einige häufig angewandte überschwelligen Hörprüfungen vorgestellt. Lüscher-Test. Es ist bekannt, dass die Intensitätsun-
terschiedschwelle bei 60 dB Schalldruckintensität 0,8– 1 dB beträgt. Das bedeutet, dass bei 60 dB Intensität des Grundtons Intensitätsschwankungen von 1 dB erkannt werden. Bei niedrigeren Schallpegeln müssen die Unterschiede höher sein, um erkannt zu werden. Folglich kann ein Patient trotz einer cochleären Schwerhörigkeit von 40 dB dennoch Intensitätszunahme von 60 auf 61 dB erkennen, da sein Erkennungsvermögen von Intensitätsschwankungen bei 60 dB ungestört funktioniert. Dieses Phänomen benutzt der Lüscher-Test, indem die Intensitätsunterschiedsschwelle ermittelt wird. SISI-Test. Der SISI-Test (»short increment sensivity index«) stützt sich gleichfalls auf das Erkennen von Intensitätsunterschieden, geht methodisch aber anders vor. Beim SISI-Test werden feste Intensitätsschwankungen, nämlich 1 dB, bei einem festen Ausgangspegel von 60 dB vorgegeben und die Zahl der von 20 Inkrementen erkannten Unterschiede als Index notiert. Wichtig ist, dass dieser Test
bei Ausgangspegeln von mindestens 60 dB durchgeführt wird, unabhängig vom eigentlichen Hörverlust. Jedem Intensitätsanstieg (Inkrement) entspricht ein Wert von 5%, sodass bei einer Erkennung aller Inkremente ein SISI-Test-Score von 100% resultiert. Für die Praxis wird der SISI-Test ab 60% als positiv angesehen, spricht also für eine cochleäre Ursache. Werte unter 15% gelten als negativ, was für eine retrocochleäre Ursache spricht. Die dazwischen liegenden Prozentzahlen lassen sich für die Diagnostik nicht verwerten. Fowler-Test. Der Fowler-Test ist der klassische Recruitment-Test und zählt ebenfalls zu den überschwelligen Hörprüfmethoden. Er ist nur bei einseitiger Schwerhörigkeit durchführbar. Er beruht auf dem Phänomen, dass auch der an einer einseitigen Innenohrschwerhörigkeit Leidende bei hohen, überschwelligen Schalldruckpegeln ein seitengleiches Hören erreicht. Während bei niedrigen Intensitäten, also im schwellennahen Bereich, die Schwerhörigkeit messbar ist, kommt es im stark überschwelligen Bereich zu einer Angleichung der Lautstärkeempfindung für beide Ohren, dem Lautheitsausgleich. Nach einer Messung der Hörschwelle wird mit steigenden Schalldruckpegeln jeweils der gleiche Lautheitseindruck verglichen. Kommt es zum Lautheitsausgleich, spricht dies für eine cochleäre Schwerhörigkeit, bleibt er aus, spricht dies für eine retrocochleäre Ursache der Schwerhörigkeit. Geräuschaudiometrie nach Langenbeck. Dieses Verfahren basiert auf der Erkenntnis, dass ein Ton in einem Geräusch erst dann hörbar wird, wenn er mindestens so laut ist wie das ihn umgebende Geräusch. Bei der praktischen Testung dieses bei geschädigtem Hörnerv nicht mehr nachweisbaren Phänomens wird nach Erstellung des Tonschwellenaudiogramms die Messung wiederholt bei einem gleichzeitig angebotenen Schmalbandrauschen, das mit seinem Frequenzspektrum jeweils um den Prüfton herum liegt. Solange die Intensität des Rauschens noch deutlich höher ist als die Intensität des
12
374
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Tab. 12.3. Wortschatz des Freiburger Sprachtests für die Sprachaudiometrie (s. Erläuterungen im Text und . Abb. 12.4) re dB
li dB
Mehrsilbige Wörter (Zahlen) nach DIN 45.621
12 13 14 15 16 17 18 19 20
li %
1.
98
22
54
19
88
71
35
47
80
83
2.
53
14
39
68
57
90
85
33
72
46
3.
51
36
43
17
99
45
82
24
60
48
4.
67
81
55
13
28
92
34
70
49
76
5
82
58
23
16
41
37
89
30
95
74
6.
32
65
83
50
91
27
18
44
79
58
7.
59
77
61
40
96
73
19
84
38
25
8.
93
78
13
88
57
39
80
75
62
24
9.
88
42
65
21
76
15
94
87
29
60
10.
31
18
64
52
97
45
30
89
26
1.
Ring Spott Farm Hang Geist Zahl Hund Bach Floh Lärm Durst Teig Prinz Aas Schreck Nuss Wolf Braut Kern Stich
2.
Holz Ruß Mark Stein Glied Fleck Busch Schloß Bart Ei Werk Dach Knie Traum Paß Kunst Mönch Los Schrift Fall
3.
Blatt Stift Hohn Zweck Aal Furcht Leim Dorf Tat Kerl Schutz Wind Maus Reif Bank Klee Stock Wuchs Mist Gras
4.
Schnee Wurst Zahn Pest Griff Laub Mund Grab Heft Kopf Reiz Frist Drang Fuß Öl Schleim Takt Kinn Stoß Ball
5.
Punkt Ziel Fest Darm Schein Torf Lamm Wehr Glas Hut Spind Pfau Block Arm Neid Stroh Wurf Rest Blick Schlag
6.
Seil Pfand Netz Flur Schild Ochs Draht Hemd Schmutz Rat Tau Milch Rost Kahn Tier Brot Dunst Haar Feld Schwein
7.
Spiel Moos Lachs Glut Erz Baum Sand Reich Kuh Schiff Wort Hecht Mann Bruch Schopf Fels Kranz Teich Dienst Star
8.
Luft Band Kost Ski Feind Herr Pflug Tal Gift Raum Ernst Zeug Fach Groll Speck Sitz Moor Last Krach Schwung
9.
Schmerz Thron Eis Funk Bass Rind Lehm Grog Blei Markt Schilf Hut Zank Korb Laut Dank Sarg Kies Schnur Pech
10.
Horn Pfeil Kamm Turm Spieß Laus Recht Zopf Schall Mals Fell Gramm Ohr Sieb Pracht Lump Gips Bad Sprung Dreck
11.
BlId Frosch Abt Ruhm Herz Mond Garn Bau Sicht Huhn Lack Kreis Pferd Pelz Schlacht Witz Form Stuhl Teil Rand
12.
Brett Schluss Saft Pilz Ort Kraut Schwert Tag Gleis Vieh
13.
Staub Licht Tracht Herd Not Wein Fluch Kalk Biss Grund Weg Fass Schmied Ross Amt Puls Meer Graf Schweiß Dolch
14.
Schrift Ruf Gas Wert Korn Schrei Pfahl Blech Faust Rang Lohn Nest Pult Schicht Zoll Heu Angst Brust Dieb Stand
15.
Knecht Schaf Lust Berg Docht Zeit Schlamm Kind Preis Uhr Mai Speer Fluss Sinn Rock Haupt Gang Trieb Boot Schmalz
16.
Bund Stiel Wachs Reim Geld Tor Duft Stuck Arzt Mehl Trotz Pfad Heil Brief Sau Fracht Dung Stern Loch Maß
17.
Fink Schlauch Reh Grad Floß Hirn Fuchs Bein Napf Teer Stolz Art Wurm Ding Trab Bett Kleid Schatz Wut Pflock
18.
Schnitt Frau Land Helm Bock Flucht Scherz Kerl Rast Gruß Wohl Plan Krieg Ast Pfiff Weib Sturm Fang Tee Mord
19.
Frucht Schlitz See Schar Gold Leib Wunsch Fraß Stier Ton Heer Dachs Bauch Kreuz Akt Pfund Sekt Glück Molch Rad
20.
Fleisch Welt Rohr Park Flut Gries Saum Krebs Hand Gott Schuh Film Damm Zelt Koch Hanf Leid Bier Spruch Arzt
10 11
re %
375 12.2 Ohrerkrankungen
Schwerhörigkeiten abgrenzen. Bevorzugten Einsatz hat diese Methode bei der Hörgeräteversorgung gefunden. Kritische Würdigung der überschwelligen Hörprüfmethoden. Schon bei Einführung der über-
. Abb. 12.5. Langenbeck-Geräuschaudiogramm: In diesem Fall einer Schallempfindungsschwerhörigkeit, die das typische Bild einer Lärmschwerhörigkeit zeigt, kommt es zum Einschneiden der Geräuschschwellenkurve in die Tonschwellenkurve. Der Test fällt positiv aus, was auf eine Innenohrhaarzellschädigung hinweist
Prüftons, wird dieser nicht gehört. Bei einer cochleären Schwerhörigkeit wird der Ton dann gehört, wenn seine Intensität, ablesbar aus dem Tonschwellenaudiogramm, den Schalldruckpegel des Geräusches erreicht. Man sagt, die Geräuschschwellenkurve schneidet in die Tonschwellenkurve ein (. Abb. 12.5). Bei einer retrocochleären Schwerhörigkeit kommt es nicht zum Einschneiden, der Ton wird nur dann hörbar, wenn er eine deutlich höhere Intensität als das Rauschen erreicht. Lautheitsskalierung. Ebenso den überschwelligen Hörprüfmethoden zuzuordnen ist die Lautheitsskalierung. Der Proband hat die Aufgabe, verschieden laute akustische Reize in eine vorgegebene Skalierung ihrem Lautheitseindruck nach zu klassifizieren (. Abb. 12.6). Obwohl es sich um ein subjektives Hörprüfverfahren handelt, ist die interindividuelle Konstanz der Befunde sehr hoch. So lassen sich Normalhörigkeiten sehr gut von Innenohrschwerhörigkeiten mit Recruitment und von retrocochleären
schwelligen Hörprüfmethoden war klar, dass diese Methoden eine hohe Unsicherheit aufweisen und ihre Ergebnisse keinesfalls als beweisend für eine cochleäre oder retrocochleäre Schwerhörigkeit anzusehen sind. Dieser Erkenntnis trägt auch die Empfehlung für Lärmgutachten Rechnung (Königsteiner Formular 1996), dass nur der gleichsinnige Ausfall von mindestens 2 überschwelligen Hörprüfmethoden als Beleg für eine cochleäre Schwerhörigkeit gewertet werden kann. Trotz dieser Einschränkungen stellen sie noch immer eine Grundlage dar für den Versuch, eine cochleäre Schwerhörigkeit nachzuweisen. Die beiden in der Praxis am häufigsten verwandten Methoden sind der SISI-Test und die Langenbeck-Geräuschaudiometrie. Es ist absehbar, dass moderne Methoden wie die Ableitung otoakustischer Emissionen oder die Hirnstammaudiometrie die überschwelligen Hörprüfmethoden ablösen werden, da die objektiven Methoden inzwischen soweit entwickelt sind, dass sie die Frage nach einer cochleären oder retrocochleären Schwerhörigkeit genauer beantworten können. Allerdings sind sie an einen hohen apparativen und finanziellen Aufwand gebunden, sodass ihr Einsatz nicht für jedes Gutachten verlangt wird. Die Gutachtenauftraggeber sind nicht immer bereit, die dafür anfallenden Kosten zu übernehmen. Dennoch wird die Zukunft mit Sicherheit diesen Methoden auch für die Begutachtung zum endgültigen Durchbruch verhelfen.
Objektive Hörprüfmethoden Otoakustische Emissionen
Mit der Registrierung der otoakustischen Emissionen steht seit einigen Jahren eine Methode zur Verfügung, die eine Abschätzung der Innenohrfunktion, genauer gesagt
. Abb. 12.6. Lautheitsskalierung: Die dünne Linie zeigt mit den beiden Linien den Normalbereich an, in dem verschiedene Schalldrücke mit subjektiven Lautheitsempfindungen in Beziehung gesetzt werden. Die dicke Linie zeigt ein Recruitment an (Äquivalent für eine Innenohrschwerhörigkeit): Die höheren Schalldrücke werden genauso laut empfunden wie vom Normalhörenden
12
376
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Sinnesorgane
der Funktion der äußeren Haarzellen, gestattet. Bei den otoakustischen Emissionen handelt es sich um eine mit empfindlichen Mikrophonen messbare Schallenergie geringer Intensität, die von den äußeren Haarzellen im Rahmen des Hörvorgangs als Begleiterscheinung (Epiphänomen) produziert wird und ähnlich einem Echo über das Mittelohr retrograd abgestrahlt wird (Janssen 2000). Man unterscheidet spontane otoakustische Emissionen und evozierte otoakustische Emissionen. Die spontanen otoakustischen Emissionen, die nur bei einem Teil der Normalhörigen messbar sind, spielen für die klinische Diagnostik keine Rolle. > Im Rahmen der audiologischen Untersuchungsverfahren sind nur die transitorischen evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) und die Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen (DPOAE) von Bedeutung.
Bei den TEOAE wird ein kurzer Klickreiz, der das gesamte hörbare Frequenzspektrum enthält, dem Ohr zugeführt. Damit werden alle Bereiche der Basilarmembran zeitlich nacheinander gereizt und die Aktivität der äuße-
ren Haarzellen angeregt, die zur Abstrahlung der Emissionen führt. Das Spektrum der so erzeugten Emissionen umfasst also den gesamten Bereich der Basilarmembran, wobei natürlich die Emissionen der basalen Anteile der Schnecke mit kürzerer Latenzzeit als die der spitzennahen abgeleitet werden können. Aus dem Vorhandensein oder dem Fehlen der TEOAE kann auf die Intaktheit der äußeren Haarzellen rückgeschlossen werden (. Abb. 12.7). Dieses Verfahren ist nicht frequenzspezifisch und erlaubt bis jetzt auch keine genaue Schwellenbestimmung. Bis zu Hörverlusten von 30 dB bleiben die TEOAE ableitbar. Bei Schwerhörigkeiten, die einen Hörverlust von mehr als 30 dB aufweisen, sind keine TEOAE mehr ableitbar. Die Aussage ist also bezüglich der Stärke des Hörverlustes relativ grob. Zur Ableitung der DPOAE werden zwei Töne unterschiedlicher Frequenz, die aber in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, dem Ohr angeboten. Aus physikalischen wie auch aus physiologischen Gesetzmäßigkeiten heraus entsteht bei der Beschallung zweier Töne unterschiedlicher Frequenz ein dritter Ton, der kubische Differenzton. Dieser dritte, auch Distorsionsprodukt ge-
. Abb. 12.7a,b. Beispiele für die Ableitung von transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE): a gut ableitbar, b nicht ableitbar
377 12.2 Ohrerkrankungen
nannte Ton ist gleichfalls mit empfindlichen Mikrophonen vom äußeren Gehörgang her ableitbar. Der Nachweis des Distorsionsprodukts gestattet Rückschlüsse auf die Intaktheit der äußeren Haarzellen im Bereich des Tones mit der höheren Frequenz. Diese Methode lässt eine frequenzspezifische Aussage über die Funktion der äußeren Haarzellen zu. Es ist in den letzten Jahren gelungen, durch ein bestimmtes Reizverfahren, bei dem die beiden dem Ohr angebotenen Töne unterschiedliche Intensitäten haben, eine Schwellenbestimmung durch Extrapolation durchzuführen. Diese Methode weist nur eine geringe Fehlerbreite auf und ist für die klinische Verwendung brauchbar (Janssen 2005). Die Aussagekraft dieser Methode liegt darin, dass bei messbaren otoakustischen Emissionen von normalen oder nur geringfügig geschädigten äußeren Haarzellen im Innenohr ausgegangen werden kann. Das Fehlen otoakustischer Emissionen weist eine Schädigung der äußeren Haarzellen, also eine Innenohrhaarzellschädigung, nach. Damit lässt sich das Ergebnis einem positiven Recruitment-Test gleichsetzen, ist aber genauer. Daraus er-
gibt sich, dass auch bei retrocochleären Schädigungen die otoakustischen Emissionen messbar bleiben. Akustisch evozierte Antworten
Eine weitere objektive Methode zur Untersuchung der Hörbahn ist die Ableitung akustisch evozierter Antworten, die aus der Hirnstromaktivität herausgelesen werden. Mit Hilfe ausgefeilter und inzwischen standardisierter Signalerkennungstechniken gelingt es, aus dem EEG typische Antworten auf Klickreize von verschiedenen Abschnitten der Hörbahn sichtbar zu machen. > Für die klinische Routinediagnostik, auch für Begutachtungen, ist die Ableitung der frühen akustisch evozierten Potenziale (FAEP) die mit Abstand wichtigste Methode.
Sie wird auch als Hirnstammaudiometrie (»brainstem evoked response audiometry«; BERA) bezeichnet. Die Auswertung der Hirnstammaudiometrie stützt sich auf die Latenzzeitmessung bestimmter Potenziale und die Schwellenbestimmung (. Abb. 12.8). Aus verspätet eintreffenden Potenzialen lassen sich Rückschlüsse auf eine Innenohr-
. Abb. 12.8. Beispiel für frühe akustisch evozierte Potenziale (Hirnstammaudiometrie = BERA). a Gut auslösbare Potenziale mit normaler Latenz der Welle V. b Diagramm mit eingetragenen Werten der Latenz für die Welle I und die Welle V, beide liegen im Normbereich
12
378
1 2 3 4
Kapitel 12 · Sinnesorgane
störung ziehen, die Verlängerung der Überleitungszeit von der Cochlea zum Hirnstamm weist auf eine retrocochleäre Ursache einer Schwerhörigkeit, meist eine Nervenschädigung, hin. > Auch wenn die Methode der akustisch evozierten Potenziale kein Hörtest im eigentlichen Sinne ist, stellt sie eine entscheidende Hilfe für die Differentialdiagnostik von Hörstörungen dar, v. a. in den Fällen, bei denen eine Simulation oder Aggravation vermutet wird.
Impedanzprüfungen
5
Zu den Impedanzprüfungen zählt man die Tympanometrie und die Messung der Stapediusreflexe.
6
Tympanometrie. Ausgangspunkt für die Entwicklung der
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Tympanometrie als audiologische Untersuchungsmethode war die Erkenntnis, dass die optimale Übertragung des Hörschalls am Trommelfell dann erfolgt, wenn der Luft-
druck vor und hinter dem Trommelfell gleich ist. Das bedeutet, dass der auf das Trommelfell gebrachte Schall maximal weitergeleitet wird und nur ein geringer Anteil reflektiert wird. Mit Hilfe eines Mikrophons lässt sich der am Trommelfell reflektierte Schalldruck quantitativ erfassen. Befindet sich hinter dem Trommelfell eine pathologische Flüssigkeitsansammlung, ein Paukenhöhlenerguss, ist die Weiterleitung des Schalls stark behindert, die Reflektion des Schalls erhöht. Auch bei Veränderungen am Trommelfell selbst wie Ausdünnungen, Verdickungen oder Einziehungen, verändern sich die Fortleitungs- und Reflexionsverhältnisse (. Abb. 12.9). Diese Gesetzmäßigkeiten sind aufgeklärt und erlauben eine Zuordnung zu bestimmten pathologischen Prozessen. Für die Durchführung der Tympanometrie sind eine Ohrsonde nötig, die einen Miniaturlautsprecher zur Erzeugung des Sondentons enthält, und ein Messmikrophon.
. Abb. 12.9a,b. Tympanometrie. a Normales Tympanogramm, zeigt normale Mittelohrdruckverhältnisse an. b Normal auslösbare Stapediusreflexe ipsilateral wie kontralateral
379 12.2 Ohrerkrankungen
Die Tympanometrie dient der Erfassung pathologischer Prozesse am geschlossenen Trommelfell und pathologischer Veränderungen im Mittelohr. Stapediusreflexmessung. Bei Schallreizen hoher Intensität (ab 70 dB) kommt es reflektorisch zu einer Kontraktion des Steigbügelmuskels. Diese Kontraktion bewirkt eine Bewegung des Steigbügels, die sich über Amboss und Hammer auch auf das Trommelfell auswirkt und zu einer Einziehung führt. Mit Hilfe einer für die Tympanometrie gebräuchlichen Ohrsonde ist dann die durch die Stapediusmuskelkontraktion bewirkte Impendanzänderung des Trommelfells messbar (. Abb. 12.9). Dieser Reflex ist besonders gut kontralateral ausgeprägt, aber auch ipsilateral auslösbar. Bei der Auswertung der Stapediusreflexe muss der gesamte Reflexbogen berücksichtigt werden. In den Messvorgang gehen auf der afferenten Seite möglicherweise vorhandene Hörstörungen mit ein, einbezogen sind auch die Nervenkerne im Hirnstamm (Nucleus cochlearis und Nucleus facialis). Auf der efferenten Seite sind der N. facialis, der Stapediusmuskel und die Gehörknöchelchenkette in den Messvorgang mit einbezogen. Für sich allein genommen erlaubt die Messung des Stapediusreflexes keine Aussage über den Hörvorgang, sie gewinnt erst in Zusammenhang mit anderen Untersuchungsbefunden an Wert.
einem kompletten Verschluss des äußeren Gehörgangs kommen, aber auch nach langandauernden Kaltwasserreizen, wie sie bei Berufsschwimmern oder Berufstauchern auftreten.
Chronische Mittelohrentzündung Die chronische Mittelohrentzündung entsteht fast immer primär chronisch, nur in Ausnahmefällen aus rezidivierenden akuten Mittelohrentzündungen. Voraussetzung für die Entstehung ist ein konstitutioneller Faktor, ablesbar an einer verminderten Pneumatisation der Mastoidknochen. Die dadurch eingeschränkte Belüftung der Mittelohrräume begünstigt das Auftreten einer chronischen Mittelohrentzündung. Die chronische Mittelohrentzündung zeigt sich entweder als mesotympanale Form, also mit einem mittelständigen Trommelfelldefekt und einer Schleimhauteiterung, oder in ihrer epitympanalen Form mit einem randständigen Trommelfelldefekt und einer Knocheneiterung. Kommt es am epitympanalen Defekt zu einem Einwachsen von Epidermisepithel, spricht man von einem Cholesteatom. Wegweisend für die Diagnose sind anamnestisch bekannte rezidivierende Ohrsekretionen und zunehmende Schwerhörigkeit (Schallleitungsschwerhörigkeit), jedoch keine Schmerzen. Endgültige Aufklärung gibt schließlich die Ohrinspektion mit dem Nachweis des Defektes.
Krankheitsdefinition Gemeinsam ist allen hier dargestellten Ohrerkrankungen, dass sie zu einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Schwerhörigkeit führen können. Durch die verschiedenen Hörprüfungen kommt es dann zu einer graduellen quantitativen Bewertung.
Gehörgangsstenose Gehörgangsstenosen sind komplette oder partielle, in jedem Fall gutartige Verengungen des äußeren Gehörgangs. Sie können angeboren sein, in ihrer stärksten Ausbildung als Atresie. Die erworbenen Gehörgangsstenosen treten meist bei Schwimmern und Tauchern auf oder sind traumatisch bedingt. Dann sind sie auch für die Begutachtung von Bedeutung. Stenosen ohne kompletten Verschluss des äußeren Gehörgangs führen zu einer eingeschränkten Selbstreinigung des Gehörgangs und damit zu Verhalt von Zerumen, aber nicht zu einer Schwerhörigkeit. Erst der komplette Verschluss, leicht zu diagnostizieren durch die Gehörgangsinspektion, bewirkt eine Schallleitungsschwerhörigkeit von etwa 40–50 dB. Fragen zum Zusammenhang. Die Zusammenhangsfrage spielt nach Verletzungen oder sehr lang einwirkenden Kaltwasserreizen eine gutachterliche Rolle. Sowohl durch Traumen, die nachgewiesen sein müssen, kann es zu
Kommentar Problematisch kann es sein, wenn zusätzlich zu einer bereits bestehenden Mittelohrentzündung ein Trauma vorgelegen hat, also in einem Gutachten die Trennung zwischen einer traumatischen und konstitutionell bedingten Ursache gefordert wird. Aufschlussreich sind Befunde vor dem Trauma einerseits, zum anderen Röntgenaufnahmen nach Schüller zur Beurteilung der Mastoidpneumatisation. Ist diese gut, so spricht dies gegen eine chronische Mittelohrentzündung.
Bei der endgültigen Einschätzung der Behinderung durch die chronische Mittelohrentzündung muss berücksichtigt werden, dass eine chronische Otitis media meist erfolgreich durch eine Operation therapiert werden kann. Neben dem primären Ziel, den Entzündungsvorgang zu beseitigen, wird auch eine Hörverbesserung angestrebt. Fragen zum Zusammenhang. Bei der chronischen Mittelohrentzündung stellt sich die Zusammenhangsfrage nur in Ausnahmefällen. Liegt eine konstitutionelle Voraussetzung für die Entstehung einer chronischen Mittelohrentzündung vor, ablesbar an der Pneumatisationseinschränkung im Röntgenbild nach Schüller, dann können
12
380
Kapitel 12 · Sinnesorgane
1
auch Traumen, die normalerweise ausheilen würden, die Entstehung der Otitis media chronica begünstigen.
ist. Er ist abzugrenzen von traumatisch bedingten akuten Hörverlusten wie beispielsweise einem Lärmtrauma.
Traumatische Trommelfellperforation und Gehörknöchelchenverletzungen
Commotio/Contusio labyrinthi
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Verletzungsbedingt können auch bei ansonsten normalem Mittelohr Trommelfellperforationen, Gehörknöchelchenluxationen oder auch -frakturen auftreten. Je nach Lage des Trommelfelldefektes und nach Ausmaß der Destruktion an der Gehörknöchelchenkette entsteht eine unterschiedlich stark ausgeprägte Mittelohrschwerhörigkeit. Fragen zum Zusammenhang. Die gutachterliche Frage besteht dann darin, zu klären, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Trauma und der Schallleitungsschwerhörigkeit vorliegt, und wie stark die Schwerhörigkeit ausgeprägt ist. Auch bei dieser Fragestellung ist zu berücksichtigen, dass mit einer operativen Behandlung meist eine Hörverbesserung zu erzielen ist.
Hörsturz (akuter Hörverlust) Unter einem Hörsturz versteht man eine plötzlich aufgetretene, meist einseitige Innenohrschwerhörigkeit unklarer Genese. Diese Definition erlaubt es, vom Hörsturz eine traumatisch bedingte Schwerhörigkeit oder eine akute Lärmschwerhörigkeit leicht abzugrenzen. Auch von der Menière-Erkrankung (7 Kap. 12.2.2) ist der Hörsturz leicht abzugrenzen, da zum Hörsturz keine vestibulären Symptome gehören. Allerdings kann ein plötzlicher Hörverlust das Erstsymptom eines Morbus Menière sein, da diese Krankheit nur ausnahmsweise mit ihrem Vollbild beginnt. Wegweisend dafür ist der Verlauf, in dem dann rezidivierende Hörstürze auftreten können. Auch wenn anfangs die Differenzialdiagnose schwierig erscheint, lässt sie sich aus dem Zeitverlauf der Beschwerden nach einer gewissen Zeit meist eindeutig stellen. Die Spontanheilung des Hörsturzes ist mit rund 70% hoch (Weinaug 1984). Dennoch versucht man, auf den Verlauf therapeutisch einzuwirken. Durchblutungsfördernde Maßnahmen sind gerechtfertigt unter dem Gesichtspunkt, dem geschädigten Sinnesorgan vermehrt Sauerstoff anzubieten. Wegen einer möglicherweise viral induzierten Entzündungsreaktion, die aufgrund moderner Untersuchungen wahrscheinlich geworden ist, ist die Gabe von Kortikosteroiden sinnvoll. Da es nicht erwiesen ist, dass eine Soforttherapie den Verlauf entscheidend beeinflusst, sind gerichtliche Klärungen einer angeblich unzureichenden Hörsturzbehandlung selten geworden. Der Hörsturz wird heute nicht als Notfall, sondern als Eilfall angesehen.
Gewalteinwirkungen auf den Schädel können mechanische Schäden an den Haarzellen hervorrufen, die sich als Innenohrschwerhörigkeit manifestieren. Voraussetzung für diese Diagnose ist eine nachgewiesene, ausreichend starke mechanische Gewalteinwirkung, eine Schallempfindungsschwerhörigkeit im Tonschwellenaudiogramm, der Ausfall otoakustischer Emissionen und der Ausschluss einer retrocochleären Schwerhörigkeit mittels Hirnstammaudiometrie (BERA). Zu beachten ist, dass vestibuläre Symptome nicht zwangsläufig zum Bild einer Contusio labyrinthi gehören. Fragen zum Zusammenhang. Der Zusammenhang zwi-
schen einer Schwerhörigkeit und einer Commotio oder Contusio labyrinthi ist dann gegeben, wenn ein Trauma nachgewiesen ist sowie der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Trauma und Auftreten der Schwerhörigkeit.
Akutes Lärmtrauma Unter dem Begriff »akutes Lärmtrauma« werden Hörschäden mit Lokalisation im Innenohr, die nach kurzer und hochintensiver Beschallung auftreten, zusammengefasst. Dazu zählen das Explosionstrauma, das Knalltrauma sowie akute Lärmschäden. Allen ist gemeinsam, dass der Hörverlust unmittelbar nach dem Schalltrauma als Taubheit oder starke Schwerhörigkeit empfunden wird. Unproblematisch ist die Diagnosestellung im frischen Stadium. Je länger das Intervall zwischen Unfall, einer ersten Hörprüfung und der Begutachtung ist, desto schwieriger ist es, die Zusammenhangsfrage zu klären. Explosionstrauma
Unter einem Explosionstrauma versteht man die Einwirkung von einer Impulsschallbelastung von über 190 dB und einer Dauer zwischen 3 und 5 Millisekunden. Neben dem Innenohrschaden treten auch Trommelfellzerreißungen oder Gehörknöchelchenluxationen (s. dort) auf. Als Ursachen kommen Explosionen im engeren Sinne in Frage, aber auch eine Ohrfeige, das Aufkommen mit dem Ohr auf die Oberfläche beim Sprung ins Wasser oder auch das Platzen eines Airbags. Das Tonschwellenaudiogramm zeigt nach einem Explosionstrauma eine ein- oder beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, bei Beteiligung des Mittelohrs eine kombinierte Schwerhörigkeit. Knalltrauma
19 20
Fragen zum Zusammenhang. Die Zusammenhangsfrage
stellt sich für den Hörsturz nicht, da er als idiopathische, plötzlich aufgetretene Innenohrschwerhörigkeit definiert
Von einem Knalltrauma spricht man, wenn Schallbelastungen zwischen 160 und 190 dB auftreten, die kürzer als 3 Millisekunden gedauert haben. Ansonsten treffen die
381 12.2 Ohrerkrankungen
Charakteristika des Explosionstraumas zu, allerdings mit der Ausnahme einer Mittelohrbeteiligung. Akuter Lärmschaden
In Abgrenzung vom Knall- und Explosionstrauma sind die zu einem akuten Lärmschaden führenden Schallintensitäten nicht so hoch, sie liegen zwischen 130 und 160 dB, halten aber über Minuten bis Stunden an. > Charakteristisch ist, dass es spontan nach der anfänglichen Hörverschlechterung wieder zu einer Erholung des Gehörs kommt (»temporäre Schwellenabwanderung«).
Typischerweise treten akute Lärmschäden nach Konzerten oder Discobesuchen auf. Die Diagnose wird aus dem Tonschwellenaudiogramm gestellt, in dem sich eine meist beidseitige Innenohrschwerhörigkeit feststellen lässt. Wegweisend ist die Anamnese. > Es sei schon hier darauf hingewiesen, dass alle durch akute oder chronische Lärmeinflüsse hervorgerufenen Innenohrschäden von Tinnitus (s. unten) begleitet sein können.
Fragen zum Zusammenhang. Wie oben schon ausgeführt, ist einerseits nur die akute Lärmbelastung Voraussetzung für das Entstehen eines Lärmtraumas, andererseits der unmittelbare zeitliche Zusammenhang zwischen Lärmreiz und Schwerhörigkeit. Bei größeren Intervallen zwischen akutem Ereignis und Begutachtung kann es schwierig werden, eindeutige Beziehungen herzustellen, v. a. wenn altersbedingte Faktoren in die Entwicklung der Schwerhörigkeit miteinfließen. In manchen Fällen kann es nötig werden, die akute Lärmbelastung, wenn möglich, nachzustellen und dann Lärmpegelmessungen durchzuführen.
Lärmschwerhörigkeit Trotz verbesserter Vorsorgemaßnahmen steht die berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit seit Jahren an der Spitze der häufigsten Berufskrankheiten. Daher bezieht sich der weitaus größte Teil der HNO-ärztlichen Gutachtertätigkeit auf die Lärmschwerhörigkeit, die Nummer 2301 der Berufskrankheitenverordnung. Wie eingangs dargestellt, besteht der Hörvorgang in einer Analyse mechanischer Schwingungen bestimmter Frequenzen und Intensitäten mit einer Bedeutungszuordnung. Die mechanischen Schwingungen werden über Trommelfell und Mittelohrapparat an die Schnecke weitergegeben, wo die mechanoelektrische Wandlung erfolgt. So wie es verständlich ist, dass durch eine starke Druckwelle das Trommelfell platzen kann, so ist es ebenso erklärlich, dass erhöhte mechanische Belastungen wie eben Lärm zu Schäden an den Haarzellen der Schnecke führen.
Es gilt heute als gesichert, dass bei langfristiger Einwirkung hoher Schalldruckpegel sowohl die äußeren wie auch die inneren Haarzellen geschädigt werden (zit. nach Meyer u. Gummer 2000). Auf dieser Tatsache bauen die gutachterlichen Untersuchungen bei der Frage nach einer Lärmschwerhörigkeit auf. So muss bei einer Lärmschwerhörigkeit ein Schaden der äußeren Haarzellen nachgewiesen sein und eine retrocochleäre Schädigung als Ursache der Schwerhörigkeit ausgeschlossen werden. Vom Lärmunfall ist die Lärmschwerhörigkeit durch die länger andauernde Schalleinwirkung abzugrenzen. Unter der Annahme, dass es sich bei der chronischen Lärmschwerhörigkeit um eine mechanisch induzierte Haarzellschädigung handelt, lässt sich eine Abhängigkeit des Schädigungsausmaßes von der Dauer und der Intensität der Lärmeinwirkung fordern. Als Schalldruckpegel, ab denen mit der Entstehung einer Schwerhörigkeit zu rechnen ist, sind 85 db (A) festgelegt. Damit es zur Ausbildung einer Lärmschwerhörigkeit kommt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Grundsätzlich gilt, dass höhere Schalldruckpegel bereits bei kurzen Expositionszeiten von wenigen Jahren zu einer Schwerhörigkeit führen, wohingegen bei niedrigeren Schalldruckpegeln dazu längere Einwirkzeiten nötig sind.
Kommentar Als Richtwert kann gelten, dass für Lärmpegel von 85 db (A) etwa eine 7 Jahre lange Arbeitszeit (8-Stunden-Tag) erforderlich ist, damit es zur Ausbildung einer Lärmschwerhörigkeit kommen kann.
Vor einigen Jahren hat von Lüpke eine Tabelle zur Bestimmung des Risikomaßes durch Korrelation von Dauer und Intensität der Lärmeinwirkung vorgelegt. Aus verschiedenen Gründen wird diese Tabelle (»Risikomaß nach Lüpke«) in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr angewandt. Bevor es zur eigentlichen ärztlichen Begutachtung kommt, müssen bei Einleitung des Verfahrens Expositionszeiten und Schalldruckpegel am Arbeitsplatz bestimmt werden. Diese Daten werden von einem Sicherheitsingenieur gemessen und in einer Arbeitsplatzlärmanalyse festgehalten. Nicht zuletzt wegen der Häufigkeit der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit werden Lärmgutachten in den meisten Fällen zunächst einmal als Formulargutachten, entsprechend den Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (Königsteiner Merkblatt 1996) erstellt. Bevor ein Auftrag für ein Lärmgutachten gegeben wird, muss geklärt werden, ob überhaupt eine Anzeige über eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit erfolgen soll.
12
382
Kapitel 12 · Sinnesorgane
Kriterien für die Anzeige einer Lärmschwerhörigkeit
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Der häufigste Weg zu einer Begutachtung wegen einer Lärmschwerhörigkeit führt über den HNO-Arzt, den der Patient wegen einer Schwerhörigkeit aufgesucht hat. Findet sich das typische Bild einer Lärmschwerhörigkeit im Tonschwellenaudiogramm (s. unten), besteht eine entsprechende Lärmanamnese und hat die Schwerhörigkeit ein bestimmtes Ausmaß erlangt, wird an die zuständige Berufsgenossenschaft eine Anzeige nach einem Formular über den Verdacht auf Lärmschwerhörigkeit erstattet. So sollten wenigstens einige Jahre unter berufsbedingtem Lärm – mindestens als 85 db (A) – gearbeitet worden sein. > Als Richtwert für den Hörverlust gelten 40 dB für Knochenleitung bei 4.000 Hz.
Die Berufsgenossenschaft veranlasst die Arbeitsplatzlärmanalyse und erteilt dann den Auftrag für eine Begutachtung. Ein anderer Weg, eine berufsbedingte Lärmschwerhörigkeit zu erfassen, läuft über Reihenuntersuchungen in den bekannten Lärmbetrieben. Wenn dabei im Tonschwellenaudiogramm entsprechende Hörverluste festgestellt werden, wird vom Arbeitgeber eine Anzeige erstattet und die Begutachtung eingeleitet. > Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass eine Anzeige über eine Lärmschwerhörigkeit erstattet werden muss, wenn der Patient dies verlangt.
Sind also die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, ergeht schließlich von der zuständigen Berufsgenossenschaft der Auftrag, ein Lärmgutachten, zunächst als Formulargutachten, nach dem Königsteiner Merkblatt (1996) durchzuführen. Aufbau eines Lärmgutachtens
Die spezielle Anamnese im Rahmen eines Lärmgutachtens umfasst die Entstehung und Entwicklung der Schwerhörigkeit mit möglichen Begleitsymptomen, v. a. eines Tinnitus. Auch sollte nach der subjektiven Behinderung durch die Schwerhörigkeit in bestimmten Situationen gefragt werden. Ganz wichtig ist dabei die Frage nach dem Zeitpunkt, ab dem der Betroffene eine Schwerhörigkeit bemerkt hat. Damit kann bereits geklärt werden, ob die Entstehung der Schwerhörigkeit in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Lärmbelastung steht. Dies gilt auch für den weiteren Verlauf, also die Entwicklung der Schwerhörigkeit. So kann beispielsweise eine Verschlechterung der Schwerhörigkeit nach Ende der Lärmbelastung nicht mehr auf die berufliche Tätigkeit zurückgeführt werden. Deswegen ist es wichtig, mögliche außerberufliche Lärmbelastungen in Erfahrung zu bringen und zu dokumentieren.
Zur Lärmanamnese gehört auch die Frage nach prophylaktischen Maßnahmen während der Arbeit, also die Frage, ob Gehörschutz (welcher?) am Arbeitsplatz getragen worden ist und seit wann. Ergänzt werden sollte die Anamnese durch eine Familienanamnese einerseits, um mögliche erbliche Belastungen zu erfassen, zum anderen durch Fragen nach anderen Erkrankungen, die möglicherweise im Sinne eines Vorschadens zu einer Schwerhörigkeit geführt oder diese beeinflusst haben können. Die HNO-ärztliche Spiegeluntersuchung muss vollständig durchgeführt werden, obwohl das Hauptaugenmerk natürlich auf den Ohrbefund und dabei auf den Zustand der Trommelfelle gerichtet ist. Denn andere Ursachen einer Schwerhörigkeit mit Lokalisation im äußeren Gehörgang oder Mittelohrerkrankungen, insbesondere Trommelfellperforationen, lassen sich durch diese recht einfachen Spiegeluntersuchungen sicher erkennen. Weiterer Bestandteil eines Lärmgutachtens ist eine grobklinische Untersuchung des Gleichgewichtssystems, die der Erkennung von vestibulären Schäden dient, welche nicht selten mit cochleären Störungen gepaart auftreten. Dazu zählen der Morbus Menière (7 Kap. 12.2.2), das Vestibularisschwannom (»Akustikusneurinom«), ein kompletter Innenohrausfall und auch der Zoster oticus (7 Kap. 12.2.2). Diese Erkrankungen sind von einer Lärmschwerhörigkeit zu trennen. Ist die Schwindelanamnese leer, weder ein Spontan- noch ein Provokationsnystagmus nachweisbar und fallen die vestibulospinalen Prüfungen (7 Kap. 12.2.2) negativ aus, werden weitere Untersuchungen des vestibulären Systems im Rahmen eines Formulargutachtens nicht durchgeführt. Audiometrische Untersuchungen
Die im Rahmen eines Lärmgutachtens durchzuführenden audiometrischen Untersuchungen haben zum einen das Ziel, einen für die Lärmschwerhörigkeit typischen Haarzellschaden nachzuweisen und das Ausmaß einer Innenohrschwerhörigkeit zu ermitteln, zum anderen Schwerhörigkeiten, die nicht auf eine Lärmbelastung zurückzuführen sind, zu erkennen. Auch wenn die einzelnen Hörprüfmethoden bereits oben abgehandelt worden sind, soll hier ihre spezielle Bedeutung im Rahmen der Lärmbegutachtung dargestellt werden. Hörweitenprüfung. Die Hörweitenprüfung erlaubt nur
eine grobe Einschätzung des Grades einer Schwerhörigkeit. Wenn ein korrektes Sprachaudiogramm (Freiburger Sprachtest; . Tab. 12.3 und . Abb. 12.4) bei ausländischen Patienten nicht durchführbar ist, muss die Hörweitenprüfung zur Beurteilung mitherangezogen werden. In diesen Fällen muss eine der fremden Sprache mächtige Hilfsperson Flüster- und Umgangssprache prüfen.
383 12.2 Ohrerkrankungen
Die Stimmgabelversuche nach Rinne und Weber erlauben bereits eine Trennung zwischen Schallleitungsund Schallempfindungsschwerhörigkeit. Schon hier ergeben sich manchmal erste Hinweise auf eine vorliegende Aggravation oder Simulation. Tonschwellenaudiogramm. Die zentrale Stellung inner-
halb der Hörprüfmethoden bei einer Lärmbegutachtung kommt der quantitativen Feststellung des Tongehörs mit dem Tonschwellenaudiogramm (. Abb. 12.3) zu. Hier kann frequenzspezifisch festgestellt werden, ob eine reine Schallempfindungsschwerhörigkeit, wie es bei einer Lärmschwerhörigkeit zu fordern ist, vorliegt oder eine reine Schallleitungsschwerhörigkeit, die eine Lärmschwerhörigkeit ausschließt. Auch kombinierte Schwerhörigkeiten, die teilweise durch Lärm verursacht sein können, werden erkannt. Das Tonschwellenaudiogramm wird für die Beurteilung des Grades der Schwerhörigkeit dann herangezogen, wenn ein Sprachaudiogramm nicht durchführbar ist (s. oben »Quantitative Beurteilung«). Aus dem Tonschwellenaudiogramm lassen sich noch andere für eine Lärmschwerhörigkeit typische Charakteristika herauslesen. So ist zu erwarten, dass sich eine chronische Lärmeinwirkung auf beide Ohren in gleicher Weise auswirkt (»Symmetrieregel«). Ein asymmetrisches Tonschwellengehör spricht daher zunächst einmal gegen das Vorliegen einer Lärmschwerhörigkeit, schließt diese aber in Sonderfällen nicht aus. Ein weiteres typisches aus dem Tonschwellenaudiogramm ablesbares Zeichen einer Lärmschwerhörigkeit ist das Maximum des Hörverlustes um 4000 Hz herum, die C5-Senke, ohne dass sie als pathognomonisch für eine Lärmschwerhörigkeit gelten kann (. Abb. 12.3b). Handelt es sich um ein frühes Stadium einer Lärmschwerhörigkeit, dann wird sich der Hörverlust ausschließlich um 4000 Hz bemerkbar machen. Im Fortgang der Lärmschwerhörigkeit kann sich aber die Senke zu den tieferen und höheren Frequenzen ausweiten. Ein weiteres wichtiges Kriterium, das im Tonschwellenaudiogramm sichtbar wird, ist das auch bei fortgeschrittener Lärmschwerhörigkeit vorhandene Wiederansteigen der Tonschwellenkurve in den hohen Frequenzen. Überschwellige Hörprüfmethoden. Mit Hilfe der über-
schwelligen Hörprüfmethoden wird der Nachweis einer Innenohrhaarzellschädigung angestrebt. Wegen der Unsicherheit der gängigen Recruitment-Tests wird jedoch gefordert, dass mindestens 2 gleichsinnige Ergebnisse vorliegen. Am häufigsten werden der SISI-Test und die Langenbeck-Geräuschaudiometrie angewandt. Nach dem Königsteiner Merkblatt (1996) nicht zwingend vorgeschrieben, aber sehr hilfreich ist die Registrierung der otoakustischen Emissionen. Sind TEOAE ableitbar, ist der Hörverlust, der durch eine Haarzellschädi-
gung bedingt ist, nicht höher als 30 dB. Noch aussagekräftiger in der Lärmbegutachtung ist die Methode der DPOAE, da sie frequenzspezifisch arbeitet. Sind beispielsweise bei 4000 Hz, der bevorzugt geschädigten Frequenz bei einer Lärmschwerhörigkeit, keine DPOAE mehr ableitbar, ist – bei Ausschluss einer Schallleitungskomponente – damit eine Schädigung äußerer Haarzellen an diesem Teil der Basilarmembran nachgewiesen. Impedanzprüfungen. Die Impedanzprüfungen (Tympanometrie und Ableitung der Stapediusreflexe) dienen in erster Linie dazu, eine Mittelohrschädigung auszuschließen. Sie sollten bei einer Lärmschwerhörigkeit normal ausfallen. Die Auslösbarkeit der Stapediusreflexe kann zur Beurteilung eines Metz-Recruitments (Stapediusreflexschwellen zeigen keine Unterschiede trotz erhöhter Hörschwelle im Vergleich zum Normalhörigen) als Beleg für eine Innenohrhaarzellschädigung herangezogen werden. Zu beachten ist, dass mit der Messung der Stapediusreflexe keine sichere Schwellenbestimmung des Gehörs möglich ist. Wenn die Stapediusreflexe nicht ableitbar sind, muss bei der Analyse berücksichtigt werden, dass mit diesem Testverfahren der gesamte Reflexbogen, also unter Einschluss des Gehörs der Reizseite und des N. facialis, der muskulären Funktion und der Mittelohrfunktion auf der anderen Seite geprüft wird. So kann auch für die Impedanzprüfungen festgestellt werden, dass sie nur im Zusammenhang mit anderen Hörprüfmethoden zu interpretieren sind. Akustisch evozierte Potenziale. Unter den Methoden der akustisch evozierten Potenziale hat sich für die klinische Routine die Ableitung der frühen Potenziale (Synonym: FAEP = frühe akustisch evozierte Potenziale, BERA = »brainstem evoked reponse audiometry«, Hirnstammaudiometrie) durchgesetzt. Die vergleichsweise einfache Ableitetechnik, die Konstanz der auftretenden Potenzialwellen und ihre Stabilität gegenüber willkürlichen oder pharmakologischen Einflüssen haben zu diesem bevorzugten Platz unter den objektiven Hörprüfmethoden geführt. Für den routinemäßigen Einsatz bei Lärmformulargutachten wird diese Methode wegen des finanziellen Aufwandes jedoch nicht gefordert. Andererseits sollte sie bei Widersprüchen oder bei Gerichtsgutachten immer angewandt werden. Sie dient in erster Linie dem Nachweis bzw. Ausschluss einer retrocochleären Schwerhörigkeit. Auch für die Bestimmung der Hörschwelle leistet die Hirnstammaudiometrie wichtige Dienste. Nur an wenigen HNO-Untersuchungszentren besteht die Möglichkeit der Ableitung der späten akustisch evozierten Potenziale, der Hirnrindenpotenziale. Mit dieser Methode gelingt es, wie bei einem Tonschwellenaudiogramm frequenzspezifisch reizkorrelierte Antworten auf Töne aus der Hirnrindenaktivität herauszulesen. Al-
12
384
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Sinnesorgane
lerdings sind die mit dieser Methode gewonnenen Potenziale sehr instabil, da sie stark sowohl von pharmakologischen als auch von Vigilanzeinflüssen abhängen. Man wird daher auf diese Methode nur in Ausnahmefällen zurückgreifen. Wie für andere objektive Hörprüfmethoden auch sind die Ergebnisse der Ableitung der akustisch evozierten Potenziale nur im Kontext mit anderen subjektiven Hörprüfmethoden zu verwerten. Fragen zum Zusammenhang. Mehr noch als bei anderen Erkrankungen muss bei der Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit die Zusammenhangsfrage eindeutig beantwortet werden: Ist eine Belastung durch Berufslärm die Ursache für die vorliegende Schwerhörigkeit? > Entscheidend für die Entstehung einer Lärmschwerhörigkeit sind Dauer und Intensität des Lärms am Arbeitsplatz.
Die Feststellung dieser beiden Faktoren erscheint zunächst einfach, ist im Einzelfall manchmal sehr problematisch. Die am Arbeitsplatz vorhandene Lärmintensität wird i. Allg. durch eine Arbeitsplatzlärmanalyse bestimmt. Selbst diese objektiv erscheinende Vorgehensweise wird in manchen Fällen aber angefochten, aus denen sich dann ein Sachverständigenstreit ableitet. Es ist nämlich nicht unerheblich, unter welchen Bedingungen und mit welchen Methoden die Lärmpegel gemessen werden. Berücksichtigt werden muss neben dem Dauerlärmpegel die Intensität von sog. Impulslärm, d. h. von kurzfristigen Schalldruckpegelspitzen durch rhythmisch arbeitende Werkzeuge wie beispielsweise Maschinenhämmer. Die Dauer der Lärmeinwirkung ergibt sich i. Allg. aus den Aufstellungen der Arbeitszeiten und der Arbeitsdauer. Individuell ist darauf zu achten, wie lange der Patient tatsächlich unter bestimmten Lärmpegeln gearbeitet hat.
Kommentar Die Verbindung beider Faktoren, also Dauer und Intensität des Lärms am Arbeitsplatz, führen dann zur Beantwortung der Frage, ob dieser Lärm die Ursache für die Schwerhörigkeit sein kann. Dabei gilt als Regel, dass die Dauer des berufsbedingten Lärms umso kürzer sein kann, je höher die Intensität ist. Diese Beziehung gilt auch in umgekehrter Richtung. Als untere Grenze gelten 85 db (A). Dieser Lärmpegel muss mindestens 7–-10 Jahre lang vorgelegen haben, wobei ein normaler Arbeitstag (8 Stunden) zugrunde gelegt wird.
Simulation und Aggravation von Hörstörungen Unter Simulation versteht man die Vortäuschung einer nicht vorhandenen Schwerhörigkeit, unter Aggravation
das verstärkte Angeben einer bestehenden Schwerhörigkeit. Auch wenn unter den zu begutachtenden Personen Simulanten oder Aggravanten seltener sind als allgemein vermutet wird, muss v. a. bei nicht eindeutigen Befunden an eine dieser Möglichkeiten gedacht werden. Der Gesamteindruck des Patienten und wechselnde Angaben bei den audiometrischen Untersuchungen geben schon Hinweise auf das Vorliegen einer Simulation oder Aggravation. Während früher bestimmte Simulations- und Aggravationstest wie Überrumpelungsversuche oder der LeeTest (Lehnhardt 2000) eingesetzt wurden, so sind diese wegen der verbesserten objektiven Hörprüfmethoden in den Hintergrund getreten. Vielmehr werden heutzutage Verfahren wie die Ableitung otoakustischer Emissionen, Impedanzprüfungen und akustisch evozierte Potenziale herangezogen, wenn es um die Frage der Hörschwelle und der Ausprägung einer Schwerhörigkeit geht. In Sonderfällen, wenn auch die genannten Methoden keine klare Aussage erlauben, muss man auf die Methode der späten akustisch evozierten Potenziale (Hirnrindenpotenziale) zurückgreifen.
Quantitative Bewertung von Hörstörungen Die quantitative Bewertung von Hörstörungen bezieht sich auf die Einschränkungen beim Verstehen von Sprache, weil darin die Behinderung durch eine Schwerhörigkeit für den Menschen am deutlichsten wird. Im Allgemeinen wird dazu in Deutschland der Freiburger Sprachtest (. Tab. 12.3 und . Abb. 12.4) eingesetzt, dessen Anwendung zwangsläufig die Kenntnis der deutschen Sprache voraussetzt. Bei der Auswertung werden für jedes Ohr getrennt zunächst die Prozentwerte der verstandenen Einsilber bei 60 dB, 80 dB und 100 dB Schalldruck ermittelt und addiert. Dieser Wert ergibt für jede Seite das Gesamtwortverstehen. In den letzten Jahren hat sich vermehrt die Bestimmung des gewichteten Gesamtwortverstehens nach Feldmann durchgesetzt. Dabei wird berücksichtigt, dass das Hören bei normaler Sprechlautstärke eine größere Bedeutung hat als das Verstehen sehr laut gesprochener Worte. Der bei 60 dB verstandene Prozentsatz wird 3-fach, der bei 80 dB verstandene doppelt und der bei 100 dB verstandene einfach gewertet. Die Gesamtzahl wird halbiert. Dieser Wert wird als gewichtetes Gesamtwortverstehen bezeichnet. Setzt man nun den Wert des Gesamtwortverstehens (oder des gewichteten Gesamtwortverstehens) mit dem 50%igen Hörverlust für Zahlen in Beziehung, der ebenfalls aus dem Sprachaudiogramm ermittelt worden ist, so erhält man den prozentualen Hörverlust einer Seite (. Tab. 12.4). Mit diesen für jede Seite ermittelten Werten des prozentualen Hörverlustes geht man in die Tabelle von Feldmann, in der die Werte beider Ohren zusam-
12
385 12.2 Ohrerkrankungen
. Tab. 12.4. Tabelle nach Boenninghaus und Röser zur Ermittlung des prozentualen Hörverlustes einer Seite (Erläuterungen im Text) Gesamtwortverstehen
Hörverlust für Zahlwörter in dB <20
ab 20
ab 25
ab 30
ab 35
ab 40
ab 45
ab 50
ab 55
ab 60
ab 65
ab 70
<20
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
ab 20
95
95
95
95
95
95
95
95
95
95
95
100
ab 35
90
90
90
90
90
90
90
90
90
90
95
100
ab 50
80
80
80
80
80
80
80
80
80
90
95
100
ab 75
70
70
70
70
70
70
70
70
80
90
95
100
ab 100
60
60
60
60
60
60
60
70
80
90
95
ab 125
50
50
50
50
50
50
60
70
80
90
ab 150
40
40
40
40
40
50
60
70
80
ab 175
30
30
30
30
40
50
60
70
ab 200
20
20
20
30
40
50
60
ab 225
10
10
20
30
40
50
ab250
0
10
20
30
40
* Das Gesamtwortverstehen (wz) wird aus der Wortverständniskurve errechnet. Es entsteht durch Addition der Verständlichkeitswerte bei 60, 80 und 100 dB Lautstärke. Zur Bildung des gewichteten Gesamtwortverständnisses Wsgw gilt: ws = (3×Verständnisquote bei 60 dB + 2×Verständnisquote bei 80 db + 1× Verständnisquote bei 100 dB) : 2.
mengeführt werden (. Tab. 12.5). Am Schnittpunkt dieser Werte erhält man schließlich den GdB/MdE-Wert für die bei einem Patienten bestehende Schwerhörigkeit. Bei symmetrischen Hörschäden kommen vereinfachte GdB/MdE-Tabellen von Brusis und Mehrtens (1981) zur Anwendung. In ihnen ist der prozentuale Hörverlust, der GdB/MdE und die sprachliche Bezeichnung des Schwerhörigkeitsgrades zusammengefasst (. Tab. 12.6). Diese Tabelle ist auch in das Königsteiner Merkblatt aufgenommen worden.
Tinnitus Unter Tinnitus versteht man Höreindrücke, akustische Sensationen, ohne dass eine externe Schallquelle vorliegt. Klinisch unterscheidet man objektive Ohrgeräusche, die auch für einen Untersucher z. B. über ein Stethoskop hörbar sind, und subjektive Ohrgeräusche, die nur vom Patienten wahrgenommen werden. Subjektive Ohrgeräusche finden sich am häufigsten bei Innenohrschwerhörigkeiten, unabhängig von ihrer Ursache. Man vermutet daher, dass letztlich eine Haarzellschädigung im Innenohr die eigentliche Ursache darstellt, während das Tinnituserlebnis selbst zentral, im Kortex generiert wird. Die Ursachen des objektiven Tinnitus liegen in Strömungsphänomenen ohrnaher Gefäße, wie sie durch Aneurysmen, Glomustumoren oder arteriovenöse Fisteln hervorgerufen werden.
Für die Begutachtung spielen fast ausschließlich die subjektiven Ohrgeräusche eine Rolle, zumal sie manchmal als sehr quälend empfunden werden. Zur Klassifizierung der verschiedenen Formen eines subjektiven Tinnitus sind immer wieder unterschiedliche Einteilungen vorgeschlagen worden. Als sinnvoll hat sich die von Zenner (1998) vorgelegte Systematik erwiesen, die sich auf pathophysiologische Daten stützt. Er unterscheidet einen Schallleitungstinnitus, der auf Störungen im Mittelohr zurückzuführen ist, dann vier verschiedene Formen eines sensorineuralen Tinnitus, deren Ursachen im Innenohr und am Hörnerv lokalisiert sind, sowie einen zentralen Tinnitus, der auf Störungen im ZNS selbst zurückzuführen ist. Zusätzlich führt er einen sensorineuralen Tinnitus Typ IV ein, bei dem die Läsion in extrasensorischen Strukturen lokalisiert ist. Für das Verständnis der Tinnitusproblematik ist es wichtig zu wissen, dass Tinnitus auch unter physiologischen Bedingungen vorkommt, nämlich bei Gesunden dann, wenn sie sich für längere Zeit in einem schalltoten Raum aufhalten. Offensichtlich trägt der ansonsten immer vorhandene Geräuschpegel, auch wenn er nicht allzu hoch ist, dazu bei, dass der physiologischerweise vorhandene Tinnitus verdeckt wird. Diese Erkenntnis sollte bei der Einstufung der Tinnitusbeschwerden berücksichtigt werden.
386
1 2 3
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Tab. 12.5. Tabelle nach Brusis und Mehrtens zur Ermittlung von GdB/MdE für beide Ohren (Erläuterungen im Text) Linkes Ohr o
0–20
20–40
40–60
60–80
80–95
100
Rechtes Ohr p
Hörverlust in %
Normalhörigkeit
Geringgradige Schwerhörigkeit
Mittelgradige Schwerhörigkeit
Hochgradige Schwerhörigkeit
An Taubheit grenzende Schwerhörigkeit
Taubheit
Normalhörigkeit
0–20
0
0
10
10
15
20
15
20
20
30
30
30
30
40
40
50
50
60
70
70
GdB/MdE
4 5 6 7
Geringgradige Schwerhörigkeit
10 20–40
0
GdB/MdE Mittelgradige Schwerhörigkeit
20 40–60
10
20
GdB/MdE Hochgradige Schwerhörigkeit
40 60–80
10
20
30
GdB/MdE
8 9 10
An Taubheit grenzende Schwerhörigkeit
60 80–95
15
30
40
50
GdB/MdE Taubheit
80 100
20
30
40
50
70
80
11 12
. Tab. 12.6. MdE/GdB und Schwerhörigkeitsgrad bei symmetrischen Hörschäden in Abhängigkeit vom prozentualen Hörverlust nach Brusis und Mehrtens (Erläuterungen im Text) GdB/MdE
Schwerhörigkeitsgrad
0
Normalhörigkeit
<20
<10
Beginnende Schwerhörigkeit
20
10
Knapp geringgradige Schwerhörigkeit
30
15
Geringgradige Schwerhörigkeit
15
40
20
Gering- bis mittelgradige Schwerhörigkeit
45
25
Knapp mittelgradige Schwerhörigkeit
16
50
30
Mittelgradige Schwerhörigkeit
60
40
Mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit
17
65
45
Knapp hochgradige Schwerhörigkeit
70
50
Hochgradige Schwerhörigkeit
80
60
Hochgradige Schwerhörigkeit bis an Taubheit grenzend
85
65
Knapp an Taubheit grenzend
90
70
An Taubheit grenzend
95
80
Taubheit mit Hörresten
100
80
Taubheit
13 14
18 19 20
Hörverlust [%] 0
387 12.2 Ohrerkrankungen
Fragen zum Zusammenhang Kommentar Da es keine Möglichkeit gibt, das Tinnituserleben zu objektivieren, spielen Erfahrung und psychologisches Einfühlungsvermögen des Untersuchers eine große Rolle, um den subjektiven Leidensdruck richtig einzuordnen. Entscheidend ist das bei der Begutachtung geführte ärztliche Gespräch.
Die Anamnese soll versuchen, die Frage nach dem Leidensdruck zu beantworten. Für die Einschätzung ist es hilfreich, zu erfragen, ob der Tinnitus zu Einschlafschwierigkeiten oder Durchschlafschwierigkeiten führt. Das Gespräch kann auch klären, unter welchen Bedingungen der Tinnitus als besonders störend empfunden wird. Ein anderer wichtiger Gesichtspunkt ist der, ob es sich um ein andauerndes Ohrgeräusch handelt oder ein intermittierendes Ohrgeräusch, dessen Intensität schwankt. Auch sollte die Möglichkeit erörtert werden, ob nicht einfache Verdeckungsmaßnahmen wie beispielsweise eine leise Hintergrundmusik oder ein Zimmerspringbrunnen bereits Abhilfe bringen. Wenn schon keine Möglichkeit zur Objektivierung des Tinnitus besteht, sollte immer der Versuch der Tinnitusidentifikation gemacht werden. Diese geschieht durch Vergleich mit definierten Tönen oder Geräuschen, die vom Audiometer hergestellt werden können. Auf diese Weise kann der Frequenzbereich des Tinnitus eingegrenzt werden. Stimmen Tinnitusfrequenzbereich und Hörverlustfrequenz annähernd überein, ist der Tinnitus eher glaubhaft als ohne diese Beziehung. Sollte ein Tinnitus bei normalem Tonschwellenaudiogramm geklagt werden, so besteht die Möglichkeit, durch Ableitung der DPOAE (s. oben) auch eng begrenzte Haarzellschäden der Basilarmembran aufzuspüren. Ein weiteres Verfahren bei der Tinnitusuntersuchung besteht darin, zu prüfen, mit welchen Schalldruckintensitäten sich der geklagte Tinnitus verdecken lässt. Dieses Verfahren kann als grobe Annäherung an den Schweregrad des Tinnitus gelten. Trotz dieser Möglichkeiten, einen Tinnitus zu charakterisieren, liegt die gutachterliche Einstufung im subjektiven Ermessen des Gutachters. In besonderen Fällen kann es nötig werden, ein neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten einzuholen, um den subjektiven Leidensdruck richtig zu würdigen. Der durch einen glaubhaft vorgebrachten Tinnitus bedingte GdB/MdE wird je nach Ausprägung vom HNOArzt i. Allg. auf 5–10% eingeschätzt. Höhere MdE-Sätze sollten nur von einem neuropsychiatrischen Gutachter festgelegt werden.
Eine sichere Antwort auf die Zusammenhangsfrage bei Tinnitus gibt es gegenwärtig nicht. Ein Tinnitus ist eher wahrscheinlich, wenn eine organische Störung im Verlauf der Hörbahn, insbesondere eine Haarzellschädigung nachgewiesen worden ist. Dies schließt nicht aus, dass es auch rein zentral generierte Tinnitusformen gibt.
Hyperakusis Die Hyperakusis ist ein bis jetzt nicht einheitlich definierter Begriff (Schaaf 2003). Im Allgemeinen versteht man darunter eine negativ bewertete subjektive Überempfindlichkeit gegenüber Schallreizen normaler Lautstärke, also unter 70–80 dB. Die Hyperakusis ist nicht mit einem Recruitment zu verwechseln, das ein objektiv dokumentierbares Phänomen einer Innenohrfunktionsstörung darstellt. Beim Recruitment werden überschwellig angebotene Reize auch vom schwerhörenden Ohr genauso laut wahrgenommen wie vom gesunden Ohr. Das Recruitment spiegelt ein eingeengtes Dynamikverhalten der Cochlea wider. Die Hyperakusis gewinnt mehr und mehr auch für Begutachtungen an Bedeutung. Nach heutiger Ansicht handelt es sich jedoch um ein rein psychisches Phänomen, objektivierbare organische Korrelate sind nicht zu erbringen. Damit stellt sich die Problematik noch schwieriger dar als für die Beurteilung des Tinnitus. Auch hier sollte der Rat eines Neuropsychiaters hinzugezogen werden.
Bewertung nach dem Sozialrecht Schwerhörigkeiten. Bekanntlich gehören laut SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu den Versicherungsfällen der gesetzlichen Unfallversicherung. Im Bereich der Schwerhörigkeiten handelt es sich um Knalltraumen, Explosionstraumen, Hörschäden, die nach Schädelverletzungen aufgetreten sind, und hauptsächlich um die Lärmschwerhörigkeit. Das Ergebnis der Begutachtung soll eine Einschätzung von GdB/MdE sein, der ab 20 Punkten zu einer Entschädigung berechtigt. Die Ermittlung der MdE erfolgt nach Tabellen, die mit den Versicherern vereinbart worden sind. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Leistungen des Hörorgans messbar sind, die Messwerte sich in Tabellen übertragen lassen und zu einer klaren MdE-Einschätzung führen.
Begutachtung privat versicherter Schäden Schwerhörigkeiten. Die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB), die letztlich auf privatrechtlicher Grundlage zustande kommen, sind 1961 abgeschlossen und 1988 und dann noch einmal 1994 geändert worden. Die Gültigkeit richtet sich nach dem Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages oder nach dem Zeitpunkt der Umstellung.
12
388
1
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Tab. 12.7. Hörschadenbewertung in der privaten Unfallversicherung (Invaliditätsgrad). Tabelle nach Burggraf (Erläuterungen im Text) 0‚5/10
1/10
2/10
3/10
4/10
5/10
6/10
7/10
8/10
9/10
9‚5/10
1/1
%
0
5
10
20
30
40
50
60
70
80
90
95
100
0
0,0
1,5
3,0
6,0
9,0
12,0
15,0
18,0
21,0
24,0
27,0
28,5
30,0
0‚5/10
5
1,5
3,0
4,5
7,5
10,5
13,5
16,5
19,5
22,5
25,5
28,5
30,0
31,5
1/10
10
3,0
4,5
6,0
9,0
12,0
15,0
18,0
21,0
24,0
27,0
30,0
31,5
33,0
4
2/10
20
6,0
7,5
9,0
12,0
15,0
18,0
21,0
24,0
27,0
30,0
33,0
34,5
36,0
3/10
30
9,0
10,5
12,0
15,0
18,0
21,0
24,0
27,0
30,0
33,0
36,0
37,5
39,0
5
4/10
40
12,0
13,5
15,0
18,0
21,0
24,0
27,0
30,0
33,0
36,0
39,0
40,5
42,0
5/10
50
15,0
16,5
18,0
21,0
24,0
27,0
30,0
33,0
36,0
39,0
42,0
43,5
45,0
6
6/10
60
18,0
19,5
21,0
24,0
27,0
30,0
33,0
36,0
39,0
42,0
45,0
46,5
48,0
7/10
70
210
22,5
24,0
27,0
30,0
33,0
36,0
39,0
42,0
45,0
48,0
49,5
51,0
7
8/10
80
24,0
25,5
27,0
30,0
33,0
36,0
39,0
42,0
45,0
48,0
51,0
52,5
54,0
9/‚10
90
270
28,5
30,0
33,0
36,0
39,0
42,0
45,0
48,0
51,0
54,0
55,5
57,0
9‚5/10
95
28,5
30,0
31,5
34,5
37,5
40,5
43,5
46,5
49,5
52,5
55,5
57,0
58,5
1,1
100
30,0
31,5
33,0
36,0
39,0
42,0
45,0
48,0
51,0
54,0
57,0
58,5
60,0
2 3
8 9 10 11 12 13 14 15
Der Unfallbegriff ist in der privaten Unfallversicherung anders definiert als in der gesetzlichen. Nicht nur von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse werden als Unfall gewertet, sondern auch durch eigene körperliche Tätigkeit verursachte wie z. B. plötzliche Kraftanstrengungen. Nicht unter den Versicherungsschutz fallen Berufs- und Gewerbekrankheiten. Bekanntlich soll bei Begutachtungen für eine private Unfallversicherung der Invaliditätsgrad bemessen werden. In der AUB sind einige feste Invaliditätsgrade angegeben, so für eine einseitige Taubheit 30%, für eine beidseitige Taubheit 60%. Teilweise Funktionsbeeinträchtigungen müssen in Bruchteilen, nicht in% angegeben werden. Dazu werden die von Burggraf (1989) erstellten Tabellen verwandt (. Tab. 12.7), die von prozentualen Hörverlusten ausgehen und dann eine Übertragung auf Invaliditätsgrade ermöglichen (Feldmann 2006).
Nach neuester Rechtssprechung gilt die Ausschlussklausel für Tinnitus in der privaten Unfallversicherung nicht mehr (Michel u. Brusis 2007). Das bedeutet, dass der Körperschaden Tinnitus in Zukunft zu berücksichtigen ist. Es sind auch aktuell Vorschläge für Invaliditätsgrade in der Bewertung von Tinnitus als Körperschaden für die private Unfallversicherung gemacht worden(Michel u. Brusis 2007). Die zu ermittelnden Invaliditätsgrade werden mit dem prozentualen Hörverlust in Verbindung gebracht.
> Die Gliedertaxe gilt also nicht nur für Gliedmaßen, sondern auch für das Hörvermögen.
Von manchen Autoren wird darauf Wert gelegt, zwischen Fahrereignung bzw. Fahrtauglichkeit einerseits und der Fahrsicherheit bzw. der Fahrtüchtigkeit andererseits zu trennen. Während die Fahrereignung eine zeitlich überdauernde Qualität darstellt, bezieht sich die Fahrsicherheit bzw. Fahrtüchtigkeit auf eine akute, zeitlich beschränkte Situation. Sowohl bei der Beurteilung der Fahrereignung wie der Fahrtüchtigkeit ist der HNO-ärztliche Gutachter gefragt, wenn Einschränkungen des Hörorgans oder des Gleichgewichts-/Orientierungssystems bestehen. Das zeitliche Kriterium sollte bei der endgültigen gutachterlichen Einschätzung unbedingt berücksichtigt werden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Einschränkung in der Berufsausübung Hörstörungen können in Ausnahmefällen Auswirkungen auf die Berufsausübung haben, beispielsweise bei Funkern, Toningenieuren oder Berufen mit Publikumsverkehr, und hier eine Berufsausübung unmöglich machen.
Fahrereignung
16 17 18 19 20
Tinnitus. Nicht in den Versicherungsschutz einbezogen sind krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen. Dieser Gesichtspunkt gewinnt v. a. bei der gutachterlichen Bewertung von Ohrgeräuschen (Tinnitus) erhebliche Bedeutung. Dies ist der Grund dafür, dass für besonders stark ausgeprägten Leidensdruck wegen Tinnitus eine gesonderte neuropsychiatrische Begutachtung erfolgen muss, um zu klären, ob es sich hier um krankhafte Störungen infolge einer psychischen Reaktion handelt.
12
389 12.2 Ohrerkrankungen
. Tab. 12.8. Ermittlung des prozentualen Hörverlustes aus dem Tonaudiogramm bei regelmäßigem Verlauf der Tongehörskurve nach Röser Tonhörvertust bei 1000 HZ p
Tonhörvertust bei 3000 HZ o
dB
0
10
20
30
40
50
0
0
0
5
15
25
35
10
0
0
10
20
30
40
50
20
0
5
15
25
35
45
55
65
30
0
10
20
30
40
50
60
70
80
40
5
15
25
35
45
55
65
75
85
93
50
10
20
30
40
50
60
70
80
90
95
100
60
15
25
35
45
55
65
75
85
93
95
100
70
20
30
40
50
60
70
80
90
95
100
100
80
25
35
45
55
65
75
85
93
95
100
100
90
30
40
50
60
70
80
90
95
100
100
100
100
35
45
55
65
75
85
93
95
100
100
100
Bei der Entscheidung über das Führen eines Fahrzeuges ist grundsätzlich zu berücksichtigen, ob das Fahrzeug zum Zwecke der Fahrgastbeförderung eingesetzt werden soll oder nicht. Während sowohl der beidseitig hochgradig Schwerhörige (≥60% Hörverlust) als auch der Gehörlose nicht in der Lage sind, ein Kraftfahrzeug für die Personenbeförderung zu führen, kann in den anderen Fällen die Fahrerlaubnis erteilt werden, wenn eine mindestens 3-jährige Fahrpraxis besteht. Eine einseitige Gehörlosigkeit oder eine einseitige hochgradige Schwerhörigkeit führen nur dann zu einer Leistungsbeeinträchtigung beim Führen eines Kraftfahrzeuges, wenn zusätzliche Störungen etwa von Seiten des visuellen oder vestibulären Systems vorhanden sind. In der Neuauflage der Begutachtungsleitlinien zur Fahrereignung wird explizit die Zweifrequenztabelle von Röser (. Tab. 12.8) als Grundlage zur Ermittlung des prozentualen Hörverlusts gefordert. Dass in diesem Fall die Tonschwellenaudiometrie und nicht die Sprachaudiometrie als Grundlage zur Ermittlung des Grades der Schwerhörigkeit benutzt wird, wird damit begründet, dass im Straßenverkehr das Sprachgehör weniger bedeutungsvoll ist als die Erkennung von Signalen (Tönen). Hervorzuheben ist, dass bei Hörgeräteträgern immer das Ergebnis der audiometrischen Untersuchungen ohne Hörgerät maßgebend ist, wobei auch hier im Gegensatz zu sonstigen gutachterlichen Grundsätzen nicht die Sprachaudiometrie, sondern die Tonschwellenaudiometrie wegen ihrer weitergehenden Erfassung von akustischen Signalen ausschlaggebend ist (BAST 2000).
60
70
80
90
100
12.2.2 Gleichgewichtsstörungen und Schwindel
Funktionelle Anatomie des Gleichgewichtssystems Das vestibuläre System besteht aus einem Vestibularapparat, in dem die Mechanorezeptoren zur Erfassung von Kopfbewegungen und der Position des Kopfes im Raum liegen, dem Vestibularnerv sowie zentralen Schaltstellen im Gehirn (Hamann 1994). Es dient damit der Orientierung im Raum, der Regulation von Blickbewegungen und der Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichtes. Bemerkenswert ist, dass keine dieser Funktionen vom vestibulären System allein erfüllt werden kann. Zur erfolgreichen Ausübung der Funktionen ist eine Kooperation mit anderen Systemen notwendig, v. a. mit dem visuellen und mit dem propriozeptiven System. Entscheidend für das Verständnis der Physiologie und der Pathophysiologie des vestibulären Systems ist die Tatsache, dass die Voraussetzung für das normale Funktionieren ein Tonusgleichgewicht in den Vestibulariskernen ist (. Abb. 12.10). Es lässt sich neurophysiologisch definieren durch die Ruheaktivität vestibulärer Neurone (statisch) und die neuronalen Reaktionen auf bestimmte Reize (dynamisch).
Pathophysiologische Grundmuster vestibulärer Störungen Die bei verschiedenen Krankheitsbildern auftretenden vestibulären Störungen lassen sich auf 4 pathophysiologische Grundmuster reduzieren (Hamann 1999): 5 einseitige Funktionseinschränkung, 5 einseitige Irritation,
390
Kapitel 12 · Sinnesorgane
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
. Abb. 12.10a-c. Schematische Darstellung des Tonusgleichgewichts, seiner Störungen und der Kompensation. a Im Normalzustand besteht ein Tonusgleichgewicht zwischen rechtem und linkem Vestibulariskerngebiet. b Im Fall des Vestibularisausfalls (rechts) erfolgt keine Informationsweitergabe an die Zentren. Das Tonusgleichgewicht verschiebt sich, die akuten Symptome Schwindel, Nystagmus und Ataxie treten auf. c Nach einer gewissen Zeit kommt es durch eine verstärkte Übermittlung der Signale von der linken Seite (dicker Pfeil) zu einem neuen Tonusgleichgewicht. Die anderen Sinnesorgane verstärken ihren Anteil (V vestibuläres System, O optisches System, P propriozeptives System)
5 Canalolithiasis (Auftreten freier Otolithen in der Endolymphe), 5 beidseitige Funktionseinschränkung. Einseitige Funktionseinschränkung
Bei einer einseitigen Funktionseinschränkung am peripheren vestibulären Rezeptorenapparat kommt es zu einer Asymmetrie der Informationsaufnahme, d. h. von der betroffenen Seite gelangen weniger Meldungen über Kopfbewegungen in die Zentren des vestibulären Systems (. Abb. 12.10). Als Folge kommt es zu den typischen klinischen Symptomen wie einem systematischen Schwindel, einem pathologischen Spontannystagmus zur gesunden Seite und einer Ataxie mit Abweichreaktionen zur betroffenen Seite. Im Verlauf eines Zeitraums, der individuell unterschiedlich ist, setzen in den Vestibulariskernen beider Seiten biologisch vorgegebene Erholungsvorgänge ein, die vestibuläre Kompensation. Sie wird ermöglicht durch eine Neuabgleichung des Tonusgleichgewichts zwischen den Vestibulariskerngebieten beider Seiten, die durch kommissurale Fasern verbunden sind. In ihrer Folge kommt es auch zu einem Rückgang der Symptome (. Abb. 12.10). Diese Kompensationsvorgänge können durch Trainingsmaßnahmen (»Training gegen Schwindel«), einem vestibulären Habituationstraining, gezielt gefördert werden (Hamann 1985). Einseitige Irritation
17 18 19 20
Das zentrale Tonusgleichgewicht kann auch durch eine Irritation eines Rezeptorenapparates, wie sie bei bestimmten Krankheitsbildern (z. B. Labyrinthitis, Morbus Menière) auftritt, asymmetrisch werden. Die klinisch auffallende Symptomatik ist prinzipiell der einer Unterfunktion gleich, verhält sich allerdings bezüglich der Seite spiegelbildlich dazu. Auch hier ist mit einer Wiederherstellung des Tonusgleichgewichtes zu rechnen, wenn nämlich der Reizzustand abklingt.
Canalolithiasis
Unter einer Canalolithiasis versteht man das freie Vorkommen von Otolithenpartikeln in einem der Bogengänge (Brandt et al. 1994). Als Folge einer Canalolithiasis (. Abb. 12.11) kommt es bei natürlichen Kopfbewegungen zu einer verstärkten Endolymphströmung, damit zu einer verstärkten Deflektion der Cupula und schließlich zu einer verstärkten Drehempfindung. Dem Patienten wird dies als kurze, heftige Drehschwindelattacke bei Kopfbewegungen bewusst. Es handelt sich um das Krankheitsbild des gutartigen Lagerungsschwindels (s. unten). Wenn die freien Otolithen den Bogengang verlassen haben, sei es spontan oder durch gezielte Befreiungsmanöver, treten die Schwindelattacken nicht mehr auf. Beidseitige Funktionseinschränkung
Eine seltene Sonderform vestibulärer Störungen ist eine beidseitige, aber symmetrische Funktionseinschränkung des periphervestibulären Apparates. Solange noch eine ausreichende Restfunktion vorhanden ist, fallen keine Beschwerden auf, da das zentrale Tonusgleichgewicht erhalten bleibt. Erst ein hochgradiger oder kompletter Funktionsverlust beider Vestibularapparate macht sich als allgemeine Unsicherheit mit ungerichteten Schwankungen und Schwierigkeiten bei der Blickfixation bemerkbar. > Der Verlauf und die Prognose hängen hauptsächlich davon ab, ob sich die Funktionsfähigkeit der vestibulären Rezeptoren erholt oder nicht. Die Kompensation durch andere Sinnesorgane im Sinne einer Substitution kann nur eine teilweise Erholung bewirken.
Diagnostik Anamnese > Kernstück der Untersuchung des vestibulären Systems bei Schwindelbeschwerden ist die Anamnese (Hamann 1992). So erlaubt die Feststellung eines systematischen Schwindels, also eines Schwindels mit Dislokationsgefühl, eine Zuordnung zu einer Störung im vestibulären System.
391 12.2 Ohrerkrankungen
. Abb. 12.11. Schematische Darstellung einer Canalolithiasis. a Die versprengten Otolithen liegen nahe der Cupula im Bogengang. b Bei einer Kopfbewegung kommt es zur Bewegung der versprengten Otolithen in der Endolymphe, zu einem verstärkten Endolymphfluss und zu einer verstärkten Abscherung der Haarzellen
a
b
Dagegen ist bei Schwindelbeschwerden ohne Dislokationsgefühl die Ursache außerhalb des vestibulären Systems zu suchen.
Aus der Art der systematischen Schwindelbeschwerden kann auf das betroffene Teilorgan rückgeschlossen werden. So spricht beispielsweise ein Drehschwindel in der horizontalen Ebene für eine Affektion des horizontalen Bogenganges, das Gefühl, im Boden zu versinken, eher für eine Störung des Otolithenapparates.
Ein besonders hoher Stellenwert kommt der zeitlichen Analyse der Schwindelbeschwerden zu (. Abb. 12.12). Aufgrund der bekannten pathophysiologischen Vorgänge kann ein Lagerungsschwindel wegen einer Canalolithiasis nur Sekunden dauern, ein Anfall der Menière-Krankheit Minuten bis Stunden, während der Schwindel aufgrund einer plötzlichen Funktionseinbuße am vestibulären Rezeptororgan über Tage anhält (Brandt et al. 2004). Auch wenn diese 3 genannten Krankheitsbilder allein schon etwa 90% aller peripher-vestibulären Erkrankungen
12
392
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Abb. 12.12a,b. Schematische Darstellung der typischen Zeitverläufe bei systematischem Schwindel. a Dauerschwindel bei Ausfall, b Anfallsschwindel bei Morbus Menière, c Sekundenschwindel bei gutartigem Lagerungsschwindel
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
ausmachen, lassen sich auch die seltener vorkommenden Schwindelerkrankungen meist durch gezielte Fragen diagnostizieren. Wegweisende Hinweise sind beispielsweise eine Ohrsekretion für eine chronische Otitis media, Druckerhöhung im Körper für das Entstehen einer Perilymphfistel, Schmerzen im Bereich des Ohrs für einen Zoster oticus, v. a. aber Unfälle für eine traumatische Genese. Von großer Bedeutung ist auch die Medikamentenanamnese. Wenn zusätzlich neurologische Symptome vorliegen, kann angenommen werden, dass es sich nicht um eine Läsion am peripher-vestibulären Rezeptor handelt, vielmehr liegt der Schaden in den zentralen Abschnitten des vestibulären Systems.
Untersuchungen der Blickmotorik
14 15 16 17 18 19 20
Die einzigen objektiven Krankheitszeichen für das Vorliegen einer Störung im vestibulären System sind pathologische blickmotorische Reaktionen. Sie sind willkürlich nicht zu beeinflussen und lassen sich, mit Hilfe der Elektronystagmographie oder Videookulographie dokumentiert, auch quantitativ analysieren.
Das wichtigste Symptom überhaupt für eine Störung der Blickmotorik ist das Auftreten eines Spontannystagmus (Hamann 1992). Unter einem Spontannystagmus versteht man die regelmäßige Abfolge von langsamen und schnellen Augenbewegungen in wechselnder Richtung (Sägezahnmuster; . Abb. 12.13). Durch bestimmte Provokationsmaßnahmen wie Kopfschütten, heftige ungerichtete Lagerungen oder Vibrationsreize kann man einen latenten Spontannystagmus aktivieren und sichtbar machen (»Provokationsnystagmus«). Er ist Ausdruck eines zentralen Ungleichgewichts. Ein physiologischer Nystagmus lässt sich durch bestimmte experimentelle Reizungen auslösen. So kann man durch thermische Reizung eines Ohres einen Nystagmus induzieren. Dieser Test ermöglicht eine seitengetrennte Beurteilung der peripheren Vestibularapparate. Die rotatorische Prüfung erlaubt eine Feststellung, inwieweit symmetrische Reizantworten trotz einer eventuell bestehenden peripheren Seitendifferenz zu symmetrischen Reizantworten führen. Diesem Test kommt bei der Abschätzung der vestibulären Kompensation eine große Bedeutung zu.
. Abb. 12.13. Beispiel für einen nach rechts schlagenden Spontannystagmus. Registrierung mit dem Elektronystagmographen (ENG)
393 12.2 Ohrerkrankungen
Die Auslösung eines optokinetischen Nystagmus, hervorgerufen durch das Vorbeiführen sich schnell bewegender Blickmuster, gibt Hinweise auf mögliche Störungen in den Blickzentren, spiegelt aber auch die vestibuläre Kompensationsleistung wider. Die Auslösung langsamer Blickfolgebewegungen wie der Pendelblickfolge dient der Prüfung des Systems der langsamen Augenbewegungen. Dieser Test ist hilfreich bei der Unterscheidung zwischen periphervestibulären Störungen (glatte Folgebewegungen!) und zentral-vestibulären Störungen (sakkadierte Folgebewegungen!).
nischen Zuständen – zu Abweichungen in den vestibulospinalen Prüfungen. > Dabei ist die Abweichung, also die Fallneigung oder die Drehtendenz, immer zur Seite des schwächer funktionierenden Vestibularapparates gerichtet.
Weitere vestibulospinale Prüfungen wie der Zeichentest, der Sterngang, der Finger-Nase-Versuch u. a. haben keine allgemeine Verbreitung gefunden, weil der vestibuläre Anteil an diesen Reaktionen nicht immer klar ersichtlich ist.
Vestibulospinale Prüfungen Auch wenn der Anteil des vestibulären Systems an spinalmotorischen Reaktionen gering ist und nur im akuten Stadium der vestibulären Läsion die Symptomatik deutlich sichtbar ist, gehören die vestibulospinalen Prüfungen zu einer vollständigen neurootologischen Untersuchung. Der Romberg-Stehversuch (. Abb. 12.14) prüft eine der motorischen Grundfunktionen des Menschen, den aufrechten Stand (statisches Gleichgewicht). Für Gutachten ist dies eine der Hauptfragestellungen, da erst die Fähigkeit, ruhig zu stehen, die Voraussetzung schafft, andere motorische Aufgaben des täglichen Lebens erfolgreich durchzuführen. Mit dem Unterberger-Tretversuch (. Abb. 12.14) und dem Blindgang (. Abb. 12.14) wird die Regulation des dynamischen Körpergleichgewichts, also ein Bewegungsablauf geprüft. Während beim Unterberger-Tretversuch der Patient auf der Stelle mit geschlossenen Augen und erhobenen Armen treten soll, hat er beim Blindgang die Aufgabe, auf einer gedachten Linie geradeaus zu laufen. Der Tretversuch zeigt empfindlicher als der Blindgang Störungen des vestibulären Systems an. Bei Störungen des peripheren Vestibularapparates kommt es – v. a. in der Akutphase, seltener bei chro-
Kommentar Ein Nachteil der vestibulospinalen Prüfungen besteht darin, dass sie sowohl aggraviert als auch simuliert werden können. Dies zu erkennen ist Aufgabe des erfahrenen Untersuchers, der den Verdacht stellt, wenn bestimmte Schwankungen und Richtungsabweichungen bei den verschiedenen Prüfungen nicht übereinstimmen oder wenn bestimmte Instabilitäten besonders auffällig dargeboten werden.
Es muss angemerkt werden, dass die Regulation des Körpergleichgewichts nur im geringen Maße vom vestibulären, im stärkeren Maße vom optischen und propriozeptiven System abhängt. Diese Tatsache ist der Grund dafür, dass eine peripher-vestibuläre Störung allein nur in Ausnahmefällen eine langanhaltende Ataxie bewirkt.
Vestibulär evozierte myogene Potenziale (VEMP) Auch die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale zählt letztlich zu den vestibulospinalen Prüfungen. Durch akustische Reize hoher Intensität kommt
. Abb. 12.14a-c. Vestibulospinale Prüfungen
a
b
c
12
394
Kapitel 12 · Sinnesorgane
1 2 3 4 5 6 7 8 9
. Abb. 12.15. Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP). a Normales Potenzialbild, der frühe Komplex zeigt eine intakte Sacculusfunktion an. b Ausfall der Sacculusfunktion, das frühe Potenzial ist nicht ableitbar
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
es zu einer Erregung des Sacculus, also eines Otolithenorgans, die zu einer spinalen Antwort in den Muskeln des Halses führt. Besonders deutlich ist diese Reaktion über dem M. sternocleidomastoideus ableitbar (. Abb. 12.15). Diese Methode ist seit 15 Jahren in die klinischen Untersuchungen eingeführt, sodass ausreichende Erfahrungen bei verschiedenen Krankheitsbildern vorliegen (Übersicht in Hamann u. Haarfeldt 2006). > Es ist heute allgemein anerkannt, dass die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale als objektive Messmethode eine seitengetrennte Beurteilung der Sacculusfunktion erlaubt. Damit kommt dieser Methode eine besondere Bedeutung in der Begutachtung vestibulärer Störungen zu, da nunmehr auch Störungen des Sacculus erkannt werden können, wie dies vorher nicht der Fall war.
Krankheitsdefinition Gutartiger Lagerungsschwindel (benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel) Der gutartige Lagerungsschwindel (»benign paroxysmal positioning vertigo«; BPPV) ist gekennzeichnet durch das wiederholte Auftreten von Drehschwindelattacken im Sekundenbereich, immer in Abhängigkeit von Kopfbewegungen. Als pathophysiologisches Korrelat für den gutartigen Lagerungsschwindel gilt das Vorkommen frei flot-
tierender Otolithen in einem oder mehreren Bogengängen als gesichert (. Abb. 12.11). Es handelt sich i. Allg. um eine Canalolithiasis (s. oben), ganz selten um eine Cupulolithiasis (Brandt et al. 2004). Eine der Hauptursachen für die Herauslösung von Otolithen aus ihrer Verankerung in der Otolithenmembran ist äußere Gewalteinwirkung. Dafür kommen Schädel-Hirn-Traumata verschiedener Intensität in Frage, von sehr leichten Kopfanpralltraumen mit und ohne Commotio cerebri bis hin zur Contusio cerebri mit Fraktur. Der Nachweis einer Fraktur ist nicht obligat, entscheidend ist, dass eine Gewalteinwirkung auf den Schädel stattgefunden hat. Hervorzuheben ist, dass bei diesem Krankheitsbild alle anderen vestbulären Befunde normal ausfallen. Lassen sich andere pathologische Befunde wie etwa ein pathologischer Spontannystagmus feststellen, liegt ein anderes vestibuläres Krankheitsbild vor. Beweisend für den Nachweis eines gutartigen Lagerungsschwindels ist ein bei gezielter Lagerung auszulösender charakteristischer Nystagmus, der der Reizung eines Bogenganges entsprechen muss. Nur bei Nachweis eines Lagerungsnystagmus kann auch die sichere Diagnose eines gutartigen Lagerungsschwindels gestellt werden. Der Ausdruck »gutartiger« Lagerungsschwindel verrät, dass dieses Krankheitsbild eine hohe Tendenz zur Selbstheilung hat. Sollte dies nicht eintreffen, so ist es durch gezielte Befreiungsmanöver praktisch immer möglich, die Canalolithiasis und damit die Schwindelsymptomatik zu beseitigen. Die erfolgreiche Behandlung schließt allerdings nicht das Wiederauftreten von Rezidiven aus, die sich allerdings gleichfalls durch Befreiungsmanöver gut behandeln lassen. Fragen zum Zusammenhang
Auch wenn der gutartige Lagerungsschwindel, also die Canalolithiasis, idiopathisch vorkommen kann, ist die traumatische Genese aufgrund der bekannten Pathophysiologie dieses Krankheitsbildes am ehesten einleuchtend. Bei nachgewiesenem Schädel-Hirn-Trauma, auch beim sog. Schleudertrauma, ist bei typischer Beschwerdeschilderung und einem nachgewiesenen Lagerungsnystagmus ein Zusammenhang zwischen Trauma und den Schwindelbeschwerden anzunehmen. Hervorzuheben ist, dass, anders als bei den übrigen vestibulären Störungen, kein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Auftreten der Beschwerden bestehen muss. Vielmehr ist es sogar charakteristisch, dass erst in einem deutlichen zeitlichen Intervall von mehreren Tagen, Wochen, ja Monaten der Lagerungsschwindel auftritt. Dieses Phänomen erklärt sich dadurch, dass eben ein Lagerungsschwindel, dann auch nachweisbar durch einen Lagerungsnystagmus, sich erst dann bemerkbar macht, wenn versprengte Otolithen eben in einen der Bogengänge gelangt sind. Der
395 12.2 Ohrerkrankungen
Zeitraum dafür kann unterschiedlich lang sein (Hamann 2006).
Morbus Menière Die Menière-Erkrankung ist charakterisiert durch die klassische Symptomtrias 5 anfallsweise auftretender systematischer Schwindel, fast immer ein Drehschwindel, mit einer Dauer von Minuten bis Stunden, 5 Innenohrschwerhörigkeit und 5 Tinnitus. Nicht selten ist diese Trias begleitet von einem Druckgefühl im befallenen Ohr. Beim Morbus Menière handelt es sich nach heutigem Verständnis um einen durch einen Endolymphhydrops ausgelösten Symptomenkomplex, der auf immunologische Reaktionen des Innenohrs zurückzuführen ist (Hamann u. Arnold 1999). Es ist denkbar, dass die letzlich entscheidende Endolymphresorptionsstörung, bedingt durch die Fibrosierung der Endolymphsackinnenauskleidung, auch traumatisch entstehen kann. Die klinische Symptomatik unterscheidet sich dann nicht vom idiopathischen Morbus Menière. Ein pathophysiologisches Modell (Schuknecht 1993) erklärt den Menière-Anfall selbst dadurch, dass es durch einen Überdruck im Endolymphraum zu einem Platzen der Reissner-Membran und damit zu einer Vermischung von Endolymphe und Perilymphe kommt. Die so entstandene Kaliumintoxikation an den Sinneszellen führt zu einer maximalen Depolarisierung und ist der eigentliche Auslöser der Anfallbeschwerden. Nach der Druckentlastung kommt es, am Anfang der Erkrankung fast immer, zu einer Vernarbung der Reissner-Membran und damit zu einer Entmischung von Endolymphe und Perilymphe und Wiederherstellung der physiologischen Ionenverteilung. Diese Vorgänge erklären auch die symptomfreien Intervalle der Erkrankung, in denen keine krankhaften Befunde erhoben werden können. Die Diagnosestellung gründet sich primär auf die typische Anamnese, erst sekundär auf die neurootologischen Befunde, die stark variieren. Dem besonderen Verlauf dieser Erkrankung trägt eine inzwischen weltweit anerkannte Einteilung der Amerikanischen HNO-Gesellschaft in Diagnosesicherheitsgrade Rechnung. Sie führt eine Diagnosesicherung nach Wahrscheinlichkeitsabstufungen durch (Übersicht).
Diagnosesicherheitsgrade des Morbus Menière der Amerikanischen HNO-Gesellschaft 5 Bewiesen – Sicherer Morbus Menière mit histopathologischer Bestätigung 5 Sicher (Trias): – ≥2 Schwindelanfälle von wenigstens 20 Minuten Dauer – Wenigstens einmal audiometrisch dokumentierter Hörverlust – Tinnitus oder Druckgefühl 5 Wahrscheinlich – Einmaliger Schwindelanfall – Wenigstens einmal audiometrisch dokumentierter Hörverlust – Tinnitus oder Druckgefühl 5 Möglich – Schwindelepisode ohne Hörverlust – Bleibende Innenohrschwerhörigkeit oder fluktierendes Gehör mit Gleichgewichtsstörungen ohne definierte Anfälle
Noch einmal sei hervorgehoben, dass es auch durch Traumen zu Umbauvorgängen an der Innenauskleidung des Saccus endolymphaticus bis hin zu einer Fibrosierung kommen kann, die dann die Rückresorption der Endolymphe erheblich beeinträchtigt. Auch hier steht der Endolymphhydrops am Ende der Entwicklung. Eine Heilung von der Menière-Erkrankung ist nicht möglich. Mit medikamentösen oder auch chirurgischen Maßnahmen versucht man, den Krankheitsverlauf zu beeinflussen. In vielen, individuell nicht voraussagbaren Fällen kommt die Krankheit von allein zum Stillstand, sie brennt aus.
Neuritis vestibularis (Neuropathia vestibularis) Mit einer Neuritis vestibularis bezeichnet man die einseitige Funktionseinschränkung des peripheren Anteils des vestibulären Systems mit plötzlichem Auftreten heftigster Schwindelsymptome. Da sich die Indizien für eine entzündliche Genese, meist als Folge einer viralen Infektion, dieses Krankheitsbilds häufen, setzt sich vermehrt der Begriff Neuritis vestibularis durch. Klinisch ist die Neuritis vestibularis durch einen systematischen Schwindel (fast immer ein Drehschwindel) charakterisiert, der meist plötzlich einsetzt, über Tage anhält, aber von sich aus eine spontane Erholung aufweist. Es handelt sich um ein monosymptomatisches Krankheitsbild (Brandt et al. 2004). Begleitet wird der akute Schwindel von einem pathologischen Spontannystagmus, der zur gesunden Seite gerichtet ist. Die Unterfunktion oder der Ausfall der betroffenen Seite lassen sich durch die thermische Prüfung si-
12
396
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Sinnesorgane
chern. Die zentrale Erholung kann man anhand der rotatorischen Tests, die dann mehr oder weniger symmetrisch ausfallen, verfolgen. Die vestibulospinalen Prüfungen zeigen nur in der akuten Phase pathologische Abweichungen. Die Drehneigung im Romberg-Stehversuch sowie die Gangabweichung im Unterberger-Tretversuch sind zur Seite der Unterfunktion gerichtet. Zu beachten ist, dass sich die vestibulospinalen Reaktionen schnell, d. h. innerhalb von 2 Tagen normalisieren können. Das Therapieziel in der Behandlung der Neuritis vestibularis richtet sich auf die Erlangung einer ausreichenden vestibulären Kompensation. Dies erreicht man am besten durch ein vestibuläres Habituationstraining. Fragen zum Zusammenhang
Die Zusammenhangsfrage stellt sich nicht, das Krankheitsbild muss aber von traumatisch verursachten Funktionseinschränkungen abgegrenzt werden, die dieselbe Symptomatik besitzen.
Traumatisch verursachte Neuropathia vestibularis Gewalteinwirkungen auf den Schädel können zu unterschiedlichen Auswirkungen auf das vestibuläre System führen. So kann es am Rezeptorenapparat des Sacculus oder des Utriculus zu einer Loslösung von Otolithen aus der Otolithenmembran mit anschließender Verschleppung in die Bogengänge kommen (BPPV; s. oben). Es kann aber auch eine mechanische Schädigung der vestibulären Sinneszellen selbst auftreten. Unter den laterobasalen Frakturen, die den inneren Gehörgang erreichen, sind bei Längsbrüchen durch ein traumatisches Ödem oder ein Hämatom Funktionseinschränkungen des Vestibularnervs möglich, bei Querbrüchen sogar Zerreißungen des Nervs mit Deafferentierung des Vestibularapparates von seinen Zentren. Während sich bei Längsbrüchen die vestibuläre Funktion meist erholt, ist dies bei Querbrüchen seltener der Fall, zumal wenn es zu einer kompletten Zerreißung des Nervs gekommen ist. Diskutiert wird auch die Entstehung eines endolymphatischen Hydrops durch Traumen, der sich unter dem klinischen Bild des Morbus Menière äußert. Man nimmt an, dass traumatisch freigesetzte Eiweißkörper oder Zellschutt an der Auskleidung des Saccus endolymphaticus immunologische Reaktionen auslösen. Fragen zum Zusammenhang
Mechanische Gewalteinwirkungen auf den Schädel können zu Läsionen der vestibulären Haarzellen, aber auch zu Läsionen am Vestibularnerv wie Nervenfaserquetschungen durch Ödeme oder Hämatome, sogar zu Zerreißungen des Nervs führen. Das Beschwerdebild stimmt mit dem der Neuritis vestibularis überein, ist jedoch durch ein bekanntes Trauma und den engen zeitlichen Zusammenhang zu diesem leicht abzugrenzen. Hier ist für die Beur-
teilung wichtig, dass die Schwindelbeschwerden in einem zeitlich sehr engen Zusammenhang mit dem Trauma bemerkt wurden, meist schon nach Wiedererlangen des Bewusstseins. Treten die Schwindelbeschwerden aber erst mehrere Wochen nach dem Trauma auf, so ist hier die Zusammenhangsfrage eher zu verneinen. Nur für den gutartigen Lagerungsschwindel gilt, dass zwischen Unfallereignis, der eigentlichen Ursache, und dem Auftreten der ersten Symptome unterschiedlich lange beschwerdefreie Zeiträume vorkommen. Zu Auswirkungen auf die zentralen Nervenkerne und Bahnen des vestibulären Systems kommt es je nach Intensität der Gewalteinwirkung als Commotio cerebri oder Contusio cerebri. Wegweisend für die Diagnose ist auch hier die Anamnese einerseits und der Nachweis zentralvestibulärer oder anderer neurologischer Zeichen andererseits.
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Funktionseinbußen am Rezeptor können sich wie bei der Neuropathia vestibularis spontan erholen, allerdings geschieht dies eher selten. Entscheidend für den Verlauf der klinischen Symptomatik ist die zentrale Kompensation, die biologisch vorgegeben ist, in manchen Fällen bereits spontan ausreichend erfolgt, meist aber durch aktive Übungsprogramme unterstützt werden muss. Auch für diese Störungen sind die Therapieergebnisse gut, die Prognose ist auch langfristig günstig, wenn keine zusätzlichen zentralen Läsionen vorliegen. Läsionen der zentralen vestibulären Bahnen erholen sich langsamer als periphere, in manchen Fällen überhaupt nicht. Kompensationsfördernde Behandlungsmaßnahmen sind bei diesen Patienten weniger erfolgreich, da ja die für die Kompensation wichtigen Strukturen selbst betroffen sind. Die Prognose ist als wesentlich ungünstiger einzustufen als bei peripher-vestibulären Schäden. Halswirbelsäule und Schwindel. Können Halswirbelsäu-
lendistorsionen zu Schwindel führen? Auffallenderweise wird kontrovers fast nur noch in der deutschen HNOHeilkunde diskutiert, ob krankhafte Veränderungen an der HWS als Ursache für Schwindelbeschwerden in Frage kommen. Diese Streitfrage ist nicht allein für die klinische Praxis – eine beim Patienten richtig diagnostizierte Störung soll ja erfolgreich behandelt werden – von großer Bedeutung, sondern gerade in der Begutachtung von Schwindelbeschwerden, die nach Unfällen mit Halswirbelsäulendistorsionen angegeben werden. Falsch erkannte Krankheitsbilder und Zusammenhänge helfen dem Patienten nicht, sondern schädigen ihn und den Kostenträger. Ausgangspunkt für die Annahme, dass Schwindelbeschwerden von HWS-Veränderungen verursacht sein könnten, mag wohl die von Patienten häufig vorgebrachte Klage gewesen sein, dass bestimmte Schwindelbeschwerden v. a. bei Kopfbewegungen aufträten. Obwohl natürlich
397 12.2 Ohrerkrankungen
gerade die Vestibularapparate bei Kopfbewegungen aktiviert werden, richtete sich das Interesse auch auf die bei Kopfbewegungen aktivierte Halswirbelsäule und auf die in ihr reichlich vorhandenen Muskel- und Sehnenrezeptoren. Unterstützung bekamen diese Überlegungen, als neuroanatomische Verbindungen und neurophysiologische Beziehungen zwischen HWS-Rezeptoren und den Vestibulariskernen bekannt wurden. Besonders favorisiert wurde die Hypothese des »cervicogenen Schwindels« von Nicht-HNO-Ärzten (Wolff 1983) und Physiotherapeuten, die sich häufig mit dem Beschwerdebild des Schwindels konfrontiert sehen, aber weder über vertiefte Kenntnisse des vestibulären Systems noch über die Möglichkeit einer gründlichen Vestibularisdiagnostik verfügen. Nach der Analyse des vorliegenden Datenmaterials zum sog. HWS-Schwindel muss festgestellt werden, dass die vorgebrachten Befunde im Sinne einer »evidence based medecine« nicht als Beleg für die Existenz eines »HWS-Schwindels« ausreichen (Hamann 1985). Die Unzulänglichkeiten der HWS-Schwindelhypothese beginnen bereits bei der Phänomenologie dieser Schwindelform. Während sich beispielsweise ein Drehschwindel mühelos auf eine Störung im Bogengangsystem, dem für die Drehempfindung zuständigen Rezeptorenapparat, zurückführen lässt, ist bis heute keine Schwindelform genau definiert, die auf eine HWS-Störung zurückzuführen ist. Die in der Halswirbelsäule liegenden Rezeptoren informieren über Stellung und Bewegung des Rumpfes zum Kopf und umgekehrt. Daher müssten Fehlinformationen als Bewegungsillusionen dieser Qualität angegeben werden, was allerdings nie stattfindet. Auch das zwar grundsätzlich richtige Argument der nachgewiesenen Verbindungen zwischen HWS-Rezeptoren und Vestibulariskernen kann nicht für einen Beleg eines »HWS-Schwindels« benutzt werden, da es nur die qualitative Seite berücksichtigt, die quantitative jedoch außer Acht lässt. Denn die Repräsentation zervikaler Afferenzen in den Vestibualriskernen ist deutlich geringer als die der vestibulären oder optokinetischen Reize (Hamann 1994). Das Hauptmanko der HWS-Schwindel-Hypothese ist das Fehlen einer objektiven Nachweismöglichkeit von Störungen der HWS-Rezeptoren. Röntgenuntersuchungsverfahren haben ebenso versagt wie objektive Messmethoden der Durchblutung oder funktionelle Untersuchungen (PET). Vor 25 Jahren wurde ein Zervikalnystagmus als Nachweis für einen sog. HWS-Schwindel angesehen (Hülse 1983). Auch dieses Argument kann nicht mehr als Beleg für einen zervikogenen Schwindel akzeptiert werden, da bereits 1988 gezeigt wurde, dass es sich um ein auch bei Gesunden vorkommendes Phänomen handelt (Holtmann 1988). Die von Manualtherapeuten immer wieder diagnostizierten Bewegungseinschränkungen oder Verspannungen
im Bereich der Halswirbelsäule mögen zwar subjektiv richtig sein, sind jedoch nicht objektivierbar und werden von unterschiedlichen Untersuchern auch unterschiedlich beurteilt. Außerdem ist damit nicht die Frage beantwortet, warum ein solcher Befund zu Schwindelbeschwerden führen soll, zumal Patienten mit einem Klippel-Feil-Syndrom, der kompletten Blockierung der oberen HWS, also der ausgeprägtesten Form einer Blockierung, nicht über Schwindel klagen. Sicher ist nicht einmal, ob es bei vielen Traumen wie einem Auffahrunfall zu HWS-Distorsionen kommt und ob sie bleibende Schädigungen der in der HWS gelegenen Rezeptoren nach sich ziehen. Auch die Vorstellung des »Schleudertraumas« und ihrer funktionellen Folgen ist längst widerlegt (1998). Hinzu kommt, dass die von den Patienten geklagten Beschwerden meist sehr uncharakteristisch sind, aber unter dem Begriff »Schwindel« subsumiert werden. Reizbarkeit, verminderte Belastung und Erschöpfungssyndrome sind nur schwer mit den Aufgaben der Halswirbelsäulenrezeptoren in Zusammenhang zu bringen (Poeck 1999). Von neurologischer Seite wird immer wieder darauf hingewiesen (Poeck 1999), dass uncharakteristische Befindlichkeitsstörungen nach traumatischen HWS-Distorsionen nicht mit Schwindel gleichgesetzt werden dürfen, dass die manchmal postulierten Schädigungsmechanismen neueren unfallmechanischen Untersuchungen ebenso widersprechen wie die bekannten Tatsachen der Physiologie und Neurologie. Vor allem aber ist zu kritisieren, dass viele der eingesetzten Untersuchungsmethoden nicht validiert sind und die von den Autoren gezogenen Schlussfolgerungen nicht zulassen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Quantitative Bewertung von Gleichgewichtsstörungen und Schwindel. Bei der quantitativen Bewertung von
Gleichgewichtsstörungen und Schwindel stellt sich das Problem, neben dem subjektiven Leidensdruck die tatsächliche Beeinträchtigung bestimmter Leistungen im alltäglichen Leben zahlenmäßig zu erfassen. In Deutschland haben sich überwiegend die Tabellen nach Stoll (. Tab. 12.9) durchgesetzt, die zum einen die Intensitätsstufen der Schwindelbeschwerden und zum anderen die subjektiven Angaben in Grad der Belastungsstufen für das vestibuläre System ermitteln. Schließlich werden in einer weiteren Tabelle (. Tab. 12.10) die Intensitätsstufen mit den Belastungsstufen zusammengeführt und so ein GdB/MdE-Wert berechnet. Bei der Anwendung dieser Tabellen muss berücksichtigt werden, dass eine vestibuläre Störung durch eine ausführliche Vestibularisprüfung objektiviert werden muss. Normabweichungen bei den apparativ erhobenen neurootologischen Untersuchungen allein bedingen noch keinen GdB/MdE.
12
398
1 2
Kapitel 12 · Sinnesorgane
. Tab. 12.9. Tabelle zur Bestimmung der Belastungsstufen nach Stoll Stufen
Belastung
Attribute
Beispiele
0
Keine Belastung
1
Niedrige Belastung
Alltäglich, ständig und kaum vermeidbar
Langsame Kopf- und Körperbewegungen, drehen im Bett, aufrichten aus sitzender oder liegender Haltung, leichte Arbeiten im Sitzen (schreiben)
2
Mittlere Belastung
Alltäglich, häufig und schwer vermeidbar
Waschen und anziehen, bücken und aufrichten, gehen, treppen steigen und leichte Arbeiten im Stehen
3
Hohe Belastung
Nicht alltäglich und selten vermeidbar, sofern eine derartige Belastung nicht mit der Ausübung des Berufes verbunden ist
Heben von Lasten, gehen im Dunkeln, Auto fahren (nachts, im Nebel oder auf unebener Straße), fahren auf vibrierenden Maschinen (Bagger)
Ruhelage
3 4 5 6 7
. Tab. 12.10. GdB/MdE für vestibuläre Störungen der Gleichgesichtsregulation. Tabelle zur Bestimmung des GdB/MdE durch Zusammenführung von Intensität der Schwindelbeschwerden und Belastungsstufen nach Stoll Belastungsstufe
GdB/MdE Ruhelage
Niedrige Belastung
Mittlere Belastung
Hohe Belastung
Sehr hohe Belastung
Heftiger Schwindel, vegetative Erscheinungen
4
100
80
60
40
30
Sehr starker Schwindel, erhebliche Unsicherheit
3
80
60
40
30
20
Starke Schwindelbeschwerden, deutliche Unsicherheit
2
60
40
30
20
10
11
Geringe Schwindelbeschwerden, leichte Unsicherheit
1
40
30
20
10
<10
12
Weitgehend beschwerdefrei, (mit und ohne objektivierbare Symptome)
0
<10
<10
<10
<10
8 9 10
13 14 15 16 17 18 19 20
Begutachtung von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen für die gesetzliche Unfallversicherung
Störungen im vestibulären System, die zu Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen führen, lassen sich nicht so klar quantifizieren wie Störungen im auditorischen System. Das liegt daran, dass nicht die Restfunktion eines Rezeptororgans für die Funktion entscheidend ist, sondern ein zentrales Tonusgleichgewicht, das von peripheren Afferenzen unterhalten wird. So treten bei einer beidseitigen, aber symmetrischen Funktionseinschränkung weder Schwindel noch Gleichgewichtsstörungen auf. Aber selbst bei einem kompletten Ausfall einer Seite kann sich ein neues Tonusgleichgewicht ausbilden, das dann zu einer Beschwerdefreiheit, zumindest unter Ruhebedingungen, führt.
Kommentar Die Vestibularisprüfung kann daher nur die Voraussetzungen für die Beantwortung der Frage liefern, ob eine vestibuläre Störung vorliegt und wo sie lokalisiert ist, d. h. ob ein organisches Korrelat für einen systematischen Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen besteht.
Für die GdB/MdE-Einschätzung finden meist die Vorschläge von Stoll Anwendung, die Intensitätsabstufungen des Schwindelgefühls und verschiedener Belastungssituationen (Belastungsstufen) zusammenführen (. Tab. 12.9 und 12.10). Es sei hier besonders hervorgehoben, dass es sich um eine rein subjektive Einschätzung handelt, die naturgemäß nur willkürlich vom Gutachter vorgenommen werden kann. Es ist daher jedem Gutachter vorbehalten, seine Einschätzung der Behinderung in die GdB/MdE-
399 Literatur
Bewertung einzubringen, zumal die vestibulospinalen Reaktionen, auf die sich die Vorschläge von Stoll hauptsächlich stützen, aggraviert und simuliert werden können.
Begutachtung privat versicherter Schäden Besonderheiten bei der Begutachtung von Schwindel und Gleichgewichtsstörungen für die private Unfallversicherung. Die für eine GdB/MdE-Einschät-
zung entworfenen Tabellen von Stoll sind auch als Grundlage für die Bemessung des Invaliditätsgrades anzuwenden. Da Schwindel und Gleichgewichtsstörungen nicht listenmäßig in der AUB erfasst sind, kann der Invaliditätsgrad nur anhand einer »abstrakten Gliedertaxe« ermittelt werden. Während noch in der AUB 61 die berufliche Tätigkeit des Versicherten eine Rolle spielte, wird der Invaliditätsbegriff in der AUB 88 und in der AUB 94 ohne Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation so definiert:
»
Für andere Körperteile und Sinnesorgane bemisst sich der Invaliditätsgrad danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. Dabei sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
«
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Einschränkung in der Berufsausübung Schwindel führt – eher als Hörstörungen – zu einer Einschränkung in der Ausübung bestimmter Berufe. Dazu zählen alle Tätigkeiten, die besondere Anforderungen an den Gleichgewichtssinn stellen, also ein intaktes vestibuläres System voraussetzen. Immer dann, wenn Schwindelbeschwerden im engeren Sinne, Gleichgewichtsstörungen oder Taumeligkeitsgefühl anfallsweise (wie bei der Menière-Erkrankung) oder als Dauerbeschwerden (wie nach einem Vestibularisausfall) vorkommen, dürfen Berufe mit Sturzgefahr nicht ausgeübt werden. Darin eingeschlossen sind Arbeiten auf Gerüsten, in großer Höhe und auf Leitern, aber auch unter Wasser (Taucher).
Fahrereignung Bei Störungen des vestibulären Systems sind die Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeuges strenger zu stellen als bei Hörschäden. So stellen die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung der Bundesanstalt für Straßenwesen fest (2000):
»Wer unter ständigen oder anfallsweise auftretenden Störungen des Gleichgewichts leidet, ist nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen (d. h. Fahrzeuge zur Fahrgastbeförderung und für andere Zwecke) gerecht zu werden .
«
Damit ist v. a. der Morbus Menière angesprochen, in gewissem Maß auch der gutartige Lagerungsschwindel, wenn er nicht durch Befreiungsmanöver erfolgreich behandelt worden ist.
Bei der ärztlichen Beurteilung sind immer die Schwindelbeschwerden einerseits und spontane oder durch Provokation auslösbare Symptome wie ein Nystagmus andererseits zu berücksichtigen. Dabei haben die nachgewiesenen Symptome einen höheren Stellenwert als die subjektiven Beschwerden. Zeigen bei Fehlen subjektiver Beschwerden, spontaner Zeichen oder Provokationssymptome allein die experimentellen Prüfungen pathologische Auffälligkeiten, so bedeutet dies eine Einschränkung beim Fahren unter erschwerten Bedingungen (z. B. einspurige Fahrzeuge). Ein besonderes Problem stellen beidseitige Funktionseinschränkungen des Vestibularorgans (bilaterale Vestibulopathie) dar. Während im Fall einer einseitigen vestibulären Läsion gute Kompensationsmöglichkeiten bestehen, trifft dies für den beidseitigen Vestibularisaufall nicht zu. Hier bestehen sie nur in der Zuhilfenahme visueller und propriozeptiver Afferenzen. Das bedeutet, dass bei Dunkelheit erhebliche Einschränkungen der Orientierung auftreten. Damit ist die Fahrsicherheit hochgradig beeinträchtigt. Folglich kommen die oben erwähnten Überlegungen zur Anwendung.
Literatur
Literatur zu Kap. 12.1 Burggraf H, Burggraf A (1994) Grundlagen der augenärztlichen Begutachtung in der Bundesrepublik Deutschland. Gustav Fischer, Suttgart New York Gramberg-Danielsen et al. (2005) Richtlinien und Untersuchungsanleitungen. In: Berufsverband der Augenärzte Deutschland e. V. (Hrsg) Düsseldorf Lachenmayr B (1995) Sehen und gesehen werden: Sicher unterwegs im Straßenverkehr. Shaker, Aachen Lachenmayr B (2003) Empfehlung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft und des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands zur Fahrereignungsbegutachtung für den Straßenverkehr; Anleitung für die augenärztliche Untersuchung und Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, 3. Aufl. DOG, München Düsseldorf Pape R, Blankenagel A, Kaiser J (1976) Berufswahl und Auge: die Berufswahl Sehgeschädigter. 4. Aufl. Enke, Stuttgart Sachsenweger R (1976) Augenärztliche Begutachtung. Gustav Fischer, Suttgart New York
Literatur zu Kap. 12.2 AAO-HNS (1995) Guidelines für the evaluation of therapy in Menière’s Disease. Otolaryngol Head Neck Surg 113:181–185 Anastasopoulos D, Mergner T (1982) Canal neck interaction in vestibular nuclear neurons of the cat. Exp Brain Res 46:269–280 BAST (2000) Begutachtungsrichtlinien zur Kraftfahrereignung. Verlag für neue Wissenschaft, Bremerhaven Berghaus G, Brenner-Hartmann J (2007) »Fahrsicherheit« und »Fahrereignung« – Determinanten der Verkehrssicherheit. In: Madea B, Mußhoff F, Berghaus G (Hrsg) Verkehrsmedizin. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 123–136 Boenninghaus H-G, Röser D (1958) Prozentuale Hörverlustbestimmung des Sprachgehörs und Festsetzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Laryngol Rhinol Otol 37:719–738
12
400
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 12 · Sinnesorgane
Böhme G, Welzl-Müller K (2005) Audiometrie 5. Aufl. Huber, Bern Bootz F (2007) Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit. In: Madea B, Mußhoff F, Berghaus G (Hrsg) Verkehrsmedizin. Deutscher Ärzteverlag, Köln, S 238–250 Brandt T, Steddin S, Daroff RB (1994) Therapy für benign paroxysmal positioning vertigo, revisited. Neurology 44:796–800 Brandt T, Dieterich M, Strupp M (2004) Vertigo. Steinkopff, Darmstadt Brusis T, Mehrtens G (1981) Vor- und Nachschaden bei Lärmschwerhörigkeit. Laryngol Rhionl Otoal 60:168 Burggraf H (1989) Beurteilung von Hörschäden in der privaten Unfallversicherung. HNO 37:269–275 Castro HM, Kügelgen B, Ludolph E, Schröter F (1998) Das »Schleudertrauma« der Halswirbelsäule. Enke, Stuttgart Feldmann H (1988) Die Problematik der quantitativen Bewertung von Hörstörungen in der Begutachtung. Ein neuer Vorschlag zur Berechnung des prozentualen Hörverlustes. Laryngol Rhinol Otol 67:319–325 Feldmann H (2006) Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes, 6. Aufl. Thieme, Stuttgart Fredrickson JM, Schwarz D, Kornhuber HH (1966) Convergence and interaction of vestibular and deep somatic afferents upon neurons in the vestibular nuclei of the cat. Acta Otolaryngol 61:168–188 Hamann, K.-F (1985) Kritische Anmerkungen zum sogenannten zervikogenen Schwindel. Laryngol Rhinol Otol 64: 156 – 157 Hamann KF (1987) Training gegen Schwindel. Springer, Berlin Heidelberg New York Hamann K-F (1992) Leitfaden der Audiometrie für Arzthelferinnen. 2. Aufl. Biermann, Zülpich Hamann K-F (1992) Screeninguntersuchung bei Schwindel, 2. Aufl. Biermann, Zülpich Hamann KF (1994) Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems. Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis (Hrsg. Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E) 260–297. Thieme Stuttgart New York Hamann K-F (1999) Grundlagen für die Begutachtung von Schwindelerscheinungen: Pathophysiologie, typische Beschwerden und okulomotorische Symptome. Med Sach 95:177–180 Hamann K-F (2006) Benign paroxysmal positioning vertigo: A disease explainable by inner ear mechanics. ORL 68:329–333 Hamann K-F, Arnold W (1999) Menière’s disease. In: Vestibular dysfunction and its therapy (Ed. U. Büttner), Adv. Otorhino-laryngol. Karger Basel vol 55: 137–168 Hamann K-F, Haarfeldt R (2006) Vestibulär evozierte myogene Potenziale. HNO 54:415–428 Holtmann S (1988): Die Analyse zerviko-okulärer Reaktionen unter quantifizierten Reizbedingungen. Habil Schrift LMU München Hülse, M (1983) Die zervikalen Gleichgewichtsstörungen. Springer, Berlin Heidelberg New York Janssen T (2000) Otoakustische Emissionen. In: Lehnhardt E (Hrsg) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl. Springer, Berlin 79–107 Janssen T (2005) Diagnostik des cochleären Verstärkers mit DPOAEWachstumsfunktionen. HNO 53:121–133 Königsteiner Merkblatt (1996) 4. überarbeitete Aufl. Lehnhardt E (2000) Praxis der Audiometrie, 8. Aufl. Springer, Berlin Liberman MC, Dodds LW (1987) Acute ultrastructural changes in acoustic trauma: serial-section reconstruction of sterocilia and cuticular plates. Hear Res. 26:45–64 Meyer J, Gummer AW (2000) Physiologische Auswirkungen einer Zerstörung der Tip-Links kochleärer Haarsinneszellen. HNO 48:383–389 Michel O, Brusis T (2007) Invaliditätsgrade in der Bewertung von Tinnitus als Körperschaden in der privaten Unfallversicherung. Versicherungsmedizin 59: 73–80 Poeck K (1999) Wieweit können neurootologische Untersuchungen Schwindelphänomene nach HWS-Distorsion belegen? Med Sach 95:181–186
Röser D (1973) Das Tonaudiogramm als Grundlage für die MdE-Skala. Laryngol Rhinol Otol 52: 666–673 Schaaf, H (2003) Hyperakusis, Phonophobie und Recruitment. HNO 51: 1005- 1011 Schuknecht HF (1993) Pathology of the ear, 2nd. edn. Lea & Febiger, Philadelphia Stoll W (1979) Die Begutachtung vestibulärer Störungen. Laryngol Rhinol Otol 58:509 Weinaug P (1984) Die Spontanremission des Hörsturz. HNO 32:346– 351 Wolff, H.-D.: Neuro-physiologische Aspekte der manuellen Medizin. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo, Springer-Verlag 1983 Zenner HP (1994) Physiologische und biochemische Grundlagen des normalen und gestörten Gehörs. In: Helms J (Hrsg) Oto-RhinoLaryngologie in Klinik und Praxis, Bd. 1, 81–231 Zenner HP (1998) Eine Systematik für Entstehungsmechanismen von Tinnitus. HNO 46:699–704
Internetadressen Internetadressen zu Kap. 12.1 Berufsverband der Augenärzte Deutschlands – BVA www.augeninfo.de Informationen zu Verkehrsophthalmologie Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft – DOG www.dog.org Informationen zu Verkehrsophthalmologie Prof. Lachenmayr www.prof-lachenmayr.de Informationen zu Verkehrsophthalmologie
Internetadressen zu Kap. 12.2 ADANO – Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen www.hno.org/adano Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Hals-NasenOhrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V. Erarbeitung von Leitlinien und Empfehlungen. Zusammenarbeit mit benachbarten Fachgesellschaften, Verbänden und Industrie. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde e. V. www.hno.org Informationen für Mitglieder über stattfindende Tagungen, Abstract-Datenbank, Leitlinien. Deutscher Berufsverband der Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie www.dbvpp.de Aktuelle Mitteilungen für Mitglieder. HNO – Deutscher Berufsverband der HNO-Ärzte e. V. www.hno-aerzte.de Fortbildungsveranstaltungen. Schwindelambulanz der Neurologischen Klinik und Poliklinik www.schwindelambulanz-muenchen.de Patienteninformationen.
401
Endokrine Organe B. Böhm
13.1
Hypophyse – 403
13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.1.5 13.1.6 13.1.7 13.1.8
Diagnostik – 403 Krankheitsdefinition – 405 Fragen zum Zusammenhang – 405 Bewertung nach dem Sozialrecht – 406 Begutachtung privat versicherter Schäden – 406 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 406 Risikobeurteilung – 407 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 407
13.2
Schilddrüse – 407
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.2.5 13.2.6 13.2.7 13.2.8 13.2.9
Diagnostik – 407 Krankheitsdefinition – 407 Fragen zum Zusammenhang – 408 Bewertung nach dem Sozialrecht – 409 Begutachtung privat versicherter Schäden – 409 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 410 Risikobeurteilung – 410 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 411 Sonderfragen – 411
13.3
Nebenschilddrüsen – 412
13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4 13.3.5 13.3.6 13.3.7 13.3.8
Diagnostik – 412 Krankheitsdefinition – 412 Fragen zum Zusammenhang – 413 Bewertung nach dem Sozialrecht – 413 Begutachtung privat versicherter Schäden – 413 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 414 Risikobeurteilung – 414 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 414
13.4
Nebennieren – 414
13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5 13.4.6 13.4.7 13.4.8
Diagnostik – 414 Krankheitsdefinition – 415 Fragen zum Zusammenhang – 416 Bewertung nach dem Sozialrecht – 416 Begutachtung privat versicherter Schäden – 417 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 417 Risikobeurteilung – 417 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 418
13
402
1 2 3 4
Kapitel 13 · Endokrine Organe
13.5
Inzidentalom – 418
13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4 13.5.5 13.5.6 13.5.7 13.5.8
Diagnostik – 418 Krankheitsdefinition – 418 Fragen zum Zusammenhang – 418 Bewertung nach dem Sozialrecht – 418 Begutachtung privat versicherter Schäden – 418 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 418 Risikobeurteilung – 418 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 419
Literatur
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
– 419
403 13.1 Hypophyse
)) Das endokrine System wird durch die Gesamtheit aller hormonbildenden Organe und Zellen gebildet. In diesem Kapitel werden Fragestellungen zu Störungen der endokrinen Organe/endokrinen Drüsen abgehandelt. Folgende endokrine Organe werden betrachtet: 5 Hypophyse (Glandula pituitaria), 5 Schilddrüse (Glandula thyroidea), 5 Nebenschilddrüsen (Epithelkörperchen, Glandula parathyroidea), 5 Nebennieren (Glandula adrenalis oder Glandula suprarenalis). Ferner sind die Zufallstumoren (Inzidentalome) thematisiert.
13.1
Hypophyse
13.1.1 Diagnostik
Anamnese und Klinik Ausgangspunkt sind Anamnese und klinischer Befund. Die Klinik kann z. T. sehr typische und damit richtungsweisende Ausprägungen für die jeweiligen Entitäten aufweisen (Übersichten). Zum Teil kann die Klinik wenig eindrücklich sein, weil sich die Störungen wie eine Hypophyseninsuffizienz in einem langen Zeitraum entwickelt haben und somit als »altersentsprechend« eingeordnet werden.
Häufige klinische Zeichen bei Hypophysenerkrankungen 5 Bei der Frau – Amenorrhö – Oligomenorrhö – Corpus-Iuteum-Insuffizienz – Anovulation – Galaktorrhö – Libidostörungen – Hirsutismus – Seborrhö 5 Beim Mann – Libidostörungen – Potenzstörungen – Hypogonadismus mit und ohne Gynäkomastie – Galaktorrhö (selten)
6
5 Bei Mann und Frau: Zeichen eines Hypophysentumors – Hypophysenvorderlappeninsuffizienz – Gesichtsfeldeinschränkung – Augenmuskelparesen – Kopfschmerzen – Zerebrale Störungen (Foramen-Monroi-Blockade)
Symptomatik bei Akromegalie 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Akrenvergrößerung Makroglossie Kopfschmerzen Sellaveränderung Sehstörungen (Chiasmasyndrom) Photophobie Hyperhidrosis Hypertrichosis (bei Frauen) Gewichtszunahme Mensesanomalien Amenorrhö Störung von Libido und Potenz (bei Männern) Galaktorrhö Karpaltunnelsyndrom Gelenkbeschwerden Pathologische Glukosetoleranz, Diabetes mellitus Struma Urethraprolaps, Darmprolaps (vereinzelt) Hypertonie EKG-Veränderungen Kardiomegalie Psychische Veränderungen
Symptomatik bei Cushing-Syndrom 5 Rotes, rundes Gesicht (Vollmondgesicht, Plethora) 5 Stammbetonte Fettsucht 5 Diabetische Stoffwechsellage 5 Hypertonie 5 Hypogonadismus (Amenorrhö, Oligomenorrhö, Anovulation) 5 Osteopenie oder Osteoporose 5 Ekchymosen 5 Striae rubrae, hämorrhagische Diathese 5 Muskelschwäche 5 Hirsutismus 6
13
404
1 2 3 4
Kapitel 13 · Endokrine Organe
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Knöchelödeme Büffelnacken Akne Rücken- und Knochenschmerzen Psychiatrische Veränderungen Schlechte Wundheilung Polyurie, Polydipsie Kyphose Nierensteine Leichte Polyzythämie
5 Symptomatik bei Hypophyseninsuffizienz
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
5 Gonadotrope Achse – Bei Mann und Frau: Zeichen des Hypogonadismus wie bleiche, wächserne Haut, vermehrte Faltenbildung – Bei der Frau: Menstruationsstörungen, Atrophie der Mammae, Infertilität – Beim Mann: Libido/Potenz vermindert, palpatorisch weiche Testes, Infertilität 5 Somatotrope Achse – Beim Erwachsenen: Minderwuchs – Diskrete Symptome wie stammbetonte Adipositas, Fettstoffwechselstörungen, Arteriosklerose, eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit 5 Adrenokortikotrope Achse – Schwäche, Müdigkeit – Gewichtsverlust, Übelkeit, Erbrechen, Hypoglykämie 5 Thyreotrope Achse – Kälteintoleranz, Hautveränderungen, – Myxödem – trockene, rauhe Haut, – Gewichtszunahme, Obstipation
In der Anamneseführung sind Fragen zur Erkennung von medikamenten- oder auch drogeninduzierten Funktionsstörungen bei Hyperprolaktinämie, Auftreten eines sekundären Diabetes mellitus, z. B. bei Akromegalie, oder Kortisolexzess wichtig. Ein alkoholinduziertes sogenanntes Pseudo-Cushing-Syndrom muss vom organischen endogenen Hyperkortisolismus abgegrenzt werden.
u. a. zum Ausschluss eines Hormonexzesses bei Verdacht auf Akromegalie oder bei Verdacht auf Hyperkortisolismus.
Prolaktinom Ein normaler basaler Prolaktinspiegel schließt eine Hyperprolaktinämie aus. Bei einem deutlich erhöhten »basalen« Prolaktinspiegel ist ein Prolaktinom praktisch bewiesen, die Untersuchungen sollten ergänzt werden durch bildgebende Diagnostik und ggf. durch weitere Funktionstests, um die Kompetenz der weiteren Achsen beurteilen zu können. Differenzialdiagnostisch ist eine sogenannte Enthemmungshyperprolaktinämie bei hypothalamischen Prozessen oder Prozessen im Bereich des Hypophysenstils zu beachten, eine Hyperprolaktinämie in der Gravidität sowie eine medikamentös induzierte Hyperprolaktinämie. Ferner ist an eine stressinduzierte Erhöhung von Prolaktin (PRL) zu denken. Makroprolaktinome sind in ihrem Bezug zum Chiasma zu beurteilen und bedürfen weiterer ophthalmologischer Abklärung mittels Gesichtsfeldprüfung und einer weiteren Verlaufsbeobachtung, sollte der Sehnerv betroffen sein (Lang 2004; Schlechte 2003).
Akromegalie Die Nachweisdiagnostik ist lediglich über einen Suppressionstest zu führen (orale Glukosebelastung, OGTT). Zu fordern ist eine Suppression des Wachstumshormons <1 μg/l. Die Dynamik der Wachstumshormonausscheidung ist im Insulinhypoglykämietest oder in einem kombinierten CRH-GRH-LH-RH-TRH-Test zu erfassen. IGFI dient als Verlaufsparameter, ist jedoch in der Primärdiagnostik nur als sekundärer Parameter zu sehen. Bildgebende Diagnostik mittels MRT nimmt eine unverändert wichtige Rolle ein (Melmed et al. 2002; Melmed 2006).
Hyperkortisolismus/Cushing-Diagnostik Primär ist eine Ausschluss- oder Nachweisdiagnostik mittels eines niedrigdosierten Dexamethasonkurztests zu führen, ggf. ergänzt durch Bestimmung der Kortisolausscheidung im 24-Stunden-Urin. Die weitere Diagnostik differenziert zwischen ACTH-Abhängigkeit und ACTHUnabhängigkeit. Hierzu zählen eine Stimulation mit CRH und der hochdosierte gestufte Dexamethason-Hemmtest in Kombination mit bildgebenden Verfahren (Neumeister et al. 2003; Tsigos u. Chrousos 1996). Der Hypophysenkombinationstest (HKT) wird mit den Hormonen TRH, GRH, LH-RH, CRH ausgeführt.
Funktionsdiagnostik
> Sollte ein Makroadenom der Hypophyse bekannt sein oder auch ein Krampfleiden, ist der Einsatz von TRH kontraindiziert (Neumeister et al. 2002).
Die spezifische Funktionsdiagnostik dient als Such- und Ausschlussdiagnostik und ist dabei gezielt ausgerichtet zum Ein- oder auch Ausschluss von Funktionsstörungen,
Zur Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Wachstumshormonfreisetzung bedarf es weiterer komplementärer
405 13.1 Hypophyse
Tests wie eines Insulinhypoglykämietest, eines kombinierten Arginin-GHRH-Tests oder auch eines ClonidinTests (Lehnert 2003).
fangreichen metabolischen und morphologischen Auswirkungen. Im Kindesalter spricht man von einem Gigantismus.
Hypophysenhinterlappen (HHL)
Cushing-Syndrom
Funktionstest der Wahl ist der Durstversuch, ggf. mit Gabe von Desmopressin am Ende des Durstversuches (Neumeister et al. 2002).
Unter einem Cushing-Syndrom wird eine chronische Kortisolmehrsekretion der Nebennierenrinde verstanden. Bei Hypophysenerkrankungen liegt eine sogenannte ACTHabhängige Form des Hyperkortisolismus vor.
Bildgebende Diagnostik Untersuchungsverfahren der Wahl ist die Kernspintomographie des Schädels bzw. der Hypophyse in axialer und koronarer Projektion. Eine CT-Untersuchung ist ein Reserveverfahren, wenn die Kernspintomographie nicht möglich ist (Herzschrittmacher, Klaustrophobie) und zur Beurteilung eventueller knöcherner Destruktionen der Umgebung (Hochauflösungstechnik, koronare Schnittführung).
Hormoninaktive Tumoren und Hypophyseninsuffizienz
Hormoninaktive Tumoren sind Adenome des Hypophysenvorderlappens (HVL), die keine klinisch erkennbare Symptomatik aufweisen. Insbesondere fehlen klinische und biochemische Zeichen eines Hormonexzesses. Als Mikroadenome werden dabei Tumoren ≤1 cm Durchmesser, als Makroadenomen Tumoren >1 cm bezeichnet.
Karotisangiographie Bei Verdacht auf ein intraselläres Aneurysma der A. carotis interna sollte dieses Verfahren zur Anwendung kommen.
Ophthalmologische Diagnostik Die weitere anatomische Diagnostik beinhaltet auch eine ophthalmologische Diagnostik mit Perimetrie nach Goldmann (Gesichtsfeldprüfung; 7 Kap. 12.1.1). Es sollte eine Überprüfung der Augenmuskelnerven sowie des Augenhintergrundes mit der Frage nach einer Stauungspapille sowie einer Visuskontrolle (Lang 2004) stattfinden.
Diabetes insipidus (ADH-Mangel)
Beim Diabetes insipidus centralis handelt es sich um einen Mangel des antidiuretischen Hormons, sodass keine ausreichende Konzentration des Urins gelingt, mit der hieraus resultierenden Polyurie und Polydipsie.
13.1.3 Fragen zum Zusammenhang
Externe Einflüsse sind bei der Entstehung und Entwicklung der Erkrankungen, die zum Hormonexzess mit einem Hypophysenadenom führen, nicht beteiligt.
Verlaufsuntersuchungen Bei Hypophysenerkrankungen handelt es sich in der Regel um chronische Erkrankungen. Verlaufsuntersuchungen sollten deshalb in Abhängigkeit vom Primärbefund und erfolgten medikamentösen sowie operativen Interventionen durchgeführt werden. Die Verlaufsuntersuchungen schließt biochemische und bildgebende Diagnostik ein.
> Gutachterlich von Bedeutung ist die Frage, ob eine Hypophysenvorderlappeninsuffizienz, eine Hypophysenhinterlappeninsuffizienz oder eine komplette Insuffizienz auf äußere Ereignisse, z. B. Traumata (operative Eingriffe, Bestrahlung, exogenes Trauma) zurückzuführen ist.
Traumatische Hypophyseninsuffizienz 13.1.2 Krankheitsdefinition Prolaktinom, Hyperprolaktinämie
Es handelt sich um eine autonome Sekretion von Prolaktin durch ein Hypophysenadenom oder auch um eine sogenannte Begleit- oder Enthemmungshyperprolaktinämie durch Kompression des Hypophysenstils, mit Entkopplung inhibitorischer hypothalamischer Signale. Man spricht von einem Mikroprolaktinom bei einer Tumorgröße <1 cm, von einem Makroprolaktinom bei einer Größe von >1 cm. Akromegalie
Es handelt sich um eine pathologische Überproduktion von Wachstumshormonen im Erwachsenenalter mit um-
Bei dieser Frage muss geklärt werden, inwieweit ein adäquates Trauma vorliegt (Unfallhergang, andere Schäden). Es muss dabei auch klar sein, dass die Insuffizienz erst nach dem Trauma aufgetreten ist. In der Regel liegen dazu keine spezifischen Voruntersuchungen (basale Hormonuntersuchungen oder auch Funktionstestungen) vor, gleichwohl sind normale Körperfunktionen, eine regelhafte Leistungs- und auch Stressfähigkeit wertvolle Hinweise auf eine zuvor bestehende regelhafte Funktion des Hypophysenvorderlappens (Yuan u Wade 1991). Zu bedenken ist auch, dass nach einem Trauma mit mehrwöchiger oder gar mehrmonatiger Latenz sich Zeichen einer HVL-Insuffizienz entwickeln können, sodass mehrzeitige Erhebungen z. T. als sinnvoll erscheinen. Bezüglich eines Diabetes insipidus (HHL-Insuffizienz), als klinisches Zeichen einer Hypophysenhin-
13
406
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 13 · Endokrine Organe
terlappenfunktionsstörung, lässt sich bereits anamnestisch die benötigte klinische Information ableiten. Traumatische Schädigungen sind im Rahmen eines SchädelHirn-Traumas mit resultierender Hypophyseninsuffizienz gut möglich. Zum Teil vergehen mehrere Tage nach dem Trauma, bis es zum klinischen Vollbild der Erkrankung kommt. Gleiches gilt für eine schwere Geburt mit Einblutung und Funktionsverlust des Hypophysenvorderlappens (Sheehan-Syndrom). Deutliche Symptome eines SchädelHirn-Traumas sind Brillenhämatom, Liquorfluss (Rhinoliquorrhö), Störung des Wasserhaushaltes, Bewusstlosigkeit, Schädelfrakturen, Blutungen aus Mund, Nase und Ohren. Eine Beziehung zu psychischen Traumata gibt es sicher nicht.
Kommentar 5 Richtlinien für Begutachtung der traumatisch entstandenen Hypophysenvorderlappeninsuffizienz: Wenn ein Trauma die alleinige Ursache einer Hypophyseninsuffizienz darstellt, ist diese als eine Folgekrankheit des Traumas zu verstehen und deshalb als »vollentschädigungspflichtige Krankheitsursache« anzuerkennen. 5 Entschädigungsrecht: Das Trauma ist im Sinne der Entstehung als wesentlich mitverursachend anzusehen.
11 12 13
13.1.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Der GdB/MdE-Grad hängt im Wesentlichen von der Schwere der Symptomatik und der Beeinträchtigung weiterer endokriner Funktionsachsen ab.
Kommentar
16 17 18 19 20
Lebensversicherung Grundsätzlich ist die Schwere des Krankheitsbildes zu beachten, sodass eine individualisierte Abwägung durchgeführt werden muss. Die Spanne reicht von keiner Beeinträchtigung durch ein Mikroprolaktinom, das medikamentös u. a. exzellent zu behandeln wäre, bis hin zu einer schweren Funktionsstörung mit deutlicher Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Bei schweren Funktionsstörungen der Hypophyse ist auch von einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko des Betroffenen auszugehen. Beachtung sollte zudem finden, dass inzwischen bekannt ist, dass sich bei Vorliegen eines Hypophysenadenoms die Wahrscheinlichkeit für Sekundärtumoren signifikant erhöht. Spezifische Organfolgen ergeben sich bei biochemisch unkontrollierter Akromegalie, hier finden sich neben den Auswirkungen einer allgemeinen Organvergrößerung auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für kolorektale Karzinome und eine damit assoziierte erhöhte Mortalität.
Unfallversicherung Die teilweise bestehende allgemeine Einschränkung der Leistungsfähigkeit durch Hypophysenerkrankungen kann das Risiko für ein Unfallgeschehen erhöhen. Bei Einschränkungen des Gesichtsfeldes und/oder des Visus (denkbar bei Vorliegen von Makroadenomen) ist eine Einschränkung in der Wahrnehmung mit konsekutiver Erhöhung einer Unfallgefahr gegeben.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung
14 15
13.1.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Fassung von 2004) tragen der Krankheitsbiologie nicht in ausreichender Weise Rechnung. So findet lediglich das Cushing–Syndrom als Entität einen Eingang in die Ausführungen, sodass in der Beurteilung von GdB/MdE nur eine sehr individualisierte Abwägung unter Hinzuziehen der Auswirkungen auf verschiedene Organsysteme sowie mittels Analogieschlüssen möglich ist (Fahlbusch et al. 1999; Vance 2004).
Unter fachgerechter medikamentöser Einstellung (bei Hormonmangel und Hormonexzess) bzw. in Kombination mit operativen Verfahren (bei Hormonexzess) mit dem Nachweis einer guten biochemischen Einstellung bzw. biochemischen Remission bei Hormonexzessen ist keine oder zumindest keine gravierende Einschränkung der Berufs-, Erwerbs- und Dienstfähigkeit zu erwarten. Einschränkungen sind immer dann zu erwarten, wenn eine biochemische Kontrolle der Hormonstörung nicht gelingt. Mehrheitlich handelt es sich um Störungen mit Hormonexzessen (in erster Linie bei der Akromegalie oder Morbus Cushing), bei denen eine Kontrolle der Erkrankung nicht gelingt.
13.1.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Einschränkung in der Berufsausübung Hormonexzess oder auch Hormonmangel führen, so lange diese Störungen bestehen, zu einer allgemeinen Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Anhaltende Störungen betreffen z. B. eine Osteopenie/Osteoporose, die sich durch den Sexualhormonmangel ausgebildet hat und
407 13.2 Schilddrüse
ggf. Jahre bis zur Korrektur bedarf. Eine manifeste Osteoporose mit osteoporotischen Frakturen der Wirbelsäule kann natürlich nicht mehr korrigiert werden und stellt einen bleibenden Schaden dar. Hier wären körperlich belastende Tätigkeiten nicht zu empfehlen.
Fahrereignung Das Vorliegen einer Einschränkung von Visus und Gesichtsfeld kann die Fahrereignung und je nach Stadium der Erkrankung auch Bildschirmarbeit oder jede berufliche Tätigkeit, die eines optischen Feedbacks benötigt, temporär oder auch auf Dauer verunmöglichen.
13.1.7 Risikobeurteilung
Hormonmangel oder auch Hormonexzesse schränken die Leistungsfähigkeit allgemein so ein, dass ein vollständiges Erreichen des Pensionsalters oder auch die Inanspruchnahme einer Kapitallebensversicherung unmöglich wird. Dies ist insbesondere beim Morbus Cushing sowie bei der Akromegalie, wenn diese Zustände nicht in eine biochemische Remission überführt werden, bei einer Insuffizienz des Hypophysenvorderlappens oder auch einer Globalinsuffizienz der Hypophyse der Fall.
13.1.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Bei Vorliegen einer Akromegalie ist insbesondere rehabilitativen Maßnahmen, die den muskuloskelettalen Bereich betreffen, Rechnung zu tragen. Die Prognose wird im Wesentlichen durch eine gute fachärztliche Therapie und Verlaufskontrolle (mit)bestimmt, sodass weitergehende rehabilitative Maßnahmen nur für Teilaspekte der Erkrankungen relevant werden können (z. B. Rehabilitation nach Knochenfraktur bei Osteoporose, nach Gelenkersatz bei Akromegalie etc.).
13.2
Schilddrüse
13.2.1 Diagnostik
Zur Untersuchung der Schilddrüse gehören 5 Anamnese, 5 Erhebung des klinischen Befundes: Inspektion und Palpation der Schilddrüse. Die Anamnese schließt frühere bzw. aktuelle schilddrüsenwirksame Behandlungen ein, insbesondere die Medikamentenanamnese (z. B. Iodinkorporation durch iodhaltige Medikation, Röntgenkontrastmittel u. a.).
Die Funktionsdiagnostik beinhaltet biochemische Parameter und Antikörperbestimmungen. Biochemische Marker sind das Steuerhormon TSH sowie die Schilddrüsenhormone T3 und T4 bzw. die nichtproteingebundenen freien Schilddrüsenhormone (fT3, fT4). Antikörperbestimmungen gegen die schilddrüsenspezifische Peroxidase (TPO) bzw. den TSH-Rezeptor (TSH-R) haben eine besondere Bedeutung in der differenzialdiagnostischen Zuordnung der Erkrankung zum immunologischen Formenkreis (Neumeister et al. 2003). Thyreoglobulin dient als Tumormarker beim differenzierten Schilddrüsenkarzinom, Calcitonin als Marker für das medulläre Schilddrüsenkarzinom (Neumeister et al. 2003; Boehm 2003). Beim medullären Schilddrüsenkarzinom wird das Markerprofil durch das karzinoembryonale Antigen (CEA) sowie durch Funktionstests mit dem sogenannten Pentagastrinstimulationstest zur Stimulation der Calcitoninfreisetzung ergänzt. Thyreoglobulin dient auch als gesicherter Marker in der differenzialdiagnostischen Betrachtung der Hyperthyreosis factitia. > Die hochauflösende Schilddrüsensonographie mit einem Schallkopf mit 7,5 MHz oder einer Sonde mit noch höherer Auflösungsmöglichkeit ist heute diagnostischer Standard in der Erst- und Verlaufsbeurteilung des Schilddrüsenvolumens.
Die Sonographie dient dem Nachweis von diffusen wie auch umschriebenen Strukturveränderungen der Schilddrüse. Nuklearmedizinische In-vivo-Untersuchungen dienen der bildlichen Darstellung der Schilddrüse sowie der quantitativen Bestimmung des Uptakes in der Schilddrüse und einzelner Schilddrüsenregionen. Der Szintigraphie mit Iod 131 kommt eine Bedeutung in der Nachsorge des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms zu (Hotze u. Schumm-Draeger 2003). Feinnadelpunktionen (FNP) mit zytologischer Beurteilung dienen zur Abklärung malignomverdächtiger Schilddrüsenknoten oder der Zystenentleerung. Die FNP wird auch zur Beweisführung bei Verdacht auf Thyreoiditis eingesetzt. Eine Sonderstellung nimmt die bildgebende Diagnostik bei endokriner Orbitopathie ein. Hier kommt neben der Sonographie der Orbitahöhle die Computertomographie oder bevorzugt die Kernspintomographie, bei der iodhaltige Kontrastmittel vermieden werden können, zum Einsatz.
13.2.2 Krankheitsdefinition Struma
Eine Struma ist im engeren Sinne ein Symptom. Es beschreibt eine tastbare oder sichtbare oder auch mit dem Ultraschall definitiv vergrößert messbare Schilddrüse.
13
408
Kapitel 13 · Endokrine Organe
Hyperthyreose
1 2 3 4 5 6 7
Eine Hyperthyreose ist gekennzeichnet durch einen Überschuss freier Schilddrüsenhormone mit einer gesteigerten Hormonwirkung auf den Stoffwechsel und auf weitere verschiedene Organfunktionen.
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Subakute Thyreoiditis de Quervain
Es handelt sich um eine akute oder subakute, oft schmerzhaft verlaufende Entzündung der Schilddrüse.
Hyperthyreosis factitia
Dies ist eine chronische oder subakute Einnahme von Schilddrüsenhormonen, deren Menge den physiologischen Bedarf weit übersteigt, mit Entwicklung einer Hyperthyreose. Thyreotoxische Krise
Lebensbedrohlicher Krankheitszustand, dem in der Regel eine lang anhaltende Hyperthyreose oder zumeist regelhaft eine latente Hyperthyreose vorausgeht. Triggerereignisse können bei der Manifestation von großer Bedeutung sein. Hypothyreose
8
sogenannten C-Zellen ausgeht und als sporadische oder familiäre Form auftreten kann.
Die Hypothyreose ist definiert als Mangel an wirksamen Schilddrüsenhormonen bzw. unzureichende Wirkung von Schilddrüsenhormonen an den Körperzellen. Bei einer primären Hypothyreose liegt eine unzureichende Hormonproduktion der Schilddrüse vor. Bei einer sekundären bzw. extrem seltenen tertiären Hypothyreose liegt eine Fehlfunktion des Regelkreises mit Schädigung von Hypophyse und/oder Hypothalamus vor. Periphere Hypothyreosen kommen durch einen Hormonverlust zustande oder durch angeborene Schilddrüsenhormonresistenz. Morbus Basedow
Die Basedow-Krankheit ist eine immunmediierte Erkrankung der Schilddrüse, bei der es durch aktivierende Autoantikörper gegen den TSH-Rezeptor zu einer funktionellen Stimulation der Schilddrüsenzellen kommen kann. An Begleitstörungen können sich eine endokrine Orbitopathie und weitere Immunphänome (organspezifische Erkrankungen mit Funktionsverlusten) ausbilden.
13.2.3 Fragen zum Zusammenhang Iodzufuhr und Entwicklung einer Funktionsstörung
Exogene Zufuhr von großen Iodmengen, besonders in Form von Röntgenkontrastmitteln oder auch iodhaltigen Medikamenten, kann beim Vorhandensein von autonomem Schilddrüsengewebe zu einer iodinduzierten Hyperthyreose führen. Eine bestehende Überfunktion und eine latente Funktionsstörung können durch Iodgabe verschlimmert werden. In gleicher Weise kann es bei Vorliegen von Autoimmunthyreopathien, insbesondere einem Morbus Basedow, nach Iodbelastung zu einer Hyperthyreose kommen oder bei Vorliegen einer latenten Störung sich eine manifeste Hyperthyreose nach Iodexposition ausbilden (Hotze u. Schumm-Draeger, 2003). Im Gegensatz dazu wäre ein Zusammenhang zwischen einer durchschnittlichen, alimentären Iodaufnahme (ca. 100 μg/Tag) und der Entwicklung einer Überfunktion nur schwer herzustellen. > Bei der Häufigkeit von (latenten) Schilddrüsenfunktionsstörungen ist grundsätzlich eine Risikoabschätzung vor Gabe einer medikamenten- oder kontrastmittelbedingten Iodexposition zu empfehlen. Cave: Bei Verdacht oder Vorliegen einer malignen Schilddrüsenerkrankung darf kein diagnostisches Verfahren mehr eingesetzt werden, das den Patienten unnötigerweise einer Iodexposition aussetzt.
Diese beschreibt eine chronische, lymphozytäre Infiltration der Schilddrüse. Sie kann als hypertrophe Formvariante auftreten (mit Vergrößerung und Konsistenzvermehrung der Schilddrüse und konsekutivem Funktionsverlust) oder als atrophische Variante (mit Organverkleinerung und Funktionsminderung).
Zu beachten ist auch, dass bei Verdacht oder Vorliegen einer malignen Schilddrüsenerkrankung (Abklärung eines verdächtigen Schilddrüsenknotens; Verdacht auf oder auch schon bekanntes papilläres oder follikuläres Karzinom) kein diagnostisches Verfahren mehr eingesetzt werden darf, das den Patienten unnötigerweise einer Iodexposition aussetzt. Jede unnötige Iodexposition wird die Primärtherapie und auch die notwendige Nachsorge oder eine Zweittherapie bei einem Rezidiv erheblich erschweren bzw. sogar verunmöglichen.
Schilddrüsenkarzinome
Schilddrüsenunterfunktion
Hier sind differenzierte und nichtdifferenzierte Tumoren zu unterscheiden. Die histologische Einteilung der WHO umfasst die differenzierten Schilddrüsenkarzinome (follikuläres und papilläres Karzinom) sowie das seltene anaplastische Schilddrüsenkarzinom. Hiervon zu unterscheiden ist das medulläre Schilddrüsenkarzinom, das von den
Eine Radiotherapie, die u. a. wegen einer Autoimmunhyperthyreose oder eines autonomen Areals in der Schilddrüse durchgeführt wird, kann mit einer Latenz von Jahren zu einer Unterfunktion führen. Regelmäßige Verlaufskontrollen der Schilddrüsenfunktion sind deshalb angezeigt.
Hashimoto-Thyreopathie
409 13.2 Schilddrüse
In gleicher Weise kann eine Resektion von Schilddrüsengewebe im Rahmen einer Schilddrüsenoperation zu einer bleibenden Funktionseinschränkung führen. Aufgrund der Assoziation zwischen dem Operationstrauma und einer eingeschränkten Schilddrüsenfunktion kann in der Regel erst 6–10 Monate nach einer Operation eine Angabe über die endgültige Funktion der Schilddrüse gemacht werden. Die Zufuhr von iodhaltigen Medikamenten, insbesondere von Amiodaron oder Lithium, kann zu medikamentös bedingten Formen der Hypothyreose führen, Lithium ist zusätzlich ein strumigen wirksames Pharmakon. Im Rahmen von chronischen Entzündungsprozessen, z. B. Eiterungen am Hals (z. B. nach Schuss- oder Stichverletzung) kann es zu einer Unterfunktion der Schilddrüse kommen. Eine Anerkennung eines Zusammenhangs zwischen Trauma und primärer Hypothyreose ist somit in dieser Situation möglich.
Für Schilddrüsenmalignome wird empfohlen, in den ersten 5 Jahren eine Heilungsbewährung abzuwarten, wobei in der Regel davon auszugehen ist, dass differenzierte Schilddrüsenkarzinome nach entsprechender leitliniengerechter Betreuung eine gute Prognose aufweisen. In den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit wird empfohlen, nach Entfernung eines papillären oder follikulären Tumors ohne Lymphknotenbefall einen GdB/MdEGrad von etwa 50, bei Mitentfernung von Lymphknoten einen GdB/MdE-Grad von bis zu 80 anzunehmen. Bei Schilddrüsenmalignomen ist eine Besonderheit zu beachten, die bedingt durch diagnostische Verfahren zu einer Einschränkung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit führen kann: Das Absetzen einer laufenden Schilddrüsenmedikation mit dem Ziel, einen hypothyreoten Stoffwechselzustand verbunden mit einem deutlichen TSHAnstieg zu erzeugen, kann im Einzelfall zu einer zeitlich begrenzten, jedoch deutlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen.
Bösartige Erkrankungen Vermehrte Strahlenexposition. Wie spätestens nach der
Tschernobyl-Katastrophe allgemein bekannt geworden, kann eine entsprechende Strahlenexposition zur Entwicklung von Schilddrüsenmalignomen führen. Für Kinder mit strahleninduziertem Schilddrüsenmalignom sind die besonderen molekulargenetischen Grundlagen des papillären Schilddrüsenkarzinoms inzwischen bestens bekannt.
13.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Die Beurteilung von Schilddrüsenfunktionsstörungen setzt ein Diagnoseverfahren unter Einsatz moderner Untersuchungsmethoden voraus. Hierzu empfiehlt es sich, die Leitlinien der Fachgesellschaften (AWMF-Leitlinien/ Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie) anzuwenden (Lehnert 2003). Grundsätzlich gilt, dass Schilddrüsenfunktionsstörungen, sei es Über- oder Unterfunktion, als gut behandelbare Erkrankungen eingestuft werden, sodass in der Regel anhaltende Beeinträchtigungen nicht zu erwarten sind. Im Einzelfall jedoch kann es jedoch zu einer zeitlich begrenzten Einschränkung mit einem GdB/MdE-Grad von mehr als 50 kommen. Für Störungen der Funktionslage nach Schilddrüsenresektion gilt dies in gleicher Weise. Gesondert zu betrachten sind Organkomplikationen nach einem operativen Eingriff oder Schäden, die bedingt sind durch eine massive Organvergrößerung, z. B. Tracheomalazie, Trachealstenose. Zusätzlich zu berücksichtigen sind Operationsfolgen wie Stimmbandlähmung oder auch das Auftreten eines Exophthalmus im Rahmen einer immunogenen Schilddrüsenfunktionsstörung (Morbus Basedow, in seltenen Fällen auch bei einer Hashimoto-Thyreoiditis).
13.2.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung Im Einzelfall können Schilddrüsenfunktionsstörungen mit Erkrankungen in Zusammenhang stehen, die sogar zum Tod führen können. Hier sind Herzrhythmusstörungen bei Schilddrüsenüberfunktion zu nennen oder eine über das normale Maß hinausgehende Koronarsklerose bei Schilddrüsenunterfunktion. Der Abschluss einer Lebensversicherung in Kenntnis von Schilddrüsenfunktionsstörungen kann daher in vielfacher Hinsicht eine Einschränkung oder eine modifizierte Risikoberwertung erfahren. Bei Vorliegen einer Überfunktion wäre sinnvollerweise ein definitives Behandlungsverfahren und dessen Erfolg abzuwarten, bevor eine endgültige Bewertung eines chronischen Leidens erfolgt. Eine durch einen Morbus Basedow verursachte Überfunktion ist formal eine lebenslange Erkrankung, wobei jedoch die Schilddrüsenfunktionsstörung durch eine sogenannte definitive ablative Behandlung (Operation, Radioiodtherapie) dauerhaft korrigiert werden kann. Bei Vorliegen einer Unterfunktion ist unter Einsatz einer Standardbehandlung davon auszugehen, dass die Lebenserwartung nicht beeinträchtigt wird. Bestand jedoch die Unterfunktion schon über viele Jahre, ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Gefäßveränderungen der großen Gefäße (KHK, pAVK etc.) zu erwarten. Bei Schilddrüsenmalignomen ist bei differenziertem Schilddrüsenkarzinom davon auszugehen, dass eine geringgradige Einschränkung der Lebenserwartung auch nach Einsatz modernster Therapieverfahren zu erwarten ist. Die Einschätzung kann differenziert nach den heute bekannten Risiko-Scores erfolgen, die u. a. die Tumorgrö-
13
410
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 13 · Endokrine Organe
ße, das Alter und die eingesetzten Therapieverfahren berücksichtigen (7 Kap. 13.2.7). Sekundärmalignome nach Radioiodtherapie sind nach heutiger Kenntnis als Rarität zu werten. Bei anaplastischen Karzinomen besteht eine erhebliche Einschränkung der Lebenserwartung. Beim C-Zellkarzinom wird die Lebenserwartung erheblich durch das Erkrankungsstadium bestimmt. Hier reicht die Spanne von biochemisch verifizierbarer Heilung und damit guter Prognose bis hin zur Malignompersistenz mit eingeschränkter Prognose. Bei Vorliegen einer hämatogenen Metastasierung besteht eine infauste Prognose.
Unfallversicherung Schilddrüsenüberfunktion (z. B. höhere Empfindlichkeit für Stresshormone) wie auch Schilddrüsenunterfunktion (z. B. verzögerte Reaktion) führen zu allgemeinen Funktionsstörungen an allen Organsystemen, sodass vor diesem Hintergrund rein formal betrachtet in vielen Fällen ein Zusammenhang zu einem Unfallgeschehen hergestellt werden kann.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Unter fachgerechter Einstellung von Schilddrüsenfunktionsstörungen wie Hyperthyreose und/oder Hypothyreose ist keine Einschränkung der Berufs-, Erwerbs- und Dienstfähigkeit zu erwarten. Einschränkungen sind bei Schilddrüsenmalignomen üblilch, da sich z. T. als Folge der therapeutisch zu wählenden hohen Schilddrüsenhormondosis dauerhaft eine latente Überfunktion ergibt. Es wird in der Regel TSH-suppressiv die LT4-Dosis einstellt. Die chronischen Funktionseinschränkungen können eine Vielzahl von Organsystemen betreffen mit vermehrtem Auftreten von Herzrhythmusstörungen oder Verminderung der Knochendichte. Da die Empfindlichkeiten auf den grundsätzlich sinnvollen therapeutischen Hormonexzess individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sind, bedarf es einer individualisierten (Verlaufs-) Beurteilung.
15 16 17 18 19 20
13.2.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Fahrereignung Sowohl in der Phase einer schweren Hyperthyreose als auch schweren Hypothyreose ist eine Berufsausübung oder eine Fahrereignung nicht gegeben. Letztlich liegt eine z. T. erhebliche Beeinträchtigung der Vigilanz vor bzw. eine gestörte Wahrnehmung von Außenreizen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen.
13.2.7 Risikobeurteilung
Eine nichtkontrollierte Unterfunktion erhöht das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und stellt somit einen unabhängigen kardiovaskulären Risikofaktor dar. Eine Überfunktion ist ein Risikofaktor für Herzrhythmusstörungen und für die Entwicklung von muskuloskelettalen Probleme wie Muskelschwäche sowie Knochendichteminderung; dies gilt in besonderem Maße für Frauen.
Schilddrüsenmalignome Differenzierte Schilddrüsenkarzinome reduzieren die Lebenserwartung leicht. Zur Risikobeurteilung differenzierter Schilddrüsenkarzinome finden unterschiedliche Konzepte Anwendung (. Tab. 13.1 und 13.2). Der RisikoScore von deGroot zeigt seine besondere Wertigkeit bei Bestehen eines Krankheitsrezidivs (. Tab. 13.3). Parameter mit zentraler Bedeutung in der Beurteilung differenzierter Schilddrüsenkarzinome 5 5 5 5
Alter Geschlecht Tumorstadium Vorliegen von Lympkknotenmetastasen oder Fernmetastasen 5 primär Durchführung einer leitliniengerechten chirurgischen Intervention mit Radioiodbehandlung
> Je älter der Betroffene und je größer der Primärtumor, desto schlechter ist die Prognose. Liegen Fernmetastasen vor, verschlechtert sich die Prognose weiter.
Einschränkung in der Berufsausübung Schilddrüsenüberfunktion (z. B. höhere Empfindlichkeit für Stresshormone) und Schilddrüsenunterfunktion (z. B. verzögerte Reaktion) führen, so lange diese Störungen bestehen, zu einer allgemeinen Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Das Vorliegen einer endokrinen Orbitopathie mit Exophthalmus und Motilitätsstörung kann, je nach Stadium der Erkrankung, Bildschirmarbeit oder jede berufliche Tätigkeit, die ein optisches Feedback benötigt, temporär oder auch auf Dauer verunmöglichen.
Lymphknotenmetastasen stehen in Bezug zum Auftreten von Lokalrezidiven, haben jedoch bei moderner Tumortherapie keinen entscheidenden Einfluss auf das Überleben beim differenzierten Schilddrüsenkarzinom. Insgesamt ist die Prognose für differenzierte Schilddrüsenkarzinome jedoch als gut anzusehen. Die 10-Jahres-Überlebensrate beträgt für das papilläre Karzinom nach Literatur 85–95%. Für das (Anfangs-) Stadium pT1 kann man dabei von nahezu 100% ausgehen.
411 13.2 Schilddrüse
. Tab. 13.1. AMES-Score zur Beurteilung differenzierter Schilddrüsenkarzinome – Klassifikation nach Tenvall et al. (1986) AMES-Score
Parameter
Parameter
A
Age
Alter
<40 Jahre vs. >40 Jahre
M
Distant metastasis
Fernmetastasen
M0/M1
E
Extent
Tumorausdehnung
T4 N1/M1
S
Size
Tumorgröße
. Tab. 13.2. Einteilung in Niedrig- und Hochrisikopatienten hinsichtlich differenzierter Schilddrüsenkarzinome Patient
Parameter
Niedrigrisikopatienten
Alle jungen Patienten (Männer <40 Jahre, Frauen <50 Jahre) Alle älteren Patienten 5 mit intrathyreoidalem papillärem Schilddrüsenkarzinom/T1–T3) 5 Primärtumor <5 cm 5 keine Fernmetastasierung
Hochrisikopatienten
Alle anderen Patienten
. Tab. 13.3. Klassifikation der papillären Schilddrüsenkarzinome nach DeGroot et al. (1990) Krankheitsstadium
Sterberisiko
I
T1–T3
Intrathyreoidal
1
II
(alle N1)
Metastasen in zervikalen Lymphknoten
1
III
(alle T4)
Extrahyreoidal
5,8-fach gesteigert
IV
(alle M)
Fernmetastasen
47,0-fach gesteigert
Die 10-Jahres-Überlebensrate für das medulläre Schilddrüsenkarzinom beträgt etwa 40–60%. Bei Vorliegen einer hämatogenen Metastasierung, d. h. einem Befall von Lunge und/oder Leber, wird die Prognose entscheidend verschlechtert. Anaplastische Karzinome reduzieren erheblich die Überlebenswahrscheinlichkeit. Die Reduktion der Lebenserwartung beim C-Zellkarzinom ist streng stadienabhängig. Bei autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen (Morbus Basedow, Hashimoto-Thyreopathie) ist neben der Erkrankung selbst das metachrone Auftreten von weiteren Funktionsstörungen, bedingt durch weitere organspezifische Autoimmunerkrankungen (z. B. Typ-A-Gastritis mit Vitamin-B12-Mangel, Diabetes mellitus Typ 1, Morbus Addison, Sicca-Symptomatik), zu berücksichtigen.
lang bestehender Schilddrüsenunterfunktion wäre z. B. eine Rehabilitation unter Beachtung der krankheitsbedingten muskuloskelettalen Probleme sowie der kardiovaskulären Probleme angezeigt. Bei einer schweren Überfunktion wären im Wesentlichen muskuloskelettale Probleme und Herzrhtymusstörungen zu berücksichtigen. Bei Zustand nach Schilddrüsenoperationen sind ggf. Bewegungseinschränkungen, insbesondere nach Halslymphknotendissektionen, durch entsprechende Therapieverfahren gezielt angehbar. Teilweise sind Schwierigkeiten bei einer vollständigen Hormonsubstitution nach Thyreoidektomie vorhanden, oder es bestehen psychosoziale Probleme bedingt durch ein Malignomleiden, sodass sich eine Vielzahl von Gründen für spezifische, zielgerichtete rehabilitative Maßnahmen ergeben kann.
13.2.8 Verbesserung der Prognose durch
13.2.9 Sonderfragen
Rehabilitation Über die Notwendigkeit von Rehabilitationsmaßnahmen sollte in der Regel individuell entschieden werden. Bei
Der Einfluss psychischer Faktoren in der Pathogenese von Autoimmunerkrankungen, wie z. B. der sogenannte »Schreck-Basedow«, muss heute als Fehlinterpretation
13
412
Kapitel 13 · Endokrine Organe
2
der Ätiopathogenese angesehen werden. Ein Bezug zwischen sogenannten »Life-Events« und Veränderungen des Immunsystems ist gleichwohl bekannt, jedoch nicht von grundlegender Bedeutung im Sinne eines direkten Triggers einer immunogenen Hyperthyreose.
3
13.3
1
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Nebenschilddrüsen
13.3.1 Diagnostik > Von zentraler Bedeutung ist die Anamneseerhebung, hier insbesondere die Erhebung von in der Regel undifferenzierten Beschwerden eines Hyper- oder Hypokalzämiesyndroms.
Klinik Klinische Zeichen einer Hyperkalzämie sind Polydipsie, Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsabnahme, Muskelschwäche, psychische Veränderungen mit Antriebsverminderung oder auch depressive Episoden, ferner Hinweise auf rezidivierende Nierensteine und/oder Nephrokalzinose, Ulzera, chronische Pankreatitis oder Cholezystolithiasis. Ferner Knochenbeschwerden bis hin zur Osteodystrophia fibrosa generalisata cystica. Bei hypokalzämischen Erkrankungen ist die Fragestellung der Nierenfunktion oder einer intestinalen Resorptionsstörung zu klären (klinische Zeichen für Malabsorption, Malassimilation), darüber hinaus das Vorliegen eines sogenannten tetanischen Syndroms.
Biochemische Diagnostik Die biochemische Diagnostik konzentriert sich auf die Beweisführung einer Verschiebung von Kalzium und Phosphat bzw. die Abklärung der selektiven Ausscheidung von Kalzium und Phosphat im Urin. Diese Parameter sind jeweils nur im Zusammenhang mit der Nierenfunktionslage zu beurteilen. Die wichtigsten weiteren Zielparameter sind die Erfassung des Parathormons (intaktes Molekül) und die Bestimmung des Vitamin-D-Stoffwechsels. Erst die Zusammenschau dieser Parameter ermöglicht eine zielführende Diagnostik.
Bildgebende Diagnostik Hier sind der hochauflösende Ultraschall, Kernspintomographie, Computertomographie, Nebenschilddrüsenszintigraphie, ggf. eine selektive Halsvenenkatheterisierung mit Erfassung des Parathormons zu nennen. Weitere Testverfahren betreffen die Ursachenabklärung der Hyperkalzämie, die nicht durch eine Überfunktion der Nebenschilddrüsen verursacht wird. In einer solchen Situation handelt es sich im Wesentlichen um eine humorale Hyperkalzämie durch Malignome, sodass eine andere Therapieform anzustreben wäre.
Labordiagnostik Die Labordiagnostik bei Hypokalzämie unterscheidet sich zunächst nicht von der biochemischen Diagnostik bei Hyperkalzämie. Seitens der bildgebenden Verfahren ergeben sich jedoch andere Fragestellungen: Vorliegen eines Katarakt, Vorliegen von ektopen Verkalkungen, d. h. Verkalkungen der Basalganglien (Morbus Fahr). Es ist auch an eine Hypokalzämie, assoziiert mit einem polyglandulären Autoimmunsyndrom (u. a. APS Typ 1) zu denken mit der zur weiteren Zuordnung notwendigen Immundiagnostik. Da Autoimmunerkrankungen zeitversetzt auftreten können, sind Verlaufsbeobachtungen notwendig.
13.3.2 Krankheitsdefinition
Unter Hyperkalzämie wird eine Erhöhung des Serumkalziumspiegels über die obere Norm infolge einer Störung der Kalziumhomöostase verstanden. Hyperparathyreoidismus
Beim primären Hyperparathyreoidismus handelt es sich um eine autonome Parathormonsekretion, die über den Bedarf des Organismus für die Kalziumhomöostase hinausgeht. In seltenen Fällen kann dies nicht durch ein Adenom der Nebenschilddrüsen oder eine Mehrdrüsenerkrankung verursacht sein, sondern durch ein Nebenschilddrüsenkarzinom. Ferner sind zu beachten: Genetische Defekte (genetische Prädispositionen), die zu sogenannten familiären Formen des primären Hyperparathyreoidismus führen, bzw. Nebenschilddrüsenerkrankungen infolge sogenannter komplexer endokriner Erkrankungen wie der multiplen endokrinen Neoplasie MEN 1 bzw. MEN 2a. Beim sekundären Hyperparthyreoidismus (sHPT) liegt eine regulatorische Erhöhung des Parathormons vor. Diese erfolgt in der Regel aufgrund einer chronischen Hypokalzämie bei Nierenfunktionsstörung oder verminderter intestinaler Kalziumaufnahme. Humorale Hyperkalzämie
Eine humorale Hyperkalzämie durch Malignome entsteht durch ein parathormonbezogenes Peptid (PTH-rP), wie es z. B. beim Plasmozytom, beim Bronchialkarzinom oder beim Mammakarzinom von den Tumorzellen freigesetzt werden kann. Ein Hyperkalzämiesyndrom kann sich ebenfalls ausbilden bei Immobilisation (z. B. nach schwerem Unfalltrauma), im Zustand einer schweren Schilddrüsenüberfunktion, bei Glukokortikoidausfall (z. B. Addison-Krise), einer Sarkoidose (vermehrte Bildung von stoffwechselwirksamem Vitamin D in den Granulomen), Tuberkulose, Histoplasmose, Lepra, bei Aids oder auch medikamentenbedingt, insbesondere bei Vitamin-D- oder VitaminA-Intoxikation oder infolge der Anwendung von hochdosierten Thiaziddiuretika.
413 13.3 Nebenschilddrüsen
Hypoparathyreoidismus
Der echte Hypoparathyreoidismus zeichnet sich durch das Fehlen von Parathormon aus. Diese Störung kann sich u. a. infolge eines Autoimmungeschehens (z. B. APS Typ 1) ausbilden. Häufigste Ursache des sekundären Hypoparathyreoidismus ist die Resektion bzw. die nachhaltige Störung der Perfusion der Nebenschilddrüsen infolge einer Operation der Schilddrüse oder der Nebenschilddrüsen.
13.3.3 Fragen zum Zusammenhang Hyperparathyreoidismus
Das Nebenschilddrüsengewebe ist strahlensensibel, sodass sich nach einer Bestrahlung des Halses, die z. B. im Rahmen einer Tumortherapie erfolgte, mit einer Latenz von 10–20 Jahren ein Hyperparathyreoidismus entwickeln kann. Typischerweise handelt es sich dabei um eine Spätfolge der Bestrahlungstherapie eines Morbus Hodgkin. Hier wäre u. a. abzuwägen, inwieweit es sich um ein typisches Manifestationsalter des primären Hyperparathyreoidismus handelt (Manifestationsgipfel des pHPT liegt in der Regel in der 5. oder 6. Lebensdekade) oder eine im Vergleich dazu frühere Manifestation, die einen Zusammenhang mit der Strahlenbehandlung deutlich wahrscheinlicher werden lässt. Die Entwicklung eines sekundären Hyperparathyreoidismus bzw. einer autonomen Produktion von Parathormon kann im Einzelfall ebenfalls im direkten Zusammenhang mit einer nicht standard- und leitliniengerechten Therapie eines Hypokalzämiesyndroms gesehen werden. Dies ist der Fall bei nicht suffizient eingestelltem Hypokalzämiesyndrom, bedingt durch eine nicht zeitgerechte und damit unzureichende Vitamin-D-Gabe, oder durch nicht ausreichende Phosphatsenkung, z. B. bei Niereninsuffizienz. Dies gilt in gleicher Weise für andere Störungen mit Folgeproblemen wie einem regulatorischen Hyperparathyreoidismus. Hierzu zählen Zustand nach Entfernung des Magens und andere intestinale Störungen mit verminderter intestinaler Kalziumresorption. Hypoparathyreoidismus infolge einer Schädigung der Nebenschilddrüsen
Eine Schilddrüsenoperation bzw. die operative Exploration der Nebenschilddrüsen ist sicherlich die häufigste Ursache für die Entwicklung eines Hypoparathyreoidismus. Hierbei ist zu beachten, dass ein mit einem operativen Eingriff assoziierter Hypoparathyreoidismus in unmittelbar zeitlichem Zusammenhang mit dem Eintriff steht. In bis zu 50% der Fälle kommt es in einem postoperativen Zeitintervall von 3–6 Monaten zu einer Restitutio ad integrum.
Operative Maßnahmen in der Halsregion, z. B. »neck dissection«, können bei einem großen Operationstrauma (z. B. Zweitoperationen bei Tumorleiden) zum Verlust der Nebenschilddrüsenfunktion führen.
13.3.4 Bewertung nach dem Sozialrecht Hyperparathyreoidismus
Bei einem Hyperparathyreoidismus wären die einzelnen Organschäden zu bewerten. Bei der heutigen recht frühen Diagnosestellung und der hohen Wahrscheinlichkeit einer Heilung durch Entfernen des adenomatösen Gewebes ist in der Regel von einer Restitutio ad integrum auszugehen. Bei einem schwer ausgeprägten Krankheitsbild, mit Affektion des Knochens, kann sich eine signifikante Minderung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit einstellen mit entsprechend hohem GdB/MdE-Grad. Hypoparathyreoidismus
In der Regel spielt nur der postoperative Hypoparathyreoidismus eine gutachterliche Rolle aufgrund tetanischer Syndrome. Während in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit angeführt ist, dass die Tetanie gut behandelbar und somit in der Regel keine dauerhafte Beeinträchtigung zu erwarten ist, kann es jedoch in Einzelfällen, trotz einer Langzeittherapie mit Vitamin-D- oder Vitamin-D-Analoggabe sowie oraler Kalziumgabe, verbunden mit konsequenter medizinischer Überwachung, zu einer Einschränkung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit kommen. In einer solchen Situation wird ein GdB/MdEGrad in Analogie zum oral behandelten Diabetes mellitus gesehen.
13.3.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung Eine Einschränkung der Lebenserwartung ist insbesondere bei genetischen Erkrankungen, in deren Folge es zu einem Hyperparathyreoidismus kommt, zu sehen (MEN 1, MEN 2a). Eine deutliche Einschränkung der Lebenserwartung ergibt sich bei Vorliegen eines Nebenschilddrüsenkarzinoms, insbesondere dann, wenn durch operative Verfahren keine biochemische Heilung erreicht werden konnte. Selbstverständlich gilt dies in besonderem Maße für die tumorassoziierte Hyperkalzämie. Einschränkungen der Lebenserwartung können sich in Teilen auch bei einem genetisch bedingten Hypoparathyreoidismus ergeben.
Unfallversicherung Hypokalzämische wie auch hyperkalzämische Zustände bedeuten eine Einschränkung der allgemeinen Leistungsfähigkeit und können somit in Assoziation mit einem Un-
13
414
1 2 3 4
Kapitel 13 · Endokrine Organe
fallgeschehen gesehen werden. Beim tetanischen Anfall oder in zeitlicher Nähe zu einem tetanischen Anfall sind die Muskelleistung und damit die Reaktionsfähigkeit eingeschränkt.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Hypo- und Hyperparathyreoidismus können zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit führen. Die Entscheidung muss im Einzelfall getroffen werden und dabei die Klinik und die biochemische Diagnostik berücksichtigen werden.
5 13.3.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
6
10
Während eine Regulationsstörung der Kalziumhomöostase für jede Tätigkeit eine Leistungseinschränkung beinhalten kann, gilt dies nicht für einen behandelten Hyperparathyreoidismus bei Bestehen einer Normokalzämie. Beim Hypokalzämiesyndrom und einem behandelten Hypoparathyreoidismus sind bestimmte Tätigkeiten, die zu starken Verschiebungen der Blutsalze führen können, wie starke körperliche Aktivität oder Arbeiten bei hohen Temperaturen, als nicht geeignet anzusehen. Zu Störungen der Kalzium- und der Phosphathomöostase in Zusammenhang mit Nierenerkrankungen 7 Kap. 14.
11
13.3.7 Risikobeurteilung
7 8 9
12 13 14 15 16
Hypo- und Hyperparathyreoidismus können zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit und damit zu einer vorzeitigen Pensionierung oder Inanspruchnahme einer Lebensversicherung führen. Die Wahrscheinlichkeit steigt, je später diese Störungen erkannt und einer definitiven Therapie zugeführt werden konnten. So sind dies insbesondere muskuloskelettale Probleme beim Hyperparathyreoidismus, Störungen der Nierenfunktion mit Nierensteinen oder Nephrokalzinose sowie kardiovaskuläre Erkrankungen. Zwar sind diese Störungen in Teilen beim primären oder sekundären Hyperparathyreoidismus reversibel. Zum Teil bedürfen solche schwerwiegenden Veränderungen aber auch konsekutiv weiterer, z. T. sogar chirurgischer Interventionen.
17 13.3.8 Verbesserung der Prognose durch
18 19 20
Rehabilitation Nach Korrektur von Elektrolytstörungen der Kalziumund Phosphathomöostase können rehabilitative Maßnahmen zu einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit beitragen, insbesondere zur Stabilisierung des muskuloskelettalen Systems.
13.4
Nebennieren
13.4.1 Diagnostik
Ausgehend von Anamnese und klinischem Befund kommen z. T. sehr differenzierte biochemische Untersuchungen und bildgebende Untersuchungen bei Nebennierenerkrankungen zum Tragen. Die jeweiligen diagnostischen Verfahren, insbesondere die in der weiteren Differenzialdiagnostik notwendigen Funktionsuntersuchungen, sind in der Regel nur in Spezialeinrichtungen (Kliniken, Spezialpraxen für das Teilgebiet Endokrinologie) gut etabliert.
Klinik In Zusammenhang mit einem Hyperkortisolismus sind klinische Beschwerden wie Gewichtszunahme, Veränderungen des Erscheinungsbildes (Gesichtsrötungen, Stammfettsucht, Muskelschwund), psychische Veränderungen, insbesondere depressive Episoden, allgemeine Abnahme der Leistungsfähigkeit, Störungen der Gonadenfunktionen, Rückenbeschwerden, arterielle Hypertension, das Auftreten von Striae rubrae distensae, Hauthämatomen nach Mikrotraumata (Ekchymosen) oder Infektionen die führenden klinische Befunde. Bei Kindern kommen zu diesen Befunden noch Wachstumsverzögerungen oder Wachstumsstillstand hinzu sowie eine gestörte Pupertätsentwicklung bzw. eine signifikante Pupertätsverzögerung. Beim Mineralokortikoidexzess ist der Leitbefund die arterielle Hypertension und Zeichen von Müdigkeit, Muskelschwäche, Polyurie und Polydipsie sowie Auftreten eines sekundären Diabetes mellitus oder zumindest eine Glukosetoleranzstörung. > Bei Tumoren, die vermehrt Androgene oder auch Östrogene produzieren, steht der jeweilige Effekt des Hormonexzesses im Vordergrund.
Die primäre Nebennierenrindeninsuffizienz wird geprägt durch den Glukokortikoidmangel mit typischerweise Hyperpigmentation der Haut, besonders an Prädilektionsstellen wie den Handlinien, Narben oder anderen mechanisch belasteten Haut- und Schleimhautarealen. Zusätzlich finden sich Hypotonie und ggf. Zeichen der Dehydratation. Adrenale Enzymdefekte zeichnen sich durch genetisch bedingte, angeborene Störungen der Kortisol- und Aldosteronsynthese aus. Die Klinik wird daher durch den jeweiligen biochemischen Enzymdefekt dominiert wie Salzverlust oder auch Androgenexzess. Beim Phäochromozytom ergeben sich klinische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Fieber, Schwitzen, Tachykardien, paroxysmaler Anstieg von Blutdruck, ferner Tremor, Nervosität und Unruhe, Gewichtsverlust, Blässe beim Blutdruckanstieg.
415 13.4 Nebennieren
Biochemische Diagnostik Die biochemische Diagnostik konzentriert sich auf die Erfassung von Endprodukten der Steroidbiosynthese mit Kortisol als Markersubstanz bzw. Aldosteron sowie ACTH als Steuerhormon. DHEAS dient als Globalmarker für die Nebennierenrindenmasse. Funktionstests zur Überprüfung der Nebennierenrindensekretionsleistung sind der CRH-Test und noch vielmehr der Synacthen-Test, mit Erfassung der Sekretionsleistung von Kortisol und ACTH, von Kortisol, 17-α-Hydroxy-Progesteron und DHEA. Bei der Beurteilung der Mineralokortikoidproduktion der Nebennieren steht die Bestimmung von Serumkalium im Vordergrund bzw. die Ausscheidung von Kalium im 24Stunden-Urin sowie die Parameter Renin und Aldosteron bzw. der Quotient aus Renin und Aldosteron. Weitere Funktionstests, die die autonome Produktion von Kortisol abprüfen, beinhalten Suppressionstests mit der Gabe von Dexamethason. Die regelhafte Freisetzung von Aldosteron kann durch einen Kochsalzinfusionstest überprüft werden. Bei Fragen zur Sekretionsleistung des Nebennierenmarks steht die Erfassung der Ausscheidung der freien Katecholamine im 24-Stunden-Urin (Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin) sowie von Abbauprodukten (Methanephrine, Normetanephrine) im Vordergrund.
13.4.2 Krankheitsdefinition Hyperkortisolismus
Hierunter wird eine ACTH-abhängige und ACTH-unabhängige inappropriate Freisetzung von Kortisol verstanden. Beim ACTH-abhängigen Hyperkortisolismus handelt es sich in der Regel um ein ACTH-produzierendes Hypophysenadenom, in seltenen Fällen kommt auch ein hypothalmischer CRH-Exzess in Frage. Eine ektope ACTH-Sekretion findet sich als Paraneoplasie z. B. beim kleinzelligen Bronchialkarzinom oder bei neuroendokrinen Pankreaskarzinomen bzw. Karzinoiden. Der ACTH-unabhängige Hyperkortisolismus hat in der Regel als Ursache einen einseitigen Nebennierenrindentumor (Adenom oder Karzinom). In seltenen Fällen handelt es sich um bilaterale mikro- oder makronoduläre Hyperplasien beider Nebennieren. Hyperaldosteronismus Eine Mineralokortikoidhypertonie wird als inappropriate Mehrsekretion von Aldosteron verstanden. Am häufigsten handelt es sich dabei um ein einseitiges Aldosteron produzierendes Nebennierenrindenadenom, das als klassischer Morbus Conn bezeichnet wird.
Bildgebende Diagnostik
Nebennierenrindenkarzinom
Nach der biochemischen Diagnostik ist im weiteren Schritt eine Lokalisationsdiagnostik angezeigt, diese setzt sich aus Ultraschalluntersuchungen, Computertomographie oder Magnetresonanztomograhie, szintigraphischen Verfahren mit Octreotidszinitigraphie, Fluorodeoxy-Glukose-PET (FDG-PET), Fluorodopamin-PET (Dopa-PET) bzw. PET-CT (Brückel u. Böhm 2003; Lehnert 2003) zusammen.
Unter dem NNR-Karzinom wird eine maligne, von den Nebennierenrindenzellen ausgehende Erkrankung verstanden. Andere Nebennierenrindenadenome
Eine klinische Seltenheit stellen Androgen und Östrogen produzierende NNR-Tumoren dar. Bei Vorliegen eines NNR-Karzinoms kann eine ganze Reihe von Sekretionsprodukten auftreten, u. a. Androgene und Östrogene.
Genetische Diagnostik Mit der Fragestellung genetischer Veränderungen sind heute Genanalysen von Targetgenen inzwischen Diagnostikstandard wie Erfassung des RET-Protoonkogens bei multipler endokriner Neoplasie Typ 2a und b, dem vonHippel-Lindau-Tumorsuppressorgen, bei von-HippelLindau-Syndrom bei Neurofibromatose Typ 1 (NF-1-Gen) oder familiären Glomustumoren (SDHD-Gen) oder weiteren neuroektodermalen Erkrankungen. Genetische Defekte der Syntheseenzyme können ebenfalls erfasst und für die weitere Diagnostik sowie – wie zuvor auch – in der genetischen Familienberatung eingesetzt werden.
Enzymdefekte der Steroidbiosynthese
Die adrenalen Enzymdefekte fassen angeborene Störungen der Kortisol- und der Aldosteronbiosynthese zusammen. Die Störungen gliedern sich in Enzymdefekte mit Androgenüberproduktion bzw. Störungen ohne Androgenüberproduktion. Nebennierenrindeninsuffizienz
Die primäre NNR-Insuffizienz ist Folge eines teilweisen oder vollständigen Verlustes der Nebennierenrindenfunktion. Die Zerstörung der Nebennierenrinde erfolgt im Rahmen von Autoimmunprozessen oder infektiösen Prozessen. Sehr seltene genetische Erkrankungen, wie APS Typ 1 oder X-chromosomale Störungen, können ebenfalls zu einer Nebennierenrindeninsuffizienz führen. Phäochromozytom
Ein Phäochromozytom ist ein Adenom oder ein Karzinom (selten) der chromaffinen Zellen des Nebennieren-
13
416
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 13 · Endokrine Organe
rindenmarks. In seltenen Fällen kann es durch eine extraadrenale Überproduktion bedingt sein. Es handelt sich entweder um spontane (häufig) oder hereditäre (seltener) Erkrankungen.
13.4.3 Fragen zum Zusammenhang
Ein vermehrtes Auftreten von Nebennierenrindenadenomen ist bei Übergewicht bekannt. Für die nicht mit Gendefekten assoziierten Nebennierenrindenerkrankungen sind keine weiteren Zusammenhänge zu Kausalfaktoren gesichert. Zum Verlust der NNR-Funktion kann es bei einem schweren Geburtstrauma kommen (Einblutung) oder im Rahmen einer schweren bakteriellen Infektion. Beim Waterhouse-Friedrichsen-Syndrom kommt es im Rahmen einer Menigokokkensepsis (selten: Haemophilus influenzae) zu einer hämorrhagischen Nekrose der Nebennieren mit bleibendem Verlust der NNR-Funktion. Die Schwere des Geburtstraumas und des Infektionsgeschehens korrelieren mit der Auftretenswahrscheinlichkeit einer NNR-Insuffizienz. Die chronische Applikation von Glukokortikoiden im Rahmen einer Pharmakotherapie von entzündlichen Leiden (rheumatoide Arthritis, Asthma bronchiale, entzündliche Darmerkrankungen in der Transplantationsmedizin) kann zu einer bleibenden Einschränkung der NNRFunktion mit der Notwendigkeit zur lebenslangen Substitutionstherapie führen, aber auch der Einsatz von Hochdosisglukokortikoidtherapie in Zusammenhang mit weiteren entzündlichen Geschehnissen (multiple Sklerose, Abstoßungsreaktion nach Transplantation, neuroprotektive Maßnahmen nach Schädel-Hirn-Trauma, Vaskulitiden) oder malignen Erkrankungen (Leukosen). Bei Bestehen eines Phäochromozytoms kann durch unterschiedliche Manipulation eine lebensbedrohliche Blutddruckkrise mit Todesfolgen ausgelöst werden; hierzu gehören angiographische Verfahren zur Abklärung des bestehenden Hypertonus, Punktion eines Nebennierenprozesses ohne vorhergehenden Ausschluss eines Phäochromozytoms (Brückel u.Boehm, 1998). Im Zusammenhang mit operativen Eingriffen, die mit dem Ziel der Entfernung des NNR-Prozesses durchgeführt werden, sind insbesondere dann schwerwiegende bis sogar tödliche Komplikationen zu erwarten, wenn eine nur unzureichende medikamentöse Vorbehandlung erfolgt ist. Dies gilt besonders für das Phäochromozytom, das präoperativ einer medikamentösen Blockade der adrenergen α-Rezeptoren, zeitlich gefolgt von einer Blockade der adrenergen β-Rezeptoren bedarf. Ferner sei hier die Aldosteron-Blockade vor operativer Therapie eines primären Hyperaldosteronismus erwähnt (Brückel u. Böhm 1998).
13.4.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Für den Glukokortikoidexzess besteht Berufs- und Erwerbsunfähigkeit auf Zeit. Der GdB/MdE-Grad wird entscheidend bestimmt von den Komplikationen des Hormonexzesses: Muskelschwäche und weitere Auswirkungen auf die verschiedenen Organssysteme mit Hypertonie, Herzinsuffizienz, sekundärem Diabetes mellitus, Osteopenie oder Osteoporose bis hin zu Wirbelkörperfrakturen und Hüftkopfnekrosen sowie psychischen Veränderungen. Wurde als operative Therapie eines Hyperkortisolismus z. B. eine bilaterale Adrenalektomie durchgeführt, handelt es sich letztlich um ein Vollbild einer Nebennierenrindeninsuffizienz, bei der in der Regel durch Substitutionsbehandlung eine Berufs-/Erwerbsfähigkeit wieder hergestellt werden kann. GdB/MdE-Werte liegen bei einem gut eingestellten Patienten zwischen 30 und 50. Zum Teil wird die Ansicht vertreten, dass eine dauerhafte Beeinträchtigung nicht vorliegt. Dem stehen eine deutlich erhöhte Mortalität der Betroffenen und eine deutlich eingeschränkte Feinregulation durch eine Substitutionsbehandlung gegenüber, sodass grundsätzlich von einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit auszugehen ist. Nebennierenrindeninsuffizienz
Es wird zwar prinzipiell von einer guten Behandelbarkeit ausgegangen, sodass in der Regel dauerhafte Beeinträchtigungen nicht zu erwarten sind. Im Einzelfall bestehen jedoch Funktionsstörungen mit funktionellen Beeinträchtigungen, u. a. orthostatische Dysregulation mit nicht ausreichender Anpassung unter Belastungssituationen. Ferner muss eine regelmäßige fachärztliche Kontrolle erfolgen. Grundsätzlich jedoch ist zu erwarten, dass in der Regel unter suffizienter Substitutionsbehandlung eine vollständige Berufs- und Erwerbsfähigkeit wieder hergestellt werden kann. Der GdB/MdE-Grad eines gut eingestellten Patienten ist mit etwa 30–50% anzusetzen (Hahner et al. 2007). Besonderheiten können sich bei weiblichen Betroffenen mit NNR-Insuffizienz durch den Mangel an Androgenen ergeben, wobei neben allgemeinen Störungen der Leistungsfähigkeit insbesondere muskuläre Insuffizienzen im Bereich des Beckenbodens in den Vordergrund treten können (Arlt u. Allolio 2003). Aus einer solchen Befundkonstellation kann sich im Einzelfall ein noch höherer GdB/MdE ergeben. Nebennierenkarzinom
Das Nebennierenkarzinom hat eine schlechte Prognose, sodass in der Regel abhängig vom Tumorstadium eine deutliche Einschränkung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit bzw. keine Berufs- und Erwerbsfähigkeit mehr besteht (Brückel u. Boehm 2003). Die histopathologischen Besonderheiten des NNR-Karzinoms können dazu führen, dass
417 13.4 Nebennieren
primär die Zuordnung zu einem malignen Prozess nicht erfolgen kann, sodass sich erst nach dem weiteren klinischen Verlauf durch ein Lokalrezidiv oder durch Fernmetastasen ein Malignom zeitverzögert demaskiert. Deshalb ist bei einem NNR-Tumor, der eine Größe von 5 cm überschreitet, u. U. bis zur endgültigen Bewertung des Krankheitsverlaufs ggf. eine mehrzeitige Bewertung notwendig (Fassnacht et al. 2004). Dieser Ablauf wäre in gleicher Weise für die allgemeine Risikobewertung zu empfehlen. Phäochromozytom und Mineralokortikoidexzess
Durch eine chirurgische Intervention kann beim Phäochromozytom in der Regel eine Restitutio ad integrum herbeigeführt werden. Gleichwohl kann es in Abhängigkeit zur Dauer der Erkrankung bereits zu bleibenden Schäden des kardiovaskulären Systems gekommen sein, die vor diesem Hintergrund gesondert zu bewerten wären. Hierzu zählen ein fixierter Hypertonus, Schäden am Myokard (meist Narbenbildung), und Schäden am Augenhintergrund. Dies gilt in gleicher Weise für einen Mineralokortikoidexzess, der in Teilen durch chirurgische Intervention oder medikamentöse Behandlung gut therapiert werden kann. Auch hier sind die Organfolgen als »Spätfolgen« eines Mineralokortikoidexzesses führend für die Beurteilung von GdB/MdE. Wie beim Phäochromozytom zählen zu den Organschäden u. a. eine fixierte arterielle Hypertonie, Schäden am Herzen (Myokardfibrose), am Gehirn oder am Nierenparenchym (Lehnert 2003).
NNR-Adenom) verbunden mit dem Nachweis einer biochemischen Korrektur ist keine oder zumindest keine gravierende Einschränkung der Berufs-, Erwerbs- und Dienstfähigkeit zu erwarten. Aufgrund einer Suppression der Hormonproduktion der verbliebenen NNR nach Entfernung eines Kortisol produzierenden NNR-Adenoms kann es jedoch zu einer Einschränkung der allgemeinen Leistungsanpassung kommen, hier ist in der Regel von einer zeitlich begrenzten Einschränkung in Analogie zu einem Morbus Addison auszugehen. Bei Vorliegen eines NNR-Karzinoms besteht nahezu regelhaft eine komplette Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeit. Beim operativ oder auch medikamentös korrigierten Mineralokortikoidexzess besteht eine Einschränkung der Berufs-, Erwerbs- und Dienstfähigkeit in direkter Abhängigkeit von Organschäden und Störungen des kardiovaskulären Systems.
13.4.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Tätigkeiten mit stark wechselnder Belastung, Schichtwechsel oder Arbeiten in einer Umgebung mit starker Kreislaufbelastung sind für Patienten mit NNR-Insuffizienz nicht gut geeignet. Bevorzugt bei weiblichen Betroffenen kann eine muskuläre Schwäche bestehen. Patienten mit einem NNR-Karzinom sind, bis auf seltene Ausnahmen, nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt berufs-, erwerbs- und dienstfähig (Brückel u. Boehm 2003; Terzolo et al. 2007).
13.4.5 Begutachtung privat versicherter Schäden 13.4.7 Risikobeurteilung
Lebensversicherung Aus großen populationsbasierten Untersuchungen ist klar, dass bei einem Exzess oder einem Mangel von Nebennierenrindenhormonen insgesamt die Mortalität für die Betroffenen signifikant erhöht ist.
Unfallversicherung Hormonexzess und -mangel erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein Unfallgeschehen. Bei krisenhafter Hormonausschüttung bei einem Phäochromzytom sind unmittelbar assoziiert ebenfalls Unfallschäden möglich. Beim Anfall kann es zu einer Schwindelattacke oder einer massiven Blutdruckentgleisung (Blutdruckkrise) kommen, zusätzlich durch die massive Ausschüttung von Stresshormonen zu einer deutlich eingeschränkten Selbstkontrolle bis hin zum Kontrollverlust.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Unter der Voraussetzung einer operativen Korrektur (Phäochromozytom, Kortisol oder Aldosteron produzierendes
Die Wahrscheinlichkeit für eine vorzeitige Pensionierung oder eine Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen ist bei Erkrankungen der Nebennierenrinde und des Nebennierenmarks deutlich erhöht. Es besteht eine klare Abhängigkeit zum Grad der biochemischen Kontrolle des Leidens in der chronischen Phase bzw. zur Zeitspanne zwischen dem erstmaligen Auftreten der klinischen Symptomatik und der Durchführung einer definitiven Therapiemaßnahme. Bei bleibenden Organschäden, die sich in ihrer Ausprägung erst nach einer definitiven Therapiemaßnahme in vollem Umfang abschätzen lassen, ist das Risiko einer vorzeitigen Pensionierung/Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen insgesamt als hoch anzusehen.
13
418
Kapitel 13 · Endokrine Organe
13.4.8 Verbesserung der Prognose durch
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
13.5.3 Fragen zum Zusammenhang
Rehabilitation Insbesondere bei Zustand nach Hormonexzess wie einem Hyperkortisolismus kann von rehabilitativen Maßnahmen eine Verbesserung erwartet werden. Grundsätzlich ist aber eine ambulante Langzeitbehandlung mit Therapie der Osteopenie/Osteoporose anzustreben.
13.5
Inzidentalom
13.5.1 Diagnostik
Eine Sonderstellung im diagnostischen Ablauf und damit in der weiteren gutachterlichen Beurteilung von endokrinen Erkrankungen nehmen die Zufallstumoren (Inzidentalome) der Schilddrüse, der Hypophyse und der Nebennieren ein. Zufallstumoren zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Rahmen von bildgebender Diagnostik, ohne dass zuvor eine entsprechende klinische Symptomatik bekannt war, inzidentell entdeckt werden (Lehnert 2003). Die Diagnostik nimmt in einer solchen Situation einen »reversen Verlauf« ein, d. h. nicht primär ausgehend von einer klinischen Symptomatik. In der bildgebenden Diagnostik erfolgt eine weitergehende Zuordnung mit Hilfe der verschiedenen diagnostischen Verfahren. Die zugrunde liegende Fragestellung ist die nach der klinischen Wertigkeit des jeweiligen Zufallsbefundes. Beispiele hierfür wären im Rahmen einer neurologischen Abklärung (z. B. MRT wegen Kopfschmerzen) der Zufallsbefund eines Hypophysenadenoms, im Rahmen einer Routineuntersuchung des Abdomens ein Zufallsbefund im Bereich der Nebennieren oder im Rahmen eines Schilddrüsen-Screenings die Entdeckung eines Schilddrüsenknotens. Die diagnostische Strategie zur weiteren Zuordnung ist den einzelnen Krankheitsentitäten zu entnehmen.
13.5.2 Krankheitsdefinition
Beim Inzidentalom handelt es sich um einen zufällig diagnostizierten, in der Regel hormonell inaktiven Tumor. Im engeren Sinne wurden zunächst nur zufällig diagnostizierte Raumforderungen und hormoninaktive Tumoren im Bereich der Nebenniere oder des Grenzstrangs als Inzidentalom verstanden. Inzwischen findet dieser Begriff eine Anwendung auch auf Zufallstumoren der Hypophyse und der Schilddrüse.
Siehe jeweilige Krankheitsbilder bzw. Krankheitsentitäten.
13.5.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Formal ist nicht von einer Einschränkung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit auszugehen; es handelt sich per definitionem um einen Zufallsbefund ohne Vorliegen einer klinisch apparenten Symptomatik. Gleichwohl kann sich bei der weiteren differenzialdiagnostischen Bearbeitung sehr wohl eine unmittelbare oder zukünftige klinische Bedeutsamkeit für den Betroffenen herstellen mit daraus resultierender Einschränkung der Berufs- und Erwerbsfähigkeit. Beispielhaft wäre ein Zufallstumor im Bereich der Nebennieren, der sich als subklinischer Hyperkortisolismus oder Nebennierenkarzinom herausstellt, zu nennen. In gleicher Weise kann sich ein Zufallstumor der Schilddrüse als Karzinom erweisen wie auch ein Hypophysenadenom anlässlich einer neurologischen Diagnostik, wobei sich z. B. nach einer operativen Intervention oder bereits präoperativ Funktionsstörungen bei weiterer subtiler Diagnostik ergeben. Für die weitergehende Bewertung sei auf die jeweiligen Krankheitsentitäten verwiesen.
13.5.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Im Einzelfall wird auf die einzelnen Krankheitsbilder verwiesen und deren weitergehende Beurteilung.
13.5.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Da es sich primär um einen klinisch inapparenten Befund handelt, ergeben sich zunächst keine Einschränkungen. Je nach weiterem Ergebnis der subtilen Diagnostik und der ggf. notwendigen Therapie kann sich diese Situation jedoch bei einem Inzidentalom erheblich ändern. Im Einzelfall wird auf die einzelnen Krankheitsbilder verwiesen und deren weitergehende Beurteilung.
13.5.7 Risikobeurteilung
Es wird auf die einzelnen Krankheitsbilder verwiesen und deren weitergehende Beurteilung.
419 Literatur
13.5.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Hier sei auf die jeweiligen Krankheitsentitäten verwiesen.
Literatur Arlt W, Allolio B (2003) Adrenal insufficiency. Lancet 361 (9372): 1881– 1893 Boehm BO. Schilddrüsenkarzinom (2003) In: Lutz MP, Adler G, Seufferlein T (Hrsg) Gastrointestinale und endokrine Tumoren. Zuckschwerdt, Germering/München, S 141–149 Boehm BO, Richter HP (2005) Hypophyse. In: Dörfler H, Eisenmenger W, Lippert H-D (eds) Das medizinische Gutachten. Springer, Berlin Heidelberg Heidelberg New York, Teil 6, S 1–27 Boehm BO (2000) Osteoporose. In: Adler G, Beglinger C, Manns M, Müller-Lissner, Schmiegel R (Hrsg) Klinische Gastroenterologie und Stoffwechsel. Springer, Berlin Heidelberg Heidelberg New York, 943–954 Brueckel J, Boehm BO (1998) Crisis after angiography. Lancet 352 (9136): 1278 Brückel J, Boehm BO (2003) Nebennierenrindenkarzinom. In: Lutz MP, Adler G, Seufferlein T (eds) Gastrointestinale und endokrine Tumoren. Zuckschwerdt Verlag, Germering/München, Seiten 150– 154 Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2004) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), Berlin DeGroot LJ, Kaplan EL, McCormick M, Straus FH (1990) Natural history, treatment, and course of papillary thyroid carcinoma. J Clin Endocrinol Metab 71 (2):414–424 Fahlbusch R, Honegger J, Paulus W, Huk W, Buchfelder M (1999) Surgical treatment of craniopharyngiomas: experience with 168 patients. J Neurosurg. 90 (2):237–250 Fassnacht M, Kenn W, Allolio B (2004) Adrenal tumors: how to establish malignancy ? J Endocrinol Invest 27 (4):387–399 Hahner S, Loeffler M, Fassnacht M, Weismann D, Koschker AC, Quinkler M, Decker O, Arlt W, Allolio B (2007) Impaired Subjective Health Status in 256 Patients with Adrenal Insufficiency on Standard Therapy Based on Cross-Sectional Analysis. J Clin Endocrinol Metab. Im Druck Hien M, Boehm BO (2007) Diabetes-Handbuch, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Heidelberg New York Hotze LA, Schumm-Draeger PM (2003) Schilddrüsenkrankheiten. Berliner Medizinische Verlagsanstalt, Berlin Lang GK (2004) Augenheilkunde, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart New York Lehnert H (Hrsg. ) (2003) Rationelle Diagnostik und Therapie in Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel. Thieme, Stuttgart New York Melmed S, Vance ML, Barkan AL, Bengtsson BA, Kleinberg D, Klibanski A, Trainer PJ (2002) Current status and future opportunities for controlling acromegaly. Pituitary. 5 (3): 185–196 Melmed S (2006) Medical progress: Acromegaly. N Engl J Med. 355 (24): 2558–2573 Neumeister B, Besenthal I, Liebich H. Boehm BO (eds) (2003) Klinikleitfaden Labordiagnostik. 3. Aufl. Gustav Fischer Verlag Lübeck, Stuttgart, Jena Schlechte JA (2003) Clinical practice. Prolactinoma. N Engl J Med. 349 (21):2035–2041 Tennvall J, Biorklund A, Moller T, Ranstam J, Akerman M (1986) Is the EORTC prognostic index of thyroid cancer valid in differentiated thyroid carcinoma? Retrospective multivariate analysis of differen-
tiated thyroid carcinoma with long follow-up. Cancer 57 (7): 1405– 1414 Terzolo M, Angeli A, Fassnacht M, Daffara F, Tauchmanova L, Conton PA, Rossetto R, Buci L, Sperone P, Grossrubatscher E, Reimondo G, Bollito E, Papotti M, Saeger W, Hahner S, Koschker AC, Arvat E, Ambrosi B, Loli P, Lombardi G, Mannelli M, Bruzzi P, Mantero F, Allolio B, Dogliotti L, Berruti A (2007) Adjuvant mitotane treatment for adrenocortical carcinoma. N Engl J Med 356 (23): 2372–2380 Tsigos C, Chrousos GP (1996) Differenzial diagnosis and management of Cushing‘s syndrome. Annu Rev Med 47: 443–61 Vance ML, Mauras N (1999) Growth hormone therapy in adults and children. N Engl J Med 341 (16): 1206–16 Vance ML (2004) Treatment of patients with a pituitary adenoma: one clinician‘s experience. Neurosurg Focus 16 (4): E1 Werder Kv (1998) Klinische Neuroendokrinologie. Springer, Berlin Heidelberg Heidelberg New York Yuan XQ, Wade CE (1991) Neuroendocrine abnormalities in patients with traumatic brain injury. Front Neuroendocrinol 12 (3): 209–30
Internetadressen Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ Leitlinien-Datenbank. Cochrane Collaboration Cochrane Reviews www.cochrane.org/reviews/index_de.htm Systematische Übersichtsarbeiten über die Wirksamkeit von Therapien. Endocrine Society USA http://jcem.endojournals.org/search.dtl Übersichtsarbeiten (Endocrine Reviews) und umfassende Sammlung von Orginialarbeiten (Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism).
13
421
Nierenkrankheiten U. Winkler, F. Keller
14.1
Diagnostik – 422
14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.1.4
Klinik und Untersuchungsanlässe – 422 Labordiagnostik – 422 Bildgebende Diagnostik – 423 Nierenbiopsie – 423
14.2
Krankheitsdefinition – 423
14.3
Fragen zum Zusammenhang
14.4
Bewertung nach dem Sozialrecht – 425
14.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
14.5.1 14.5.2 14.5.3
Lebensversicherung – 427 Unfallversicherung – 427 Berufsunfähigkeitsversicherung
14.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
14.6.1 14.6.2
Einschränkung in der Berufsausübung – 429 Fahrereignung und Fliegertauglichkeit – 430
14.7
Risikobeurteilung – 430
14.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
14.9
Sonderfragen – 431
Literatur
– 432
– 425
– 427
– 428
– 429
– 430
14
422
Kapitel 14 · Nierenkrankheiten
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die Gruppe der Nierenkrankheiten ist heterogen, und das Ausmaß der Beeinträchtigung variiert dementsprechend. Daher muss für die gutachterliche Betrachtung ausreichend differenziert werden. Grundsätzlich unterscheidet man das akute vom chronischen Nierenversagen. Ersteres kann in den meisten Fällen nach 4 Wochen folgenlos behoben werden, chronische Nierenkrankheiten führen jedoch häufig trotz Therapie innerhalb von ein oder zwei Jahrzehnten mit prognostizierbarer Gesetzmäßigkeit zum terminalen Nierenversagen. In diesen Fällen werden Dialysebehandlung und ggf. eine Nierentransplantation notwendig. Die Häufigkeit der terminalen Niereninsuffizienz beträgt etwa 1000 pro 1 Million Einwohner.
14.1
Diagnostik
14.1.1 Klinik und Untersuchungsanlässe
Im Gegensatz zu vielen anderen internistischen Krankheiten werden Nierenerkrankungen oft erst im fortgeschrittenen Stadium entdeckt, da sie erst spät Symptome beim Patienten verursachen. Die klinischen Anzeichen sind dann auch unspezifisch und führen von Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Juckreiz über Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen bis hin zu Wassereinlagerungen, um nur die häufigsten zu nennen. > Sind Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder arterielle Hypertonie bereits bekannt, sollten derartige Symptome aufhorchen lassen und zur Kontrolle der Nierenwerte und -morphe führen (Sonographie), wenn dies nicht schon regelmäßig geschieht.
Jede Erkrankung der Nieren führt zu einer Störung ihrer Funktionen. Diese erfüllt sie insbesondere im Rahmen 5 der Homöostase von Flüssigkeit, 5 des Säure-Basen-Haushalts, 5 des endokrinen Systems (Vitamin-D-Hydroxylierung, Erythropoetin, Renin), 5 der Eliminierung von Toxinen des Eiweißstoffwechsels. Im Zusamenhang mit der Einschränkung der Nierenfunktion stehen renale Osteopathie (über Vitamin D), renale Anämie (über Erythropoetin) und Bluthochdruck (über Renin). Entstehung der Niereninsuffizienz
Die funktionelle Einheit der Niere ist das Nephron. Jede Nierenkrankheit – ob vaskulär, glomerulär, interstitiell oder tubulär – führt zu einer gestörten Funktion des ge-
samten betroffenen Nephrons, also des Glomerulus und des Tubulus. Eine Niereninsuffizienz ist somit nichts anderes als eine verminderte Zahl funktionstüchtiger Nephren. > Wichtigstes Maß der Nierenfunktion ist die KreatininClearance.
Orientierend kann in der klinischen Praxis eine Abschätzung über das das reziproke Serumkreatinin in μmol/l erfolgen. Dabei gilt: 5 Prozent Nierenfunktion = 10.000/Kreatinin. Präziser, weil die Altersabhängigkeit berücksichtend, ist die MDRD-2-Formel (Modification of Diet in Renal Disease Study Group) für die GFR (glomeruläre Filtrationsrate). Dabei wird das Kreatinin in mg/dl und das Alter in Jahren angegeben. 5 MDRD-2 GFR (ml/min/1,73 m2) = 186,3 × Kreatinin–1,154 × Alter–0,203 × 0,742 (wenn weiblich) × 1,212 (wenn schwarz). Diese Formel ist ausgelegt für weißhäutige Männer, daher muss als Korrekturfaktor bei Frauen (weniger Muskelmasse) mit 0,74 multipliziert werden, bei Afroamerikanern (dunkelhäutig; ca 20% mehr Muskelmasse) muss mit 1,21 multipliziert werden. Die endogene Kreatinin-Clearance, welche auf einem 24-Stunden-Sammelurin beruht, ist wegen Sammelverlusten nicht zuverlässiger und kann nur in der Sondersituation eines liegenden Blasenkatheters zuverlässig bestimmt werden. Die Ausprägung der klinischen Symptomatik – ob mäßig, mittel oder fortgeschritten – resultiert weniger aus der Art als aus dem Ausmaß der Funktionsstörungen. Spezielle tubuläre Störungen können auch ohne Einschränkung der Nierenfunktion auftreten; zu diesen gehören das Fanconi-Syndrom oder die renaltubuläre Azidose Typ I, II und IV. Für die Einschätzung der chronischen Nierenerkrankung hat sich die Stadieneinteilung nach Levey (2005) bewährt (. Tab. 14.1).
14.1.2 Labordiagnostik
Wichtige Blutserumwerte, die Nierenerkrankungen betreffen, sind im Folgenden dargestellt. Kreatinin. Dies ist die Ausscheidungsform von Kreatin,
das sich als Energiereserve im Muskel befindet. Kreatinin wird über die Nieren mit dem Urin ausgeschieden. Da es als Stoffwechselprodukt fast vollständig filtriert wird, ist es zur Überprüfung der Nierenfunktion geeignet. Der Kreatininspiegel steigt erst ab einer Funktionseinschränkung der Nieren auf <50% an (kreatininblinder Bereich).
423 14.2 Krankheitsdefinition
. Tab. 14.1. Stadieneinteilung der chronischen Nierenerkrankung nach KDIGO Stadium
Einteilung
GFR (ml/min/1,73 m3)
1
Nierenschädigung
≥90
2
Nierenschädigung mit geringer Einschränkung der GFR
60–90
3
Mäßiggradige GFR-Einschränkung
30–60
4
Schwere GFR- Einschränkung
15–30
5
Nierenversagen
<15
5D
Dialyse
Anmerkungen: Im Falle einer Nierentransplantation wird der Buchstabe »T« angehängt, z. B. Nierentransplantiert. GFR von 40 entspricht Stadium 3T.
Harnstoff. Harnstoff ist das Hauptendprodukt des Ei-
weiß- und Aminosäurestoffwechsels, er wird über die Nieren aus dem Blut filtriert und ist ein Parameter zur Beurteilung der Nierenfunktion. Da der Harnstoffspiegel im Blut auch bei gesteigertem Eiweißabbau erhöht ist, wird Kreatinin in der Praxis als weitaus spezifischerer Nierenfunktionsparameter benutzt.
thode der Wahl bei Tumorverdacht oder dient zum Nachweis einer Embolie. Besteht der Verdacht einer Analgetikanephropathie mit unregelmäßig geschrumpften Nieren und ggf. verkalkten Papillennekrosen, reicht meist eine Computertomographie ohne Kontrastmittel aus. Eine Kernspinangiographie oder Spiral-CT mit Kontrastmittel eignet sich zum Nachweis einer Nierenarterienstenose.
Kalium. Die im Körper vorkommenden Kaliumionen be-
finden sich zu 98% intrazellulär. Kalium wird zu 90% über die Nieren im Harn ausgeschieden. Bei verminderter oder fehlender Urinausscheidung kumuliert Kalium im Körper und kann bei Erreichen entsprechend hoher Spiegel zu gefährlichen Bradykardien bis hin zum diastolischen Herzstillstand führen. Im qualitativen Urinsediment unter dem Phasenkontrastmikroskop erkennbare Akanthozyten und dysmorphe Erythrozyten legen die Vermutung einer glomerulären Mikrohämaturie nahe. Im quantitativen Urinsediment, das auch Addis-Count genannt wird, kann eine Erythrozyten- oder Leukozytenzahl bis zu 10.000/min noch als normal gelten. Eine Proteinurie bis 1,5 g/Tag kann ebenfalls noch physiologisch sein. Vom nephrotischen Syndrom spricht man erst ab einer Proteinurie von >3,5 g pro Tag.
14.1.3 Bildgebende Diagnostik
Typische Befunde in der Nierensonographie sind ein Harnstau, das Bild der familiären Zystennieren oder auch eine vermehrte (chronische) bzw. verminderte Echogenität (akute Nierenerkrankung). > Chronische Nierenkrankheiten erkennt man typischerweise an einer Nierenschrumpfung (<10 cm).
14.1.4 Nierenbiopsie > Die Nierenbiopsie ist letztlich zur Abklärung jeder klinisch nicht zu klärenden Nierenerkrankung erforderlich.
14.2
Krankheitsdefinition
Eine Einteilung der Nierenkrankheiten kann nach ätiologischen und histopathologischen Gesichtspunkten erfolgen.
Differenzierung der Nierenerkrankungen 5 5 5 5
Primär glomerulär Vaskulär Interstitiell Tubulär
Jede dieser Krankheitsentitäten kann akut auftreten, chronisch sein oder nach akutem Beginn in eine chronische Verlaufsform übergehen. In . Tab. 14.2 sind Beispiele für die Formen der primären Nierenerkrankungen dargestellt. Sekundäre Nephropathien
Die Nierenszintigraphie dient dem Perfusionsnachweis. Eine Computertomographie (CT) mit Kontrastmittel ist Me-
Neben diesen Formen der primären Nierenerkrankungen treten sekundäre Nephropathien bei verschiedenen Grun-
14
424
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 14 · Nierenkrankheiten
. Tab. 14.2. Formen der primären Nierenerkrankungen Akut
Chronisch
Glomerulär
Rapid progressive Glomerulonephritis (RPGN)
Membranöse Glomerulonephritis
Vaskulär
Hämolytisch-urämisches Syndrom
Ischämische Nephropathie mit Nierenarterienstenose
Interstitiell
Nephritis durch nichtsteroidale Antiphlogistika
Analgetikanephropathie
Tubulär
Acyclovir-Kristalle
Obstruktive Nephropathie
derkrankungen auf. Mit diesen korrelieren häufig typische klinische Krankheitsbilder (Diabetes mellitus, multiples Myelom, Sarkoidose), wobei Überschneidungen möglich sind. Das histologische Bild ist nicht nur abhängig von der Art der Nierenerkrankung, sondern von deren Stadium (tubulointerstitielle Veränderungen bei primären Glomerulonephritiden) und der spezifischen Therapie (Beispiel »Ciclosporin-Schaden«). Glomerulonephritis
8 9 10 11 12 13 14
Glomerulonephritiden (GN) sind klinisch-pathogenetisch zu differenzieren in 5 primäre Erkrankungen ohne Hinweise auf das Vorliegen einer Systemerkrankung und 5 sekundäre Glomerulonephritisformen bei Grunderkrankungen wie systemischen Vaskulitiden oder Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes.
. Tab. 14.3. Primäre und sekundäre Glomerulonephritiden (GN) Erkrankung
Häufigkeit bei Erwachsenen [%]
16
Mesangioproliferative IgA-Nephritis
25
Extrakapillär-proliferative Halbmond-GN
20 (= rapid progressive GN)
18 19 20
> Prinzipiell sind alle Glomerulonephritisformen behandelbar.
In der Regel erfordern die Glomerulonephritiden eine immunsuppressive Therapie, deren Intensität jedoch abhängig von der Form der Erkrankung ist. Dadurch können erhebliche Risiken und Nebenwirkungen auftreten und die Patienten belasten. Im Vordergrund steht hier die deutlich erhöhte Infektneigung, aber je nach Immunsuppressivum sind auch spezielle Nebenwirkungen wie z. B. Übelkeit, Diarrhö, Leukopenie, Thrombopenie und Osteoporose zu beachten. Vaskuläre Nierenerkrankung
Die häufigsten primären und sekundären Glomerulonephritiden sind in . Tab. 14.3 aufgeführt. Der klinische Verlauf ist äußerst variabel. Er reicht von einer asymptomatischen Mikrohämaturie und mäßiggradiger Proteinurie, dem nephritischen Syndrom, über eine große Proteinurie mit >3,5 g Eiweißausscheidung im 24Stunden-Urin, was als nephrotisches Syndrom bezeichnet wird, bis hin zum renopulmonalen Syndrom (z. B. Good-
15
17
pasture-Syndrom) mit irreversiblem Verlust der Nierenfunktion innerhalb weniger Wochen (»rapid progressive Glomerulonephritis«).
Membranöse GN
15
Minimal-change-GN
15
Fokal segmental-sklerosierende GN
10
Nekrotisierende GN bei Vaskulitis
5
Membranoproliferative GN
5
Endokapilläre postinfektiöse GN
5
Neben primären Makro- und Mikroangiopathien der Niere ist eine sekundäre Nierenbeteiligung bei systemischen Erkrankungen mit vaskulären Veränderungen und Vaskulitis zu unterscheiden. Zu den vaskulären Nierenerkrankungen zählen Makroangiopathien, wie Nierenarterienstenose, Nierenembolie, Nierenvenenthrombose, und Mikroangiopathien, wie das hämolytisch-urämische Syndrom oder die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura. Zahlreiche weitere Nephropathien im Rahmen von Systemerkrankungen zeigen in unterschiedlichem Ausprägungsgrad vaskuläre Veränderungen. Als wichtige Beispiele sind die Mikroangiopathie beim Diabetes mellitus, die maligne Nephrosklerose beim Bluthochdruck oder die obliterierende Mikroangiopathie der Nieren bei progressiver Systemsklerose zu nennen. Interstitielle Nierenerkrankung
Interstitielle Nierenerkrankungen können ebenfalls eine Manifestation von Systemerkrankungen sein, z. B. kann es bei der Sarkoidose zur granulomatös interstitiellen Nephritis kommen. Häufigste chronische interstitielle Nephritis ist nach wie vor die Analgetikanephropathie, deren Ursache die häufige Einnahme von Mischanalgetika ist. Klinisch und prognostisch ist zwischen chronisch interstitiellen und akuten interstitiellen Nephritiden zu unterscheiden. Diese sind in ca. 10% der Fälle Ursache eines
425 14.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
akuten Nierenversagens. Ätiologisch liegt der akuten interstitiellen Nephritis meist eine Arzneimittelunverträglichkeit (nichtsteroidale Antiphlogistika; NSAID), seltener eine Infektion zugrunde, z. B. mit Hantaviren, Polyomaviren oder Bakterien (Loehlein-Herdnephritis). Sekundäre Nierenerkrankungen
Verschiedenste Mechanismen können die Niere in Mitleidenschaft ziehen. Man spricht dann von sekundären Nierenerkrankungen. Ursachen können eine ganze Reihe von Erkrankungen sein (Übersicht)
Ursachen sekundärer Nierenerkrankungen 5 5 5 5 5 5 5
Metabolisch Kardiovaskulär Autoimmunologisch Rheumatologisch Infektiologisch Hämatologisch Onkologisch
Wichtige Beispiele sind Diabetes mellitus, Bluthochdruckkrankheit, systemischer Lupus erythematodes und andere systemische Vaskulitiden wie Wegener-Granulomatose oder mikroskopische Vaskulitits, Plasmozytom mit ALAmyloidose oder die AA-Amyloidose bei Mittelmeerfieber. Neben der Einteilung nach ätiologisch-pathogenetischen Kriterien ist auch bei den sekundären Nierenerkrankungen eine Unterscheidung nach klinischen Verläufen in akute und chronische Formen sinnvoll, da regelmäßig eine enge Korrelation zur Prognose besteht. 5 Ein akutes Nierenversagen, beispielsweise im Rahmen einer postinfektiösen Glomerulonephritis oder einer Nephrolithiasis, ist meist reversibel, wenn sofort therapiert wird und die auslösende Ursache beherrschbar ist oder beseitigt wird. Es entstehen dann keine bleibenden Nierenfunktionseinschränkungen. 5 Chronische Nierenerkrankungen sind in der Regel progredient und gehen bei zunehmender Niereninsuffizienz mit allgemeinen und/oder spezifischen klinischen Symptomen einher wie beispielsweise Bluthochdruck, Müdigkeit, Leistungsverlust und Wassereinlagerungen.
14.3
Fragen zum Zusammenhang
Als jeweilige Ursache der Nierenerkrankung sind Infektionen, Unfälle und Operationen klar definierbar:
Die postinfektiöse Glomerulonephritis oder die virusassoziierte interstitielle Nephritis sind als ursächlich geklärte Entitäten einzustufen. Unfälle können zu einem
traumatischen Nierenschaden führen und dadurch eine Hypertonie oder ein akutes Nierenversagen auslösen. Große operative Eingriffe und ihre Komplikationen (z. B. Minderperfusion der Nieren mit konsekutivem prärenalem Nierenversagen) sind als Ursache von akuten, aber meist reversiblen Nierenschäden leicht zu differenzieren. Medikamente wie nichtsteroidale Antiphlogistika (Diclofenac, Ibuprofen) oder Chemotherapeutika (z. B. Cisplatin) können akute Nierenschäden verursachen. Mischanalgetika verursachen iatrogen oder suchtbedingt chronische Nierenschäden bis hin zur Dialysepflichtigkeit. Außer bei der postinfektiösen endokapillären Glomerulonephritis ist ein Zusammenhang zwischen Tonsillitiden und Nierenerkrankungen unwahrscheinlich. Bestimmte Lösungsvermittler wie chlorierte Kohlenwasserstoffe können eine Glomerulonephritis auslösen (z. B. Goodpasture-Syndrom). Kälte allein ist nie Ursache einer Nephritis, allenfalls kann sie Harnwegsinfekte begünstigen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass langes Verweilen in der Kälte, wie es beim Wehrdienst oder in Gefangenschaft vorkommt, Nierenschäden auslöst. Schwermetalle (Blei, Cadmium) und nicht kontrollierte Naturheilmittel können chronische interstitielle Nephitiden verursachen.
14.4
Bewertung nach dem Sozialrecht
Art und Therapierbarkeit einer Nierenerkrankung wirken sich auf die Prognose aus. Die unterschiedlichen Nierenkrankheiten führen über verschiedene Pathomechanismen letzten Endes zur Verschlechterung der im Blutserum messbaren Nierenwerte und konsekutiv im Verlauf zu einer für den Patienten spürbaren Symptomatik.
Kommentar Als Orientierung für sozialrechtliche Bewertungen zieht man für die Funktionsfähigkeit der Nieren die MDRD-GFR und den Kreatininwert heran, die subjektive Befindlichkeit wird anhand der klinischen Urämiesymptome eingeteilt.
Unter Berücksichtigung dieser Parameter kann man den GdB/MdE anhand . Tab. 14.4 abschätzen. Ist die Diagnose der Nierenkrankheit bekannt, kann auch sie unter Berücksichtigung der subjektiven Beschwerden des Patienten zu einer Abschätzung des GdB/ MdE herangezogen werden (. Tab. 14.5; außer der Berufsfähigkeit kann auch noch grundsätzlicher die Erwerbsfähigkeit überhaupt gemindert sein).
14
426
1 2 3 4 5 6 7 8
Kapitel 14 · Nierenkrankheiten
. Tab. 14.4. GdB/MdE bei Nierenfunktionseinschränkungen Funktionseinschränkung
Labor
Klinische Symptome
GdB/MdE
MDRD-GFR [ml/min]
Kreatinin
Stadium 1 = gering 5 GFR >90
Kreatinin <1 mg/dl
Keine
0
Stadium 2 = mäßig 5 GFR 60–90
Kreatinin <1,5 mg/dl
Normale Leistungsfähigkeit; unwesentlich reduziertes Allgemeinbefinden
bis 30
Stadium 3 = mittelgradig 5 GFR 30–60
Kreatinin 1,5–3 mg/dl
Leichte Einschränkung der Leistungsfähigkeit; leicht reduziertes Allgemeinbefinden
bis 40
Stadium 4 = hochgradig 5 GFR 15–30
Kreatinin 3–6 mg/dl
Mäßige Einschränkung der Leistungsfähigkeit; stärker beeinträchtigtes Allgemeinbefinden
bis 70
Stadium 5 = präterminal 5 GFR 7,5–15
Kreatinin >6 mg/dl
Starke Einschränkung der Leistungsfähigkeit; stark gestörtes Allgemeinbefinden
bis 100
Chronische Dialyse 5 GFR <7,5
Kreatinin im dialysepflichtigen Bereich
Nierentransplantation
Kreatinin <1 mg/dl Funktion <2 Jahre
Heilungsbewährung
bis 100
Nierentransplantation
Kreatinin <1 mg/dl Funktion >2 Jahre
Nach Heilungsbewährung
bis 50
100
Folgeerkrankungen wie Hypertonie und Osteopathie sind zusätzlich zu bewerten.
9 . Tab. 14.5. GdB/MdE bei Nierenkrankheiten mit und ohne Symptomatik
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Diagnose
Symptome
GdB/MdE
Einzelniere, Nierenfehlbildung
Ohne Beschwerden und ohne Funktionseinschränkung
bis 10
Einzelniere, Nierenfehlbildung
Mit Beschwerden und ohne Funktionseinschränkung
bis 30
Nierensteinleiden
Mit Koliken <4/Jahr
bis 10
Nierensteinleiden
Mit häufigen Koliken
bis 30
Positiver Harnbefund
Eiweiß und/oder Erythrozyten- bzw. Leukozytenausscheidung >10.000/min
bis 10
Positiver Harnbefund
Rezidivierende Makrohämaturie
bis 30
Proteinurie <3,5 g/Tag
Nephritisches Syndrom (keine Ödeme)
bis 30
Proteinurie >3,5 g/Tag
Nephrotisches Syndrom (mit Ödemen)
bis 50
Nierenbeteiligung
Bei Systemerkrankungen mit Notwendigkeit einer immunsuppresiven Behandlung
bis 50
Die Art der zugrunde liegenden Nierenerkrankung sowie deren spezifische Behandlungsmöglichkeiten haben Auswirkungen auf die Prognose sowohl der Nierenfunktion als auch – insbesondere bei Systemerkrankungen – quoad vitam. Nierenerkrankung und Nierenfunktionsausfälle müssen getrennt berücksichtigt werden: Bei primären Nierenerkrankungen spielt die spezifische nephrologische Krankheitsentität – soweit sie überhaupt gesichert wurde – gelegentlich eine geringere Rolle als Art und Ausmaß der damit im Zusammenhang stehenden Nierenfunktionsausfälle. Dies wird deutlich an Patienten mit fortge-
schrittener, noch nicht dialysepflichtiger Niereninsuffizienz bei primärer Glomerulonephritis. Die aktuelle Lebensqualität des Patienten wird beispielsweise im Einzelfall eher von Medikamenten, Wasserausscheidung, Osteopathie oder dem Ausmaß einer Proteinurie geprägt als von der Entität der Nierenerkrankung. Andererseits bestimmt die zugrunde liegende Nierenerkrankung die Prognose und ist damit auch von gutachterlicher Relevanz.
427 14.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Gutachterliche Beurteilung der Nierenbeteiligung bei Diabetes mellitus
Bei sekundären Nierenerkrankungen kommt der Nierenfunktionseinschränkung häufig eine geringere Bedeutung zu als Symptomen und Komplikationen, die aufgrund der nichtrenalen Grunderkrankung bestehen. Eine beginnende Nephropathie bei Diabetes mellitus hat noch geringe Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit und Berufsfähigkeit, während die Folgen einer diabetischen Makroangiopathie (koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrankheit) oder einer Retinopathie bei Mikroangiopathie bereits zu einer Erwerbsunfähigkeit geführt haben können. Dies gilt nicht in gleicher Weise für andere Formen der sekundären Nephropathie. Gutachterliche Relevanz der fortschreitenden Einschränkung von Nierenfunktionen
Mit fortschreitender Nierenerkrankung kann die symptomatische Einschränkung von Nierenfunktionen oder teilfunktionen für Leistungsfähigkeit und gutachterliche Relevanz (Hypertonie und Folgen) zunehmend maßgeblich sein. Dies gilt besonders, wenn andere Komplikationen der Grunderkrankung im Hintergrund stehen oder eine Defektheilung eingetreten ist (juveniler Reflux).
dass eine progrediente Nierenerkrankung im Anfangsstadium, die evt. zur Dialyse führt, zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt und dementsprechend auch nicht gemeldet wurde. Diese Frage erübrigt sich bei Patienten, die bereits eine Dialysetherapie brauchen. Da sich internistische Krankheitsentitäten oft gegenseitig beeinflussen, können im Verlauf einer Krankheit oder bei Eintreten des Todes komplexe Fragestellungen auftreten. Führt z. B. ein langjähriger Diabetes mellitus zur terminalen Niereninsuffizienz, so sind die Gefäße nicht nur durch den Blutzucker geschädigt, sondern auch die dialysepflichtige Niereninsuffizienz per se stellt einen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – in erster Linie Herzinfarkt und Schlaganfall – dar. Hier sollte der Verlauf der Krankheit, der Laborwerte und der klinischen Situation über einen längeren Zeitraum zurückverfolgt werden, um ein Aussage über die wahrscheinliche Genese treffen zu können.
Kommentar Der Gutachter wird sich in den meisten dieser Fälle auf dem unsicheren Boden von Wahrscheinlichkeiten oder Spekulationen bewegen. Dies sollte dann auch dementsprechend formuliert werden.
Individuelle Berücksichtigung der Behandlung und Beeinträchtigungen des Patienten
Für die gutachterliche Einschätzung spielen darüber hinaus unerwünschte Begleiteffekte der Behandlung eine wesentliche Rolle. Sie beeinflussen die tatsächliche subjektive und objektive Beeinträchtigung des Patienten. Ein Patient mit systemischer Vaskulitis, der mit mehreren immunsuppressiv wirkenden Medikamenten eingestellt ist, muss als stärker eingeschränkt angesehen werden als ein Patient mit vergleichbarer Niereninsuffizienz infolge eines Alport-Syndroms. Insgesamt gesehen muss über den GdB/MdE individuell entschieden werden. Derzeit sind nur ungefähr 30% der arbeitsfähigen Dialysepatienten auch tatsächlich berufstätig. Dieser Prozentsatz gilt auch bei Nierentransplantierten.
14.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
14.5.1 Lebensversicherung
Vor Abschluss einer Lebensversicherung müssen Fragen nach bereits bestehenden Sekundärschäden beantwortet werden. Die Parameter, über welche der ärztliche Gutachter Auskunft geben soll, werden von der jeweiligen Versicherung festgelegt und richten sich auch nach der Höhe der Versicherungssumme. Liegen bei Abschluss der Versicherung nur leicht erhöhte Nierenwerte vor und hat der Patient keine Beschwerden, so ist es durchaus möglich,
14.5.2 Unfallversicherung
Die Nieren können durch einen Unfall direkt oder indirekt geschädigt werden. Bei einem Sturz oder einem Schlag im Bereich der Nierengegend können die Organe direkt betroffen sein, und es können z. B. eine Organverletzung mit Makrohämaturie oder eine Einblutung in die Nierenkapsel und eine Nierenruptur die Folge sein. Hier sind zur Diagnosesicherung bildgebende Verfahren unerlässlich, möglicherweise muss operativ eingegriffen werden. Werden als Folge eines Unfalls – z. B. bei Verbrennungs- oder Verschüttungsopfern – große Muskelanteile verletzt oder gequetscht, so ist durch die Rhabdomyolyse und die hypoxische Tubulopathie die Entwicklung eines sogenannten Crush-Syndroms oder einer Crush-Niere mit akutem Nierenversagen möglich. Aber auch hypotone Ereignisse, die im Rahmen eines Unfalls häufig auftreten (z. B. Schock, Blutverlust etc.) können zu einem prärenalen akuten Nierenversagen führen. Ist die Ursache der akuten Niereninsuffizienz behoben, z. B. Kreislaufstabilisation, so ist der Nierenfunktionsverlust in den allermeisten Fällen reversibel, dies kann allerdings bis zu 4 Wochen dauern. Bei nicht ausreichender Diurese oder Entwicklung von Urämiesymptomen kann dann trotzdem eine intermittierende Dialysetherapie notwendig werden, die bei Einsetzen der Nierenfunktion wieder pausiert und beendet werden kann.
14
428
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 14 · Nierenkrankheiten
Kommentar Bei vorgeschädigten Nieren, die noch ausreichend funktionieren, kann ein Unfall mit seinen Folgen zur protrahierten, aber reversiblen (»acute on chronic«) und zur terminalen/irreversiblen Niereninsuffizienz führen. Dies kann im Einzelfall den Gutachter vor große Probleme stellen, da es unmöglich ist, die Frage zu beantworten, ob und wann die Nierenerkrankung ohne Einwirkung des Unfalls zur Dialyse geführt hätte.
Hier ist es wichtig, sich einen Überblick über den bisherigen Verlauf der Nierenerkrankung (Laborwerte: v. a. Kreatinin, Klinik, bisher durchgeführte Diagnostik) zu verschaffen. Da Nierenkranheiten in der Regel einen gesetzmäßigen Verlauf nehmen, kann mit dem reziproken Serumkreatinin oder der GFR in Abhängigkeit von der Zeit eine Unstetigkeit in der Steilheit des GFR-Verlustes sichtbar gemacht werden. Ist die Nierenfunktion über Jahre stabil und in direktem zeitlichemZusammenhang mit dem Unfall eingebrochen, so kann diese Argumentationskette schlüssig dargelegt werden (. Abb. 14.1). Zur Bemessung des Invaliditätsgrades in der privaten Unfallversicherung wird üblicherweise die sogenannte Gliedertaxe herangezogen. Sie listet den prozentualen Grad der Invalidität für den Verlust oder Funktionsunfähigkeit von bestimmten Körperteilen (Arme, Finger, Beine etc.) und Sinnesorganen (Augen, Gehör etc.) auf. Dies ist bei Fragen nach Organsystemen wenig hilfreich. Soll die Einschränkung durch eine unfallbedingte Nierenerkrankung beurteilt werden, empfiehlt es sich, anhand der GdB/MdE-Tabelle des Sozialgesetzbuchs vorzugehen. Hier kann durch den klinischen Eindruck und die Serumkreatininwerte der GdB/MdE abgeschätzt werden (. Tab. 14.4 und 14.5).
Werden durch einen Unfall Verletzungen oder Wunden verursacht, so ist bei immunsuprimierten Patienten mit Wundheilungsstörungen zu rechnen. Auch Infektionen können leichter entstehen und länger persistieren. Zur Verursachung eines Unfalls können Kreislaufstörungen beitragen, die nicht selten nach der Dialysetherapie auftreten. Deutlich erhöhte Kaliumwerte bei eingeschränkter Nierenfunktion können Ursache einer Bradykardie sein, welche die zerebrale Durchblutung einschränken und zu Aufmerksamkeitsdefiziten und Schwindel führen kann. Detaillierter wird hierauf in 7 Kap. 14.6 »Eignung für bestimmte Tätigkeiten« eingegangen.
14.5.3 Berufsunfähigkeitsversicherung
Zur Einschätzung, welche Berufe nierenkranke Patienten ausüben können, müssen verschiedene Parameter beachtet werden. Grundsätzlich muss man die Situation von Patienten mit dialysepflichtiger und nicht (oder noch nicht) dialysepflichtiger Nierenerkrankung unterscheiden. Dialyse
Für die Dialyse muss ein nicht unerheblicher Zeitaufwand berücksichtigt werden. In der Regel sind dies 3-mal pro Woche 4–5 Stunden reine Therapiezeit, zu der noch Randzeiten wie Punktion des Shunts, Abdrücken der Punktionsstelle und An- und Abreise hinzukommen. In den meisten Dialysezentren werden die Patienten einer sogenannten »Schicht« zugeordnet, die dann regelmäßig Montag, Mittwoch und Freitag oder Dienstag, Donnerstag und Samstag zu einem vereinbarten Zeitpunkt ein Dialysegerät bereithält. Da die Dialyseplätze nicht kurzfristig besetzt werden können und die Bereitstellung des Gerätes Kosten verursacht, ist eine flexible Handhabung der Termine nicht möglich. Dem Patienten müssen also am Arbeitsplatz Zeiten für die Dialyse eingeräumt werden.
14 15 16 17 18 19 20
. Abb. 14.1. Änderung des Spontanverlaufs der glomerulären Filtrationsrate (GFR) durch zusätzliche Nierenschädigung
429 14.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
In vielen Zentren werden allerdings sogenannte »Spätschichten« oder sogar »Nachtschichten« angeboten, die es dem Patienten erlauben, nach der Arbeit die Dialyse wahrzunehmen (7 Kap. 14.6). Nach der Dialyse sind Kreislaufreaktionen und Blutdruckabfall nicht selten. Inwieweit dies den Arbeitnehmer in der Ausübung seiner Tätigkeit beschränkt, ist auch abhängig von der Art der Arbeit und muss individuell beurteilt werden. > Grundsätzlich werden Dialysepatienten mit einem GdB/ MdE von 100% eingestuft.
Man kann aber keine generelle Aussage über die individuelle Erwerbsfähigkeit machen. Werden die Einschränkungen der Patienten wie z. B. Dialysetermine, Hypotonien usw. berücksichtigt, kann ein Dialysepatient einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, was – sofern medizinisch keine Bedenken bestehen – als prognostisch günstig angesehen werden muss. Umschulungsmaßnahmen sollten hier großzügig gewährt werden. Nierentransplantation > In den ersten 2 Jahren nach einer Nierentransplantation gilt die sogenannte »Heilungsbewährung«. In dieser Zeit ist der GdB/MdE mit 100 festgelegt. Nach Ablauf dieser Frist wird der GdB/MdE abhängig von der Nierenfunktion (gemessen am Serumkreatinin) mit bis zu 50 bewertet (. Tab. 14.4).
Die Wiedereingliederung ins Berufsleben ist eines der Ziele nach Nierentransplantation, sodass bezüglich der Berufsunfähigkeit die spezifischen Probleme begutachtet werden müssen. In erster Linie betrifft dies die immunsuppressive Dauermedikation, welche zu einem erhöhten Infektionsrisiko und Wundheilungsstörungen führt. Dieses Risiko sollte minimiert und spezielle Berufsgruppen in dieser Hinsicht beraten werden. Folgende Situationen können sich ungünstig auswirken: 5 häufiger/ständiger Kontakt auf engem Raum zu vielen Menschen (z. B. Schaffner, Thekenarbeit mit Kundenverkehr, Bedienung etc.), 5 Arbeit im Freien ohne Schutz bei schlechter Witterung (z. B. Bauarbeiter, Landschaftsgärtner etc.), 5 Arbeit mit Verletzungsgefahr (z. B. Fleischer, Koch, andere Handwerksberufe, Forstwirt etc.).
suppressiva gelten die gleichen Anhaltspunkte wie bei Transplantierten (s. oben). Leidet ein Patient an einem nephrotischen Syndrom, so führt der Eiweißverlust auf der einen Seite zu Beinödemen – hier sind stehende Berufe ungünstig –, auf der anderen Seite zur Mangelzuständen, die körperlich schwere Arbeiten z. T. unmöglich machen. Auch die chronische Anämie kann zu deutlichen Einschränkungen in der Belastbarkeit führen, die häufigsten Symptome sind hier Schwindel und Belastungsdyspnoe. Dieser Form des Blutmangels kann mit der Substitution von Erythropoetin auf längere Sicht (Wochen) gut begegnet werden. > In der Regel wird man bei progredientem Krankheitsverlauf von Auslandsreisen – speziell in Länder mit nicht flächendeckender medizinischer Versorgung – abraten.
Peritonealdialyse
Führt ein Patient die Peritonealdialyse durch, so sind die terminlichen Einschränkungen weniger das Problem, aber die Umgebung sollte gerade während des Wechsels des Dialysebeutels hygienisch sein, da diese Patienten ständig durch eine Bauchfellentzündung (Peritonitis) gefährdet sind. Von Berufen wie Arbeit auf dem Bau, ausschließlich im Freien ohne Möglichkeit des Rückzugs (z. B. Landwirt), im Wasser (Taucher, Schwimmmeister), fahrende Berufe (Schausteller) wäre eher abzuraten, es sei denn, es kann ein Arrangement getroffen werden (7 Kap. 14.6). > Um für den Patienten die Berufsunfähigkeit oder Teilerwerbsunfähigkeit abzuwenden oder hinauszuzögern, sollte jede Form der Begleiterkrankung (Anämie, Osteopathie, Hypertonie, Elektrolytstörung) aktiv behandelt werden.
Essenziell ist hier die Ernährung (7 Kap. 14.8 »Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation«). Abnehmende Diurese kann oft mit Diuretika behandelt werden. In jedem Fall sind regelmäßige Facharztbesuche wichtig, um bei Veränderungen des Krankheitsverlaufs rechtzeitig intervenieren zu können und möglicherweise irreversible Schäden zu verhindern.
14.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
14.6.1 Einschränkung in der Berufsausübung
Diese Auflistung soll eine Idee über Arbeitsplätze geben, die Immunsupprimierte gefährden, sie kann beliebig erweitert werden.
Grundsätzlich ist die Erwerbstätigkeit bei Dialyse oder durch Infektionsrisiken nach einer Transplantation eingeschränkt.
Chronische Nierenkrankheit
Bei chronisch nierenkranken Patienten hängen die beruflichen Einschränkungen entscheidend von der Art, dem Ausmaß und der Therapie der Krankheit ab. Für Immun-
Hämodialyse
Für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist der erhebliche Zeitaufwand einer Hämodialyse von 12–16 Stunden,
14
430
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 14 · Nierenkrankheiten
gelegentlich sogar 20 Stunden pro Woche in einem Dialysezentrum zu berücksichtigen. Diese Zeiten müssen dem Arbeitnehmer ermöglicht werden. Viele Dialysezentren bieten aber für berufstätige Patienten sogenannte Spätoder Nachtschichten an, die dann möglichst wenig mit der Arbeitszeit kollidieren. Besonderen Planungsaufwand erfordert es, wenn der Dialysepatient in unregelmäßigen Schichtzeiten arbeitet. Die begrenzte Belastbarkeit und Therapienotwendigkeit beschränken den Aktionsradius. Bei körperlich anstrengenden Berufen können die Patienten schnell an ihre Belastungsgrenze stoßen. Hohe Kreatininwerte gehen meist mit einer schlechteren Leistungsfähigkeit einher, dieses Problem lässt sich jedoch in den meisten Fällen durch eine längere Dialysezeit oder Anwendung unterschiedlicher Maßnahmen zur Verbesserung der Dialyse (Umstellung des Filtersystems, Hämodiafiltration etc.) erreichen. Aber auch bei ausreichender und guter Dialyse sind die Patienten in den meisten Fällen durch die chronische Krankheit nicht in dem Umfang belastbar wie Nierengesunde. Abgesehen von den genannten Einschränkungen sind bei einer bestehenden Nierenerkrankung im Prinzip alle Berufe ausführbar. Wird eine Tätigkeit im Ausland geplant, müssen die dort gegebenen Therapiemöglichkeiten berücksichtigt werden. Zur Recherche der Dialysezentren vor Ort findet sich im Internet und in den ambulanten Dialysezentren selbst zahlreiche Literatur. Peritonealdialyse
Die Peritonealdialyse erlaubt zwar mehr Unabhängigkeit als die Hämodialyse, erfordert aber sowohl zeitliche als auch räumliche und hygienische Voraussetzungen am Arbeitsplatz, die selten gewährleistet sind. Hier können in Absprache mit dem Arbeitgeber möglicherweise entsprechende Bedingungen geschaffen werden, z. B. ein Extraraum, der für die Dauer des Dialysatbeutelwechsels (ca 20–30 Minuten Dauer) genutzt werden kann.
Rolle spielen. Auch der Transport von Personen ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Über die Fahrereignung entscheiden: 5 die dokumentierte Qualität der Therapie (z. B. bei Dialysepatienten Laborparameter im Intervall zwischen den Dialysen), 5 die Compliance des Betroffenen, 5 die Kritikfähigkeit des Patienten. Unabhängig von der Fahrzeuggruppe ist v. a. auf die Kaliumkonzentration im Serum bei Patienten mit Niereninsuffizienz zu achten. In erster Linie sind Patienten mit geringer oder fehlender Urinausscheidung von einer Erhöhung des Kaliumwerts im Serum betroffen. Die häufigsten Ursachen sind Ernährungsfehler oder Shunt-Probleme. Bei einer Hyperkaliämie kann es zu gefährlichen Bradykardien und plötzlichem diastolischem Herzstillstand kommen. Das Auftreten bedrohlicher und folglich selbst- und fremdgefährdender Herzrhythmusstörungen kann damit im Voraus erkannt und vermieden werden, indem man die Ursache eruiert und behebt. > Direkt nach der Dialysetherapie sollten die Patienten nicht selbst fahren, da nicht unerhebliche Kreislaufstörungen auftreten können.
Kommentar Für die Fahreignung gilt, wie in anderem Zusammenhang bereits erwähnt: Bei vielen Nierenerkrankungen, wie beispielsweise der diabetischen Nephropathie, beeinträchtigen andere Komplikationen der Grunderkrankung die Fahrereignung häufig früher und in größerem Ausmaß als eine Störung der Nierenfunktionen.
Für die Fliegertauglichkeit gelten strengere Bestimmungen.
Nierentransplantation
15 16
Berufe mit Publikumsverkehr können für nierentransplantierte oder aus anderen Gründen immunsuppressiv behandelte Patienten ein erhöhtes Infektionsrisiko bedeuten und sind darum weniger zumutbar.
17
14.6.2 Fahrereignung und Fliegertauglichkeit
18 19 20
Nierenkranke sind in ihrer Fahrtüchtigkeit nicht eingeschränkt. Es gibt daher keinen Grund, Nierenkranken, Dialysepatienten und Nierentransplantierten generell die Fahrerlaubnis zu versagen. Das gilt insbesondere für Pkw, mit Einschränkungen auch für Lkw. Bei letzterer Fahrzeuggruppe können Begleiterkrankungen wie Polyneuropathie oder Einschränkung der körperlichen Kräfte eine
14.7
Risikobeurteilung
Einstellung in den öffentlichen Dienst. Eine Verbeam-
tung nach Dialysebeginn wird in der Regel abgelehnt. Es gibt jedoch berühmte Beispiele für leistungsfähige Dialysepatienten oder solche in herausragender Position, wie Bruno Kreisky, der in Österreich in den 1970er-Jahren sogar Kanzler war.
14.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Bei einigen Nephritiden kann eine Besserung erwartet werden, meist aber verschlechtert sich die Nierenfunkti-
431 14.9 Sonderfragen
on Jahr um Jahr. Bei bestimmten Formen der Glomerulonephritis – wie Minimalläsionen oder postinfektiöser Glomerulonephritis – ist durchaus eine Heilung zu erwarten. Das Krankheitsbild medikamentenassoziierter Nierenkrankheiten verschlechtert sich nach Vermeiden der Noxe nicht weiter, es kann sich vielmehr durchaus wieder bessern. Ein gesetzmäßig ablaufender Verlust der Nierenfunktion von etwa 5 ml/min pro Jahr ist jedoch bei fast allen anderen Nierenerkrankungen die Regel. Die 5-Jahres-Überlebensrate bei Dialysepatienten beträgt etwa 70%, die Hospitalisierungsrate liegt etwa bei 1,5mal pro Patient und Jahr.
dagegen körperliches Training im Rahmen der Leistungsfähigkeit zu empfehlen. Sinnvoll sind 3-wöchige Kuren in geeigneten speziellen Einrichtungen. Neben den diätetischen Maßnahmen wird v. a. das körperliche Training gefördert. Der Patient soll lernen, seine Grenzen zu erkennen und diese Grenzen durch gezielte Übungen, wenn möglich, zu erweitern. Es ist wichtig, dass der Patient gefordert und sein Selbstbewusstsein gesteigert wird. So entwickelt er Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und lernt schneller, mit der neuen Situation umzugehen.
14.9 > Diät und körperliches Training haben eine herausragende Bedeutung. 5 Rehabilitative Maßnahmen spielen für die Genesung bei Nierenkranken eine große Rolle.
Spezielle Unterweisungen in diätetische Maßnahmen für Nierenpatienten sind unerlässlich und wichtig für das Wohlbefinden und das Outcome, in erster Linie sind hier Kalium, Phosphat und Kalzium zu nennen. Der Wert einer eiweiß- und salzarmen Diät wird allgemein bei allen Formen der Niereninsuffizienz unterstellt, ist aber nicht erwiesen. Je nach verbliebener Resturinausscheidung muss der Patient lernen, auf seine individuelle Wasserzufuhr zu achten und mögliche Warnsignale einer Überwässerung (Gewichtszunahme, Atemnot, dicke Beine) kennenzulernen. Da die Trinkmenge bei Patienten ohne Restausscheidung auf 500 ml pro Tag beschränkt ist, wird die fachliche Aufklärung zur Verbesserung der Compliance wichtig, auch lernt der Patient, mit unangenehmen Effekten wie starkem Durstgefühl umzugehen. > Bezüglich der Kaliumzufuhr ist es bei Patienten ohne Diurese unerlässlich, eine Ernährungsberatung durchzuführen, da die Kaliumaufnahme über die Nahrung (neben medikamentösen Effekten, die eher selten sind) mit Abstand die häufigste Ursache der bedrohlichen Hyperkaliämie ist.
Lebensmittel, die sehr viel Kalium enthalten und dementsprechend gemieden bzw. niedrig dosiert werden sollten, sind u. a.: Obst (Saft, Trockenfrüchte), Nüsse, Kartoffeln, Würzmittel wie Fleischextrakt, natriumarmer Kochsalzersatz (»Diätsalz«). Mangelernährung stellt als Extrem eine große Gefahr dar, auch hier ist die fachliche Aufklärung und Schulung der Patienten zur Prophylaxe und Prognoseverbesserung empfehlenswert. Körperliche Schonung wird bei akuten Nierenkrankheiten empfohlen, bei chronischen Nierenkrankheiten ist
Sonderfragen
Arzthaftung Recht auf Transplantation. Jeder terminal nierenkranke
Patient hat das Recht auf eine Nierentransplantation. Aus dem Behandlungsvertrag ergibt sich für den behandelnden Arzt die Pflicht, mit dem Patienten eine Transplantation als mögliche Option mit Vor- und Nachteilen zu diskutieren. Im Transplantationsgesetz werden als Kriterien die Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten gleichrangig genannt.
Kommentar Gefälligkeitsgutachten schaden eher, als dass sie nützen. Wie bei allen chronischen Krankheiten sollte der Arzt über die sozialen Folgen der Krankheit gut informiert sein und seinem Patienten sinnvolle Atteste zur Vorlage bei den entsprechenden Stellen ausstellen. Sogenannte Gefälligkeitsatteste helfen wenig und sind dem Anliegen der gesamten Patientengruppe meist nicht förderlich. Gerade wenn der Arzt (z. B. der behandelnde Nephrologe) mit der Begutachtung eines von ihm betreuten Patienten beauftragt wird, besteht die Gefahr, dass der Gutachter nur das Wohl des Patienten, nicht aber die berechtigten Interessen der Allgemeinheit sieht. Dies ist zwar gut nachzuvollziehen, da der Arzt sich ja zu Recht als Anwalt seines Patienten sieht, entwertet aber doch das erstellte Gutachten und zieht Verfahren durch mögliche Gegengutachten in die Länge.
Interessen des Patienten
Bei der Behandlung chronisch Nierenkranker sind stets viele Probleme auch im sozialen Bereich zu beobachten, und es ist zu überlegen, inwieweit man in der Begutachtung den Grundsatz »in dubio pro aegroto« vertreten sollte.
14
432
Kapitel 14 · Nierenkrankheiten
Literatur
1
6
Kuhlmann U, Walb D, Luft F C (1998) Nephrologie. Thieme, Stuttgart New York Grabensee B (1998) Checkliste Nephrologie. Thieme, Stuttgart New York Franz HE, Hörl W H (1997) Blutreinigungsverfahren. Thieme, Stuttgart New York Hausotter W (2000) Ärztliche Gutachten. Eine elementare ärztliche Aufgabe. Dtsch Ärztebl 96, 22:1160–1162 Levey AS, Ecjhardt KU, Tsukamoto Y, Levin A, Coresh J, Rossert J, De Zeeuw D, Hostetter TH, Lameire N, Eknoyan G (2005) Definition and classifikation of chronic kidney disease: a position statement from Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO). Kidney Int 67 (6): 2089–2100 Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Bonn
7
Internetadressen
2 3 4 5
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Prof. Dr. med. Jörg Piper, Bad Bertrich www.medizinische-Begutachtung.de Begutachtungsanlässe, -form, -vergütung; Links auf weitere interessante Internetseiten. Für aktuelle Fragen empfehlen wir außerdem eine Recherche in Medline oder PubMed.
433
Weibliche Geschlechtsorgane H.L. Sommer
15.1
Uterus und Ovarien
15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.1.5 15.1.6 15.1.7 15.1.8 15.1.9
Diagnostik – 434 Krankheitsdefinition – 436 Fragen zum Zusammenhang – 439 Bewertung nach dem Sozialrecht – 441 Begutachtung privat versicherter Schäden – 442 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 444 Risikobeurteilung – 445 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 446 Sonderfragen – 448
15.2
Äußeres Genitale – 449
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6 15.2.7 15.2.8 15.2.9
Diagnostik – 449 Krankheitsdefinition – 450 Fragen zum Zusammenhang – 450 Bewertung nach dem Sozialrecht – 451 Begutachtung privat versicherter Schäden – 451 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 451 Risikobeurteilung – 452 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 452 Sonderfragen – 452
15.3
Erkrankungen der Mammae
15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6 15.3.7 15.3.8 15.3.9
Diagnostik – 453 Krankheitsdefinition – 453 Fragen zum Zusammenhang – 454 Bewertung nach dem Sozialrecht – 454 Begutachtung privat versicherter Schäden – 454 Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 455 Risikobeurteilung – 455 Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation – 455 Sonderfragen – 455
Literatur
– 456
– 434
– 453
15
434
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Gutartige Tumoren und Zysten
Gutachtenfragen bei nicht bösartigen Erkrankungen des weiblichen Genitales stellen sich selten, haben dann aber eine besondere Brisanz. Diese Brisanz ergibt sich aus der anatomischen Lokalisation – Intimbereich der Frau – und der oft erschwerten Objektivierung und Verifizierung von Befunden und deren funktionellen Auswirkungen. Lage- und Halteveränderungen der Organe des kleinen Beckens sind Dauerzustände mit belastenden Folgen, wie verschiedenen Formen der Harninkontinenz und Dyspareunie. Krebserkrankungen haben weitreichenden Einfluss auf die psychosoziale Integrität und Belastbarkeiten der betroffenen Frauen. Die Endometriose – Entwicklung von Gebärmutterschleimhaut außerhalb des Cavum uteri – gehört zu den häufigsten benignen proliferativen Erkrankungen mit chronischen Beschwerden und erfordert oft langwierige Behandlungen. Gutartige Tumoren, vorwiegend Myome des Uterus, wie auch zystische Neubildungen im Adnexbereich, lassen sich dagegen ohne bleibende Folgen operativ sanieren. Das äußere Genitale umfasst die Hautareale, die den Scheideneingang umgeben und schützen, begrenzt dorsal vom Anus, ventral vom Mons pubis und lateral von den Leistenbeugen. Die Vagina selbst gehört dazu als Verbindungsweg von außen zur Cervix uteri mit dem Zervikalkanal als Eingang in das innere Genitale. Gut- und bösartige Veränderungen, die gutachterlich relevant werden, sind in dieser Region selten. Nicht maligne Erkrankungen der weiblichen Brustdrüse sind gutartige Tumoren (vorwiegend Fibroadenome), Entzündungen (Mastitis puerperalis im Wochenbett und Mastitis nonpuerperalis), Fehlbildungen, Abweichungen vom individuell gewünschten Formbild mit Krankheitswert und der Indikation zur Korrektur, Brustschmerzen, meist hormonell bedingt (Mastopathie), und Hauterkrankungen im Bereich der Brustdrüsen. Gutachterlich von Bedeutung ist nahezu ausschließlich die maligne Erkrankung der weiblichen Brust, das Mammakarzinom.
15.1
Uterus und Ovarien
15.1.1 Diagnostik Descensus und Prolapsus uteri
Die Diagnose ergibt sich aus der angegebenen Beschwerdesymptomatik (Druck nach unten) und der klinischen Inspektion in Ruhe und beim Pressen. Die spezifische Symptomatik der Darmentleerungsstörungen und des unkontrollierten Urinabgangs gilt es einzuordnen und durch Spezialuntersuchungen, wie urodynamische Messungen, zu verifizieren. Die subjektiven Angaben der Betroffenen reichen für die Diagnosestellung allein nicht aus, da z. B. Harndrang mit Inkontinenz verwechselt werden kann.
Basisdiagnostik ist die bimanuelle vaginale und rektale Palpation sowohl für Myome als auch für Zysten. Apparativ gelingt die Objektivierung und Ausmessung durch die vaginale und abdominale Sonographie. Zysten lassen sich in ihrer Dignität relativ sicher durch die Sonographie bestimmen und von soliden oder auch suspekten Tumoren (inhomogene Binnenechos, Durchblutung etc.) abgrenzen. Mit Hilfe der Dopplersonographie ist eine Abklärung der Durchblutung möglich. > Eine verstärkte Durchblutung passt nicht zu einem gutartigen Tumor oder einer Zyste.
Ergänzende Methoden sind die CT und die MRT und schließlich die operative Klärung (Laparoskopie/Laparotomie) mit mikroskopischer Untersuchung entnommener Gewebsproben oder des gesamten Tumors. Differenzialdiagnostisch kommen auch Sarkome in Betracht, doch das Verhältnis von benignen Myomen zu malignen Myosarkomen beträgt 800 : 1. Verdacht auf zystische Veränderungen der Ovarien im Sinne eines polyzystischen Ovarialsyndroms (PCOS) kann sich primär auch aus endokrinen Funktionsstörungen wie Oligo- oder Anovulation, Hirsutismus, Akne, Haarausfall vom männlichen Typ und anderen Zeichen der Hyperandrogenämie ergeben. Insulinresistenz ist häufig, das Risiko für das Auftreten eines Diabetes mellitus Typ 2 ist erhöht. Endometriumkarzinom
Vorsorge- oder Früherkennungsuntersuchungen haben sich beim Endometriumkarzinom bisher als nicht effektiv und praktikabel erwiesen. > Die gynäkologische Routineuntersuchung mit Inspektion, Palpation, Kolposkopie, Zytologie und Sonographie kann ein frühes Endometriumkarzinom nicht ausschließen.
Selbst bei symptomatischen Frauen (d. h. Frauen mit einer Postmenopauseblutung) liegt die Prävalenz für ein Endometriumkarzinom nur bei 3,2–9,5%, bei asymptomatischen Frauen liegt die Prävalenz natürlich wesentlich niedriger: bei 0,13–0,69% (Kürzl 2007). Hieraus wird ersichtlich, dass die Postmenopausenblutung (wie auch andere irreguläre Blutungen) einer Abklärung zum Ausschluss eines Endometriumkarzinoms bedarf. Standard bei der Abklärung uteriner Blutungsstörungen sind die Hysteroskopie mit gezielten Biopsien und die fraktionierte Abrasio. Aus der histologischen Untersuchung ergeben sich der Tumortyp und eventuell auch Hinweise für die Tumorausdehnung. Weitere Diagnostik wie Kernspinuntersuchung, um die Infiltrationstiefe des Karzinoms in das Myometrium festzustellen, Computertomographie zur Suche nach Lymphknotenmetastasen,
435 15.1 Uterus und Ovarien
Thoraxröntgenaufnahmen und Sonographie des Abdomens zur Fernmetastasensuche sind möglich, ändern aber das primär operative Therapiekonzept nicht. Zervixkarzinom
Die gynäkologische Vorsorgeuntersuchung bietet die einzigartige Möglichkeit, ohne Belastung mit höchster Wahrscheinlichkeit die Entstehung eines Zervixkarzinoms für mehrere Jahre auszuschließen: Der HPV-Test muss negativ sein, und die zytologischen Abstriche, unter kolposkopischer Sicht von Portio und Zervix entnommen, ebenfalls. Bei auffälligen Zytologiebefunden (Einteilung nach Papanicolaou in der Übersicht) und eventuell zusätzlich positivem HPV-Test muss mit dem Vorliegen einer Präkanzerose oder Neoplasie gerechnet werden. Bei rechtzeitiger Feststellung ist diese Neoplasie noch keinesfalls ein Krebs.
HPV-Zytologiebefunde: Einteilung nach Papanicolaou und diagnostische Konsequenzen 5 5 5 5 5 5 5
Pap I = normal Pap II = entzündlich, Kontrolle Pap IIId = Dysplasie, Kontrolle Pap III = unklar, Kontrolle Pap IVa schwere Dysplasie, Histologie erforderlich Pap IVb = schwere Dysplasie, Karzinom möglich Pap V = maligne Zellen
Durch intensive weitere Kontrolle durch Kolposkopie, Zytologie ggf. gezielte Biopsie und HPV-Testung in einer qualifizierten Dysplasiesprechstunde kann die Vorstufe behandelt und das invasive Karzinom verhindert werden. Eine sofortige Konisation oder auch Kryotherapie bei Dysplasien sind inzwischen obsolet. Die Diagnose eines bereits klinischen Krebses ergibt sich ohne die oben genannte Untersuchung schon aus der Inspektion nach Spekulaeinstellung der Vagina und Sichtbarmachung der Portio uteri. Zur Sicherung ist eine Biopsie für die histologische Begutachtung dennoch erforderlich. Das klinische Stadium wird durch Inspektion und bimanuelle Palpation festgestellt. Zur bildgebenden Dokumentation und Verlaufskontrolle nach Therapie sind CT und MRT möglich. Das MRT ist besonders geeignet, die Größe des Tumors zu verifizieren und Beziehungen zu den Nachbarorganen zu klären (Infiltration in diese Organe?). Zur Detektion der Lymphknoten gibt es noch keine absolut verlässliche bildgebende Methode.
umfanges und gastrointestinalen Beschwerden. Ovarialtumoren sind ab einer bestimmten Größe in Abhängigkeit von der Dicke der Bauchdecke bei der gynäkologischen Untersuchung tastbar. Derbe Konsistenz, unregelmäßige Oberfläche und Fixation mit der Umgebung sprechen für Malignität. Wichtigste bildgebende Methode ist die abdominale und vaginale Sonographie zur Größenbestimmung des Tumors und Beurteilung von Nachbarorganen. Mit CT und MRT lässt sich das gesamte Abdomen analysieren, allerdings bleiben Herde <2 cm auch mit diesen Schnittbildverfahren unerkannt. Weitere Bildgebung ist sinnvoll, um Metastasen in anderen Organen auszuschließen: Röntgen des Thorax, Mammographie, Koloskopie, Zystoskopie u. a. Die endgültige Diagnose allerdings kann nur pathologisch nach mikroskopischer Untersuchung entnommenen Gewebes gestellt werden. Dieses Gewebe kann durch eine Laparoskopie gewonnen werden. Allerdings darf es dabei nicht zu einer Tumorverschleppung kommen. > Es muss umgehend (spätestens innerhalb einer Woche nach der Gewebeentnahme) die möglichst komplette Tumorentfernung (R0-Resektion!) in Form einer Radikaloperation oder einer Staging-Laparotomie angeschlossen werden.
Erst nach der Operation ist eine exakte Tumorstadienangabe von IA bis IV möglich. Entzündliche Erkrankungen des Uterus und der Adnexe Zervizitis. Durch eine gynäkologische Untersuchung mit
Spekulumeinstellung lässt sich visuell bereits feststellen, ob eine Zervizitis vorliegt. Die weitere Abklärung erfordert dann die mikrobiologische Erregersuche mit Differenzierung der möglichen Keime: Neisseria gonorrhoeae, Chlamydia trachomatis, Herpes-simplex-Virus. Falsch positive und falsch negative Ergebnisse erfordern zusätzliche Absicherung der Diagnose einer STD (»sexually transmitted disease«) durch Wiederholung oder alternatives Verfahren. Bei Sicherung einer STD muss eine Partnerdiagnostik vorgeschlagen werden, verbunden mit weiteren serologischen Untersuchungen auf Syphilis, Hepatitis und HIV. Endometritis. Die klinische Diagnostik ist unsicher, des-
Ovarialkarzinom
halb besteht meist nur eine Verdachtsdiagnose. Nur durch histologische Analyse des Endometriums nach einer Abrasio kann die Diagnose gesichert werden. Deshalb ergibt sich die Diagnose Endometritis meist erst nach einer Abrasio, die z. B. wegen Blutungsstörungen, uterinen Fluors oder Schmerzen indiziert wird.
Maligne Veränderungen der Ovarien verursachen keine Symptome, allenfalls bei weit fortgeschrittener Erkrankung kommt es zu Leibschmerzen, Zunahme des Bauch-
Salpingitis. Der sichere Nachweis einer Salpingitis ist nur möglich durch Laparoskopie mit den Kriterien:
15
436
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
5 Hyperämie der Tubenserosa, 5 Ödem der Tubenwand, 5 Exsudat auf der Tubenserosa oder aus den Ostien austretend. Ebenso können nur laparoskopisch gewonnene mikrobiologische Proben als Voraussetzung für eine spezifische Therapie gewertet werden. In der Praxis werden oft die Symptome Unterleibsschmerzen und eine Erhöhung der Entzündungsparameter (Fieber, Blutsenkungsreaktion, Leukozytose, CRP) in Zusammenhang mit Druckschmerzhaftigkeit und Verdickung der Adnexe als ausreichend für die Diagnose einer Adnexitis angesehen. Somit besteht allerdings das Risiko, eine Reihe von differenzialdiagnostisch möglichen Erkrankungen zu verkennen (Hoyme 2006; Übersicht).
Differenzialdiagnose der Pelvic Inflammatory Disease (PID) 5 5 5 5 5
10 11 12 13 14 15 16 17 18
5 5 5 5
Akute Appendizitis Ektopische Gravidität (HCG bestimmen!) Endometriose Ovarialzyste oder -tumor mit Blutung, Ruptur oder Torsion Peritonitis (Perinephritis, Perisplenitis, Perihepatitis, Organruptur oder Perforation, intraperitoneale Blutung, generalisierte Sepsis, akute gastrointestinale Entzündung, Mesenterialvenenthrombose) Harnwegsinfektion Uterus myomatosus mit peritonealer Reizung, Beckenvenenthrombose Intrapelvine Adhäsionen Chronische Salpingitis
Endometriose
Durch die gynäkologische Untersuchung einschließlich einer vaginalen Sonographie, evtl. in Kombination mit einer transrektalen Sonographie, lassen sich Ovarialendometriome allenfalls vermuten, aber nicht sicher abgrenzen von Myomen, Adhäsionen, funktionellen Zysten oder einem Ovarialkarzinom. Nur aus dem zusätzlichen zyklischen Unterbauchschmerz mit Dysmenorrhö ergibt sich die Verdachtsdiagnose einer Endometriose. Die definitive Diagnose lässt sich nur operativ, d. h. im Regelfall durch eine Laparoskopie, stellen mit histologischer Sicherung aus entnommenem Gewebe. Regelblutungsstörungen
19 20
Die Diagnostik richtet sich zunächst nach den anamnestischen Angaben der betroffenen Frau, aber auch nach den Folgeerscheinungen wie z. B. dem Abfall des Hämoglobinwertes im Blut bei starken vaginalen Blutverlusten.
Wenn die genaue Regelanamnese mit Dokumentation der Blutungen auf einem Kalender (Kaltenbach-Schema) keine Erklärung der Blutungsstörung zeigt, so muss nach der gynäkologischen Routinediagnostik und eventueller Hormonanalyse die weitere invasive Diagnostik erfolgen z. B. mit Hysteroskopie und fraktionierter Abrasio. > Die Kombination von Hysteroskopie und Abrasio ist besonders wichtig, zum einen, weil mit der (früher üblichen) alleinigen Abrasio nur 60–80% des Endometriums entfernt werden, und zum anderen, weil die Hysteroskopie eine höhere Sensitivität und Spezifität bezüglich Veränderungen am Endometrium als die Sonographie aufweist.
Mittels Minihysteroskopie (Hysteroskope mit Außendurchmesser von 2–2,8 mm) und gezielten Biopsien lässt sich prinzipiell die Narkose vermeiden. Blutungsstörungen unter einer Hormonersatztherapie oder hormonellen Kontrazeption sind zwar häufig funktioneller Genese, doch die oben genannte Diagnostik sollte nur kurzfristig (bis 3 Monate) für einen konservativen Therapieversuch hinausgeschoben werden. Sonst können schlimmstenfalls De-novo-Korpuskarzinome, ein äußerlich nicht sichtbares tiefes Zervixkarzinom oder Myome und Korpuspolypen maskiert und iatrogen verschleppt werden.
15.1.2 Krankheitsdefinition Descensus und Prolapsus uteri
Physiologisch ist der Uterus im Verhältnis zur Vagina nach vorn geneigt (Anteversio) und zwischen Korpus und Zervix nach vorn geknickt (Anteflexio). Abweichungen hiervon sind nur selten Ursache von Beschwerden in Form von Dysmenorrhö oder Kreuz- und Unterbauchschmerzen, z. B. bei Fixierung durch Verwachsungen. Abweichungen in der Längsachse der Anatomie des Uterus im Becken dagegen sind nicht nur häufig, sondern sie sind auch Ursache zahlreicher chronischer Belastungen der betroffenen Frauen. Die Ätiologie ist multifaktoriell erklärbar aus Belastungen des Beckenbodens wie z. B. durch Geburten, chronische Überlastung durch Fettsucht, schwere körperliche Arbeit (schweres Heben), konstitutionelle Bindegewebsschwäche, postmenopausale Involution oder intraabdominelle Druckerhöhungen (Asthma, Husten, Obstipation u. a.). Die Senkung des Uterus wird nach dem Höhenstand der Portio definiert (Übersicht).
437 15.1 Uterus und Ovarien
Senkung des Uterus 5 Descensus uteri Die Portio wird vor dem Introitus noch nicht sichtbar, befindet sich noch in der Vagina, die allerdings von der Zervix schon ausgefüllt ist. 5 Partialprolaps Portio sichtbar, tritt beim Pressen etwas vor den Introitus heraus. 5 Totalprolaps Die Vagina wird ausgestülpt, in ihr befindet sich der vorgefallene Uterus.
Die gleiche Nomenklatur ergibt sich für den Deszensus der vorderen Vaginalwand (Zystozele) und der hinteren Vaginalwand (Rektozele/Enterozele). Gutartige Tumoren und Zysten Uterusmyom. Die häufigsten soliden Tumoren des weib-
lichen Genitaltraktes sind Uterusmyome, die bei 20% aller Frauen nach dem 35. Lebensjahr nachgewiesen werden können. Histologisch bestehen die sehr unterschiedlich großen Tumoren aus glatter Muskulatur und Bindegewebe. Sie sind vorwiegend intramural (55%) sowie subserös (40%) lokalisiert und entwickeln sich aus Myoblasten der uterinen Muskulatur unter Stimulation durch ovarielle Steroide und weitere Wachstumsfaktoren wie z. B. Prolaktin, Insulin, Relaxin, IGF-I, IGF-II, EGF, PDGF u. a. Zysten. Es handelt sich um Raumforderungen im Kör-
per, die durch Flüssigkeitsansammlung innerhalb einer Gewebskapsel entstanden sind. Eine echte Gewebsneubildung wie bei einem Tumor ist damit nicht verbunden, allerdings kann selten hinter einer Zyste z. B. ein kleiner Tumor der Diagnostik entgehen. Zysten oder auch Kystome finden sich vorwiegend im Bereich der Ovarien. Bei prämenopausalen Frauen handelt es sich oft um nicht gesprungene Follikelzysten im Rahmen der Eizellreifung (persistierender Follikel) oder Gelbkörperzysten (Corpus-luteum-Zyste). Endometriumkarzinom
gina, Serosa (III) oder in Blase und/oder Darm (IV). Diese sogenannte klinische (prätherapeutische) Stadieneinteilung trifft auch auf Uterussarkome zu, wird aber nur bei Patientinnen mit ausschließlicher (primärer) Strahlentherapie verwendet. Die 1988 eingeführte chirurgische (intraoperative) und histopathologische pTNM-Klassifizierung (p = pathologisch, T = Tumor, N = Lymphknoten, M = Metastasen) gibt eine wesentlich genauere Tumorausdehnung an, aus der sich dann weitere adjuvante Therapieoptionen ergeben können. Pathogenese. Die Ätiologie ist noch unbekannt. Risikofaktoren sind aber Nulliparität, Adipositas, Diabetes mellitus, Hypertonus, Hormonsubstitution ausschließlich mit Östrogenen und Präkanzerosen des Endometriums. Zervixkarzinom
Das Plattenepithelkarzinom (90%) oder Adenokarzinom der Cervix uteri entwickelt sich über Vorstadien (Dysplasien) im Bereich des sichtbaren äußeren Muttermundes (Exophyt) und/oder Zervikalkanals (Endophyt) und wächst unbehandelt kontinuierlich weiter in das Parametrium zur Beckenwand hin, zur Vagina und diskontinuierlich über Lymph- und Blutwege in den Organismus (Metastasenbildung). Beim Zervixkarzinom ist bereits sehr lange bekannt, dass ähnlich wie beim Analkarzinom exogene Faktoren wie Sexualhygiene, Promiskuität, Infektionen, verschiedene Noxen, Rauchen, sozioökonomischer Status u. a. epidemiologisch eine Rolle spielen. Durch Studien ist jetzt belegt, dass Virusinfektionen mit HPV 16 und HPV 18 ursächlich an der Entstehung des Zervixkarzinoms beteiligt sind. Zusätzliche Risikofaktoren sind allerdings für die Krebsentstehung erforderlich wie z. B. verschiedene zelluläre Gene. Ovarialkarzinom Invasive Ovarialkarzinome. Diese entwickeln sich aus
den Epithelzellen der Ovarialkapsel. Diese Zellen können sich weiter differenzieren in seröse Adenokarzinome, muzinöse Adenokarzinome oder endometroide und hellzellige Adenokarzinome. Tumorzellen breiten sich rasch ungehindert im Abdomen aus mit Befall nahezu aller abdominaler Strukturen. Parallel kann eine lymphogene und hämatogene Ausbreitung in den Gesamtorganismus ablaufen und zu generalisierter Metastasierung führen.
Das Endometriumkarzinom, auch Korpuskarzinom genannt, entsteht durch Proliferation endometrialer Drüsen mit atypischen Hyperplasien, die schließlich in das Karzinom des Gebärmutterkörpers übergeht. Das Endometriumkarzinom ist mit jährlich rund 13.000 Neuerkrankungen bei einem mittleren Erkrankungsalter von 69 Jahren das häufigste Genitalkarzinom der Frau.
Invasive Ovarialkarzinome. Wesentlich seltener sind Borderline-Tumoren (Tumoren geringer maligner Potenz) der Ovarien mit Epithelzellen, verstärkter Proliferation, aber ohne infiltrierendes und destruierendes Wachstum.
Stadieneinteilung. Diese richtet sich nach der Tumorausdehnung, die meist per continuitatem erfolgt: In die Wand des Uterus (unterschiedlich tief, IA–C), in die Cervix uteri (II), in die unmittelbare Nachbarschaft wie Adnexe, Va-
Extraovarielle Ovarialkarzinome. Eine Besonderheit sind die sogenannten extraovariellen Ovarialkarzinome. Hierbei handelt es sich um einen Nachweis serös-papillärer Adenokarzinome im Bereich des pelvinen und extrapelvinen Peri-
15
438
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
toneums ohne Hinweis auf einen Primärtumor bei oft unauffälligen Ovarien oder sogar Jahre nach bilateraler Ovarektomie. Das Erkrankungsrisiko steigt mit dem Alter an (mittleres Erkrankungsalter 58 Jahre). Weitere Risikofaktoren sind neben dem Lebensalter Nulliparität, exogene Noxen (Asbest, Talkum), Ernährungsgewohnheiten der westlichen Industrienationen mit hohem Anteil an Fleisch, Milch, Milchprodukten und eine genetische Prädisposition. Entzündliche Erkrankungen des Uterus und der Adnexe
Die genitalen Infektionen der Frau in Form der Zervizitis, Endometritis und Salpingitis-Adnexitis stehen in kausaler Abhängigkeit voneinander und lassen sich meist ätiologisch, klinisch und therapeutisch nicht abgrenzen. Angloamerikanisch werden sie deshalb als »pelvic inflammatory disease« (PID) zusammengefasst. Zervizitis. Die Zervizitis, als Ursprung für die aufsteigende Endometritis-Salpingitis, betrifft im typischen Fall die junge, sexuell aktive, nicht schwangere Frau mit folgenden Risiken (Hoyme 2003): 5 frühe Kohabitarche, 5 hohe Kohabitationsfrequenz, 5 häufiger Partnerwechsel, 5 Schwangerschaftsabbrüche, 5 liegende Intrauterinspirale (IUD). 5 venerische Erkrankungen und Adnexitiden in der Anamnese.
11
Endometritis. Mit zunehmendem Alter nimmt die Dis-
12
position für aufsteigende Infektionen signifikant ab. Die nichtpuerperale Endometritis kann durch Actinomyces israelii (Strahlenpilz) besonders bei liegender IUD und sehr selten durch Tuberkulose hervorgerufen werden.
13 14 15 16 17 18 19 20
Salpingitis. Die Endometritis steht meist in Zusam-
menhang mit einer Salpingitis, die auch mit dem Begriff Adenexitis komplex definiert wird oder der anatomisch weniger zutreffenden Bezeichnung »Eierstocksentzündung«. Die Ätiologie der Salpingitis ist heterogen und lässt sich nur nach Wahrscheinlichkeiten zuordnen: 5 aszendierende, häufig durch Geschlechtsverkehr übertragene oder ausgelöste Entzündung bei jungen, sexuell aktiven Frauen, 5 Infektion nach Schwangerschaft oder intrauterinen Eingriffen (über Endometritis), 5 fortgeleitete Infektion bei Entzündung im Peritonealraum (Appendizitis! Operationen), 5 hämatogene Infektion (z. B.Tuberkulose). Da die disponierenden Faktoren (z. B. Lebensweise), reduzierte lokale Abwehr oder ausgebliebene Partnerbehandlung auch nach erfolgreicher therapeutischer Intervention fortbestehen, sind Reinfektionen und das Risiko erneuter Salpingitiden hoch.
Endometriose
Endometriose bezeichnet das Auftreten von Gebärmutterschleimhaut außerhalb des Cavum uteri. Endometriumherde im Myometrium werden als Adenomyosis uteri bezeichnet, Endometrium im Bereich von Adnexen und Uterusserosa als Endometriosis genitalis externa und Endometriumherde in anderen Organen sind eine Endometriosis extragenitalis. Die Herde sind physiologisch aktiv (rot) wie das intrauterine Endometrium oder inaktiv (farblos bis braun/schwarz) und können zu schweren Adhäsionen zwischen den befallenen Organen sowie Ausbildung von »Schokoladenzysten« führen. Zur Pathogenese gibt es mehrere Theorien: 5 Fragmente von uterinem Endometrium werden hämatogen, lymphogen oder per continuitatem verschleppt. 5 Durch die sogenannte retrograde Menstruation kommen Endometrioseherde besonders in die Nähe der Fimbrientrichter. 5 Undifferenzierte Stammzellen des Zölomepithels differenzieren sich zu Endometriumzellen. 5 Umweltbelastungen als Ursache werden diskutiert. Regelblutungsstörungen
Die monatliche vaginale Blutung kann sich in Stärke, Dauer, Intervall und Regelmäßigkeit unterscheiden mit fließenden Übergängen von der physiologischen Variationsbreite bis zum Hinweis auf mögliche pathologische Ursachen. Gebräuchliche Begriffe bei der Charakterisierung einer Blutung sind in der Übersicht erklärt.
Charakterisierung von Blutungen 5 Menorrhagie: Verlängerte Blutungsdauer >6 Tage 5 Hypermenorrhö: Verstärkte Blutung >5 Vorlagen/Tag bzw. Hb-Abfall 5 Zwischenblutung: Blutung zwischen den »normalen« Zyklen [z. B. als »spottings« (Schmierblutungen) oder als Metrorrhagie (starke Zusatzblutung)]. 5 Perimenopausenblutung: Störungen in den Wechseljahren 5 Postmenopausenblutung: Blutung >1 Jahr nach der letzten Periodenblutung (immer abklärungspflichtig) 5 Amenorrhö: Ausbleiben der Blutung >3 Monate 5 Oligomenorrhö: Zu seltene Blutungen in >35-tägigen Abständen 5 Polymenorrhö: Blutungen in Abständen <22 Tage.
439 15.1 Uterus und Ovarien
Anovulatorische Zyklen (monophasischer Temperaturverlauf im Zyklus ohne hypertherme Phase >12 Tage in der 2. Zyklushälfte) und Amenorrhö sind z. B. auf eine gestörte Ovarialfunktion zurückzuführen. > Der regelmäßige Zyklus ist äußeres Zeichen eines gesunden hormonellen Regelkreises mit monatlichem Aufbau und Abbluten des Endometriums und der grundsätzlichen zyklischen Fertilität.
15.1.3 Fragen zum Zusammenhang Descensus und Prolapsus uteri
Lageveränderungen des Genitales der Frau mit Krankheitswert haben multifaktorielle Grundlagen. Gutachterlich ergibt sich gegenwärtig selten die Frage nach der Kausalität, doch in Zukunft werden Betroffene und Kostenträger möglicherweise häufiger diese Frage klären wollen. Neben den Faktoren Alter, Konstitution und Körpergewicht können körperliche Be- und Überlastungen sowie die ärztliche Betreuung und Leitung früherer Geburten gutachterlich relevant werden. Lang dauernde vaginale Entbindungen mit großen Kindern können zur Ursache einer Schädigung des Beckenbodens mit späterem Deszensus werden. Der Einfluss der Dauer der Geburt auf die Entwicklung eines Deszensus ist bisher nicht belegt. Belegt ist, dass die Prävalenz von Prolaps mit der Zahl der vaginalen Geburten signifikant zunimmt. Äußere Ereignisse (Unfälle, Gewalteinwirkungen) haben keinen Einfluss auf Lageveränderungen des Genitales. Gutartige Tumoren und Zysten Myom. Ein Zusammenhang von Myomentstehung mit
äußeren Ereignissen ist nicht bekannt, außer der stimulierenden Wirkung einer Strahlenexposition: Die Inzidenz von Myomen nach der Strahlenexposition von Nagasaki zeigte eine positive Dosis-Wirkungs-Beziehung. Myome finden sich 2,2-mal häufiger bei Verwandten I. Grades innerhalb einer Familie, bei denen 2 und mehr Familienmitglieder Myome hatten, häufiger bei der schwarzen Rasse verglichen mit Weißen, Latinos und Asiaten, häufiger bei Frauen mit Übergewicht, höherem Bildungsgrad und bei Infertilität (Schindler 2004). Die Risikominderung für Myombildung bei Raucherinnen in Abhängigkeit vom Nikotinabusus kann auf die Reduktion der Östrogenproduktion der Ovarien durch Nikotin erklärt werden.
der Schwangerschaft abgeklärt werden, sonst empfiehlt es sich, bis zur Geburt zu warten. Endometriumkarzinom > Adipositas (BMI!) bedeutet ein erhöhtes Risiko für Entstehung eines Endometriumkarzinoms und eine schlechtere Prognose (Hawinghorst 2006).
Im Rahmen der zunehmenden Bedeutung hereditärer Tumordisposition folgt das Endometriumkarzinom innerhalb des HNPCC-Sydroms (»hereditary non-polyposis colon cancer«) dem Kolonkarzinom hinsichtlich der Tumorinzidenz auf dem 2. Platz. Um diejenigen Erkrankungsfälle zu ermitteln, bei denen mit höherer Wahrscheinlichkeit ein HNPCC-Syndrom zu erwarten ist, wurden die Bethesda-Kriterien definiert (Übersicht).
Modifizierte Bethesda-Kriterien aus gynäkologischer Sicht Mindestens ein Kriterium muss vorhanden sein: 5 Endometriumkarzinom vor dem 45. Lebensjahr 5 Synchrone oder metachrone Tumorerkrankungen, Endometriumkarzinom oder HNPCC-assoziierte Tumoren (Kolon, Rektum, ableitende Harnwege, Dünndarm, Magen, Ovar, ZNS, Haut) 5 2 betroffene Familienmitglieder, erstgradig verwandt mit Endometriumkarzinom und/oder HNPCC-assoziiertem Tumor (einer <45 Jahre) und/ oder kolorektalem Adenom vor dem 40. Lebensjahr
Gegenwärtig gibt es allerdings noch keine verbindlichen Empfehlungen für Früherkennungsprogramme und prophylaktische Chirurgie bei Mutationsnachweis (gelingt aus methodischen Gründen nur bei zwei Drittel der Verdachtsfälle). Im Falle einer Kolonkarzinomerkrankung einer Mutationsträgerin sollte bei abgeschlossener Familienplanung eine simultane Hysterektomie wegen des hohen Endometriumkarzinomrisikos vorgeschlagen werden. Korpuskarzinome treten gehäuft als Zweitkarzinome auch nach Malignomen der Mamma, der Ovarien und der Cervix uteri auf. Eine Erhöhung des Endometriumkarzinomrisikos ist unter der adjuvanten endokrinen Therapie des Mammakarzinoms mit dem Antiöstrogen Tamoxifen nachgewiesen.
Zysten. Vorwiegend im Bereich der Ovarien befindliche
Zysten lassen sich aus dem Zyklus der Ovarien erklären. Deshalb sind bei postmenopausalen Frauen Zysten selten und eher abklärungspflichtig als bei fertilen Frauen. Zysten während einer Schwangerschaft sind meist funktionell bedingt und sollten nur bei Wachstum, Beschwerden und Verdacht auf Malignität operativ noch während
> Eine Aufklärung der Betroffenen mit Mammakarzinom und Tamoxifen-Einnahme über die Notwendigkeit regelmäßiger gynäkologischer Untersuchungen und die Abklärungspflicht von Blutungsstörungen ist zwingend.
15
440
1 2 3 4 5
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
Allerdings sind entsprechend den Empfehlungen der American Society of Clinical Oncology und des National Institutes of Health eine Endometriumbiopsie oder Strichkürettage nur bei Auftreten von Blutungsstörungen und nicht allein aufgrund eines sonographisch verdickten Endometriums indiziert. Nach abgeklärten Blutungsstörungen ist ein Umsetzen von Tamoxifen auf einen Aromatasehemmer begründet.
vom Symptom Kreuzschmerzen werden die Frauen in der Zeit ihrer stärksten Beanspruchung als Mutter, Hausfrau und Berufstätige betroffen. Statisch-funktionelle Störungen des Haltungs- und Bewegungsapparates, die orthopädische Diagnostik erfordern oder eventuelle Umstellung der Arbeits- und Freizeitbelastungen, sind in erster Linie Ursache der Beschwerden.
Zervixkarzinom
Endometriose
Die Möglichkeiten der primären (Impfung)und sekundären (Vorsorgeuntersuchung) Prävention des Zervixkarzinoms sind so weit entwickelt, dass ein invasives Zervixkarzinom eine fast vermeidbare Erkrankung darstellen müsste.
Angaben über die Prävalenz der Endometriose sind nicht sicher möglich, da die Diagnose nur durch invasive Diagnostik gelingt. Kurze Zyklusdauer und frühe Menarche sind Risikofaktoren. Eine scheinbare Häufung bei sozial besser gestellten Frauen ist durch die intensivere Diagnostik erklärt. Endometriose ist gehäuft Ursache für Sterilität und wird deshalb auch im Rahmen der Sterilitätsdiagnostik festgestellt. Ob durch operative Eingriffe (z. B. Hysteroskopie, Prüfung der Eileiterdurchgängigkeit mit Kontrastmittel- oder Farbstoffdurchspülung) eine Endometriose begünstigt werden kann, lässt sich im Einzelfall nicht nachweisen.
6 Kommentar
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Wenn auch weltweit das Zervixkarzinom noch das zweithäufigste Karzinom der Frau ist, so muss bei dem hohen Standard der gynäkologischen Versorgung in Deutschland bei jeder Neuerkrankung nach Ursachen gesucht werden mit dem Ziel, Lücken in der Untersuchungskette für nachfolgende Betroffene zu schließen.
Ovarialkarzinom
Da das Ovarialkarzinom wegen der unzureichenden Früherkennungsmöglichkeiten erst in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert wird, kann nur durch Konzentration der Therapie in Behandlungszentren mit multimodalen Therapiekonzepten entsprechend aktueller Richtlinien, z. B. der Deutschen Krebsgesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO) eine Verbesserung der unbefriedigenden Heilungsraten erreicht werden. Ein Zusammenhang der Entstehung eines Ovarialkarzinoms mit einer Stimulationsbehandlung der Ovarien bei Sterilitätstherapie ist bisher nicht nachweisbar. Risikoeinflussfaktoren können nur geschätzt werden wie z. B. höheres Lebensalter (trifft auf die meisten Malignome zu), Ovarialkarzinom in der Verwandtschaft und frühere perineale Anwendung von Talkumpuder. Entzündliche Erkrankungen
17 18 19 20
Exogene Ursachen wie Sexualhygiene, Lebensweise und Sozialstatus liegen den entzündlichen Erkrankungen meist zugrunde. Doch die angenommene »Entzündung« ohne exakte Abklärung stellt oft ein Symptomkonglomerat dar, in dessen Mittelpunkt die Kreuzschmerzen stehen. Diese Kreuzschmerzen können durch Senkungszustände verursacht werden, aber auch durch chronisch entzündliche Prozesse und Adhäsionen, durch Myome, Adnextumoren und Endometriose. Daraus ergibt sich die Begründung, die Kausalität der Kreuzschmerzen zu klären, denn
Regelblutungsstörungen
Die verschiedenen Formen der Blutungsstörungen können zahlreiche organische Ursachen haben wie Myome, Schleimhautpolypen, Entzündungen, seltener Krebs von Cervix und Corpus uteri. Funktionelle Ursachen sind Hormonstörungen durch Follikelpersistenz oder hormonbildende Tumoren, Gerinnungsstörungen durch Medikamente oder hämatologische Erkrankungen, gestörte Schwangerschaftsentwicklungen. Verletzungen durch Unfall oder Geschlechtsverkehr lassen sich durch Anamnese und Inspektion klären. Unterschätzt werden psychische Ursachen: Der Uterus ist ein Projektionsorgan für Konflikt- und Belastungssituationen. Stresssituationen können zu langwierigen therapieresistenten Blutungsanomalien führen. Typisches Beispiel ist die Amenorrhö nach einem belastenden Ereignis (Schock, Unfall, Stuprum/ Vergewaltigung) oder bei belastender Dauersituation (Inhaftierung, Angst, Unterernährung). Störungen des Essverhaltens sind eine häufige Ursache von Amenorrhö und Infertilität. Etwa 20% dieser Frauen leiden unter einer Anorexia nervosa (Essstörung mit Untergewicht, BMI <17,5 kg/m2) oder einer Bulimia nervosa (Essanfälle mit Erbrechen und dysfunktionalen Maßnahmen zur Verhinderung der Absorption von Nahrung, exzessiver Sport, Laxanzien, Appetitzügler, Brechmittel etc.). Die Erkennung von Essstörungen in Kombination mit Zyklusanomalien sollte vom behandelnden Facharzt nicht übersehen werden. Ebenso wichtig ist die Evaluation besonderer Belastungen von Sportlerinnen, die gehäuft an primärer Amenorrhö oder verspäteter Menarche, sekundärer Amenorrhö, fehlendem Follikelsprung, Oligomenorrhö und an-
441 15.1 Uterus und Ovarien
deren funktionellen Störungen leiden (Schweiger 2004). Selten ist eine forcierte Kürettage mit Schädigung des Endometriums Ursache einer Amenorrhö (Asherman-Syndrom), die dann dem Operateur anzulasten ist.
15.1.4 Bewertung nach dem Sozialrecht Descensus und Prolapsus uteri
Lageveränderungen des Genitales mit Funktionsstörungen behindern die soziale Integration und bedeuten einen GdB/MdE entsprechend . Tab. 15.1 (Schmidt 2001). Gutartige Tumoren
Gutartige Tumoren per se sind allein kein Anlass zur Einstufung einer Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Allerdings geht bei Frauen das biologische Alter in die Begutachtung ein in Form der altersentsprechenden Empfängnisfähigkeit, Minderung des Selbstwertgefühls nach Verlust von Organen wie Uterus, Ovarien oder Funktionsverlust dieser Organe. Dementsprechend ist . Tab. 15.2 zu verstehen (Stoll 1992).
. Tab. 15.2. GdB/MdE nach Organentfernungen aufgrund gutartiger Tumoren des Genitales Organ
GdB/MdE
Verlust des Uterus bei noch bestehendem Kinderwunsch (= Sterilität), eventuelle psychoreaktive Störungen
20
Verlust eines/beider Ovarien ohne Kinderwunsch und ohne wesentliche Auswirkungen auf den Hormonhaushalt (nach dem 50. Lebensjahr)
0–10
Verlust der Ovarien in jüngerem Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch oder bei unzureichender Ausgleichbarkeit des Hormonausfalls durch Substitution
20–30
rechtigt bei fortgeschrittenen Tumorstadien und progredienter Erkrankung. Dann sollte auch eine Rente auf unbestimmte Zeit gewährt werden, sofern die Betroffene nicht ohnehin Altersrentnerin ist. Zervixkarzinom
Endometriumkarzinom
Patientinnen mit Endometriumkarzinom werden zu über 75% bereits im Stadium I diagnostiziert mit dementsprechend sehr günstiger 5-Jahres-Überlebenszeit von über 80% (Schmidt-Matthiesen et al. 2002). Es ist deshalb nach dem Schwerbehindertengesetz mit einer Einstufung bis GdB/MdE 50 zu rechnen. Selten ist ein höherer Grad be. Tab. 15.1. GdB/MdE bei Descensus genitalis Formen des Descensus genitalis
GdB/MdE
Descensus genitalis ohne Belastungsinkontinenz (auch nach Therapie) bei leichter Arbeit
0–10
Descensus genitalis ohne Belastungsinkontinenz (auch nach Therapie) bei schwerer Arbeit
10–20
Descensus genitalis mit Belastungsinkontinenz I. Grades (Harnabgang bei plötzlich erhöhtem intraabdominalen Druck: Husten, Niesen, Lachen)
10–20
Descensus genitalis mit Belastungsinkontinenz II. Grades (Harnabgang bei gering erhöhtem intraabdominalem Druck: Laufen, Treppensteigen, Aufstehen)
30–40
Descensus genitalis mit Belastungsinkontinenz III. Grades (ständiger Harnabgang, unabhängig vom intraabdominalen Druck)
60–80
Isolierte Rektozele
0–10
Totalprolaps
50–80
Rezidiv nach vaginalen plastischen Operationen
50–80
GdB/MdE liegen nach Operation eines Zervixkarzinoms ab Stadium Ib über 50, ab Stadium II bei 60–80. Dabei hat die Höhe von GdB/MdE nichts mit dem Schweregrad der Erkrankung zu tun, sondern ist abhängig von der Behinderung, d. h. der Leistungsfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit ist nicht nur durch die Tumorerkrankung selbst, sondern auch durch die langwierigen Therapieverfahren langfristig beeinträchtigt. Nach 5 Jahren bei Heilungsbewährung (Rezidivfreiheit) wird der GdB/MDE gekürzt oder aufgehoben in Abhängigkeit von noch bestehenden Spätfolgen der Erkrankung und Therapie. Solche glücklicherweise sehr seltenen Folgen der Operation und/oder Radiochemotherapie können HarnwegScheiden-Fisteln, Mastdarm-Scheiden-Fisteln oder Kombinationsfisteln (Kloakenbildung) sein mit einem sehr berechtigten Grad der Behinderung von 60–100. Die Heilungsbewährung ist bei diesen Frauen nebensächlich in Anbetracht der die soziale Integration fast unmöglich machenden Behandlungsfolgen. Ovarialkarzinom
Die mittlere Überlebenszeit (tumorabhängiger Tod) beim Ovarialkarzinom liegt nur bei 2,4 Jahren (Tumorregister München), da die Patientinnen erst in prognostisch ungünstigen Stadien diagnostiziert werden. Dementsprechend ist nach dem Schwerbehindertengesetz der GdB/ MDE bis zum Stadium Ib auf 50 und ab Stadium Ic auf 80 für die Zeit der Heilungsbewährung der ersten 5 Jahre festgesetzt. Die Betroffenen sind voll erwerbsgemindert, da sie außerstande sind, unter den aktuellen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erst nach Ablauf der Heilungsbe-
15
442
1 2
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
währung wird der GdB/MDE durch das Versorgungsamt nach Rückfrage und Beurteilung durch den behandelnden Arzt reduziert. Über 60% der betroffenen Frauen erleben ihre Heilungsbewährung nicht. Entzündliche Erkrankungen
3 4 5 6 7
Entzündungen im Bereich des äußeren Genitales und aszendierende Infektionen des inneren Genitales sind eher selten Anlass für Beurteilungen nach dem sozialen Entschädigungsgesetz und dem Schwerbehindertengesetz. Der Umfang der Erwerbsminderung ist abhängig vom Grad der Entzündung, vom Alter und vom Allgemeinzustand der Patientin, vom Arbeitsplatz selbst und den Möglichkeiten eines Arbeitsplatzwechsels. Bei schwieriger Verifizierung der Befunde durch den erfahrenen Facharzt und Beeinträchtigung der Befindlichkeit und Leistungsfähigkeit ergeben sich die in . Tab. 15.5 dargestellten Beurteilungen (Stoll 1992). Endometriose
8 9 10 11
Durch laparoskopische Abklärung unklarer Beschwerden ist die Diagnose verschiedener Stadien der Endometriose wesentlich häufiger als vor Einführung der Laparoskopie in die Gynäkologie. Die Symptome und Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit sind direkt abhängig von Lokalisation und Größe der Endometrioseherde (. Tab. 15.4; Stoll 1992).
. Tab. 15.3. GdB/MdE bei Genitalentzündungen GdB/MdE
Abgelaufener Prozess von geringer Ausdehnung und Adhäsionen mit Beschwerden
0–10
13
Chronisch entzündliche Adnexprozesse oder parametraner Prozess mit mäßigen Beschwerden und gelegentlichem Wiederaufflackern
20–40
14
Subakuter Prozess mit doppelseitigen Adnextumoren, erhöhten Entzündungsparametern, Schmerzen, Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens sowie Rezidivschüben mehrfach im Jahr mit Indikation zu stationärer Intensivtherapie
50
15
. Tab. 15.4. GdB/MdE bei Endometriose
18 19 20
15.1.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung Gutartige gynäkologische Erkrankungen führen üblicherweise nicht zum Tod und können i. Allg. keine Todesursache allein darstellen. Dagegen sind die Krebserkrankungen des weiblichen Genitales in absteigender Reihenfolge bei Befall von Ovar/Tube, Zervix oder Uterus oft zum Tod führende Krankheiten. Da anfangs auch bei bestätigter Diagnose die Symptome und sichtbaren Hinweise gering sein können, kann nur durch komplette gynäkologische Diagnostik eine solche Erkrankung ausgeschlossen werden, beispielsweise vor einem Versicherungsabschluss.
Unfälle, bei denen es zu einer vordergründigen Verletzung des weiblichen Genitales kommt, z. B. eine Pfählungsverletzung, sind eine Rarität. Auch bei schweren Verkehrsunfällen ist das Genitale infolge seiner geschützten Lage selten betroffen.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Descensus und Prolapsus uteri
16 17
Blutungsstörungen allein bedeuten noch keine Behinderung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit. Wenn allerdings ein Zusammenhang zu einer persistierenden Hormonstörung vorliegt, ist eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit möglich: 5 Fehlen der weiblichen Entwicklung bei primärer Amenorrhö ohne Hormonsubstitution oder 5 vorzeitiges Eintreten der Wechseljahre durch äußere Ereignisse.
Unfallversicherung
Genitalentzündung
12
Regelblutungsstörungen
Schweregrad der Endometriose
GdB/MdE
Endometriose leichten Grades ohne oder mit wenig Beschwerden
0–10
Endometriose mittleren Grades mit wechselnden Beschwerden
20–40
Endometriose schweren Grades mit erheblicher periodischer Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes oder Dauerschmerz
>50
Da bereits eine Schädigung des Aufhängeapparates der Genitalorgane besteht, ist nur leichte Arbeit (Tragen von weniger als 10 kg) zu empfehlen, ebenso das Vermeiden von Zwangshaltungen. Vorübergehende Arbeitsunfähigkeiten ergeben sich besonders nach Operationen. In Abhängigkeit vom Umfang der Operation und der beruflichen Belastung muss die Arbeitsbefreiung großzügig über längere Zeiträume geplant werden, um das plastische operative Ergebnis nicht durch vorzeitige Belastung zu gefährden. Nach einer plastischen Operation mit Primärheilung kann nach 1–2 Monaten, bei den neuen minimalinvasiven Operationsverfahren, wie TVT, schon nach 1– 2 Wochen mit der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess begonnen werden. Mit voller Belastbarkeit ist allerdings nicht zu rechnen. Dabei unkalkulierbar sind die nicht reglementierbaren Mehrfachbelastungen im Tages-
443 15.1 Uterus und Ovarien
ablauf durch den Haushalt und die Familie, die ebenfalls das Therapieergebnis beeinflussen. Gutartige Tumoren
Die Abrasio, endoskopische Eingriffe, sowie vaginale und abdominale Hysterektomien sind die häufigsten gynäkologischen Operationen, um gutartige Tumoren im Bereich der Adnexe oder des Uterus histologisch zu verifizieren und gleichzeitig zu sanieren, d. h. i. Allg. zu entfernen.
bestrahlung ist infolge der Belastungen mit mehreren Monaten zusätzlich zu rechnen. Die Rezidivangst führt bei den Betroffenen zu seelischen Störungen wie Schlaflosigkeit, gesteigerter Selbstbeobachtung, Anspannung, depressiven Syndromen mit Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit, sodass bis zu den ersten Nachsorgeuntersuchungen mit Leistungseinbußen zu rechnen ist. Zervixkarzinom
Abrasio. Die diagnostisch/therapeutische Abrasio, um
z. B. Polypen aus Corpus oder Cervix uteri zu entfernen, ist ambulant möglich und bedingt allenfalls wenige Tage bis zu einer Woche Arbeitsunfähigkeit. Laparoskopischer Eingriff. Eine laparoskopische Ope-
ration dauert unterschiedlich lange in Abhängigkeit von der Indikation zum Eingriff und der technischen Kompliziertheit. Eine lange Narkosedauer bei aufwändiger Lösung von Verwachsungen, schwieriger organerhaltender Resektion von Tumoren an Adnexen und Uterus bedingt auch längere Arbeitsunfähigkeit bis zu 14 Tagen in Abhängigkeit von der Arbeitsplatzsituation. Sonstige. Vaginale Hysterektomien und einfache Laparotomien mit Hysterektomie und/oder Adnexexstirpation bedingen bei primärer komplikationsloser Wundheilung eine Arbeitsunfähigkeit bis 6 Wochen (Schmidt 2000). Schweres Heben und Arbeiten in einseitiger (Zwangs-) Haltung sollte zunächst bis 3 Monate vermieden werden. Bei konservativer Therapie gutartiger Tumoren mit Hormonen ergibt sich keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit. Vorübergehende Arbeitsunfähigkeiten sind möglich, wenn es zu Schmerzattacken z. B. durch submuköse und intramurale Myome während der Periode kommt. Endometriumkarzinom > Eine Berentung wegen einer bösartigen Erkrankung ohne Berücksichtigung der speziellen Tumorparameter, der Therapieergebnisse und der sozialen Situation der Betroffenen ist nicht nur psychologisch falsch und von wirtschaftlichem Nachteil, auch die Tumorprognose selbst kann beeinträchtigt werden.
Die Therapie des Endometriumkarzinoms beansprucht bei alleiniger Operation in Form der Hysterektomie mit Adnexen unter Einbeziehung der vorhergehenden diagnostischen Abrasio etwa 10 Wochen bis Erlangung der früheren Leistungsfähigkeit. Bei ausgedehnter Radikaloperation nach Wertheim mit Lymphonodektomie ohne Komplikationen sind 6 Monate Arbeitsbefreiung zwingend. Eine etwaige postoperative Strahlentherapie verlängert die Arbeitsbefreiung auf mehrere Wochen, wenn es sich um ein vaginales Afterloading handelt, bei Perkutan-
Das Durchschnittsalter der Frauen mit Zervixkarzinom liegt bei 50 Jahren, d. h. diese Patientinnen stehen meist mitten im Berufsleben und wollen ihren Arbeitsplatz nicht durch eine Zeitrente riskieren. Bei den Frühstadien bis pT1a unterscheidet sich die operative Therapie nur unwesentlich von der Operation von gutartigen Uterustumoren in Form einer Hysterektomie, evtl. mit Lymphonodektomie. Da auch die 5-Jahres-Heilung bei fast 100% liegt, ist Arbeitsfähigkeit nach 2–3 Monaten gegeben. Ab Stadium Ib kommen moderne multimodale Therapiekonzepte zur Anwendung mit Kombinationen von Chemo-, Strahlen- und operativer Therapie. Die Dauer dieser Therapie selbst über mehrere Monate und die unmittelbaren Folgen bedingen Arbeitsunfähigkeit über 1 Jahr hinausreichend, sodass in Einzelfällen die möglichen 78 Wochen nicht ausreichen. Allerdings ist es nicht gerechtfertig und psychoonkologisch falsch, die Dauer der Arbeitsbefreiung oder Entscheidung für eine Berentung vom Tumorstadium und der Prognose abhängig zu machen. Ausschlaggebend sind die tatsächliche, individuelle physische Leistungsfähigkeit und der emotionale Leistungswille (Schmidt 2000) der Betroffenen. Ovarialkarzinom
Das Ovarialkarzinom betrifft überwiegend Frauen über 60 Jahre. Die ebenfalls meist fortgeschrittenen Stadien (ab Stadium II) bedürfen neben der ausgedehnten Operation einer Chemotherapie mit Intervallen. Oft ist die Chemotherapie bis zum Tod erforderlich. Hier stellt sich die Frage der Arbeitsfähigkeit nicht mehr. Bei den seltenen Frühfällen im Stadium IA ohne Erfordernis einer Chemotherapie ist in Abhängigkeit vom Umfang der Operation nach 2–3 Monaten Arbeitsfähigkeit gegeben. Bei Notwendigkeit einer Chemotherapie ab Stadium Ib kann je nach Aggressivität dieser Therapie Arbeitsfähigkeit bis zur 78. Woche erreicht werden. Entzündliche Erkrankungen Akute Entzündungen des sichtbaren äußeren Genitales einschließlich der Scheide setzen für den Heilungsprozess körperliche Schonung voraus, bis die Reaktionen unabhängig von ihrer Ursache abgeklungen sind. Hier ist vorübergehende Arbeitsbefreiung von 3–7 Tagen notwendig, verbunden eventuell mit häuslicher Ruhe. Schwerwiegender ist die aufsteigende Infektion mit Befall von
15
444
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
Tube/Ovar (»Adnexitis«) bis zur Pelvioperitonitis. Wegen der Gefahr von Dauerfolgen wie Adhäsionen und Sterilität ist frühzeitige Antibiotikatherapie mit Bettruhe, am sichersten stationär, mit längerer Arbeitsunfähigkeit (mindestens 1–3 Wochen) begründet. Subakute und chronischentzündliche Adnexprozesse erfordern meiste keine Arbeitsbefreiung, aber verursachen eine Einschränkung des Leistungsvermögens.
allerdings mit der Lageveränderung eine Inkontinenz II.– III. Grades verbunden, so ist mindestens eine Einschränkung bei der Fahrgastbeförderung in Taxis, Mietwagen, Krankenwagen u. Ä. erforderlich. Es ist davon auszugehen, dass infolge der Beeinträchtigung der körperlichen Funktionen Belastungssituationen im Straßenverkehr nicht mehr beherrscht werden und deshalb Verkehrstüchtigkeit für Kraftomnibusse nicht besteht.
Endometriose
Gutartige Tumoren
Abhängig von der Lokalisation der Endometrioseherde treten bis zum Menstruationsbeginn regelmäßig teils heftige Schmerzen auf, die mit Ende der Blutung rasch abklingen bis zum nächsten Zyklus. Zunehmend kommt es zu Verwachsungen mit Nachbarorganen, Zystenbildungen, Störungen der Fertilität. Die Schmerzen zwingen wiederholt zu Kurzkrankschreibungen während der Periode. Nur durch hormonelle/operative Therapiemaßnahmen kann die häufige Arbeitsunfähigkeit reduziert werden.
Gutartige Tumoren lassen sich operativ endgültig sanieren meist ohne beeinträchtigende Folgen. Mit »Rezidiven« ist nicht zu rechnen, sodass eine Verbeamtung unproblematisch erfolgen kann. Myome und auch Zysten können allein aufgrund ihrer Größe oder durch Verdrängung anderer Organe (Darm mit folgenden Passagestörungen) mechanisch das Gleichgewicht im Bauchraum stören und entspanntes Sitzen als Voraussetzung für das Führen eines Fahrzeuges unmöglich machen. Allerdings werden auch gutartige Tumoren selten solche belastenden Volumina erreichen, da sie zuvor einer operativen Sanierung zugeführt werden. Die »Mindestanforderungen hinsichtlich der körperlichen und geistigen Tauglichkeit für das Führen von Kraftfahrzeugen« dürften in der Praxis durch gutartige gynäkologische Tumoren kaum belastet werden.
Regelblutungsstörungen
Blutungsstörungen in Form zu starker und zu langer Blutungen können zu wiederholten Arbeitsunfähigkeiten von jeweils kurzer Dauer von 2–3 Wochen führen. Solange die Therapie der vorliegenden funktionellen oder organischen Ursache nicht effektiv gelingt, ist der Einsatz in speziellen Berufen mit Dauerbelastung ohne Pausenund Ruhemöglichkeit nicht zumutbar. Blutungsstörungen sollten zuweilen Berücksichtigung finden bei der Berufswahl junger Mädchen, um durch Tauglichkeitslimitierung einer Verschlechterung durch physische und neuropsychische Überforderung vorzubeugen. Da alle dysfunktionellen Blutungen auch exogene Ursachen haben können, sind Arbeitsklima und Arbeitsbelastungen als Faktoren zu bedenken und als Lösung ggf. auch ein Arbeitsplatzwechsel.
14 15.1.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
15 16 17 18 19 20
Descensus und Prolapsus uteri
Lageveränderungen per se bedeuten keine Einschränkung für den öffentlichen Dienst. Allerdings können die Sekundärerscheinungen, wie unwillkürlicher Harnabgang bei Druckerhöhung auf den Beckenboden (Grad I) oder schon beim Stehen und Gehen (Grad II), Einschränkungen für Publikumsarbeit bedeuten. Da auch Operationen und andere konservative Therapieoptionen meist keine Restitutio ad integrum bringen und es im Gegensatz zu Krebserkrankungen keine Heilungsbewährung gibt, bedeutet ein Genitaldeszensus in Abhängigkeit von der Funktionsstörung eine Einschränkung bei der Verbeamtung. Lageveränderungen des Genitales beeinflussen nicht die Fähigkeiten, ein Fahrzeug selbst sicher zu führen. Ist
Endometriumkarzinom
Da das durchschnittliche Erkrankungsalter um 69 Jahre liegt, stellt sich im Allgemeinen die Frage einer Verbeamtung nicht mehr. Im Einzelfall muss zunächst die Bedeutung der Komorbidität geklärt werden, da das Endometriumkarzinom allein eine sehr gute Prognose hat und langfristig gesehen die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Ein Endometriumkarzinom per se beeinträchtigt in keiner Weise die Leistungen zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeuges. Auch die eventuellen Früh- und Spätfolgen der Behandlung (üblicherweise Operation) beeinflussen nicht die Fahrereignung. Vordergründig ist bei dieser Krebserkrankung die begleitende Multimorbidität mit Hypertonus, Adipositas, Diabetes mellitus und dementsprechender Medikamenteneinnahme. Zervixkarzinom
Nach noninvasiven Neoplasien (CIN) der Cervix uteri mit einem mittleren Erkrankungsalter von 35 Jahren ist mit Leistungseinschränkungen und Rezidiven nicht zu rechnen. Es gibt hier keine Hinderungsgründe für eine Verbeamtung. Auch das invasive Zervixkarzinom bedingt nur selten nach sehr aggressiver multimodaler Therapie eine bleibende Beeinträchtigung von Organfunktionen, die eine Verbeamtung nicht zulassen. Bei frühen Tumorstadien bis pT1 pN0 M0 ist nach Abschluss der kurativen Therapie (meist alleinige Operation) bezüglich Fahrereignung die prätherapeutische Lei-
445 15.1 Uterus und Ovarien
stungsfähigkeit wieder erreicht. Bei fortgeschrittenen Stadien mit multimodalen Therapien sind neben den direkten Behandlungsfolgen, wie Lymphzysten im Becken, Lymphödemen der Beine, chronischen Schmerzen, Darmfunktionsstörungen nach Bestrahlung, v. a. Symptome der progredienten Tumorerkrankung Zeichen für Risiken im Straßenverkehr. Wenn es zu Ureterenobstruktionen kommt mit konsekutiver Harnabflussstörung und Anstieg der harnpflichtigen Substanzen, so sind zunehmende Bewusstseinsbeeinträchtigungen, Übelkeit, Erbrechen, Schwäche zu erwarten mit Kontrollverlust und Verhaltensstörungen. Tumorpatientinnen sind bei ungünstigem Verlauf ihrer Erkrankung oft auf Arzneimittel angewiesen, die über eine Verminderung der Vigilanz die Fahrereignung beeinträchtigen können, wie Hypnotika, Sedativa und Anxiolytika.
mieden werden. Nach fachärztlicher Einschätzung des aktuellen Status gibt es meist keine Einschränkung für eine Verbeamtung. Relevant für die vorübergehende Beeinträchtigung der Fahrereignung können allenfalls pelvine Entzündungen werden, besonders die akute Salpingitis und ein Tuboovarialabszess. Hier sind die Arzneimittel mit direkter Wirkung auf das ZNS zu berücksichtigen, z. B. Benzodiazepine als Schmerz- und Beruhigungsmittel. Chronische Entzündungsprozesse wie auch die chronischen Beschwerden durch eine Endometriose mit entsprechender Adaptation schränken die Fahrereignung nicht ein. Hierzu gehören auch die sexuell übertragbaren Krankheiten mit akuten und chronischen Entzündungsabläufen, deren Trägerinnen grundsätzlich den Anforderungen zum Führen von Fahrzeugen uneingeschränkt gerecht werden können.
Kommentar
Endometriose
Den Bewerberinnen oder Fahrzeugführerinnen sollte die Fahrerlaubnis unabhängig von der beantragten Führerscheinklasse erst nach einer onkologischen Beurteilung erteilt bzw. erneuert werden.
Die Tätigkeit im öffentlichen Dienst ist abhängig von dem Leidensdruck, den wiederkehrenden Schmerzattacken und der Effektivität einer Therapie. Da es sich nicht um eine maligne Erkrankung handelt, sind Überraschungen nicht zu erwarten und eine Verbeamtung möglich. Zum Menstruationstermin kommt es zu Blutungen aus der ektopen Gebärmutterschleimhaut im kleinen Becken oder seltener in anderen Regionen (extragenitale Endometriose). Üblicherweise sind diese Blutungen mit zyklischen teilweise heftigen Schmerzen verbunden, die aber die Fahrereignung allenfalls kurzzeitig beeinträchtigen könnten.
Ovarialkarzinom
Die Primärtherapie des Ovarialkarzinoms dauert 6 Monate, oft länger. Rezidivtherapien sind häufig erforderlich. Es wird selten die Frage nach einer Verbeamtung zu stellen sein. Bis zu 5 Jahre nach Erkrankungsbeginn sollte gewartet werden. Das Ovarialkarzinom verursacht meist durch große Aszites- und Tumormengen abdominale Symptome und Einschränkungen der Organfunktionen (Darm). Nach operativer Tumorresektion und Abschluss der Chemotherapie ist die Betroffene wieder in der Lage, ohne regelmäßige Kontrollen ein Fahrzeug zu führen. Zytostatika gehören zu den potenziell Schlafstörungen verursachenden oder verstärkenden Arzneimitteln, sodass der folgende Schlafmangel die Fahrereignung beeinträchtigt (Mörike et al. 2003). Während der Chemotherapie, insbesondere unmittelbar nach den Infusionen, ist das Risiko unerwarteter Reaktionen (Erbrechen, Kreislaufstörungen, Durchfälle, Schmerzen, Sehstörungen) hoch, sodass in dieser Phase die aktive Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr ausgeschlossen werden muss.
Regelblutungsstörungen
Blutungsstörungen treten zeitlich begrenzt auf mit der Option einer dauerhaften Heilung. Arbeit im öffentlichen Dienst und Verbeamtung sind nach Abklärung ohne Einschränkung möglich. Die Fahrereignung ist allenfalls vorübergehend durch zu starke oder schmerzhafte Blutung beeinträchtigt. Als Fahrzeugführerin im Personentransport ist es allerdings belastend, durch unregelmäßige Blutungen überrascht zu werden. Da es sich immer nur um vorübergehende Störungen handeln kann, gibt es grundsätzlich keine Einschränkung für das Führen von Fahrzeugen.
15.1.7 Risikobeurteilung Entzündliche Erkrankungen
Entzündliche Genitalerkrankungen können in ihrer chronischen Form Ursache für rezidivierende Schmerzen sein, wobei sich mit dem Lebensalter keine Progredienz ergibt. Berufliche Tätigkeit mit dauerndem Stehen oder Sitzen sowie mit Erschütterungen und Exposition gegenüber Hitze oder Kälte können subakut-chronische Entzündungsvorgänge zur Exazerbation bringen und sollten deshalb ver-
Descensus und Prolapsus uteri
Ein Descensus genitalis beeinflusst die Lebenserwartung per se nicht. Allerdings ist im Laufe des Lebens eher mit Verschlechterung der anatomischen Veränderungen zu rechnen durch unvermeidbare Belastungen und physiologische Alterungsprozesse und damit einhergehend Beeinträchtigung der Lebensqualität. Für eine Lebensversi-
15
446
1 2
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
cherung hat das Krankheitsbild keine Relevanz. Für eine Berufsunfähigkeitsversicherung dagegen ist vor dem Abschluss eine graduelle Befund- und Symptomatikfeststellung dringend angeraten. Gutartige Tumoren
3 4 5
Gutartige Tumoren wachsen unbehandelt weiter und können andere Organfunktionen stören, sekundär die Periodenblutung ungünstig beeinflussen mit verstärkten Blutungen und schließlich zu einer Anämie führen. Bei Behandlung, meist Operation, ist eine Heilung auf Dauer die Regel. die Entartung gutartiger Tumoren in Richtung Malignität ist eine Rarität.
Entzündliche Erkrankungen Endometriumkarzinom
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
= 23% und IV = 11%, sodass sich insgesamt eine 5-Jahresüberlebensrate von <40% ergibt, da fast die Hälfte der Frauen erst in den fortgeschrittenen Tumorstadien ab III zu Behandlung kommt. Weiterhin ist die Prognose abhängig von der durchgeführten Therapie und dem postoperativen Tumorrest. Die aktuellen Ergebnisse aus dem Einzugsbereich des Tumorregisters München sind dem Manual Maligne Ovarialtumoren zu entnehmen (Engel et al. 2007). Die möglichst vollständige Tumorentfernung hat eine besondere prognostische Relevanz. Selbst Patientinnen im Tumorstadium FIGO IV profitieren, soweit möglich, von vollständiger Tumorresektion.
Die Prognose des Endometriumkarzinoms ist verglichen mit dem Mamma-, Zervix-, Ovarial- und Vulvakarzinom mit einem relativen 10-Jahres-Überleben von 76% (Tumorregister München) günstig. Allerdings ist die Einzelprognose bestimmt durch das Tumorstadium, den histologischen Subtyp und das Vorliegen von Begleiterkrankungen. Zwar werden 75% aller Patientinnen im prognostisch günstigen Stadium I diagnostiziert, infolge der Multimorbidität liegt aber letztlich die 10-Jahres-Überlebensrate (Gesamtüberleben) nur bei 59% (Schubert-Fritschle 2007). Das relative Überleben stellt das Verhältnis zwischen dem beobachteten und dem in einer bezüglich Alter, Geschlecht und Kalenderzeit vergleichbaren Gruppe der Bevölkerung erwarteten Überleben dar. Das relative Überleben ist somit ein Schätzwert für das tumorabhängige Überleben. Für das analysierte Gesamtkollektiv beträgt das 5-Jahres-Überleben 73,6% (relativ 82,9%), das 10Jahres-Überleben 59,1% (relativ 76,2%). Das 5-Jahres-Überleben sinkt von 89,5% (relativ 97,3%) im Stadium FIGO IA ab auf 13,2% (relativ 14,3%) bei FIGO IV. Zervixkarzinom
Die Prognose wird bestimmt durch die Faktoren pTNMStadium, Tumorvolumen, histologischer Differenzierungsgrad (Grading), histologischer Subtyp, lymphogene und hämatogene Disseminierung. Nach dem FIGO Annual Report 1993–1995 liegt die 5-Jahres-Überlebenszeit im Stadium Ib bei 85–90%, II 68–80%, III 40–50% und IV 9– 30%. Die Abhängigkeit der Heilungsquote von der Therapie (z. B. nach Operation bessere Ergebnisse als nach Radiatio) ist zu relativieren, wenn es sich nicht um prospektive randomisierte Therapiestudien handelt. Zur Strahlentherapie kommen meist Frauen mit schlechteren Prognosefaktoren als im Vergleich zur Operation.
Folgen einer entzündlichen Erkrankung des inneren Genitales können neben der Rezidivneigung und chronischen Schmerzzuständen v. a. die Auswirkungen auf die Fertilität sein. Das Risiko einer Extrauteringravidität ist nach einer Salpingitis um den Faktor 7–10 erhöht, die Rate der tubaren Sterilität beträgt zwischen 6 und 70%, wobei diese Bandbreite durch das Alter der Patientin, den Schwergrad der Entzündung, den Keim, die Dauer bis zum Behandlungsbeginn und die Zahl der Rezidive modifiziert und erklärt wird (Hoyme 2006). Endometriose
Die Wahrscheinlichkeit einer Endometriose nimmt bis zur Menopause mit dem Alter zu, danach sinkt sie ab. Allerdings ist die Endometriose in ihrer Entstehung nicht östrogenabhängig, aber in ihrem Verlauf über Östrogenrezeptoren zu beeinflussen. Nach Abschluss der reproduktiven Lebensphase kommt es nicht mehr zu Neuerkrankungen. Regelblutungsstörungen
Nahezu alle Störungen treten bis zur Menopause auf, nach den »Wechseljahren« gibt es nur noch die Postmenopausenblutung, die immer sofort abgeklärt werden muss. Die nicht regelrechte Blutung im fertilen Alter ist letztlich nur Symptom für eine Störung und keine eigenständige Erkrankung. Die meisten Ursachen von Blutungsstörungen lassen sich finden und erfolgreich behandeln. Allerdings gibt es wenige Situationen mit zu starken oder auch sehr schmerzhaften Blutungen (Dysmenorrhö) bei fehlender Compliance für operative Interventionen, sodass die Betroffenen bis zur Menopause leiden. Die letzte Option zur Sanierung ist dann eine Hysterektomie.
15.1.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation
19 20
Ovarialkarzinom
Die 5-Jahres-Überlebensrate nach dem FIGO Annual Report 1998 liegt für die Stadien IA = 87%, IB = 71%, IC = 79%, IIA = 67%, IIB, C = 56%, IIIA = 41%, IIIB = 25%, IIIC
Descensus und Prolapsus uteri
Ein Descensus genitalis ist zwar keine chronische Krankheit, da leistungsreduzierende Faktoren durch Operation,
447 15.1 Uterus und Ovarien
Änderung der Lebensweise (Normalisierung des Körpergewichtes), Reduktion körperlicher Belastungen und physikalische Therapie positiv beeinflusst werden können. Stationäre (oder auch ambulante) Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen bieten sich aber direkt an, um bleibende Therapieeffekte zu erreichen. Das Erlernen und Trainieren von Techniken zur Kräftigung des Beckenbodens und der Einsatz physikalischer Stimuli werden effektiv im Rahmen einer Kurbehandlung mit dem Ziel, die Belastbarkeit zu verbessern, Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess zu ermöglichen oder Arbeitsfähigkeit zu erhalten.
5 Soziale Therapieziele berufliche und soziale Integration, Aufbau des Selbstbewusstseins 5 Psychische Therapieziele: Abbau von Ängsten, Stärkung des Selbstwertgefühls, Abbau sexueller Probleme, Verbesserung der Krankheitsbewältigung u. a.
Zervixkarzinom Gutartige Tumoren
Die meist operative Sanierung gutartiger Tumoren und Zysten bringt die Betroffene bis auf den eventuellen Organverlust wieder in den vor der Erkrankung bestehenden Zustand zurück. Eine spezielle Rehabilitation ist allgemein nicht begründet. Allenfalls bedarf ein Verlustsyndrom der psychologischen Betreuung und je nach Bedarf einer speziellen Substitution durch Hormone. Endometriumkarzinom
»Die Leistungen zur Rehabilitation haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreicher Rehabilitation nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind« (Sozialgesetzbuch VI, § 9). Die durch die Tumorerkrankung und -therapie verursachten Folgen und funktionellen Beeinträchtigungen sind Schwerpunkt der medizinischen, psychosozialen und beruflichen Rehabilitation. Eine Anschlussheilbehandlung (AHB) bis spätestens 2–4 Wochen nach Abschluss der Behandlung im Akutkrankenhaus wird nur von etwa einem Drittel der Betroffenen wahrgenommen, obwohl vergleichbare umfassende Betreuung ambulant noch nicht möglich ist. Bei Rehabilitationsbedürftigkeit und -fähigkeit kann eine Wiederholungsrehabilitation für längstens 3 Wochen beantragt werden. Da das Endometriumkarzinom im Vergleich zum Zervixkarzinom oft mit Multimorbidität verbunden ist, ergeben sich für die Rehabilitation die in der Übersicht dargestellten Inhalte.
Ziele und Inhalte der Rehabilitation bei Endometriumkarzinom 5 Somatische Therapieziele: Schmerzreduktion, Verbesserung der Leistungsfähigkeit, Verminderung von Blasenfunktionsstörungen, Behandlung von Zweiterkrankungen u. a. 5 Funktionsbezogene Ziele: Selbstversorgung, sportliche Aktivitäten
6
Frauen mit Zervixkarzinom befinden sich meist »in der Mitte des Lebens«, stehen im Berufsleben und haben ihre Familienpflichten, sie leiden nur selten an weiteren Erkrankungen. Unabhängig von der Prognose muss rasch eine soziale Rehabilitation angestrebt werden mit dem Ziel der selbstständigen Versorgung und Integration in Familie und soziales Umfeld. Neben ambulanten und stationären Rehabilitationsmaßnahmen müssen die Optionen der »Frauenselbsthilfe nach Krebs« und anderer örtlicher Gruppen genutzt werden. Die berufliche Rehabilitation wird erschwert und verzögert bei Arbeitslosigkeit/Umschulungen, Wunsch nach Berentung und schließlich nichtberechtigter Erwerbsunfähigkeitsrente. Berufstätigkeit hat einen stimulierenden Effekt, auch auf Befindlichkeit und soziale Integration. Nur bei Rezidiv, Progredienz und Tumorsymptomen kommt es wieder zu Arbeitsunfähigkeit, dann meist auf Dauer. Wenn bei einer prämenopausalen Patientin die Therapie zu einer Kastration geführt hatte, so sollte eine altersadäquate Hormonsubstitution die organischen und psychischen Hormonmangelerscheinungen kompensieren, zumindest bis zum Alter der natürlichen Menopause. Ovarialkarzinom
Da bereits die Primärtherapie mindestens 6 Monate beansprucht mit anschließender sehr langsamer Rekonvaleszenz, sind AHB-Verfahren eine unbedingte Forderung, um Behandlungsfolgen zu kompensieren und eine soziale Reintegration zu erleichtern. Oft kommt es bereits nach einem Jahr wieder zum Rezidiv mit erneuter belastender Therapie. Bei jüngeren Patientinnen mit den selteneren prognostisch günstigen Tumorstadien I–II sind Berufsförderungsmaßnahmen möglich. Hier geht es v. a. um Schaffung von Arbeitsplatzbedingungen, die der eingeschränkten Leistungsfähigkeit und den gestörten Organfunktionen (Anus praeter, Harninkontinenz, Lymphödeme der unteren Extremitäten, chemotherapieinduzierte Polyneuropathie, Sensibilitätsstörungen) gerecht werden. Prätherapeutisch noch prämenopausale Frauen leiden unter Hormonmangelerscheinungen nach der bilateralen Ovarektomie. Zwar sind Kontraindikationen für die Östrogensubstitu-
15
448
1 2
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
tion nicht nachgewiesen, doch die meisten Betroffenen mit Ovarialkarzinom haben Angst vor Hormonen, sodass man individuell im Konsens mit der Betroffenen über eine indizierte Hormonsubstitution beraten muss.
Unsicherheit heraus neigen betroffene Frauen wie auch konsultierte Ärzte eher zu Überdiagnostik und Übertherapie. Wegen eines Zuviels an invasiver Diagnostik (z. B. Laparoskopie) oder an operativer Organentfernung kam bisher selten eine Klage.
Entzündliche Erkrankungen
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Nach Entzündungen des inneren Genitales, wie Endometritis, Salpingitis oder Tuboovarialabszess, ist bei rechtzeitiger Therapie nicht immer mit bleibenden Störungen zu rechnen, die dann durch eine Rehabilitation zu beeinflussen sind. Bei chronischen Beschwerden sind die klassischen Balneotherapien mit Wiederholungsnotwendigkeit (Kur) indiziert. Endometriose
Nach Abschluss oder positivem Zwischenbefund einer stadienadäquaten operativen/hormonellen Therapie ist es das Ziel der Rehabilitation, die beschwerdearme Phase zu stabilisieren, durchaus auch wie in der onkologischen Rehabilitation durch Entspannungsverfahren, Imaginationsübungen, Kunst- und Musiktherapie sowie sozialtherapeutische Beratung. Der meist noch unerfüllte Kinderwunsch darf nicht Selbstzweck sein, sondern muss mit Empathie gemeinsam mit dem Partner in das Rehabilitationskonzept eingebunden werden. Schwere Endometriose mit Dauerfolgen beinhaltet ohne fachspezifische Rehabilitation das Risiko sozialer Rückzugstendenzen und weiblicher Identitätskrise. Die stationäre Kur sollte in einer qualifizierten Klinik unter Anleitung in der konservativen Gynäkologie erfahrener Ärzte erfolgen. Regelblutungsstörungen
Eine spezielle Rehabilitation kann erforderlich werden nach sehr starken Blutverlusten durch nicht behandelte Hypermenorrhöen oder auch zum konservativen Therapieversuch einer Dysmenorrhö. Sonst stellt sich die Frage der Rehabilitation meist auf der Basis der Grunderkrankung.
15.1.9 Sonderfragen Descensus und Prolapsus uteri
Bei einem Descensus genitalis mit Blasen- oder auch Stuhlinkontinenz sind Mehraufwendungen für die Körperhygiene erforderlich, die nur teilweise in Form von Einlagen u. Ä. rezeptiert werden können. Steuerliche Hilfen sind möglich, abhängig vom GdB/MdE (. Tab. 15.1) entsprechend dem Schwerbehindertengesetz.
Kommentar Um die Zahl dieser medizinisch nicht berechtigten »Körperverletzungen« zu reduzieren, sollte in nicht absolut klaren Fällen ein unabhängiger Zweitbefunder vor dem Eingriff konsultiert werden.
Im Rahmen einer bundesweiten Dokumentationspflicht für Adnexeingriffe, Hysterektomien und Konisationen wird es möglich sein, eine Bewertung der Versorgungsqualität bei gynäkologischen Operationen zu erreichen. Insbesondere die Hysterektomie ist ein potenziell komplikationsträchtiger Eingriff mit definitivem Verlust der Fertilität. Ein Qualitätsziel ist deshalb u. a.: Möglichst wenige Hysterektomien bei benignen Erkrankungen bei Frauen <35 Jahren. Endometriumkarzinom
Am Beispiel des Endometriumkarzinoms als dem häufigsten gynäkologischen Krebs soll die dem derzeitigen Stand der onkologischen Therapie und Heilungsmöglichkeit nicht mehr gerechtfertigte Praxis des Schwerbehindertengesetzes dargestellt werden. Das Schwerbehindertengesetz berücksichtigt bei der Entscheidung über den GdB/MdE speziell bei dieser Krebserkrankung die Prognose und nicht die aktuelle Beeinträchtigung. Es ist widersprüchlich und teilweise ungerechtfertigt, eine Patientin nach der Krebstherapie routinemäßig als Schwerbehinderte einzustufen oder ihr gar den GdB/MdE >50 aufzudrängen und ihr nach der Heilungsbewährung (automatisch meist 5 Jahre) den Schwerbehindertenstatus zu entziehen. Gerade beim Endometriumkarzinom der üblicherweise postmenopausalen Patientin unterscheiden sich die posttherapeutischen Beeinträchtigungen nicht grundsätzlich von einem Zustand nach Hysterektomie wegen eines Uterus myomatosus, wenn man die Rezidivsorge und psychoonkologische Problematik nicht überbewertet. Ein GdB/MdE >50 kann nicht Entschädigung für den histologischen Befund sein und auch nicht Hilfe bei der Bewältigung der Zukunft oder gar beim Akzeptieren einer ungünstigen Prognose. Zervixkarzinom
19 20
Gutartige Tumoren
Die Gutartigkeit eines Tumors oder die Harmlosigkeit einer Zyste lassen sich mit letzter Sicherheit erst durch histologische Untersuchung bestätigen. Aus dieser Sorge und
Haftpflichtverfahren gegen den Gynäkologen betreffen neben dem Mammakarzinom vorwiegend das Zervixkarzinom wegen Diagnose-/Therapieverzögerung. Fortgeschrittene Karzinome werden oft durch die meist äl-
449 15.2 Äußeres Genitale
tere Patientin selbst verschleppt, da sie über Jahre nicht zu Früherkennungsuntersuchungen geht und erst bei Symptomen kommt. Problematisch sind die Krebserkrankungen prämenopausaler Frauen mit Blutungsstörungen, die vom Arzt zunächst verkannt werden, da er nicht an ein Zervixkarzinom denkt und unzureichend diagnostiziert. > Für die Therapie und Prognose ergibt sich meist keine messbare Beeinträchtigung nach so schnell entstehender 6-monatiger iatrogener Verschleppung, da sich das Zervixkarzinom langsam über Jahre entwickelt.
Wenn ex post der Gynäkologe beklagt wird, dann wäre dies berechtigt gewesen für einen viel früheren Zeitpunkt, nämlich vor der manifesten Krebsdiagnose, als es darum ging, Präneoplasien festzustellen. Von einer Betroffenen und deren Familie ist kein Verständnis für iatrogene Diagnoseverzögerung zu erwarten. Deshalb kann erst durch einen sachverständigen Gutachter im Schlichtungs- oder Gerichtsverfahren beurteilt werden, ob die ärztlich verursachte Zeitverzögerung einen messbaren Schaden (intensivere Therapie, schlechtere Prognose) zur Folge haben kann. Ovarialkarzinom
Mit jährlich fast 6.500 Todesfällen in Deutschland (Engel et al. 2007) hat das Ovarialkarzinom die höchste Mortalität unter den Genitalkarzinomen der Frau. Dieses Wissen um die ungünstige Prognose motiviert das onkologische Betreuungsteam, bereits am Anfang die Therapiekonzepte langfristig zu planen und auch an spätere Palliativ- und Hospizversorgung zu denken. > Spezielle Empathie für die gesamte Begleitung erfordern Migrantinnen aus anderen Kulturen.
Sprachprobleme lassen sich überbrücken, schwieriger sind völlig abweichende Vorstellungen z. B. der Migrantinnen aus orientalischen Ländern über Krankheiten, deren Ursachen (durch Allah gottgegeben) und Symptome. Therapieziele und -ergebnisse werden von muslimischen Frauen anders eingeschätzt als von Menschen aus dem christlichen Kulturkreis. Entscheidungen werden nicht von der Kranken getroffen, sondern von der Familie. Auch in der letzten Lebensphase bedeutet der kultursensible Umgang mit Migrantinnen, das Sterben kulturspezifisch im Heimatland zu ermöglichen und nicht in der sterilen Klinikatmosphäre in Deutschland. Entzündliche Erkrankungen
Genitale Infektionen werden bei ihrer großen Häufigkeit und den sehr unterschiedlichen Schweregraden in der Erstdiagnostik, oft in Notfallpraxen und im Bereitschaftsdienst, nicht selten unzureichend diagnostiziert.
Kommentar Da dies weitreichende Spätfolgen geben kann und auch die differenzialdiagnostische Verkennung anderer möglicher Krankheitsbilder mit Folgen verbunden ist, muss mit einer Zunahme von Haftpflichtverfahren gerechnet werden.
Regelblutungsstörungen
Blutungsstörungen gehören zu den häufigsten Anlässen, den Frauenarzt aufzusuchen. Sie sind Symptom für zahlreiche, heterogene Störungen, die eigentlich eine multimodale Diagnostik und Therapie erfordern. Die invasive Diagnostik hat zwar einen festen Stellenwert, aber erst nach ausführlicher Suche nach funktionellen und extragenitalen Ursachen. Blutverluste bei alten Frauen werden meist überschätzt. Bei jungen Frauen dagegen verkennt man die durch Hypermenorrhö verursachte sekundäre Anämie und die entsprechende akute Leistungsschwäche. Unter Berücksichtigung, dass Frauen ohnehin nur 70% der körperlichen Dauerleistungsgrenze des Mannes erreichen, kann ein genitaler Blutverlust ohne Vorankündigung vorübergehende Dekompensation der psychosozialen Integrität einer Frau bedeuten.
15.2
Äußeres Genitale
15.2.1 Diagnostik Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Mit den Methoden der Dermatologie zusätzlich zur gynäkologischen Routineuntersuchung gelingt die Diagnostik der häufigsten Entzündungen. Bei chronischen, therapieresistenten Veränderungen sind mikrobiologische Untersuchungen erforderlich und ggf. eine psychosomatische Exploration. Bei unklaren Befunden wird eine histologische Bestätigung der Gutartigkeit durch Hautbiopsie unumgänglich. Vulva- und Vaginalkarzinom
Die gynäkologische Vorsorgeuntersuchung beginnt mit Inspektion von Vulva und Vagina sowie anschließender Palpation der Vulvahaut und Vagina. Die Kolposkopie bzw. Vulvoskopie mit dem Kolposkop erweitert die Möglichkeiten, insbesondere nach Einwirkung 3%iger Essigsäure, suspekte Prozesse zu erkennen. Nur bei sichtbaren Hautveränderungen ist eine weitere zytologische und/ oder histologische Diagnostik erforderlich. Wenn durch Hautbiopsie ein Karzinom histologisch bestätigt ist, dann genügt wiederum die klinische Untersuchung zur Feststellung der lokalen Tumorausbreitung. Allenfalls bei Ausdehnung der Veränderungen auf Anus
15
450
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
. Tab. 15.5. Stadieneinteilung nach dem TNM-System des Vulva und Vaginakarzinoms TNM-Stadium
Charakteristik
T1
Tumor auf Organ begrenzt bis 2 cm groß
5 T1a
Stromainvasion bis 1 mm
5 T1b
Stromainvasion >1 mm
T2
Tumor auf das Organ begrenzt, aber über 2 cm groß
T3
Tumor infiltriert untere Urethra, Vagina und/oder Anus
T4
Tumor infiltriert Schleimhaut der Harnblase oder des Rektums oder proximale Urethra, oder Tumor ist an Knochen fixiert
Vulva- und Vaginalkarzinom
oder Urethra sind Rektoskopie und Zystoskopie begründet. Bildgebende Verfahren sind routinemäßig nicht erforderlich, da die regionären Lymphknoten klinisch erfassbar sind und da es nur wenige Daten zu Sensitivität und Spezifität von Sonographie, CT oder MRT für diese Region gibt. Fernmetastasen sind bei der Erstdiagnose eines Vulvakarzinoms eine Rarität, sodass ein Screening zur Metastasensuche nicht begründet ist. Allenfalls bei großen Vulvakarzinomen (>T3) ist eine Metastasensuche sinnvoll. Wie bei allen Krebsen erfolgt eine Stadieneinteilung nach dem TNM-System (klinisch und/oder histopathologisch; . Tab. 15.5) oder nach FIGO (chirurgisch).
12 15.2.2 Krankheitsdefinition
13 14 15 16 17 18 19 20
Rötung, Schuppung und leicht verletzbar auffällig. Diese früher wegen ihres Aussehens als Leukoplakie bezeichnete Veränderung bedarf der Bestätigung durch eine Hautstanzbiopsie. Es gibt keine Studien, die nachweisen, ob diese chronischen Veränderungen eine Präkanzerose darstellen, allerdings ist die Karzinominzidenz bei diesen Patientinnen erhöht. Die Ätiologie des Lichen sclerosus vulvae ist unbekannt. Diskutiert werden immunologische, genetische, hormonelle, enzymatische, infektiöse und lokale Faktoren. Verletzungen beim Sport und durch Unfälle sind infolge der nicht exponierten Lage selten. Bei Läsionen muss auch eine Fremdeinwirkung (Stuprum/Vergewaltigung) als Ursache erwogen werden. Die Vulvodynie ist häufig, wird aber oft von den Betroffenen nicht dezidiert angegeben.
Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Die Vulvitis und Kolpitis werden meist als Vulvovaginitis zusammengefasst, da es bei der unmittelbaren Nachbarschaft gleichen Gewebes selten isolierte Entzündungen gibt. Exogene Ursachen sind Hautkeime, Noxen (Waschmittel), mechanische Läsionen (enge Kleidung), Fremdkörper intravaginal (Tampons, Kondome u. a.), Oxyuren (bei Kleinkindern). Endogene Ursachen sind Stoffwechselstörungen wie Diabetes mellitus und schwere Allgemeinerkrankungen mit Abwehrschwäche. Gutartige Tumoren sind meistens zystischer Natur, durch entwicklungsgeschichtliche Fehlbildungen bedingt. Als »Tumor« erscheint auch die »Bartholinitis« als Sekretansammlung im Ausführungsgang der Bartholin-Drüse. Durch zusätzliche Infektion kommt es zur schmerzhaften Entzündung der so entstandenen Zyste, als Bartholin-Pseudoabszess bezeichnet. Häufigste nichtneoplastische Veränderung der Vulva bei postmenopausalen Frauen ist der Lichen sclerosus. Das Hautareal ist dabei weißlich, pergamentartig, mit
Vulva- und Vaginalkarzinom werden in Statistiken nicht getrennt, sondern üblicherweise unter dem Vulvakarzinom gemeinsam subsumiert, zumal das isolierte Vaginalkarzinom eine Rarität darstellt. > Das Vulvakarzinom, das auf die Vagina übergreift, soll als Vulvakarzinom klassifiziert werden.
Bei jährlich etwa 1400 Neuerkrankungen in Deutschland und einem mittleren Erkrankungsalter von 70 Jahren hat das Vulvakarzinom epidemiologisch keine Bedeutung. Das Vulvakarzinom in der 7. bis 8. Lebensdekade ist assoziiert mit dem histologischen Subtyp eines hoch differenzierten Plattenepithelkarzinoms. In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings die Inzidenz der vulvären intraepithelialen Neoplasien (VIN) fast verdoppelt. Junge Frauen zwischen 20 und 35 Jahren sind zunehmend betroffen. Die VIN und auch das Vulvakarzinom der jüngeren Frau ist oft assoziiert mit einem undifferenzierten, basaloiden oder kondylomatösen Typ und einer Infektion mit humanen Papillomviren (HPV; Schnürch 2003). 80% der Vulvakarzinome sind an den großen und kleinen Schamlippen lokalisiert, 10% im Klitorisbereich und 10% an der hinteren Kommissur.
15.2.3 Fragen zum Zusammenhang Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Die symbolische Bedeutung von Vulva und Vagina als primäre Geschlechtsmerkmale gibt dieser Region einen wesentlich höheren Stellenwert als dem funktionell wichtigeren inneren Genitale mit Uterus und Ovarien. Hinzu kommt die Bedeutung der Kohabitation, die in der Skala menschlicher Werte durch die Medien immer weiter nach oben verschoben wird. Deshalb sind Erkrankungen des äußeren Genitale für die Betroffene besonders peinlich
451 15.2 Äußeres Genitale
und belastend, da sie als Sexualpartnerin ausfällt. Hinzu kommt die versteckte Sorge nach der Ursache der meist vorliegenden Entzündung, die natürlich das angegebene Schwimmbad, die Toilette, ein Partner, Hygiene usw. sein können, die sich aber selten sicher verifizieren lässt. Medizinisch wichtig ist, dass mit Störung im Bereich Vulva/Vagina die Schutzfunktion für das innere Genitale nicht mehr gegeben ist. Insbesondere bei gleichzeitig bestehender Menstruation, liegender Intrauterinspirale oder nach intrauterinen Eingriffen ist der Zervikalkanal für Keime passierbar. Folge kann über die Endometritis dann eine Salpingitis bis zur Pelveoperitonitis sein.
wenn ein Zusammenhang gefunden wurde (Allergie). Vorübergehende Arbeitsbefreiungen bei massiver akuter Entzündung sind für den Heilungsverlauf erforderlich. Vulva- und Vaginalkarzinom
Nach operativer Sanierung und Rehabilitation ist mit einer Arbeitsunfähigkeit je nach Belastung am Arbeitsplatz von 3–6 Monaten zu rechnen. Bei zusätzlicher Strahlentherapie oder Radiochemotherapie verlängert sich diese Zeit erheblich, sodass auch die Option der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente besteht. Die Mehrzahl der Betroffenen befindet sich ohnehin im Rentenalter.
Vulva- und Vaginalkarzinom
Neben dem eigentlichen Vulvakarzinom kann es sich differenzialdiagnostisch um Metastasen eines Endometrium- oder Chorionkarzinoms handeln, ganz selten auch einen Lipidzelltumor oder einen syphilitischen Primäraffekt. Bei Migrantinnen ist auch an ein tuberkulöses Geschwür (weich, unterminierte Ränder) zu denken.
15.2.4 Bewertung nach dem Sozialrecht Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Benigne Veränderungen im Bereich des äußeren Genitales sind selten Anlass für sozialmedizinische Beurteilungen. Allerdings gibt es doch über interkurrente Entzündungen hinausgehende Hautaffektionen, die nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Erwerbsfähigkeit mindern und eine Behinderung darstellen. Bei einem Lichen sclerosus vulvae geringen Grades mit fehlenden oder nur geringen Beschwerden sind GdB/MdE mit 0–10 einzustufen. Bei erheblichen Beschwerden, Sekundärveränderungen, Ekzemen, Geschwüren und Narbenbildungen sind GdB/MdE mit 20–40 zu berücksichtigen. Vulva- und Vaginalkarzinom
Mit Beginn der Erkrankung erfolgt meist eine Einstufung als Schwerbehinderte mit GdB/MdE >50, nach Ablauf der Heilungsbewährung (5 Jahre) wird der GdB/MdE vom Versorgungsamt reduziert, sodass der Schwerbehindertenstatus entfällt, obwohl die meist alten Frauen zwischenzeitlich nur älter geworden sind und tumorfrei und nicht etwa leistungsfähiger erscheinen.
15.2.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Es gibt keinerlei Einschränkungen für eine Arbeit im öffentlichen Dienst und eine Verbeamtung. Problematisch allerdings bleibt, dass die Beurteilung ausschließlich auf Angaben der betroffenen Frau basieren kann. So stellt die Vulvodynie die häufigste desozialisierende Vulvaerkrankung dar, doch die Objektivierung mit Nachweis versus Ausschluss einer solchen Erkrankung beruht nur auf der Compliance der Betroffenen. Nichtbösartige Neoplasien und Entzündungen beeinträchtigen zwar das Wohlbefinden, aber nicht die Fähigkeiten zum Führen eines Fahrzeuges. Es ist eventuell die Einnahme von Pharmaka zu berücksichtigen mit potenziell sedierender und damit vigilanzmindernder Wirkung, wie Antihistaminika wegen Juckreizes. Vulva- und Vaginalkarzinom
Das Leistungsvermögen ist nach erfolgreicher Therapie und Rehabilitation nicht eingeschränkt. Allerdings besteht in den ersten Jahren eine erhöhte Rezidivgefahr, und die Prognose eines Rezidivs wiederum ist ungünstig bezüglich Kurabilität auf Dauer. Deshalb sollte vor einer Verbeamtung die Heilungsbewährung abgewartet werden. Primär bedeuten diese Krebserkrankungen im äußeren Genitalbereich keine Beeinträchtigung der Fahrereignung, wenn die Behandlung erfolgreich abgeschlossen ist. Allerdings ist zu bedenken, dass es sich um Frauen im letzten Lebensdrittel handelt, meist mit Multimorbidität belastet. Hier ist zusätzlich zum Gebrauch von Hypnotika und Anxiolytika mit der Einnahme von Bezodiazepin zu rechnen.
15.2.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Gutartige Vulva- und Vaginalveränderungen
Chronische Hautaffektionen können langfristig Einschränkungen für Berufe mit belastenden Temperaturschwankungen, Nässe und chemische Noxen bedeuten,
> Der Benzodiazepingebrauch, der in allen Altersgruppen zu Unfällen prädisponiert, wird bei älteren Menschen unterschätzt (Mörike et al. 2003).
15
452
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
15.2.7 Risikobeurteilung
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Entzündliche Veränderungen können langwierig sein und rezidivieren. Ein Übergang in einen chronischen Prozess kommt selten und dann vorwiegend bei postmenopausalen Frauen vor. Die Atrophisierung des Vaginalepithels durch Östrogenmangel bedarf dann einer Dauertherapie. Die Übergänge in einen Lichen atrophicus als potenzielle Präkanzerosen sind fließend. Trotz regelmäßiger Kontrolle und Behandlungen kann sich ein Vulvakarzinom entwickeln. Vulva- und Vaginalkarzinom
Da das Vulvakarzinom nur in etwa einem Drittel der Fälle im prognostisch noch günstigen Stadium I von der Patientin oder vom Arzt festgestellt wird, liegt auch die relative 10-Jahres-Überlebensrate nur bei 50% und die Gesamtüberlebensrate bei 36% bei einer mittleren Überlebenszeit von 3,1 Jahren (Engel et al. 2001). Die Abhängigkeit des Überlebens vom Stadium bei Tumorfeststellung zeigt . Abb. 15.1. Die Wahrscheinlichkeit einer Metastasierung in die regionären Lymphknoten steht in direkter Korrelation zur Flächenausdehnung des Tumors und zur Invasionstiefe. In Abhängigkeit vom Lymphknotenbefall überleben 91,3% der Patientinnen mit tumorfreien regionären Lymphknoten 5 Jahre, während dies nur für 52,4% der Patientinnen mit metastatisch befallenen Lymphknoten gilt (Schnürch 2003).
15.2.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
durchaus auch einer direkten Rehabilitation, z. B. durch eine ambulante oder stationäre Kur zur Hilfe bei der Lokalpflege, Lebensumstellung, Ernährungsberatung u. Ä. Vulva- und Vaginalkarzinom
Die operative Tumorsanierung ist zwangsläufig oft mit einer Verstümmelung des sichtbaren äußeren Genitales verbunden. Abgesehen von der Kosmetik führen narbige Veränderungen zu Kohabitationsproblemen und Störungen der Miktion. Intensive lokale Behandlungen mit Östrogenpräparaten (für die Vagina; die Vulva ist östrogenunempfindlich), Entstauung durch Lymphdrainage, Bougierung u. Ä. werden erforderlich und lassen sich optimal nur im Rahmen von Kuren realisieren. Steht das soziale Problem im Vordergrund (Verhinderung von Pflegebedürftigkeit, Organisation der Pflege bei schon vorhandener Pflegebedürftigkeit), so sollte eine wohnortnahe stationäre, bei Möglichkeit auch ambulante, Rehabilitation angestrebt werden. Es gibt keine Zahlen, ob die Prognose tatsächlich durch Rehabilitation verändert wird.
15.2.9 Sonderfragen Gutartige Veränderungen an Vulva und Vagina
Verletzungen im äußeren Genitalbereich der Frau unterscheiden sich von üblichen Verletzungen durch die Tabubelegung des Intimbereichs: Es gibt eine natürlich Scheu, mit einer solchen Verletzung zum Arzt zu gehen und über den Unfallhergang zu berichten. Hinzu kommt, dass die Mehrzahl dieser Verletzungen auf Gewalteinwirkung im Rahmen von Sexualdelikten zurückzuführen ist. Ganz besondere Beachtung erfordern Verletzungen bei Minderjährigen ohne Altersgrenze nach unten.
Abgesehen von den interkurrenten entzündlichen Läsionen bedürfen die langfristigen Hautveränderungen
14 15 16 17 18 19 20
. Abb. 15.1. Erwartetes Survival und Gesamtüberleben bei Patientinnen mit Vulvakarzinom in Abhängigkeit vom Stadium im Einzugsbereich des Tumorzentrums München ab 1977. (Nach Engel et al. 2001)
453 15.3 Erkrankungen der Mammae
> Skepsis und natürliches Misstrauen gegenüber den Erklärungen der Begleitpersonen und der Betroffenen selbst sind anfangs die einzige Option, einem Sexualdelikt auf die Spur zu kommen.
Vulva- und Vaginalkarzinom
Das äußere Genitale ist zwar Hautregion, doch es bestehen morphologische Unterschiede zu anderen Hautregionen. Alle Hauterkrankungen sind möglich, so auch das Melanom, das einer speziellen Stadieneinteilung unterliegt und multimodal gemeinsam von gynäkologischen und dermatologischen Onkologen diagnostiziert und behandelt werden sollte. Die Diagnoseverschleppung ist bei allen Vulvamalignomen, besonders bei älteren Frauen, hoch. Aber es gibt auch eine prognoserelevante iatrogene Verschleppung, da suspekte Symptome, wie Pruritus, Fluor, Schmerzen und Blutungen, nicht richtig zugeordnet werden, die histologische Abklärung hinausgeschoben wird und mitunter nicht einmal eine kolposkopische Inspektion erfolgt.
15.3
Erkrankungen der Mammae
15.3.1 Diagnostik
Die Mehrzahl der Mammakarzinome (MK) wird von den betroffenen Frauen selbst getastet, meist sind es dann bereits Tumoren >2 cm, einem Stadium pT2 entsprechend. Die Selbstpalpation oder auch Palpation durch den Arzt ist keine Methode zur Früherkennung. > Zur Früherkennung sind bildgebende Methoden unumgänglich; wichtigste Methode zur Früherkennung ist die Röntgenmammographie.
Zur Ergänzung und eventuellen Alternative in ausgewählten Fällen bei Frauen unter 35 Jahren oder sehr dichter Brust sowie während Schwangerschaft und Laktation dient die Sonographie mit Frequenzen von 7,5–13 MHz. Die MRT ist speziellen Situationen vorbehalten wie der Differenzierung von Narbe versus Rezidiv, Kontrolle bei Mutationsträgerinnen, Ausschluss eines multizentrischen Karzinoms, Suche nach unbekanntem Primärtumor. Die Sensitivität der Mammographie ist von der Dichte des Drüsenkörpers abhängig und beträgt 85–90%. Im involutierten, fettreichen Drüsenkörper erreicht die Mammographie eine Sensitivität von nahezu 100% bei Läsionen ≥5 mm. Die mammographische Dichte des Drüsenkörpers sollte entsprechend dem American College of Radiology (ACR) angegeben werden. Diese Einteilung erlaubt eine grobe Einschätzung der Sensitivität der individuellen Mammographie bezogen auf Läsionen, die ohne Mikrokalzifikationen einhergehen. Bei Läsionen, die Mikrokalk
aufweisen, spielt die Dichte des Drüsenkörpers keine entscheidende Rolle, da diese sowieso gut zu erkennen sind. Etwa 30% der invasiven Karzinome und bis zu 80% der heute entdeckten In-situ-Karzinome weisen Mikroverkalkungen auf, die die Detektion erleichtern. Die Mammographie ist nur in wenigen Fällen spezifisch, z. B. weisen Veränderungen wie Fettgewebsnekrosen, Hamartome, Lipome, verkalkende Fibroadenome, Lymphknoten und malignomtypische Mikrokalzifikationen so charakteristische morphologische Befunde auf, dass eine Differenzialdiagnose nicht angegeben werden muss. Die meisten in der Mammographie sichtbaren Veränderungen sind insbesondere bei kleinen Befunden unspezifisch. In diesen Fällen ist nur die Angabe einer Malignomwahrscheinlichkeit möglich. Die Indikation zur sogenannten kurativen Mammographie sollte großzügig gestellt werden: Bei unklarem Palpationsbefund, Schmerzen, familiärer Belastung, vorausgegangener Brusterkrankung und sogar bei speziellem Wunsch der Frau. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass das Screening durch Mammographie wirksam und kosteneffektiv ist im Vergleich mit Nicht-Screening (Knudsen et al. 2007). Der regelmäßige Einsatz der Mammographie innerhalb strukturierter Qualitätssicherungsprogramme führt zur Reduktion der Brustkrebssterblichkeit. Das Mammographie-Screening in Deutschland richtet sich an Frauen vom 50. bis zum 69. Lebensjahr (Beschluss des Deutschen Bundestages vom 22.06.2002). Nur in dieser Altergruppe ist dementsprechend ein Benefit dieser sekundarpräventiven Untersuchung zu erwarten und eine Mortalitätsreduktion von vielleicht 14–18%. (Schreer 2006). > Die endgültige Diagnose eines Mammakarzinoms ist erst nach feingeweblicher Untersuchung einer Gewebsprobe möglich.
Diese Gewebsprobe wird vorwiegend durch sonographisch oder stereotaktisch gesteuerte Hochgeschwindigkeitsstanzbiopsie gewonnen. Eine offene Biopsie mit gleichzeitiger Entfernung des suspekten Herdes ist ebenfalls möglich, aber nicht mehr die Methode der Wahl.
15.3.2 Krankheitsdefinition
Als Mammakarzinom wird ein formal vielfältiges Spektrum bösartiger Entartung und unkontrollierten Wachstums duktal (75%) oder lobular (15%) meist im oberen äußeren Quadranten (>50%) einer Brustdrüse bezeichnet. Das Karzinom kann mehrere Herde im gleichen Quadranten haben (multifokal) oder auch zusätzlichen einen anderen Quadranten befallen (multizentrisch), die Lymphknoten betreffen und primär oder später zu Fernmetastasen führen.
15
454
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
15.3.3 Fragen zum Zusammenhang
. Tab. 15.6. Mammakarzinom: etablierte Risikofaktoren
Betroffene mit Mammakarzinom schuldigen als Ursache oft äußere Faktoren an wie mechanische Läsionen mit Hämatomen u. Ä. Ebenso wird die Diagnose scheinbar gehäuft nach langjähriger psychosozialer Belastung gestellt, auch nach Verlusten (Tod eines Angehörigen). Es handelt sich hier nur um ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen, wann man seinem eigenen Körper nach langer Pause wieder Aufmerksamkeit widmet. . Tab. 15.6 zeigt gesicherte Zusammenhänge (Armstron et al. 2000). Selbst die Induktion des Mammakarzinoms durch die exogene Hormonersatztherapie ist nur sehr wahrscheinlich, aber nicht schlüssig bewiesen. Zumindest ist die rückläufige Inzidenz des Mammakarzinoms nach Einschränkung der früher großzügigen Östrogensubstitution in den USA ein Hinweis auf die Rolle der Östrogene bei der Genese des Mammakarzinoms.
Risikofaktor
Relatives Risiko
Familiäre Belastung (Verwandtschaft I. Grades)
1,4–13,6
Alter (≥50 Jahre versus <50 Jahre)
6,5
Gutartige Brusterkrankung: atypische Hyperplasie
4,0–4,4
Alter bei erster Lebendgeburt (>30 Jahre versus <20 Jahre)
1,3–2,2
Alter bei Menopause (≥55 Jahre versus <55 Jahre)
1,5–2,0
Familiäre Belastung (Verwandtschaft II. Grades)
1,5–1,8
Nach Biopsie (mit jedem histologischen Befund)
1,5–1,8
Alter bei Menarche (<12 Jahre versus ≥12 Jahre)
1,2–1,5
Hormonersatztherapie (HRT)
1,0–1,5
15.3.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Körperliche Behinderungen nach multimodaler Therapie eines Mammakarzinoms sind für die verbliebene Leistungsfähigkeit der Betroffenen wesentlich. Grundsätzlich wird ein GdB/MdE von mindestens 50 über 5 Jahre anerkannt. Zusätzliche Organ- oder Gliedmaßenschäden führen zu einer Erhöhung des GdB/MdE bis 100. Nach der 5-jährigen Heilungsbewährung erfolgt bei Krankheitsfreiheit (d. h. Rezidivfreiheit) eine Herabsetzung des GdB/ MdE entsprechend . Tab. 15.7 (nach Grab u. Kreienberg 2005).
15.3.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
Lebensversicherung
14 15 16 17 18
Im Gegensatz zu anderen Karzinomarten, bei denen man nach einigen Jahren (meist >5 Jahre) der Rezidiv- und Metastasenfreiheit von Heilung sprechen kann, trifft dies beim Mammakarzinom absolut nicht zu. Sogar nach >20 Jahren, wenn die Betroffene gar nicht mehr an ihre frühere Erkrankung denkt, sind Rezidive und Metastasen keine Seltenheit. Die konkrete Heilungserwartung hängt von den Risikomerkmalen des Tumors (Zahl der befallenen Lymphknoten, Tumorgröße, Grading u. a.) und von der Intensität der Therapie ab. Todesursache ist fast immer die Metastasierung, nicht das Rezidivgeschehen.
Unfallversicherung
19 20
Ein Mammakarzinom kann nicht auf einen Unfall zurückgeführt werden. Vorgetragene Zusammenhänge sind allenfalls zufällig. Ebenso ist ein Mammakarzinom kein Risiko für erhöhte Unfallgefahr. Die betroffene Frau ist
. Tab. 15.7. GdB/MdE nach operativem Eingriffen an der weiblichen Brust nach Ablauf einer evtl. Heilungsbewährung Zustand
GdB/MdE
Aufbauplastik zur Wiederherstellung der Brust mit günstigem Ergebnis
0–10
Aufbauplastik zur Wiederherstellung der Brust 5 mit normalem und weniger günstigem Ergebnis
20–30
5 Verlust der Brust einseitig
30
5 Verlust der Brust beidseitig
40
Einseitiger Verlust einer atrophischen Brust in höherem Lebensalter (etwa ab Mitte des 8. Lebensjahrzehnts)
10
Beidseitiger Verlust einer atrophischen Brust
20
höchstens während der Therapiephase belastet und dadurch im Straßenverkehr eingeschränkt.
Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung Die Therapie des Mammakarzinoms beansprucht für die Operation mit Wundheilung bis 4 Wochen, anschließend erfolgt meist eine Chemotherapie über 4–6 Monate, danach die Strahlentherapie über 6 Wochen, sodass die reine Therapiezeit üblicherweise 9 Monate mit Arbeitsunfähigkeit bedeutet. Erst anschließend ist an eine stufenweise Wiedereingliederung (Minderung der Stundenzahl) zu denken. In Abhängigkeit von Funktionseinschränkungen,
455 15.3 Erkrankungen der Mammae
insbesondere einem Lymphödem (aktuell seltener, weil die komplette axilläre Dissektion zugunsten der Sentinel-Lymphonodektomie verlassen wird), besteht weiterhin nur eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Eine eventuelle Hormonbehandlung bedeutet nur selten eine Minderung der Leistungsfähigkeit.
derungen, neurokognitive Störungen nach Chemotherapie, Angst vor Rezidiv etc. Die Erwerbsfähigkeit kann nach Abschluss der stationären Rehabilitation beurteilt werden. Allein die Diagnose eines Mammakarzinoms, auch nicht mit potenziell schlechter Prognose, ist nicht mit Aufhebung der Leistungsfähigkeit gleichzusetzen.
15.3.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten Kommentar
Die moderne Therapie des Mammakarzinoms hinterlässt eher selten organische Funktionsstörungen. Nur bei ausgedehnten Tumoren mit Ausräumung der Axilla sind Lymphödeme zu erwarten. Bei einem Lymphödem kann der betroffene Arm nur beschränkt belastet werden, weil es sonst zur Verstärkung der Symptomatik kommt. Ebenso ist oft die Sensibilität der Hand beeinträchtigt. Das berufsmäßige Führen eines Kraftfahrzeuges wäre dann nicht möglich. Ebenso regelmäßiges Heben über mehrere Stunden pro Tag (Verkäuferin) oder Fließbandarbeit und Akkordtätigkeiten sind einer so Betroffenen nicht zumutbar. Tätigkeiten mit Wärmeeinstrahlung oder längerer Sonnenbestrahlung sind ungünstig. Verletzungsgefahr bei handwerklicher Arbeit sollte minimiert werden. Fahrereignung besteht in jedem Fall, auch während der Therapiephase. Hinsichtlich der Gurtpflicht gibt es allenfalls kurzfristige Einschränkungen nach der Operation.
15.3.7 Risikobeurteilung
Der Zustand nach Mammakarzinom bedeutet ein nicht kalkulierbares Risiko für eine Wiedererkrankung. Nach den Prognoseparametern des Tumors lassen sich zwar eine günstige und auch eine ungünstige Prognose definieren – in der Praxis und im Einzelfall sind diese Vorstellungen oft nicht zutreffend. Die 5-Jahres-Überlebensrate bei einem nodalnegativen Mammakarzinom von <1 cm Größe beträgt fast 100%, bei >5 cm Größe sinkt sie auf 80%, bei Lymphknotenbefall wird die Überlebenswahrscheinlichkeit wiederum geringer.
15.3.8 Verbesserung der Prognose durch
Rehabilitation Nach Mammakarzinombehandlung sind Leistungen zur medizinischen, psychosozialen und beruflichen Rehabilitation gesetzlich vorgesehen. Die stationäre onkologische Rehabilitation im Anschlussheilverfahren (AHB) sollte direkt nach der Akutbehandlung beginnen und spezielle Therapiefolgen gezielt behandeln: Funktionsdefizite im Schulter-Arm-Bereich, Schmerzen, Wundheilungsstörungen, Fatigue, Menopausensyndrom, Körperbildverän-
Nur wenn der Ist-Zustand mit belastenden Therapiefolgen es unmöglich macht, mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein, muss an eine Rente wegen Erwerbsminderung (immer zeitlich befristet) gedacht werden.
Berufsfördernde Maßnahmen und Hilfen am Arbeitsplatz können nicht nur das Befinden von Mammakarzinombetroffenen günstig beeinflussen, sondern – im Gegensatz zu einer vorzeitigen Berentung – auch zur Prognoseverbesserung beitragen.
15.3.9 Sonderfragen
Die Diagnose- und damit Therapieverzögerung als häufiges Gutachterproblem nach Mammakarzinom ist primär oft durch die betroffene Patientin bedingt, die aus unterschiedlichsten Erwägungen heraus den Arztbesuch hinausschiebt. Ärztliche Ursachen der Diagnoseverzögerung beginnen bei Terminvergaben, fehlerhafter und nicht erfolgender Wiederbestellung oder auch Nichtdokumentation der Wiederbestellung, Fehlinterpretation von Befunden, Fehleinschätzungen infolge mangelnder Erfahrung oder auch leider mangelnder ärztlicher Qualität. In der Onkologie, speziell beim über Jahre wachsenden Mammakarzinom, ändern wenige Monate Therapieverzögerung die Prognose nicht messbar. Es gibt hierzu nur englische Übersichtsreferate, die mehrere Studien zusammenfassen, mit der Aussage, dass es teilweise zu ungünstigeren Tumorstadien kommt nach 3–6 Monaten Verzögerung. Die Aussagen sind uneinheitlich.
15
456
1 2 3 4 5 6 7
Kapitel 15 · Weibliche Geschlechtsorgane
Kommentar Eine eventuelle Dokumentationslücke des Arztes allein stellt keine Anspruchsgrundlage dar. Der Zeitpunkt, wann erstmals ein verdächtiger klinischer Befund vorlag, ist zwischen Arzt und Patientin fast immer streitig. Ein Gutachter kann diesen Streit nicht schlichten. Es geht quasi nie um Früherkennung, d. h. Diagnostik der zu 100% heilbaren Präkanzerose (die man im Screening entdecken müsste), sondern darum, dass der bereits manifeste Krebs früher entdeckt sein sollte mit damit früher möglicher Therapie. Die Prognose (s. oben) ist damit nicht automatisch besser (Lead-time-bias), und besonders die Therapie ist nicht anders. Hier müsste dem verantwortlichen Arzt ein nicht entschuldbarer Fehler nachgewiesen werden, der entsprechend dem zum relevanten Zeitpunkt gültigen Facharztstandard nicht vorkommen darf.
Internetadressen
8 Literatur
9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Schmidt J (2001) Problem der ärztlichen Begutachtung aus der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. In: Die ärztliche Begutachtung, 6. Aufl. Fritze E (Hrsg) S 1007–1028. Steinkopff, Darmstadt Schmidt-Matthiesen H, Bastert G, Wallwiener D (2002) Gynäkologische Onkologie – Diagnostik, Therapie und Nachsorge auf der Basis der AGO-Leitlinien. Schattauer, Stuttgart New York Schnürch H G (2003) Vulvakarzinom Diagnostik und Therapie. Gynäkologe 36: 781–792 Schreer I, Karalinic A: Mammographiescreening und Brustkrebsfrüherkennung. Gynäkologe 39 (2006) 503–508 Schubert-Fritschle G, Eckert R, Engel J, Hölzel D (2007): Epidemiologe. In: Manual Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge Malignome des Corpus uteri, 2. Aufl. Dannecker C (Hrsg) S 3–8. Tumorzentrum München. Zuckschwerdt, München Bern Wien New York Schweiger U (2004) Essstörungen, Stress, Sport und Ovarfunktion. XVI. Intensivkurs Klinische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin für Frauenärzte. München, 22.–26.03.2004 Stoll P, Stoll P (1992) Gynäkologische Erkrankungen. In: Medizinische Begutachtung, 6. Aufl. Marx HH (Hrsg) S 561–586. Thieme, Stuttgart New York
Armstron K, Eisen A, Weber B (2000) Assessing the risk of breast cancer. N. Engl. J Med 342: 564–571 Engel J, Schubert-Fritschle G, Hölzel D (2001) Epidemiologie. In: Manual Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge Vulvakarzinom, 1. Aufl. Kimmig R, Kürzl R (Hrsg) S 1–4. Zuckschwerdt, München Bern Wien New York Engel J, Schubert-Fritschle G (2004) Epidemiologie. In: Manual Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge Malignome der Zervix uteri. 2. Aufl. Hillemanns P (Hrsg) S 1–11. Zuckschwerdt, München Bern Wien New York Engel J, Hölscher G, Schubert-Fritschle G (2007) Epidemiologie. In: Manual Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge Ovarialkarzinom. 1. Aufl. Schmalfeldt B (Hrsg) S 1–9. Zuckschwerdt, München Bern Wien New York Grab D, Kreienberg R: Weibliche Brust. In: Das medizinische Gutachten. Hrsg. Dörfler H, Eisenmenger W, Lippert HD. Springer 2005 Hawighorst T, Emons G (2006) Adipositas und Krebs. Gynäkologe 39: 975–980 Hoyme U B (2006) Klinik der entzündlichen Erkrankungen des Uterus und der Adnexe. Gynäkologe 39: 981–995 Kaesemann H (1995) Gynäkologische Erkrankungen. In: Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung. 5. Aufl. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg) S 341–352. Gustav Fischer, Stuttgart Jena New York Knudsen AB, McMahon PM, Gazelle GS: Use of Modeling to Evaluate the Cost-Effectiveness of Cancer Screening Programs. J Clin Oncol 25, 2 (2007) 203–208 Kürzl R (2007) Früherkennung. In: Manual Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge Malignome des Corpus uteri. 3.Aufl. Dannecker C (Hrsg) S 9–11. Zuckschwerdt, München Bern Wien New York Mörike K, Gleiter C H (2003) Arzneimittel und Teilnahme am Straßenverkehr. Gynäkologe 36: 53–61 Schindler A E (2004) Ätiologie, Epidemiologie und Klinik der Myome des Uterus. Frauenarzt 45: 40–43
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe www.DerGynaekologe.de Jeweils aktuelle wissenschaftliche Referate zur Gynäkologie. Deutsche Krebsgesellschaft www.DerOnkologe.de Aktuelle Beiträge zu Tumorerkrankungen. Berufsverband der Frauenärzte www.frauenarzt.de Aktuelle Referate zur Gynäkologie/Geburtshilfe. Universitäts-Frauenklinik Kiel www.tumorkonferenz-sh.de Online-Diskussion von Brustkrebsfällen. I. Universitäts-Frauenklinik München, Campus Innenstadt www.frauenklinik-maistrasse.de Therapie- und Diagnostikangebote eines Universitätsklinikums.
457
System- bzw. nicht organbezogene Krankheiten und ihre Begutachtung 16
Diabetes mellitus – 459 H. Dörfler, M. Haslbeck
17
Hypertonie G. Bönner
18
Psychiatrische Begutachtung C. Stadtland, N. Nedopil
19
Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen C. Clemm, D. Pouget-Schors, U. Wandl
– 475 – 487
– 521
16 III
459
Diabetes mellitus H. Dörfler, M. Haslbeck
16.1
Diagnostik – 460
16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4
Klinik und Untersuchungsanlässe – 460 Laboruntersuchungen – 460 Therapieüberwachung, Kriterien einer optimalen Diabeteskontrolle – 462 Akut- und Langzeitkomplikationen – 464
16.2
Krankheitsdefinition – 464
16.3
Fragen zum Zusammenhang
16.4
Bewertung nach dem Sozialrecht – 467
16.4.1 16.4.2
Arbeitsunfähigkeit GdB/MdE – 468
16.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
16.5.1 16.5.2 16.5.3
Lebensversicherung – 468 Unfallversicherung – 469 Berufsunfähigkeitsversicherung
16.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 469
16.6.1 16.6.2
Einschränkung in der Berufsausübung Fahrereignung – 471
16.7
Risikobeurteilung – 472
16.7.1
Einstellung in den öffentlichen Dienst – 472
16.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Literatur
– 473
– 467
– 468
– 468
– 469
– 469
– 472
16
460
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Die gutachterliche Bedeutung des Diabetes mellitus liegt zum einen in der Häufigkeit dieser Erkrankung, zum anderen in der großen Zahl ernster Folgeerkrankungen. Zu begutachten sind beim Diabetiker die Qualität der Stoffwechseleinstellung, die Mitarbeit bei der Behandlung (z. B. Schulung, Blutzuckerselbstkontrollen, Anpassung der Diabetestherapie), diabetesspezifische Langzeitkomplikationen (Retinopathie, Nephropathie, Neuropathie) sowie Folgen der Makroangiopathie. Darüber hinaus spielen Behandlungsfolgen, an erster Stelle Hypoglykämien eine wesentliche Rolle. Die Häufigkeit des manifesten Diabetes in der westlichen Bevölkerung liegt derzeit bei etwa 7,5%, d. h. in Deutschland haben bei einer Bevölkerung von etwa 80 Millionen um die 6 Millionen Menschen einen manifesten Diabetes mellitus. Schätzungen gehen dahin, dass die Häufigkeit bis 2010 auf etwa 12,5% ansteigt, also mit 10 Millionen Diabetikern zu rechnen ist.
16.1
Diagnostik
Risikofaktoren für Diabetes mellitus Typ 2 (nach ADA 2007) 5 Lebensalter ≥45 Jahre 5 Übergewicht (Body-Mass-Index ≥25 kg/m2) 5 Familienanamnese für Diabetes mellitus (Eltern und Geschwister mit Diabetes) 5 Bewegungsmangel 5 Früher dignostizierte Glukosetoleranzstörung (IGT oder IFG) 5 Hypertonie (≥140/90 mm Hg) 5 HDL-Cholesterin ≤35 mg/dl und/oder Triglyzeride ≥250 mg/dl 5 Früherer Gestationsdiabetes oder Kinder mit erhöhtem Geburtsgewicht (≥4,5 kg) 5 Kardiovaskuläre Erkrankungen in der Anamnese
Zunehmend gewinnt auch der Diabetes mellitus Typ 2 bei Kindern und Jugendlichen an Bedeutung. Richtwerte für Kinder und Jugendliche zur alters- und geschlechtsbezogenen Definition der Adipositas über die 97. Perzentile finden sich in den DDG-Praxisleitlinien (DDG 2007).
16.1.1 Klinik und Untersuchungsanlässe
Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 zeigen typische durch die akute Hyperglykämie bedingte (klassische) Symptome wie Polyurie, Polydipsie und Gewichtsabnahme. Müdigkeit und Leistungsschwäche sind ebenfalls wichtige Begleiterscheingungen. Hier muss raschestens durch Laboruntersuchungen die Verdachtsdiagnose Diabetes mellitus bestätigt werden und die notwendige Therapie (Korrektur des Wasser- und Elektrolythaushaltes, Insulinsubstitution) eingeleitet werden. Beim Diabetes mellitus Typ 2 fehlt die typische auf die Hyperglykämie hinweisende Klinik meist. Die Diagnose Diabetes mellitus wird mit Hilfe von Laboruntersuchungen gestellt. Wichtige Untersuchungsanlässe sollten sein: Vorhandensein anderer Zeichen eines metabolischen Syndroms wie Übergewicht, Hypertonie, Hyperlipidämie, Hyperurikämie und Hinweise auf das Vorhandensein einer koronaren Herzkrankheit oder einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit. Patienten mit einem Lebensalter über 45 Jahre und einem Body-MassIndex über 25 kg/m2 sollten bei entsprechendem Risikoprofil (Übersicht) zumindest im Abstand von 3 Jahren untersucht werden.
> Kinder sollten bei Übergewicht und bei erhöhtem Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, insbesondere bei Verwandten mit Diabetes mellitus Typ 2, oder Gestationsdiabetes bei der Mutter regelmäßig alle 2 Jahre getestet werden.
Die Differenzialdiagnose zwischen Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 wird nach ätiopathogenetischen Gesichtspunkten gestellt, daher wird sie in 7 Kap. 16.2 abgehandelt.
16.1.2 Laboruntersuchungen
Der Verdacht auf Diabetes mellitus wird durch Blutglukosebestimmungen weiter abgeklärt. Zusätzliche Labordiagnostika sind die Untersuchung des Urins auf Glukose und Azeton sowie der glykierten Blut- und Serumproteine (HbA1c, neue Bezeichnung A1c, Fructosamin), welche rückwirkend Hinweise auf Ausmaß und Dauer eines hyperglykämischen Zustandes ermöglichen. In Zweifelsfällen muss ein oraler Glukosetoleranztest mit 75 g Glukose (OGTT, WHO-Standardtest) durchgeführt werden (. Tab. 16.1). > Blutzuckermessgeräte mit Teststreifen dürfen für diagnostische Zwecke nicht eingesetzt werden, diese dienen nur der Therapieüberwachung.
Bei der Analytik zur Diabetesdiagnose dürfen nur enzymatische Messverfahren zur Bestimmung der sogenannten »wahren Glukose« (Glukosedehydrogenase, Hexokinase) eingesetzt werden. Für die Diabetesdiagnose sind einmal die Unterschiede der Glukosekonzentrationen im
461 16.1 Diagnostik
Kapillar- und Venenblut zu berücksichtigen, ferner ist entscheidend, in welcher Blutfraktion (Vollblut bzw. Serum) die Glukosemessung durchgeführt wurde. Es gelten folgende Faustregeln: 5 Nüchtern: kapilläres Vollblut = venöses Vollblut. Venöses Serum/Plasma weist gegenüber venösem Vollblut etwa 11% höhere Werte auf. 5 Nichtnüchterne (postprandiale) Situation: kapilläres Vollblut = venöses Serum/Plasma. Grund hierfür ist, dass bei postprandialen Glukosebestimmungen die Differenzen von etwa 10% dadurch ausgeglichen werden, dass postprandial die kapillarvenösen Glukosedifferenzen in etwa den Unterschieden in den Blutfraktionen (Serum/Plasma gegenüber Vollblut) entsprechen.
Diagnosekriterien des manifesten Diabetes mellitus Die Diagnose eines manifesten Diabetes mellitus kann gestellt werden, wenn Blutglukosewerte im Tagesverlauf 200 mg/dl (11,1 mmol/l) und mehr im venösen Serum/ Plasma oder im kapillären Vollblut betragen. Der entsprechende Grenzwert beträgt im venösen Vollblut 180 mg/dl (10 mmol/l; Übersicht).
Kriterien zur Diagnose des manifesten Diabetes mellitus (nach ADA 2007; DDG 2007) 5 Klassische Diabetessymptome mit einem Blutglukosewert ≥200 mg/dl (11,1 mmol/l) im kapillären Vollblut oder im venösen Serum/Plasma oder 5 Nüchternglukosewert ≥126 mg/dl (7,0 mmol/l) im venösen Serum/Plasma oder ≥110 mg/dl im kapillären Vollblut oder 5 2-Stunden-Glukosewert ≥200 mg/dl (11,1 mmol/ l) im Kapillarblut oder im venösen Serum/Plasma bei einem OGTT mit 75 g Glukose (in 300 ml Flüssigkeit) unter Standardbedingungen. Besteht keine zweifelsfreie Hyperglykämie, muss das Testergebnis an einem anderen Tag mit einer der angegebenen Methoden bestätigt werden.
Zur Diagnostik des diabetischen Frühstadiums wird seit langem der orale Glukosetoleranztest mit der Beurteilung des 2-Stunden-Werts als entscheidendes Kriterium empfohlen. Vorbereitung und Durchführung des OGTT erfolgen heute weltweit nach festgelegten Standards (. Tab. 16.1). Wichtig ist, dass 3 Tage vor dem Test auf eine Ernährung mit ausreichender Kohlenhydratzufuhr (>150 g/Tag) und eine normale körperliche Aktivität geachtet wird. Seit 1999 wurde von der amerikanischen Diabetes-Gesellschaft
(ADA) das Stadium eines abnormen Nüchternblutzuckers unter standardisierten Bedingungen neu definiert und neben dem OGTT zur Frühdiagnostik empfohlen.
Glukosetoleranz – abnorme Nüchternglukose Die Testkriterien zur Diagnose des Stadium der gestörten Glukosetoleranz (»impaired glucose tolerance«; IGT) und der abnormen Nüchternglukose (»impaired fasting glucose«; IFG) sind . Tab. 16.2 zu entnehmen. Bei Anwendung des WHO-Standardstests mit 75 g Glukose ist eine normale Glukosetoleranz durch einen 2-Stunden-Wert von 140 mg/dl (7,8 mmol/l) im kapillären Vollblut oder im venösen Serum/Plasma definiert. Der Normbereich für den Nüchternblutzucker liegt unter 100 mg/dl (5,6 mmol/l) für Serum/Plasma und unter 90 mg/dl (5,0 mmol/l) im kapillären Vollblut. Durch den 2-Stunden-Wert im Glukosebelastungstest werden mehr Patienten mit gestörter Glukosehomöostase erfasst als durch den Nüchternblutzuckerwert. Die Erfassung des Nüchternblutzuckers ist jedoch einfacher, schneller und kostengünstiger und wird deshalb bevorzugt (ADA 2007). Für den OGTT bei der Diagnostik des Gestationsdiabetes gelten eigene Kriterien (Übersicht).
Kriterien zur Diagnose des Gestationsdiabetes 5 Zuminest 2 Werte müssen pathologisch sein. 5 Pathologische Werte: Venöse Serum- bzw. Plasmaglukose – nüchtern ≥95 mg/dl – nach 60 Minuten ≥180 mg/dl – nach 120 Minuten ≥155 mg/dl
Glykiertes Hämoglobin (HbA1c bzw. A1c) und glykierte Plasmaproteine (Fructosamine) Glykierte Blutproteine allein sind zur Diagnose eines Diabetes mellitus oder einer gestörten Glukosetoleranz nicht geeignet. Die Kombination eines Nüchternwerts der Blutglukose unter definierten Bedingungen und A1c führt zu einer Verbesserung der diagnostischen Empfindlichkeit, der OGTT ist aber dadurch nicht zu ersetzen.
Kommentar Von gutachterlich-diagnostischer Bedeutung kann eine vergleichende Bewertung von A1c, Nüchternblutzuckerwert und OGTT sein.
Der Nüchternblutzuckerwert hat eine niedrige Sensitivität bei einer sehr guten Spezifität. Die Bewertung von A1c allein hat eine Sensitivität von 78–81% und eine Spezifität von 79–84% im Vergleich zum OGTT.
16
462
1 2
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
. Tab. 16.1. Vorbereitung und Durchführung des oralen Glukosetoleranztests
Vorbereitung eines OGTT
3
Zeitpunkt
Maßnahme
Vor dem Test:
Indikationsstellung und Kontraindikationen beachten
3 Tage vor dem Test:
Kohlenhydratreiche Ernährung
Vor der Untersuchung:
12-stündige Nahrungskarenz, keine vorherige Immobilisation
Am Untersuchungstag:
Abfrage der Voraussetzungen: 5 Akute Erkrankung? 5 Ernährung? 5 Medikamente?
4 Durchführung eines OGTT
Der Patient soll sitzen und sich nicht körperlich betätigen; nicht laufen; nicht rauchen!
5 6
0 Minuten:
Blutglukosetest: 5 75 g Glukoseäquivalent*
120 Minuten:
Blutglukosetest: 5 75 g Glukose werden in 300 ml Flüssigkeit gelöst und sollen innerhalb von 5 Minuten getrunken werden
7 Bewertung
8
Zusammen mit klinischen Zeichen und Vorbefunden bewerten
Testzeit läuft mit Trinkbeginn. Alternativ können 300 ml eines Glukose-Oligosaccharid-Gemisches (z. B. Dextro O.G-T.) verabreicht werden.
9 . Tab. 16.2. Testkriterien der Blutglukose bei gestörter Glukosetoleranz (IGT) und abnormer Nüchternglukose (IFG)
10 11 12 13 14 15
IGT: 2-Stunden-Wert im OGTT
IFG: Abnorme Nüchternglukose*
[mg/dl]
[mmol/l]
[mg/dl]
[mmol/l]
Kapilläres Vollblut
≥140/<200
≥7,8/<11,1
≥90/<110
≥5,0/<6,1
Venöses Serum/Plasma
≥140/<200
≥7,8/<11,1
≥100/<126
≥5,6/<7,0
* Nach einer Fastenperiode von zumindest 8 Stunden.
> Die Einzelmessung der Fructosamine erlaubt eine Beurteilung der Stoffwechselsituation rückwirkend über die vorhergangenen 1–2 Wochen, während A1c eine Rückschau über 2–3 Monate ermöglicht.
Die Bestimmung von Insulin, C-Peptid und Proinsulin hat für die Diabetesdiagnostik keine Bedeutung.
16 16.1.3 Therapieüberwachung, Kriterien einer
17 18 19 20
optimalen Diabeteskontrolle Nach dem Position Statement (ADA 2007) bestehen enge Beziehungen zwischen Stoffwechseleinstellung und diabetischen Langzeitkomplikationen. Dies betrifft sowohl mikrovaskuläre Komplikationen (höchster Evidenzgrad) als auch makrovaskuläre Veränderungen (Evidenzgrad etwas geringer). Die 1993 publizierte DCCT-Studie (Diabetes Control and Complications Trail) zeigte bei 1441 Diabetikern Typ 1 eine signifikante Verbeserung diabetischer
Langzeitkomplikationen (Retinopathie, Nephropathie) einschließlich der peripheren Neuropathie von 60–70% nach einem mittleren Studienverlauf von 6,5 Jahren unter adäquater Therapie. Untermauert werden diese Ergebnisse durch weitere Langzeitresultate in der Nachfolgestudie der DCCT-Studie, der sogenannten EDIC-Studie (Epidemiology of Diabetes Interventions and Complications Study). Voraussetzung für eine Verbesserung der Diabeteseinstellung sind die heute allgemein anerkannten, von nationalen und internationalen Fachgesellschaften erarbeiteten Einstellungskriterien für Diabetes Typ 1 und Typ 2. > Zur Bewertung der Stoffwechselsituation sind Blutzuckerwerte, das glykierte Hämoglobin, Parameter des Fettstoffwechsels, das Körpergewicht und der Blutdruck heranzuziehen (ADA 2007; DDG 2007).
Die Behandlungsziele bei Diabetikern im Erwachsenenalter sind . Tab. 16.3 zu entnehmen.
463 16.1 Diagnostik
. Tab. 16.3. Behandlungsziele bei Diabetikern im Erwachsenenalter. (Nach ADA 2007)
. Tab. 16.4. Korrelationen von A1c-Werten und mittleren Plasmaglukosekonzentrationen
Parameter
Angestreber Wert
A1c
Mittlere Plasma-/ Serumglukose */**
A1c
<7%*/** [%]
[mg/dl]
[mmol/l]
Blutdruck
<130/80 mm Hg 6
135
7,5
LDL
<100 mg/dl (<2,6 mmol/l) 7
170
9,5
Triglyzeride
<150 mg/dl (<1,7 mmol/l) 8
205
11,5
HDL
>40 mg/dl (1,0 mmol/l) 9
240
13,5
10
275
15,5
11
310
17,5
12
345
19,5
* Ein normaler A1c-Wert unter 6% kann – allerdings bei erhöhtem Hypoglykämierisiko – die Komplikationsrate weiter senken. **Normalwert A1c 4,0–6,0% (DCCT-Standard).
Bei Diabetes mellitus Typ 1 sollen 50% der Blutzuckerwerte im Bereich von 80–140 mg/dl sein. Primäres Zielkriterium ist ein A1c-(HbA1c)-Wert <6,5–7%, unter Berücksichtigung des individuellen Hypoglykämierisikos sollten Werte <6% angestrebt werden. Für Diabetes mellitus Typ 2 wurden ähnliche Therapieziele definiert: Blutzucker nüchtern und präprandial 80–120 mg/dl. Bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 bei einer Albuminurie >20 mg/l wurde, sofern tolerierbar, ein Blutdruck von <120/80 mm Hg vorgeschlagen (DDG 2007). > Selbstverständlich müssen die Therapieziele vom behandelnden Arzt immer der individuellen Patientensituation angepasst werden. Von besonderer Bedeutung sind hier Lebensalter, Begleiterkrankungen und Hypoglykämierisiken.
Korrelationen zwischen mittleren Blutglukosewerten und dem A1c-Spiegel sind aus gutachterlichen Gesichtspunkten von Bedeutung, da sie ggf. bei Unklarheiten über aktuelle Blutzuckerwerte und Selbstkontrollen eine Beurteilung der Stoffwechselsituation über einen länger zurückliegenden Zeitraum und einen Hinweis auf die Gefährdung für entsprechende Langzeitkomplikationen geben können (. Tab. 16.4). Eine Testung des A1c muss bei Patienten mit Therapieänderungen, bei Nichterreichen des Therapieziels und zur Dokumentation einer normnahen Diabeteseinstel-
* Labormethode oder Testreifen (Kapillarblut) kalibriert auf Plasma-/Serumglukose. **Glukosekonzentrationen im Plasma/Serum gegenüber Vollblut etwa 10% höher.
lung vierteljährlich erfolgen (s. Gesundheits-Pass Diabetes). Als Minimum sollte bei Patienten mit stabiler Einstellung und erreichten Therapiezielen eine Kontrolle 2mal jährlich durchgeführt werden. Ergänzend sei nochmals auf die in . Tab. 16.5 festgehaltenden Therapiekriterien für die gute Diabeteseinstellung nach ADA (1998) hingewiesen.
Blutzuckerselbstkontrolle Blutzuckerselbstkontrollen sind heute ein integraler Bestandteil der Behandlungsstrategie. Eine intensive Insulintherapie erfordert 3 oder mehr Blutzuckerselbstkontrollen täglich. Die Messzeiten betragen im Mittel 5–15 Sekunden, die Blutvolumina sind mit 0,3–3 μ/l sehr klein. Beim Diabetes mellitus Typ 2 müssen die Anzahl und Intervalle der Selbstkontrollen individuell festgelegt werden. Besonders wichtig sind Selbstkontrollen zur Beurteilung des Hypoglykämierisikos bei Diabetikern Typ 1 sowie bei sulfonylharnstoffbehandelten oder insulinbehandelten oder mit einer Kombinationstherapie behandelten Diabetikern vom Typ 2. Unabdingbar ist immer die exakte Dokumentation der Messergebnisse und Begleitumstände in Dokumentationsheften, wie sie von verschiedenen Firmen, an-
. Tab. 16.5. Einstellungskriterien bei Diabetikern. (Nach ADA 1998) Nichtdiabetischer Bereich
Therapeutischer Zielbereich
Zusätzliche Maßnahmen erforderlich
Blutglukose* präprandial
<110 mg/dl
80–120 mg/dl
<80 mg/dl und >140 mg/dl
Blutglukose vor dem Schlafengehen
<120 mg/dl
120–140 mg/dl
<100 mg/dl und >160 mg/dl
A1c
<6%
<7%
>8%
* Kapillarblut.
16
464
1
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
gepasst an die jeweilige Therapieform, zur Verfügung gestellt werden.
Sonstige Kontrollen
2 3 4 5 6 7 8 9 10
In jedem Quartal sollen A1c, Körpergewicht, Blutdruck, Blutzucker, Albuminurie bzw. Mikroalbuminurie, anamnestische Angaben über Hypoglykämien und Häufigkeit von Selbstkontrollen erfasst werden, eine Inspektion der Füße erfolgen und die Daten im Gesundheits-Pass Diabetes der Deutschen Diabetesgesellschaft dokumentiert werden. Zumindest einmal im Jahr müssen die Blutlipide und das Serumkreatinin bestimmt werden, eine Untersuchung des Augenhintergrundes, eine körperliche Untersuchung mit Beurteilung der Gefäßsituation und neurologische Screening-Untersuchungen durchgeführt und im Gesundheitspass dokumentiert werden.
Kommentar Eine optimierte, normnahe Diabeteseinstellung ist nicht nur von präventiver und kurativer Bedeutung. Sie spielt bei einer ganzen Reihe gutachterlicher Fragestellungen wie z. B. der Eignung für verschiedene Berufe, beamtenrechtlichen Fragestellungen oder die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs eine entscheidende Rolle. Die Dokumentation ist ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Compliance des Diabetikers.
11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
5 Neuropathie: – Anamnese mit neuropathischen Symptomen (Neuropathiesymptom-Score; NSS) – Klinisch-neurologische Tests: – sensomotorische Neuropathie: Empfindung von Schmerz, Berührung, Druck, Temperatur, Vibration, Muskeleigenreflexe, Neuropathiedefizit-Score (NDS), ggf. Röntgen beider Füße, MRT – autonome Neuropathie: Herzfrequenzvariation unter tiefer Respiration, Orthostasetest, IIEF-5 (International Index of Erectile Function)-Fragebogen 5 Makroangiopathie – Anamnese: Claudicatio, Angina pectoris, zerebrale Symptome – Inspektion der unteren Extremitäten und Fußstatus – Untersuchung: Hauttemperatur, Arterienpulse, Dopplerdrücke und Dopplerindizes beidseits – Röntgen beider Füße, Duplex, ggf. MRT – Kardiologische Diagnostik: EKG, BelastungsEKG, Echokardiographie, Myokardszintigraphie oder Stressechokardiographie, Koronarangiographie
Wichtig ist, dass Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 wegen des oft langsamen und schleichenden Beginns zum Zeitpunkt der Diabetesdiagnose in bis zu 30% der Fälle bereits eine Retinopatie und Nephropathie aufweisen.
16.1.4 Akut- und Langzeitkomplikationen
Die für die Erfassung der Spätkomplikationen erforderlichen Untersuchungen finden sich in der Übersicht. 16.2 Wesentliche Diagnostik bei diabetischen Langzeitkomplikationen (nach DDG 2007) 5 Retinopathie und Sehschärfe, vorderer Augenabschnitt, Augendruck 5 Makulopathie: – Augenhintergrund mit Fundoskopie – Dokumentation der Befunde auf standardisiertem Untersuchungsbogen 5 Nephropathie: Albumin im Urin (quantitativ), Kreatinin, Kreatinin-Clearance 6
Krankheitsdefinition
Beim Diabetes mellitus handelt es sich um eine Gruppe von Stoffwechselerkrankungen, die alle durch eine chronische Hyperglykämie infolge von Störungen der Insulinsekretion und/oder der Insulinwirkung (Insulinresistenz) gekennzeichnet sind. Klassifikation und Diagnostik haben sich in neuerer Zeit deutlich verändert. Bei der Einteilung steht heute die Pathogenese des Diabetes mellitus ganz im Vordergrund. Frühere Einteilungen haben sich am Manifestationsalter (juveniler Diabetes versus Erwachsenendiabetes) oder an der Therapie (IDDM: insulinabhängiger Diabetes – NIDDM: nichtinsulinabhängiger Diabetes) orientiert. Die Einteilung des Diabetes mellitus (nach ADA 2007) zeigt die Übersicht.
465 16.2 Krankheitsdefinition
Einteilung des Diabetes mellitus (nach ADA 2007) 5 Diabetes mellitus Typ 1 – Immunologisch bedingt – Idiopathisch bedingt 5 Diabetes mellitus Typ 2 5 Andere spezifische Typen – Genetische Defekte der Betazellfunktion (z. B. MODY-Diabetes) – Genetische Defekte der Insulinwirkung (z. B. lipatrophischer Diabetes – Erkrankungen des exokrinen Pankreas – Endokrinopathien – Medikamenten- oder chemisch induzierter Diabetes – Sonderformen eines immunologisch induzierten Diabetes – Virusinfektionen 5 Andere genetische Syndrome 5 Gestationsdiabetes (GDM) 5 Gestörte Glukosetoleranz (»impaired glucose tolerance«; IGT) 5 Abnorme Nüchternglukose (»impaired fasting glucose«; IFG)
Diabetes mellitus Typ 1
Ursache des Diabetes mellitus Typ 1 ist eine Autoimmundestruktion der B-Zellen des Pankreas, die zu einem absoluten Insulindefizit führt. Diese Krankheitsgruppe repräsentiert nur 5–10% aller Diabetespatienten. Diagnostische Marker der Immundestruktion sind Inselzellantikörper und Autoantikörper gegen Insulin, Glutaminsäure-Decarboxylase (GAD65) und Thyrosinphosphatase (IaII und Ia-IIβ). Bei Erstmanifestation sind einer oder mehrere dieser Antikörper in 85–90% der Fälle nachweisbar. Ein immunologisch verursachter Diabetes tritt hauptsächlich bei Kindern oder jugendlichen Erwachsenen auf, kann aber grundsätzlich in jedem Lebensalter vorkommen. Finden sich bei einem Diabetes Typ 1 keine Immunphänomene, kann die Einordnung als »idiopathischer Diabetes mellitus Typ 1« erfolgen. Diabetes mellitus Typ 2
Der Diabetes mellitus Typ 2 stellt mit 90–95% aller Fälle die weitaus häufigere Krankheitsmanifestation dar. Dieser Diabetestyp bietet ein sehr heterogenes Krankheitsbild. Die frühere Untergruppierung mit oder ohne Übergewicht (Diabetes mellitus Typ 2a oder 2b) ist aus pathogenetischer Sicht heute nicht mehr haltbar und wurde deshalb verlassen. Die Autoimmungenese unterliegt vielen genetischen Prädispositonen und Umwelteinflüssen, die bis heute noch unzureichend erforscht sind.
Zusammenhänge mit anderen Autoimmunerkrankungen (Morbus Basedow, Morbus Addison, HashimotoThyreoiditis, Zöliakie, Autoimmunhepatitis etc.) sind bekannt. Zu bedenken ist ein Diabetes im Zusammenhang mit exokrinen Pankreaserkrankungen und Endokrinopathien. Krankheitsprozesse wie chronische Pankreatitis, Traumen, Infektionen, Pankreatektomie können zu einer Diabetesentstehung beitragen, wobei jedoch die Erklärung einer einfachen Reduktion der B-Zellmasse pathogenetisch nicht ausreichend ist. Antagonistisch zum Insulin wirkende hormonproduzierende endokrine Erkrankungen können bei vorbestehendem Defekt zur Diabetesmanifestatation führen. . Tab. 16.6 gibt die Unterschiede zwischen Diabetes mellitus Typ 1 und Diabetes mellitus Typ 2 unter pathogenetischen Aspekten wieder. Metabolisches Syndrom
Die Kombination von Adipositas, Dyslipidämie, Hypertonie und gestörter Glukosetoleranz bzw. einem manifesten Diabetes wird als metabolisches Syndrom bezeichnet und beinhaltet ein erhöhtes Gefäßrisiko. Neuere Definitionen beziehen sich schwerpunktmäßig auf das 2- bis 3-fach erhöhte kardiovaskuläre Risiko. Die aktuellen von den Fachgesellschaften vorgeschlagenen Definitionen erfassen das Körpergewicht, Parameter des Fett- und Kohlenhydratstoffwechsels sowie den Blutdruck. > Die Adipositas wird nach neuerer Anschauung definiert über die viszerale Fettmasse, gemessen am Taillenumfang. Der Body-Mass-Index spielt nur mehr eine nachgeordnete Rolle gegenüber dem Taillenumfang.
In einer großen multizentrischen Querschnittsstudie konnte nachgewiesen werden, dass das metabolische Syndrom nicht nur einen Risikofaktor für Mikro- und Makroangiopathie, sondern auch für die diabetische Neuropathie darstellt (Diabetes Care 2006). Definitionsgemäß ist also das »metabolische Syndrom« keine einheitliche Erkrankung, sondern eine individuell unterschiedliche Ansammlung von Risikoerkrankungen, entsprechend unterscheiden sich die Empfehlungen der verschiedenen Fachgesellschaften. Auch bei der Begutachtung ist es wichtig, die gebräuchlichsten Diagnosekriterien zu kennen. Nach den Definitionen der NCEP (National Cholesterol Education Program) der AHA (American Heart Association) und der IDF (International Diabetes Federation) sind die Diagnosekriterien bei der Beurteilung des Fett- und Kohlenhydratstoffwechsels und des Blutdrucks mit Ausnahme der Erfassung einer eventuellen medikamentösen Therapie (AHA, IDF) einheitlich. Unterschiede zeigen sich jedoch in den Bewertungskriterien für den Taillenumfang – NCEP und AHA 102 cm bei Männern und 88 cm bei Frauen. Nach IDF ist ein Taillenumfang ≥94 cm bei
16
466
1 2 3 4 5 6
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
. Tab. 16.6. Kriterien zur Unterscheidung zwischen Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 Parameter
Diabetes mellitus Typ 1
Diabetes mellitus Typ 2
Manifestationsalter
Meist Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
Meist mittleres bis höheres Alter*
Auftreten/Beginn
Akut bis subakut
Meist schleichend
Symptome
Häufig typische Symptome
Häufig keine Beschwerden
Körpergewicht
Meist norm- oder untergewichtig
Meist übergewichtig
Ketoseneignung
Ausgeprägt
Fehlend oder gering
Insulinsekretion
Vermindert bis fehlend
Hoch, normal oder niedrig
Insulinresistenz
Keine (oder nur gering)
Ausgeprägt
Familiäre Häufung
Gering
Typisch
Konkordanz bei eineiigen Zwillingen
30–50%
Weit über 50%
Erbgang
Multifaktoriell (polygen)
Multifaktoriell (polygen?, genetische Heterogenie möglich)
HLA-Assoziation
Vorhanden
Nicht vorhanden
Diabetesassoziierte Antikörper
ca. 90–95% bei Manifestation (GAD, IA-2, IAA, ICA)
Fehlen
Stoffwechsel
Labil
Stabil
Ansprechen auf β-zytotrope Pharmaka
Meist fehlend
Zunächst meist gut
Insulintherapie
Erforderlich
Meist erst im Verlauf der Erkrankung notwendig
7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
* Inzidenz und Prävalenz des Diabetes mellitus Typ 2 steigen heute auch im Kindes- und Jugendalter dramatisch an. **LADA ist mit einem langsameren Verlust der β-Zellfunktion verbunden. Beim LADA ist ein rasches Versagen auf orale Antidiabetika zu erwarten. Bei Verdacht auf LADA ist eine Analyse besonders von GAD-Antikörpern empfehlenswert.
Männern und ≥80 cm bei Frauen pathologisch. Einen Bezug auf den BMI (Grenzwert ≥30 kg/m2) kennen nur die Empfehlungen der IDF. Es besteht eine unterschiedliche Gewichtung der Diagnosekritierien, wobei die IDF einen erhöhten Taillenumfang als unabdingbares Diagnosekriterium einstuft. Neben der Adipositas sind weitere Kriterien: Hypertriglyzeridämie >150 mg/dl, erniedrigtes HCL-Cholesterin (<40 mg/dl bei Männern, <50 mg/dl bei Frauen), erhöhter Blutdruck, in allen Empfehlungen >130/95 mm Hg, erhöhte Nüchternblutglukose (nach NCEP ≥110 mg/dl, nach AHA und IDF >100 mg/dl). Nach NCEP und AHA müssen 3 der 5 Kriterien erfüllt sein, nach IDF muss eine Adipositas bestehen und 2 weitere Kriterien erfüllt sein. In Deutschland haben nach der NCEP-Definition etwa 20% der Erwachsenen und in den USA etwa 30% ein metabolisches Syndrom. Selbstverständlich ist bei Anwendung der IDF-Definition eine höhere Prävalenz z. B. bis nahezu 40% in den USA zu erwarten (Ford 2005). Abhängig vom Taillenumfang besteht graduell ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und für Diabetes (Praxisleitlinien der Deutschen Diabetesgesellschaft 2007).
> Man kann heute bei einem mäßig erhöhten Taillenumfang von 80 cm (Frauen) und 94 cm (Männern) von einem erhöhten adipositasassoziierten metabolisch-vaskulären Risiko sprechen. Bei >88 cm (Frauen) und 102 cm (Männer) ist von einem sehr hohen Komplikationsrisiko auszugehen.
Gestationsdiabetes (GDM)
Definitionsgemäß ist der GDM die Diabetesform, die erstmals während einer Schwangerschaft auftritt und nahezu 90% aller Schwangerschaften mit Diabetes betrifft. Ein GDM als Schwangerschaftskomplikation kommt bei etwa 4% aller Schwangerschaften vor. Der GDM wurde wegen Besonderheiten in Verlauf und Therapie als eigene Krankheitsentität definiert. Risikofaktoren und -indikatoren sind Übergewicht vor der Schwangerschaft, familiäre Diabetesbelastung, GDM bei einer früheren Schwangerschaft, Geburt eines übergewichtigen Kindes, eine Totgeburt, schwere kongenitale Fehlbildungen bei einer früheren Schwangerschaft sowie eine habituelle Abortneigung. Bei der Durchführung der oralen Glukosebelastung bei Verdacht auf GDM gelten andere Beurteilungskriterien (7 Kap. 16.1).
467 16.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
16.3
Fragen zum Zusammenhang
Gutachterlich von Bedeutung ist die Frage, ob ein Diabetes mellitus auf äußere Ereignisse (z. B. Traumen) im Sinne der Entstehung zurückzuführen ist oder ob ein äußeres Ereignis die Diabetesmanifestation begünstigt hat.
Psychische Traumen
Ein Zusammenhang wird immer wieder geltend gemacht. Er ist nicht prinzipiell auszuschließen, wird aber nur selten als alleinige Ursache für eine Diabetesmanifestation anzunehmen sein. »Außergewöhnliche« Ereignisse kann man im Sinne einer vorzeitigen Diabetesmanifestation anerkennen.
Traumatischer Diabetes
Bei allen Fragen nach einer traumatischen Diabetesentstehung muss geklärt sein, ob ein adäquates Trauma vorgelegen hat. Es ist der Unfallhergang heranzuziehen, und die Unterlagen über den Zustand des Patienten unmittelbar nach dem Unfall sind einzubeziehen. Ferner muss geklärt sein, dass der Diabetes mellitus erst nach dem Trauma aufgetreten ist, entsprechend ist auch darauf zu achten, ob z. B. Folgekrankheiten eines Diabetes mellitus bereits zum Zeitpunkt der angeschuldigten Schädigung bestanden haben.
Kommentar Aus bestehenden Folgeschäden zum Zeitpunkt einer zum Unfall zeitnahen Untersuchung kann darauf geschlossen werden, dass ein Diabetes mellitus mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vor dem Unfallereignis bestanden hat.
Traumatische Pankreasschädigung
Während bei der chronischen Pankreatitis eine geringerer Organverlust ausreicht, einen Diabetes mellitus auszulösen, muss bei der traumatischen Schädigung des Pankreas durch direkte Verletzung (selten!) oder im Rahmen von Operationen (am Pankreas direkt oder bei Operationen an Nachbarorganen) ein Gewebsuntergang von etwa 90% erfolgt sein, wenn ein Diabetes mellitus als durch den Verlust von Pankreasgewebe bedingt anzusehen sein soll. Eine direkte Pankreasverletzung im Rahmen eines Unfalls endet meistens tödlich. Denkbar ist ein pankreopriver Diabetes bei stumpfem Bauchtrauma im Rahmen einer damit notwendig gewordenen Operation. Schädel-Hirn-Trauma
In der Regel ist die Entstehung eines Diabetes mellitus nicht ausschließlich auf ein etwaiges Schädel-Hirn-Trauma zurückzuführen. Vorzeitige Manifestation und Verschlimmerung eines bestehenden Diabetes mellitus sind jedoch möglich. Voraussetzung für die Anerkennung ist jedoch das Vorhandensein deutlicher Symptome eines schweren Traumas. Solche Zeichen wären z. B. Brillenhämatome und Liquorfluss, Störungen des Wasserhaushaltes, dienzephale Nachbarschaftssymptome, Bewusstlosigkeit, Schädelfrakturen, Blutungen aus Mund, Nase und Ohren.
Kommentar Wenn ein Trauma – dies gilt für alle Traumata – zu einer Diabetesmanifestation nur »beigetragen« hat, ist in unterschiedlichen Rechtsbereichen unterschiedlich zu verfahren. Hier braucht es klare Vorgaben in der Fragestellung des Auftraggebers. Es gibt Rechtsbereiche, in welchen es von Bedeutung ist, ob das Trauma zu einem Viertel zur Diabetesentstehung beigetragen hat und damit den Diabetes mellitus wesentlich mitverursacht hat. In anderen Rechtsbereichen muss zwischen einer vorübergehenden und einer »richtungsweisenden Verschlimmerung« unterschieden werden. Eine richtungsweisende Verschlimmerung liegt dann vor, wenn nach der Diabetesmanifestation keine Stoffwechselrekompensation zu erreichen ist und der Diabetesverlauf ungünstiger ist, als dies der allgemeinen Erfahrung entspricht. Wenn ein Diabetes mellitus schon vor dem Trauma bestanden hat und durch das Trauma eine Verschlimmerung anzunehmen ist, werden die Richtlinien angewandt, die für die Beurteilung einer traumatisch bedingten vorzeitigen Manifestation im Rahmen der Sozialversicherung angewandt werden.
16.4
Bewertung nach dem Sozialrecht
Die sozialmedizinische Begutachtung hat beim Diabetiker folgende Gesichtspunkte zu umfassen: Das Ziel jeder Diabetesbehandlung sollte die »bedingte Gesundheit« sein. Gerade beim insulinspritzenden jüngeren Diabetiker ergeben sich jedoch allein durch die Therapie ausgelöste sozialmedizinische Probleme, wie z. B. Zeitaufwand für die Therapie, äußerer Rahmen für Stoffwechselkontrollen, evtl. notwendige Hospitalisationen zur besseren Diabeteseinstellung. Ein wesentlicher Punkt ist die mögliche Gefährdung durch Hypoglykämien. Das Leistungsspektrum des gut eingestellten Diabetikers ist keineswegs automatisch eingeschränkt. Die berufliche Diskriminierung des gut eingestellten Diabetikers muss unbedingt vermieden werden. Die beruflichen Einschränkungen durch Diabetes werden im Wesentlichen neben den Hypoglykämien durch die Folgekrankheiten und die damit verbunden Funktionseinschränkungen bestimmt.
16
468
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
16.4.1 Arbeitsunfähigkeit
1 2 3 4
Die Arbeitsunfähigkeit ist abhängig von Folgekrankheiten und den notwendigen medizinischen Interventionen. Stoffwechseldekompensation und gelegentlich auch zeitraubende Therapieumstellungen können ebenfalls Arbeitsunfähigkeit verursachen.
16.4.2 GdB/MdE
5
Als Grundsatz für die Beurteilung von GdB/MdE beim Diabetiker stellen die »Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit« (vsbinfo.de 2008) fest:
6
»Normabweichungen der Laborwerte bedingen für sich allein noch
7 8 9 10 11
keinen GdB/MdE-Grad. Der GdB/MdE-Grad ist von der Einstellbarkeit des Diabetes, der Art der verwendeten Medikamente (vor allem im Hinblick auf die Möglichkeiten der Hypoglykämie) und Folgekrankheiten des Diabetes abängig.
«
Die »Anhaltspunkte« für die Zubilligung von GdB/MdE beim Diabetiker sind zuletzt im Jahre 2004 aktualisiert worden (. Tab. 16.7). Der Ausschuss »Soziales« der Deutschen Diabetesgesellschaft hat davon abweichende Vorschläge gemacht. Kernpunkt ist die Forderung einer Zubilligung eines GdB-Grades von bis zu 60 beim Diabetiker Typ 1, der mehrere Injektionen pro Tag benötigt. Ein weiterer Kritikpunkt aus der Diabetesgesellschaft ist, dass dem insulinbehandelnden Diabetiker Typ 2 nicht derselbe GdB-Grad zugestanden wird wie dem Diabetiker Typ 1.
. Tab. 16.8. GdB/MdE bei Diabetes mellitus unter Berücksichtigung der Einstellbarkeit und der Komplikationen Diabetes mellitus
GdB/MdE
Diabetiker mit guter Einstellbarkeit 5 ohne diabetische Komplikationen (keine Retinopathie)
0
5 mit diabetischer Retinopathie Grad I
0–10
5 mit diabetischer Retinopathie Grad II
10–40
5 mit diabetischer Retinopathie Grad III
40–100
Diabetiker mit schlechter Einstellbarkeit 5 ohne Komplikationen und Zweitkrankheiten
50–100
5 mit Komplikationen
bis 100
Wenn eine Spätkomplikation des Diabetes führend ist, bewertet man sie wie die entsprechende Krankheit beim Nichtdiabetiker (z. B. koronare Herzkrankheit). . Tab. 16.8 berücksichtigt Einstellbarkeit und Komplikationen. »Merkzeichen« nach dem Schwerbehindertengesetz ergeben sich aus den Spätkomplikationen, ggf. auch aus der Hypoglykämiegefährdung. Beispielsweise kann bei einer diabetischen Retinopathie bei einer wesentlichen Sehbhinderung (GdB/MdE wenigstens 60) die Voraussetzung für die Befreiung von Rundfunkgebührenpflicht vorliegen. Das Merkzeichen »G« (Geh- und Stehbehinderung) oder auch »aG« betrifft Diabetiker mit Makroangiopathie, koronarer Herzkrankheit, evtl. auch Nephropathie mit renaler Anämie.
12 Kommentar
13 14
Die »Anhaltspunkte« haben zwar empfehlenden Charakter, sollten aber in der Regel den Begutachtungen zugrunde gelegt werden. Abweichungen sind im Einzelfall zu begründen. Hier ist dann sicher der Hinweis auf die Stellungnahme der Fachgesellschaft von Nutzen.
15 16 17 18 19 20
16.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
16.5.1 Lebensversicherung
Das ärztliche Gutachten vor Abschluss einer Lebensversicherung berücksichtigt die Qualität der Diabeteseinstellung sowie die Compliance des Betroffenen und beantwortet die Frage nach bereits bestehenden Folgeschä-
. Tab. 16.7. GdB/MdE bei Diabetes mellitus, abhängig von der Therapieform Diabetes mellitus
GdB/MdE
Typ 1 durch Diät und alleinige Insulinbehandlung 5 gut einstellbar
40
5 schwer einstellbar (häufig bei Kindern), auch gelegentliche, ausgeprägte Hypoglykämien
50
Typ 2 durch Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikation) oder durch Diät 5 und Kohlenhydratresorptionsverzögerer oder Biguanide-Insulinsensitizer (d. h. orale Antidiabetika, die allein nicht zur Hypoglykämie führen) ausreichend einstellbar
10
5 und Sulfonylharnstoffe (auch bei zusätzlicher Gabe anderer oraler Antidiabetika) ausreichend einstellbar
20
5 und orale Antidiabetika und ergänzende oder alleinige Insulininjektionen ausreichend einstellbar
30
Häufige ausgeprägte Hypoglykämien sowie Organkomplikationen sind ihren Auswirkungen entsprechend zusätzlich zu bewerten.
469 16.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
den eines Diabetes mellitus. Der Arzt teilt der Versicherung (meist in einem Formulargutachten) Blutzuckerwerte, A1c-Werte, die Ergebnisse der Untersuchung auf Mikroalbuminurie, der Retentionsparameter und der augenärztlichen Untersuchung mit. Der Umfang der zu untersuchenden Parameter wird von der Versicherung festgelegt und richtet sich meist nach der Höhe der Versicherungssumme und ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Besteht ein Diabetes mellitus zu Versicherungsbeginn, wird eine höhere Prämie fällig.
Kommentar Bei Verschweigen eines Diabetes mellitus bei Versicherungsabschluss stellt sich bei einem Unfall die Frage, in welchem Umfang der Diabetes oder Folgekrankheiten die Unfallfolgen verschlimmert haben.
16.5.3 Berufsunfähigkeitsversicherung Kommentar Bei Versicherungsbeginn hat das ärztliche Gutachten im Wesentlichen die Aufgabe, Befunde mitzuteilen, die Wertung des Risikos ist Aufgabe der Versicherungsgesellschaft bzw. deren Ärzte.
Im Versicherungsfall kann es aus mehreren Gründen zum Rechtsstreit kommen. Wenn ein Diabetes mellitus bei Abschluss der Versicherung nicht angegeben worden ist, der Betroffene bei Eintritt des Versichungsfalls einen Diabetes mellitus hatte und Hinweise darauf bestehen, dass der Betroffene an den Folgen eines Diabetes gestorben ist, wird die Versicherung der Frage nachgehen, ob der Diabetes bereits zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestanden hat. Es existiert zwar eine Korrelation zwischen Diabetesdauer und der Entwicklung einer Mikroangiopathie mit den Folgen an Retina und Nieren, verlässliche Zahlen existieren aber nicht.
Wenn ein Diabetiker eine Berufsunfähigkeitsversicherung beantragt, prüft der Versicherer das Risiko. Tätigkeiten, für welche der Diabetiker als ungeeignet oder nur als eingeschränkt geeignet gilt (7 Kap. 16.6), werden wegen des erhöhten Risikos nicht versichert, oder die Prämie wird höher. Wird Berufsunfähigkeit geltend gemacht, ist zu berücksichtigen, dass Berufserfahrung manches gesundheitliche Problem ausgleicht. Bei der Begutachtung muss das vorhandene Leistungsvermögen herausgearbeitet werden. Es geht nicht darum, welchen Beruf der Betroffene erlernt hat oder ausübt, sondern der Gutachter muss eine genaue Tätigkeitsbeschreibung verlangen und die Eignung für Tätigkeiten beurteilen. Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit müssen auch Dinge wie Schichtdauer, Möglichkeit der Blutzuckerkontrolle, Zwischenmahlzeiten etc. berücksichtigt werden.
16.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
16.5.2 Unfallversicherung
16.6.1 Einschränkung in der Berufsausübung
Inwieweit ein Diabetes mellitus als Unfallfolge anzuerkennen ist, ist in 7 Kap. 16.3 abgehandelt. Durch einen bestehenden Diabetes mellitus können sich Unfallfolgen verschlimmern. Zu denken ist an Wundheilungsstörungen. Hier spielt die Qualität der Diabeteseinstellung eine Rolle. Es ist auch möglich, dass ein Bagatelltrauma wegen einer bestehenden diabetischen sensiblen Neuropathie nicht wahrgenommen wird und deshalb zum Teil verheerende Folgen nach sich zieht. Die Polyneuropathie per se hat keinen Einfluss auf den Heilungsverlauf, das Problem ist ausschließlich das späte Bemerken einer traumatischen Schädigung. Neben der pAVK und der Mikroangiopathie sowie der schlechten Diabeteseinstellung ist auch bei Vorliegen anderer Endorganschäden, beispielswiese der Nephropathie, mit Heilungsverzögerung zu rechnen.
Die Beurteilung der Eignung für bestimmte Tätigkeiten ist primär Gegenstand der ärztlichen Beratung für den Diabetiker Typ 1, dessen Diabetes bereits zum Zeitpunkt der Berufswahl bekannt ist. Gutachterlich wichtig wird dieser Punkt vor dem Hintergrund, dass bei einer Einstellung niemand diskriminiert werden darf. Wir haben schon ausgeführt, dass die Begutachtungskriterien für die berufliche Eignung eines Diabetikers in vielen Fälle modifiziert werden müssen, wenn der Diabetes mellitus erst auftritt, wenn die berufliche Tätigkeit schon ausgeübt wird und die sozialen Folgen andere sind als bei der Berufswahl. > Neben den Folgeschäden beeinflusst v. a. die Therapie die berufliche Eignung. Hypogyklämische Stoffwechselentgleisungen sind das wichtigste leistungseinschränkende Problemen im Berufsleben von Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes.
Das berufliche Risiko eines Diabetikers lässt sich in 5 Gefährdungskategorien zusammenfassen (Übersicht).
16
470
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
Die 5 Gefährdungskategorien des beruflichen Risikos für Diabetiker 5 0: Gute Stoffwechseleinstellung ohne Hypoglykämiegefährdung: Diese Kategorie ist gegeben, wenn der Diabetes mellitus gut eingestellt ist, diätetisch behandelt oder mit oralen Antidiabetika ohne Hypoglykämiegefährdung behandelt wird (Alphaglucosidasehemmer, Biguanide, Glitazone-Präparate). In den folgenden Kategorien ist im Prinzip von Gefährdung auszugehen: 5 A: Stoffwechselsteinstellung mit Hypoglyämieneigung, aber ohne schwere Hypoglykämie: Hier handelt es sich um Diabetiker, die mit oralen Antidiabetika mit Hypoglykämiefährdung (Sulfonylharnstoffe, Glinide bzw. Sulfonylharnstoffanaloga) und/oder Insulin behandelt werden. Die Bedingung für die Zuordnung zu dieser Kategorie ist, dass keine offenkundige Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit vorliegt, die Selbsthilfe immer adäquat ist. 5 B: Stoffwechseleinstellung mit Hypoglykämieneigung, schwere Hypoglykämien nur im Schlaf: Diese Patientengruppe ist im Wachzustand ohne erkennbare Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit, die Selbsthilfe ist adäquat. 5 C: Schlechte Stoffwechseleinstellung: Vorliegen von Ketoazidose, starke Blutglukoseschwankungen, A1c-Wert stark erhöht oder Hypoglykämien mit Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit und/oder Kontrollverlust bei Bewusstseinsstörung durch Hypoglykämie. Hier ist die Selbsthilfe teilweise noch möglich, Fremdhilfe meist erforderlich. 5 D: Folgeerkrankungen: Hier interessieren v. a. die Funktionsbeeinträchtigungen, die sich aus den Folgekrankheiten ergeben. Im Vordergrund stehen die Folgen der Mikroangiopathie, v. a. am Auge. Auch Folgen der Makroangiopathie sind zu berücksichtigen (periphere Gefäße, Koronarien).
16 17 18 19 20
Anders als früher geht es heute bei der Beurteilung der Eignung nicht mehr um bestimmte Berufe, sondern um das eindeutig zu beschreibende Tätigkeitsfeld. Der medizinische Gutachter kann nicht die gesamten Berufsbilder überblicken. Notwendig ist eine Beschreibung des konkret ausgeführten Tätigkeitsspektrums und der damit verbundenen Belastungen durch den Auftraggeber. Ziel der therapeutischen Bemühungen muss es sein, Normoglykämie unter Vermeidung hypoglykämischer Phasen zu erreichen. Da heute Insuline mit besserer Steuerbarkeit zur Verfügung stehen, ist dieses Ziel leichter als
früher zu erreichen. Dennoch sind Hypoglykämien nicht immer zu vermeiden. Deshalb ist deren rechtzeitige Wahrnehmung von besonderer Bedeutung. Diese kann auch erlernt werden mit einem Blutglukosewahrnehmungstraining (»blood glucose awareness training«; BGAT). Da man sich in der Beurteilung zunehmend an den individuell vorhandenen Fähigkeiten und Stärken des Menschen mit Diabetes orientiert, werden diese Programme weiter an Bedeutung gewinnen. Die Gefahr durch schwere Hypoglykämien ergibt sich im Einzelfall bei folgenden Tätigkeiten: 5 Berufliche Personenbeförderung oder beim Transport gefährlicher Güter. 5 Überwachungsfunktion mit alleiniger Verwantwortung für das Leben anderer, Waffengebrauch. 5 Arbeiten mit konkreter Absturzgefahr oder an anderen gefährlichen Arbeitsplätzen. 5 Bei Arbeiten im Überdruck, Taucherarbeiten. Die Liste lässt sich verlängern. Vielfach werden die Notwendigkeit einer Diät, die Notwendigkeit von Blutzuckerkontrollen oder auch Insulininjektionen als Hindernis für bestimmte Beschäftigungen angesehen. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Handhabung der Blutzuckerselbstkontrollen und der Insulininjektion deutlich einfacher geworden ist und auch die Diätvorschriften so gelockert sind, dass sie in der Regel auch unter den Bedingungen beruflicher Tätigkeit oder Gemeinschaftsverpflegung eingehalten werden können.
Kommentar Für die Beurteilung spielt es eine wesentliche Rolle, ob es sich um Probleme der Berufswahl oder der Eignung für bestimmte Beschäftigungverhältnisse (7 Kap. 16.7) handelt, oder ob der Betroffene bei Manifestation des Diabetes mellitus bereits tätig ist.
Einige Berufe seien herausgegriffen:
Feuerwehr Nach einer entsprechenden Dienstverordnung schließt die Erkrankung Diabetes mellitus die Feuerwehrdiensttauglichkeit bei Einstellung aus. Bei Berufserfahrenen im Feuerwehrdienst wird eine »differenzierte Bertrachtungsweise« empfohlen. Die Einteilung in gewisse Tätigkeitskategorien ist willkürlich, da Untersuchungen in den verschiedenen Belastungsbereichen nicht vorliegen. Personen mit der Gefährdungskategorie B sollten nicht in den höchsten Belastungsgruppen eingesetzt werden. Betroffene mit der Kategorie C sind in allen Bereichen der Feuerwehr nicht einsetzbar.
471 16.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
Polizeidienst Auch hier gelten für die Neueinstellung andere Voraussetzungen (7 Kap. 16.7). Bei bereits Tätigen gilt bei einem Hypoglykämiegrad der Klasse 0 uneingeschränkte Dienstfähigkeit als gegeben. Bei einem Hypoglykämiegrad der Kategorie B ist Polizeivollzugsdienst nicht möglich.
16.6.2 Fahrereignung
Von der Eignung, ein Kraftfahrzeug zu führen, kann die Berufsausübung betroffen sein, häufig besonders nachhaltig auch das übrige tägliche Leben. Zu berücksichtigen sind sowohl Berufskraftfahrer (z. B. mit Personenbeförderung) als auch Personen, für welche das Führen ihres privaten Pkw eine erhebliche Rolle für die Lebensqualität spielt. Diesem beruflichen und persönlichen Interesse der Betroffenen steht die mögliche Selbst- und Fremdgefährdung gegenüber. Sehvermögen. Das Sehvermögen des Diabetikers wird im Wesentlichen durch die diabetische Mikroangiopathie beeinflusst. Anforderungen an das Sehvermögen 7 Kap. 12.1: »Visuelles System«. Während der Neueinstellung oder bei Therapieumstellungen kann es zu Änderungen der Refraktion durch Veränderung der Augenachse kommen. Darauf muss der Betroffene unbedingt hingewiesen werden. Stoffwechsel. Wesentlich für die Begutachtung der Fah-
rereignung des Diabetikers ist die Art der Stoffwechseleinstellung. Im Vordergrund steht die Frage, ob Hypoglykämien zu befürchten sind und auch wie sie wahrgenommen werden. Die Begutachtung stützt sich dabei auf Leitlinien, welche unter der Überschrift »Gutachten Krankheit und Kraftverkehr« von der zuständigen Bundesbehörde herausgegeben worden sind. Diese werden laufend ergänzt und aktualisiert. Die Begutachtungsleitlinien teilen die Diabetiker in 3 Gruppen entsprechend der Behandlungsart und Kontrollbedürftigkeit ein (Übersicht).
Begutachtungsleitlinien »Gutachten Krankheit und Kraftverkehr« a) Nur mit Diät sowie mit Diät und Medikamenten zur Besserung der Insulinresistenz (Biguanide, Insulinsensitizer) und/oder Pharmaka zur Resorptionsverzögerung von Nährstoffen behandelte Diabetiker. b) Mit Diät und oralen Antidiabetika vom Sulfonylharnstofftyp behandelte Diabetiker. Mit Einschränkungen kann man hierzu auch andere Substanzen einordnen, welche die Insulinsekretion stimulieren. c) Mit Diät und Insulin, auch mit Insulin und oralen Antidiabetika behandelte Diabetiker.
> Cave: Die Gruppen a–c sind von den oben genannten Gruppen 0–D (Gefährdungskategorien im Berufsleben) zu unterscheiden!
Diabetiker der Gruppe a können uneingeschränkt als Führer eines Kraftfahrzeuges am Straßenverkehr teilnehmen. Diabetiker der Gruppe b gelten als wenig hypoglykämiegefährdet und können »in der Regel« uneingeschränkt den gestellten Anforderungen beim Führen eines Kraftfahrzeuges gerecht werden. Dennoch ist vor Genehmigung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (Lkw, Bus, Pkw mit Personenbeförderung) der Nachweis einer guten Stoffwechseleinstellung ohne Unterzuckerung über etwa 3 Monate erforderlich, ein ärztliches Gutachten ist notwendig. Eine Nachbegutachtung im Abstand von höchstens 3 Jahren ist erforderlich. Bei Diabetikern der Gruppe c gehen die Leitlinien von grundsätzlicher Hypoglykämiegefährdung aus. Fahrzeuge der Gruppe 1 (7 Anhang) können geführt werden, wenn Stoffwechselselbstkontrollen durchgeführt und dokumentiert werden und auftretende Hypoglykämien und Hyperglykämien rechtzeitig bemerkt werden. Ob ein insulinbehandelter Diabetiker ein Kraftfahrzeug führen kann, hängt auch davon ab, ob Hypoglykämien ohne Vorboten eintreten, oder ob sie so rechtzeitig bemerkt werden, dass der Betroffene Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 und auch der Unterklassen C1 und C1 E (7 Anhang) können unter diesen Umständen geführt werden. Bei den mit Insulin behandelten Diabetikern gehen die Leitlinien davon aus, dass sie in der Regel nicht den Anforderungen für das Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 2 gewachsen sind. Von dieser Regel kann bei der Begutachtung abgewichen werden, wenn die Umstände ausführlich beschrieben sind. Nachbegutachtungen sind dann im Abstand von höchstens 2 Jahren erforderlich. Angesichts einer zunehmenden Tendenz, auch Diabetiker Typ 2 mit Insulin zu behandeln und angesichts der Tatsache, dass mit den kurzwirksamen Insulinen zu den Mahlzeiten eine gute Diabeteseinstellung unter Vermeidung von Hypoglykämien bei einer zunehmenden Anzahl von Diabetikern möglich wird, gilt es einige in den Leitlinien verwendete Begriffe zu ergänzen (Dörfler u. Eisenmenger 2005). Zum Begriff der ausgeglichenen Stoffwechsellage sei auf 7 Kap. 16.1 verwiesen. Gefordert wird der im Umgang mit der Erkrankung informierte Diabetiker. Dies dokumentiert er einmal durch die gute Einstellung. Nur mit der sorgfältigen Dokumentation der Blutzuckerselbstkontrollen kann Mitarbeit und Informiertheit nachgewiesen werden. Dem Gutachter muss das Ergebnis ärztlicher Kontrollen vorliegen. Neben dem Ergebnis der Untersuchungen interessiert auch die Tatsache, dass diese regelmäßig erfolgen. Die Leitlinien verlangen eine ausführliche Beschreibung der Umstände, wenn man auch beim insu-
16
472
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 16 · Diabetes mellitus
linbehandelten Diabetiker die Fahrereignung für Fahrzeuge der Gruppe 2 für gegeben hält. > Ziel der diabetologischen Bemühungen ist es ja gerade, dass immer mehr »Ausnahmen von der Regel«, insulinbehandelte Diabetiker als hypoglykämiegefährdet anzusehen, möglich sind.
Voraussetzung ist neben der guten Diabeteseinstellung die Dokumentation regelmäßiger ärztlicher Kontrollen (zum Umfang 7 Kap. 16.1).
16.7
Risikobeurteilung
16.7.1 Einstellung in den öffentlichen Dienst
Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft hat 1982 hierzu Richtlinien verfasst, welche der Bundesminister des Inneren im Rundschreiben vom 31. August 1982 empfehlend an die Obersten Bundesbehörden weitergeleitet hat. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass für schwerbehinderte Diabetiker die Maßstäbe gelten, die allgemein bei der Einstellung von Schwerbehinderten in den öffentlichen Dienst angelegt werden.
»
1. Der generelle Ausschluss des Diabetikers von pensionsberechtigten Anstellungen im Staatsdienst und vergleichbaren Institutionen ist aus medizinischen Gründen nicht gerechtfertigt. 2. Für die Einstellung in die genannten Tätigkeiten kommen alle arbeitsfähigen Diabetiker in Betracht, deren Stoffwechselstörung mit Diät allein, mit Diät und oralen Antidiabetika und/oder Insulin auf Dauer gut einstellbar ist. Durch eine gute Stoffwechselkontrolle wird das Risiko für das Auftreten diabetesspezifischer Komplikationen verringert. 3. Diabetische Bewerber um solche Stellen sollten frei von diabetesspezifischen Komplikationen an Augen und Nieren sein. Die Feststellung solcher Befunde hat durch fachärztliche Augenhintergrunduntersuchung (Fundoskopie) sowie durch den kompletten Harnstatus und die Bestimmung des Kreatininwertes im Serum zu erfolgen. 4. Diabetiker, die rein diätetisch behandelt werden, können jede Tätigkeit ausüben, zu der sie nach Vorbildung und Leistung auch sonst geeignet wären. Insulinbehandelte Diabetiker sollten nach Möglichkeit keine Tätigkeiten verrichten, die unregelmäßige Arbeitszeiten erfordern. Sie sollten ferner nicht zu Tätigkeiten herangezogen werden, die beim Eintritt hypoglykämischer Reaktionen Gefahren für sie selbst oder ihre Umwelt mit sich bringen, z. B. als Fahrer öffentlicher Verkehrsmittel. 5. Diabetische Bewerber müssen ein ärztliches Zeugnis vorweisen, aus dem die Qualität der Stoffwechselführung, der Nachweis regelmäßiger und langfristiger Stoffwechselkontrollen sowie die Bereitschaft zur Kooperation hervorgehen. Zur Beurteilung der Einstellungsqualität werden die unter Punkt 6 genannten Grenzwerte für die Blutzuckerkonzentration zugrunde gelegt. Zusätzlich kann die Bestimmung des glykosierten Hämoglobins (HbA1 oder HbA1c) herangezogen werden. Die Eignung des Bewerbers soll in der Regel durch ein fachärztliches Gutachten geklärt werden, das von einem diabetologisch erfahrenen Arzt oder in einer Diabetesklinik erstattet werden sollte. 6. Die Beurteilung der Qualität der Stoffwechselführung soll individuell erfolgen. Ein überwiegend ausgeglichener Stoffwechselzustand sollte dokumentiert sein. Für nicht mit Insulin behandelte Diabetiker
ist überwiegend Harnzuckerfreiheit zu fordern, bei insulinbehandelten Diabetikern sollte die Mehrzahl der Harnproben zuckerfrei sein. Zur Beurteilung der Stoffwechsellage sind einzelne Blutzuckerwerte, besonders im Nüchternzustand, ungeeignet. Dasselbe gilt für die Untersuchung einer einzelnen Urinportion. Es ist erforderlich, wenigstens 3 Blutzuckerwerte zu geeingneten Zeiten im Tagesverlauf zu messen, die Maximalwerte sollten bei insulinbehandelten Diabetikern 1–2 Stunden nach den Mahlzeiten nicht wesentlich über 220 mg/dl Glukose liegen, bei diät- und tablettenbehandelten nicht über 160 mg/dl.
«
Untersuchungskatalog 5 Körperliche Gesamtuntersuchung: Unter anderem Blutdruckmessung, Palpation der Pulse an den tpyischen Stellen, Inspektion der Füße. 5 EKG, Röntgenuntersuchung der Lungen. 5 Laboruntersuchungen: Es werden nur solche Untersuchungen gefordert, die zur Beurteilung des Diabetes oder evtl. diabetesspezifischer Komplikationen notwendig sind. Bei pathologischen Werten ist vor einer Stellungnahme die Bestätigung durch Kontrollen erforderlich: – Kreatinin im Serum, – kompletter Harnstatus. 5 Ophthalmologische Untersuchungen: Durch einen Opthalmologen müssen diabetesspezifische Fundusveränderungen ausgeschlossen werden. Der Befund muss dokumentiert werden, bei sehr geringen Veränderungen sollte eine Nachuntersuchung nach mindestens einem halben Jahr erfolgen. 5 Stoffwechselkontrollen: Der Bewerber sollte regelmäßige ärztliche Stoffwechselkontrollen wahrnehmen und häusliche Stoffwechselselbstkontrollen durchführen. Zur Beurteilung der Kooperationsbereitschaft dienen u. a. die vom behandelnden Arzt bescheinigten Untersuchungsbefunde und die vom Bewerber dokumentierten Ergebnisse der regelmäßigen Stoffwechselselbstkontrollen.
16.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Prognose Entscheidend für die Prognose sowohl quoad vitam als auch im Hinblick auf die Beeinträchtigung durch Organschäden ist, ob Spätschäden bereits eingetreten sind oder nicht. Da die Prognose im Wesentlichen durch das Vorhandensein oder Fortschreiten von Schädigungen im Sinne der Mikro- und Makroangiopathie bestimmt wird, ist das Vorhandensein zusätzlicher Risikofaktoren für kar-
473 Literatur
diovaskuläre Erkrankungen von entscheidender Bedeutung. Beispielsweise hat ein Diabetiker mit bereits vorhandenen Gefäßveränderungen ein genau so hohes Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, wie ein Patient, der bereits einen Herzinfarkt hatte, rezidivgefährdet ist. Beim Diabetiker Typ 1 belegen Studien, dass die Prognose v. a. in Hinblick auf die Mikroangiopathie (Erblindung, Dialysepflicht) ganz wesentlich von der Stoffwechseleinstellung abhängt. Ein A1c-Wert unter 7% ist therapeutisch anzustrebendes Ziel und eindeutiger Hinweis auf eine Verbesserung der Prognose des Betroffenen. Die diabetische Retinopathie stellt immer noch die häufigste Erblindungsursache in unseren Breiten dar. Immer noch ist die Lebenserwartung eines Diabetikers um 30–40% reduziert, die kardiovaskuläre Mortalität beträgt 70–80%.
Verbesserung der Prognose Anträge auf stationäre Rehabilitationsmaßnahmen beim Diabetiker werden häufig von den Kostenträgern abgelehnt, sodass Gutachtenbedarf besteht. Der Forderung »so viel ambulant wie möglich« steht die Tatsache gegenüber, dass es sich beim Diabetes mellitus in medizinischer Hinsicht und in den psychosozialen Folgen um ein sehr komplexes Krankheitsbild handelt. In der DETECT-Studie zeigte sich, dass 40% der Diabetiker A1c-Werte von über 7% hatten und 15% der Patienten A1c-Werte von über 8%. In einer anderen Studie erreichte die beste Insulingruppe A1c-Werte von 7,2%. Dies spricht dafür, dass die Bemühungen zur besseren Blutzuckereinstellung intensiviert werden müssen. Die Vorteile einer stationären Rehabilitationsmaßnahme sind multimodale Maßnahmen wie Schulung, Anpassung der Lebensgewohnheiten an Diät, Blutzuckerselbstkontrollen, Insulinbehandlung usw. Jeder dritte Diabetespatient ist allein überfordert. In einer Rehabilitation erwartet den Betroffenen eine ausführliche Sozial- und Berufsanamnese, die Beachtung persönlicher Bedürfnisse, Ängste und Erwartungen. Wichtig sind psychologische Gruppen- und Einzelgespräche für die Krankheitsverarbeitung. Indikationen für eine Rehabiliationsmaßnahme sind: Nichterreichen von Therapiezielen trotz leitliniengerechter Therapie, relevante interagierende oder behandlungsbedingte Begleiterkrankungen, Nachbehandlung nach stationärem Kurzaufenthalt.
Literatur Ford EA (2005) Prevalence of the metabolic syndrome defined by the international diabetes federation among adults in the U. S. Diabetes Care 28: 2745–2749 ADA – American Diabetes Association (2007) Clinical Practice Recommandations 2007. Diabetes Care 30 (Suppl 1): 1–96
Bennett D, Guo M, Dharmage SC (2007) HbA1c as a screening tool for detection of type 2 Diabetes: a systematic review. Diabetic Med 24: 333–343 Dörfler H, Eisenmenger W (2005) In: Schubert W, Schneider W, Eisenmenger W, Stephan W (Hrsg) Kommentar zu Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung. Kirschbaum, Bonn Finck H, Malcherczyk I (2002) Diabetes und Soziales, 3. Aufl. Kirchheim, Mainz Haslbeck M (2005) Diagnosestellung bei Diabetes mellitus. Notfall Hausarztmed 31: 12–18 Landgraf R, Haslbeck, M (2003)Diagnose und Differentialdiagnose. In: Mehnert et al. (Hrsg) Diabetologie in Klinik und Praxis, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart New York DDG – Deutsche Diabetes-Gesellschaft (2007) Praxis-Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. Diabetol Stoffwechsel Suppl 2: 143–S 222 Rinnert K (2006) Diabetes und Arbeit. In: Handbuch und Arbeitsmedizin. Letzel, Novak (Hrsg) Ecomed, Landsberg/Lech The Metascreen Writing Comitee (2006) The metabolic syndrome is a risk indicator of microvascular and macrovascular complications in diabetes. Diabetes Care 29: 2701
Internetadressen American Diabetes Association (ADA) www.Diabetes.org Informationen für Patienten und Therapeuten; Therapieempfehlungen, Forschungsergebnisse, Leitlinien, Datenbanken. Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) www.Deutsche-Diabetes-Gesellschaft.de Leitlinien, Curricula, Schulungen, Weiterbildungsveranstaltungen, Qualitätsmanagement u. a. vsbinfo.de http://anhaltspunkte.vsbinfo.de Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit.
16
475
Hypertonie G. Bönner
17.1
Diagnostik – 476
17.2
Krankheitsdefinition – 476
17.2.1 17.2.2
Primäre und sekundäre Hypertonie – 477 Verletzungs- und Operationsfolgen – 479
17.3
Fragen zum Zusammenhang
17.3.1 17.3.2 17.3.3
Hypertonie als Folgeerkrankung – 479 Berufskrankheit – 480 Unfall- und Operationsfolgen – 480
17.4
Bewertung nach dem Sozialrecht – 480
17.4.1 17.4.2 17.4.3
Erwerbsunfähigkeit – 481 Arbeitsunfähigkeit – 481 Grad der Behinderung (GdB)/Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
17.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
17.5.1 17.5.2 17.5.3
Lebensversicherung – 482 Unfallversicherung – 482 Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung
17.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 482
17.6.1 17.6.2
Einschränkung in der Berufsausübung Fahrereignung – 483
17.7
Risikobeurteilung – 484
17.7.1
Öffentliches Dienstrecht – 484
17.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
17.9
Sonderfragen – 485
17.9.1 17.9.2 17.9.3 17.9.4 17.9.5
Absolute Arrhythmie – 485 Demenz – 485 Obstruktives Schlafapnoesyndrom – 485 Koronare HerzkrankheitFehler! Textmarke nicht definiert. Diabetes mellitus – 485
Literatur
– 485
– 479
– 482
– 482
– 482
– 484
– 485
– 481
17
476
Kapitel 17 · Hypertonie
))
1 2 3
Sehr hohe Blutdruckwerte sind für sich allein gutachtenrelevant. Die größte Rolle in der Begutachtung spielen aber die Endorganschäden und die assoziierten Erkrankungen sowie die eventuellen Folgen der antihypertensiven Therapie. Hier werden die verschiedenen Ursachen und Formen der Hypertonie dargestellt mit ihren Konsequenzen für die Beurteilung der verschiedenen gutachterlichen Fragen.
4 17.1
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
sikoprofil laborchemisch erfasst werden: Cholesterin mit den Subfraktionen LDL-Cholesterin und HDL-Cholesterin, Blutzucker und Harnsäure. Echokardiographie, Farbduplexsonographie der Karotiden, Fundoskopie oder Langzeitblutdruckmessung gelten als fakultative Untersuchungen mit besonders hohem Stellenwert. Weitere Untersuchungen werden nur im Rahmen der Abklärung von sekundären Hypertonien erforderlich (7 Kap. 17.2.1).
Diagnostik 17.2
In der klinischen Routine kann der Blutdruck mit zwei Messtechniken erfasst werden. 5 Der Goldstandard der nichtinvasiven Blutdruckmessung ist die auskultatorische Messung nach Riva-Rocci und Korotkow, die auch bei arrhythmischer Herzfrequenz eingesetzt werden kann. 5 Als zweite Methode steht die oszillometrische Messung des Blutdrucks am Oberarm oder am Handgelenk zur Verfügung. Die hierfür angebotenen Messgeräte sind unterschiedlich etabliert und validiert. Zuverlässige Messungen können sicher von den Geräten erwartet werden, die nach einem ausführlichen Test das Gütesiegel der Deutschen Hochdruckliga erhalten haben. Die Manschettengröße des Gerätes muss dem Oberarmumfang des Patienten angepasst werden, die größere Manschette ist ab einem Oberarmumfang von 33 cm erforderlich. Die Messung in der Praxis gilt als Gelegenheitsblutdruck. Dieser Blutdruck liegt allen großen epidemiologischen und klinischen Untersuchungen zugrunde. Zuverlässiger sind jedoch nach heutigem Kenntnisstand die Patientenselbstmessungen. In ausgewählten Fällen kann es auch sinnvoll sein, die Belastungsreaktion des Blutdrucks im Ergometertest zu erfassen. > Den höchsten Stellenwert in der Bewertung einer Hypertonie hat die Langzeitblutdruckmessung über 24 Stunden, da sie das Blutdruckprofil des Patienten aufzeichnet und auch den nächtlichen Blutdruck erfasst.
Der Mittelwert über die vollen 24 Stunden korreliert am besten von allen Messverfahren mit den Folgeschäden der Hypertonie. Ein nächtlicher Blutdruckanstieg zeigt ein besonders hohes kardiovaskuläres Risiko des Patienten an. Nach Sicherung der Diagnose ist in der Regel eine Basisdiagnostik zur Wertung der Hypertonie vorzunehmen. Hierzu gehören Laboruntersuchungen (Kalium, Kreatinin, Urinstatus, Albumin im Urin), EKG und Abdomensonograpie. Zusätzlich muss das kardiovaskuläre Ri-
Krankheitsdefinition
Die Grenze zur Hypertonie wird definiert: 5 bei 140/90 mm Hg für die Gelegenheitsblutdruckmessung, 5 bei 135/85 mm Hg für die Patientenselbstmessung, 5 bei 135/85 mm Hg (Tagesmittelwert) für die Langzeitblutdruckmessung (Details in . Tab. 17.1). Unter Belastungsbedingungen steigt der Blutdruck regelmäßig an. Nach Franz (1982) ist die Blutdruckreaktion pathologisch, wenn bei 100 Watt Belastung der Blutdruck beim bis 50-jährigen Patienten 200/100 mm Hg überschreitet. Diese Grenze steigt mit dem Alter pro Dekade über 50 Jahre um 10/5 mm Hg an. Individueller kann die Grenze zur pathologischen Belastungsreaktion nach Rost u. Hollmann (1982) mit folgender Formel bestimmt werden: 5 145 mm Hg Basisdruck + 1/3 Alter des Patienten + 1/3 der geleisteten Wattstufe = systolische Blutdruckgrenze unter Belastung. Über diese Grenzdefinition hinaus kann der Blutdruck nach den Empfehlungen der Fachgesellschaften wie in . Tab. 17.2 dargestellt klassifiziert werden. Die Diagnose Hypertonie wird durch mehrfache Gelegenheitsblutdruckmessungen oder eine Langzeitblutdruckmessung gesichert. Eine Praxishypertonie liegt vor, wenn erhöhte Werte nur in der Praxis oder Klinik gemessen werden, in der Selbstmessung oder Langzeitblutdruckmessung aber normotone Werte erhoben werden. Im um-
. Tab. 17.1. Grenzen zur Hypertonie in der Langzeitblutdruckmessung Grenzwertiger Blutdruck Tagesmittelwert
135/85 mm Hg
Nachtmittelwert
120/75 mm Hg
24-h-Mittelwert
130/80 mm Hg
Optimale nächtliche Blutdrucksenkung über 10% des Tagesmittelwertes (sog. »Dipper«)
477 17.2 Krankheitsdefinition
. Tab. 17.2. Blutdruckklassifikation nach internationalen Leitlinien Blutdruckklassifikation
European Society of Hypertension/ European Society of Cardiology (ESH/ESC)
Joint National Committee (JNC)
<120/<80 mm Hg
Optimal
Normal
120–129/80–84 mm Hg
Normal
Prähypertensiv
130–139/85–89 mm Hg
Hoch normal
Prähypertensiv
140–159/90–99 mm Hg
Grad-1-Hypertonie
Grad-1-Hypertonie
160–179/100–109 mm Hg
Grad-2-Hypertonie
Grad-2-Hypertonie
≥180/110 mm Hg
Grad-3-Hypertonie
Grad-2-Hypertonie
≥140/<90 mm Hg
Isoliert systolische Hypertonie
Risikostratifizierung bei arterieller Hypertonie Blutdruck [mm Hg]
120/80
130/85
140/90
160/100
180/110
normale Normotonie
hochnormale Normotonie
Grad-1Hypertonie
Grad-2Hypertonie
Keine Risikofaktoren
normal
normal
niedrig
mittel
1–2 Risikofaktoren
niedrig
niedrig
mittel
mittel
sehr hoch
Mindestens 3 Risikofaktoren, MS oder EOS oder Diabetes
mittel
hoch
hoch
hoch
sehr hoch
Assoziierte Erkrankungen
hoch
sehr hoch
sehr hoch
sehr hoch
sehr hoch
<10%
20-30%
Zusatzrisiken
10-15%
15-20%
>30%
Grad-3Hypertonie hoch
Kardiovaskuläre Ereignisse in 10 Jahren
. Abb. 17.1. Leitlinien von ESH/ESC-2003/2007 und DHL-2004/2007 zur Risikostratifizierung bei arterieller Hypertonie (EOS Endorganschäden; MS metabolisches Syndrom)
gekehrten Falle – hohe Alltagswerte bei niedrigen Praxiswerten – wird eine Praxishypotonie postuliert. Die isoliert systolische Hypertonie ist geprägt von einem hohen Pulsdruck und Folge des Elastizitätsverlustes der großen Leitarterien. Sie tritt besonders häufig im hohen Alter, bei Diabetes mellitus oder Dialysebehandlung auf. Wichtig für das therapeutische Vorgehen und die gutachterliche Bewertung ist die Risikostratifizierung der Hypertonie, wie sie die Fachgesellschaften vorschlagen (. Abb. 17.1). In der Graduierung wird zwischen HerzKreislauf-Risikofaktoren (Adipositas, Rauchen, Dyslipoproteinämie, positive Familienanamnese etc.), Endorganschäden (linksventrikuläre Hypertrophie, Intima-mediaVerdickung, Albuminurie und Nephropathie) und Diabe-
tes mellitussowie assoziierten Erkrankungen (Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Apoplex, Niereninsuffizienz) unterschieden. Diese Risikostratifizierung zeigt, dass ein hohes Herz-Kreislauf-Risiko je nach Begleiterkrankungen schon bei relativ geringer Blutdruckerhöhung vorliegen kann.
17.2.1 Primäre und sekundäre Hypertonie
Primäre Hypertonie Eine arterielle Hypertonie ist in über 95% der Fälle als primäre Hypertonie einzustufen. Als Ursache wird eine genetische Disposition zur Hypertonie diskutiert, da in den betroffenen Familien die Entwicklung einer Hypertonie über Generationen verfolgt werden kann. Die genetischen
17
478
1 2 3 4 5
Kapitel 17 · Hypertonie
Veränderungen sind derzeit noch nicht bekannt und folglich Gegenstand intensiver Forschung. Externe Faktoren scheinen eine frühzeitige klinische Manifestation der Hypertonie fördern zu können. Hierzu zählen die Adipositas, übermäßiger Alkoholkonsum, zu hoher Kochsalzkonsum, Stress, Lärm und Bewegungsmangel.
Sekundäre Hypertonie Von der primären Hypertonie werden die sekundären Hypertonieformen mit bekannter ursächlicher Primärerkrankung abgegrenzt. . Tab. 17.3 listet die wichtigsten sekundären Hypertonieformen gemäß ihrer Häufigkeit auf.
6
. Tab. 17.3. Sekundäre Hypertonieformen, gelistet in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit
7
Häufigkeit
Hypertonieform
1
Renoparenchymale Hypertonie
8
2
Renovaskuläre Hypertonie bei Nierenarterienstenose
3
Obstruktives Schlafapnoesyndrom
4
Primärer Hyperaldosteronismus (Conn-Syndrom)
5
Phäochromozytom
6
Morbus Cushing
7
Akromegalie und andere seltene endokrine Erkrankungen
8
Hyperthyreose
9
Aortenisthmusstenose
9 10 11 12
Die gezielte Suche nach einer sekundären Hypertonie ist indiziert, wenn eine Grad-3-Hypertonie vorliegt, eine nächtliche Hypertonie besteht oder die Hypertonie als therapieresistent eingestuft werden muss. Weitere Hinweise auf eine sekundäre Hypertonie sind eine Hypertonie im Alter unter 30 Jahren, eine rasch progrediente Niereninsuffizienz, ein plötzlicher Wirkverlust einer bisher erfolgreichen antihypertensiven Therapie oder ein sich rasch entwickelnder Hypertonus bei Patienten mit genereller Angiosklerose. Ist die Klinik des Patienten nicht führend, so muss ein Screening mit einfachen Basisuntersuchungen vorgenommen werden (. Tab. 17.4). Lässt sich hieraus ein dringender Verdacht auf eine spezielle Form der sekundären Hypertonien ableiten, muss die entsprechende Feindiagnostik und die Lokalisationsdiagnostik angeschlossen werden. Die größte Gruppe der sekundären Hypertonien stellt die sog. renoparenchymale Hypertonie dar, die im Wesentlichen bei Glomerulonephritiden und Pyelonephritiden auftritt. Auch die Analgetikanephropathie kann eine sekundäre Hypertonie bedingen. Bei der Nierenarterienstenose, die besonders häufig bei Diabetikern nachzuweisen ist, ist die Farbduplexsonographie der Nierenarterien oft schon beweisend. Bei ungünstigen Untersuchungsbedingungen ist die intraarterielle digitale Subtraktionsangiographie (i.a. DSA) oder das MR-Angiogramm zuverlässiger und sollte die Diagnose sichern. Der Nachweis einer pathologischen Reninsekretion ist nur von sekundärer Bedeutung für die Therapieentscheidung. Bei einer Hypokaliämie in der Basisdiagnostik ist der Verdacht auf ein Conn-Syndrom gegeben. Bei einer erhöhten Aldosteronsekretion ist der Nebennierentumor zu
13 . Tab. 17.4. Etablierte Basisuntersuchungen bei Verdacht auf eine sekundäre Hypertonie
14
Erkrankung
Untersuchungsmethoden
Renoparenchymale Hypertonie
5 Nierensonographie 5 Proteinurie
Renovaskuläre Hypertonie bei Nierenarterienstenose
5 Duplexsonographie der Nierenarterie 5 intraarterielle digitale Subtraktionsangiographie (i.a. DSA) 5 MR-Angiographie
Primärer Hyperaldosteronismus
5 Aldosteron im 24–h Urin nach Kochsalzbelastung 5 Aldosteron/Renin-Qotient im Plasma
Obstruktives Schlafapnoesyndrom
5 Polygraphisches Schlaf-Screening
Phächromozytom
5 Katecholamine und Metanephrine im 24-h-Urin
Morbus Cushing
5 Dexamethason-Kurztest
Hyperthyreose
5 TSH-Sekretion
Akromegalie
5 STH-Sekretion
Aortenisthmusstenose
5 Dopplerdruckmessung an den oberen und unteren Extremitäten
15 16 17 18 19 20
479 17.3 Fragen zum Zusammenhang
lokalisieren. Gelingt dies nicht, so kann eine idiopathische bilaterale Nebennierenrindenhyperplasie vorliegen. Neu ist der normokaliämische Hyperaldosteronismus, der wahrscheinlich eine Sonderform der idiopathischen bilateralen Nebennierenrindenhyperplasie darstellt und mit einer Häufigkeit von 10–15% nicht selten ist. Die Bedeutung dieser Hypertonieform für den klinischen Alltag ist aber eher gering einzustufen. Der nomokaliämische Hyperaldosteronismus kann durch die Bestimmung von Aldosteron und Renin im Plasma erfasst werden. In einer spontanen Blutprobe ist bei dieser Form des Hyperaldosteronismus der Quotient Aldosteron über Renin bei der Messung der Plasmareninaktivität (PRA) über 300 und bei der Messung der Reninkonzentration über 50 gelegen. Voraussetzung für diese Kalkulation ist ein Aldosteronwert über 150 pg/ml im Plasma. Bei dem klinischen Verdacht auf eine Hyperthyreose, einen Morbus Cushing oder eine Akromegalie als Ursache für die Hypertonie müssen die endokrinologischen Spezialuntersuchungen initiiert werden (. Tab. 17.4). Bei Verdacht auf ein Phäochromozytom (anfallsartige Blutdruckspitzen mit blasser Haut, Angst und folgendem Harndrang) empfiehlt es sich, den Urin an mehreren Tagen auf Katecholamine und Metanephrine zu untersuchen. Die Lokalisationsdiagnostik wird dadurch erschwert, dass das Phäochromozytom in 15% der Fälle nicht im Nebennierenmark, sondern im abdominellen und thorakalen Grenzstrangbereich liegt. > Die Lokalisation muss aber konsequent zum Ziel geführt werden, weil dieser chromaffine Tumor in ca. 10% der Fälle maligne entartet.
Als Ursache für eine Hypertonie kann auch ein obstruktives Schlafapnoesyndrom verantwortlich sein. Durch die zahlreichen Weckreaktionen im Schlaf wird nicht nur in der Nacht, sondern auch über Tag die sympathische Aktivität der Patienten massiv erhöht und führt so zu einer Blutdruckerhöhung mit einer relativen Therapieresistenz. Bei solchen Patienten sind oft die Tagesmüdigkeit und die Fremdanamnese zum Schlaf schon richtungsweisend.
über disseziierende Bauchaortenaneurysmata kann es zu einer Einengung der Nierenarterien an ihrem Abgang aus der Aorta mit sekundärer Minderperfusion der Niere kommen. Parenchymale Blutungen an der Niere führen selten über eine Randzonenischämie zur Ausbildung einer dauerhaften arteriellen Hypertonie. Eine Sonderform der renovaskulären Hypertonie wird nicht selten bei den Fällen beobachtet, bei denen ein kompletter Verschluss der A. renalis mit Schrumpfung des Nierenparenchyms vorliegt. In diesen Fällen kann eine Restdurchblutung der Niere über die Kapselgefäße erhalten bleiben, die zwar keinerlei Ausscheidungsfunktion mehr hat, die aber noch ausreicht, um eine pathologische Freisetzung von Renin zu induzieren. Durch den minimalen Blutfluss über die Kapselgefäße kann dann das pathologisch freigesetzte Renin in die Zirkulation eingeschwemmt werden und hier langfristig zu einer arteriellen Hypertonie beitragen. In solchen Fällen muss durch erfahrene Kollegen die Indikation zur Nephrektomie erwogen werden.
17.3
Fragen zum Zusammenhang
Die Entstehungsmechanismen für eine arterielle Hypertonie sind bei den meisten Patienten unbekannt. So werden 95% der Patienten als primäre Hypertoniker eingestuft. Bei 3% der Patienten kann eine renale Ursache für die arterielle Hypertonie gefunden werden. Lediglich bei 2% wird eine endokrine Erkrankung ursächlich festgestellt. Von den endokrinen Erkrankungen werden im Wesentlichen das Phäochromozytom, der Morbus Cushing sowie das Conn-Syndrom diskutiert. Auch die Ovulationshemmerhypertonie bei jungen Frauen gehört in diesen endokrinen Formenkreis.
Kommentar Zusammenhangsfragen sind bei diesen Erkrankungen bezüglich Berufserkrankungen, Unfall- oder Operationsfolgen in der Regel nicht gegeben. Bei der renalen Hypertonie werden gelegentlich Zusammenhangsfragen aufgeworfen, die aber nur in seltenen Fällen klar zu beantworten sind.
17.2.2 Verletzungs- und Operationsfolgen
Verletzungs- und Operationsfolgen, die zur Ausbildung einer arteriellen Hypertonie führen, betreffen im Wesentlichen die Niere und ihre zuführenden arteriellen Gefäße. Durch Traumata oder operative Eingriffe kann es zu narbigen Stenosierungen der Nierenarterie kommen, die dann sekundär zu der Ausbildung einer renovaskulären Hypertonie führen. Dies ist auch der Fall, wenn durch eine operative Unterbindung von Polarterien eine segmentale Ischämie im Nierenparenchym verursacht wurde. Auch
17.3.1 Hypertonie als Folgeerkrankung
Die arterielle Hypertonie kann sekundär auf andere Erkrankungen folgen. Hierzu zählt auch die Ovulationshemmerhypertonie nach Einnahme von pharmakologischen Ovulationshemmern. An der Niere führen oft Grunderkrankungen zur arteriellen Hypertonie, die die Durchblutung der Nieren beeinflussen. Hierzu gehört der Morbus
17
480
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Hypertonie
Ormond, das Bauchaortenaneurysma sowie retroperitoneale Tumoren. Auch chronische Pyelonephritiden mit Strukturänderungen der Nieren sowie die Analgetikanephropathie können in der Folge eine arterielle Hypertonie induzieren. Der Zusammenhang der arteriellen Hypertonie mit einer solchen Grundkrankheit ist nicht immer klar nachzuweisen. Im Wesentlichen gelten hier als direkte oder indirekte Hinweise auf den Zusammenhang morphologische Strukturveränderungen der Organe und endokrinologische Veränderungen im Sinne eines Hyperreninismus oder eines Mineralokortikoidexzesses. Im Rahmen eines zu entschädigenden Ereignisses könnte eine medikamentöse Therapie eine Rolle spielen.
17.3.2 Berufskrankheit > Gelistete Berufskrankheiten für die Entstehung einer arteriellen Hypertonie existieren nicht.
In der allgemeinen Diskussion wird immer wieder beruflicher Stress als eine Ursache der arteriellen Hypertonie dargestellt. In der wissenschaftlichen Literatur ist jedoch der Zusammenhang nicht genügend gesichert. Am problematischsten scheint die Situation zu sein, dass hochqualifizierte Persönlichkeiten in Positionen arbeiten, die nur eine niedrige Entscheidungskompetenz besitzen. Wenn solche Personen eine arterielle Hypertonie entwicklen, bleibt die Zusammenhangsfrage letztlich doch offen, da nicht auszumachen ist, ob es sich um das Auftreten einer gewöhnlichen primären Hypertonie handelt, ob die Entwicklung einer solchen Hypertonie lediglich schneller abläuft, oder ob es sich wirklich um die Neuentwicklung einer arteriellen Hypertonie handelt.
17.3.3 Unfall- und Operationsfolgen
Bei den Blutdruckerhöhungen, die durch Unfall- oder Operationsfolgen entstehen, handelt es sich im Wesentlichen um renale Hypertonieformen. So kann es bei Schädigungen des Nierenparenchyms oder bei der sekundären Nierenarterienstenose durch Narbenbildungen zu renalen Veränderungen kommen, die eine arterielle Hypertonie nach sich ziehen. Hierzu zählen stumpfe Bauchtraumata, Perforationsverletzungen im Abdominalbereich, Operationen im Retroperitoneum und in seltenen Fällen auch vaskuläre Eingriffe im Bereich der Aorta abdominalis. Die sog. Polarterien der Nieren stellen eine besondere Problematik dar. Bei einer eventuellen Ligatur kann es zur lokalen Minderperfusion am Nierenpol kommen. Die hierdurch ausgelöste pathologische Reninsekretion löst dann in der Folge eine systemische arterielle Hypertonie aus und unterhält diese langfristig.
Der Verlust einer Niere, sei es durch Unfall oder durch eine operative Entfernung, führt nicht zu einer arteriellen Hypertonie. Die kontralaterale Niere ist durch diesen Eingriff in ihrer Funktion nicht gestört und kann langfristig durch Hypertrophie den Verlust der betroffenen Niere kompensieren. Durch eine solche Hypertrophie wird keine systemische Blutdruckerhöhung bedingt. Sollte bei einer Einnierigkeit eine arterielle Hypertonie auftreten, so ist das ganze Spektrum der Pathogenese der arteriellen Hypertonie zu diskutieren. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass auch bei solchen Patienten mit einer durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit von über 20% eine primäre Hypertonie auftreten kann. Ein besonderes Risikopotenzial besitzt die arterielle Hypertonie bei Diabetes mellitus. Eine Blutdruckerhöhung wird bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 wesentlich häufiger gefunden als in der Normalbevölkerung. Bezüglich der Zusammenhangsfrage bleibt jedoch offen, ob die Hypertonie bei Typ-2-Diabetes eine direkte Folge der diabetischen Stoffwechsellage ist, oder ob die arterielle Hypertonie aus derselben pathophysiologischen Grundveränderung herrührt wie die diabetische Stoffwechsellage. Hierfür werden z. B. ein erhöhtes intrazelluläres Kalzium oder ein erhöhter Sympathikotonus als Grundkrankheit diskutiert. Durch solche Veränderungen kann sowohl die Insulinresistenz als auch die arterielle Hypertonie erklärt werden. Bei Patienten mit Typ-1-Diabetes mellitus sind die Zusammenhänge klarer. Ein ursächlicher Zusammenhang kann immer dann postuliert werden, wenn bei den Patienten mit Typ-1-Diabetes die Hypertonie parallel zu der Entwicklung einer diabetischen Nephropathie auftritt. Es handelt sich hier um eine sekundäre renoparenchymale Form der Hypertonie. Diese Zusammenhangsfrage stellt sich bei Patienten mit pankreoprivem Diabetes mellitus nach Bauchtraumata oder operativem Organverlust, z. B. nach hämorrhagisch nekrotisierender Pankreatitis oder Malignomen.
17.4
Bewertung nach dem Sozialrecht
Bei der Bewertung der arteriellen Hypertonie kann nicht allein nach der Höhe der Blutdruckwerte entschieden werden. Es müssen hierbei die subjektiven Beschwerden des Patienten wie auch die eventuell bestehenden Endorganschäden und assoziierten Erkrankungen in die Bewertung miteinbezogen werden. Normalerweise kann davon ausgegangen werden, dass eine Hypertonie Grad 1 und 2 ohne weitere Schäden die Leistungsfähigkeit der Patienten nicht einschränkt. Bei Blutdruckerhöhungen über 180 mm Hg systolisch und 110 mm Hg diastolisch (Grad 3) kann die Leistungsfähigkeit aber schon allein durch die Blutdruckhöhe eingeschränkt sein. Dies gilt auf jeden Fall für die maligne Form der arteriellen Hypertonie.
481 17.4 Bewertung nach dem Sozialrecht
Unabhängig von der Blutdruckhöhe ist die Leistungsfähigkeit aber bei subjektiven Symptomen wie Kopfschmerzen, Nasenbluten, Luftnot oder Sehstörungen (evtl. Zeichen des hypertensiven Notfalls) eingeschränkt. Eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit ist auch zu postulieren, wenn Endorganschäden (Albuminurie, beginnende Niereninsuffizienz, linksventrikuläre Hypertrophie oder Intima-media-Dickenzunahme) oder assoziierte Erkrankungen (Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Insult, Niereninsuffizienz oder Aortenaneurysma) mit erhöhtem Herz-Kreislauf-Risiko vorliegen.
17.4.1 Erwerbsunfähigkeit
Die Festlegung der Erwerbsunfähigkeit erfolgt nach dem sozialen Entschädigungsrecht (§ 31 Abs. 3 BVG/MdE >90%). Die Erwerbsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit Einsatzzeiten unter 3 Stunden pro Tag basiert bei Hypertonie fast ausschließlich auf dem Nachweisen von relevanten Folgeschäden (assoziierte Erkrankungen). Eine maligne Hypertonie führt bei Therapieresistenz und raschem Fortschreiten der Niereninsuffizienz und Retinaveränderungen fast regelhaft zur Erwerbsunfähigkeit.
17.4.2 Arbeitsunfähigkeit
Arbeitsunfähigkeit ist bei arterieller Hypertonie nur dann gegeben, wenn eine akute Blutdruckentgleisung vorliegt. Es kann davon ausgegangen werden, dass hierfür Blutdruckwerte im Sinne der Grad-3-Hypertonie über 210 mm Hg systolisch und 120 mm Hg diastolisch vorliegen müssen. Die Blutdruckwerte können jedoch nicht allein ausschlaggebend sein. Es kommt hier zusätzlich auf die subjektiven Symptome des Patienten an. Sie können auch schon bei niedrigeren Blutdruckwerten zur Arbeitsunfähigkeit führen. Hauptsymptome sind Kopfschmerzen, Nasenbluten, Sehstörungen und Schwindel sowie alle Symptome des hypertensiven Notfalls. Als wichtigste seien Angina-pectoris-Anfälle und Dyspnoe im Sinne der Herzinsuffizienz genannt.
17.4.3 Grad der Behinderung (GdB)/Minderung
der Erwerbsfähigkeit (MdE) Für die Beurteilung der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit, auch in der Rentenversicherung und nach dem Schwerbehindertengesetz, sind neben der Blutdruckhöhe auch die Schädigung der Endorgane und das Auftreten von assoziierten Erkrankungen zu berücksichtigen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit bei sekundärer Hypertonie kann konstatiert werden, wenn diese als Folge einer entschädigungspflichtigen Grundkrankheit anerkannt worden ist. Bei sekundären Hypertonien ist generell zu prüfen, ob nur eine vorübergehende Einschränkung vorliegt. So muss z. B. nach einer operativen Korrektur einer Nierenarterienstenose eine Neubeurteilung der Situation ein Jahr nach dem Eingriff erfolgen. Die Daten für GdB/MdE sind in der . Tab. 17.5 wiedergegeben. Hierzu muss festgestellt werden, dass der Grad der Behinderung eventuell durch die Einnahme von zahlreichen Medikamenten höher liegen kann. Dies richtet sich nach der Art und der Dosierung der verabreichten Medikamente. Ein Zusammenhang kann eventuell auch bei unfallbedingten Schädel-Hirn-Traumen gesehen werden, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Trauma und der Erstmanifestation einer arteriellen Hypertonie gegeben ist. Die Beurteilung der arteriellen Hypertonie muss die Therapierbarkeit der Blutdruckwerte berücksichtigen und sollt sich deshalb auf die Werte unter laufender Therapie stützen. Die Verabreichung von zahlreichen Medikamenten zur Blutdruckeinstellung kann eventuell den Grad der Behinderung erhöhen. Eine Hypertonie fällt nur dann in den Versorgungsrahmen des Entschädigungsrechtes, wenn sie als sekundäre Hypertonie anerkannt ist und Ursache für die Hypertonie eine entschädigungspflichtige Grundkrankheit ist.
. Tab. 17.5. GdB/MdE bei arterieller Hypertonie Schweregrad/Blutdrucksituation
GdB/MdE
Grad 1
Hypertonie ohne Folgen
0–10
Grad 1
Hypertonie mit Endorganschäden
10–30
Kommentar
Grad 2
Hypertonie trotz Therapie
20–40
Die Arbeitsfähigkeit ist in der Regel wiederhergestellt, wenn die Blutdruckwerte behandelt sind und die subjektive Symptomatik verschwunden ist.
Grad 2
Hypertonie trotz Therapie mit Endorganschäden
30–50
Grad 3
Hypertonie trotz Therapie
50–80
Nachweis von assoziierten Erkrankungen je nach Beeinträchtigung
50–100
Maligne Hypertonie
100
17
482
Kapitel 17 · Hypertonie
1
Die MdE richtet sich dann nach den allgemeinen Richtlinien (. Tab. 17.5).
2
17.5
3
Bei privat versicherten Schäden gelten die gleichen Grundsätze wie bei anderen Begutachtungen (. Tab. 17.5).
4
17.5.1 Lebensversicherung
5 6 7 8 9
Begutachtung privat versicherter Schäden
In der Lebensversicherung wird die Hypertonie als Erkrankung bewertet, die bei nicht optimaler Blutdruckeinstellung die Lebenserwartung erheblich einschränken kann. Die Prognose hängt nicht nur von der Höhe des Blutdruckes ab, sondern zusätzlich auch von den vorhandenen Folgeschäden der Hypertonie (Details 7 Kap. 17.7). Kardiovaskuläre Todesfälle können mit einer arteriellen Hypertonie in Verbindung gebracht werden, da die Hypertonie für die koronare Herzkrankheit, die Herzinsuffizienz, die absolute Arrhythmie, den Apoplex und die Niereninsuffizienz einen Hauptrisikofaktor darstellt. Das Verheimlichen einer arteriellen Hypertonie bei Antragstellung zur Lebensversicherung kann somit als Obliegenheitsverletzung eingestuft werden.
17.5.2 Unfallversicherung
17
Für die Unfallversicherung kann es von Bedeutung sein, ob eine arterielle Hypertonie als Unfallfolge aufgetreten ist. Nach den Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB) darf der Unfall nicht länger als 3 Jahre zurückliegen. Eine Unfallursache kann in der Regel bei Verletzung der Nieren und der Nierenarterien diskutiert werden, wenn diese zu chronischen Durchblutungsstörungen oder Parenchymschäden geführt hat. Die Abgrenzung zur primären Hypertonie kann bei der Begutachtung erhebliche Probleme machen. Je jünger der Patient ist, desto eher kann eine Unfallfolge akzeptiert werden. Andererseits kann es vorkommen, dass die Hypertonie durch akute Symptome oder sekundäre Folgeerkrankungen wie Herzrhythmusstörungen oder zerebrale Ereignisse mit kurzfristigem Bewusstseinsverlust auch Ursache für Unfälle ist.
18
17.5.3 Berufs-, Erwerbs- und
12 13 14 15 16
Dienstunfähigkeitsversicherung
19 20
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
17.6.1 Einschränkung in der Berufsausübung
10 11
17.6
Hier gelten für die Begutachtung die gleichen Grundsätze wie in 7 Kap. 17.4 für das Sozialrecht beschrieben.
Die Berufsausübung kann durch die arterielle Hypertonie eingeschränkt werden. Hierbei sind nicht nur die Blutdruckhöhe und das Ausmaß der Endorganschäden zu berücksichtigen, sondern in die Überlegungen müssen auch Umgebungseinflüsse einfließen, die möglicherweise zu einer Verschlechterung einer arteriellen Hypertonie beitragen. Dies können sein: 5 Lärmbelästigung, 5 psychophysische Anspannung in Sinne von Monotonie, 5 vorgegebene, z. B. maschinenbestimmte Arbeitsgeschwindigkeiten (Akkord), 5 Daueraufmerksamkeitsbelastung, 5 Arbeiten mit überwiegend isometrischer Muskelbelastung durch Heben, Halten und Tragen, 5 Schichtarbeit, 5 Arbeiten in Kälte. Ein genereller Ausschluss von Hypertonikern für die genannten Tätigkeiten ist jedoch nicht gegeben. Die Einschränkungen für die berufliche Tätigkeit bei arterieller Hypertonie sind in der Übersicht zusammengefasst. Besonders geeignet sind Berufe mit wechselnder Tätigkeit im Sitzen, Stehen und Gehen. Leichte bis mittelschwere Arbeiten können vollschichtig ausgeführt werden. Frühund Spätschichten können wahrgenommen werden. Für Hypertoniker als ungeeignet eingestufte Berufe sind in . Tab. 17.6 gelistet. Für Hypertoniker ungeeignete Berufe 5 Berufe mit Fahr-, Steuer und Überwachungstätigkeit (Kraftfahrzeuge, Kran, Eisenbahn, Flugverkehr) 5 Arbeiten am Gerüst, auf Leitern in luftiger Höhe (Absturzgefahr) 5 Arbeiten an laufenden Maschinen, elektrischen Anlagen oder in Lärmzonen 5 Arbeiten am Hochofen, an offenen Feuern und in großer Hitze, auch in Kälte 5 Arbeiten im 24-Stunden-Schichtdienst 5 Arbeiten in Gegenden großer klimatischer Schwankungen
Für die Grad-2- und Grad-3-Hypertonie sowie bei Endorganschäden oder assoziierten Erkrankungen sind Einschränkungen in der Personenbeförderung, als Flugzeugoder Zugführer und für Arbeiten mit schwerem Atemschutz gegeben, wenn therapeutisch keine Besserung der Situation erreicht werden kann.
483 17.6 Eignung für bestimmte Tätigkeiten
. Tab. 17.6. Einschränkungen in der beruflichen Tätigkeit bei arterieller Hypertonie Blutdrucksituation
Ungeeignete Tätigkeiten
Grad-1-Hypertonie ohne Folgen
5 Abrupte und ungewöhnlich schwere Arbeit
Grad-2-Hypertonie trotz Therapie oder Endorganschäden
5 5 5 5 5 5 5
Grad-3-Hypertonie trotz Therapie oder assoziierte Erkrankungen je nach Beeinträchtigung
5 Wenn therapeutisch nicht beeinflussbar, ist keine regelmäßige vollschichtige Arbeit anzuraten
Schwere körperliche Arbeit Akkordarbeit Geistige Dauerbelastung Lärmexposition Psychophysische Belastung Schichtarbeit Einschränkende subjektive Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Konzentrationsstörungen bei Fahr-, Steuer- und Kontrolltätigkeiten 5 Arbeiten mit Absturzgefahr
17.6.2 Fahrereignung
Eine arterielle Hypertonie kann grundsätzlich zur Einschränkung der Fahrtüchtigkeit führen. Eine vorübergehende Fahruntüchtigkeit kann bei medikamentöser Neueinstellung oder Medikamentenumstellung bestehen, wenn durch die Medikamente oder die Blutdrucksenkung zerebrale Nebenwirkungen wie Konzentrationsschwäche, Schwindel oder Sehstörungen auftreten oder zu erwarten sind. Auch durch Medikamente, die die Orthostaseneigung verstärken, können bei Einstellung oder Umstellung Beschwerden auftreten, die die Fahrtüchtigkeit des Patienten einschränken. Nach Erlass des Bundesministeriums für Verkehr vom 26.8.1998 (Bg-Blatt 1998, Teil I, Nr. 55) und der Änderung dieser Verordnung vom 23.8.2002 (Bg-Blatt 2002, Teil I, Nr. 59) gelten Personen prinzipiell als fahruntüchtig, die an einer sehr schweren arteriellen Hypertonie leiden, d. h. deren diastolischer Blutdruck ständig über 130 mm Hg liegt (Anlage 4 der Verordnung, Krankheit 4.2). Bei einem diastolischen Blutdruck zwischen 100 und 130 mm Hg ist für die Führerscheinklassen A, A1, B, BE, M, L, T (Krafträder, Kfz bis 3,5 t mit Anhänger bis 750 kg oder Anhänger über 750 kg, falls die Gesamtmasse des Zuges von 3,5 t nicht überschritten wird = Gruppe 1) keine Einschränkung der Eignung festzustellen. Für alle Führerscheinklassen in C, D und FzF (Kfz über 3,5 t, Kraftomnibusse, Fahrgastbeförderung) ist die Eignung nur gegeben, wenn keine anderen prognostisch ernsten Symptome vorliegen. Für diese spezielle Gruppe 2 werden Nachuntersuchungen in der Fahrerlaubnisverordnung gefordert. Bei Patienten mit Grad-1-Hypertonie ohne Folgeschäden kann die Fahrereignung bestätigt werden, wenn der Blutdruck sich medikamentös gut einstellen lässt und moderne Antihypertensiva verwendet werden, die keine zerebralen Nebenwirkungen entwicklen oder Orthostaseneigungen fördern.
Bei den Führerscheinklassen D, D1, DE, D1E und FzF ist bei Erteilung und Verlängerung (Alter bei Klasse D über 50 Jahre und bei FzF über 60 Jahre) zu beachten, dass der Antragsteller trotz einer eventuellen Erkrankung oder deren Medikation die Anforderung zur Belastbarkeit, Orientierungsleistung, Konzentrationsleistung, Aufmerksamkeitsleistung und Reaktionsfähigkeit noch erfüllen kann (Anlage 5 der Fahrerlaubnisverordnung von 1998). Bei der Auswahl der Medikamente ist darauf zu achten, dass sie keine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß verursachen. Bei der Initialtherapie muss dies für alle Medikamente bedacht werden, da der Patient allein durch die ungewohnte Blutdruckabsenkung erhebliche zerebrale Nebenwirkungen erleiden kann. In der langfristigen Therapie gilt die Einschränkung der Fahrtauglichkeit im Wesentlichen nur noch für Medikamente mit zentral dämpfender Wirkung. Dies sind insbesondere die zentralen Antisympathotonika wie Clonidin und Reserpin. Vor einer möglichen Einschränkung des Reaktionsvermögens durch Moxonidin und β-Blocker wird ebenfalls gewarnt. Angesichts des breiten Indikationsspektrums der β-Blocker sollte bei einer Verordnung die Fahrereignung individuell abgewogen werden. Mögliche Bedenken können bei einer vorsichtigen Titration der β-Blockerdosis umso eher zurückgestellt werden, desto höher die Ausgangsaktivität des Sympathikotonus ist. > Bei der Beurteilung der Fahrereignung muss gleichzeitig mitgeprüft werden, ob der Patient neben den Antihypertensiva eventuell noch Psychopharmaka oder Sedativa einnimmt. Eine solche Kombination verstärkt die zentral dämpfende Nebenwirkung der Antihypertensiva und führt eher zu einer Fahruntüchtigkeit, als es bei der alleinigen antihypertensiven Therapie zu erwarten wäre.
17
484
1
Kapitel 17 · Hypertonie
Eine Verstärkung der zentralen Nebenwirkungen von Antihypertensiva ist auch bei gleichzeitigem Alkoholkonsum zu befürchten.
2 17.7
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Risikobeurteilung
Als Risikofaktoren für die Entwicklung einer arteriellen Hypertonie oder für deren frühzeitige Manifestation werden eine Adipositas, ein überhöhter Salzkonsum bei Salzsensitivität, ein erhöhter Alkoholkonsum, Lärm und psychosozialer Stress angesehen. Die arterielle Hypertonie ist eine chronische Erkrankung, die in der Regel über Endorganschäden und assoziierte Erkrankungen zu einer Einschränkung der Lebenserwartung führt. So ist die 5-Jahres-Überlebensrate bei Grad-1-Hypetonie 85%, bei einer Grad-2-Hypertonie aber nur noch 50% und bei einer Grad-3-Hypertonie lediglich 30%. Bei maligner Hypertonie liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei 3–5%. Hieraus ist unschwer abzuleiten, dass eine konsequente Behandlung der arteriellen Hypertonie dringend erforderlich ist. Eine medikamentöse Therapie kann die Mortalität der Patienten um 20–40% – je nach Begleiterkranklungen – senken. Apoplexe können um 40%, Myokardinfarkte um ca. 20% und klinisch relevante Herzinsuffizienzen um ca. 50% verhindert werden. Betrachtet man die einzelnen kardiovaskulären Erkrankungen, so kann das Risiko einer arteriellen Hypertonie folgendermaßen definiert werden: Die kardiovaskuläre Mortalität wird durch eine arterielle Hypertonie 3fach erhöht, das Risiko einer koronaren Herzkranheit um das 2,2-Fache, das Apoplexrisiko um das 8,2-Fache und das Risiko einer Herzinsuffizienz um das 6,7-Fache. Bei gleichzeitig bestehender linksventrikulärer Herzhypertrophie wird das kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko um das 8bis 10-Fache gesteigert. Patienten, die in der Langzeitblutdruckmessung eine fehlende nächtliche Blutdrucksenkung haben, oder Patienten, die in der Ergometrie eine überschießende Blutdruckreaktion bieten, gelten als Risikopatienten. Ihr kardiovaskuläres Risiko ist im Vergleich zu den normal reagierenden Hypertonikern noch einmal um das 2- bis 3Fache gesteigert.
Kommentar Die Beurteilung des Therapieerfolges darf sich nach heutigem Kenntnisstand nicht nur an der absoluten Blutdrucksenkung orientieren, sondern muss auch die Belastungsreaktion bei Ergometrie und das nächtliche Blutdruckverhalten mitberücksichtigen. Das kardiovaskuläre Risiko wird aber erst dann optimal reduziert, wenn durch die Therapie auch eine Regression bei den Endorganschäden erzielt werden kann.
17.7.1 Öffentliches Dienstrecht
Die Frage nach der gesundheitlichen Eignung für die Verbeamtung stellt sich bei den Patienten mit arterieller Hypertonie nur selten. Dies ist auch dadurch bedingt, dass die primäre Hypertonie in der Regel erst im höheren Alter auftritt und somit bei der Prüfung für die Eignung als Beamter noch nicht nachzuweisen ist. Wenn in den jüngeren Jahren bereits eine arterielle Hypertonie vorliegt, so ist vor der Entscheidung für die gesundheitliche Eignung die Abklärung der Hypertonie erforderlich. In jungen Jahren findet sich wesentlich häufiger eine kausal therapierbare sekundäre Hypertonie als bei den älteren Personen. > Für die Eignungsprüfung ist die Therapierbarkeit entscheidend.
Ein vom Patienten nicht beherrschbares Übergewicht oder ein übermäßiger Alkoholkonsum als Ursache der Hypertonie müssen kritisch betrachtet werden; zur Einschränkung der Eignung werden dann eher diese Punkte führen – weniger jedoch die arterielle Hypertonie selbst. Ist der Blutdruck einstellbar, so kann bei einer milden Hypertonie mit ihrer guten Prognose die Eignung für die Verbeamtung kaum verweigert werden. Lediglich die Einstellung in den Polizeidienst kann bei einer milden Hypertonie mit schon notwendiger Pharmakotherapie gefährdet sein. Bestehen hingegen schon Endorganschäden, ist wegen der schlechteren Prognose die Verbeamtung zu hinterfragen. Bei bereits assoziierten Erkrankungen ist in der Regel eine fehlende Eignung für die Verbeamtung gegeben. Ansonsten gelten im öffentlichen Dienstrecht die gleichen Einschränkungen wie in der Berufsausübung allgemein.
17.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Die Prognose einer arteriellen Hypertonie kann durch eine Rehabilitation deutlich verbessert werden. In der Rehabilitation lernt der Patient Lebensstiländerungen, die zur besseren Einstellung des Blutdrucks beitragen. Dies umfasst Gewichtsreduktion, Entspannungsübungen, körperliche Aktivierung, Ernährungsumstellung mit Salz- und Alkoholreduktion sowie psychosoziale Beratung. In einer speziellen Schulung werden diese Informationen dem Patienten nahegebracht. Eine nachhaltige bessere Blutdruckeinstellung ist in mehreren Studien gezeigt worden. Die berufliche Rehabilitation hilft, den Patienten wieder in die berufliche Umgebung einzugliedern. Hierzu können eine stufenweise Wiedereingliederung, eine Arbeitsplatzumgestaltung, eine Arbeitsplatzumsetzung oder der Einsatz von entlastenden Hilfsmitteln hilfreich sein.
485 Literatur
17.9
Sonderfragen
17.9.1 Absolute Arrhythmie
Bei Patienten mit arterieller Hypertonie kommt es auf dem Boden einer linksventrikulären Hypertrophie, einer koronaren Herzkrankheit oder einer dilatativen Kardiomyopathie gehäuft zu einer absoluten Arrhythmie. Die absolute Arrhythmie führt in der Konsequenz zu einer lebenslangen Antikoagulation. Zudem kann als Komplikation aus der absoluten Arrhythmie eine zerebrale Embolie mit transitorischer ischämischer Attacke (TIA) oder manifestem Apoplex resultieren. Diese Kausalverknüpfung von TIA über absolute Arrhythmie zur Hypertonie muss bei Zusammenhangsfragen beachtet werden. Die lebenslange Antikoagulation führt in der Regel zu einer Erhöhung von GdB/MdE um 10. Zur Bewertung der absoluten Arrhythmie 7 Kap. 5.
17.9.2 Demenz
In den letzten Jahren ist die Erkenntnis gewachsen, dass die arterielle Hypertonie am Gehirn neben einer Blutung oder einem Apoplex auch eine Demenz verursachen kann. Die Demenz basiert im Wesentlichen auf sog. »minimal lesions«, die sich z. B. im Computertomogramm als kleine lakunäre Defekte im Bereich der Vasa recta und im Rinden-Mark-Übergang darstellen lassen. Klinisch imponiert ein zerebrales Abbausyndrom bis hin zur Binswanger-Krankheit. Die Zusammenhangsfrage muss diskutiert werden, wenn bei langjährig schlecht eingestellter Hypertonie ein zerebraler Abbauprozess klinisch manifest wird. Erste Hinweise aus Therapiestudien wie der Syst-EUR-Studie mit Nitrendipin ergeben, dass bei konsequenter Blutdruckeinstellung das Fortschreiten der zerebralen Abbauprozesse verlangsamt werden kann.
sollte nach Einstellung der Therapie eine Neubewertung von GdB/MdE vorgenommen werden. In den Fällen, in denen der Blutdruck von der Behandlung des obstruktiven Schlafapnoesyndroms unbeeinflusst bleibt, muss davon ausgegangen werden, dass die Hypertonie unabhängig von der Atemstörung als primäre Hypertonie einzustufen ist.
17.9.4 Koronare Herzkrankheit
Kommt es bei Patienten mit arterieller Hypertonie nach einem Myokardinfarkt oder bei einer dilatativen Kardiomyopathie zu einem dauerhaften Blutdruckabfall auf eher niedrige Werte, so kann das als ein Zeichen der Verschlechterung der systolischen linksventrikulären Funktion mit deutlich eingeschränkter Prognose angesehen werden. Es entfällt dann zwar die Bewertung der Hypertonie für die Behinderung, die Bewertung für die Herzkrankheit muss in diesem Fall aber höher ausfallen. Eine Reduktion von GdB/MdE ist somit aus dem niedrigen Blutdruck nicht unbedingt abzuleiten.
17.9.5 Diabetes mellitus
Bei Patienten mit arterieller Hypertonie und Diabetes mellitus sollte eine höhere Bewertung von GdB/MdE erfolgen, da die arterielle Hypertonie für Diabetiker einen wesentlich größeren Risikozuwachs bedeutet als für normoglykämische Hypertoniker. Diese Patienten müssen strenger eingestellt werden, in der Regel mehr Medikamente einnehmen und sich wesentlich strengeren Kontrollen unterziehen. Hierdurch wird die Lebensqualität und eventuell auch die Leistungsfähigkeit dieser Patienten erfahrungsgemäß stärker eingeschränkt als bei unkomplizierten Hypertonikern.
Literatur 17.9.3 Obstruktives Schlafapnoesyndrom
Es gilt wissenschaftlich als gesichert, dass ein obstruktives Schlafapnoesyndrom durch eine dauerhaft gesteigerte Katecholaminfreisetzung eine arterielle Hypertonie induzieren kann. Diese Form der arteriellen Hypertonie wird den sekundären Hypertonien zugerechnet und ist erfahrungsgemäß schwer therapeutisch einzustellen. Eine effektive Behandlung des Schlafapnoesyndroms mit deutlicher Reduktion der nächtlichen Weckreaktionen (»arousal«) führt rasch zu einer Besserung der subjektiven Beschwerden der Patienten und auch zu einer Reduktion des erhöhten Blutdrucks. Nicht selten können sogar Antihypertensiva wieder abgesetzt werden. Aus diesen Gründen
Bönner G, Deter HC (2005) Arterielle Hypertonie. In: Berger M, Domschke W, Hohenberger W, Meinertz T, Possinger K, Reinhardt D (Hrsg) Therapie-Handbuch, 4. Aufl. Urban & Schwarzenberg, München, S C15:1–12 Chobanian AV, Bakris GL, Black HR et al. (2003) The Seventh Report of the Joint National Committee on Prevention, Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure. The JNC 7 Report. JAMA 289: 2560–2572 Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdruckes (2006) Leitlinien Hypertonie. Heidelberg Franz IW (1982) Ergometrie bei Hochdruckkranken. Springer, Berlin Heidelberg New York Guidelines Committee (2003) 2003 European Society of Hypertension – European Society of Cardiology guidelines for the management of arterial hypertension. J Hypertens 21: 1011–1053 Klaus D (1997) Manuale Hypertonologicum. Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle, Deisenhofen
17
486
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 17 · Hypertonie
Rosenthal J, Kolloch R (2004) Arterielle Hypertonie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Rost R, Hollmann W (1982) Belastungsuntersuchungen in der Praxis. Thieme, Stuttgart New York
Internetadressen Deutsche Hochdruckliga www.hochdruckliga.de Deutsche Leitlinien zur Hypertonie Europäische Gesellschaft für Kardiologie www.escardio.org Europäische Leitlinien zur Hypertonie National Institute of Health www.nhlbi.nih.gov Bericht des Joint National Committee VII zur Hypertonie National Institute for Health and Clinical Excellence www.NICE.org.uk Hypertonieempfehlungen
18
487
Psychiatrische Begutachtung C. Stadtland, N. Nedopil
18.1
Diagnostik – 488
18.1.1 18.1.2
Körperliche Untersuchung – 488 Psychiatrische Diagnostik (ICD-10 und DSM IV-TR)
18.2
Organisch bedingte Störungen – 491
18.2.1
Demenz
18.3
Suchterkrankungen (Störungen durch psychotrope Substanzen) – 494
18.3.1 18.3.2 18.3.3
Psychiatrische Terminologie – 495 Alkohol – Missbrauch und Abhängigkeit – 495 Andere Suchtstoffe – 497
18.4
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen – 498
18.5
Affektive Störungen – 501
– 488
– 491
18.6
Neurosen, psychosomatische Störungen und Belastungsreaktionen
18.6.1 18.6.2 18.6.3
Phobien und Angststörungen – 503 Zwangsstörung – 503 Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen – 503 Dissoziative und Konversionsstörungen – 504 Somatoforme Störungen, Somatisierungsstörungen, hypochondrische Störungen – 504 Exkurs: Vulnerabilitäts-Stress-Konzept der somatoformen Schmerzstörung – 508 Exkurs: »Chronic Fatigue Syndrome« (CFS), Fibromyalgiesyndrom, »Multiple Chemical Sensitivity« (MCS) oder »Idiopathic Environmental Intolerance« (IEI), »Sick Building Syndrome« (SBS) – 509 Exkurs: Simulation, Aggravation und Dissimulation – 509
18.6.4 18.6.5 18.6.6 18.6.7
18.6.8
18.7
Essstörungen – 511
18.7.1 18.7.2
Anorexie (F50.0) und Bulimia nervosa (F50.2) – 511 Adipositas (psychogene Hyperphagie) – 512
18.8
Persönlichkeitsstörungen – 512
18.8.1
Exkurs: Querulatorische Entwicklung und Akzentuierung – 514
18.9
Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle – 515
– 502
18.10
Intelligenzminderung – 515
18.10.1 18.10.2
Ausprägungsgrade – 516 Exkurs: Umgang mit den Eltern
18.11
Suizid und Kapitallebensversicherung – 518
18.11.1 18.11.2
Freiheit der Willensbestimmung vs. »krankhafte Störung der Geistestätigkeit« – 518 Einfühlbare Motive vs. aufgehobene Realitätskritik – 518
Literatur
– 519
– 516
488
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Psychiatrische Erkrankungen bekommen bei der Begutachtung immer größere Bedeutung. Sie führen etwa doppelt so häufig zur Arbeitsunfähigkeit wie somatische Erkrankungen. Entgegen dem rückläufigen Trend bei somatischen Erkrankungen verstärkte sich das Risiko, mit einer psychiatrischen Erkrankung arbeitsunfähig zu werden, in den letzten Jahren erheblich. Parallel zu dem ansteigenden Anteil psychiatrischer Erkrankungen werden immer öfter differenzierte psychiatrische Begutachtungen in Auftrag gegeben. Diese erfolgen zumeist mit dem Ziel, gerechtfertigte von ungerechtfertigten Ansprüchen zu unterscheiden oder das Ausmaß der Störung zu quantifizieren. Gerade die Beurteilung psychiatrischer Erkrankungen ist jedoch häufig umstritten, da die aus diesen Erkrankungen resultierenden Einschränkungen gelegentlich schwieriger als bei körperlichen Erkrankungen zu objektivieren sind. In diesem Spannungsfeld ist eine objektive und nachvollziehbare Einschätzung durch den psychiatrischen Gutachter erforderlich (Stadtland et al. 2007). Oftmals müssen durch psychiatrische Gutachter Rehabilitationsmöglichkeiten, v. a. für die gesetzliche Rentenversicherung, beurteilt werden. Gerade psychisch kranke Probanden sind bei Erstmanifestation der Erkrankung häufig noch sehr jung und besitzen zudem gute körperliche und psychische Ressourcen. Auf diese kann bei einer spezifischen Rehabilitation, insbesondere bei einer beruflichen Rehabilitation, zurückgegriffen werden. In diesem Kapitel werden deshalb die häufigsten Fragestellungen an den Psychiater aus dem Sozial- und Zivilrecht sowie gängige spezifische Sonderfragen (z. B. Geschäftsfähigkeit oder Fahrereignung) dargestellt. Auf Besonderheiten, wie die Abgrenzung von Simulation und Aggravation, die psychiatrische Beurteilung chronischer Schmerzsyndrome und das Problem der freien Willensbestimmung bei Suiziden (Lebensversicherung), wird ebenfalls eingegangen.
Die Zunahme der Fehltage wegen psychiatrischer Erkrankungen bei einer großen Krankenkasse betrug zwischen 1997 und 2004 fast 70% (Linden u. Weidner 2005). Auch sind psychiatrische Erkrankungen heute ein häufiger Grund für Frühberentungen. Bei Frauen stieg der Anteil psychiatrischer Erkrankungen bei vorzeitigen Berentungen allein zwischen 1983 und 2003 von unter 10% auf etwa 35% an, bei Männern erfolgte im gleichen Zeitraum ein Anstieg von rund 8% auf etwa 24% (Rehfeld 2006). Das Ausmaß der aus diesen Erkrankungen – insbesondere Angsterkrankungen, affektiven Störungen und Suchterkrankungen – resultierenden funktionellen Einschränkungen ist in Mitteleuropa in etwa mit denen von Herzerkrankungen oder Arthritis zu vergleichen (Buist-Bouwman et al. 2006). Zwar sind die volkswirtschaftlichen
direkten und indirekten Kosten psychiatrischer Erkrankungen nur schwer zu beziffern, sie können aber zu erheblichen Belastungen sozialer und privater Sicherungssysteme führen.
18.1
Diagnostik
18.1.1 Körperliche Untersuchung
Eine körperliche Untersuchung der Probanden ist – wenn immer möglich – erforderlich. Nur so können körperliche Grunderkrankungen als Ursache psychiatrischer Störungen berücksichtigt werden.
Kommentar Eine fehlende körperliche Untersuchung eines psychiatrischen Probanden – ohne ausreichende Begründung – stellt einen so erheblichen Mangel dar, dass der Verdacht auf fehlende Sorgfalt des Gutachters aufkommt.
18.1.2 Psychiatrische Diagnostik (ICD-10 und
DSM IV-TR) Die moderne psychiatrische Diagnostik und damit auch der psychiatrische Gutachter orientieren sich heute an den Diagnosemanualen des ICD-10 bzw. des DSM IVTR, welche einem deskriptiven Ansatz folgen. Beide Manuale enthalten konkrete und detaillierte Kriterien (z. B. Verhaltensauffälligkeiten, Symptome, Schweregrad) und Entscheidungsregeln. Dieser Ansatz einer operationalisierten Diagnostik erhöht die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der psychiatrischen Diagnosen. Durch den weitgehenden Verzicht umstrittener ätiologischer und theoretischer Modelle können Diagnosen von Psychiatern unterschiedlicher theoretischer Orientierung gleichermaßen akzeptiert werden. Ätiologische Annahmen werden in den modernen Diagnosemanualen nur noch bei Anpassungsstörungen, posttraumatischen und akuten Belastungsstörungen, substanzinduzierten psychiatrischen Störungen und organisch bedingten psychiatrischen Störungen vorgenommen. Die Einführung spezifischer, inhaltlicher und zeitlicher Diagnosekriterien, d. h. die Operationalisierung der psychiatrischen Diagnosen, ist als Fortschritt zu sehen. > Die Verwendung von ICD-10- oder DSM IV-TR-gestützten Diagnosen stellt in der Psychiatrie eine Mindestanforderung an jedes Gutachten dar.
489 18.1 Diagnostik
Leider führte die erhöhte Reliabilität moderner psychiatrischer Diagnostik nicht zu einer gleichermaßen erhöhten Validität (Gültigkeit) der Diagnosen. Grundsätzlich führen psychiatrische Diagnosen, erstellt mit den Diagnosemanualen des ICD-10 bzw. des DSM IV-TR nicht ohne Weiteres bereits zu einem Leistungsfall, einer Berentung oder einer aufgehobenen Fahrereignung. Hier beginnt die eigentliche Aufgabe der psychiatrischen Begutachtung. Erst wenn die aus den Erkrankungen resultierenden Einschränkungen bzw. das verbliebene Restleistungsvermögen erfragt und berücksichtigt werden, kann der Auftraggeber, der in aller Regel ein psychiatrischer Laie ist, die Entscheidung nachvollziehen. Auf diesem Weg stellen die Manuale des ICD-10 bzw. des DSM IV-TR für den Gutachter allenfalls eine Hilfe dar.
Stufen der Begutachtung und Minimalkriterien Psychiatrische Begutachtungen im Sozial- oder Zivilrecht können übersichtlich in aufeinander aufbauenden Stufen erfolgen (Stadtland et al. 2007). In aller Regel sollte die Reihenfolge der Stufen eingehalten werden: 5 Im 1. Schritt muss nach Ausschluss oder unter Berücksichtigung einer potenziell reversiblen körperlichen Grunderkrankung eine sachgerechte psychiatrische Diagnose, die sich an allgemein verbreiteten Klassifikationssystemen orientiert (in aller Regel an den Diagnosemanualen des ICD-10 bzw. des DSM IV-TR), erfolgen. Das Konzept der Komorbidität, darunter wird das gleichzeitige und gleichberechtigte Nebeneinandervorhandensein einer oder mehrerer voneinander unabhängiger psychiatrischer Erkrankungen verstanden, ist zu berücksichtigen. Es kann dabei sowohl eine sukzessive (Längsschnitt) als auch eine simultane (Querschnitt) Komorbidität psychiatrischer Erkrankungen vorliegen. Die prämorbide Persönlichkeit und die Krankheitsverarbeitung sind hier ebenfalls zu berücksichtigen. Liegt auf diese Stufe keine psychiatrische Erkrankung vor, erübrigen sich die Schritte 2 und 3. 5 Im 2. Schritt ist das Ausmaß der Störung zu quantifizieren, und die daraus resultierenden Leistungseinschränkungen sind zu verdeutlichen. Es muss ein Zusammenhang zwischen einer psychiatrischen Erkrankung und der Leistungseinschränkung bestehen. Die unten bei den einzelnen Erkrankungen genannten GdB/MdE-Sätze sind Anhaltspunkte, die nicht zwingend befolgt werden müssen. Das Abweichen von diesen Anhaltspunkten muss jedoch von dem Gutachter plausibel begründet werden. Es ist dabei unerlässlich, alle leistungsmindernden Störungen auf körperlichem, geistigem und seelischem Gebiet in jedem Einzelfall zu berücksichtigen. Die Beurteilungsspannen können den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung tragen. In diesem Kapitel werden eini-
ge wichtige Instrumente zur Quantifizierung psychiatrischer Erkrankungen vorgestellt. Durch den Einsatz dieser Instrumente werden die gutachterlichen Schlussfolgerungen für den Auftraggeber nachvollziehbarer. Sie helfen dem Gutachter zudem, wichtige Aspekte der Leistungsbeurteilung nicht zu übersehen. 5 Im 3. Schritt ist die Störung bzw. die Leistungseinschränkung unter Berücksichtigung der Fragestellung weiter zu spezifizieren. Die in der Übersicht dargestellten Minimalkriterien können eine Hilfestellung bei der Beantwortung der meisten psychiatrischen Fragestellungen sein.
Minimalkriterien bei der Beantwortung psychiatrischer Fragestellungen im Sozial- und Zivilrecht 5 Welche psychiatrische Erkrankung liegt vor (ICD10- oder DSM IV-TR-Kriterien)? Komorbidität und Primärpersönlichkeit beachten. 5 Wie stark ist die Erkrankung ausgeprägt? Eventuell Instrumente zur Quantifizierung einsetzen. 5 Seit wann besteht die Erkrankung? 5 Wie ist der typische Verlauf der Erkrankung? 5 Wie wird durch die Erkrankung die Leistungsfähigkeit beeinflusst (Zusammenhang zwischen Erkrankung und Leistungseinschränkung)? 5 Welches Restleistungsvermögen liegt noch vor? 5 Wirkt sich die Leistungseinschränkung auch in anderen Bereichen aus (bei berufsbezogenen Fragen z.B in der Freizeit oder Partnerschaft)? 5 Wie könnte der Arbeitsplatz, Arbeitsweg etc. verändert werden, damit Einschränkungen der Leistungsfähigkeit weniger ins Gewicht fallen (bei berufsbezogenen Fragen)? 5 Welche therapeutischen Unterstützungen sind zur Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit sinnvoll? 5 Wie groß ist die Erfolgsaussicht für diese Maßnahmen? 5 Welche Risiken oder Nebenwirkungen können durch diese Maßnahmen auftreten? 5 Wie lange müssen die Maßnahmen andauern? 5 Wird die Leistungsfähigkeit auch durch krankheitsunabhängige Faktoren beeinflusst?
Bei der Beurteilung von berufsbezogenen Leistungseinschränkunkungen muss die berufliche Anforderung im Verhältnis zu dem Ausmaß der Symptomatik beurteilt werden. Der Zusammenhang von Leistungseinschränkungen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen bei den häufigsten psychiatrischen Störungen wird jeweils in Tabellen, die
18
490
1
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
dem Gutachter eine Orientierung ermöglichen, dargestellt.
Rehabilitation psychisch kranker Probanden
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
> Das oftmals sehr junge Alter vieler psychisch kranker Probanden bei Erstmanifestation der Erkrankung erfordert regelmäßig eine spezifische Rehabilitation, insbesondere eine berufliche Rehabilitation.
Diese sollte der Erkrankung und den spezifischen Bedürfnissen und Leistungseinbußen der Probanden angepasst sein. Psychiatrische Rehabilitationsmaßnahmen dauern meist länger als somatische. Somit erfordert die Beantwortung rehabilitativer Fragen psychisch kranker Probanden große Sorgfalt. Der Gutachter kann sich dabei an Klassifikationen und Fragenkatalogen orientieren. Neben den biomedizinischen Modellen (ICD-10 und DSM IV) gewinnt das biopsychosoziale Modell der WHO (ICF) zur Rehabilitation und Teilhabe in Deutschland zunehmend an Bedeutung.
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) Für die Beschreibung von Funktionseinschränkungen bei Probanden mit psychiatrischen Erkrankungen greifen die Diagnosemanuale ICD-10 und DSM IV oft zu kurz, und es kann für den Gutachter erforderlich sein, weitere relevante Kontextfaktoren zu beschreiben. Dazu steht v. a. die universell anwendbare Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO in deutscher Übersetzung zur Verfügung (www. dimdi.de). Dieses Manual ermöglicht dem Gutachter neben dem Gesundheitszustand zusätzlich unterschiedliche, mit der Erkrankung zusammenhängende Zustände in einem mehrdimensionalen Modell zu beschreiben. Gesundheits- und gesundheitsbezogene Aspekte werden in der ICF in sog. Domänen in zwei Teile gruppiert (Übersicht). Es besteht eine dynamische Wechselwirkung zwischen diesen Faktoren. Die Funktionsfähigkeit des Probanden ist dabei als komplexe Beziehung zwischen seinen Gesundheitsproblemen und den Kontextfaktoren zu sehen.
Domänden der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) 5 Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behinderung – Körperfunktionen und -strukturen – Aktivitäten und Partizipation bzw. Teilhabe 5 Teil 2: Kontextfaktoren – Umweltfaktoren – Personbezogene Faktoren
Fragenkatalog Grosch et al. schlugen 2001 einen Fragenkatalog vor, welcher geeignet ist, wesentliche Bereiche von Funktionsfähigkeit und Behinderung von Probanden mit psychischen Erkrankungen im Sinn der Vorgängerversion der ICF, der ICIDH-2, zu erfragen (Übersicht). Dieser stellt für den psychiatrischen Gutachter eine gute Orientierung zur Beantwortung rehabilitativer Fragen dar und hilft, wichtige Teilaspekte bei der Begutachtung nicht zu übersehen. Durch systematische Beantwortung der Fragen lassen sich die berufliche Leistungsfähigkeit und die soziale Integration am Arbeitsplatz, lebenspraktische Fertigkeiten sowie die familiäre und außerfamiliäre soziale Integration orientierend beurteilen und allgemeinverständlich erläutern.
Fragenkatalog nach Grosch et al. (2001) 5 Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit – Ist der Proband in der Lage, seine erworbenen Qualifikationen einzusetzen? – Hat seine Fähigkeitsstörung von vornherein zu einer Unterqualifikation und damit zu einer Beeinträchtigung der Partizipation geführt? – Kann der bisherige Beruf krankheitshalber, auch durch bestimmte organische Störungen, Medikamenteneinflüsse u. Ä., nicht weiter ausgeübt werden und weshalb genau? 5 Soziale Integration am derzeitigen oder letzten Arbeitsplatz – Arbeitet der Proband an einem isolierten Arbeitsplatz, an dem sich wenige Kontakte zu anderen Menschen ergeben? – Sind die Arbeitsanforderungen für ihn zu niedrig/zu hoch? – Unterhält er während der Arbeit regelmäßig Kontakt zu Kollegen/Vorgesetzten? – Spricht er Konflikte am Arbeitsplatz von sich aus an und versucht er, sie zu lösen? – Entzieht er sich dem Kontakt zu Kollegen? – Bringt der Betroffene seine Interessen zum Ausdruck, versucht er, sie durchzusetzen? – Wird er in Arbeitsabsprachen miteinbezogen? – Wird er an Gesprächen (Unterhaltung) beteiligt? – Wird er um seine Meinung/seinen Rat gefragt? – Behindert veränderte Selbstwerteinschätzung die Integration am Arbeitsplatz?
6
491 18.2 Organisch bedingte Störungen
18.2 5 Lebenspraktische Fertigkeiten hinsichtlich einer selbstständigen Lebensführung – Wie weit kann er seine persönlichen Interessen zum Ausdruck bringen und verwirklichen? – Kann er sich ausreichend mit Lebensmitteln versorgen? – Ist er in der Lage, selbstständig seinen Haushalt zu führen? – Ist er in der Lage, eigenverantwortlich ärztlich verordnete Medikamente einzunehmen? – Kann der Betroffene mit seinem Einkommen haushalten? – Nimmt er öffentliche Angebote wahr (kulturelle Veranstaltungen, psychosoziale Versorgung usw.)? – Holt er ggf. notwendige Informationen (bei Behörden usw.) ein? 5 Familiäre Integration – Unterhält er Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern? – Hat er Ablösungsschwierigkeiten von seinen Eltern? – Wohnt er als Erwachsener noch bei den Eltern? – Wurden Partnerbeziehungen aufgebaut und wie sind sie verlaufen? – Lebt er getrennt vom (Ehe-)Partner bzw. in Scheidung? – Erfährt er Unterstützung durch seinen Partner/seine Familie? – Spricht er Konflikte in der Familie an und trägt er sie aus? – Unterhält er von sich aus Kontakt zu weiteren Verwandten? 5 Außerfamiliäre soziale Integration – Wie ist seine Wohnsituation? – Unterhält er Kontakte zu Nachbarn und anderen Personen im Wohngebiet? – Nimmt er von sich aus Kontakte auf? – Spricht er Konflikte mit Nachbarn oder anderen Personen an und trägt er sie aus? – Ist er ggf. in eine Wohngemeinschaft integriert? – Nimmt er am öffentlichen Leben teil (Vereine usw.)? – Hat er einen festen Freundeskreis am Wohnort?
Organisch bedingte Störungen
Aus klinischer Sicht unterscheidet man zwischen akuten, vorübergehenden und chronischen hirnorganischen Störungen. Bei fortschreitenden Hirnerkrankungen geht der Demenz in der Regel ein diskretes hirnorganisches Psychosyndrom voraus. Dieses beginnt mit einem Nachlassen der kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten, mit Merkfähigkeitsstörungen, einer Minderung des Abstraktionsvermögens, der geistigen Flexibilität und der Kritikfähigkeit. Vor allem die Bewältigung neuer oder ungewohnter Aufgaben ist erschwert. Gleichzeitig können die Affekte schlechter kontrolliert, Tränen und Zornesausbrüche können schwerer zurückgehalten werden.
18.2.1 Demenz
Häufig wird eine Akzentuierung schon vorher bestehender Persönlichkeitszüge festgestellt. Antriebsminderung, Verlangsamung, affektive Nivellierung, verbunden mit Affektlabilität, mangelnder Flexibilität und Akzentuierung der Primärpersönlichkeit, werden als organische Persönlichkeitsveränderung oder Wesensänderung bezeichnet oder nach ICD-10 als »Organische Persönlichkeitsstörung« (F 07.0) bzw. nach DSM IV-TR als »Persönlichkeitsstörung aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors« (310.1). Als Demenz werden die Störungen dann bezeichnet, wenn die intellektuellen Ausfälle ein erhebliches Ausmaß angenommen haben und die Probanden bereits Schwierigkeiten beim Erklären einfacher Sachverhalte und beim Planen längerfristiger Aktivitäten haben oder wenn Sprachstörungen (Aphasien) oder Werkzeugstörungen (Apraxien) hinzukommen.
Verlauf von Demenzen Üblicherweise wird der Verlauf von Demenzen klinisch in drei Stadien beschrieben, denen häufig das Vorstadium der leichten kognitiven Störung vorausgeht. Im ersten Stadium sind neben affektiven Symptomen wie Affektlabilität v. a. Störungen des Kurzzeitgedächtnisses und gewisse räumliche Orientierungsschwierigkeiten belastend. Im mittleren Stadium treten die affektiven Einbußen in den Hintergrund, die Gedächtnisstörungen nehmen zu und betreffen auch das Langzeitgedächtnis, sodass der Bezug zur eigenen Biographie verloren geht. Denkstörungen mit fehlerhaftem Satzbau, Weitschweifigkeit und Einschränkung des Sprachverständnisses treten hinzu. Daneben ist oft eine Einschränkung der Kritik- und Urteilsfähigkeit zu beobachten. Im Spätstadium prägen Desorientiertheit, Vernachlässigung von Hygiene und Selbstversorgung, Sprachverarmung bis hin zum Mutismus und Einschränkungen der Mobilität das Bild.
18
492
1 2
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
. Tab. 18.1. Stadien des kognitiven Verfalls nach Reisberg et al. (1982) und ihre klinischen Entsprechungen Stadium
Verfall
1
Kein kognitiver Verfall
Funktioneller Verfall weder subjektiv noch objektiv manifest
2
Sehr milder kognitiver Verfall
Schwierigkeiten, Dinge wiederzufinden; subjektive Arbeitsschwierigkeiten
3
Milder kognitiver Verfall
Leistungsabnahme im Beruf; Schwierigkeiten, sich örtlich zu orientieren
4
Mäßiger kognitiver Verfall
Abnehmende Fähigkeit zur Ausführung komplexer Aufgaben; Schwierigkeiten im Umgang mit Geld
Beginnende Demenz
5
Mäßig schwerer kognitiver Verfall
5 Schwierigkeiten beim korrekten Ankleiden 5 Hilfe beim Baden nötig
Leichte Demenz
6
Schwerer kognitiver Verfall
5 5 5 5
Mittelschwere Demenz
7
Schwerster kognitiver Verfall
5 Sprachfähigkeit auf 1–5 Wörter beschränkt 5 Keine sprachliche Verständigung mehr möglich 5 Verlust motorischer Fähigkeiten
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Demenz
Hilfestellung beim Ankleiden und beim Baden nötig Unfähigkeit zu selbständigem Toilettengang Urininkontinenz Fäkale Inkontinenz
Dieser mehr chronologischen Einteilung stehen zwei Einteilungen ausschließlich nach dem Schweregrad der Beeinträchtigungen gegenüber: 5 die Global Deterioration Scale (GDS) (Reisberg et al. 1982), die 7 Stadien erfasst (. Tab. 18.1), und 5 die Clincal Dementia Rating Scale (Hughes et al. 1982), die 3 Stadien unterscheidet. Demenzielle Störungen sollten darüber hinaus durch standardisierte Testverfahren quantitativ abgegrenzt werden. 5 Die Mini-Mental-State-Examination (Folstein et al. 1975) gehört zu den auch von Ärzten anwendbaren einfachen Verfahren, die sich international durchgesetzt haben. Es sind maximal 30 Punkte zu erreichen. Bei 19–24 Punkten spricht man von einer leichten, bei 10–18 Punkten von einer mittelgradigen und bei unter 10 Punkten von einer schweren Demenz.
Diagnose und Differenzialdiagnose (pseudodemenzielles Syndrom) Zur Diagnose einer hirnorganischen Störung bedarf es einer Bestätigung durch körperliche oder technische Untersuchungsbefunde, zumal gerade diese Störungen gelegentlich simuliert (7 Kap. 18..6.6 »Exkurs: Simulation, Aggravation und Dissimualtion«) werden, um beim Gutachter Vorteile zu erzielen. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen ist ein psychogen ausgelöstes pseudodemenzielles Syndrom. Bei dieser Störung werden die Ausfälle demonstrativ vorgebracht, während Probanden mit hirnorganischen Psychosyndromen versuchen, ihre Mängel zu verbergen; auch fällt das Nebeneinander von richtigen und falschen Antworten
Schwere Demenz
auf. So werden einfachste Rechenaufgaben nicht, kompliziertere aber richtig gelöst.
Kommentar Der Pseudodemenz (Ganser-Syndrom) muss nicht immer eine bewusstseinsnahe Simulation zugrunde liegen; häufig wird die Symptomatik von Konflikten und Wünschen genährt, die dem Probanden nicht oder nur vage bewusst sind.
Auch bei den objektiv feststellbaren hirnorganischen Psychosyndromen kommt es oft zu Aggravationstendenzen, die eine genaue Einschätzung des Ausmaßes der Störungen allein aus den Angaben der Probanden und den klinisch erhobenen Befunden schwierig machen. Hierzu bedarf es einer Reihe von Zusatzuntersuchungen: Sowohl neurologische Ausfälle wie positive Befunde im Elektroenzephalogramm, in der Computer- oder Kernspintomographie können die hirnorganische Ursache der Symptomatik belegen. Die Testpsychologie hat eine große Anzahl von Verfahren entwickelt, um organisch bedingte Leistungsdefizite quantitativ genau zu erfassen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Akute hirnorganische Psychosyndrome führen meist zur Arbeitsunfähigkeit. Auch während der Rekonvaleszenz, in der meist eine verminderte Belastbarkeit und eine psychovegetative Labilität bestehen, ist Arbeitsunfähigkeit anzunehmen. Chronische hirnorganische Psychosyndrome, die keine Besserungstendenzen mehr aufweisen,
493 18.2 Organisch bedingte Störungen
erfordern differenzierte Erwägungen: z. B. eine Umschulung auf einen weniger belastenden Beruf, wobei die Ausschöpfung der noch verbliebenen Leistungsfähigkeit Vorrang vor einer dauerhaften Berentung haben sollte. Bei Grunderkrankungen, die eine Besserung unwahrscheinlich machen oder eine Progredienz der Symptomatik nahelegen, erscheint eine Berentung sinnvoll. Liegt eine ausschließlich psychiatrische Beeinträchtigung vor, so hängt die Frage der Berentung vom Ausmaß der psychopathologischen Symptomatik ab. Bei Begutachtungen im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung wird häufig die Frage einer posttraumatischen Hirnschädigung aufgeworfen. Entscheidend für die Höhe der MdE ist dabei nicht das Ausmaß des organischen Schadens, sondern der konkreten Leistungseinschränkungen, die durch die Beeinträchtigung der kognitiven und mnestischen Funktionen, durch Antriebstörungen und neurasthenisches Versagen bedingt werden. Auch hier sind Primärpersönlichkeit und spezifische Kompensationsmechanismen mitzuberücksichtigen. Im sozialen Entschädigungsrecht gelten vergleichbare Grundsätze. Hier wird jedoch häufiger die Frage der Verschlimmerung gestellt, wenn bei Hirnverletzten altersbedingte Abbauprozesse des Gehirns hinzutreten. Bei den chronischen hirnorganischen Störungen sind monokausale Betrachtungen dann ebenfalls unzulässig. Neben differenzierten anamnestischen Erhebungen und testpsychologischen Untersuchungen des Leistungsprofils sind zumeist auch bildgebende Verfahren wie Computertomographie oder Kernspintomographie erforderlich, um eine Annäherung an die im täglichen Leben relevanten Ausfälle zu ermöglichen. Die vom Gericht geforderte individuelle Abwägung der komplexen, das Krankheitsgeschehen beeinflussenden Faktoren macht für den Gutachter eine sorgfältige Darstellung dieser Faktoren und ihrer wechselseitigen Beeinflussung notwendig. Anhaltspunkte zeigt . Tab. 18.2. Nur so kann auch der medizinische Laie die Schlussfolgerungen des Gutachters nachvollziehen und die Grenzen der Beurteilungsmöglichkeiten erkennen.
. Tab. 18.2. Aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit Hirnschäden mit psychiatrischen Störungen
Schwerbehindertengesetz – Soziales Entschädigungsrecht GdB/MdE
Leichte Störung (im Alltag sich gering auswirkend)
30–40
Mittelschwere Störung (im Alltag sich deutlich auswirkend)
50–60
Schwere Störung
70–100
Bewertung nach dem Zivilrecht Betreuung Bei chronischen hirnorganischen Störungen geht es in vielen Fällen um die Einrichtung einer Betreuung nach § 1896 BGB. Sie sollte als Hilfe dienen, wird aber oft als Makel und Beschneidung der eigenen Entscheidungsfreiheit empfunden. Betreuungen werden derzeit häufig erst sehr spät eingerichtet. Bei einer Betreuung, die ohne die Zustimmung des Betroffenen eingerichtet wird und einen Einwilligungsvorbehalt umfasst, sollte auch zur Geschäftsfähigkeit des Betroffenen Stellung genommen werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, wenn Vermögensangelegenheiten geregelt werden müssen und vorhandenes Vermögen zu verwalten ist.
Testierfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit Bei Probanden mit demenziellen Syndromen wird gelegentlich auch im Nachhinein gefragt, ob Testierfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit bei einem bestimmten Vertragsabschluss vorlag. Diese Frage kann auch aufgeworfen werden, wenn der Vertrag vor einem Notar geschlossen wurde. > Leichte kognitive Beeinträchtigungen in den Anfangsstadien einer Alzheimer-Erkrankung oder einer vaskulären Demenz führen nicht zur Geschäfts- oder Testierunfähigkeit. Lediglich wenn das Krankheitsbild durch einen Wahn kompliziert wird und sich dieser Wahn auf die Testamentserrichtung auswirkt, kann auch zu Beginn einer Demenz Testierunfähigkeit vorliegen.
In fortgeschrittenen Stadien, insbesondere im Spätstadium, in denen die meisten Probanden bereits in mehreren Bereichen desorientiert sind, muss auch Testierunfähigkeit angenommen werden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsbezogene Leistungseinschränkungen Eine Orientierungshilfe über den Zusammenhang von bei organischen Psychosen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen ist in . Tab. 18.3 dargestellt. Exkurs: Lucida intervalla
Momente geistiger Klarheit, die bei einem ansonsten dementen Probanden anlässlich von Vertragsabschlüssen berichtet werden, sind seit der römischen Rechtsentwicklung »lucida intervalla« in die Kommentierung und später in die forensisch-psychiatrische Literatur eingegangen. Geschäftsunfähigkeit wird in der Regel nur bei ausgeprägten demenziellen Syndromen angenommen. Zwar werden auch bei diesen Störungen Schwankungen des psychopathologischen Bildes gesehen, ein zwischenzeitlich auftretender, vernünftig erscheinender Wunsch eines Probanden, der sonst tagelang teilnahmslos im Bett liegt,
18
494
1
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
. Tab. 18.3. Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei organischen Psychosen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen Berufliche Anforderungen
2 3
Eigenverantwortliche Tätigkeit mit hohen Anforderungen oder hoher zwischenmenschlicher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzter Eigenverantwortlichkeit oder wenig zwischenmenschlicher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzten Entscheidungsbefugnissen ohne Eigenverantwortlichkeit oder kaum zwischenmenschlicher Kontakt
Ausmaß der Symptomatik
4
Geringgradig
Signifikante Einschränkung
Meist keine signifikante Einschränkung
Keine signifikante Einschränkung
5
Geringgradig + Komorbidität oder mäßiggradig
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
Signifikante Einschränkung
Mäßiggradig + Komorbidität oder schwergradig
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
bedeutet jedoch noch nicht, dass er jetzt wieder geschäftsfähig ist. Lediglich bei den auf Durchblutungsstörungen beruhenden Multiinfarktdemenzen kann es ausnahmsweise zu Besserungen kommen, die komplexere Abwägungen erlauben.
Fahrereignung Akute und chronische hirnorganische Störungen schließen die Fahrereignung aus, wenn die Störung über eine leichte Wesensänderung hinausgeht. Ausgeprägtere Störungen der Merkfähigkeit, der Konzentrationsfähigkeit, des Affektes, des Antriebs, der Übersicht und des Kritikvermögens beeinträchtigen Reaktion, psychomotorische Leistung und Belastungsfähigkeit und heben deswegen die Fahrereignung auf. Auch Verwirrtheitszustände (Delir), amnestische Syndrome, Dämmerzustände und organische Psychosen mit paranoider manischer oder depressiver Symptomatik bedingen Fahruntauglichkeit, solange noch Restsymptome der Psychose oder ein relevantes hirnorganisches Psychosyndrom vorliegen. Bei vorübergehenden hirnorganischen Störungen empfehlen sich Nachuntersuchungen in jährlichem Abstand. Fortgeschrittene demenzielle Syndrome heben ebenfalls die Fahrereignung auf. Bei der Untersuchung ist in den meisten Fällen eine psychologische Leistungsuntersuchung erforderlich, um das Ausmaß der Defizite quantitativ zu erfassen und ihre Auswirkungen auf die Fahrtauglichkeit abschätzen zu können.
Kommentar Ohne überzeugende Befunde sollte man älteren Menschen die Fahrereignung nicht absprechen, selbst wenn wegen des Alterungsvorgangs ein gewisser Leistungsabfall und eine geringere Reaktionsgeschwindigkeit zu erwarten sind. Diese Leistungseinbußen können von gesunden älteren Menschen jedoch lange durch Erfahrung und besondere Vorsicht kompensiert werden.
18.3
Suchterkrankungen (Störungen durch psychotrope Substanzen)
Die Begriffe Missbrauch, Abhängigkeit und Sucht sind im allgemeinen Sprachgebrauch unscharf und mehrdeutig. Zu den Störungen, die durch psychotrope Substanzen verursacht werden, rechnet man 5 die psychopathologischen Symptome bei einmaliger Einnahme – in der Regel in Form einer Berauschung, 5 die Folgen eines chronischen Missbrauchs – im Sinne einer Abhängigkeitsentwicklung und Persönlichkeitsveränderung – sowie 5 spezifische durch diese Stoffe ausgelöste psychotische Erscheinungsbilder. Besonderes Gewicht haben in der psychiatrischen Klinik und in der Begutachtung vor allem jene Stoffe, die häufig missbräuchlich verwendet werden, weil sie das Verlangen der Konsumenten nach erneuter Substanzzufuhr steigern und somit süchtiges Fehlverhalten auslösen.
495 18.3 Suchterkrankungen (Störungen durch psychotrope Substanzen)
18.3.1 Psychiatrische Terminologie
Abhängigkeit Abhängigkeit kann psychisch, physisch oder beides sein. Unter psychischer Abhängigkeit versteht man das kontinuierliche, gierige, schwer bezwingbare Verlangen nach einem bestimmten Stoff (»craving«). Bei Fehlen des Suchtmittels treten innere Unruhe, Angst und auch depressive Verstimmungen auf. Bei physischer Abhängigkeit kommen noch körperliche und vegetative Symptome hinzu. Sie sind je nach Substanz verschieden und äußern sich u. a. als Zittern, Frieren, Schwitzen, Tachykardie, Blutdruckveränderungen, Körperschmerzen, Durchfall, Erbrechen, Schwindel, Schlafstörungen. Rauschmittel oder Alkohol werden dann auch deswegen genommen, um diese Entzugserscheinungen zu verhindern. Im Laufe einer Abhängigkeitsentwicklung kann eine Toleranzbildung eintreten. Dies bedeutet, dass zunehmend größere Mengen des Suchtmittels zugeführt werden müssen, um die gleichen Effekte zu erzeugen. Der Toleranzbildung liegt zugrunde, dass es im Laufe der Zeit zu einem rascheren Abbau der Substanz durch Enzyminduktionen kommt oder dass sich der Körper an die chronische Substanzzufuhr und an eine gewisse Konzentration des Mittels adaptiert. Die Toleranzbildung führt zwangsläufig zur Dosissteigerung durch den Abhängigen.
Depravation Bei langer und ausgeprägter Abhängigkeit kommt es in vielen Fällen zu einer Persönlichkeitsveränderung, die man als Depravation bezeichnet. Darunter sind eine Nivellierung des Persönlichkeitsgefüges und ein Verlust individueller, persönlicher Akzente zu verstehen. Verbunden ist damit ein Abbau sozialer Verantwortung, Unzuverlässigkeit, ein nachlassendes Interesse an Bezugspersonen, eine Vernachlässigung der Körperpflege, eine Reduzierung intellektueller Leistungsbereitschaft und ein zunehmender Verlust an Kritik- und Urteilsfähigkeit. Es kommt zu einem psychischen und physischen Vitalitätsverlust, der als amotivationales Syndrom bezeichnet wird. Das amotivationale Syndrom ist charakterisiert durch die Trias Euphorie, Apathie und Passivität. Es tritt jedoch nicht nur bei Wesensänderungen im Rahmen einer Abhängigkeit, sondern auch bei chronischen Psychosen und bei hirnorganischen Psychosyndromen auf.
18.3.2 Alkohol – Missbrauch und Abhängigkeit
Folgeerkrankungen Chronischer Missbrauch von Alkohol hat eine Reihe von Folgen. Die häufigsten körperlicher Art sind Leberschädigungen, die wiederum eine Reihe weiterer Symptome und Störungen nach sich ziehen können. Oft finden sich Hautveränderungen, z. B. eine Atrophie von Haut und Schleim-
häuten, Spider-Nävi oder ein Palmarerythem. Hormonelle Störungen führen u. a. zum Nachlassen von Libido und Potenz und auch zu Veränderungen des geschlechtsspezifischen Behaarungstyps. Alkoholbedingte Vitaminresorptionsstörung und Mangelernährung tragen zu verschiedenen Krankheitsbildern bei. An zweiter Stelle folgen neurologische Ausfälle, die auf einer direkten neurotoxischen Wirkung des Alkohols oder seiner Abbauprodukte auf die Nervenzellen oder auf alkoholbedingten Vitaminmangelzuständen beruhen. Die Schäden treten häufig in Form einer Polyneuropathie auf, die sich zunächst in peripheren Sensibilitätsstörungen, in fortgeschrittenen Stadien aber auch in Lähmungen zeigen kann. Auch das Gehirn wird durch chronischen Alkoholmissbrauch geschädigt. Alkoholbedingte Hirnschädigungen stellen sich morphologisch als Hirnatrophie mit besonderer Betroffenheit des Kleinhirnwurmes und psychopathologisch als hirnorganisches Psychosyndrom dar. Sowohl die Atrophie als auch das hirnorganische Psychosyndrom haben bei anhaltender Abstinenz meist eine relativ gute Rückbildungstendenz. Eine sehr seltene, aber dramatische Hirnschädigung ist die Wernicke-Enzephalopathie. Sie ist durch Ataxie, Augenmuskellähmung (meist VI. Hirnnerv), Nystagmus und Verwirrtheit gekennzeichnet. Sie wird auf einen Thiaminmangel zurückgeführt und kann in den Anfangsstadien durch hohe Thiamingaben behandelt werden. Unbehandelt geht sie in ein chronisches Korsakow-Syndrom über (s. unten). Darüber hinaus kann chronischer Alkoholmissbrauch auch zur Schädigung anderer Organe und Organsysteme führen; häufig sind Magen und Bauchspeicheldrüse, gelegentlich auch das Herz (alkoholische Kardiomyopathie) betroffen. Die psychischen Folgen chronischen Alkoholmissbrauchs bestehen vorwiegend in einer Persönlichkeitsänderung. Auch die intellektuellen Einbußen, die als Folge der generellen Hirnschädigung aufzufassen sind, sind relativ unspezifisch und werden auch bei chronischem Missbrauch von Barbituraten und als Folge anderer unspezifischer Hirnschäden gesehen. Als relativ spezifische psychische Folgen chronischen Alkoholmissbrauchs müssen die Alkoholhalluzinose, der alkoholbedingte Eifersuchtswahn und das Korsakow-Syndrom angesehen werden. Die Alkoholhalluzinose ist eine seltene organische Psychose, bei der lebhafte, meist akustische, seltener optische Halluzinationen und gelegentlich Wahnideen auftreten, die ansonsten aber weder Affekt- noch Denkstörungen aufweist. Orientierung, Bewusstsein und Gedächtnis bleiben unbeeinträchtigt. Der Verlauf ist relativ eng mit dem Alkoholkonsum verbunden. Die Symptome verschwinden bei Abstinenz meist innerhalb von Wochen. Ausnahmsweise sind jedoch auch langjährige Verläufe zu beobachten.
18
496
1 2 3 4
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
Ungerechtfertigte Eifersucht ist bei Alkoholikern ein relativ häufig beobachtbares Phänomen. Sie kann von übertriebenem Misstrauen, welches durch Gegenüberzeugungen korrigierbar bleibt, bis zu chronischen, auch den Missbrauch lange überdauernden Wahnvorstellungen reichen. Die Eifersuchtsideen erreichen dabei oft groteske Züge. Das Korsakow-Syndrom ist durch Desorientiertheit, Merkfähigkeitsstörungen und Neigung zu Konfabulationen charakterisiert.
Alkoholabhängigkeit
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Alkoholabhängigkeit ist die häufigste aller Abhängigkeitsformen. Die Grenzziehung zwischen chronischem Missbrauch und Abhängigkeit ist bei legalen Drogen wie Alkohol noch schwerer zu ziehen als bei illegalen Drogen. Alkoholismus kommt familiär gehäuft vor. Darüber hinaus besteht für Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen ein erhöhtes Risiko, alkoholabhängig zu werden. Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit werden auch häufig in Kombination mit anderen psychischen Störungen gesehen. In den meisten Fällen führt die chronische Alkoholzufuhr zu einer Akzentuierung der prämorbid oder gleichzeitig bestehenden psychischen Störung. Die Komorbidität behindert meist die therapeutischen Bemühungen. Entzugserscheinungen, die nach Absetzen, aber auch nach Reduktion des Alkoholkonsums auftreten, bestehen vorwiegend in vegetativen und psychischen Symptomen. Dramatisch und unter Umständen lebensgefährlich können Entzugskrämpfe und ein Alkoholentzugsdelir werden. Bei den vegetativen Symptomen stehen Übelkeit, Erbrechen, Zittern, Schwitzen, Tachykardie, Blutdruckerhöhung, Schlaf- und Appetitlosigkeit, bei den psychischen Symptomen Angst und Reizbarkeit, Schwächegefühl und Unwohlsein, gelegentlich auch Depressionen, illusionäre Verkennungen oder kurz dauernde Halluzinationen im Vordergrund.
Bewertung nach dem Sozialrecht
15 16 17 18 19 20
Die alkoholbedingten körperlichen Schäden haben häufig sozialrechtliche Konsequenzen, weil sie zu Arbeitsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit führen können. Alkoholabhängigkeit spielt in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Frage nach Berufs- oder Dienstunfähigkeit eine große Rolle. Bei Intoxikationen, beim Auftreten von psychiatrischen oder somatischen Komplikationen und bei stationären Entwöhnungsbehandlungen liegt Arbeitsunfähigkeit vor. Von Einzelfällen abgesehen, spielt die Alkoholabhängigkeit als Folge eines Unfalls für Gutachten zur gesetzlichen Unfallversicherung kaum eine Rolle. Wenn allerdings in engem zeitlichem Abstand zum Unfallgeschehen eine Suchtentwicklung beginnt, kann dem Unfall ge-
legentlich die Bedeutung einer wesentlichen Mitverursachung zukommen. Häufiger ist zu entscheiden, ob organische Folgen auf einen Unfall oder auf eine vorbestehende Alkoholabhängigkeit zurückzuführen sind. Eine exakte Differenzierung ist oft auch durch eine genaue chronologische Anamneseerhebung kaum möglich, da die Symptomatik der Erkrankungen selbst große Überlappungsbereiche aufweist. Im sozialen Entschädigungsrecht hat die Alkoholabhängigkeit wenig Bedeutung. Nach dem Schwerbehindertengesetz richtet sich die GdB/MdE-Bewertung in den meisten Fällen nach dem Ausmaß des Organschadens (z. B. der Polyneuropathie). Bei nachgewiesener Abhängigkeit mit Kontrollverlust und erheblicher Einschränkung der Willensfreiheit ist der Gesamt GdB/MdE-Grad aufgrund der Folgen des chronischen Alkoholkonsums nicht niedriger als 50 zu bewerten. > Die Abhängigkeit gilt erst als nachgewiesen, wenn eine sachgerechte Entziehungsbehandlung durchgeführt wurde. Nach wiederholter Entziehungsbehandlung ist eine 2-jährige Heilbewährung abzuwarten.
Während dieser Zeit ist der GdB mindestens mit 30 anzunehmen (www.anhaltspunkte.vsbinfo.de/ 2006). Eine detailliertere Aufgliederung, auch in Abhängigkeit von den jeweiligen beruflichen oder sozialen Anforderungen, ist bei Abhängigkeitsstörungen nicht sinnvoll, weil die dauerhafte Leistungsbeeinträchtigung nicht von der Abhängigkeit, sondern allenfalls von deren Folgekrankheiten bestimmt wird.
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Grundsätzlich sollten bei Abhängigkeitserkrankungen Rehabilitationsmaßnahmen im Vordergrund stehen, die Begutachtung kann zur Motivationsbildung beitragen. Berentungen verringern die Therapiechancen und die Rehabilitationsmöglichkeiten. Erst wenn irreversible organische Folgen eine Erwerbstätigkeit dauerhaft verhindern, ist eine zur Berentung führende Leistungseinbuße anzunehmen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass viele organische Folgeschäden bei Abstinenz eine gute Rückbildungstendenz haben.
Bewertung nach dem Zivilrecht Im Zivilrecht reicht die Diagnose Alkoholismus allein nicht aus, um forensische Konsequenzen nach sich zu ziehen: Die Diagnose allein rechtfertigt weder eine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen noch eine Unterbringung nach den Landesgesetzen. Erst wenn durch den chronischen Alkoholmissbrauch psychische Folgeschäden eingetreten sind, welche die Notwendigkeit einer Betreuung nahe legen, kann diese ohne Zustimmung des Betroffenen eingerichtet werden. Die psychischen Folgeschä-
497 18.3 Suchterkrankungen (Störungen durch psychotrope Substanzen)
den können auch bei Selbst- oder Fremdgefährdung Anlass für eine geschlossene Unterbringung gegen den Willen des Probanden sein. Bei Komorbidität mit anderen ernsthaften Störungen kann der Alkoholmissbrauch ein Faktor sein, der zivilrechtliche Maßnahmen wegen der psychischen Störung rechtfertigt. Beispielsweise kann eine Betreuung oder gar eine Unterbringung möglicherweise gerechtfertigt sein, wenn ein Patient mit einer schwereren depressiven Störung durch wiederholten Alkoholmissbrauch öfter in suizidale Krisen gerät.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Fahrereignung Alkoholabhängigkeit und chronischer Alkoholmissbrauch heben die Fahrereignung auf. Bei der Beurteilung alkoholgewöhnter oder -abhängiger Menschen ergeben sich Schwierigkeiten, weil der Nachweis des Missbrauchs nicht immer leicht und die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Alkoholkonsum relativ groß ist. Die Grenze zwischen gesellschaftlichem Konsum und Missbrauch ist breit und im Einzelfall schwer zu ziehen. Zur Begutachtung kommen meist Menschen, die durch Trunkenheitsfahrten aufgefallen sind. Häufig bagatellisieren die Betroffenen ihren Alkoholkonsum und ihre Trinkgewohnheiten. Hohe Blutalkoholkonzentrationen bei relativ geringen psychischen oder neurologischen Ausfällen sprechen meist für eine längerfristige Gewöhnung an Alkohol.
Kommentar Eine unkritische Einstellung gegenüber dem Alkoholkonsum und den damit verbundenen Risiken im Straßenverkehr legt eine fehlende Fahrereignung nahe.
Die Betroffenen benötigen zwar keine Entwöhnungstherapie, eine Einstellungsänderung ist dennoch erforderlich. Wiedererlangung der Fahrereignung. Schulungen, die
von den medizinisch-psychologischen Untersuchungsstellen angeboten werden, können Menschen, die sich wegen Alkoholmissbrauchs als ungeeignet zum Fahren eines Kfz erwiesen haben, eine Änderung ihres Trinkverhaltens nahe legen. Gelingt eine solche Einstellungsänderung, können sie auch wieder Fahrereignung erlangen. Bei wiederholten Trunkenheitsfahrten ist von Menschen, die Alkohol missbräuchlich konsumieren, eine mindestens einjährige absolute Enthaltsamkeit zu fordern, bevor sie die Fahrerlaubnis wiedererlangen können. Bei Alkoholabhängigen sind Entwöhnungstherapien und absolute Enthaltsamkeit erforderlich. Bei ihnen kann die Fahrereignung erst wieder bestätigt werden, wenn sie nachgewiesenermaßen ein Jahr enthaltsam gelebt haben
und darüber hinaus keine chronische, alkoholisch bedingte Wesensänderung festgestellt wird. Die Enthaltsamkeit sollte auch durch Labordiagnostik (v. a. Messung der γ-GT und des CDT), die von zertifizierten Labors durchgeführt werden müssen, bestätigt werden. Zur Überprüfung der »stabilen Abstinenz« nach Führerscheinentzug schlägt Stärk (2001) die in der Übersicht dargestellten Bedingungen vor.
Kriterien zur Überprüfung der »stabilen Abstinenz« nach Führerscheinentzug (Stärk 2001) 5 Erfolgreicher Abschluss einer stationären Entwöhnungstherapie 5 Nachweis einer völligen Abstinenz über ein Jahr hinweg 5 Rationale Akzeptanz der Abhängigkeit 5 Emotionale Akzeptanz der Abhängigkeit 5 Soziale Reintegration und entsprechende Verhaltensänderung 5 Regelmäßige Nachsorge (z. B. Selbsthilfegruppe)
18.3.3 Andere Suchtstoffe
Bewertung nach dem Sozialrecht Für Gutachten zur Arbeitsunfähigkeit, Berentung und nach dem Schwerbehindertengesetz gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Alkoholabhängigkeit. Die dauerhafte Leistungsbeeinträchtigung wird nicht von der Abhängigkeit, sondern von deren Folgekrankheiten bestimmt. Nach den Anhaltspunkten (VSBinfo.de 2006) ist bei nachgewiesener körperlicher und/oder psychischer Abhängigkeit mit psychischen Veränderungen und sozialen Einordnungsschwierigkeiten ein GdB/MdE von mindestens 50 anzunehmen, wobei das Ausmaß des GdB/MdE von den psychischen Veränderungen und den sozialen Anpassungsschwierigkeiten abhängt. Nach einer Entziehungsbehandlung muss eine Heilbewährung von ca. 2 Jahren abgewartet werden. Während dieser Zeit wird ein GdB/MdE von 30 angenommen. Die Behandlung von Abhängigen wird von den öffentlichen Krankenkassen, die Rehabilitationen von den Rentenversicherungsträgern getragen. Private Krankenkassen schließen Entzugstherapien von Abhängigen meist aus. Da die Therapie meist ein Rehabilitationsverfahren ist, kommt als vorrangiger Kostenträger in der Regel die Rentenversicherung in Betracht. Kriterien für die Gewährung von Leistungen sind die Erwartung des Behandlungserfolgs, die Motivation des Betroffenen, seine soziale Situation und die bisherige Entwicklung des Suchtverhaltens. Im Gegensatz zum Alkoholismus kann eine Opiatabhängigkeit gelegentlich die Folge einer Schmerzbehandlung bei Unfallgeschädigten sein. Insofern kann bei en-
18
498
1 2 3
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
gem zeitlichem Zusammenhang und bei Nachweis einer ärztlichen Verordnung im Anschluss an einen Arbeitsunfall auch die Abhängigkeit als Unfallfolge anerkannt werden, wenn es sich um eine Abhängigkeit von der gleichen Substanzgruppe handelt. Unter den gleichen Bedingungen ist auch eine Anerkennung nach dem sozialen Entschädigungsrecht denkbar.
Auffälligkeiten, z. B. ein Abklingen der Persönlichkeitsdepravation und eine Einstellungsänderung, zu fordern. Bei Methadon-Substitutionsbehandlung kann gelegentlich die Fahrerlaubnis wiedererlangt werden, wenn die Therapie ein Jahr lang durchgeführt worden ist, eine stabile soziale Integration vorliegt und über ein Jahr ein Beigebrauch anderer Substanzen durch Kontrollen ausgeschlossen wurde.
Bewertung nach dem Zivilrecht
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Eine Betreuung gegen den Willen eines Abhängigen wird in der Regel nicht einzurichten sein, weil die Geschäftsfähigkeit – wenn überhaupt – bei Abhängigen in der Regel nur vorübergehend aufgehoben und die meiste Zeit auch eine Verständigung über den Sinn einer Betreuung möglich ist. Auch eine Unterbringung nach landesrechtlichen Vorschriften stößt auf gewisse zeitliche Grenzen. Suizidalität bei Abhängigen kann zwar zu einer Einweisung führen, die psychischen Beeinträchtigungen sind aber nach Abklingen der akuten Intoxikation oder des Entzugs oft nicht mehr so gravierend, dass eine weitere Unterbringung gerechtfertigt wäre. Betreuung oder Unterbringung sollten deshalb vorwiegend zur Motivierung für eine freiwillige Entzugsbehandlung genutzt werden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Fahrereignung Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz et al. 2000) führen aus, dass bei Abhängigkeit und Missbrauch von Substanzen, die unter das BtMG fallen, ebenso bei Abhängigkeit oder schädlichem Gebrauch von Tranquilizern oder Psychostimulanzien die Fahrereignung fehlt. Bei regelmäßiger Einnahme psychotroper Substanzen in so großer Menge, dass dadurch die Fahrtüchtigkeit leidet, besteht keine Fahrtauglichkeit. Gelegentlicher Konsum von Cannabis führt dagegen nicht zur Aufhebung der Fahrereignung, wenn der Betroffene Konsum und Fahren trennen kann und weitere Störungen, z. B. durch andere Drogen oder durch Auffälligkeiten der Persönlichkeit, fehlen. Der Nachweis von illegalen Suchtmitteln beim Lenker eines Kfz kann dann zu einem vorübergehenden Fahrverbot und zur Überprüfung, ob Abhängigkeit vorliegt, führen, wenn gleichzeitig psychopathologische Auffälligkeiten bestehen. Wiedererlangung der Fahrereignung. Bei nachgewiesener Abhängigkeit oder bei chronischem Missbrauch, bei Depravation und bei toxisch-neurologischen Folgeschäden kann die Fahrereignung erst dann wieder angenommen werden, wenn die Symptomatik abgeklungen ist und nach einer Entwöhnungsbehandlung eine mindestens einjährige Abstinenz nachgewiesen wird. Dies gelingt durch unregelmäßige Urinkontrollen und bei einer Reihe von Substanzen (z. B. Cannabis, Kokain, Morphinderivate) durch toxikologische Analyse der Kopfhaare. Darüber hinaus ist auch eine Änderung der psychopathologischen
Kommentar Untersuchungen am Fahrsimulator zeigen bei vielen Methadon-Substituierten Beeinträchtigungen der psychomotorischen Leistungsfähigkeit, sodass eine genaue Überprüfung der Fahrtauglichkeit erfolgen muss.
18.4
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
Unter diesem diagnostischen Begriff ist eine Gruppe von Störungen zusammengefasst, die sich durch Veränderungen des Denkens und der Wahrnehmung, durch Affekt- und Antriebsstörungen, durch Ich-Störungen und durch einen Verlust der sozialen Kompetenz auszeichnen. Charakteristischerweise verlaufen Schizophrenien schubförmig. Klare Gesetzmäßigkeiten des Verlaufs lassen sich kaum ableiten. > Als Faustregel kann gelten, dass ein Drittel der Erkrankungen nach einer Episode ohne weitreichende Folgen ausheilt, ein weiteres Drittel einen Verlauf mit wechselhaften Schüben nimmt und das verbleibende Drittel in einen chronischen Verlauf übergeht und oft eine Dauerbehandlung und -betreuung erforderlich macht. Allerdings bleiben weniger als 10% völlig symptomfrei und können ihr Leben gänzlich unbeeinträchtigt fortsetzen.
Die Prognose ist vom psychopathologisch definierten Untertyp und einer Reihe anderer Faktoren abhängig. Die ungünstigen Faktoren zeigt die Übersicht.
Prognostisch ungünstigen Faktoren für Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen 5 früher und schleichender Beginn 5 Fehlen von auslösenden Faktoren 5 schlechte soziale Anpassung vor Beginn der Erkrankung 6
499 18.4 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Sozialer Rückzug Autismus Wenig differenzierte Symptomatik Zerebrale Vorschädigung Fehlen eines festen Lebenspartners Schizophrenie bei Verwandten Bisheriger chronischer Verlauf Lange Hospitalisierungsdauer Negativsymptome Mangel an sozialer Unterstützung
Der Verlauf ist bei Männern meist ungünstiger als bei Frauen. Psychotische Symptome können bei Menschen mit einer besonderen Vulnerabilität auch als Reaktion auf außergewöhnliche Belastungen auftreten. Ein Zusammenhang zwischen Belastung und Störung kann jedoch nur angenommen werden, wenn die Symptomatik innerhalb von 14 Tagen nach dem belastenden Ereignis beginnt und das Ereignis von einem Ausmaß ist, dass es für die meisten Menschen eine massive Überforderung darstellen würde. Die Schizophrenie spielt sowohl bei der zivilrechtlichen Begutachtung wie bei sozialrechtlichen Fragestellungen eine große Rolle. Diese Diagnose wird häufig fälschlicherweise als Paradigma für Geschäftsunfähigkeit, Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit angesehen.
Kommentar Die sehr unterschiedlichen Krankheitsverläufe und die sehr variable Ausprägung der Symptomatik verbieten jedoch auch bei dieser Diagnose eine pauschalierende Aussage, sie fordern vielmehr eine individuelle Beurteilung, die je nach Verlauf und Ausprägung der Symptomatik, aber auch nach den Erfordernissen der gesetzlichen Fragestellung sehr unterschiedlich ausfallen kann.
Ein Schizophrener kann sehr wohl im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte sein und auch im sozialrechtlichen Sinn die von ihm geforderten Leistungen erbringen. Es ist immer auf die individuelle Symptomatik abzuheben und der konkrete Bezug dieser Symptomatik zu der rechtlich relevanten Frage herzustellen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit schizophrener Probanden kann nicht generell erfolgen. In der Regel führen Negativsymptome, wie Antriebsdefizite und mangelndes Durchhaltevermögen, zu einer massiven und dauerhaften Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit, während akute und floride Symptome, wie ein Wahn
oder Halluzinationen, eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit bedingen. Arbeitsfähigkeit besteht erst wieder, wenn weder eine floride Symptomatik noch eine depressive Nachschwankung noch ein schwererer Residualzustand vorliegen. Auch bei Schizophrenen sollte eine Berentung erst erwogen werden, wenn alle Therapie- und Rehabilitationsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Bei der Begutachtung sind die konkreten krankheitsbedingten Leistungseinbußen zu erfassen; es ist zu begründen, warum diese dauerhafte Erwerbsunfähigkeit bedingen. Problematisch ist die Beurteilung der Berufsfähigkeit bei hochqualifizierten Erwerbstätigen, deren Beruf Übersichtsfähigkeit und ein hohes Maß an Eigenverantwortung erfordert. > Die Diagnose allein reicht bei hochqualifizierten Erwerbstätigen oft aus, um z. B. beamtenrechtliche Dienstunfähigkeit oder ein Ruhen der ärztlichen Approbation zu begründen.
Eine Schizophrenie kann nach derzeitigem Wissen nicht Folge eines Unfalls sein, sodass diese Frage bei Gutachten für die gesetzliche Unfallversicherung kaum zu bejahen ist. Dies gilt auch für private Unfallversicherungen. Nach dem sozialen Entschädigungsrecht kann eine Schizophrenie als Schädigungsfolge in Ausnahmefällen unter folgenden Bedingungen anerkannt werden (Kann-Versorgung; VSBinfo.de 2006): wenn Schädigungsfaktoren als tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psychosoziale Belastungen vorgelegen haben, die entweder längere Zeit angedauert haben oder zeitlich zwar nur kurzfristig wirksam, aber so schwer waren, dass ihre Folgen eine über längere Zeit anhaltende Wirkung auf das Persönlichkeitsgefüge gehabt haben, und wenn die Erkrankung in enger zeitlicher Verbindung (bis zu mehreren Wochen) mit diesen Belastungen begonnen hat. Bei episodischem Verlauf der schizophrenen Psychose gilt dies nur für die der Belastung folgende Episode. Nach dem Schwerbehindertengesetz werden lang dauernde (über ein halbes Jahr anhaltende) floride Schizophrenien mit einem GdB/MdE von 50–100 bewertet, Residualstörungen je nach Ausmaß der sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdB/Mde zwischen 0 und 100 (. Tab. 18.4).
Bewertung nach dem Zivilrecht Die Diagnose Schizophrenie allein reicht nicht aus, um Geschäfts- oder Testierunfähigkeit zu begründen. Geschäftsunfähigkeit muss aber angenommen werden, wenn krankheitsbedingte Realitätsverkennungen die Entscheidungen des Betroffenen maßgeblich beeinflusst haben, aber auch wenn Ambivalenz und Antriebsstörungen ihn daran gehindert haben, seine Rechte wahrzunehmen. Sieht man von den Alterserkrankungen ab, so werden Betreuungen am häufigsten bei Schizophrenen eingerich-
18
500
1
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
. Tab. 18.4. Aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit Schizophrene Psychosen
Schwerbehindertengesetz – Soziales Entschädigungsrecht GdB/MdE
Mit geringen und einzelnen Restsymptomen ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten
10–20
Mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten
30–40
5
Mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten
50–70
6
Mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten
80–100
2 3 4
7 8 9 10 11 12 13
tet. Wesentlich häufiger als bei anderen Störungen gehört auch die Gesundheitsfürsorge zu den Aufgaben des Betreuers. Rechtliche Maßnahmen gegen den Willen der Probanden sollten nur das letzte Mittel sein, um Schaden von ih-
nen abzuwenden. Unter geschlossenen Bedingungen, wo objektiv kaum Nachteile aus einer Betreuung erwachsen, sollte bei notwendigen Behandlungen schizophrener Probanden gegen deren Willen immer eine Betreuung oder ein Gerichtsbeschluss angestrebt werden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsbezogene Leistungseinschränkungen Eine Orientierungshilfe über den Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei Schizophrenien in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen ist in . Tab. 18.5 dargestellt.
Fahrereignung Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz et al. 2000) hat sich die Beurteilung der Fahrereignung schizophrener Psychosen von allgemeinen Anwendungsschemata noch weiter in Richtung einer individuellen Betrachtung gewandelt. Die Fahrereignung ist dann ausgeschlossen, wenn schwere psychotische Krankheitserscheinungen vorliegen. Nach dem Abklingen der Symptomatik einer ersten schweren Episode kann die Fahrerlaubnis wiedererlangt werden, wenn keine Störungen mehr nachweisbar sind, die das Realitätsurteil beeinträchtigen. Bei wiederholten Schüben sind im Hinblick auf mögliche Wiedererkrankungen die Untersuchungen durch einen Facharzt für Psychiatrie in festzulegenden Abständen zu wiederholen. Die in früheren Auflagen des Gutachtens »Krankheit und Kraftverkehr« genannten Fristen bis zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach einem abgelaufenen Schub findet keine Anwendung mehr. Bei Einleitung einer neuroleptischen Behandlung oder bei Medikamentenwechsel muss der Arzt die Probanden auf die dadurch bedingten Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit hinweisen. Die Probanden müssen in den ersten 2–3 Wochen nach einer Umstellung oder Neueinstellung auf das Autofahren verzichten. Eine Dauerbehandlung mit Neuroleptika führt nach den derzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnissen nicht zu einer Zunahme des Unfallrisikos. Sie schließt eine Wiedererlangung der Fahrerlaubnis nicht aus. Der Führerschein für die Gruppe 2 (Fahrzeuge über 3,5 t mit Anhänger über 750 kg) kann nach dem Abklingen schizophrener Psychosen nur in außergewöhnlich günstigen Verläufen wiedererlangt werden.
14 15
. Tab. 18.5. Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei organischen Psychosen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen Berufliche Anforderungen
16
Eigenverantwortliche Tätigkeit mit hohen Anforderungen oder hoher zwischenmensch-licher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzter Eigenverantwortlichkeit oder wenig zwischenmenschlicher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzten Entscheidungsbefugnissen ohne Eigenverantwortlichkeit oder kaum zwischenmenschlicher Kontakt
17 Ausmaß der Symptomatik
18
Geringgradig
Vollständige Einschränkung
Signifikante Einschränkung
Meist signifikante Einschränkung
19
Geringgradig + Komorbidität oder mäßiggradig
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
Mäßiggradig + Komorbidität oder schwergradig
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
20
501 18.5 Affektive Störungen
18.5
Affektive Störungen
Diese Störungen sind durch Stimmungsänderungen gekennzeichnet, die häufig depressiv, bei vielen Kranken im Wechsel manisch und depressiv und bei einigen (5–10%) ausschließlich manisch geprägt sind. In einer manischen Episode ist die Stimmung gehoben, der Antrieb und die Aktivität sind gesteigert; die Stimmung schwankt zwischen sorgloser Heiterkeit und unkontrollierbarer Erregung. Manische Episoden beginnen meist abrupt und dauern unterschiedlich lang, in aller Regel zwischen 2 Wochen und 5 Monaten. Manien können auch mit Wahn und Realitätsverkennungen einhergehen. Eine depressive Episode ist durch gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und Antriebsminderung gekennzeichnet. Die Betroffenen sind leichter ermüdbar; sie können sich schlechter konzentrieren; ihr Selbstwertgefühl ist vermindert; sie leiden unter Schuldgefühlen, Suizidgedanken, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Libidoverlust. ICD-10. Freudlosigkeit und Interessenverlust, fehlende
emotionale Reagibilität, vorzeitiges morgendliches Erwachen, Morgentief und ausgeprägtere vitale Störungen wie Appetit-, Verdauungs- und Libidostörungen werden in der ICD-10 als sog. somatische Symptome bezeichnet. Sie sind charakteristisch für eine endogene Depression herkömmlicher Klassifikation. Die ICD-10 unterteilt die depressive Episode in die Schweregrade 5 leicht (4 Merkmale des Kriterienkatalogs), 5 mittelgradig (5–6 Merkmale) und 5 schwer (≥7 Merkmale). Treten zwei oder mehrere depressive Episoden nacheinander auf, ohne dass eine manische Episode dazwischen lag, so wird das Krankheitsbild als rezidivierende depressive Störung bezeichnet. Chronische depressive Verstimmungen werden Dysthymia genannt. Es besteht eine gewisse Analogie zu der herkömmlichen Diagnose einer depressiven Neurose oder neurotischen Depression. Obwohl die Betroffenen an ihrer Freudlosigkeit leiden und sich meist überanstrengt fühlen, können sie in der Regel den wesentlichen Aufgaben des Alltagslebens und der Erwerbstätigkeit nachkommen.
Bewertung nach dem Sozialrecht In aller Regel führen ausgeprägte manische und depressive Episoden dazu, dass die berufliche und soziale Funktionsfähigkeit mehr oder weniger vollständig unterbrochen wird. Während akuter depressiver und manischer Phasen besteht Arbeitsunfähigkeit, die sowohl durch die affektive Symptomatik – v. a. bei erstmalig Behandelten – als auch durch die notwendige Medikation bedingt ist. Nach Abklingen der floriden Symptome sollten 1–2 Wochen vergehen, bis wieder von einer Arbeitsfähigkeit ausgegan-
gen werden kann, zumal es häufiger zu affektiven Nachschwankungen kommt und Überlastung und Überforderungsgefühle leicht zu einem Wiederauftreten von Minderwertigkeits- und Schuldgefühlen führen können. Treten häufige und in seltenen Fällen auch therapieresistente, manische und/oder depressive Episoden auf, so muss mit längerfristiger Minderung der Erwerbsfähigkeit, in vielen Fällen auch mit vollständiger Erwerbsminderung gerechnet werden. Gerade bei depressiven Episoden erscheint es therapeutisch jedoch sinnvoll, eine vorzeitige Invalidisierung zu verhindern, da sie das beeinträchtigte Selbstwertgefühl der Probanden weiter unterminieren würde. Bei diesen Probanden kann eventuell an eine Berentung auf Zeit gedacht werden. Bei Gutachten im Rahmen der Unfallversicherungen oder des sozialen Entschädigungsrechts wird gelegentlich gefragt, ob eine affektive Psychose auf traumatische oder andere schwerwiegende Belastungen, wie z. B. eine Berufskrankheit, zurückzuführen sei. Nach der derzeit herrschenden Meinung können zwar einzelne Phasen der Erkrankung durch Belastungen ausgelöst oder in ihrer Symptomatik geformt und verstärkt werden. Für den weiteren phasenhaften Verlauf der Erkrankung oder das Wiederauftreten einer Phase nach längerer Remission ist jedoch kaum die ursprüngliche Traumatisierung als wesentlicher Kausalitätsfaktor in Betracht zu ziehen. Nach dem Schwerbehindertengesetz führen floride Episoden, die länger als 6 Monate anhalten, je nach Ausprägung zu einem GdB/MdE von 60–100. Wiederholen sich kürzere Episoden innerhalb überschaubarer Zeiträume, so wird bei 1–2 Phasen im Jahr ein GdB/MdE von 30– 50 angenommen, bei häufigeren Phasen ein GdB/MdE von 60 und mehr (. Tab. 18.6).
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation Heilbewährung. Nach dem Abklingen der affektiven Epi-
soden wird eine Heilbewährung von 2 Jahren eingeräumt, während der nach langen oder häufigeren Episoden ein GdB/MdE von 50 angenommen wird, auch wenn keine neue Verstimmung auftritt. Bei kürzeren und seltenen
. Tab. 18.6. Aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit Affektive Psychosen
Schwerbehindertengesetz – Soziales Entschädigungsrecht GdB/MdE
Mit kurzdauernden, aber häufig wiederkehrenden Phasen 1–2 mehrwöchige Phasen pro Jahr
30–50
Häufigere mehrwöchige Phasen pro Jahr
60–100
18
502
1
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
. Tab. 18.7. Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei affektiven Störungen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen Berufliche Anforderungen
2 3
Eigenverantwortliche Tätigkeit mit hohen Anforderungen oder hoher zwischenmensch-licher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzter Eigenverantwortlichkeit oder wenig zwischenmenschlicher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzten Entscheidungsbefugnissen ohne Eigenverantwortlichkeit oder kaum zwischenmenschlicher Kontakt
Ausmaß der Symptomatik
4
Geringgradig
Meist keine signifikante Einschränkung
Keine signifikante Einschränkung
Keine signifikante Einschränkung
5
Geringgradig + Komorbidität oder mäßiggradig
Signifikante Einschränkung
Meiste keine signifikante Einschränkung
Meist keine signifikante Einschränkung
Mäßiggradig + Komorbidität oder schwergradig
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
Vollständige Einschränkung
6 7 8 9
Episoden beträgt der GdB/MdE während der Heilbewährung 30. Diese Heilbewährung braucht nicht abgewartet zu werden, wenn eine monopolar verlaufene depressive Phase vorgelegen hat, die als erste Krankheitsphase oder erst mehr als 10 Jahre nach einer früheren Krankheitsphase aufgetreten ist.
Bewertung nach dem Zivilrecht
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Bei den meisten Probanden liegen während einer affektiven Episode die Voraussetzungen für eine Betreuung vor, wenngleich es aus therapeutisch-ärztlicher Sicht verfehlt wäre, alle Probanden während einer depressiven oder manischen Phase unter Betreuung zu stellen. Durch eine solche Maßnahme würde einerseits das Selbstwertgefühl eines Depressiven weiter unterminiert. > Depressive Patienten nehmen ärztlichen oder rechtlichen Rat meist an und halten sich an getroffene Vereinbarungen, sodass ein Eingreifen gegen ihren Willen nur selten erforderlich wird.
Dennoch entspringt ihre Einwilligung in die Behandlung, ihre Bereitschaft zur Kooperation und auch ihre Zustimmung zu Verträgen bei drängenden Verhandlungspartnern oft eher einer krankheitsbedingten, unkritischen Resignation als dem Willen, welcher ihrer Primärpersönlichkeit zu eigen war. Insbesondere bei Vorliegen eines depressiven Schuld- und Verarmungswahns muss davon ausgegangen werden, dass Geschäftsabschlüsse nicht der freien Willensbildung der Betroffenen entsprechen. Überschreibungen an bedrängende Angehörige, Kreditaufnahmen, um einem vermeintlichen Konkurs zu entgehen, Testamente, um vermeintliche Fehler wieder auszugleichen, sind keine allzu seltenen Handlungen, die auf die depressive Verstimmung zurückzuführen sind. Bei manischen Probanden sind Geschäftsabschlüsse aus krankhafter Selbstüberschätzung relativ häufig. Für die
forensische Beurteilung manischer Episoden ist es wichtig zu wissen, dass Probanden in der Lage sein können, ihre manische Symptomatik vorübergehend zu unterdrücken, weil sie noch genügend Kritikfähigkeit besitzen, um zu erkennen, dass Mitmenschen sie als gestört empfinden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsbezogene Leistungseinschränkungen Eine Orientierungshilfe über den Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei affektiven Störungen in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen ist in . Tab. 18.7 dargestellt.
Fahrereignung Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung gelten bei der Beurteilung der Fahrereignung für die schweren affektiven Störungen die gleichen Voraussetzungen wie bei den schizophrenen Störungen. Die Fahrereignung ist dann ausgeschlossen, wenn eine manische, depressiv-wahnhafte, depressiv stuporöse oder akut suizidale Symptomatik die für das Kraftfahren notwendigen psychischen Fähigkeiten herabsetzt. Nach Abklingen der akuten Symptomatik und weitgehend symptomfreiem Verlauf sind, sofern aufgrund von medikamentöser Behandlung mit einem Wiederauftreten der Symptomatik nicht gerechnet werden muss, die erforderlichen Fähigkeiten zum sicheren Führen eines KFZ in aller Regel wieder vorhanden. Die Erlaubnis für die Gruppe 2 kann nach mehreren schweren affektiven Episoden nicht mehr erlangt werden.
18.6
Neurosen, psychosomatische Störungen und Belastungsreaktionen
Neurotische Störungen werden durch die Vorteile, die sie für den Betroffenen bringen, chronifiziert: Von primärem
18
503 18.6 Neurosen, psychosomatische Störungen und Belastungsreaktionen
Krankheitsgewinn spricht man, wenn durch die neurotische Symptombildung die belastenden innerpsychischen Konflikte entschärft werden, von sekundärem Krankheitsgewinn, wenn dadurch von außen kommende Vorteile wie Mitleid, Fürsorge, Aufmerksamkeit oder Versorgung erreicht werden können. Von Belastungsreaktionen spricht man, wenn die Traumatisierung ausreichend massiv ist, um auch bei einer vorher unauffälligen Persönlichkeit eine länger anhaltende Symptomatik auslösen zu können. Neurosen zeichnen sich vorwiegend durch psychische Beeinträchtigungen wie Angst, Niedergeschlagenheit oder psychisch bedingte Körperstörungen aus, wogegen bei den psychosomatischen Störungen tatsächliche körperliche Symptome, wie z. B. Zwölffingerdarmgeschwüre oder Bluthochdruck, im Vordergrund stehen. > Im Sinne des deskriptiven Ansatzes der heutigen Klassifikationssysteme (7 Kap. 18.1.2) sind ätiologische Vorstellungen für die Diagnostik heute nicht mehr von Bedeutung, sondern eine sorgfältig erhobene Symptomatik.
18.6.1 Phobien und Angststörungen
handlungen das Bild. Sie werden vom Kranken als unsinnig erkannt, können aber häufig nicht oder nur unter Inkaufnahme von großen Angst- und Spannungszuständen unterbrochen werden. Die Prognose der Störung ist ungünstig. Bei schweren Verläufen sind Zwangskranke trotz Therapie nur in begrenztem Umfang in der Lage, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen. Schwerste Verläufe führen zu einer völligen Invalidisierung.
18.6.3 Belastungsreaktionen,
Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen Bei Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen ist zu unterscheiden zwischen 5 der akuten Belastungsreaktion, 5 der posttraumatischen Belastungsstörung und 5 den Anpassungsstörungen Denklogisch gehört in diese ätiologisch begründete Kategorie auch 5 die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung.
Eine Phobie ist durch eine von den Betroffenen durchaus als übermäßig und unsinnig erkannte Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen charakterisiert. Die Angst kann sich bis zur Panik steigern; sie ist von anderen Ängsten und ihren physiologischen Begleiterscheinungen nicht zu unterscheiden. Eine Phobie führt in aller Regel zu Vermeidungsverhalten und kann in ausgeprägten Fällen das Leben der Betroffenen massiv einschränken. Andere Angststörungen sind nicht auf bestimmte Situationen beschränkt, sondern zeichnen sich v. a. durch die physiologischen Angstsymptome wie Herzklopfen, Schwitzen, Zittern, Nervosität, Schwindelgefühle u. Ä. aus.
Der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS oder PTSD = »posttraumatic stress disorder«) und der Anpassungsstörung kommen im Entschädigungsrecht besondere Bedeutung zu. Voraussetzung für die Annahme einer solchen Störung sind überwältigende traumatische Erlebnisse wie Naturkatastrophen, Kriegsereignisse, Unfälle, Vergewaltigung, Verlust der sozialen Stellung oder des sozialen Bezugsrahmens durch den Tod mehrerer Angehöriger oder Ähnliches. Sie ist durch 3 Symptomenkomplexe gekennzeichnet (Übersicht).
> Eine Trennung zwischen Depression und Angststörung ist manchmal nur schwer möglich.
5 Intrusion – Wiederkehrende und sehr belastende Erinnerungen und Träume – Flashback-Erlebnisse – psychophysische Belastungen und Reaktionen bei Konfrontationen mit Hinweisreizen 5 Vermeidung – Gedanken, Gefühle, Aktivitäten und Situationen, die in Beziehung zu dem Trauma stehen, werden vermieden; Teilamnesie für das Trauma ist möglich – Apathie, Entfremdungsgefühl und affektive Einengung können vorkommen
Phobien und Angststörungen werden häufig durch Substanzmissbrauch kompliziert. Sowohl Alkohol als auch Beruhigungsmittel, meist Benzodiazepine, werden oft – teilweise auch iatrogen – zur Dämpfung der Symptomatik in übergroßen Mengen und langfristig eingenommen. Das Absetzen der Substanzen induziert häufig eine Zunahme der ursprünglichen Symptomatik.
18.6.2 Zwangsstörung
Bei einer Zwangsstörung prägen Zwangsgedanken, Zwangsbefürchtungen, Zwangsimpulse und Zwangs-
Symptomenkomplexe der posttraumatischen Belastungsstörung
6
504
1 2 3 4 5
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
5 Hyperarousal – Schlafstörungen – Reizbarkeit – Wutausbrüche – verstärkte Schreckreaktionen und Abwehrbereitschaft – Konzentrationsschwierigkeiten 5 Weitere Symptome – Depressionen – Isolation – Somatisierung – Dissoziation – Selbstverletzung – Substanzmissbrauch
6
Hypochondrie. Eine Hypochondrie ist gekennzeichnet
7 18.6.4 Dissoziative und Konversionsstörungen
8
Dissoziative und Konversionsstörungen gehören bei der
12
Begutachtung zu den schwierigsten Krankheitsbildern. Es handelt sich bei diesen Störungen um psychogene Reaktionen auf frühkindliche Traumatisierungen, auf akute oder chronische Konfliktsituationen. Auch die multiple Persönlichkeitsstörung wird zu den dissoziativen Störungen gerechnet und wurde daher auch im DSM IV-TR in »Dissoziative Identitätsstörung« umbenannt (300.14). Multiple Persönlichkeitsstörung en werden im deutschsprachigen Kulturraum bislang extrem selten diagnostiziert, haben aber in der Begutachtungspraxis in den USA eine gewisse Bedeutung.
13
18.6.5 Somatoforme Störungen,
9 10 11
14 15 16 17 18 19 20
hinzu. Bei diesen Probanden prägen die Beschwerden das Kommunikationsmuster in den Familien. Ärzte und Kliniken werden zu Mitakteuren bei der Inszenierung von oft chaotischen Krankengeschichten. Analgetika- und Tranquilizerverordnungen führen bei diesen Probanden leicht zum Missbrauch, und die ständige Wiederholung aufwändiger diagnostischer Untersuchungen trägt mit dazu bei, dass diese Probanden nicht oder nur sehr spät in psychosomatische und psychotherapeutische Behandlung kommen. Im Gegensatz zur hypochondrischen Störung liegt der Hauptakzent der Somatisierungsstörung auf der Darstellung wechselnder Symptome. Der Wunsch, ihre Ursache zu erforschen und zu beseitigen oder die Angst vor einer fortschreitenden, aufzehrenden Krankheit fehlen demgegenüber.
Somatisierungsstörungen, hypochondrische Störungen Somatoforme Störungen. Unter dem Begriff somatoforme Störungen wurden in der ICD-10 die Somatisierungsstörungen, die hypochondrische Störungen und die eigentlichen psychosomatischen Störungen zusammengefasst. Gemeinsam ist ihnen, dass von den Betroffenen körperliche Symptome geklagt und dargeboten werden, für die es aber keine adäquate organische Erklärung gibt. Die Probanden drängen in aller Regel auf Abhilfe und reagieren empfindlich, wenn die somatische Natur ihrer Leiden nicht nachgewiesen werden kann oder psychotherapeutische Hilfe empfohlen wird. Somatisierungsstörungen. Die Somatisierungsstörungen sind durch wechselnde körperliche Beschwerden, v. a. Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder Hautsensationen, gekennzeichnet. Häufig treten Depressionen und Angst
durch die Überzeugung, an einer ernsthaften körperlichen Erkrankung zu leiden. Trotz gegenteiliger Versicherung durch die immer wieder konsultierten Ärzte bestehen die Befürchtungen fort; sie führen zur ängstlichen Beobachtung des eigenen Körpers und zur alsbaldigen Entdeckung neuer Symptome der vermuteten Erkrankung.
Kommentar Vielfach wird diskutiert, ob hinter den Somatisierungsstörungen nicht wirklich Persönlichkeitsstörungen stehen. Der große Überlappungsbereich mit verschiedenen »vermeintlich spezifischen Syndromen« wie Fibromyalgie, chronischer Müdigkeit oder phobischem Schwankschwindel macht oft eine interdisziplinäre Abklärung erforderlich.
Begutachtung Die Begutachtung von Belastungsreaktionen ist deshalb schwierig, weil Trauer, Angst, sozialer Rückzug und vegetative Störungen, wie Schlaflosigkeit oder Appetitverlust, als physiologische Reaktionen bei den meisten schwereren Belastungen des normalen Lebens, wie Krankheit oder Tod von Angehörigen, Unfällen oder Ähnlichem, auftreten und als solche noch nicht als »Krankheit« oder »krankhafte Störung« gewertet werden können. Diese Reaktionen klingen in aller Regel nach mehreren Wochen ab. Wenn sie anhalten, obwohl das auslösende Trauma bei den meisten Menschen nicht zu einer längerfristigen Belastungsreaktion führen würde, muss geprüft werden, ob die Störung schon vor dem Trauma vorhanden war. Es bestehen oft Schwierigkeiten bei der gutachterlichen Einstellung, die zwischen übermäßigem Verständnis und sogar Schuldgefühlen auf Seiten des Gutachters und Ablehnung und Abgrenzung schwanken kann. Renten- und Entschädigungsverfahren stehen oft den thera-
505 18.6 Neurosen, psychosomatische Störungen und Belastungsreaktionen
. Tab. 18.8. Beeinträchtigungsschwere durch neurotischen Störungen: Beeinträchtigungsschwere-Score von Schepank (1995) Dimension
Beispiele
Punktzahl
Körperlicher Leidens- und/oder Beeinträchtigungsgrad
Schmerzen, Gehbehinderung, Körperfühlstörungen u. a.
0–4 Punkte
Psychischer Leidens- und/oder Beeinträchtigungsgrad
Ängste, Zwänge, Grübeleien, Depressionen, Hypochondrien u. a.
0–4 Punkte
Auswirkungen auf die sozialkommunikativen Bezüge
Störungen der Arbeitsfähigkeit, der Partnerbeziehung, der Liebesfähigkeit, der objektiven Leistung, der subjektiven Lebenszufriedenheit u. a.
0–4 Punkte
Auswertung 0–1 Punkte
Optimale Gesundheit
2–3 Punkte
Leichtere Störung
4–5 Punkte
Deutliche Störung von Krankheitswert, am häufigsten bei der ambulanten Inanspruchsnahmeklientel
6–7 Punkte
Ausgeprägte, schon ziemlich schwer beeinträchtigende Erkrankung
8–9 Punkte
Außerordentlich schwere Erkrankung
10–12 Punkte
Schwerst gestört in jeder Hinsicht; Extremgrad psychogener Erkrankungen mit Folgen in allen Dimensionen
peutischen Bemühungen im Weg, weil der Wunsch nach entsprechender sozialrechtlicher Anerkennung die Symptomatik aufrechterhalten kann. Die Begutachtung von neurotischen Störungen erfordert häufig eine quantitative Abgrenzung, um den Ausprägungsgrad der psychosozialen Einschränkungen einschätzen zu können. Aus epidemiologischen Studien wurde der Beeinträchtigungsschwere-Score (BSS) von Schepank (1995) entwickelt. Der Score setzt sich aus 3 Bereichen (Dimensionen) zusammen, die jeweils mit einer Punktzahl zu bewerten sind (. Tab. 18.8). Der Punktwert, der für jeden Bereich vergeben wird, bemisst sich an der Intensität der Symptomatik, der Ausbreitung auf Organsysteme, körperliche Funktionsbereiche oder Lebensbereiche und an der Dauer der Beschwerden. Eine Beurteilung, die sich allein auf den BSS stützt, wäre allerdings unzureichend, da es nach Schepank (1995) leichtere, bereits unbehandelbare und sehr schwere, aber noch behandelbare psychogene Erkrankungen gibt. Neben der quantitativen Einschätzung kommt es deshalb bei der Begutachtung von psychogenen und neurotischen Störungen oft auf die Spezifität der Symptomatik, auf die ihr zugrunde liegenden Konflikte und auf die Bewältigungsund Abwehrmechanismen an. In der für eine Begutachtung zur Verfügung stehenden Zeit kann dabei sicher nicht die gesamte Psychodynamik explorativ herausgearbeitet werden.
Kommentar Es ist problematisch, während einer Begutachtung die Abwehrkräfte eines neurotisch gestörten Menschen allzu sehr anzugreifen. Manchmal erscheint es sinnvoller, unter Berücksichtigung einer gutachterlichen Verhältnismäßigkeit Teilbereiche des Störungsbildes, die nicht genügend verstanden werden können, unberührt zu lassen, wenn sich auch ohne ihre Aufklärung die Gutachtenfrage befriedigend beantworten lässt.
Bewertung nach dem Sozialrecht In der Begutachtungssituation ist die Unterscheidung zwischen Angst und Vermeidungsverhalten, welches noch willentlich überwunden werden kann, und einer ausgeprägten Störung, die eine Überwindung aus eigener Kraft unmöglich erscheinen lässt und somit zur Beeinträchtigung der Erwerbstätigkeit führt, oft schwierig. Eine Berentung sollte so lange wie möglich vermieden werden, da berufliche Belastung und Anerkennung bei neurotischen Störungen häufig zu einer Stabilisierung der gesunden Anteile der Betroffenen beitragen. > Ohne vorherige – auch stationäre – Therapieversuche sollten weder eine Berentung angeregt noch die Voraussetzungen für eine Berentung angenommen werden. Neurosen sind zumeist lang dauernde Störungen, die zu chronischen subjektiven Leistungseinbußen und gele-
18
506
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
gentlich bei Zwangsstörungen zu objektivierbarer Unfähigkeit führen, einer Berufstätigkeit kontinuierlich nachzugehen. Da die Ausprägung der Symptomatik individuell sehr unterschiedlich sein und von kaum merkbarer bis zu schwerster Gestörtheit reichen kann, sind verallgemeinernde Aussagen über die jeweiligen Leistungseinbußen nicht möglich. Die Annahme von Arbeitsunfähigkeit ist allerdings nur bei krisenhaften Zuspitzungen der Störungen gerechtfertigt. Wegen der Chronizität der Störungen wird häufig die Frage nach einer Berentung gestellt. Grundlage für die Rentengewährung ist, dass der Versicherte – auch bei zumutbarer Willensanspannung – die Störung nicht überwinden kann. Wichtige Kriterien bei der Beurteilung der » zumutbaren Willensanspannung« sind das Vorliegen einer auffälligen prämorbiden Persönlichkeitsstruktur bzw. -entwicklung, eine bestehende psychiatrische Komorbidität oder eine chronische körperliche Begleiterkrankung. Auch der Verlust der sozialen Integration im Verlauf der psychischen Erkrankung, ein hoher primärer und/oder sekundärer Krankheitsgewinn, ein primär chronifizierter Krankheitsverlauf ohne länger dauernde Remissionen, eine mehrjährige Krankheitsdauer mit stabiler oder progredienter Symptomatik und unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequenter und »lege artis«, durchgeführter Behandlungsmaßnahmen, insbesondere gescheiterte stationäre Therapien, sind wichtige Aspekte, um die Fragestellung zu beantworten. Je mehr dieser angeführten Kriterien sich im konkreten Falle feststellen ließen, desto eher sei das Vorliegen einer »zumutbaren Willensanspannung«, also die Möglichkeit der Überwindbarkeit der Störung aus eigener Kraft zu verneinen. Nach Foerster (2004) kann kaum mit einer Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gerechnet werden, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: 5 psychiatrische Komorbidität, 5 chronische körperliche Erkrankungen, 5 Verlust der sozialen Integration, 5 mehrjähriger Verlauf der Störung, 5 kontinuierliche, primär chronische Zunahme der Symptomatik,
5 regelmäßige ambulante oder stationäre Therapie mit unterschiedlichen Therapieansätzen ohne Erfolg, 5 gescheiterte Rehabilitationsmaßnahmen, 5 sozialer »Krankheitsgewinn«. Aufgrund der Chronizität neurotischer Störungen, welche obige Bedingungen erfüllen, erscheinen weitere Rehabilitationsversuche oder zeitlich begrenzte Berentungen wenig aussichtsreich. Sie können auch die Fehlhaltungen chronifizieren, da sekundärer Krankheitsgewinn und die Angst vor erneuten Anforderungen das Ausweichverhalten in Krankheit verfestigen können. Lediglich bei rechtzeitiger Diagnose, wenn die Entwicklung einer Rententendenz noch nicht manifest geworden ist, versprechen Alternativen zur Rentengewährung, wie Umschulung oder Arbeitsplatzwechsel, Erfolg. Untersuchungen (Stadtland et al. 2003) haben gezeigt, dass Gutachtensprobanden, die letztlich berentet wurden, sich von jenen, die mit ihrem Rentenbegehren scheiterten, weniger durch psychopathologische oder anderweitige pathologische Merkmale, sondern durch eine Reihe recht wenig krankheitsspezifischer Auffälligkeiten unterschieden: Folgende Unterschiede waren bei ersteren signifikant: Verstärkung des Krankheitsverhaltens durch Arbeitgeber, konkretere Beschreibung der Beschwerden durch den Betroffenen, stärkere subjektive Leistungsbeeinträchtigung, geringere berufliche Motivation, längere Arbeitsunfähigkeit bis zur Begutachtung, gutachterlich stärkere Leistungsbeeinträchtigung. Details zum GdE/MdE zeigt . Tab. 18.9.
Bewertung nach dem Zivilrecht Sieht man von den entschädigungsrechtlichen Fragen ab, ergeben sich bei neurotisch gestörten Menschen kaum Probleme bei der Beantwortung zivilrechtlicher Fragen. Selbst schwer gestörte Zwangskranke werden kaum je geschäftsunfähig. Schwieriger ist die Frage einer Unterbringung zu entscheiden. Suiziddrohungen oder suizidale Gesten sind in Krisen von neurotisch gestörten Menschen nicht allzu selten. Meist gelingt es jedoch, die Probanden zu einer freiwilligen stationären Behandlung zu bewegen.
. Tab. 18.9. Aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit Neurosen, Folgen psychischer Traumata
Schwerbehindertengesetz – Soziales Entschädigungsrecht GdB/MdE
Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen
0–20
Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit
30–40
Schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) 5 Mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten
50–70
5 Mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten
80–100
507 18.6 Neurosen, psychosomatische Störungen und Belastungsreaktionen
Fragen zum Zusammenhang Die Beurteilung psychopathologischer Auffälligkeiten und subjektiver psychischer oder psychosomatischer Beschwerden nach Unfällen gehört zu den häufigsten sozialrechtlichen Fragestellungen. > Die Beurteilungen sind häufig nicht eindeutig, weil psychische Reaktionen immer multikausal entstehen und gleiche Traumata bei verschiedenen Menschen zu unterschiedlichen psychischen Reaktionen führen.
Von verschiedenen Autoren werden die Bedingungsfaktoren unterschiedlich zusammengefasst (Foerster 2004). Wesentlich erscheinen folgende Aspekte: 5 Primärpersönlichkeit mit ihrer spezifischen Verhaltensdisposition und Vulnerabilität, 5 Vorschäden durch Traumatisierungen oder vorbestehende Erkrankungen, 5 das Trauma in seinem objektiven Ausmaß, in seiner individuellen Spezifität und in der subjektiven Wahrnehmung, 5 die individuellen Bewältigungsstrategien unter Berücksichtigung eines möglichen Krankheitsgewinns und des subjektiven Störungskonzepts des Betroffenen, 5 die späteren sozialen, auch iatrogenen Einflüsse (auch evtl. eine lang dauernde gerichtliche Auseinandersetzung).
sprechung des BGH hält aber in derartigen Fällen u. U. eine Entschädigung nach dem Haftungsrecht für gerechtfertigt (VersR. 1993, 14, S. 589–591). Ist jedoch ein Entschädigungs- oder Versorgungswunsch als Hauptmotiv für die vorgetragene Symptomatik zu erkennen, so ist eine mögliche Simulation sehr sorgfältig abzuklären. Als finale Reaktion, die eine Entschädigung oder Berentung nicht rechtfertigt, ist zu werten, wenn der Betroffene mit Hilfe der vorgebrachten Symptome ein schon vorher gehegtes Lebensziel verwirklichen will.
Psychogene Reaktionen nach Unfällen und iatrogene Fixierung Bei psychogenen Reaktionen nach Unfällen sind oft nicht nur die direkten körperlichen Schädigungen für die Reaktionsbildung ausschlaggebend, sondern die Gesamtumstände des Unfalls, z. B. der Tod eines nahen Angehörigen, eine inadäquate medizinische und psychologische Behandlung, und darüber hinaus Kränkungen durch die Umwelt, die Betroffene als Folge der Störungen erdulden müssen. Zum Zeitpunkt der psychiatrischen Begutachtung sind die Störungen oftmals so fixiert, dass therapeutische Maßnahmen kaum noch Erfolg versprechen. Durch den Rechtfertigungsdruck bei wiederholten Begutachtungen kann es zudem zu einer weiteren iatrogenen Fixierung kommen.
Psychische Folgeschäden Die Diagnose einer Erkrankung, z. B. einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Anpassungsstörung, allein reicht für die Annahme eines Zusammenhangs im entschädigungsrechtlichen Sinn noch nicht aus. Die Terminologie legt zwar klinisch eine Verbindung zwischen Trauma und Symptomatik nahe, für die Annahme einer entschädigungsrechtlichen Relevanz müssen jedoch die Grundsätze der versicherungsrechtlichen Kausalitätslehre beachtet werden. Häufig stellt dabei das Trauma einen spezifischen Reiz für die Auslösung einer bereits bestehenden Konfliktsituation dar; es ist letzter Anlass zur Ausbildung der neurotischen Symptome. Häufiger treten depressiv-hypochondrische Syndrome oder somatoforme Schmerzstörungen als abnorme Entwicklungen auf. Allerdings sind solche Symptome in der Bevölkerung so häufig, dass es schwer fällt, wirkliche Kausalitäten zu begründen. Oft wird wegen des Erklärungs- und Kausalitätsbedürfnisses der Betroffenen ein zeitlicher und ursächlicher Zusammenhang dargestellt und auch subjektiv angenommen. Entschädigungsrechtlich relevant wird der Zusammenhang erst, wenn eine Kausalität im Sinn der Rechtsprechung vorliegt. Geklärt werden muss auch, ob das Trauma eine bisher gut kompensierte Störung ausgelöst hat. Damit wäre es zwar nicht ursächlich für die Symptomatik, die Recht-
Bei psychischen Folgeschäden muss die jeweils geltende gesetzliche oder vertragliche Grundlage des Versicherers berücksichtigt werden. Während in der gesetzlichen Unfallversicherung psychische Reaktionen und Folgen von Unfällen ausgeglichen werden, ist dies bei privaten Unfallversicherungen meist nicht der Fall. Das zivile Haftungsrecht schließt psychische Folgeschäden ein, entschädigt werden die tatsächlichen individuellen – objektiv feststellbaren – Einbußen.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Berufsbezogene Leistungseinschränkungen Eine Orientierungshilfe über den Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei Neurosen und Folgen psychischer Traumata in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen ist in . Tab. 18.10 dargestellt.
Fahrereignung Begutachtungen zur Fahrereignung bei neurotischen oder psychosomatisch gestörten Probanden sind selten. Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz et al. 2000) können hierbei zu den Einstellungs- und Anpassungsmängeln herangezogen werden, die sich aber im Wesentlichen auf Persönlichkeitsstörungen beziehen. Demnach besteht Fahrereignung nicht, wenn Auffällig-
18
508
1
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
. Tab. 18.10. Zusammenhang von Leistungseinschränkungen bei Neurosen und Folgen psychischer Traumata in Abhängigkeit vom Ausmaß der Symptomatik und den beruflichen Anforderungen Berufliche Anforderungen
2 3
Eigenverantwortliche Tätigkeit mit hohen Anforderungen oder hoher zwischenmenschlicher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzter Eigenverantwortlichkeit oder wenig zwischenmenschlicher Kontakt
Tätigkeiten mit begrenzten Entscheidungsbefugnissen ohne Eigenverantwortlichkeit oder kaum zwischenmenschlicher Kontakt
Ausmaß der Symptomatik
4
Geringgradig
Keine signifikante Einschränkung
Keine signifikante Einschränkung
Keine signifikante Einschränkung
5
Geringgradig + Komorbidität oder mäßiggradig
Signifikante Einschränkung
Meist signifikante Einschränkung
Meist signifikante Einschränkung
Mäßiggradig + Komorbidität oder schwergradig
Signifikante Einschränkung
Signifikante Einschränkung
Meist signifikante Einschränkung
6 7 8 9
keiten vorliegen, die zu gewohnheitsmäßigem Fehlverhalten führen. Wiedererlangung der Fahrereignung. Zur Wiedererlan-
gung der Fahrereignung muss der Gutachter zu der Überzeugung kommen, dass sich die Fehlanpassung grundlegend geändert hat, wobei sich die Verhaltensänderung auch im weiteren Sozialleben nachweisen lassen sollte.
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
18.6.6 Exkurs: Vulnerabilitäts-Stress-Konzept der
somatoformen Schmerzstörung Chronische Schmerzsyndrome gehören zu den häufigsten Anlässen für die ärztliche Begutachtung. Bei bis zu 70– 90% aller Sozialgerichtsgutachten lassen sich chronische Schmerzsyndrome nicht oder nur teilweise durch organische Erkrankungen erklären (Häuser 2002). Immer wenn der Verdacht einer inadäquaten Schmerzbewältigung besteht bzw. wenn chronische Schmerzsyndrome bei psychischen Störungen auftreten, ist somit auch an eine psychiatrische Begutachtung zu denken. Entstehung und Aufrechterhaltung einer chronischen Symptomatik werden in der Literatur anhand eines sog. Vulnerabilitäts-Stress-Modells erklärt. Ein 3-Phasen Modell kann dabei den Übergang von einem akuten zu einem chronischen Schmerzsyndrom anschaulich erklären und wurde durch Befunde aus empirischen Studien erhärtet (Dersh et al. 2002). 5 In der 1. Phase lösen akute Schmerzen emotionale Reaktionen wie Angst oder Befürchtungen über mögliche Folgeschäden aus. Wenn Schmerzen in einem Zeitraum von 2–4 Monaten persistieren, kann es zum Übergang in ein chronisches Stadium kommen. 5 Die 2. Phase ist mit einer größeren Vielfalt an Reaktionen verbunden. Psychologische Aspekte, wie gelernte Hilflosigkeit, anhaltender emotionaler oder
psychosozialer Stress, aber auch Wut und Ärger als Konsequenz auf die jetzt als chronisch erlebten Schmerzen können wichtiger werden. Dabei sind Aspekte des persönlichen Krankheitskonzeptes bedeutend. Als Risiko- und Vulnerabilitätsvariablen für die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms konnten mangelndes emotionales Verständnis, mangelnde Geborgenheit und Zuneigung durch die Eltern in der Kindheit und aktuelle psychosoziale Belastungsfaktoren wie Probleme in der Partnerbeziehung, mangelndes Verständnis des Partners für die Erkrankung oder geringe subjektive Bedeutung des Sexuallebens identifiziert werden. Ein erhöhtes Niveau von Angst oder Ängstlichkeit kann zu der Chronifizierung beitragen. Bei Probanden mit chronischen Schmerzen wird die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, insbesondere des Typus der zwanghaften, histrionischen oder abhängigen Persönlichkeit, überdurchschnittlich häufig gestellt. Bereits eine entsprechende Akzentuierung der Persönlichkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus dem akuten Schmerzerleben eine chronische Schmerzstörung entwickelt. Nach dem Übergang in die bereits chronische 2. Phase kann es zu einer Verstärkung der prämorbiden Persönlichkeitsaspekte kommen. 5 In der 3. Phase passen die Probanden ihr gesamtes soziales Leben dieser Rolle an. Gesetzliche, sozialökonomische und andere Umweltfaktoren spielen eine bedeutende Rolle. Es gelingt immer weniger, mit den größer werdenden Belastungen des chronischen Schmerzerlebens umzugehen. Das Leben der Probanden dreht sich um das Schmerzerleben, sie finden sich mit der Rolle eines chronisch Kranken ab. Durch sekundären Krankheitsgewinn (s. oben) kann der Proband Verpflichtungen und Aufgaben vermei-
509 18.6 Neurosen, psychosomatische Störungen und Belastungsreaktionen
den, er bekommt Zuwendung, oder eine vorher kritische Partnersituation wird stabilisiert. In diesem Chronifizierungsprozess spielt auch die Möglichkeit bzw. Erwartung einer monetären Entschädigung eine verstärkende Rolle. Diese Zustandsbild lässt sich auch anhand Mainzer Schmerzskala abbilden, und es kann ein Chronifizierungsgrad III diagnostiziert werden (Häuser 2002).
Klassifizierung als somatoforme Störung und eine analoge Beurteilung an. Bei der Begutachtung von Patienten mit der Diagnose Fibromyalgie bestehen fachspezifisch divergierende Auffassungen (Egle et al. 2007).
18.6.8 Exkurs: Simulation, Aggravation und
Dissimulation Begutachtung Erst wenn die 3. Phase bzw. der Chronifizierungsgrad III erreicht ist, wird die Prognose so ungünstig, dass an eine Berentung der Probanden zu denken ist. In der 1. und 2. Phase dagegen verstärken monetäre Entschädigungen den Chronifizierungsprozess und können so einer erfolgreichen Rehabilitation im Wege stehen. Aktuelle fachgebietsspezifische Erkenntnisse wurden jüngst in einer interdisziplinären Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen (www.awmf.org) zusammengefasst.
18.6.7 Exkurs: »Chronic Fatigue Syndrome« (CFS),
Fibromyalgiesyndrom, »Multiple Chemical Sensitivity« (MCS) oder »Idiopathic Environmental Intolerance« (IEI), »Sick Building Syndrome« (SBS) Der psychiatrische Gutachter ist seit einigen Jahren mit stark anwachsenden Begutachtungsaufträgen zu diesen Syndromen konfrontiert. Zu berücksichtigen ist, dass das Konzept der »Umwelterkrankungen« (Hausotter 2004) in den Klassifikationssystemen bisher nicht enthalten ist. Es bestehen aber von Hausotter (2004) beschriebene Gemeinsamkeiten bei den Probanden. Sie sehen sich häufig als Opfer ihrer Erkrankung bzw. als Opfer von Umwelteinflüssen und lehnen mit dieser Begründung alle psychiatrischen Interventionen ab. Sie organisieren sich stattdessen überdurchschnittlich häufig in Interessensverbänden und Selbsthilfegruppen und lassen sich von nichtmedizinischen Gruppen und spezialisierten Rechtsanwälten beraten. Die Symptome mancher Beschwerden finden u. a. im Internet eine detaillierte Beschreibung. Gleichwohl bleibt sowohl die Symptomatologie als auch die Abgrenzung dieser Begriffe untereinander unscharf. Die Beschwerden treten oftmals in Kombination miteinander auf.
Begutachtung Diese Störungen sind nach den Anhaltspunkten der GdB/ MdE-Grade in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen und im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen zu beurteilen. Da sich oftmals Überschneidungen mit psychiatrischen Störungen, am häufigsten mit den somatoformen Störungen, finden, bietet sich zum momentanen Wissenstand in vielen Fällen eine
Simulation, Dissimulation und Aggravation sind bei der Begutachtung häufige zu hinterfragende Phänomene. Unter Simulation versteht man die bewusste Vortäuschung von Krankheitssymptomen oder das bewusste Klagen über Beschwerden, die man tatsächlich nicht hat, unter Aggravation das demonstrative und übertriebene Klagen oder Darstellen von tatsächlich vorhandenen Störungen. Abzugrenzen sind davon die sog. artifiziellen Störungen, z. B. das Münchhausen-Syndrom, und die somatoformen Störungen, bei denen die Betroffenen ebenfalls Klagen über körperliche Symptome oder über psychische Reaktionen vorbringen, ohne dass eine organische Grundlage der Störungen besteht. Die Entscheidung, ob ein bewusstes Vortäuschen oder unbewusste Konflikte ein Leiden bedingen, ist im Einzelfall oft sehr schwierig. Weder Simulanten noch neurotisch Gestörte lassen sich in der Regel durch Konfrontation und Zweifel an der berichteten Symptomatik zu einer realitätsgerechten Darstellung objektivierbarer Beschwerden bewegen. Vielmehr gelingt eine Abklärung am ehesten durch Einfühlungsvermögen und durch Vermittlung professionellen Verständnisses. Neurotische Störungen sind in der Regel vor dem Hintergrund von Konflikten verstehbar. Eine Exploration der Konflikte sowie eine chronologische Darstellung ihres Verlaufs und der damit verbundenen Symptomatik erleichtern die Zuordnung zu einer neurotischen Störung.
Finale Tendenz Bei Simulation kann in derartigen Explorationen eine finale Tendenz des Vorbringens der Symptomatik erkennbar werden, da den Untersuchten der Leidensdruck durch die Konflikte fehlt. Simulanten sind gelegentlich auch zu einer sich ausweitenden oder widersprüchlichen Beschreibung zu induzieren. Gelegentlich lassen sich durch unterschiedliche Ergebnisse bei wiederholten Untersuchungen vorgetäuschte von tatsächlichen Störungen unterscheiden. Simulation kann verschiedene Formen annehmen (Übersicht). Die Motive von Simulation und Aggravation lassen sich in 3 Kategorien einteilen (. Tab. 18.11).
18
510
1 2 3
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
. Tab. 18.11. Motive von Simulation und Aggravation Motiv
Beispiel
Vermeidungsverhalten
Vermeidung von Gefahr und Schwierigkeiten, Verantwortung oder Strafe
Sekundärer Krankheitsgewinn
Krankenhausbehandlung, Versorgung durch Familie, Medikamentengabe, Unterkunft (z. B. bei Obdachlosen), Berentung
Vergeltung und Entschädigung
Nach Schädigung oder Verlust, z. B. durch Unfall, oder Arbeitsplatzverlust, als Folge von Kränkungen
4 5 6 7 8
Formen von vorgetäuschten Störungen 5 Inszenierung eines Vorfalls, z. B. eines »Anfalls«, vor oder in unmittelbarer Nähe des gewünschten Beobachters 5 Erfinden von Symptomen, z. B. Schmerzen, die nicht näher zu objektivieren sind 5 Selbstbeschädigung, um ärztliche Intervention zu fordern oder dem Beobachter einen Schaden zu demonstrieren 5 Fälschung ärztlicher Befunde, um dadurch das angestrebte Ziel zu erreichen.
9 Verdachtsmomente für eine Simulation
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Häufig erleichtert der Zusammenhang, in welchem die Symptome vorgebracht werden, die Diagnose. Simulanten konsultieren Ärzte wegen eines äußeren Anlasses, der allerdings nicht immer sofort evident wird. Sie wissen meist über ihre Rechte und die ärztlichen Pflichten gut Bescheid, teilweise sind sie durch einen Rechtsanwalt beraten. Ihre Symptome sind häufig vage und oft nicht objektiv überprüfbar, z. B. Kopfschmerzen, Schwindel, Angst oder Depression. Werden mehrere Beschwerden vorgetragen, passen diese selten zu einem bekannten Krankheitsbild. Probanden, die Krankheiten simulieren, tragen ihre Symptome häufig ungefragt vor. Demgegenüber versuchen die meisten Probanden mit organischen Psychosyndromen oder Demenzen, aber auch mit affektiven und schizophrenen Störungen, bei der Erstexploration ihre Symptome zunächst zu bagatellisieren oder zu dissimulieren. Die meisten Gesunden wissen jedoch zu wenig über psychotische Symptome, um sie wirklich nachzuahmen. Bei Zweifeln ist es immer erforderlich, möglichst umfangreiche Informationen zu sammeln und das Verhalten der Probanden dann zu beobachten, wenn diese sich unbeobachtet glauben. Yudorfsky (1985) hat eine Liste von Verdachtsmomenten zusammengestellt, die auf die Möglichkeit einer Simulation hinweisen können (Übersicht). Weder ein einzelner Gesichtspunkt noch eine bestimmte Konstellation von Merkmalen sind jedoch beweisend für eine Simulation.
Verdachtsmomente, die auf die Möglichkeit einer Simulation hinweisen (nach Yudorfsky 1985) 5 Anamnese, Befund und klinische Daten stimmen nicht mit den geklagten Beschwerden überein. 5 Die vorgebrachten Beschwerden werden ungenau und wechselhaft beschrieben und passen nicht zu einem definierten Krankheitsbild. 5 Die Klagen und Symptome erscheinen übertrieben und werden dramatisch vorgetragen. 5 Die Probanden sind bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen wenig kooperativ. 5 Die Probanden wollen eine günstige Prognose ihrer Beschwerden nicht akzeptieren. 5 Die Verletzungen scheinen selbst zugefügt worden zu sein. 5 Bei Laboruntersuchungen werden toxische Substanzen oder nicht verschriebene Medikamente entdeckt. 5 Krankengeschichten oder Befunddokumentationen wurden geändert oder gefälscht. 5 Die Probanden haben auffällige Unfälle oder Verletzungen in der Vorgeschichte. 5 Die Probanden erhalten oder wünschen wegen ihrer Störung Entschädigung. 5 Die Probanden fordern Medikamente, die üblicherweise suchterzeugend sind oder häufig missbraucht werden. 5 Die Probanden können wegen ihrer Störung rechtliche oder gesellschaftliche Verantwortung vermeiden oder einer Strafe entgehen. 5 Die Probanden leiden an einer dissozialen oder abhängigen Persönlichkeitsstörung.
511 18.7 Essstörungen
Kommentar Gutachter sollten sich der Möglichkeit einer Simulation bewusst sein und bei der Untersuchung auch immer wieder prüfen, ob die vorgebrachten Symptome simuliert sein könnten. Sie sollten den Untersuchten, die bei der Begutachtung eigene – durchaus berechtigte – Ziele verfolgen, jedoch nicht verübeln, wenn sie dies mit einer gewissen Nachhaltigkeit tun. Bei der schriftlichen oder mündlichen Erläuterung des Gutachtens empfiehlt es sich eher, auf die Diskrepanzen zwischen subjektiven Angaben und objektiven Befunden hinzuweisen und darzulegen, warum man den Angaben des Probanden nicht folgen kann, als ihm Simulation vorzuwerfen. Die Feststellung, ob es sich bei der Darstellung des Probanden um Täuschungen, Unwahrheiten oder um glaubwürdige Tatsachen handelt, obliegt letztendlich der Beweiswürdigung der Gerichte.
Münchhausen-Syndrom und Pseudologia phantastica Unter den Gesichtspunkten der Begutachtung gehören zu den Abgrenzungsproblemen zwischen Simulation, neurotischer Symptombildung und finalen Verhaltensweisen auch das Münchhausen-Syndrom und die Pseudologia phantastica. Beim Münchhausen-Syndrom täuschen die Probanden körperliche oder psychische Symptome vor und fügen sich absichtlich Verletzungen bei. Sie suchen damit Ärzte und Krankenhäuser auf, um sich versorgen, behandeln oder sogar operieren zu lassen. Einen finanziellen Nutzen wollen sie daraus jedoch nicht ziehen. Die Pseudologia phantastica fällt durch pathologisches Lügen auf. Die Pseudologen lassen sich zu immer neuen und wunderlichen Darstellungen ihrer Lebensgeschichte induzieren. Im Gegensatz zu der Simulation beruht das Vorbringen bei diesen Störungen häufig auf unbewussten Motiven und ist wenig zielgerichtet.
Dissimulation Unter Dissimulation versteht man das bewusste Verheimlichen von Krankheitssymptomen oder die bewusst herunterspielende Darstellung von (psychischen) Erkrankungen und Beschwerden. Die Ursache der Dissimuation kann zum einen die Angst vor einer psychischen Erkrankung selbst oder vor einer sozialen Ausgrenzung durch die Erkrankung sein, z. B. bei Fragen der Dienstfähigkeit im Beamtenrecht oder bei verwaltungsrechtlichen Begutachtungen. Eine organisch begründete verminderte Wahrnehmungsfähigkeit von psychischen und körperlichen Symptomen ist von der Dissimulation abzugrenzen. Wenn bei der Begutachtung der Eindruck der Dissimulation von
Beschwerden besteht, ist die Ursache genauso wie bei Simulation und Aggravation zu hinterfragen.
18.7
Essstörungen
Unter dem Begriff Essstörungen werden v. a. die Anorexia nervosa und die Bulimie, aber auch die Adipositas verstanden. Die Adipositas (psychogene Hyperphagie) wird in der ICD-10 als Fettsucht (E66) nicht bei den psychiatrischen Erkrankungen, sondern in Kapitel IV (»Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen«) erfasst. Wegen der häufigen Komorbidität mit psychischen Störungen wird die Adipositas hier verkürzt dargestellt.
18.7.1 Anorexie (F50.0) und Bulimia nervosa
(F50.2) Die Anorexie ist eine absichtlich selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme sowie das Aufrechterhalten des Gewichtsverlustes. Die Bulimie beschreibt das wiederholte Auftreten von Heißhungeranfällen mit selbstinduziertem Erbrechen und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichtes. Am häufigsten sind heranwachsende Mädchen und junge Frauen betroffen. Bei den Probanden spielen prämorbide Persönlichkeit, unspezifische psychische Mechanismen sowie soziokulturelle und biologische Faktoren eine Rolle. Sie leiden oft unter Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen. Häufiges Erbrechen, Laxanzien- und Diuretikamissbrauch führen gelegentlich zu somatischen Begleiterscheinungen. Endokrine Störungen und eine Amenorrhö sind häufige Folgen einer längeren massiven Unterschreitung des normalen Körpergewichts bzw. des BodyMass-Index (BMI).
5 Der BMI berechnet sich aus dem Körpergewicht [kg] dividiert durch das Quadrat der Körpergröße [m2]. Die Einheit des BMI ist kg/m2. Daneben kann es bei den Betroffenen zur kognitiven Einengung kommen, was die Therapie erschweren kann.
Begutachtung Die psychiatrische Komorbidität und die Chronifizierung der Erkrankung können insbesondere bei anorektischen Patienten zu einer reduzierten Leistungsfähigkeit führen. Im Verlauf von 10–20 Jahren besteht eine Mortalität von 10–20%, ein Viertel der Probanden bleibt in ungebessertem Zustand chronisch krank. Oftmals sind die Probanden körperlich sogar besonders aktiv oder dissimulieren Beschwerden (7 Kap. 18.6.6). Die Leistungsfähigkeit bei der Anorexie ist neben dem Ausmaß des Untergewichts v. a. von den somatischen Komplikationen der Erkrankung abhängig. Ab einem BMI
18
512
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
von 17,5 steigt das Risiko von Komplikationen an. Mangelernährung kann ebenfalls zu hirnmorphologischen Veränderungen mit psychopathologischen Auffälligkeiten führen. Die Bulimie allein führt in aller Regel meist zu keiner Leistungseinschränkung. Kommen Persönlichkeitsstörungen und Laxanzienmissbrauch bei den Probanden hinzu, verschlechtert sich die Prognose. Die Beurteilung kann in diesen Fällen analog der Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen erfolgen.
18.7.2 Adipositas (psychogene Hyperphagie)
Adipositas ist definiert als eine über das Normalmaß hinausgehende Vermehrung des Körperfetts. Die Prävalenz der Adipositas nimmt in Deutschland seit langem zu (www.DGE.de 2006). Berechnungsgrundlage für die Gewichtsklassifikation ist der Body-Mass-Index (BMI; Berechnung 7 Kap. 18.7.1) oder Körpermassenindex (www. DGE.de 2006). Übergewicht ist definiert als BMI ≥25 kg KG/m2, Adipositas als BMI ≥30 kg KG/m2, eine extreme Adipositas liegt bei einem BMI von ≥35 kg KG/m2 vor (WHO 2000). Bei den Probanden finden sich dann auch gehäuft unterschiedliche psychopathologische Symptome, oftmals Depressionen. Das Leben der Probanden wird aber v. a. durch somatische Begleiterkrankungen (metabolisches Syndrom) beeinträchtigt.
Begutachtung Eine geringe Adipositas führt in aller Regel nicht zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Erst bei extremer Adipositas (BMI ≥35 kg KG/m2) können z. B. soziale Rückzugstendenzen die Teilnahmemöglichkeit an Aktivitäten des Alltags und des Berufs deutlich einschränken. Die Einschränkung durch eine extreme Adipositas beruht v. a. auf einer Beeinträchtigung der verschiedenen Organfunktionen und einer zunehmenden Unbeweglichkeit der Probanden. Die Beurteilung der Leistungseinschränkung sollte deshalb in aller Regel nicht durch den Psychiater allein, sondern gemeinsam mit internistischen Gutachtern erfolgen.
18.8
Persönlichkeitsstörungen
Diagnose
18 19 20
Dem psychiatrischen Laien ist oft das »Krankhafte« einer Persönlichkeitsstörung schwer verständlich zu machen, zumal das häufig mit dem Begriff Krankheit assoziierte schicksalhafte Hereinbrechen eines Leidens bei den Persönlichkeitsstörungen fehlt. Auch erscheint dem Außenstehenden manches lediglich als überwindbare Schwäche, was die Betroffenen als unüberwindbare Bürde emp-
finden. Die Zuordnung zu einem rechtlich definierten Krankheitsbegriff bleibt somit in jedem Einzelfall eine Gratwanderung, die vom Gutachter eine fundierte Darlegung seiner Entscheidungslogik erfordert. Pauschallösungen und generalisierende Entscheidungshilfen können kaum angeboten werden. Um eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, müssen bei allen Unterformen nach ICD-10 zunächst die folgenden Kriterien erfüllt sein: 5 Deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funktionsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in den Beziehungen zu anderen Menschen. 5 Das abnorme Verhaltensmuster ist andauernd und nicht auf Episoden psychischer Krankheiten begrenzt. 5 Das abnorme Verhaltensmuster ist tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend. 5 Die Störungen beginnen immer in der Kindheit oder Jugend und manifestieren sich auf Dauer im Erwachsenenalter. 5 Die Störung führt zu deutlichem subjektivem Leiden, manchmal erst im späteren Verlauf. 5 Die Störung ist meistens mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistung verbunden. 5 Die Zustandsbilder sind nicht direkt auf Hirnschädigung oder -krankheiten oder auf eine andere psychiatrische Störung zurückzuführen.
Formen der Persönlichkeitsstörungen 5 Paranoide Persönlichkeiten sind durch übertriebenes Misstrauen und starke Empfindsamkeit gekennzeichnet. Neutrale Handlungen werden als Kränkung oder Zurückweisung empfunden. Die Probanden sind nachtragend und bestehen beharrlich und oft situationsunangemessen auf ihren vermeintlichen Rechten. 5 Schizoide Persönlichkeiten sind introvertiert, sozial zurückgezogen, kontaktarm, emotional kühl, unbeteiligt und distanziert. Sie erscheinen oft als einsam, einzelgängerisch und exzentrisch. 5 Dissoziale Persönlichkeiten fallen durch ihren Mangel an Empathie, durch ihr Unvermögen, längerfristige Bindungen aufrechtzuerhalten, durch geringe Frustrationstoleranz und durch die Neigung zu aggressivem und gewalttätigem Ausagieren auf. Sie empfinden keine Schuld und sind kaum in der Lage, aus Erfahrungen zu lernen. 6
18
513 18.8 Persönlichkeitsstörungen
5 Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung ist eine diagnostische Kategorie, die erstmals in der ICD-10 auftaucht. Sie wird durch ihre beiden Untertypen, nämlich die impulsive oder explosible Persönlichkeitsstörung und die BorderlinePersönlichkeitsstörung, mit bekannten diagnostischen Begriffen bestimmt. Beiden Störungen ist impulsives Ausagieren, Nichtberücksichtigen der Konsequenzen eigenen Handelns und eine wechselnde, launenhafte Stimmung gemeinsam. Bei der impulsiven Persönlichkeit wird häufig aggressives oder bedrohliches Verhalten – insbesondere nach Kritik von anderen – beobachtet. – Borderline-Persönlichkeiten haben darüber hinaus ein unklares Selbstbild, sowohl was ihre eigenen Wünsche und Ziele betrifft als auch bezüglich ihrer sexuellen Präferenzen, ihrer partnerschaftlichen Vorstellungen und ihrer Werte und Ideale. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind unbeständig und schwanken zwischen Überidealisierung und Entwertung. Ihre Emotionen, insbesondere Aggressionen und Wut, sind oft unangemessen und führen häufig zu drastischen Impulsdurchbrüchen. Sie leben fast immer in irgendeiner Krise, häufig kommt es zu Selbstbeschädigungen und Suizidalität. 5 Histrionische Persönlichkeiten (früher hysterische Persönlichkeiten) fallen durch ihre besondere Geltungssucht, ihr theatralisches Verhalten, durch die Überschwänglichkeit ihrer Ausdrucksweisen, durch Dramatisierungen und durch ihre oberflächliche, labile Affektivität auf. Sie erscheinen egozentrisch, selbstbezogen und ohne Rücksicht auf andere. Sie wollen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und haben ein ständiges Verlangen nach Aufregung und Spannung. Ihr manipulatives Verhalten, aber auch ihre leichte Beeinflussbarkeit und Suggestibilität werden oft auch in der psychiatrischen Exploration deutlich. 5 Anankastische Persönlichkeiten sind durch Ordnungsliebe bis hin zum Perfektionismus, durch Gewissenhaftigkeit, die so weit gehen kann, dass sämtliche Vergnügungen und zwischenmenschlichen Beziehungen vernachlässigt werden, durch Sparsamkeit, Sauberkeit und durch die Neigung zu ständiger Kontrolle charakterisiert. Sie wirken rigide und eigensinnig, intolerant, pedantisch und affektiv nur wenig schwingungsfähig. Ihre Zwanghaftigkeit äußert sich auch in ihrem 6
Denken, wobei sie sich gegen die andrängenden Gedanken oder Impulse oft nicht wehren können. Häufig leiden die Betroffenen selbst unter ihrer Zwanghaftigkeit. 5 Die ängstliche Persönlichkeitsstörung (ICD10) oder vermeidend selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (DSM IV-TR) unterscheiden sich trotz verschiedener Begriffe praktisch kaum und entsprechen weitgehend der selbstunsicheren Persönlichkeit herkömmlicher Nosologie. Sie sind durch Selbstunsicherheit, Minderwertigkeitsgefühle, Befangenheit, durch ständige innere Anspannung und Besorgtheit gekennzeichnet. Dabei sehnen sich derartige Persönlichkeiten nach Zuneigung und Akzeptanz und sind überempfindlich gegen Zurückweisung und Kritik. Sie neigen dazu, mögliche Risiken und Gefahren zu übertreiben und ihnen auszuweichen, und sie suchen stets nach Geborgenheit, Sicherheit und Schutz. 5 Abhängige oder dependente Persönlichkeiten empfinden sich selbst als schwach, kraftlos und durchsetzungsunfähig. Sie neigen dazu, die Entscheidung und Verantwortung für wichtige Bereiche ihres Lebens und damit auch für eigene Missgeschicke anderen zu überlassen. Ohne Unterstützung fühlen sie sich hilflos und inkompetent, haben Angst, verlassen zu werden, und benötigen ständig die Zusicherung der Unterstützung von Bezugspersonen. Ihnen ordnen sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse unter. Häufig äußern sie hypochondrisch gefärbte Klagen, die ihre Unselbstständigkeit und Hilfsbedürftigkeit unterstreichen und dazu dienen, Forderungen der Umwelt nach eigenen Entscheidungen, Verantwortung und Durchsetzung eigener Bedürfnisse aus dem Weg zu gehen. 5 Das DSM IV-TR enthält darüber hinaus die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (301.81), die sich durch ein übertriebenes Selbstwertgefühl, durch die Vorstellung eigener Großartigkeit und durch übermäßige Empfindlichkeit gegenüber der Einschätzung durch andere auszeichnet. Sie glauben, dass sie aufgrund ihrer Besonderheit auch besondere Ansprüche stellen dürfen und beuten deswegen ihre Mitmenschen oft aus.
6
514
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
5 Die schizotypische Persönlichkeitsstörung (DSM IV-TR 301.22), die eine enge Beziehung zur Schizophrenie hat und gehäuft in der Verwandtschaft Schizophrener auftritt, wird in der ICD-10 in der Diagnosegruppe F 21 geführt. 5 Andauernde Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastungen sind bei den akuten Belastungsreaktionen dargestellt. 5 Die Diagnose einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F 61.0) wird dann gestellt, wenn die diagnostischen Leitlinien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllt sind, Merkmale mehrerer Störungen vorliegen, die Kriterien für eine spezifische Persönlichkeitsstörung aber nicht erfüllt sind.
Begutachtung Die Begutachtung von Persönlichkeitsstörungen ist schwierig, da schon die klinische Abgrenzung zwischen Persönlichkeitsakzentuierungen und Persönlichkeitsauffälligkeiten, die bereits als pathologisch zu bezeichnen sind, problematisch ist. Die Zuordnung wird nicht nur von der Symptomatik selbst, sondern auch von den gesellschaftlichen Vorstellungen und von der Einstellung des Untersuchers mitbestimmt. Ob eine Persönlichkeit sich selbst als leidend empfindet oder von der Umwelt als gestört oder störend empfunden wird, hängt zudem von der Lebenssituation und den sozialen Bezügen der Betroffenen ab. So mag eine abhängige Persönlichkeit in einer stützenden, fürsorglichen Partnerschaft beschwerdefrei und unauffällig leben, nach dem Tod des Partners jedoch hypochondrisch dekompensieren und weitreichende soziale Unterstützung beanspruchen. Noch problematischer ist die Entscheidung, ob das Ausmaß der Symptomatik einer Persönlichkeitsstörung ausreicht, um eine Subsumption unter einen juristischen Krankheitsbegriff zu rechtfertigen. Grundsätzlich unterscheiden die juristischen Krankheitsbegriffe der verschiedenen Rechtsvorschriften und Gesetze nicht zwischen den einzelnen psychiatrischen Krankheitsgruppen und schließen somit auch die Persönlichkeitsstörungen mit ein.
Bewertung nach dem Sozialrecht Persönlichkeitsstörungen als solche bedingen praktisch nie Arbeitsunfähigkeit. Allerdings kommt es bei manchen von ihnen gehäuft zu Krisen oder Dekompensationen, die dann mit Arbeitsunfähigkeit verbunden sind. Beispielsweise kann die Trennung vom Partner bei einer abhängigen Persönlichkeit oder bei einer Borderline-Persönlichkeit zu einer schweren hilflos-depressiven Verstimmung führen; bei anankastischen Persönlichkeiten kann
es bei beruflichen Umstellungen oder Arbeitsplatzwechsel zu Versagenszuständen kommen. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit sollte allerdings so kurz wie möglich gehalten werden, da derartige Zustände zu Chronifizierung neigen und die Herausnahme aus einem geregelten Arbeitsprozess das ohnehin brüchige Selbstwertgefühl weiter unterminieren kann. Diese Überlegungen sollten auch bei Fragen nach einer Berentung oder nach einer dauernden Dienstunfähigkeit von Beamten bedacht werden. Bei asthenischen, ängstlichen und auch bei zwanghaften Persönlichkeiten sind chronisch verminderte Belastbarkeit und rasche Ermüdung und Erschöpfung bei Überforderung Merkmale der Persönlichkeitsstörung. Oft werden von den Betroffenen neben psychopathologischen Symptomen wie Angst, Abgeschlagenheit, Depression oder Antriebsmangel auch somatische Beschwerden wie Schmerzen, Schlafstörungen u. Ä. vorgebracht. Gerade bei ausländischen Probanden, die psychische Beeinträchtigungen weniger differenziert wahrnehmen oder nur unbeholfen und unzureichend ausdrücken können, erlebt man oft ausgeprägte Übertreibungen somatischer Beschwerden. Die Unterscheidung, ob lediglich ein Rentenwunsch Anlass für das Vorbringen der Symptomatik ist, oder ob eine Persönlichkeitsstörung in Kombination mit einem Entwurzelungssyndrom sowie einer Krise am Arbeitsplatz oder in der Familie zu einem chronischen Versagenszustand geführt hat, ist oft sehr schwer. > Die Zusammenschau zwischen geklagter Symptomatik, organischen Befunden, z. B. Muskelstatus, und laborchemischen Parametern, z. B. Medikamentenspiegeln, trägt zu einer Objektivierung der Belastungsfähigkeit bei.
Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit gelten bei den Persönlichkeitsstörungen die gleichen Beurteilungskriterien wie bei Neurosen und Folgen psychischer Traumata (. Tab. 18.9).
18.8.1 Exkurs: Querulatorische Entwicklung und
Akzentuierung In der gesetzlichen Unfallversicherung und im sozialen Entschädigungsrecht treten bei Persönlichkeitsstörungen gelegentlich Akzentuierungen im Rahmen des Verfahrens auf. So kann bei entsprechender Persönlichkeit die Verweigerung der Anerkennung eines Gesundheitsschadens eine querulatorische Entwicklung einleiten, auch kann bei ängstlichen Persönlichkeiten die unfallbedingte psychische Symptomatik wesentlich ausgeprägter sein als bei emotional stabilen Menschen. Persönlichkeitsstörungen in dem oben genannten Sinn werden jedoch weder durch Unfälle noch durch chronische Belastungen verursacht.
515 18.10 Intelligenzminderung
Bewertung nach dem Zivilrecht Zivilrechtliche Fragen werden bei Persönlichkeitsstörungen z. B. dann aufgeworfen, wenn es bei paranoiden Persönlichkeiten um die Prozessfähigkeit geht. Häufig wird bei Querulanten eine »psychiatrische Lösung« dieses eigentlich der deutschsprachigen Rechtspflege entwachsenden Problems gesucht. Prozessunfähigkeit kann aber auch bei diesen für die Gerichte sehr lästigen Fällen nur angenommen werden, wenn etwa durch einen Wahn oder durch eine umfassende überwertige Idee die Fähigkeit zu vernünftigen Erwägungen und zu rationalem Denken verloren gegangen ist. > Lästiges und u. U. sogar selbstschädigendes Verhalten allein ist keine psychiatrische Grundlage für die Annahme von Prozess- oder Geschäftsunfähigkeit.
Bei histrionischen und gelegentlich auch bei asthenischen Persönlichkeiten stellt sich nach Unfällen mit konsekutivem Entschädigungsbegehren die Frage nach der Kausalität des Unfalltraumas für den späteren Schaden. Hier sind die gleichen Grundsätze wie bei den neurotischen Störungen anzuwenden.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Fahrereignung In den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz et al. 2000) existiert keine Kategorie »Persönlichkeitsstörungen« mehr. Vielmehr wird problematisches Verhalten im Straßenverkehr, wie es bei verschiedenen Persönlichkeitsstörungen vorkommen kann, im Kapitel »Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften« abgehandelt.
Auswirkungen auf das Verhalten als Kraftfahrer nicht mehr zu erwarten sind.
18.9
Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle
Den Störungen ist gemeinsam, dass die abnormen Gewohnheiten ohne vernünftige Motivation und meist zum Schaden der Betroffenen oder anderer Menschen durchgeführt werden. Die Betroffenen selber berichten, dass sie von unkontrollierbaren Impulsen zu diesen Handlungen getrieben werden und dass sich im Vorfeld des spezifischen Verhaltens eine Anspannung aufbaut, die während des Handelns selbst einem Gefühl der Erleichterung weicht. Zu diesen Störungen gehören nach ICD-10: 5 pathologisches Glücksspielen (ICD-10 F 63.0; DSM IV-TR 312.31), 5 pathologische Brandstiftung (Pyromanie) (ICD-10 F 63.1; DSM IV-TR 312.33), 5 pathologisches Stehlen (Kleptomanie) (ICD-10 F 63.2; DSM IV-TR 312.32), 5 andere Störungen der Impulskontrolle (ICD-10 F 63.3; DSM IV-TR 312.39).
Begutachtung Die Beurteilung entspricht der Beurteilung bei Persönlichkeitsstörungen, wobei dem Einzelfall besondere Beachtung zu schenken ist. Ein Beurteilungsschema ist aufgrund der Vielzahl möglicher unkontrollierbarer Impulse und Handlungen nicht sinnvoll.
18.10 Intelligenzminderung Wiedererlangung der Fahrereignung. Die Vorausset-
zungen für die Fahrereignung können bei Persönlichkeitsstörungen dann wieder gegeben sein (Lewrenz et al. 2000), wenn u. a. 5 Einsicht in die Problematik des Fehlverhaltens bzw. in die Ungewöhnlichkeit der Häufung besteht, die Ursachen der Verkehrsverstöße erkannt werden und risikoarme Vermeidungsstrategien entwickelt sind; 5 die wesentlichen Bedingungen, die für das problematische Verhalten maßgeblich waren, von dem Betroffenen erkannt werden; 5 innere Bedingungen (Antrieb, Affekte, Stimmungsstabilität bzw. -labilität, Motive, persönliche Wertsetzungen, Selbstbeobachtung, Selbstbewertung, Selbstkontrolle), die früher das problematische Verhalten determinierten, sich im günstigen Sinne entscheidend verändert haben; 5 ungünstige äußere Bedingungen, die das frühere Fehlverhalten mitbestimmten, sich in den entscheidenden Gesichtspunkten günstig entwickelt oder ihre Bedeutung so weit verloren haben, dass negative
Intelligenz ist nicht eindeutig definiert und hängt von einer Reihe von Fertigkeiten ab, z. B. von Kognition, von Sprache, von Merkfähigkeit, Gedächtnis, Übersichtsfähigkeit, von motorischen und sozialen Fertigkeiten. Bei Intelligenzminderungen können alle Fertigkeiten oder nur einzelne Teilbereiche beeinträchtigt sein. Die Einteilung der Intelligenzminderungen orientiert sich weitgehend am Intelligenzquotienten (IQ), obwohl in den Diagnosesystemen darauf hingewiesen wird, dass eine Reihe anderer Aspekte bei der Diagnostik berücksichtigt werden müssen. Intelligenz wird mit psychologischen Testverfahren (z. B. Hamburg-Wechsler-Intelligenztest oder Raven-Test) gemessen. Der dabei errechnete Intelligenzquotient (IQ) ergibt sich aus einem Vergleich des jeweils erzielten Testergebnisses mit den Durchschnittswerten einer Population gleichen Alters. Heute bedeutet ein IQ von 100, dass der Betreffende über die gleiche Intelligenz verfügt wie der Durchschnitt seiner Altersgenossen. 50% von ihnen sind weniger intelligent, sein Prozentrang ist somit 50.
18
516
1 2 3 4 5 6 7 8 9
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
Die Menschen sind bezüglich ihrer Intelligenz normal verteilt, wobei Abweichungen vom Mittelwert üblicherweise in Standardabweichungen angegeben werden. 1 Standardabweichung nach oben und 1 Standardabweichung nach unten decken zusammen 68% der Population ab, 2 Standardabweichungen in beiden Richtungen beinhalten 95,5%. 2,25% der Bevölkerung liegen jeweils unterhalb bzw. oberhalb der 2. Standardabweichung. Bei den gebräuchlichsten Intelligenztests entspricht eine Standardabweichung einem Wert von 15 IQ-Punkten. Ein IQ von 115 kennzeichnet somit einen Menschen, der eine Standardabweichung über dem Mittelwert liegt, ein IQ von 70 bedeutet, dass sich der Betreffende 2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert befindet. Menschen, deren IQ unter 70 liegt, werden in ICD10 als intelligenzgemindert, in DSM IV als geistig behindert bezeichnet. Die alleinige Ausrichtung der Diagnose »Intelligenzminderung« am gemessenen IQ wirft Probleme auf, weil es sehr wohl Menschen mit niedrigem IQ gibt, die spezielle Fähigkeiten oder Geschicklichkeiten aufweisen, z. B. ein gutes visuelles Gedächtnis, und andere, die trotz eines hohen IQ spezifische Einbußen aufweisen, z. B. im sprachlichen Bereich oder in der Fähigkeit, unterschiedliche Informationen zu verknüpfen.
11
> Die Beurteilung minderbegabter Menschen darf sich somit nicht auf die Feststellung eines niedrigen IQ beschränken, sondern muss soziale Fertigkeiten oder Teilleistungsschwächen berücksichtigen.
12
18.10.1 Ausprägungsgrade
10
Begutachtung Ein Großteil der gutachterlichen Fragestellungen bei intelligenzgeminderten Personen sind von Kinder- und Jugendpsychiatern zu beantworten, da die sozialrechtlichen Probleme der Eingliederung (§ 39 Abs. 1 BSHG), des Schutzes, der Förderung in einer Sonderschule für Lernbehinderte, der Unterbringung in einer beschützenden Werkstatt, der Pflegebedürftigkeit u. Ä. bereits in der Kindheit relevant werden. Bei Erwachsenen werden die Fragen der Betreuung und gelegentlich auch die Frage nach einer Sterilisation gestellt. Zur Abklärung des Ausmaßes an intellektuellen Einbußen ist eine psychologische Untersuchung unerlässlich. Ihre Aufgabe ist nicht nur die Messung des Intelligenzquotienten, sondern auch die Erstellung eines Leistungsprofils, aus dem Teilleistungseinbrüche, aber auch spezifische Fertigkeiten hervorgehen können. In komplizierten Fällen, z. B. bei Fragen nach der Prognose, kann auch eine (sozial)pädagogische Stellungnahme hilfreich sein, insbesondere wenn konkrete Förderungsmaßnahmen vorgeschlagen werden müssen.
Kommentar Bei der Beurteilung Intelligenzgeminderter ist es oft hilfreich, ihr geistiges Niveau und ihre soziale Kompetenz mit dem Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen zu vergleichen. Kinder unter 7 Jahren sind geschäftsunfähig, und Jugendliche werden erst mit 18 Jahren voll geschäftsfähig.
18.10.2 Exkurs: Umgang mit den Eltern
13 14 15 16 17 18 19 20
Die Intelligenzminderungen können für die Begutachtung in 3 Ausprägungsgrade unterteilt werden: 5 Leicht Minderbegabte können sich in aller Regel selbst versorgen und einfachen Arbeiten unter Anleitung nachgehen. Sie sind jedoch meist nicht in der Lage, die Hauptschule abzuschließen und einen Beruf auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erlernen. Ihre Sprachentwicklung ist in der Regel verzögert. 5 Mittelgradig intelligenzgeminderte Menschen können meist ihr Leben nicht selbstständig führen oder einer geregelten Tätigkeit nachgehen. Sie sind jedoch in der Lage, selbstständig zu essen, sich zu kleiden und weitgehend für ihre Körperhygiene zu sorgen. In beschützender Umgebung finden sie sich somit einigermaßen zurecht. 5 Schwer Intelligenzgeminderte benötigen dagegen ständige Aufsicht. Die Verständigungsmöglichkeiten mit ihnen sind drastisch eingeschränkt, sodass sie intensiver Zuwendung und Fürsorge bedürfen.
Ein besonderes Problem bei der Begutachtung stellt der Umgang mit den Eltern dar. Besonders bei exogen bedingten Intelligenzminderungen erlebt man wiederholt Schuldzuweisungen an offizielle Stellen. Perinatale Schäden werden nicht mehr wie früher als schicksalsgegeben hingenommen; heutzutage werden oft Verantwortliche gesucht und auf Kompensation gedrängt, z. B. auf Übernahme von Pflegekosten. Geistig behinderte Kinder bedürfen ständiger Umsorgung und beanspruchen sehr viel Aufmerksamkeit, wobei sie und ihre Eltern auf betreuende Einrichtungen angewiesen sind. Bei Konflikten wird für Fehlverhalten der Kinder gelegentlich von den Eltern die Betreuungseinrichtung und von der Einrichtung die mangelnde Kooperation der Eltern verantwortlich gemacht. Opfer derartiger Schuldzuweisungen sind oft die behinderten Kinder, die eine aus solchen Spannungen resultierende Ambivalenz nicht aushalten. Neben der nüchternen Klärung und Beantwortung der Gutachtenfrage kann es daher bestenfalls Auf-
517 18.10 Intelligenzminderung
gabe der Gutachter sein, Verständnis aufzubringen und Spannungen abzubauen.
Bewertung nach dem Sozialrecht Bei einer Intelligenzminderung handelt es sich um eine Behinderung im Sinne des Sozialrechts. Nach dem Bundessozialhilfegesetz haben die Betroffenen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die geistige Behinderung »wesentlich« ist, d. h. wenn »infolge der Schwäche ihrer geistigen Kräfte die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft in erheblichem Umfang beeinträchtigt ist« (Eingliederungshilfeverordnung). Sie haben darüber hinaus Anspruch auf den Besuch einer Schule, die ihre Eingliederung erleichtern soll. Kinder, die durch den Besuch einer Schule für Lernbehinderte überfordert werden, besuchen eine Sonderschule für geistig Behinderte. Mittelgradig Intelligenzgeminderte werden in aller Regel nie erwerbsfähig. Auch für einen Teil der leicht Intelligenzgeminderten bleibt der Arbeitsmarkt auf Dauer verschlossen. Fragen der Arbeitsunfähigkeit oder der Berufsunfähigkeit stellen sich bei diesen Personen nicht. Werden Intelligenzgeminderte in Werkstätten für Behinderte beschäftigt und gehen sie dort einer geregelten Tätigkeit nach, so werden sie in der Kranken- und Rentenversicherung versichert. Sie erwerben einen Rentenanspruch, der entweder beim Erreichen der Altersgrenze oder bei Erwerbsunfähigkeit zu einer Berentung führt. Sie sind durch die gesetzliche Unfallversicherung geschützt. > Minderbegabung allein kann aber kaum je einen Anspruch auf Berentung oder auf Zahlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung rechtfertigen. Es ist jedoch zu bedenken, dass die Kompensationsfähigkeit bei Traumata oder psychischen Belastungen bei Minderbegabten deutlich geringer ist als bei durchschnittlich Intelligenten.
Der Grad der Behinderung nach dem Schwerbeschädigtengesetz richtet sich ebenfalls nicht nur nach dem Ausmaß der Intelligenzminderung, sondern erfasst auch deren Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung im affektiven und sozialen Bereich, wobei ggf. auch die Reaktionen der Umwelt, die das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit dieser Menschen beeinträchtigen, zu berücksichtigen sind. Teilleistungsschwächen, z. B. eine Legasthenie ohne wesentliche Beeinträchtigung der Schulleistungen, werden mit einem GdB/MdE von 0–10, im Fall von Beeinträchtigungen von 20–30, bei seltenen besonders schweren Ausprägungen mit 50 eingestuft (. Tab. 18.12).
Bewertung nach dem Zivilrecht Geschäftsfähigkeit Zivilrechtliche Fragen werden bei Intelligenzgeminderten vorwiegend aufgeworfen, wenn sie 18 Jahre alt und somit dem Gesetz nach geschäftsfähig werden. In aller Regel besteht bei diesem Personenkreis eine Betreuungsbedürftigkeit wegen geistiger Behinderung. Dabei gelten die gleichen Grundsätze wie im Betreuungsrecht allgemein, nämlich, dass der rechtliche Eingriff in die Autonomie der zu Betreuenden möglichst gering sein soll und dass die Maßnahmen nur zu ihrem Wohl durchgeführt werden dürfen. Ob Geschäftsunfähigkeit anzunehmen ist, hängt sowohl vom globalen Ausmaß der Intelligenzminderung als auch von den spezifischen Defiziten der geistigen Entwicklung ab. Mittelgradige und schwere Intelligenzminderungen bedingen meist Geschäftsunfähigkeit; bei leichter Intelligenzminderung ist in vielen Fällen eine generelle Geschäftsunfähigkeit nicht anzunehmen, obwohl bei manchen Handlungen im Nachhinein davon ausgegangen werden muss, dass im konkreten Fall Geschäftsunfähigkeit vorlag. Eine solche Annahme ist nicht von der Schwierigkeit des Rechtsgeschäfts abhängig, sondern z. B.
. Tab. 18.12. Aus den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung
Schwerbehindertengesetz – Soziales Entschädigungsrecht GdB/MdE
Teilleistungsschwächen, je nach Ausprägung
0–40, in seltenen Ausnahmefällen 50
IQ von 60–70: 5 Wenn ein Ausbildungsberuf unter Nutzung der Sonderregelungen für Behinderte erreicht werden kann
30–40
5 Wenn der behinderte Mensch wegen seiner Behinderung trotz beruflicher Fördermöglichkeiten (z. B. in besonderen Rehabilitationseinrichtungen) nicht in der Lage ist, sich auch unter Nutzung der Sonderregelungen für behinderte Menschen beruflich zu qualifizieren
50–70
Bei IQ <60 und relativ günstiger Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Anpassungsmöglichkeit
80–90
Bei hochgradigem Mangel an Selbstständigkeit und Bildungsfähigkeit, Beschäftigung nur in einer Werkstatt für Behinderte
100
18
518
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
Kapitel 18 · Psychiatrische Begutachtung
davon, ob dieses Rechtsgeschäft unter massiver Einflussnahme Dritter zustande kam. Die Einrichtung eines Einwilligungsvorbehaltes kann bei diesen Personen sehr hilfreich sein, damit sie nicht allzu leicht Opfer ihrer größeren Verführbarkeit werden.
Einwilligungsfähigkeit Die Einwilligungsfähigkeit in ärztliche Behandlungen ist demgegenüber differenzierter zu sehen. Sie hängt von der Komplexität, von den zu erwartenden Risiken und von den Konsequenzen des Eingriffs ab. In leicht verständliche diagnostische und therapeutische Maßnahmen ohne großes Risiko, z. B. eine Blutentnahme, können auch mittelgradig Intelligenzgeminderte einwilligen. Komplexere Eingriffe bedürfen jedoch der Zustimmung der Betreuer. Allerdings behalten auch schwerst Intelligenzgeminderte ein Vetorecht bei Sterilisationen und bei ärztlichen Heilversuchen, die ohne ihre Zustimmung nicht durchgeführt werden dürfen, auch wenn Arzt und Betreuer dies für sinnvoll erachten.
Eignung für bestimmte Tätigkeiten Fahrereignung Intelligenzgeminderte scheitern in aller Regel schon bei der Fahrprüfung und bedürfen meist keiner psychiatrisch-psychologischen Untersuchung der Fahrereignung. Leichtere Intelligenzmängel beeinträchtigen die Fahrereignung nicht. Erst bei einem Intelligenzquotienten <70 muss mit fehlender Fahrereignung gerechnet werden, allerdings wird auch bei Probanden, deren IQ knapp über 70 liegt, eine erhöhte Anzahl von Unfällen registriert (Muggler-Bickel 1988). Neben der Intelligenzmessung kommt es bei der Beurteilung dieser Personen auch auf ihre sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten an, wie Zuverlässigkeit oder die Fähigkeit zum optimalen Einsatz der vorhandenen Leistungsfähigkeit. Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung (Lewrenz et al. 2000) weisen besonders auf die Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen hin und fordern eine sorgfältige Untersuchung der Persönlichkeitsstruktur und des Leistungsvermögens.
15 16
18.11 Suizid und Kapitallebensversicherung 18.11.1 Freiheit der Willensbestimmung vs.
17 18 19 20
»krankhafte Störung der Geistestätigkeit« Versicherungen versuchen, sich gegenüber Personen abzusichern, die, bei zum Vertragsabschluss feststehender Suizidabsichtk, Hinterbliebene nach ihrem Tod durch die Versicherung finanziell versorgt wissen wollen. Liegt der Todeszeitpunkt dann innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Vertragsabschluss, können Auszahlungen, z. B. bei einem sog. Bilanzsuizid, gemindert werden.
Die Frage einer Kapitallebensversicherung an psychiatrische Gutachter nach Suiziden ihrer Versicherten lautet, ob sich die Verstorbenen bei ihrem Suizid in einem »die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit« befunden haben.
Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig und muss sich zudem allein auf die Aktenlage stützen. Es kommt hier darauf an, eine mögliche Erkrankung und ihre Symptome plastisch zu beschreiben. Ein die freie Willensbestimmung ausschließender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit liegt nach der Rechtsprechung nur dann vor, wenn Probanden ihr Handeln nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen konnten und von unkontrollierbaren Trieben und Vorstellungen so sehr beherrscht wurden, dass ihre freie Entscheidung ausgeschlossen war. Dafür genügt die alleinige Feststellung einer psychiatrischen Krankheit bei weitem nicht. Allein die Tatsache, dass der Suizid stattgefunden hat, kann nicht mit der Annahme gleichgesetzt werden, dass diese Handlung in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit erfolgt ist, es könnten auch andere Motive eine Rolle gespielt haben (sog. Bilanzsuizid, z. B. bei Überschuldung).
18.11.2 Einfühlbare Motive vs. aufgehobene
Realitätskritik Das Vorliegen und Erkennen einfühlbarer Motive für den Suizid ist ein wichtiges Kriterium bei der Beantwortung der Frage, ob unkontrollierbare Triebe und Vorstellungen den Probanden in den Tod geführt haben. Lagen solche einfühlbaren Motive vor, ist es häufig ein Zeichen dafür, dass der verstorbene Proband nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand agiert hat. Man spricht in diesem Fall auch von einem kognitiv-resümierenden Suizid. Erst wenn die Realitätskritik durch eine psychiatrische Erkrankung aufgehoben wurde, kann ein »die freie Willensbestimmung ausschließender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit« angenommen werden. Dies kann z. B. bei affektiv-impulsiven Belastungs- und Versagenssituationen oder bei Wahnvorstellungen der Fall sein. Ob aber die Realitätskritik in diesen Situationen tatsächlich aufgehoben war, hängt überwiegend davon ab, ob man die festgestellten Anschlusstatsachen als Indizien für z. B. Wahnvorstellungen heranzieht. Darüber hat aber in erster Linie das Tatgericht und nicht mehr der psychiatrische Sachverständige zu entscheiden (BGH, NJW-RR 97, 664 f.).
519 Literatur
Literatur Buist-Bouwman, M. A.; De Graaf, R.; Vollebergh, W. A. M.; Alonso, J.; Bruffaerts, R.; Ormel, J. (2006) Functional disability of mental disorders and comparison with physical disorders: a study among the general population of six European countries Acta Psychiatrica Scandinavica, 113: 492–500 Dersh, J., Polatin, B., Gatchel, RJ. (2002) Chronic Pain and Psychopathology: Research Findings Theoretical Considerations. Psychosomatic Medicine, 64:773–786 Egle, U., Derra, C., Grunder, B. et al. (2007) Fibromyalgie und Leistungseinschränkung. Orientierungshilfe für die sozialmedizinische Begutachtung in der psychosomatischen Medizin. Psychotherapeut 52: 436–442 Foerster, K. (2000) Psychiatrische Begutachtung im Sozialrecht. Psychiatrische Begutachtung: Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. U. Venzlaff and K. Foerster. Urban & Fischer, , München, S 506–520 Folstein, MF., Folstein, SE, McHugh, PR. (1975) Mini-Mental State: A practical method for grading the state of patients for the clinician, Journal of Psychiatric Research. 12: 189–198 Grosch, E., Irle, H., Kruse, C., Legner, R. (2001) VDR-Projektgruppe. Empfehlungen für die sozialmedizinische Beurteilung psychischer Störungen. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Frankfurt a.M Häuser, W. (2002) Gibt es eine Schmerzkrankheit? Medizinische und psychosoziale Charakteristika von Probanden mit chronischen Schmerzsyndromen in der Sozialgerichtsbarkeit. Der medizinische Sachverständige, 4: 120–126 Hausotter, W. (2004) Begutachtung somatoformer und funktioneller Störungen. Urban & Fischer, München Hughes, CP., Berg, L., Danziger, W.L., Coben, LA., Martin, RL. (1982) A new clinical scale for the staging of dementia. Br J Psychiatry. 140,566–572 Lewrenz, H., Jagow, FJ., Eggersmann, A., Friedel, B., Joachim, H., Reif, E., Reinhardt, G., Schubert, W., Stephan, E., Tölle, R., Utelmann, H., Venhoff, H., Wagner, H., Winkler, W. (2000) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung des gemeinsamen Rates für Verkehrsmedizin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und beim Bundesministerium Gesundheit. Berichte der Bundesanstalt für Strassenwesen, Mensch und Sicherheit Heft M115. Wirtschaftsverlag NW, Verlag für Neue Wissenschaften, Bremerhaven Linden, M. Weidner, C. (2005) Arbeitsunfähigkeit bei psychischen Störungen. Nervenarzt 76: 1421–1431 Muggler-Bickel, J. (1988) Schwachsinn und Fahrtauglichkeit. Z Verkehrssicherheit 34: 11–115 Nedopil, N. (2007) Forensische Psychiatrie: Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht. Thieme, Stuttgart New York Rehfeld, U. (2006) Gesundheitsbedingte Frühberentung. Robert-KochInstitut: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 30 Reisberg, B., Ferris, S.H., de Leon, MJ., Crook, T. (1982) The global deterioration scale (GDS): an instrument for the assessment of primary degenerative dementia (PDD) Am. J. Psychiat. 139: 1136–1139 Stadtland, C., Gündel, H., Schütt, S., Nedopil, N. (2003) Kriterien zur Beurteilung der quantitativen Leistungseinschränkung bei der Begutachtung funktioneller körperlicher Störungen. Eine Literaturübersicht. Versicherungsmedizin 55: 111–117 Schepank H. (1995) Der Beeinträchtigungsschwerescore (BSS). Instrument zur Bestimmung der Schwere einer psychogenen Erkrankung. Beltz Test Gesellschaft, Göttingen Stadtland, C., Seidelmann, S., Wandl, U. (2007) Schadenminderungsbzw. Mitwirkungspflichten von Anspruchstellern unter besonderer Berücksichtigung der Berufsunfhigkeits- (zusatz-)versicherung
(BUZ) und der Aufgabe des ärztlichen Gutachters. Versicherungsmedizin 59: 26–36 Stärk, C. (2001) Begutachtung von alkoholauffälligen Kraftfahrern – das Problem der »stabilen Abstinenz«. Der Medizinische Sachverständige. 97: 232–234 VDR (2003) Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung. Springer, Berlin Heidelberg New York WHO (2000) Obesity: preventing and managing the global epidemic. WHO Technical Report Series 894, Genf Yudorfsky (1985) Malingering. In: Kaplan HJ, Sadock BJ, Hrsg. Comprehensive Textbook of Psychiatry IV. Williams & Wilkins, Baltimore London, pp 1862–1865
Internetadressen AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) www.awmf.org Leitlinien für die Begutachtung von Schmerzen. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) www.dge.de/pdf/ll/Adipositas-LL-2006.pdf Evidenzbasierte Leitlinie. Prävention und Therapie der Adipositas (Stand: 2006) Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung/ WHO – DIMDI. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (Stand Oktober 2005) VSBinfo.de (Informationen zum Versorgungs- und Schwerbehindertenrecht) www.anhaltspunkte.vsbinfo.de/ Anhaltspunkte. Kommentierung für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, 3. Auflage (Stand Juli 2006)
18
521
Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen C. Clemm, D. Pouget-Schors, U. Wandl
19.1
Diagnostik – 522
19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4 19.1.5
Tumorstaging und Therapieabschlusskontrolle – 522 Funktionsdiagnostik – 522 Psychosoziale Diagnostik – 524 Das psychoonkologische Gespräch – 524 Screening-Instrumente – 524
19.2
Krankheitsdefinitionen – 524
19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7 19.2.8 19.2.9 19.2.10 19.2.11 19.2.12
Begriffsdefinitionen – 524 Tumorentitäten – 525 Klinische Klassifikation – 525 TNM-Klassifikation – 525 Ann-Arbor-Stadieneinteilung für maligne Lymphome – 525 Histopathologisches Grading (G) – 525 Pathologische Klassifikation pTNM – 526 Chirurgische Klassifikation (R-Klassifikation) – 526 Beurteilung des Allgemeinzustandes von Tumorpatienten nach Karnofsky International Classification of Functioning (ICF) – 526 Prognose – 527 Krankheitsphasen – 527
19.3
Fragen nach der Kausalität von Tumorerkrankungen
19.3.1 19.3.2 19.3.3
Myelodysplastische Syndrome und akute Leukämien Myeloproliferative Syndrome (MPS) – 530 Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) – 530
19.4
Bewertung nach dem Sozialrecht – 530
19.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
19.5.1 19.5.2
Lebensversicherung – 531 Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung
19.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten – 532
19.6.1
Fahrereignung
19.7
Risikobeurteilung – 532
19.8
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
19.9
Sonderfragen – 534
19.9.1
Wann ist ein psychoonkologisches/psychosomatisches Zusatzgutachten erforderlich? – 534
Literatur
– 535
– 529
– 530
– 531 – 531
– 532
– 534
– 526
19
522
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
))
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
In diesem Kapitel geht es um die Folgen von Tumorerkrankungen und die damit einhergehenden Funktionseinschränkungen für den Patienten. Dabei steht nicht primär die Diagnose der Erkrankung im Mittelpunkt, sondern der Einfluss, den die Erkrankung zum Zeitpunkt der Begutachtung auf das Leistungsvermögen des Patienten hat. Dazu zählt zum einen das gesamte somatische Funktionsspektrum, zum anderen gehören dazu die psychosozialen Fähigkeiten bzw. Einschränkungen. Darüber hinaus sind Fragen relevant wie: Liegt eine sichere Heilung vor? Wie ist die weitere Prognose? Auch bei unsicherer Prognose muss der Gutachter den aktuellen Gesundheitszustand einschätzen. Das Fachgebiet der Psychoonkologie kann einen wichtigen Beitrag in der Anwendung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leisten. Die Psychoonkologie analysiert die psychologischen und sozialen Faktoren im Verlauf einer Krebserkrankung. Dabei werden v. a. die individuellen, familiären und sozialen Prozesse der Krankheitsverarbeitung berücksichtigt (Holland 1998; Sellschopp 2006). In diesem Kapitel werden wir immer wieder auf die gesamtheitliche Betrachtung des Tumorpatienten zurückkommen – unter besonderer Berücksichtigung der psychoonkologischen Einschätzung.
Die verschiedenen Tumortypen (systemische Tumorerkrankungen wie Lymphome und Leukämien sowie solide Tumoren wie z. B. Mammakarzinom, Bronchialkarzinom und Darmkarzinom) erfordern unterschiedliche therapeutische Maßnahmen: chirurgische Eingriffe, Strahlen- , Chemotherapie, Hormontherapien oder Stammzelltransplantationen. Diese Behandlungen werden sowohl bei lokalisiertem als auch bei systemisch metastasiertem Krankheitsbild eingesetzt. Neben dem Behandlungsergebnis (Heilung vs. Palliation) müssen bei der Begutachtung auch die Therapienebenwirkungen entsprechend gewertet werden – das schließt die Auswirkungen auf den gesamten Organismus und den Funktionszustand des Patienten ein. Für Tumoren kann man heute von einer 5-JahresHeilungsrate von ca. 60% ausgehen. Die 10-Jahres-Überlebensrate liegt aber bei nur 50%. Sehr schwierig ist die Prognose für Patienten, die nach primärer Heilung einen Rückfall erleiden und aufgrund therapeutischer Maßnahmen voraussichtlich noch einige Jahre leben können, auch wenn eine Heilung nicht möglich ist. Bei der Beurteilung steht hier nicht nur die statistische Überlebenszeit im Vordergrund, sondern v. a. die Aspekte 5 Lebensqualität und 5 Funktionseinschränkungen.
Dabei wird der Patient gemäß dem biopsychosozialen Krankheitsmodell, entsprechend den Kriterien der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), ganzheitlich betrachtet. So gelangt man am ehesten zu einer adäquaten Entscheidungsempfehlung.
19.1
Diagnostik
19.1.1 Tumorstaging und
Therapieabschlusskontrolle Jede Erkrankungsphase stellt unterschiedliche Anforderungen an die Diagnostik. Begonnen wird mit der Tumorausbreitungsdiagnostik, um adäquate therapeutische Maßnahmen planen zu können. Abschlussuntersuchungen dienen dazu, den Remissionsstatus festzustellen. In der Nachsorgephase geht es darum, eventuelle Tumorrezidive, Therapiefolgen oder gar Neuerkrankungen zu diagnostizieren. Die Diagnostik besteht immer aus der körperlichen Untersuchung, der Labordiagnostik sowie aus Spezialverfahren (z. B. bildgebende Verfahren, endoskopische Diagnostik und invasive Diagnostik). Für die Tumorausbreitungsdiagnostik, die Therapie und für Nachsorgeempfehlungen zu den einzelnen Tumorentitäten haben die onkologischen Fachgesellschaften eigene Leitlinien entwickelt.
19.1.2 Funktionsdiagnostik
Bei Diagnosestellung ist die Tumorausdehnung genau zu erfassen (Tumorausbreitungsdiagnostik). Während der Tumortherapie finden regelmäßige Verlaufskontrollen statt, um festzustellen, wie der Patient auf die Therapie anspricht und um mögliche Nebenwirkungen zu erfassen. Nach der häufig umfangreichen Abschlussuntersuchung werden im Rahmen der Nachsorge zum Teil Untersuchungsmethoden angewandt, die Aussagen über die Dauer des Therapieerfolges (Remission) und über Therapienebenwirkungen erlauben. Hier spielen die Auswirkungen der Erkrankung auf verschiedene Organsysteme und -funktionen eine wesentliche Rolle. . Tab. 19.1 zeigt die Spätfolgen von Tumorerkrankungen, deren auslösende Faktoren sowie die diagnostischen Möglichkeiten im Überblick. Anhand von Langzeitbeobachtungsstudien an Überlebenden von Kindheitstumoren konnte die Inzidenz von Spätfolgen erfasst werden (Geenen 2007). Es konnte gezeigt werden, dass nach einer mittleren Beobachtungszeit von 17 Jahren bei 75% der Überlebenden mindestens eine Nebenwirkung festzustellen war. 40% dieser jungen Patienten erlitten eine schwere oder lebensbedrohliche Episode, und 23,4% lebten mit schwerwiegenden gesund-
523 19.1 Diagnostik
. Tab. 19.1. Therapiespätfolgen bei Tumorerkrankungen Organ(system)
Klinische Manifestation
Auslösende Faktoren
Diagnostik
Auge
5 Katarakt 5 Retinopathien
5 Strahlentherapie 5 Steroidtherapie 5 Hormontherapie
5 Spaltlampenuntersuchung 5 Fundoskopie
Ohr
5 Minderung des Hörvermögens
5 Cisplatin-Therapie
5 Audiogramm
Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf
5 5 5 5 5
Organverlust, -defekt Karies Mundtrockenheit Geschmacksverlust Schluckstörungen
5 Operation 5 Chemotherapie 5 Strahlentherapie
5 Funktionstest
Blut
5 5 5 5
Chronische Anämie Thrombopenie Immundefizienz Graft-vs.-host-Reaktion (GvH)
5 Strahlentherapie 5 Chemotherapie 5 Knochenmarktransplantation
5 Blutbild 5 Knochenmarkpunktion 5 Immunologische Labortests
Herz
5 Kardiomyopathie (dilatativ oder restriktiv) 5 Arrhythmien
5 Anthrazykline 5 Mediastinale Radiotherapie
5 Herzecho zur LVEF-Bestimmung 5 24-Stunden-EKG
Respirationstrakt
5 »Chronic obstructive pulmonary disease« (COPD) 5 Bronchiolitis obliterans 5 Restriktive Lungenerkrankungen
5 Strahlentherapie 5 Chemotherapie 5 Infektionen
5 5 5 5
Magen-Darm-Trakt
5 5 5 5
5 Operation 5 Strahlentherapie
5 Funktionstest 5 Endoskopie 5 Röntgenverfahren
Leber
5 Chronische Hepatitis C 5 Leberzirrhose 5 Chronische GvH-Reaktion
5 Hepatitis-C-Infektion 5 Eisenüberladung
5 Hepatitisserologie 5 Leberbiopsie 5 Leberfunktionstest
Niere und ableitende Harnwege
5 Nephropathie 5 Inkontinenz
5 Ganzkörperbestrahlung 5 Chemotherapie (z. B. Cisplatin)
5 Nierenfunktionstest 5 Sonographie
Haut
5 GvH 5 Raynaud-Symptomatik 5 Strahlennekrosen
5 Knochenmarktransplantation 5 Bleomycin 5 Strahlentherapie
5 Inspektion
Skelett
5 Osteonekrose 5 Osteoporose
5 Bisphosphonattherapie 5 Steroidtherapie 5 Strahlentherapie
5 Radiologische Diagnostik 5 Knochendichtemessung
Gehirn
5 Leukenzephalopathie 5 Neuropsychologische Störungen
5 Kraniale Strahlen- und 5 lokale Chemotherapie (Schädel)
5 Bildgebende Verfahren 5 Neuropsychologie
Nervensystem
5 Periphere Neuropathie
5 Chemotherapie
5 Neurologische Diagnostik
Schilddrüse
5 Hypothyreose
5 Strahlentherapie
5 Engmaschige TSH- und T4Bestimmung
Gonaden
5 Ausfall der Gonadenfunktion 5 Fertilitätsstörungen
5 Strahlentherapie 5 Chemotherapie
5 Bestimmung von FSH, LH, Testosteron und Östradiol
Malabsorption Stenosen Maldigestion Inkontinenz
heitlichen Belastungen. Die Behandlung mit Strahlentherapie im Kindesalter hatte die schwersten Spätfolgen (z. B. Zweittumor). Die alleinige Chemotherapie verursachte weniger Spätfolgen als alleinige chirurgische Eingriffe.
Blutgasanalyse Thoraxröntgenaufnahme Lungenfunktionsdiagnostik Szintigraphie
Die Behandlungsfolgen einer Tumortherapie werden als akut, subakut oder chronisch eingestuft. Im Zeitverlauf nehmen die Nebenwirkungen in der Regel ab, es verbleibt jedoch häufig ein bestimmter Prozentsatz an chro-
19
524
1 2 3
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
nischen Therapiefolgen, die es zu erkennen und bewerten gilt (Hayes 2007). Sie zu erfassen ist auch prospektiv für die Optimierung von Therapiemaßnahmen wichtig. Dies hat in jüngster Vergangenheit zu Verbesserungen einzelner Maßnahmen geführt, wie z. B. brusterhaltende Operation statt Mammaamputation, Reduktion der CisplatinDosierung bei Hodentumoren, Reduktion der Strahlentherapiedosen bei Morbus Hodgkin.
Kommentar
4
Kommentar
5
Zur Beurteilung der Folgeschäden müssen die entsprechenden Spezialisten der jeweiligen Fachgebiete mit Sondergutachten beauftragt werden.
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
hezu alle Beschwerden bis hin zu Tumorerkrankungen durch psychische Auslöser erklärt werden können. Dagegen weist Schwarz (1994) nach, dass der Begriff »Krebspersönlichkeit« heute als obsolet anzusehen ist. Andererseits bagatellisiert der Patient das Thema psychische Belastung häufig wegen des hohen Risikos, als »psychisch krank« zu gelten.
Die Aufgabe des Gutachters ist es, unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsstruktur und der individuellen Belastbarkeit des Patienten die psychischen Symptomentwicklungen bzw. psychosozialen Faktoren und Folgen im Rahmen der Tumorerkrankung bei der Beurteilung herauszuarbeiten.
19.1.3 Psychosoziale Diagnostik
Zur Funktionsdiagnostik gehört im Rahmen der ganzheitlichen Beurteilung von Tumorpatienten insbesondere die Erfassung psychischer und sozialer Komponenten. Die psychoonkologische Diagnostik ist v. a. bei Patienten indiziert, die Anzeichen höherer psychischer Belastungen durch die Tumorerkrankung und deren Folgen aufweisen oder bei denen schon vorab eine psychische Erkrankung vorlag.
19.1.4 Das psychoonkologische Gespräch
Im Mittelpunkt des psychoonkologischen Gesprächs steht die freie Darstellung des Patienten. Diese ist zunächst darauf zentriert, wie der Patient subjektiv Tumordiagnose und -therapie erlebt. Dabei wird auch auf nonverbale und auf psychovegetative Zeichen geachtet. Gezielte Fragen nach Art, Inhalt und Schwere der Symptome, nach Anamnese und Aspekten der Persönlichkeit ergänzen die Darstellung des Patienten. Schließlich werden belastende Ereignisse oder Lebensveränderungen eruiert sowie eventuelle Hinweise auf eine Lebenskrise. > Von besonderem Interesse sind dabei Zusammenhänge zwischen Tumorerkrankung bzw. Tumorfolgen und psychischen Symptomen bzw. sozialen Faktoren wie auch die Auswirkungen dieser Symptome auf Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.
Wichtig ist es, das eigene Krankheitsmodell des Patienten im Sinne seiner »subjektiven Krankheitstheorie« (samt Vermutungen über die Krankheitsursachen und -folgen) aufzunehmen, auch wenn die Patiententheorie nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Einerseits wird von manchen Medien propagierten undifferenzierten Stressmodellen davon ausgegangen, dass na-
19.1.5 Screening-Instrumente
Es existiert eine Reihe von validierten Screening-Instrumenten: 5 einerseits die Selbstbeurteilung/das Selbst-Rating durch den Patienten über Fragebögen, 5 andererseits das Fremd-Rating durch den Arzt. Eine ausführliche Übersicht hierzu ist bei Mehnert (2006) zu finden; psychoonkologische Krankheitsdefinitionen 7 Kap. 19.2: spezielle psychiatrische Fragestellungen 7 Kap. 18: Psychiatrische Begutachtung).
19.2
Krankheitsdefinitionen
19.2.1 Begriffsdefinitionen Langzeitüberleben
Langzeitüberlebende sind mindestens 5 Jahre nach der Erstdiagnose der Tumorerkrankung ohne Hinweis auf ein Rezidiv. Heilung
Von einer Heilung spricht man, wenn sich nach molekularbiologischen, laborchemischen und bildgebenden Untersuchungsverfahren kein Hinweis auf residuelle Tumorzellen findet. Die Definition von »geheilt« ist allerdings problematisch, da bei einigen Tumoren auch viele Jahre später Rückfälle oder Metastasierungen auftreten können. Spätfolgen
Spätfolgen können sein: Organ- oder Gewebsschädigungen, Zweittumoren, Infektionen wegen abnormer Immunfunktion, Veränderung der Lebensqualität. Die Spät-
525 19.2 Krankheitsdefinitionen
folgen bleiben meist bestehen und können zu physischen oder psychischen Folgestörungen bzw. Erkrankungen führen.
19.2.5 Ann-Arbor-Stadieneinteilung für maligne
Lymphome Die Stadieneinteilung für maligne Lymphome richtet sich nach der 1971 festgelegten Ann-Arbor-Definition.
19.2.2 Tumorentitäten
Die ca. 100 verschiedenen malignen Tumoren werden nach dem Typ des entarteten Gewebes klassifiziert. Der weitaus größte Anteil der Tumoren ist epithelialen Ursprungs (Karzinome). Tumoren mesenchymalen Ursprungs gehören zur Gruppe der Sarkome. Tumoren, die von blutbildenden Vorläuferzellen oder den blutbildenden Organen abstammen, sind Leukämien und Lymphome. Für alle malignen Tumoren und malignen Lymphome werden Stadieneinteilungen vorgenommen. Die Bluterkrankungen werden in akute und chronische Leukämien eingeteilt.
19.2.3 Klinische Klassifikation
Unter der klinischen Klassifikation versteht man die Ausdehnung des Tumors vor Einleitung einer Behandlung. Die Tumorausdehnung wird durch eine körperliche Untersuchung, Laborparameter, bildgebende Verfahren, Endoskopie, Biopsie oder andere Verfahren zur Befunderhebung festgestellt.
19.2.4 TNM-Klassifikation
Die Stadieneinteilung für Karzinome richtet sich i. Allg. nach der TNM-Klassifikation. Das TNM-System beschreibt die anatomische Ausdehnung eines Tumors, basierend auf den in der Übersicht gezeigten 3 Komponenten.
TNM-Klassifikation 5 T = Ausdehnung des Primärtumors 5 N = Fehlen oder Vorhandensein und Ausdehnung von regionalen Lymphknotenmetastasen 5 M = Fehlen oder Vorhandensein von Fernmetastasen
Die Zahlen, die den Symbolen T, N und M beigefügt sind, geben die Ausdehnung der bösartigen Erkrankungen an. Die ansteigenden Zahlen zeigen eine Zunahme der Tumorgröße (T) oder der Ausdehnung (N, M) an, z. B.: T0, T1, T2, T3, T4; N0, N1, N2, N3; M0, M1. Bei M werden die befallenen Organe im Einzelnen aufgeführt.
Ann-Arbor-Stadieneinteilung für maligne Lymphome 5 I = Befall einer einzigen Lymphknotenregion (I, N) oder Befall einer einzigen Lymphknotenregion mit Übergriff auf benachbartes extralymphatisches Gewebe oder einzelner lokalisierter Herde in einem extralymphatischen Organ (I, E) (ausgenommen der Leberbefall: immer Stadium IV) 5 II = Befall von 2 oder mehr Lymphknotenregionen auf der gleichen Seite des Zwerchfells (II, N) oder lokalisierter Befall eines extralymphatischen Gewebes und einer oder mehrerer Lymphknotenregionen auf der gleichen Seite des Zwerchfells (II, E) 5 III = Befall von Lymphknotenregionen beidseits des Zwerchfells mit oder ohne Milzbefall oder Befall von Lymphknotenregionen beidseits des Zwerchfells mit oder ohne Milzbefall zusätzlich zu lokalisiertem Befall extralymphatischen Gewebes 5 IV = nichtlokalisierter diffuser oder disseminierter Befall eines oder mehrerer extralymphatischer Organe oder Gewebe mit oder ohne Befall des lymphatischen Systems Dabei bedeutet: N = nodal (Lymphknoten, Milz, Thymus, Waldeyer-Rachenring, Appendix und Peyer-Plaques), E = extranodal.
Allgemeinsymptome treten in etwa 1/3 der Fälle auf. Fehlen sie, so erhalten die Stadien I–IV den Zusatz A. Wenn mindestens eines der folgenden Allgemeinsymptome vorliegt, erhalten sie den Zusatz B: 5 Fieber (über 38°C, undulierend oder persistierend, nicht anderweitig erklärbar), 5 Nachtschweiß (mit Wechsel der Nachtwäsche, nicht anderweitig erklärbar), 5 Gewichtsverlust (von mehr als 10% des Körpergewichtes innerhalb der letzten 6 Monate, nicht anderweitig erklärbar).
19.2.6 Histopathologisches Grading (G)
Der histopathologische Grad ist eine Möglichkeit, quantitativ das Ausmaß zu beurteilen, in dem ein Tumor dem normalen Gewebe gleicht. Die Differenzierungsgrade werden numerisch ausgedrückt. Der höhere Grad hat we-
19
526
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
niger Ähnlichkeit mit dem Ursprungsgewebe als der niedrigere.
Histopathologisches Grading 5 5 5 5 5
Gx = Grad kann nicht festgelegt werden G1 = gut differenziert G2 = mäßig differenziert G3 = schwach differenziert G4 = undifferenziert
19.2.7 Pathologische Klassifikation pTNM
Diese Klassifikation basiert ebenfalls auf prätherapeutischen Angaben, zu denen die chirurgische bzw. pathologische Beurteilung hinzugezogen wird. Zur Bestimmung des Primärtumors (pT) ist eine Tumorresektion notwendig, die sich der höchsten pT-Kategorie zuordnen lässt. Die pathologische Beurteilung der regionalen Lymphknoten (pN) erfordert zudem, dass eine ausreichende Anzahl von Lymphknoten untersucht wird, um feststellen zu können, ob Lymphknotenmetastasen fehlen (pNO), bzw. um die Lymphknoten der exakten pN-Kategorie zuordnen zu können. Wenn T, N und M bzw. pT, pN und pM bestimmt sind, können diese Kategorien zu Tumorstadien zusammengefasst werden.
16
Der Karnofsky-Index wurde 1949 von David A. Karnofsky vorgeschlagen. Dieser Index (eigentlich Karnofsky performance status scale) ist eine Skala, mit der symptombezogene Einschränkungen der Aktivität, Selbstversorgung und Selbstbestimmung bei Patienten mit bösartigen Tumoren bewertet werden können (. Tab. 19.2). Sie reicht von maximal 100 Punkten (keinerlei Einschränkungen) bis zu 10 Punkten (moribund). In der Regel erfolgt die Abstufung in 10-Punkte-Schritten. Neben dem Karnofsky-Index gibt es heute bereits weiterentwickelte Instrumente zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Bullinger 2000), jedoch hat sich dieser Index für die Bewertung des Ausgangszustandes des Patienten etabliert und stellt neben den Einteilungen der WHO und der ECOG ein bewährtes Instrument dar.
19.2.10 International Classification of
Functioning (ICF) In der ICF-Klassifikation werden die folgenden Differenzierungen bei der Beschreibung von Behinderungen vorgenommen:
Unter Berücksichtigung von Lokalisation, Schweregrad und Verlaufskriterien werden v. a. auch psychische Störungen und das Vorliegen von Komorbidität einbezogen. Die entsprechende Klassifikation orientiert sich an der ICD-10. Aktivitäten
19.2.8 Chirurgische Klassifikation
15
Tumorpatienten nach Karnofsky
Schäden der Funktion und Struktur > Das klinische Stadium ist ausschlaggebend, um eine Therapie festzulegen und zu beurteilen. Das pathologische Stadium ermöglicht die präziseste Festlegung der Tumorausdehnung und dient der Prognoseeinschätzung und Ergebnisauswertung.
13 14
19.2.9 Beurteilung des Allgemeinzustandes von
(R-Klassifikation) Das Fehlen oder die Präsenz von residuellen Tumoren nach einer chirurgischen Behandlung wird mit dem Symbol R versehen. Die Definition der R-Kategorie kann erst nach einer histopathologischen Untersuchung wie in der Übersicht dargestellt festgelegt werden.
Beurteilt werden die unterschiedlichen Aktivitäten bzw. Störungen der Aktivitäten des alltäglichen Lebens. Diese sollen möglichst konkret beschrieben werden. Weiterhin sind Erwägungen zu treffen, welche Art von Unterstützung (Assistenz) für bestimmte Aktivitäten notwendig ist. Zentral ist die Einschätzung, inwieweit eine Aktivität zukünftig möglich oder nicht möglich sein wird (Prognose). Partizipation am täglichen Leben
17
Chirurgische (R-)Klassifikation
18
5 Rx = Vorhandensein von residuellem Tumor; Gewebe kann nicht beurteilt werden 5 R0 = kein residueller Tumornachweis 5 R1 = mikroskopischer residueller Tumor 5 R2 = makroskopischer residueller Tumor
19 20
Dabei geht es um die Art und das Ausmaß, in dem ein Individuum an bestimmten Lebensbereichen teilhat oder in diese einbezogen ist. Die Partizipation wird als Ausdruck der Wechselbeziehung zwischen den Gesundheitsproblemen des Individuums (z. B. Schäden und Aktivitätsstörungen) und dem jeweiligen Kontext angesehen. Zu überprüfen ist, an welchen Lebenswelten (z. B. Familienleben, Freizeitbereich, Berufswelt) oder sozialen Kontexten der Proband teilhat und welche Einschränkungen er aufweist (Schneider 2002).
527 19.2 Krankheitsdefinitionen
. Tab. 19.2. Karnofsky-Index zur Beurteilung des Allgemeinzustandes von Tumorpatienten Punkte 100
Normale Aktivität; keine Beschwerden; keine manifeste Tumorerkrankung
90
Normale Leistungsfähigkeit; minimale Krankheitssymptome
80
Normale Aktivität nur unter Anstrengung; geringe Krankheitssymptome
70
Unfähigkeit zu normaler Aktivität oder Arbeit; selbstständige Versorgung
60
Gelegentliche Unterstützung notwendig, aber noch weitgehende Selbstversorgung möglich
50
Ständige Unterstützung und Pflege, häufig ärztliche Hilfe notwendig
40
Überwiegend bettlägerig; spezielle Pflege erforderlich
30
Dauernd bettlägerig; geschulte Pflege notwendig
20
Schwerkrank; Hospitalisierung notwendig; aktive supportive Therapie erforderlich
10
Moribund
19.2.11 Prognose
Die Prognose ist abhängig von verschiedenen Parametern: 5 Ausmaß der Tumorrückbildung (CR = komplette Remission; PR = partielle Remission; NC = »no change«, unveränderter Befund), 5 fortschreitende Erkrankung (PD = »progressive disease«), 5 Remissionsdauer (ab Nachweis der CR), 5 Überlebenszeit (ab Zeitpunkt der CR), Toxizität der Therapie, Zweittumoren. Für die initiale Prognose spielt die Tumorgröße eine entscheidende Rolle. Deshalb werden Früherkennungsprogramme wie Mammographie, Koloskopie, PSA-Screening auch politisch gefördert. Was die Prognose der unterschiedlichen Tumoren und Tumorstadien angeht, so liefert die Statistik hilfreiche Daten, wird aber dem individuellen Fall nicht gerecht. Hier ist sicher die Unterscheidung einer primär kurativen Therapie von einer rein palliativen Therapie für den Patienten individuell aussagefähiger. Die exakte Bestimmung der kurativen Chance bereitet jedoch im Einzelfall Schwierigkeiten, diese kann sich im weiteren Therapie- und Krankheitsverlauf ändern. Dies hat oft nicht unerhebliche Auswirkungen auf die psychische Si-
tuation des Patienten. Während bei Durchführung aller tumorspezifischen therapeutischen Maßnahmen primär 60% der Patienten auf eine dauerhafte Heilung hoffen können, kann eine große Gruppe von Patienten (mit primär metastasiertem Stadium, ca. 40%) initial lediglich palliativ therapiert werden. Von den primär kurativ behandelten Patienten stellt sich bei 10–15% ein Rezidiv ein.
19.2.12 Krankheitsphasen
Akute Krankheitsphase Die akute Phase ist dadurch definiert, dass sich die Patienten durchschnittlich 3–6 Monate nach Diagnosestellung entsprechenden Therapien unterziehen (Chemotherapie, Strahlentherapie, Hormontherapie u. a.). Die häufig bemühte Definition einer Heilungsbewährung bei verschiedenen Tumoren muss unter dem Licht spät auftretender Rezidive hinterfragt werden. So können beim Mammakarzinom auch nach 20 Jahren vereinzelt Spätrezidive auftreten, ebenso bei anderen kurativ behandelten Tumoren. > In der akuten Krankheitsphase sind nahezu alle Patienten arbeitsunfähig bzw. eingeschränkt arbeitsfähig. In Ausnahmefällen ermöglichen es die heutigen ambulanten/ tagesklinischen Therapiemaßnahmen, die berufliche Tätigkeit fortzuführen. Ausschlaggebend ist der Wunsch des Patienten.
Phase »geheilt, aber mit Folgen« In früheren Jahren zeichneten sich die Therapien mit kurativer Intention durch hohe Nebenwirkungsraten aus, die den Patienten Langzeitschäden nicht ersparten. Auch heute noch treten z. B. infolge von Hochdosistherapien und Knochenmarktransplantationen bei Leukämiekranken in der Akutphase schwere Komplikationen auf, die zu anhaltenden Folgeerkrankungen führen können. Hier sei beispielhaft auf Anämie, Polyneuropathie, Strahlenpneumonitis, Fertilitätseinschränkung, Knochenveränderungen wie Osteoporose, Lungenfibrose, Polyneuropathie und sekundäre Tumoren hingewiesen.
Kommentar Im Einzelfall kann es schwierig sein, gutachterlich festzulegen, ob die Beschwerden Folgen der Tumorerkrankung oder der Therapie (Operation, Strahlentherapie/Chemotherapie/Hormontherapie) sind.
Weitere Folgen, die es zu bewerten gilt, sind Organ- und Gliedmaßenverluste. Letztere spielen eine bedeutende Rolle bei der Beurteilung der Berufsfähigkeit. Hierfür sind
19
528
1 2 3 4 5 6
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
die beruflichen Anforderungen von ebenso großer Wichtigkeit wie die funktionellen Ausfälle. Neben diesen gut definierten Folgen gibt es auch solche, die schwer zu objektivieren sind, z. B. die Chronic-fatigue-Symptomatik (Schubert 2006; Carlson 2004) oder das »Chemobrain«. Bei einer Chronic-fatigue-Symptomatik sind die Anforderungen an die Objektivierbarkeit besonders hoch, die jedoch als Cancer-related-fatigue-Syndrom in Abgrenzung zum Chronic-fatigue-Syndrom unter Berücksichtigung spezifischer Definitionen durchaus gegeben sein kann (Kriterien nach Cella et al. 2001). Die differenzialdiagnostische Abgrenzung von Depression und depressiver Krankheitsverarbeitung fällt häufig schwer, da es hier fließende Übergänge gibt. Wünschenswert ist die Verwendung eines praktikablen Evaluationssystems, wie z. B. Hospital Anxiety and Depression Score (HADS) (Herrmann et al. 1999).
7
Krankheitsphasenunabhängige psychoonkologische Krankheitsdefinitionen
8
Auf der psychoonkologischen Ebene sind die deskriptiven Krankheitsdefinitionen am ICD-10 orientiert. Ziel ist es, eine Diagnose zu stellen, die an den verbreiteten Klassifikationssystemen orientiert ist (ICD-10 bzw. DSM IV-TR). Allerdings gibt es im Bereich der Onkologie einen kleinen Prozentsatz von Fällen, bei denen schon vor der Tumorerkrankung psychische und psychosomatische Erkrankungen vorgelegen haben bzw. durch die Krebskrankheit reaktiviert worden sind.
9 10 11
Kommentar
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Psychosen und hirnorganische Störungen sollten in den entsprechenden spezifischen Facheinrichtungen der Psychiatrie begutachtet werden (7 Kap. 18).
Die Psychoonkologie ist häufig mit Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen im Sinne der reaktiven Folgestörung einer Krebserkrankung konfrontiert. Diese Störungen unterscheiden sich nach ICD-10 durch zwei Faktoren von primär psychischen Krankheiten: Sowohl die Krebsdiagnose wie auch therapeutische Maßnahmen stellen ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis dar, das eine akute Belastungssituation oder eine besondere Veränderung im Leben hervorruft. Die Folge kann eine reaktive Anpassungsstörung sein. Im Gegensatz zur individuellen Vulnerabilität sind hier die äußeren Auslösefaktoren immer eine direkte Folge der (sehr häufig) akuten schweren oder kontinuierlichen Belastung bzw. (in selteneren Fällen) eines Traumas im Sinne eines primären und ausschlaggebenden Kausalitätsfaktors (z. B. lebensbedrohliche somatische Symptome, eingreifende diagnostische Maßnahmen und verstümmelnde Operationen bzw. gravierende Nebenwir-
kungen von Strahlen- und Chemotherapie). Sie können erfolgreiche Bewältigungsmechanismen verhindern und daher zu einer Störung der psychosozialen Anpassung und Leistungsfähigkeit führen. Die nachfolgende Beschreibung der zwei häufigsten Störungen entspricht der internationalen Klassifikation des ICD-10. Weitere häufige Störungsbilder wie die depressiven Episoden nach F 32–33 und Angststörungen nach F40–41 werden übersichtlich im ICD-Manual klassifiziert (Dilling 1991). Spezielle Grundlagen zur psychoonkologischen Diagnostik, zur Indikation therapeutischer Maßnahmen und zu klinischen Aspekten der ScreeningMethoden bei Belastungssituationen finden sich bei Pouget-Schors (2008a–c).
Akute Belastungsreaktion (ICD-10 F 43.0) Das auslösende Ereignis wird verstanden im Sinne eines überwältigenden Erlebnisses mit einer ernsthaften Bedrohung für die körperliche Unversehrtheit und/oder einer plötzlichen bedrohlichen Veränderung der sozialen Stellung und/oder des Beziehungsnetzes. Das Risiko, diese Störung zu entwickeln, steigt für Personen, die an körperlicher Erschöpfung leiden oder bei denen organische Beeinträchtigungen vorliegen. Die Symptome beginnen typischerweise mit einer Art »Betäubung«, wohl im Sinne des psychischen Schocks, einer Bewusstseinseinengung, einer Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten. Diesem Zustand kann ein Rückzug oder aber ein Unruhezustand mit Überaktivität folgen, begleitet von psychovegetativen Panikzeichen wie Tachykardie, Schwitzen oder Erröten. Er klingt nach 24–48 Stunden ab und ist nach 3 Tagen nur noch minimal vorhanden.
Anpassungsstörung (ICD-10 F 43.2) Hier geht es um anhaltende Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach belastenden Lebensereignissen wie schwerer körperlicher Erkrankung auftreten, z. B. bei Krebs. Bei der Anpassungsstörung spielt die individuelle Disposition oder Vulnerabilität eine größere Rolle als bei den anderen Krankheitsbildern dieser Gruppe. Die Symptome sind depressive Stimmung, Angst, Besorgnis, ein Gefühl, unmöglich zurechtkommen, vorausplanen oder in der gegenwärtigen Situation fortfahren zu können sowie eine gewisse Einschränkung bei der Bewältigung der alltäglichen Routine. Besonders bei Jugendlichen kann es zusätzlich zu Störungen des Sozialverhaltens kommen, etwa zu aggressivem oder dissozialem Verhalten. Die Störung beginnt innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis und hält, folgt man der Operationaliserung des ICD-10, meist nicht länger als 6 Monate an, außer bei einer längeren depressiven Reaktion (F 43.21). Allerdings ist ein solches limitiertes Zeitfenster für Tumor-
529 19.3 Fragen nach der Kausalität von Tumorerkrankungen
patienten u. U. nicht passend, da oft bereits die somatische Akuttherapie darüber hinausgehen kann und psychische Folgesymptome mit Verzögerung auftreten und über Jahre anhalten können. Unter der Kodierung F 43.23 werden neben Angst, Depression und Sorgen auch andere affektive Qualitäten wie Anspannung und Ärger abgebildet. Die unter den beiden Kodierungen beschriebene Symptomatik ist im Begriff »Distress« enthalten, der v. a. in der angloamerikanischen Literatur im Sinne des ICD-10 grenzwertige und überschwellige Belastungen umfasst. Zum Distress liegen inzwischen Prävalenzzahlen für irgendeinen Zeitpunkt der Erkrankung aus nationalen und internationalen Studien vor: Zwischen 29,6 und 43,4% der Tumorpatienten, je nach Patientenselektion (z. B. Zabora et al. 2001), sind betroffen. Auch werden sog. Risikogruppen für behandlungsbedürftige psychische Begleiterscheinungen bei Tumorpatienten definiert (Pouget-Schors 2005). Daneben sind noch zwei weitere Diagnosen zu traumatischen Belastungen von Bedeutung, die wesentlich seltener zu stellen sind, differenzialdiagnostisch jedoch problematisch sein können. In beiden Fällen muss ein katastrophenartiges Ausmaß der lebensbedrohlichen Situation vorliegen. Diese Fälle kommen in ihrer Bedrohlichkeit bei Tumorkranken nicht häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung: Es sind zwischen 5 und 13,8% (Rieg-Appleson 2005).
heitlichen Beeinträchtigung wesentlich mitgewirkt hat. Ein zeitliches Zusammentreffen zwischen Ereignis und gesundheitlicher Störung reicht allein nicht aus, um eine Kausalität zu begründen. Maligne Erkrankungen gehen immer mit genetischen Veränderungen innerhalb einer Zelle einher. In den meisten Fällen entsteht der Krebs über Jahre bzw. Jahrzehnte im Sinne eines Mehrschrittmodells. Die Veränderungen können durch äußere Einflüsse (krebserregende Substanzen, Lebensführung) induziert werden oder durch genetische Instabilität bestimmter Zellsysteme zustande kommen. Rund 10% der malignen Erkrankungen sind nach heutigem Kenntnisstand auf die Vererbung von veränderten Genen zurückzuführen. Es sind aber auch einige krebserregende Noxen bekannt. Dazu gehören: 5 physikalische Noxen: ionisierende Strahlen (auch Röntgendiagnostik), 5 chemische Noxen: mutagene Chemikalien (z. B, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, Benzol, Chrom-VI-Verbindungen und Nitrosamine), 5 Onkoviren: verschiedene DNS-Viren (z. B. HepatitisB-Virus und humanes Papillomavirus; HPV) und diverse RNS-Viren
Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1)
Die Gefährlichkeit des Nikotinabusus (aktiv, passiv) ist in einer großen Anzahl von Studien nicht nur in Bezug auf das Lungenkarzinom, sondern auch in Bezug auf andere Tumoren gesichert. Dies spielt in der Begutachtung hinsichtlich der Kausalität eine Rolle.
Hier entsteht eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis im Sinne der »posttraumatic stress disorder« (PTSD) – das jedoch definiert ist als außergewöhnliche Bedrohung katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend) und das bei jedem Menschen eine tiefe Verstörung hervorrufen würde. Die Prävalenz liegt für Krebspatienten, die überlebt haben, bei 2–20%.
> An dieser Stelle sei angemerkt, dass ca. 30% aller Tumorerkrankungen durch die Inhalation von Nikotin verursacht werden.
Kommentar Beruflich bedingte Tumorerkrankungen sind in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt (Berufskrankheitenverordnung der Berufsgenossenschaften).
Anhaltende Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung (ICD-10 F 62.1) Bei einer Extrembelastung kann sich aus einer posttraumatischen Belastungsstörung eine anhaltende Persönlichkeitsstörung entwickeln.
19.3
Fragen nach der Kausalität von Tumorerkrankungen
Im versorgungsrechtlichen Sinne ist der Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und Gesundheitsstörung dann gegeben, wenn nach gültiger medizinischer Lehrmeinung mehr für als gegen die Wahrscheinlichkeit spricht, dass die primäre Schädigung bei einer gesund-
Beispielhaft genannt seien das durch Asbest hervorgerufene Pleuramesotheliom, Lungenkrebs durch Uran, Nickel oder Siliziumdioxid sowie Harnblasenkrebs durch aromatische Amine. Der qualifizierte Gutachter muss zu der Frage Stellung beziehen, ob ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Versicherten und seiner beruflichen Tätigkeit besteht. Ist dies der Fall, muss das angeschuldigte Karzinogen im Arbeitsbereich des Versicherten vorhanden (gewesen) sein im Sinne einer Einwirkung. Der Nachweis sollte möglichst quantitativ geführt sein. Am Beispiel von einigen hämatologischen Erkrankungen werden Zusammenhänge zur Tumorentstehung aufgezeigt.
19
530
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
19.3.1 Myelodysplastische Syndrome und akute
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Leukämien Für die Mehrzahl der myelodysplastischen Syndrome und akuten Leukämien kann kein Auslöser definiert werden. Allerdings existiert eine Reihe von leukämogenen Substanzen und Risiken aus den in der Übersicht genannten Bereichen.
Leukämogene Substanzen/Ursachen 5 Medikamente: 5 Zytostatika wie Topoisomerase-II-Hemmer und Alkylanzien 5 Toxine: – Benzol – Pentachlorphenol 5 Ionisierende Strahlen: – Strahlentherapie – Strahlenunfälle – Röntgendiagnostik 5 Genetische Ursachen: – Trisomie 21 – XXY (Klinefelter-Syndrom) – DNS-Repair-Enzymdefekte (Fanconi-Anämie, Bloom-Syndrom, Ataxia teleangiectatica, Neurofibromatose, Shwachman-Syndrom)
11 19.3.2 Myeloproliferative Syndrome (MPS)
12 13 14 15 16 17 18 19 20
Eine Erhöhung der Inzidenz der chronisch-myeloischen Leukämie (CML) durch radioaktive Strahlung wurde nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima beobachtet. Auch bei der Osteomyelofibrose (OMF) sind Fälle nach vorausgegangener Strahlenexposition bekannt. Für die Mehrzahl der Patienten mit CML und OMF fehlt jedoch der Nachweis einer Strahlenexposition.
19.3.3 Non-Hodgkin-Lymphome (NHL)
Neben Chemikalien wie Pestiziden und Fungiziden, die als Ursache aufgeführt werden, stellen v. a. erworbene und angeborene Immundefizienzsyndrome eine Prädisposition dar. Etwa 10% der HIV-positiven Patienten sterben an einem NHL. Die iatrogene Immunsuppression nach Organtransplantation oder bei Kollagenosen führt ebenfalls zu einem deutlich erhöhten Risiko einer Lymphomerkrankung. Eine Virusinduktion durch das Ebstein-Barr-Virus (EBV) ist bei den in Afrika endemischen Burkitt-Lymphomen und bei 10% der Fälle des nichtendemischen Burkitt-Lymphoms von Bedeutung, ebenso wie die Auslösung
durch HTLV-1 bei dem HTLV-1-positiven T-Zelllymphom in Asien.
19.4
Bewertung nach dem Sozialrecht
Der Grad der Behinderung (GdB) und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werden auch für Tumorerkrankungen nach gleichen Grundsätzen bemessen. Der GdB bezieht sich auf alle Gesundheitsstörungen nach der Tumorerkrankung, unabhängig von der Ursache (Sauer 2000). > Der GdB/MdE bezieht sich kausal nur auf die Schädigungsfolgen.
Für den Tumorpatienten werden hier die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung in allen Lebensbereichen berücksichtigt, nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben.
Kommentar Nach der Behandlung von Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, ist bei der Bemessung des GdB/MdE eine Heilungsbewährung abzuwarten. In den Fällen, in denen der verbliebene Organ- und Gliedmaßenschaden für sich allein keinen GDB-/MdE-Grad von 50 bedingt, ist i. Allg. nach Entfernen der Geschwulst im Frühstadium ein GdB/MdE von 50 und nach Entfernen der Geschwulst in allen anderen Stadien ein GdB/ MdE von 80 angemessen. Bedingen der verbleibende Organ- oder Gliedmaßenschaden und/oder außergewöhnliche Folge- oder Begleiterscheinungen der Behandlung einen GdB/MdE von 50 oder mehr, ist der bis zum Ablauf der Heilungsbewährung anzusetzende Gdb/MdE entsprechend höher zu werten.
Während der akuten Behandlungsphase maligner Therapien liegt meist ein GdB/MdE von 100 vor, der sich bis zum Therapieende hin nicht verändert. Wird eine komplette Remission erreicht, besteht für den Zeitraum der Heilungsbewährung (meist 3–5 Jahre) in der Regel ein GdB/MdE von 50–80. Bei alleinigen operativen Eingriffen (operative Entfernung von Tumoren im Frühstadium T1– 2, N0, M0) ohne weitere Interventionen besteht ein GdB/ MdE für den Zeitraum der Heilungsbewährung (ca. 2 Jahre) von 50–60. Am Beispiel des Morbus Hodgkin sei der GdB/MdE in . Tab. 19.3 exemplarisch aufgeführt. Das Ziel der Gesetzgebung ist eine Reintegration des Patienten in seine soziale Umwelt. Dazu zählt auch die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Deshalb sollte insbesondere bei jüngeren Tumorpatienten primär
531 19.5 Begutachtung privat versicherter Schäden
. Tab. 19.3. GdB/MdE bei Morbus Hodgkin Stadium I–IIIA
IIIB und IV
I–IV
GdB/MdE Bei lang dauernder Therapie (mehr als 6 Monate) bis zum Ende der Intensivtherapie je nach Auswirkung auf den Allgemeinzustand
60–100
Nach kompletter Remission für die Dauer von 3 Jahren (Heilungsbewährung)
50
Bis zur Beendigung der Therapie
100
Nach kompletter Remission für die Dauer von 3 Jahren (Heilungsbewährung)
60
Nach Ablauf der Heilungsbewährung richtet sich der GdB/die MdE nach den verbliebenen Organschäden
lediglich eine Berentung auf Zeit angestrebt werden. Bei absehbarem Berufsende oder fehlender kurativer Option allerdings muss eine Dauerrente auch frühzeitig angestrebt werden. Die Erwerbsunfähigkeit setzt voraus, dass der Versicherte infolge seiner Tumorerkrankung auf absehbare Zeit hin nicht mehr erwerbstätig sein oder nur geringfügige Einkünfte durch die Erwerbstätigkeit erzielen kann. Für das öffentliche Dienstrecht gilt, dass bei malignen Erkrankungen, die intensive Therapiemaßnahmen erforderlich machen, ein Beamter dienstunfähig ist. Bei Tumoren ohne erforderliche systemische Therapie (chirurgisch entfernbare Tumoren in frühen Stadien) kann weiterhin Dienstfähigkeit bestehen. Bei überstandenen Tumorerkrankungen v. a. in frühen Stadien sollte nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit einer Verbeamtung nichts mehr im Wege stehen. Allerdings muss hier das Risiko von Zweittumorerkrankungen oder Therapiespätfolgen (insbesondere bei Tumoren im Kindes- und Jugendalter) im Einzelfall berücksichtigt werden.
19.5
Begutachtung privat versicherter Schäden
19.5.1 Lebensversicherung
Im Todesfall spielt die Ursache nur eine Rolle, wenn ein Suizid zum Tode geführt hat oder eine vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung vermutet wird. Ergibt sich aus den Unterlagen, die beim Todesfall eingereicht werden, dass die ursprünglich im Antrag gestellten Fragen nicht oder nicht vollständig oder nicht wahrheitsgemäß beantwortet wurden, kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten.
19.5.2 Berufs-, Erwerbs- und
Dienstunfähigkeitsversicherung Die Diagnose einer Tumorerkrankung bedeutet in erster Linie Arbeitsunfähigkeit. Der Zeitraum der Arbeitsunfä-
higkeit hängt von der Tumorart, der Schwere der Erkrankung sowie von der Intensität und Dauer der Therapie ab. Wenn sich Krankheit und Behandlungsbedürftigkeit mindestens 6 Monate hinziehen oder laut prognostischer Einschätzung voraussichtlich mindestens 6 Monate andauern werden, sind die Kriterien für Berufsunfähigkeit zunächst erfüllt (u. a. Reichardt et al. 2006). Der Gutachter muss insbesondere auch die Auswirkung der Erkrankung auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Versicherten angeben. Im Falle einer infausten Prognose bestehen keine Schwierigkeiten, die Berufsunfähigkeit anzuerkennen. In der Phase der Heilungsbewährung ist es bisweilen schwierig, die Gesundheitsstörungen zu erfassen, etwa den Kräfteverfall oder psychische Auswirkungen der Erkrankung. > Es ist nach einer erfolgreich abgeschlossenen Behandlung von einer Rekonvaleszenzphase zwischen 3 und 6 Monaten auszugehen.
Die Versicherungen können durch ein Nachprüfungsverfahren (normalerweise 1–2 Jahre nach Anerkennung oder nach freier Vereinbarung) die Berufsunfähigkeit erneut überprüfen lassen. Sollte sich die Erkrankung als nicht heilbar erweisen, ist die Anerkennung unstrittig. Anderenfalls spielen andere Faktoren wie funktionelle Auswirkungen der Erkrankung, psychische und psychosoziale Beeinträchtigungen oder Therapienebenwirkungen eine entscheidende Rolle. Im Rahmen der Leistungsprüfung werden die behandelnden Ärzte zu Diagnose, Art der Behandlung, Prognose, Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und Leistungsvermögen des Versicherten befragt. Bei der Begutachtung selbst ist es essenziell, eine genaue Beschreibung der zuletzt ausgeübten Tätigkeit vorliegen zu haben, das Anforderungsprofil zu kennen und dies in Bezug zur Leistungsfähigkeit des Versicherungsnehmers zu setzen. Ein besonderes Augenmerk ist auch auf die Frage zu richten: Lässt sich durch gezielte therapeutische Maßnahmen der Zustand des Patienten so verbessern, dass schließlich die Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt ist?
19
532
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) kann hier v. a. wegen der klaren Struktur und der international normierten Terminologie von rein negativ-deskriptiven Leistungsbefunden abhelfen (z. B. Weigl et al. 2004). Die Systematik der Fallstrukturierung nach Komponenten der ICF minimiert das Risiko, wichtige Teilaspekte (Diagnosen, Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten, Teilhabe, umweltbezogene und personenbezogene Kontextfaktoren) zu übersehen. Die Verwendung der Komponenten der ICF erleichtert es ferner, zu erkennen, welche Unterstützung für die Betroffenen notwendig ist, damit sie möglicherweise erwerbstätig bleiben können. Da mit der ICF eine Momentaufnahme erstellt wird, ist sie auch geeignet, den Verlauf nach erfolgten Maßnahmen zu beurteilen oder den Genesungsprozess zu beobachten. Allerdings stellt die ICF kaum diagnostische Kriterien für die Dimensionen zur Verfügung, die für die Begutachtung in der psychosomatischen Medizin relevant sind. Das gilt v. a. für die Dimension der Funktionsstörungen und Aktivitäten (Schneider et al. 2001). Daher empfiehlt es sich, wie in dem Beispiel der . Abb. 19.1 psychische Inhalte im Bereich personenbezogener Faktoren zu ergänzen.
Beispiel Kindergärtnerin, 37 Jahre alt Eine Fallstrukturierung nach Komponenten der ICF (. Abb. 19.1) mit Förderfaktoren und Barrieren ist am Beispiel einer 37-jährige Kindergärtnerin gezeigt. Bei ihr wurde ein Mammakarzinom links diagnostiziert und behandelt. Weiterhin liegt eine ängstlich-depressive Anpassungsstörung vor. Die Gutachterfrage ist in diesem Beispiel die Frage nach Bestehen einer Berufsunfähigkeit. Aus dem Beispiel wird deutlich, dass Barrieren bezüglich Körperfunktionen und Barrieren mit daraus folgender Beweglichkeitseinschränkung vorliegen. Sie müssen aktiv angegangen werden. Dazu ist die Armbeweglichkeit durch intensive Krankengymnastik zu verbessern, um das Handicap für die häusliche und berufliche Tätigkeit zu mindern. Gleichzeitig müssen die vorhandenen Ressourcen im Rahmen einer psychoonkologischen Behandlung verbessert werden, um trotz der ängstlich-depressiven Anpassungsstörung der Patientin die Teilhabe am beruflichen Erfolg zu sichern. Während der Behandlung werden Lösungen gefunden, mit deren Hilfe die Patientin erneut ins Arbeitsleben integriert werden kann.
Kommentar Für den Gutachter besteht die Schwierigkeit darin, zu entscheiden, wie weit die Belastbarkeit der Patienten den beruflichen (und häuslichen) Anforderungen genügt. Häufig aber berücksichtigen die Fragen an den Gutachter den Heilungsverlauf zu wenig. Des Weiteren ist zu bemängeln, dass gutachterliche Empfehlungen zur Rehabilitation in der Praxis zu selten umgesetzt werden.
19.6
Eignung für bestimmte Tätigkeiten
19.6.1 Fahrereignung
Einschränkungen für bestimmte Tätigkeiten können sich einerseits aus der Schwere der Grundkrankheit, andererseits aus den Therapienebenwirkungen ergeben. Patienten mit Anämie und Blutungsneigung sind nicht für das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 oder zum Führen von Kraftfahrzeugen, die der Fahrgastbeförderung dienen, geeignet. Im Fall von reduziertem körperlichem Allgemeinzustand (Karnofsky-Index <70%) und sedierenden Medikamenten ist eine Fahrtauglichkeit ebenso ausgeschlossen. Bei gut eingestellter Schmerztherapie mit opioidhaltigen Analgetika kann bei entsprechender ärztlicher Einschätzung die Fahrtauglichkeit gegeben sein. Patienten mit epileptischen Anfällen ist das Führen von Fahrzeugen nicht erlaubt.
19.7
Risikobeurteilung
Zur Risikobeurteilung für Lebensversicherungen liegen spezielle Richtlinien bei den einzelnen Versicherern vor. Die privaten Lebensversicherungen prüfen anhand der Beantwortung der Gesundheitsfragen des Versicherungsnehmers und ggf. mit Hilfe zusätzlicher ärztlicher Unterlagen die Versicherbarkeit des Antragstellers. Bei der Beurteilung der Versicherbarkeit werden Tumorstadien, Remission der Erkrankung und Heilungsbewährungsphase im Besonderen berücksichtigt. Selbst bei Leukämieerkrankungen ist es möglich, nach einer unterschiedlich langen Wartezeit mit entsprechenden Zuschlägen eine Lebensversicherung abzuschließen. Die Entscheidung, ob mit einem Patienten eine Lebensversicherung abgeschlossen wird, liegt allein beim Versicherungsunternehmen. In Abhängigkeit vom zu versichernden Risiko (Leben, Pflege, schwere Erkrankung, Rente) kann die Entscheidung über die Annahme vollkommen unterschiedlich ausfallen.
533 19.7 Risikobeurteilung
Gesundheitsproblem/ICD-10 Zustand nach Mammakarzinom links
Förderfaktoren
Barrieren
Anpassungsstörung, Angst und depressive Reaktion gemischt; ICD-10 F 43.22 Körperfunktionen und -strukturen – Schulter-Arm-Beweglichkeit deutlich eingeschränkt
×
– Schmerzen im Schulter-Arm-Bereich
×
– Taubheitsgefühl im linken Arm
×
Aktivitäten – Einschränkung bei Tätigkeiten, die mit Ad-/Abduktion des Armes verbunden sind (An-/Auskleiden etc.) – Beeinträchtigung beim Heben und Tragen, bei Überkopfarbeiten
× ×
– Beeinträchtigung im Haushalt und bei der Versorgung des 2-jährigen Kindes
×
Teilhabe (Partizipation) – verminderte Belastbarkeit im Beruf
×
– erschwertes Aufrechterhalten persönlicher/sozialer Beziehungen (Partnerschaft/Freunde) – Beeinträchtigung der Selbstversorgung/Körperpflege
× ×
– erschwerte Versorgung des Kindes
×
– beeinträchtigte Freizeitgestaltung (Hobby/Sport)
×
Umweltbezogene Faktoren – Arzthaftpflichtschaden
×
– vermehrte ärztliche Inanspruchnahme
×
– Wohnsituation: 2. Stock, Treppen – Arbeitsplatzsituation: stabiler Arbeitsplatz, einzügiger Kindergarten
× ×
Personenbezogene Faktoren – ledig, ein Kind (2 Jahre) – lebt allein mit ihrem Sohn in der Eigentumswohnung – erhöhter familiärer Unterstützungsbedarf – erschwerte Aufrechterhaltung des Selbstgefühls durch Körperbildstörung, depressive Verstimmung und Rezidivangst – überwiegend positive aktive Krankheitsverarbeitung – gute familiäre Ressourcen (Lebensgefährte und Eltern)
× × × ×
. Abb. 19.1. Fallstrukturierung nach Komponenten der International Cassification of Functioning (ICF) am Beispiel einer Mammakarzinompatientin (Anpassungsstörung, Angst und depressive Reaktion gemischt; ICD-10 F 43.22)
19
534
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
19.8
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Verbesserung der Prognose durch Rehabilitation
Zunächst muss das für den Patienten geeignete Rehabilitationsziel definiert werden, um aus der Fülle der Rehabilitationsangebote das geeignete herauszusuchen. Eine Rehabilitationsmaßnahme (ambulant oder stationär) muss sich an diesem Rehabilitationsziel, den Möglichkeiten des Patienten, der Einrichtung und anderen Faktoren (z. B. Heimatnähe) orientieren. Für bestimmte Tumorerkrankungen sind ebenso wie für andere Erkrankungen aus den Fachgebieten Kardiologie, Neurologie, Orthopädie spezielle Einrichtungen zu bevorzugen, die sich nach akutellen Therapierichtlinien, Nachsorgeanforderungen und gezielter Tumorbehandlung ausrichten. Hierbei ist besonderes Augenmerk auf eine psychoonkologische Unterstützung sowie sozialrechtliche Hilfen und eine ganzheitliche Therapieplanung zu richten. In enger Zusammenarbeit mit den Tumorzentren werden in den Rehabilitationskliniken Patienten mit speziellen neueren evidenzbasierten Therapieverfahren behandelt. Abzulehnen sind Einrichtungen, die sich durch unqualifizierte Angebote (Heilungsversprechungen) direkt an den Patienten wenden und seine Ängste ausnutzen.
19.9
Sonderfragen
arbeitung und im Krankheitsverhalten (ComplianceProbleme), wenn – ein hohes Maß an Leidensdruck im Verhältnis zum Ausmaß der Beschwerden vorliegt bzw. ein hohes Maß an körperlicher und seelischer Bedrohung, – es Hinweise auf ausgeprägten sekundären Krankheitsgewinn gibt oder – der Verdacht auf Aggravation bzw. Simulation besteht. 5 Zum Dritten schließlich ergibt sich die Indikation aufgrund persönlicher Belastungen, wenn es in der Lebensgeschichte oder in Zusammenhang mit der Tumorerkrankung Hinweise auf Traumatisierungen gibt. Besteht der Verdacht, dass eine Psychose oder eine hirnorganische Störung vorliegt, ist eine psychiatrische Begutachtung indiziert. Nicht selten begegnet der Proband in der psychoonkologisch-psychosomatischen Begutachtenssituation das erste Mal einem Spezialisten für seine Probleme. Dies eröffnet ihm die Chance, über eine veränderte Reflexion über sich und seine Beschwerden sowie über die andere Art der Gesprächsführung und Interaktion zu relevanten Lernprozessen und inneren Umorientierungen zu kommen. > Die Begutachtung sollte durchaus die Funktion haben, den Probanden, soweit angezeigt, zu etwaigen therapeutischen oder rehabilitativen Maßnahmen zu motivieren.
19.9.1 Wann ist ein psychoonkologisches/
psychosomatisches Zusatzgutachten erforderlich? Nach Schneider et al. (2001) kann zwischen 3 Indikationskriterien für psychosomatische Gutachten unterschieden werden (adaptiert für die psychoonkologische Fragestellung). 5 Zum Ersten ist ein psychosomatisches krankheitsbezogenes Gutachten indiziert, wenn – es eine deutliche Diskrepanz gibt zwischen den angegebenen körperlichen Beschwerden und den organischen Befunden, – »Pseudodiagnosen« vorliegen wie »psychovegetative Dystonie«, »larvierte Depression« etc., – bedeutsame psychische Symptome vorliegen wie Ängste und depressive Verstimmungen, – es Probleme im Interaktionsverhalten gibt, – ein Patient eine Begehrensneurose entwickelt, weil die psychosozialen Folgen seiner Tumorerkrankung über Jahre nicht erkannt wurden und er keine Hilfestellung bekam. 5 Zum Zweiten kann die Indikation bestehen aufgrund einer Dysfunktionalität in der psychosozialen Anpassung an die Tumorerkrankung, in der Krankheitsver-
Hier liegt nach wie vor eine großes Problem: Dem rehabilitativen Gedanken bleibt allzu oft aufgrund der speziellen sozialen Dynamik im Gutachtenverfahren nur wenig Raum (Schneider 2002).
Kommentar Aufgabe eines psychosomatisch-psychoonkologischen Fachgutachtens ist es, die Diagnose und das damit verbundene sozialmedizinische Gesamtbild darzulegen, die damit verbundenen Probleme der Krankheitsbewältigung zu verdeutlichen, prognostische Aussagen zu machen und Vorschläge zu Maßnahmen der Therapie bzw. der weiteren Rehabilitation zu formulieren.
535 Literatur
Literatur Schritte bei der Begutachtung psychoonkologisch-psychosomatischer Beschwerdebilder anhand einer validierten Checkliste 5 I. Schritt: Feststellen des Befunds, der Schwere der Erkrankung 1. Somatischer Befund 2. Psychischer Befund [Einschätzung der körperlichen, geistigen, seelischen Integrität (ICIDH = Fähigkeitsstörungen] 3. Schweregradeinschätzung [z. B. über den Fragebogen Belastungs-Schwere-Score (BSS) von Schepanck] 4. Tumorkrankheits-/Störungsfolgen (Fähigkeits-/ Leistungsstörungen, Handicaps) 5. Psychische Komorbidität (leistungsrelevant) 6. Beschwerdeverlauf – situative Auslöser 7. Art der Beschwerdeschilderung (Dissimulation, Simulation, Aggravation) 5 II. Schritt: Einschätzung der Umstellbarkeit des Patienten: Veränderungsmöglichkeit und Veränderungsfähigkeit 1. Chronifizierungsbegüngstigende Bedingungen – Arbeitsplatzbezogen (extern, intern, anamnestisch, behandlungsbezogen, verarbeitungsbezogen; ausgeprägtes Krankheitsverhalten) 2. Psychodynamische Bedeutung von Arbeitsstörungen – Bedeutungserleben der Tumorkrankheit – Krankheitsfixierende Einstellungen/Haltungen – Personale Risikofaktoren bzw. Ressourcen – Ressourcenorientierte Ich-Leistungen – Familiäre Ressourcen/Risikofaktoren – Soziale und materielle Ressourcen 5 III. Schritt: Veränderungsmotivation Anregbarkeit der Therapiemotivation (Verhalten im Gespräch, ggf. Verhaltensbeobachtung im klinischen Setting)
Schneider (2001) hat Kriterien zur Beurteilung der psychosozialen Kompetenzen vorgeschlagen, die kognitive, emotionale, motivationale und handlungsbezogene Merkmalsbereiche umfassen.
Kommentar Bei der Begutachtung der Leistungsfähigkeit müssen nicht nur die somatischen oder psychischen Schädigungen beurteilt werden, sondern insbesondere die Folgen der Tumorerkrankung für die psychosoziale Anpassungsfähigkeit des Individuums.
Brockow, T.; Duddeck, K.; Geyh, S.; Schwarzkopf, S.; Weigl, M.; Franke, T. & Brach, M. (2004) Identifying the concepts contained in outcome measures of clinical breast cancer trials using the International Classification of Functioning, Disability and Health as a reference, J Rehabil Med, Suppl 44):43–8 Bullinger, M.; Ravens-Sieberer, U.; Siegrist, J.: Gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Medizin – eine Einführung, in Lebensqualitätsforschung aus medizinpsychologischer und soziologischer Perspektive. Jahrbuch der Medizinischen Psychologie Band 18, Bullinger, M.; Siegrist, J.; Ravens-Sieberer, U.: Editors. 2000, Hogrefe, Göttingen. p. 11–24 Carlson, L., Angen, M., Cullum, J., Goodey, E., Koopmans, J., Lamont, L., MacRae, J., Martin, M., Pelletier, G., Robinson, J., Simpson, J., Speca, M., Tillotson, L. & Bultz, B. (2004) High levels of untreated distress and fatigue in cancer patients, British Journal of Cancer, 90:2297– 2304 Cella, D., Davis, K., Breitbart, W., Curt, G. & for the Fatigue Coalition, (2001) Cancer-Related Fatigue: Prevalence of Proposed Diagnostic Criteria in a United States Sample of Cancer Survivors, Journal of Clinical Oncology, 19 (14):3385–3391 Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H. (Hrsg) (1991) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, Huber, Bern Geenen, M.M. (2007) Medical Assessmant of Adverse Health Outcomes in Long-Term Survivors of Childhood Cancer, JAMA, 297(24):2705– 2715 Hayes, D.F. (2007) Follow-up of patients with early breast cancer, NEJM, 356:2505–2513 Herrmann, C., Kaminsky, B., Rüger, U. & Kreuzer, H. (1999) Praktikabilität und klinische Relevanz eines routinemäßigen psychologischen Screenings von Patienten in internistischen Allgemeinstationen, PPmP, 49:48–54 Holland, J.C. (ed) (1998) Psycho-Oncology. Oxford University Press, New York Mehnert, A., Herschbach, P., Berg, P., Henrich, G. & Koch, U. (2006) Progredienzangst bei Brustkrebspatientinnen - Validierung der Kurzform des Progredienzangstfragebogens PA-F-KF, Z Psychosomatische Medizin Psychotherapie, 52(3):274–288 Pouget-Schors, D. & Degner, H. (2005) Erkennen des psychosozialen Behandlungsbedarfs bei Tumorpatienten, Manual des Tumorzentrums München »Psychoonkologie« – Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge, 2. Aufl. Zuckschwerdt, München Pouget-Schors, D. (2008a) Kap. 2.6 Psychoonkologische Diagnostik. In: Dorfmüller, M. & Dietzfelbinger, H. (Hrsg) Psychoonkologie. Diagnostik – Methoden – Therapieverfahren – Fachspezifische Aspekte. Elsevier, München (im Druck) Pouget-Schors, D. (2008b) Kap. 2.7 Kriterien des psychoonkologischen Interventionsbedarfes. In: Dorfmüller, M. und Dietzfelbinger, H. (Hrsg) Psychoonkologie. Diagnostik – Methoden – Therapieverfahren – Fachspezifische Aspekte. Elsevier, München (im Druck) Pouget-Schors, D. (2008c) Kap. 2.8 Darstellung von Screeninginstrumenten zur Klärung des psychoonkologischen Behandlungsbedarfes. In: Dorfmüller, M., Dietzfelbinger, H. (Hrsg) Psychoonkologie. Diagnostik – Methoden – Therapieverfahren – Fachspezifische Aspekte. Elsevier, München (im Druck) Reichardt, B., Stadtland, C., Wandl, U. (2006) Berufsunfähigkeit und psychische Erkrankungen - eine Herausforderung für die Leistungsregulierung. Z Versicherungswesen 21: p. 685–691 Rieg-Appleson, C. (2005) Posttraumatische Belastungreaktion bei Krebserkrankungen, Manual des Tumorzentrums München »Psychoonkologie« – Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge, 2. Aufl. Zuckschwerdt, München
19
536
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kapitel 19 · Interdisziplinäre Onkologie – Tumorerkrankungen und deren Folgen
Sauer, H. (2000) Begutachtung bei malignen Tumoren. In: Therapeutische Prinzipien. Wilmans, Huhn, Wilms (Hrsg) Thieme, Stuttgart New York, pp 324–327 Schneider, W., Henningsen, P. & Rüger, U. (2001) Sozialmedizinische Begutachtung in Psychosomatik und Psychotherapie. Autorisierte Leitlinien, Quellentexte und Kommentar. Huber, Bern Schneider, W. (2002) Begutachtung in der Psychosomatik und Psychotherapie. In: Ahrens, S. und Schneider, W. (Hrsg) Lehrbuch der Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin, 2. Aufl. Schattauer, Stuttgart, 46–54 Schubert, C. (2006) Meta-Analyse des Zusammenhangs zwischen Immunparametern und Fatigue bei Krebs, Psychother Psych Med, 56: Schwarz, R. (1994) Die Krebspersönlichkeit - Mythos und Realität. Schattauer, Stuttgart, New York Sellschopp, A., P. Heußner, P. Herschbach, eds (2006) Psycho-Onkologie: Perspektiven heute. Dustri, Pabst Science Publishers, Lengerich Weigl, M., Cieza, A., Anderson, C., Kollerits, B., Amann, E. & Stucki, G. (2004) Identification of relevant ICF categories in patients with chronic health conditions: A delphi exercise, J Rehabil Med, 44 Suppl:12–21 Zabora, J., Brintzenhofeszoc, K., Curbow, B., Hooker, C. & Piantadosi, S. (2001) The Prevalence of Psychological Distress by Cancer Site, Psycho-Oncology, 10 (1):19–28
Internetadressen Bayerische Krebsgesellschaft www.bayerische-krebsgesellschaft.de Psychosoziale Beratungsgesellschaft. Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie (PSO) www.pso-ag.de Die bundesweite Fachgesellschaft vertritt innerhalb der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. die psychoonkologischen Aspekte der Krebserkrankung (forschungszentriert). Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie (dapo) www.dapo-ev.de Bundesweite Fachgesellschaft für alle Berufsgruppe, die in der medizinischen oder psychosozialen Betreuung von Krebskranken tätig sind. Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie www.dgho.de Bundesweite Fachgesellschaft. Angaben über Kongresse,Veröffen tlichungen, klinische Studien. Deutsche Krebsgesellschaft www.krebsgesellschaft.de Ärzte- und Patientenplattform. International Psycho-Oncology Society USA www.ipos-society.org Portal der Internationalen Fachgesellschaft – Online-Lectures für Psychoonkologie auf Deutsch. Krebsinformationsdienst im Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg www.krebsinformationsdienst.de Informationen, Telefonberatung sowie Adressen psychotherapeutisch arbeitender Psychoonkologen mit zertifizierter Weiterbildung. Tumorzentrum München www.tumorzentrum-muenchen.de Dienstleistung und Serviceeinrichtung für Ärzte und Patienten.
537
Anhang: Auszüge aus der Fahrerlaubnisverordnung
538
Anhang: Auszüge aus der Fahrerlaubnisverordnung
Auszüge aus der Fahrerlaubnisverordnung
1
2 Klasse M
3
Krafträder (Zweiräder, auch mit Beiwagen) mit einem Hubraum von mehr als 50 cm3 oder mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 45 km/h
Zweirädrige Kleinkrafträder (Krafträder mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 45 km/h und einer elektrischen Antriebsmaschine oder einem Verbrennungsmotor mit einem Hubraum von nicht mehr als 50 cm3) und Fahrräder mit Hilfsmotor (Krafträder mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 45 km/h und einer elektrischen Antriebsmaschine oder einem Verbrennungsmotor mit einem Hubraum von nicht mehr als 50 cm3, die zusätzlich hinsichtlich der Gebrauchsfähigkeit die Merkmale von Fahrrädern aufweisen)
4
2 Klasse A1
2 Klasse S
Krafträder der Klasse A mit einem Hubraum von nicht mehr als 125 cm3 und einer Nennleistung von nicht mehr als 11 kW (Leichtkrafträder)
Dreirädrige Kleinkrafträder und vierrädrige Leichtkraftfahrzeuge jeweils mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 45 km/h und einem Hubraum von nicht mehr als 50 cm3 im Falle von Fremdzündungsmotoren, einer maximalen Nutzleistung von nicht mehr als 4 kW im Falle anderer Verbrennungsmotoren oder einer maximalen Nenndauerleistung von nicht mehr als 4 kW im Falle von Elektromotoren; bei vierrädrigen Leichtkraftfahrzeugen darf darüber hinaus die Leermasse nicht mehr als 350 kg betragen, ohne Masse der Batterien im Falle von Elektrofahrzeugen
3 § 6 Einteilung der Fahrerlaubnisklassen (1) Die Fahrerlaubnis wird in folgenden Klassen erteilt:
2
5
2 Klasse A
2 Klasse B
6 7 8
Kraftfahrzeuge – ausgenommen Krafträder – mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 3.500 kg und mit nicht mehr als acht Sitzplätzen außer dem Führersitz (auch mit Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 750 kg oder mit einer zulässigen Gesamtmasse bis zur Höhe der Leermasse des Zugfahrzeugs, sofern die zulässige Gesamtmasse der Kombination 3.500 kg nicht übersteigt)
2 Klasse C
9 10 11 12 13 14
Kraftfahrzeuge – ausgenommen Krafträder – mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3.500 kg und mit nicht mehr als acht Sitzplätzen außer dem Führersitz (auch mit Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 750 kg)
16 17 18 19 20
Zugmaschinen mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 60 km/h und selbstfahrende Arbeitsmaschinen mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 40 km/h, die jeweils nach ihrer Bauart zur Verwendung für land- oder forstwirtschaftliche Zwecke bestimmt sind und für solche Zwecke eingesetzt werden (jeweils auch mit Anhängern)
2 Klasse C1
2 Klasse L
Kraftfahrzeuge – ausgenommen Krafträder – mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 3.500 kg, aber nicht mehr als 7.500 kg und mit nicht mehr als acht Sitzplätzen außer dem Führersitz (auch mit Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 750 kg)
Zugmaschinen, die nach ihrer Bauart zur Verwendung für land- oder forstwirtschaftliche Zwecke bestimmt sind und für solche Zwecke eingesetzt werden, mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 32 km/h und Kombinationen aus diesen Fahrzeugen und Anhängern, wenn sie mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h geführt werden und, sofern die durch die Bauart bestimmte Höchstgeschwindigkeit des ziehenden Fahrzeugs mehr als 25 km/h beträgt, sie für eine Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h in der durch § 58 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung vorgeschriebenen Weise gekennzeichnet sind, sowie selbstfahrende Arbeitsmaschinen, Stapler und andere Flurförderzeuge jeweils mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h und Kombinationen aus diesen Fahrzeugen und Anhängern. Die Erlaubnis kann auf einzelne Fahrzeugarten dieser Klassen beschränkt werden. Beim Abschleppen eines Kraftfahrzeugs genügt die Fahrerlaubnis für die Klasse des abschleppenden Fahrzeugs. (2) Die Fahrerlaubnis der Klasse A berechtigt bis zum Ablauf von zwei Jahren nach der Erteilung nur zum Führen von Krafträdern mit einer Nennleistung von nicht mehr als 25 kW und einem Verhältnis von Leistung/Leergewicht von nicht mehr als 0,16 kW/kg. Abweichend von Satz 1 können Bewerber, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, die Klasse A ohne diese Beschränkung erwerben. Leichtkrafträder mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 80 km/h und Zugmaschinen der Klasse T mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 40 km/h dürfen nur von Inhabern einer Fahrerlaubnis der entsprechenden Klasse geführt werden, die das 18. Lebensjahr vollendet haben; dies gilt nicht bei der Rückfahrt von der praktischen Befähigungsprüfung, sofern der Inhaber der Fahrerlaubnis dabei von einem Fahrlehrer begleitet wird, sowie bei
2 Klasse D Kraftfahrzeuge – ausgenommen Krafträder – zur Personenbeförderung mit mehr als acht Sitzplätzen außer dem Führersitz (auch mit Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 750 kg)
2 Klasse D1
15
2 Klasse T
Kraftfahrzeuge – ausgenommen Krafträder – zur Personenbeförderung mit mehr als acht und nicht mehr als 16 Sitzplätzen außer dem Führersitz (auch mit Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von nicht mehr als 750 kg)
2 Klasse E in Verbindung mit Klasse B, C, C1, D oder D1 Kraftfahrzeuge der Klassen B, C, C1, D oder D1 mit Anhängern mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 750 kg (ausgenommen die in Klasse B fallenden Fahrzeugkombinationen); bei den Klassen C1E und D1E dürfen die zulässige Gesamtmasse der Kombination 12.000 kg und die zulässige Gesamtmasse des Anhängers die Leermasse des Zugfahrzeugs nicht übersteigen; bei der Klasse D1E darf der Anhänger nicht zur Personenbeförderung verwendet werden
539 Auszüge aus der Fahrerlaubnisverordnung
Fahrproben nach den §§ 35 und 42 im Rahmen von Aufbauseminaren und auf Grund von Anordnungen nach § 46. (3) Außerdem berechtigen 1. Fahrerlaubnisse der Klasse A zum Führen von Fahrzeugen der Klassen A1 und M, 2. Fahrerlaubnisse der Klasse A1 zum Führen von Fahrzeugen der Klasse M, 3. Fahrerlaubnisse der Klasse B zum Führen von Fahrzeugen der Klassen M, S und L, 4. Fahrerlaubnisse der Klasse C zum Führen von Fahrzeugen der Klasse C1, 5. Fahrerlaubnisse der Klasse CE zum Führen von Fahrzeugen der Klassen C1E, BE und T sowie D1E, sofern der Inhaber zum Führen von Fahrzeugen der Klasse D1 berechtigt ist und DE, sofern er zum Führen von Fahrzeugen der Klasse D berechtigt ist, 6. Fahrerlaubnisse der Klasse C1E zum Führen von Fahrzeugen der Klassen BE sowie D1E, sofern der Inhaber zum Führen von Fahrzeugen der Klasse D1 berechtigt ist, 7. Fahrerlaubnisse der Klasse D zum Führen von Fahrzeugen der Klassen D1, 8. Fahrerlaubnisse der Klasse D1E zum Führen von Fahrzeugen der Klassen BE sowie C1E, sofern der Inhaber zum Führen von Fahrzeugen der Klasse C1 berechtigt ist, 9. Fahrerlaubnisse der Klasse DE zum Führen von Fahrzeugen der Klassen D1E, BE sowie C1E, sofern der Inhaber zum Führen von Fahrzeugen der Klasse C1 berechtigt ist, 10. Fahrerlaubnisse der Klasse T zum Führen von Fahrzeugen der Klassen M, S und L. (4) Fahrerlaubnisse der Klassen C, C1, CE oder C1E berechtigen im Inland auch zum Führen von Kraftomnibussen – gegebenenfalls mit Anhänger – mit einer entsprechenden zulässigen Gesamtmasse und ohne Fahrgäste, wenn die Fahrten lediglich zur Überprüfung des technischen Zustands des Fahrzeugs dienen. (5) Unter land- oder forstwirtschaftliche Zwecke im Rahmen der Fahrerlaubnis der Klassen T und L fallen 1. Betrieb von Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Weinbau, Gartenbau, Obstbau, Gemüsebau, Baumschulen, Tierzucht, Tierhaltung, Fischzucht, Teichwirtschaft, Fischerei, Imkerei sowie den Zielen des Natur- und Umweltschutzes dienende Landschaftspflege, 2. Park-, Garten-, Böschungs- und Friedhofspflege, 3. landwirtschaftliche Nebenerwerbstätigkeit und Nachbarschaftshilfe von Landwirten, 4. Betrieb von land- und forstwirtschaftlichen Lohnunternehmen und andere überbetriebliche Maschinenverwendung, 5. Betrieb von Unternehmen, die unmittelbar der Sicherung, Überwachung und Förderung der Landwirtschaft überwiegend dienen, 6. Betrieb von Werkstätten zur Reparatur, Wartung und Prüfung von Fahrzeugen sowie Probefahrten der Hersteller von Fahrzeugen, die jeweils im Rahmen der Nummern 1 bis 5 eingesetzt werden und 7. Winterdienst. (6) Fahrerlaubnisse, die bis zum 31. Dezember 1998 erteilt worden sind (Fahrerlaubnisse alten Rechts), bleiben im Umfang der bisherigen Berechtigung vorbehaltlich der Bestimmungen in § 76 bestehen. (7) Fahrerlaubnisse, die bis zum 31. Dezember 1998 erteilt worden sind, werden auf Antrag des Inhabers auf die neuen Fahrerlaubnisklassen umgestellt. Über sie wird ein neuer Führerschein ausgefertigt. Der neue Umfang der Fahrerlaubnis ergibt sich aus Anlage 3. Nach der Umstellung dürfen Kraftfahrzeuge nur noch in dem neuen Umfang geführt werden, sofern sie der Fahrerlaubnispflicht unterliegen. Die Bestimmungen in § 76 zu den §§ 4 bis 6 bleiben unberührt.
Anmerkungen der Herausgeber
Gutachterlich unterscheidet man 2 Gruppen hinsichtlich der Anforderungen an die körperliche und geistige Lei-
stungsfähigkeit der Bewerber und den geforderten Umfang der Untersuchungen und deren Dokumentation: 5 Gruppe 1: A, A1, B, BE, M, S, L, 5 Gruppe 2: C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E. 3 § 11 Eignung (1) Bewerber um eine Fahrerlaubnis müssen die hierfür notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen. Die Anforderungen sind insbesondere nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 vorliegt, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird. Außerdem dürfen die Bewerber nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen haben, so daß dadurch die Eignung ausgeschlossen wird. Bewerber um die Fahrerlaubnis der Klasse D oder D1 müssen auch die Gewähr dafür bieten, daß sie der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen gerecht werden. (2) Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Bewerber anordnen. Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung bestehen insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 hinweisen. Die Behörde bestimmt in der Anordnung auch, ob das Gutachten von einem 1. für die Fragestellung (Absatz 6 Satz 1) zuständigen Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, 2. Arzt des Gesundheitsamtes oder einem anderen Arzt der öffentlichen Verwaltung, 3. Arzt mit der Gebietsbezeichnung »Arbeitsmedizin« oder der Zusatzbezeichnung »Betriebsmedizin«, 4. Arzt mit der Gebietsbezeichnung »Facharzt für Rechtsmedizin« oder 5. Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, der die Anforderungen nach Anlage 14 erfüllt, erstellt werden soll. Die Behörde kann auch mehrere solcher Anordnungen treffen. Der Facharzt nach Satz 3 Nr. 1 soll nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein. (3) Die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) kann zur Klärung von Eignungszweifeln für die Zwecke nach Absatz 2 angeordnet werden, 1. wenn nach Würdigung der Gutachten gemäß Absatz 2 oder Absatz 4 ein medizinisch-psychologisches Gutachten zusätzlich erforderlich ist, 2. zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Befreiung von den Vorschriften über das Mindestalter, 3. bei erheblichen Auffälligkeiten, die im Rahmen einer Fahrerlaubnisprüfung nach § 18 Abs. 3 mitgeteilt worden sind, 4. bei erheblichen oder wiederholten Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder bei Straftaten, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr oder im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen oder bei denen Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential bestehen oder 5. bei der Neuerteilung der Fahrerlaubnis, wenn a) die Fahrerlaubnis wiederholt entzogen war oder b) der Entzug der Fahrerlaubnis auf einem Grund nach Nummer 4 beruhte. Unberührt bleiben medizinisch-psychologische Begutachtungen nach § 2a Abs. 4 und 5 und § 4 Abs. 10 Satz 3 des Straßenverkehrsgesetzes sowie § 10 Abs. 2 und den §§ 13 und 14 in Verbindung mit den Anlagen 4 und 5 dieser Verordnung.
540
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Anhang: Auszüge aus der Fahrerlaubnisverordnung
(4) Die Beibringung eines Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr kann zur Klärung von Eignungszweifeln für die Zwecke nach Absatz 2 angeordnet werden, 1. wenn nach Würdigung der Gutachten gemäß Absatz 2 oder Absatz 3 ein Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers zusätzlich erforderlich ist oder 2. bei Behinderungen des Bewegungsapparates, um festzustellen, ob der Behinderte das Fahrzeug mit den erforderlichen besonderen technischen Hilfsmitteln sicher führen kann. (5) Für die Durchführung der ärztlichen und der medizinischpsychologischen Untersuchung sowie für die Erstellung der entsprechenden Gutachten gelten die in der Anlage 15 genannten Grundsätze. (6) Die Fahrerlaubnisbehörde legt unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und unter Beachtung der Anlagen 4 und 5 in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind. Die Behörde teilt dem Betroffenen unter Darlegung der Gründe für die Zweifel an seiner Eignung und unter Angabe der für die Untersuchung in Betracht kommenden Stelle oder Stellen mit, daß er sich innerhalb einer von ihr festgelegten Frist auf seine Kosten der Untersuchung zu unterziehen und das Gutachten beizubringen hat; sie teilt ihm außerdem mit, dass er die zu übersendenden Unterlagen einsehen kann. Der Betroffene hat die Fahrerlaubnisbehörde darüber zu unterrichten, welche Stelle er mit der Untersuchung beauftragt hat. Die Fahrerlaubnisbehörde teilt der untersuchenden Stelle mit, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind und übersendet ihr die vollständigen Unterlagen, soweit sie unter Beachtung der gesetzlichen Verwertungsverbote verwendet werden dürfen. Die Untersuchung erfolgt auf Grund eines Auftrages durch den Betroffenen. (7) Steht die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, unterbleibt die Anordnung zur Beibringung des Gutachtens. (8) Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Der Betroffene ist hierauf bei der Anordnung nach Absatz 6 hinzuweisen. (9) Unbeschadet der Absätze 1 bis 8 haben die Bewerber um die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE oder D1E zur Feststellung ihrer Eignung der Fahrerlaubnisbehörde einen Nachweis nach Maßgabe der Anlage 5 vorzulegen. (10) Hat der Betroffene an einem Kurs teilgenommen, um festgestellte Eignungsmängel zu beheben, genügt in der Regel zum Nachweis der Wiederherstellung der Eignung statt eines erneuten medizinisch-psychologischen Gutachtens eine Teilnahmebescheinigung, wenn 1. der betreffende Kurs nach § 70 anerkannt ist, 2. auf Grund eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung die Teilnahme des Betroffenen an dieser Art von Kursen als geeignete Maßnahme angesehen wird, seine Eignungsmängel zu beheben, und 3. die Fahrerlaubnisbehörde der Kursteilnahme nach Nummer 2 zugestimmt hat. (11) Die Teilnahmebescheinigung muß 1. den Familiennamen und Vornamen, den Tag und Ort der Geburt und die Anschrift des Seminarteilnehmers, 2. die Bezeichnung des Seminarmodells und 3. Angaben über Umfang und Dauer des Seminars enthalten. Sie ist vom Seminarleiter und vom Seminarteilnehmer unter Angabe des Ausstellungsdatums zu unterschreiben. Die Ausstellung der Teilnahmebescheinigung ist vom Kursleiter zu verweigern, wenn der Teilnehmer nicht an allen Sitzungen des Kurses teilgenommen oder die Anfertigung von Kursaufgaben verweigert hat.
3 § 12 Sehvermögen (1) Zum Führen von Kraftfahrzeugen sind die in der Anlage 6 genannten Anforderungen an das Sehvermögen zu erfüllen. (2) Bewerber um eine Fahrerlaubnis der Klassen A, A1, B, BE, M, S, L oder T haben sich einem Sehtest zu unterziehen. Der Sehtest wird von einer amtlich anerkannten Sehteststelle unter Einhaltung der DIN 58220 Teil 6, Ausgabe Januar 1997, durchgeführt. Die Sehteststelle hat sich vor der Durchführung des Sehtests von der Identität des Antragstellers durch Einsicht in den Personalausweis oder Reisepaß zu überzeugen. Der Sehtest ist bestanden, wenn die zentrale Tagessehschärfe mit oder ohne Sehhilfe mindestens den in Anlage 6 Nr. 1.1 genannten Wert erreicht. Ergibt der Sehtest eine geringere Sehleistung, darf der Antragsteller den Sehtest mit Sehhilfen oder mit verbesserten Sehhilfen wiederholen. (3) Die Sehteststelle stellt dem Antragsteller eine Sehtestbescheinigung aus. In ihr ist anzugeben, ob der Sehtest bestanden und ob er mit Sehhilfen durchgeführt worden ist. Sind bei der Durchführung des Sehtests sonst Zweifel an ausreichendem Sehvermögen für das Führen von Kraftfahrzeugen aufgetreten, hat die Sehteststelle sie auf der Sehtestbescheinigung zu vermerken. (4) Ein Sehtest ist nicht erforderlich, wenn ein Zeugnis oder ein Gutachten eines Augenarztes vorgelegt wird und sich daraus ergibt, daß der Antragsteller die Anforderungen nach Anlage 6 Nr. 1.1 erfüllt. (5) Besteht der Bewerber den Sehtest nicht, hat er sich einer augenärztlichen Untersuchung des Sehvermögens nach Anlage 6 Nr. 1.2 zu unterziehen und hierüber der Fahrerlaubnisbehörde ein Zeugnis des Augenarztes einzureichen. (6) Bewerber um die Erteilung oder Verlängerung einer Fahrerlaubnis der Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE oder D1E haben sich einer Untersuchung des Sehvermögens nach Anlage 6 Nr. 2 zu unterziehen und hierüber der Fahrerlaubnisbehörde eine Bescheinigung des Arztes nach Anlage 6 Nr. 2.1 oder ein Zeugnis des Augenarztes nach Anlage 6 Nr. 2.2 einzureichen. (7) Sehtestbescheinigung, Zeugnis oder Gutachten dürfen bei Antragstellung nicht älter als zwei Jahre sein. (8) Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Fahrerlaubnisbewerber die Anforderungen an das Sehvermögen nach Anlage 6 nicht erfüllt oder dass andere Beeinträchtigungen des Sehvermögens bestehen, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung der Entscheidung über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines augenärztlichen Gutachtens anordnen. § 11 Abs. 5 bis 8 gilt entsprechend, § 11 Abs. 6 Satz 4 jedoch mit der Maßgabe, dass nur solche Unterlagen übersandt werden dürfen, die für die Beurteilung, ob Beeinträchtigungen des Sehvermögens bestehen, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigen, erforderlich sind.
Anmerkungen der Herausgeber
§ 48 regelt die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung. Die geistige und körperliche Eignung ist nach § 11, Abs. 9 nachzuweisen.
Internetadresse Bundesministerium der Justiz www.gesetze-im-internet.de/fev/index.html Weitere Gesetzestexte zum Bereich Fahrerlaubnis/Führerschein.
541
Stichwortverzeichnis A D1-Antitrypsin-Mangel 258 Absence 332 Achalasie 268, 271 Adäquanztheorie 23, 25 Adenokarzinom; Nasenhaupt- und -nebenhöhlen 222 Adipositas 512 – Diabetes mellitus 460 – metabolisches Syndrom 465 – pAVK 159 – Venenerkrankungen 179 Adnexitis 436, 438 affektive Störungen 501 – Einschränkung in der Berufsausübung 501, 502 – Fahrereignung 502 – GdB/MdE 501 – Rehabilitation 501 Aggravation – Auge(nerkrankungen) 370 – Ohrerkrankungen, Hörorgan 384 – psychiatrische Erkrankungen 509 Agnosie 318 Ahornrindenschälerkrankheit 215 Akalkulie 318 Akromegalie 403, 404, 478 Albuminurie 477 Alkohol – Abhängigkeit; Einschränkung in der Berufsausübung 496 – Alkoholhalluzinose 495 – alkoholische Lebererkrankung 251 – Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit 495 – Fahrereignung 497 – Rehabilitation 496 – Ösophaguskarzinom 270 – Polyneuropathie 348 – Unfall 23 Allergenprovokationstest 185 – Lungenerkrankungen 196 Allergenverwandtschaft 209 Allergie – Hauterkrankungen, GdB/MdE 292 – Allergietestung; Lungenerkrankungen, obstruktive 196 Alopecia areata 304 Aluminose 215 Alveolitis, exogen allergische 212, 215 Alzheimer-Erkrankung 333 Amnesie 310, 313, 315 Anagenhaare, dystrophe 304 Anämie 113 Anfall 332ff. – Häufigkeit 335 Angina pectoris 119, 133 – Risikobeurteilung 137 – stabile 116 Angiopathie, diabetische; pAVK 164 Angststörung 503 Ann-Arbor-Stadieneinteilung 525
Anorexia nervosa 440, 511 Anosmie 200 Anpassungsstörung 488, 503, 507 – Tumorerkrankungen 528 Anthrakose 216 Aortenaneurysma 170 Aortendissektion 117 Aorteninsuffizienz 138 – GdB/MdE 142 – Schweregrade 139 Aortenisthmusstenose 478 Aortenklappenersatz 141ff. Aortenstenose 117 – GdB/MdE 141 – Schweregrade 139 – valvuläre 138 Aphasie 318, 329 Apoplex – Hypertonie 485 – pAVK 167 Apraxie 318 Äquivalenztheorie 23, 24 Arbeits(un)fähigkeit – Definition 27, 40, 45 – Hypertonie 481 Arbeitsförderung 40 Arbeitsmarktlage 33, 40 Arbeitsunfall 30 Arbeitszeit, tägliche 33 ARDS 226 Arrhythmie, absolute 485 arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie 127 – GdB/MdE 129 – Risikobeurteilung 132 Arteriitis temporalis – Diagnosekriterien 84 Arteriopathie, dilatierende 158 Arteriosklerose 133 – Begleitkrankheiten 167 – Schlaganfall 324 Arthralgien/Arthritiden – Hepatitiden 257 Arthritiden 70 – Dünn- und Dickdarmerkrankungen 284 Arthritis, seronegative; Psoriasis 296 Arthritis urica 93 Arthrose 85 Asbest 222 – Asbestose 232 – Mesotheliom 223 Asthma bronchiale 201 – allergisches 200 – Ekzem, atopisches 293 – GdB/MdE 209, 212 – Kinder/Jugendliche 212 – Ösophaguserkrankungen 270 – Pathogenese 202 – Prognose 210 – Sofort-/verzögerte Reaktion 201 Aszites 113 Atembeweglichkeit, paradoxe 229 Atemwege, obere – Diagnostik 185 – pathologische Befunde 185
Atemwegserkrankungen, allergische 204 Atheromatose; Schlaganfall 324 »atrophie blanche«; venöse Insuffizienz, chronische 175 Attest; Definition 4 Audiometrie; Hirnnervenverletzung 343 aufblühender hämorrhagischer Kontusionsherd 310, 316 Auge(nerkrankungen) – Binokularsehen 363 – Blendempfindlichkeit 363 – Dämmerungssehvermögen 364 – Diabetes mellitus 464 – Diagnostik 362 – Doppelbilder 363 – Einschränkung in der Berufsausübung 367, 369 – Fahrereignung 369 – Fahrerlaubnisverordnung, Sehvermögen 540 – Farbensehen 363 – GdB/MdE 366 – Gesamtsehschärfe, beidäugige (bG) 365 – Gesichtsfeld 362 – Invaliditätsgrad (IG) 367 – Kontrastsehen 364 – Krankheitsbilder 364 – Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG) 367 – Motilitätsstörung 363 – Rehabilitation 369 – Risikobeurteilung 369 – Sehschärfe 362, 364 – Sozialrecht 365 – Trauma 365 Autoimmunerkrankungen 98 – Autoimmungastritis, chronisch atrophische 274 – Autoimmunhepatitis 258 – Autoimmunhyperthyreose 408 – Diabetes mellitus 465 – Einfluss psychischer Faktoren 411 AV-Knotentachykardie; GdB/MdE 115 Axonotmesis 341 Azidose, renaltubuläre 422
B B-Zelllymphom vom MALT-Typ 274, 276 Bagassose 215 Bagatelltrauma 86 Barrettösophagus 268 Barthel-Index (BI) 322 Basalzellkarzinom 300 Basedow-Krankheit 408, 411 – Schreck-Basedow 411 Beamtenrecht 45 – Diensttauglichkeit 45 – Dienstunfähigkeit 27, 45 Bechterew-Krankheit 70, 80, 89 Bedingungstheorie 24
A–B
542
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
Beeinträchtigungsschwere-Score (BSS) von Schepank 505 Befeuchterlunge 215 Befundbericht; Definition 4 Beinvenenthrombose, tiefe 172 (s. auch Venenthrombose, tiefe) Belastungs-EKG 115 Belastungsperfusionsuntersuchung; Nichtkoronarpatient 123 Belastungsreaktion 503 – akute 503 – Tumorerkrankungen 528 Belastungsstörung – akute 488 – posttraumatische 488, 503, 507 – Schädel-Hirn-Trauma 318 – Tumorerkrankungen 529 Belastungsstufen nach Stoll; Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/Schwindel 398 Berufskrankheit 30 – Asthma bronchiale 203 – Berufskrankheitenrecht 207 – Berufskrankheitenverordnung vom 05.09.2002 236 – Lärmschwerhörigkeit 381 – Lungenerkrankungen, obstruktive 196, 206 – Lungenerkrankungen, Tumoren 223 – pAVK 159 – Polyneuropathie 348 – Silikose 230 – Venenerkrankungen 176 – Zusammenhang mit Unfall 24 Berufsunfähigkeit 34 – Arbeitsanamnese 37 – Definition 35 – Gutachten 36 – Leistungsantrag 36 – Streitfälle 37 Berufsunfähigkeitsversicherung 34 Berylliose 214 Besenreiservarize 174 Bethesda-Kriterien; Gynäkologie 439 Betreuung 43 – Betreuungsrecht; Schädel-HirnTrauma 320 Bewegungsapparat 70 – Anamnese 70 – Autoimmunkrankheit 98 – degenerative Erkrankungen 85 – Diagnosekriterien 82 – Diagnostik 70ff. – Einschränkung in der Berufsausübung 108 – Erwerbsminderung 101 – Fahrereignung 108 – Fehlstellung 73 – GdB/MdE 101 – Gelenkverletzung 87 – Knochenverletzung 87 – militärische Dienstverrichtung 100 – Muskelverletzung 87 – Neutral-Null-Methode 73 – Rehabilitation 109 – Risikobeurteilung 109
– – – – –
Sehnenverletzung 87 Sozialrecht 100 Trauma 85 Unfall 72 Unfallversicherung, gesetzliche/ private 106f. Beweislast 25 Bewusstlosigkeit 313 Bewusstseinsstörung; Schädel-HirnTrauma 311 Bewusstseinstrübung 313 Bilanzsuizid 518 Billroth-I- und -II-Magen 275 Bindegewebskrankheiten, chronische 305 – Dermatomyositis 306 – Lupus erythematodes 306 – Sklerodermie 306 Binokularsehen 363 Bleiblässe 160 Blendempfindlichkeit 363 Blickmotorik; Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/Schwindel 392 Blindgang 393 Blutgasanalyse 190 Blutung, kontusionelle 310 Blutungsstörungen (Menstruation) 434ff., 449 Blutzuckerselbstkontrolle 463 Bodyplethysmographie 185 Bouchard-Arthrose 73 bronchiale Provokationstestung 185 Bronchiolitis obliterans mit organisierender Pneumonie (BOOP) 212 Bronchitis 196 – akute/chronische 196 – chronische, GdB/MdE 209 – chronische obstruktive 201 Bronchospasmolysetest 185 Buerger-Syndrom; pAVK 164 Bulimie 440, 511 Bürgerliches Recht 42 Bypass-Operation 146 – GdB/MdE 148 Bypass-Stenose 118 Byssinose 203
C Canalolithiasis 390 Candidasepsis 299 Caplan-Syndrom 231 Caspar-Kriterien 72 Chemobrain 528 Chemotherapie, gynäkologische Tumorerkrankung 445 Chest-pain-unit 123 Child-Pugh Score 255 Cholangitis, primär sklerosierende 262 Cholelithiasis 262 Cholezystitis 262 »chronic fatigue syndrome« (CFS) 509 – Tumorerkrankungen 528 Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) 163 Claudicatio; pAVK 154 Clinical Dementia Rating Scale 492
Colitis ulcerosa (CU) 89, 280 Commotio cerebri 313, 320 – Epilepsie 333 – Lagerungsschwindel, gutartiger 394 Commotio labyrinthi 380 »complex regional pain syndrome« (CRPS) 88, 342, 346 – GdB/MdE 346 Contusio cerebri 316 – Epilepsie 333 – Lagerungsschwindel, gutartiger 394 – psychopathologische Erkrankung 316 Contusio labyrinthi 380 Contusio sine commotione 316 COPD 212 – KHK 125 – Riskikobeurteilung 210 Cor pulmonale 124 – chronisches 126 – Risikobeurteilung 132 – GdB/MdE 129 Corpus-luteum-Zyste 437 »coup/contre coup« 313, 328 Crohn-Erkrankung (Morbus Crohn; MC) 89, 280 CRPS (s. »complex regional pain syndrome«) Crush-Niere 427 Cushing-Syndrom 403f., 478
D Dämmerungssehvermögen 364 Darmentleerungsstörung 434 Datenschutz 16 Demenz 491 – Hypertonie 485 – Schweregrad 492 Depression – Schweregrad 501 – Tumorerkrankungen 528 Dermatitis herpetiformis Duhring 295 Dermatomyositis 91, 306 – Diagnosekriterien 84 Descensus uteri 434, 439, 446 Diabetes insipidus 405 Diabetes mellitus – als Folge von Trauma 467 – Autoimmunerkrankungen 465 – Blutzuckerselbstkontrolle 463 – Charakteristik Typ 1/Typ 2 466 – Diagnostik 460 – Einschränkung in der Berufsausübung 468, 469 – Fahrereignung 471 – Frühstadium 461 – GdB/MdE 468 – Hauterkrankungen 299 – Hypertonie 480, 485 – Hypophysenerkrankungen 403 – Klassifikation 465 – Krankheitsbilder 465 – Langzeitfolgen 464 – Lungenerkrankungen, interstitielle 218 – Nebennierenerkrankungen 414 – Nierenerkrankungen 422, 425, 427 – pAVK 154, 159
543 Sachverzeichnis
– Polyneuropathie 348, 351 – Rehabilitation 472 – Risikobeurteilung 472 – Schlaganfall 322 – Sozialrecht 467 – Therapie 462 Dialyse 428, 430 Diensttauglichkeit 45 Dienstunfähigkeit 27, 45 »diopathic environmental intolerance« (IEI) 509 Dissimulation 511 – psychiatrische Erkrankungen 509 dissoziative Störung 504 Dobutamin-Stress-MRT 119 Doppelbilder 363 Dopplerechokardiographie 116 Dopplerindex; pAVK 156 DSM IV-TR; psychiatrische Erkrankungen 488 Duldungspflichtigkeit; invasive Diagnostikverfahren 321 Dumping-Syndrom 275 Dünn- und Dickdarmerkrankungen – Diagnostik 268 – Einschränkung in der Berufsausübung 283 – Fahrereignung 285 – GdB/MdE 283 – Krankheitsbilder 280 – Risikobeurteilung 285 – Sozialrecht 283 Dysarthrophonie; GdB/MdE 329 Dysthymia 501
E Effluvium 304 Einnierigkeit 480 Einschränkung in der Berufsausübung – affektive Störungen 501, 502 – Alkoholabhängigkeit 496 – Atemwegserkrankungen, allergische 204 – Auge(nerkrankungen) 367, 369 – Bewegungsapparat 107 – Cor pulmonale 131 – Diabetes mellitus 468, 469 – Dünn- und Dickdarmerkrankungen 283 – Ekzem 292 – atopisches 293 – Endokard 144 – Enzephalopathie, hepathische 256 – gynäkologische Erkrankungen 442ff., 451 – Hepatitiden 256 – Herzklappenerkrankung 141 – Herzoperation 149 – Herzrhythmusstörung 131 – Herztrauma 149 – hirnorganische Psychosyndrome 492f. – hypertensive Herzkrankheit 130 – Hypertonie 481ff. – Hypophysenerkrankungen 406 – Ichthyosis 298 – Intelligenzminderung 517 – Kardiomyopathie 130 – KHK 136 – Lebererkrankungen 252
– Leberzirrhose 256 – Lungenerkrankungen – Infektionen 220 – obstruktive 204, 209 – Tumoren 224 – Magen- und Duodenumerkrankungen 278 – Mammakarzinom 454 – Myokardinfarkt 136 – Myokardtumoren 131 – Nebennierenerkrankungen 417 – Nebenschilddrüsenerkrankungen 414 – Neurose 506, 507 – Nierenerkrankungen 429 – Dialyse 428, 429 – Ohrerkrankungen – Gleichgewichtsstörung/Schwindel 399 – Hörorgan 388 – Ösophaguserkrankungen 270, 272 – pAVK 162, 165 – Perikard 130 – Persönlichkeitsstörung 514 – Psoriasis 297 – psychiatrische Erkrankungen 489f. – Schilddrüsenerkrankungen 410 – Schizophrenie 499f. – Schlafapnoesyndrom 234 – thorakaler Defektzustand 234 – Thoraxtrauma 234 – Tumorerkrankungen 531 – Urtikaria 294 – Venenerkrankungen 176, 178 Einschränkung in der Berufstätigkeit – Epilepsie 335, 338f. – Polyneuropathie 356 – Schädel-Hirn-Trauma 317, 319 – Schlaganfall 328, 330 Einstellungsuntersuchung 44 – Jugendliche 44 Einwilligung des zu Begutachtenden 17 Eisenmangelanämie 275 Ekchymose 403 EKG – Belastungs-EKG 114 – Notfallmaßnahmen 115 – Dopplerechokardiographie 116 – Herz-Kreislauf-Erkrankungen 114 – Langzeit-EKG 115 – Ruhe-EKG 114 – Stressechokardiographie 116 Ekzem – atopisches 293 – Diagnostik 290 – Einschränkung in der Berufsausübung 292 – Fahrereignung 292 – GdB/MdE 291ff. – Rehabilitation 292f. – Sozialrecht 291f. – Rehabilitation 293 Embolie, kardiale 321 – Schlaganfall 324 Emphysem des Steinkohlenbergmanns 201 Encephalopathia pugilistica 319 endokrine Erkrankungen – Hypophysenerkrankungen (s. dort) 403
– Inzidentalom 418 – Nebennierenerkrankungen (s. dort) 414 – Nebenschilddrüsenerkrankungen (s. dort) 412 – Schilddrüsenerkrankungen (s. dort) 407 endokrine Organe 403 endokrines System; Nierenerkrankungen 422 Endokrinopathie; Diabetes mellitus 465 Endometriose 436ff., 448 – GdB/MdE 442 Endometritis 435, 438 Endometriumkarzinom 434ff. – GdB/MdE 441 – Kolonkarzinom 439 Endorganschäden; Hypertonie 481 Enthesiopathie 94 Entmündigung 43 Entschädigung – Richter 48 – sachverständiger Zeuge 48 – Zeuge 48 Entschädigungsrecht, soziales 40 entzündlich-rheumatische Erkrankung 70, 98 – Erreger 92 Enzephalopathie, hepatische 251, 255 – Einschränkung in der Berufsausübung 256 Enzymdefekt – adrenaler 414 – Steroidbiosynthese 415 Epidermolysis bullosa hereditaria 295 Epilepsie – Alzheimer-Erkrankung 333 – Anfall, komplex-fokaler 333 – Anfallshäufigkeit 336 – auslösende Medikamente 335 – Demenz 338 – Diagnostik 332 – Einschränkung in der Berufsausübung 335ff. – Entzugssymptomatik 334 – Fahrereignung 337 – fokale 332 – Hirnentzündung 333 – Hirntumor 333 – Klassifikation 332 – Krankheitsbilder 332 – Pflegebedürftigkeit 335 – Prognose 339 – psychische Störungen 340 – Rehabilitation 339 – Risikobeurteilung 338 – Schädel-Hirn-Trauma 318, 333 – GdB/MdE 336 – Latenz nach SHT 334 – posttraumatisch nach SHT 317 – Sozialrecht 335 – Stoffwechselstörung 333 – Strafrecht 339 – Therapie 339 – Ursachen 333 – Wehrdienst 338 Ergometrie 114
D–E
544
1 2 3 4
Sachverzeichnis
Erkrankungen von Endokard und Herzklappen – Einschränkung in der Berufsausübung 144 – Fahrereignung 144 – Rehabilitation 145 – Risikobeurteilung 145 Erysipel 299 Erythrodermie 296 Essstörung 511 exogen allergische Alveolitis; Prognose 217 Explosionstrauma 380
F
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Fahrereignung – affektive Störungen 502 – Alkoholabhängigkeit 497 – Alter 494 – Auge(nerkrankungen) 369 – Bewegungsapparat 108 – Chemotherapie bei gynäkologischer Tumorerkrankung 445 – Diabetes mellitus 471 – Dünn- und Dickdarmerkrankungen 285 – Ekzem 292 – atopisches 293 – Epilepsie 337 – Erkrankungen von Endokard und Herzklappen 144 – Fahrerlaubnisverordnung 539 – gynäkologische Erkrankungen 444, 451 – Herz-Kreislauf-Erkrankungen 131 – Herzoperation, -trauma 149 – hirnorganische Psychosyndrome 494 – Hypertonie 483 – Hypophysenerkrankungen 407 – Intelligenzminderung 518 – KHK 137 – Lungenerkrankungen, obstruktive 210 – Magen- und Duodenumerkrankungen 279 – Mammakarzinom 455 – Myokardinfarkt 137 – Nervensystem, peripheres 357 – Neurose 507 – Nierenerkrankungen 430 – Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/Schwindel 399 – Ohrerkrankungen, Hörorgan 388 – Ösophaguserkrankungen 272 – pAVK 165 – Persönlichkeitsstörung 515 – Schädel-Hirn-Trauma 319 – Schilddrüsenerkrankungen 410 – Schizophrenie 500 – Schlaganfall 330 – Suchterkrankung 498 – Tumorerkrankungen 532 – Urtikaria 294 – Venenerkrankungen 178 Fahrerlaubnisverordnung – Fahrereignung 539 – Fahrerlaubnisklasse 538 – Personenbeförderung 538, 540 – Sehvermögen 540
Fahrlässigkeit 26 Fahrtkosten des Gutachters 50 Fanconi-Syndrom 422 Farbensehen 363 Farmerlunge 215 Fasziitis, eosinophile 306 Fettleber 251 Fibromyalgiesyndrom 94, 100, 509 – Diagnosekriterien 85 Fibrose; Lebererkrankungen 251, 255 Fixateur externe 345 Formulargutachten 9 Fowler-Test 373 Freiburger Sprachtest 372, 384 Fußsyndrom, diabetisches; pAVK 164
G Gallenwegserkrankungen – Diagnostik 262 – Krankheitsbilder 262 Ganser-Syndrom 492 Ganzkörperplethysmographie 186 Gastrektomie 275 Gastritis 273, 276 – atrophische 275 Gastrointestinaltrakt, Erkrankungen – Diagnostik 268 GdB/MdE – affektive Störungen 501 – Allergie; Hauterkrankungen 292 – Aorteninsuffizienz 142 – Aortenklappenersatz 142 – Aortenstenose 141 – arrhythmogene rechtsventrikuläre Dysplasie 129 – Asthma bronchiale 212 – Auge(nerkrankungen) 366 – Becken 106 – Bewegungsapparat 101 – Bypass-Operation 148 – Cor pulmonale; chronisches 129 – Diabetes mellitus 468 – Dünn- und Dickdarmerkrankungen 283 – Ekzem 291, 292 – atopisches 293 – entzündlich-rheumatische Erkrankung 106 – Epilepsie, Schädel-Hirn-Trauma 336 – Ergometrie 128 – Gallenwegserkrankungen 262 – gynäkologische Erkrankungen 441, 451 – gynäkologische Tumorerkrankung 443 – Hauterkrankungen, blasenbildende 295 – Hepatitiden 255 – Herzoperation – GdB/MdE; Stentimplantation 148 – Herztransplantation 148 – Hirnnervenschaden 353 – Hypertonie 129, 481 – Hypophysenerkrankungen 406 – Ichthyosis 298 – Intelligenzminderung 517 – Kardiomyopathie 129 – Kehlkopfkarzinom 225 – KHK 135
– komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) 346 – Lebererkrankungen 252 – Lebertransplantation 261 – Lungenerkrankungen – benigne 195 – Infektionen 220 – obstruktive 208f. – Tumoren 224 – Magen- und Duodenumerkrankungen 278f. – Mammakarzinom 454 – Mitralinsuffizienz 142 – Mitralstenose 142 – Morbus Hodgkin 531 – Muskulatur 107 – Nebennierenerkrankungen 416 – Nebenschilddrüsenerkrankungen 413 – Nervensystem, peripheres 355 – Neurose 506 – Nierenerkrankungen 425 – Dialyse 429 – Nierentransplantation 429 – obere Extremität 102 – Ohrerkrankungen – Gleichgewichtsstörung/Schwindel 398 – Hörorgan 385 – Ösophaguserkrankungen 271 – Pankreaserkrankungen 263 – pAVK 161 – Psoriasis 296 – psychiatrische Erkrankungen; hirnorganische Psychosyndrome 493 – Pulmonalklappenersatz 143 – Pulmonalstenose 143 – Raynaud-Syndrom 162 – Sarkoidose 217 – Schädel-Hirn-Trauma 317 – Schizophrenie 500 – Schlafapnoesyndrom 234 – Schlaganfall 329 – Silikose 230 – thorakaler Defektzustand 235 – Thoraxtrauma 235 – Tumorerkrankungen 530 – maligne; Haut 301 – untere Extremität 104 – Urtikaria 294 – Venenerkrankungen 177 – Wirbelsäule 106 Geburtshilfe – Hypophysenerkrankungen 406 – Gestationsdiabetes 460f., 466 Gedächtnistest 312 Gefälligkeitsattest 5 Gefälligkeitsgutachten 431 Gefäßerkrankungen (s. pAVK bzw. Venenerkrankungen) Gefäßwanddisseketion; pAVK 170 Gehbehinderung/außergewöhnliche (GB/aG); Schlaganfall 329 Gehirnblutung 316, 323 Gehirnschädigung; Ursachen 323 Gehirnvenenthrose 323 Gehörgangsstenose 379 Gelegenheitsursache 107
545 Sachverzeichnis
Gelenkverletzung 87 Geräuschaudiometrie nach Langenbeck 373 Gerichtsgutachten 10 Gerinnungsstörung, posttraumatische; Schlaganfall 327 Gesamtsehschärfe, beidäugige (bG) 365 Geschäftsfähigkeit 42 – affektive Störungen 502 – hirnorganische Psychosyndrome 493 – Intelligenzminderung 517 – Neurose 506 – Schizophrenie 499 Geschäftsführung ohne Auftrag; Schlaganfall 330 Gesichtsfeld 362, 365 Gestationsdiabetes 460f., 466 – Diabetes mellitus 460 Gewahrsamsfähigkeit 42 Gewebedoppler 117 Gicht 93 – Diagnosekriterien 83 Glasgow Coma Scale (GCS) 313 Glasgow Outcome Scale (GOS) 312 Glaukom 365 Gleichgewichtsstörung; GdB/MdE 329 Gliedertaxe 31, 32, 107 – Schädel-Hirn-Trauma 318 Global Deterioration Scale (GDS) 492 glomeruläre Filtrationsrate (GFR) 428 Glomerulonephritiden 424 Glottisödem 294 Glukosetoleranzstörung 460f. Glukosetoleranztest, oraler (OGTT) 462 Goodpasture-Syndrom 213 Grading, histopathologisches 525 Grand mal 332, 335 Gutachten – Definition 4 – Dokumentation 56 – Fehlerquellen 32 – Form 9 – Formulargutachten 9 – freies 10 – Genehmigungsverfahren 4 – Gerichtsgutachten 10 – Nebentätigkeit 4 – Privatgutachten 10 – Versteuerung 54 – Verwaltungsgutachten 10 – Verwertung 17 – Zeitaufwand 49 Gutachtenerstattung – Ablehnung durch den Sachverständigen 12 – Grundbegriffe 23 – Kausalität 23 – Pflicht zur 11 Gutachter(tätigkeit) – ärztliche Weiterbildung 9 – Datenschutz 16 – durch öffentliche Stellen 9 – durch private Organisationen 9 – Genehmigung 7 – Nebentätigkeit 7 – Professoren 7 – Ressourcen des Dienstherrn 8
– Schweigepflicht, ärztliche 16 – Verpflichtung zur 7 gynäkologische Erkrankungen – äußeres Genitale, Diagnostik 449 – Einschränkung in der Berufsausübung 444, 451 – Fahrereignung 444, 451 – GdB/MdE 441, 451 – Krankheitsbilder 436, 450, 453 – Mammakarzinom 453ff. – Ovarien, Diagnostik 434 – Rehabilitation 446, 452 – Risikobeurteilung 445, 452 – Sozialrecht 441, 451 – Uterus, Diagnostik 434
H Haarkrankheiten 304 Halswirbelsäulenverletzung; Gleichgewichtsstörung/Schwindel 396 Hämatitstaublunge 216 Hämatom – epidurales 317 – extrazerebrales 317 – intrakranielles 317 – subdurales 317 Hämochromatose 258 Hartmetalllunge 216 Hashimoto-Thyreopathie 408, 411 Haut(erkrankungen) – Hyperpigmentierung; postthrombotisches Syndrom 175 – Stauungsdermatose bei Venenerkrankungen 176 – venöse Insuffizienz, chronische 175 Hautanhangsgebilde – Haarkrankheiten 304 – Nagelerkrankungen 303 Hauterkrankungen – blasenbildende – GdB/MdE 295 – Krankheitsbilder 295 – Ekzem 290 – Ichthyosis 297 – Infektionen 298 – Psoriasis 296 – Tumor, benigner/maligner 300 – Urtikaria 294 Heberden-Arthrose 73 Helicobacter pylori (HP) 273 – Magenkarzinogen 274 Hemianopsie 318 Hemineglect; GdB/MdE 329 Hemiparese – Schädel-Hirn-Trauma 318 – zerebral bedingte; GdB/MdE 329 Heparin; Schlaganfall 324 Hepatitiden 253 – Arthralgien/Arthritiden 257 – chronische Hepatitis; Klassifikation 255 – GdB/MdE 255 – Hepatitis-B-Impfung 254 – Lebensversicherung 256 – Neugeborenenhepatitis 253 – Panarteriitis nodosa 257
– Rehabilitation 257 – Risikobeurteilung 256 – Therapie 256 – Unfallversicherung 256 hepatozelluläres Karzinom 259 Herpes simplex 299 Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Anämie 113 – Arteriosklerose 133 – Begutachtungskriterien 124 – Belastungsperfusionsuntersuchung 122 – Berufs-, Erwerbs- und Dienstunfähigkeitsversicherung – Erkrankungen von Endokard und Herzklappen 144 – Herztrauma 148 – Kardiomyopathie 130 – KHK 136 – Myokardinfarkt 136 – Diagnostik 112ff. – Differenzialdiagnostik 117 – Einschränkung in der Berufsausübung 130 – Endokard 138 – Fahrereignung 131 – GdB/MdE 128 – Hämodynamik 124 – Herzinsuffizienz 112 – Herzklappenerkrankung 138 – Pathogenese 140 – Herzrhythmusstörung 114 – Herztrauma 145 – Ischämie 114, 119 – Kardiomyopathie 126 – Klappenfunktion 124 – Koronarstenose 133 – Lebensversicherung – Erkrankungen von Endokard und Herzklappen 143 – Herztrauma 148 – Kardiomyopathie 130 – KHK 136 – Myokard 126 – Perikard 126 – öffentlicher Dienst 131 – Operation 145 – pulmonaler Befund 113 – Rehabilitation 145, 150 – Shunt 124 – sozialmedizinische Beurteilung 124 – Symptomatik 112 – Transplantation 123 – Unfallversicherung – Endokard und Herzklappen 144 – Herztrauma 148 – Kardiomyopathie 130 – KHK 136 – Ventrikelseptumdefe 140 – Vorhofseptumdefekt 140 – Wandbewegungsstörung 116 Herzinfarkt – akuter 116 – Transmuralität 121 Herzinsuffizienz 112 – pAVK 155 – Symptomatik 112
G–H
546
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
Herzkatheteruntersuchung 123 Herzklappenerkrankung 140 – Einschränkung in der Berufsausübung 141 Herzoperation, -trauma – Einschränkung in der Berufsausübung 149 – Fahrereignung 149 – öffentlicher Dienst 149 – Rehabilitation 150 – Risikobeurteilung 150 Herzrhythmusstörung 114, 119, 133 – GdB/MdE 114 – ventrikuläre 114 – Schilddrüsenerkrankungen 409 Herzschrittmacher; Implantation 146 Herztod, plötzlicher 133 Herztransplantation 123, 134, 147, 150 – GdB/MdE 148 Herztrauma 145 – Einschränkung in der Berufsausübung 149 – Pathogenese 146 – Risikobeurteilung 149 – Schweregrad 146 – Sozialrecht 147 – Stromunfall 146 – Verbrennungsunfall 146 Hiatushernie 269 »hibernating myocardium« 117, 120 Hirnembolie 317 Hirninfarkt 321, 323 – maligner 326 – Therapie 324 Hirnleistungsstörung, fokale 312 Hirnnerven – Auge(nerkrankungen) 364 – Funktion 343 – Hirnnervenstörung 316 – Verletzung) 343 – Hirnnervenschaden; GdB/MdE 353 hirnorganische Psychosyndrome 492 – Fahrereignung 494 – GdB/MdE 493 – Geschäftsfähigkeit 493 – gesetzliche Unfallversicherung 493 Hirnschädigung, diffuse axonale 311 Hirnstammaudiometrie 377 Hirnvenenthrombose (HVT) 321 – Therapie 326 Hirnverletzung 310 Hirsutismus 305 – Hypophysenerkrankungen 403 Holzarbeiterlunge 215 Honorarvereinbarung 52 Hörprüfmethoden 371 Hörsturz 380 Hörweitenprüfung 382 Hospital Anxiety and Depression Score (HADS) 528 HWS-Distorsion 97 Hydrozephalus; Schädel-Hirn-Trauma 317 Hypakusis 343 Hyperakusis 387 Hyperaldosteronismus 415 – primärer 478
Hypercholesterinämie; pAVK 159 Hyperglykämie 460 Hyperkalzämie 412 Hyperkortisolismus 404, 414f. Hyperlipidämie; Schlaganfall 322 Hyperparathyreoidismus 412 Hyperprolaktinämie 405 Hyperreagibilitätstestung, bronchiale 190 Hyperthyreose 408, 478 Hypertonie 476 – als Berufskrankheit 480 – als Folgeerkrankung 479 – Apoplex 485 – Arbeitsunfähigkeit 481 – arterielle 479 – Aortenaneurysma 170 – Herz-Kreislauf-Erkrankungen 126 – Lungenerkrankungen 227 – Nebennierenerkrankungen 414 – Risikobeurteilung 132 – Sozialrecht 480 – Demenz 485 – Diabetes mellitus 477, 480, 485 – Diagnostik 476 – Einschränkung in der Berufsausübung 481, 482, 483 – Endorganschäden 481, 482 – Entstehungsmechanismen 479 – Erwerbsunfähigkeit 481 – Fahrereignung 483 – Folgeschäden 476 – GdB/MdE 129, 481 – Grenzwerte 476 – Herz-Kreislauf-Erkrankungen 125 – Hypophysenerkrankungen 403 – Klassifikation 477 – Lebensversicherung 482 – maligne 481 – metabolisches Syndrom 465 – Nephropathie 425, 427, 477 – diabetische 480 – öffentliches Dienstrecht 484 – pAVK 159 – Praxishypertonie 476 – primäre 477 – pulmonale 124 – Rehabilitation 484 – renale 479, 480 – renoparenchymale 478 – renovaskuläre 478 – Rentenversicherung 481 – Risikobeurteilung 477, 484 – Schlafapnoe 485 – Schlaganfall 322 – sekundäre 478ff. – Akromegalie 479 – Aortenisthmusstenose 478 – Basisuntersuchung 478 – Cushing-Erkrankung 479 – Hyperaldosronismus, primärer 478 – Hyperthyreose 479 – Phäochromozytom 478 – Schlafapnoe 479 – systolische 477 – Unfallversicherung 482 Hypertrichose 305
Hypochondrie 504 Hypokalzämie 412 Hypoparathyreoidismus 413 Hypophysenadenom 405 Hypophysenerkrankungen – Akromegalie 403 – Cushing-Syndrom 403 – Diagnostik 403 – Einschränkung in der Berufsausübung 406 – Fahrereignung 407 – GdB/MdE 406 – Hypophysenhinterlappenfunktionsstörung 406 – Hypophyseninsuffizinz 404f. – Krankheitsbilder 404 – Rehabilitation 407 – Risikobeurteilung 407 – Sozialrecht 406 Hyposmie 200 Hypothenar-Hammer-Syndrom 160 Hypothyreose 408
I ICD-10; psychiatrische Erkrankungen 488 Ichthyosis – Einschränkung in der Berufsausübung 298 – Ichthyose, kongenitale 297 – Krankheitsbilder 297 – vulgaris 297 Ikterus 250 Ileostoma 284 Immundefizienz; Hauterkrankungen 299 Immunregulation, gestörte 306 Impedanzprüfung 378, 383 Impfschaden 101, 351 Impulskontrolle, Störungen 515 Induration; Venenthrombose, tiefe 175 Infarkt, lakunärer 324 Infektionskrankheiten – gynäkologische 440ff., 449 – Hauterkrankungen 298 – Lungenerkrankungen 218 – Uterus/Ovarien 438 Inhalationsschaden 202 Injektionsschaden 344 Inkontinenz – Stuhl 284, 448 – Urin 434, 441 Innenohrschwerhörigkeit 395 Intelligenzminderung 515 – Einschränkung in der Berufsausübung 517 – Fahrereignung 518 – GdB/MdE 517 – Geschäftsfähigkeit 517 – Schweregrad 516 Intelligenzquotient (IQ) 515 Intelligenztest 312 International Classification of Functioning (ICF) 526 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) 490, 532
547 Sachverzeichnis
Internationale Staublungen-Klassifikation (ILO) 187, 233 Intima-media-Verdickung 477 intrazerebrale Blutung (IZB) 321 – Therapie 325 Invaliditätsgrad (IG) 32 – Auge(nerkrankungen) 367 Inzidentalom 418 »Dipper« 476 Isocyanatalveolitis 215
J Jugendarbeitsschutzgesetz 44
K Kapitallebensversicherung; psychiatrische Erkrankungen 518 Kardiomyopathie 126 – als Berufskrankheit 127 – GdB/MdE 129 – Risikobeurteilung 132 Karnofsky-Index 526 Karotisstenose 165 Karpaltunnelsyndrom 345 Karzinome; TNM-Klassifikation 525 Käsewascherlunge 215 Kausalität 23 Kehlkopfkarzinom 223 – GdB/MdE 225 KHK – Einschränkung in der Berufsausübung 135, 136 – Fahrereignung 137 – GdB/MdE 135 – Hypertonie 485 – Klinik 133 – latente 134 – Lebensversicherung 136 – Lungenerkrankungen, obstruktive 212 – pAVK 155 – Rehabilitation 137 – Risikobeurteilung 123, 137 – Risikofaktoren 133, 137 – Schweregrade 135 – Sozialrecht 134 – stabile 116 – Unfallversicherung 136 – Ventrikelfunktion 135 – Vitalitätsdiagnostik 123 Klappeninsuffizienz; periphere Venen 113 Knöchel-Arm-Index (ABI); pAVK 156 Knochendestruktion 80 Knochenverletzung 87 Koagulopathie 324 Kollagenose 78, 90, 100 kolorektales Karzinom 281 – Endometriumkarzinom 439 Kolostoma 284 Koma 313 Kompartmentsyndrom 88 Kontaktekzem, akutes/chronisches 290 Kontrastsehen 364
Kontusionsherd, aufblühender hämorrhagischer 310, 316 Konversionsstörung 504 Konzentrationstest 312 Koordinationsstörung; GdB/MdE 329 Kopfschmerzen – pharmakainduziert 317 – Schädel-Hirn-Trauma 317 – zervikogen 317 Koronar-Stent 118 Koronaranomalie, angeborene 118 koronare Herzkrankheit (s. KHK) Koronarfaktor 124 Koronarkalk 118 Koronarstenose 118, 133 – Diagnostik 124 Koronarsyndrom, akutes 123, 133 Korsakow-Syndrom 495 Korundschmelzerlunge 215 Krampfader (s. Varize) Krankenversicherung, gesetzliche – Krankenzusatzversicherung 29 – Krankheitsbegriff 27 Krankenversicherung, private 28 – Beitragsberechnung 29 – Personenkreis 29 – Risikoprüfung 28 Krankenzusatzversicherung 29 Krankheitsbegriff 27 Krankheitsgewinn, sekundärer 506, 508 Kreatinin-Clearance; Nierenerkrankungen 422 Krosseninsuffizienz 172 Kurzdarmsyndrom 284
L Lagerungsschaden 344f. Lagerungsschwindel, gutartiger 390ff. Lähmung, zerebral bedingte; GdB/MdE 329 Laktoseintoleranz; als Folge von Magenresektion 276 Langzeit-EKG 115 Langzeitblutdruckmessung 476 Lärmgutachten 382 Lärmschwerhörigkeit 381, 384 Lärmtrauma, akutes 380 Laryngitis; Ösophaguserkrankungen 270 Larynxödem 294 Lautheitsskalierung 375 Lebensversicherung – Hepatitiden 256 – Hypertonie 482 Leber, vergrößert/verhärtet 250 Lebererkrankungen – alkoholbedingt 251 – Diagnostik 250 – Einschränkung in der Berufsausübung 252 – GdB/MdE 252 – Hepatitis; Sozialrecht 254 – Krankheitsbilder 251 – nichtvirale 258 – Lebensversicherung 252 – Lebertumoren, primär maligne 259
– Leberversagen, akutes 258 – Leberzirrhose 113, 250ff. – Einschränkung in der Berufsausübung 256 – Klassifikation 255 – primäre biliäre 262 – Rehabilitation 252 – Risikobeurteilung 252 – Sozialrecht 252 – Unfallversicherung 252 – Virushepatitiden 252 Leberfunktionstest 251 – Child-Pugh Score 255 Leberschaden, medikamentenbedingter/ toxischer 259 Lebertransplantation 260 – GdB/MdE 261 »left ventricular assist device« (LVAD) 147 Leichenschau 4 – Sachverständigenvergütung 62 Leistungsbild, positives vs. negatives 163, 176 Leukämie 522 – akute 530 – chronisch-myeloische 530 Linksherzkatheter 124 Linkssherzinsuffizienz 112 linksventrikuläre Hypertrophie 477 Löfgren-Syndrom 214 Lucida intervalla 493 Lungenembolie 228 – Herz-Kreislauf-Erkrankungen 117 – Venenthrombose, tiefe 178 Lungenemphysem 192 – Diagnostik 185 – Risikobeurteilung 210 Lungenerkrankungen – Allergenprovokationstest 196 – benigne, GdB/MdE 195 – Berufskrankheit 196 – Einschränkung in der Berufsausübung 204 – Infektionen – Diagnostik 218 – Einschränkung in der Berufsausübung 220 – GdB/MdE 220 – Krankheitsbilder 218 – Risikobeurteilung 220 – Sozialrecht 220 – interstitielle – Diagnostik 212 – Einschränkung in der Berufsausübung 217 – Einteilung 213 – Krankheitsbilder 213 – Risikobeurteilung 217 – Sozialrecht 217 – systemische Erkrankung 212 – Wehrdienst 218 – obstruktive – Allergietestung 196 – Auslöser 198 – Byssinose 203 – COPD 200 – Diagnostik 185
I–L
548
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
– Einschränkung in der Berufsausübung 209 – GdB/MdE 208, 209 – Krankheitsbilder 196 – Mukoviszidose 211 – pathologische Befunde 185 – Prävention 211 – Rehabilitation 211 – Rentenrecht 204 – Risikobeurteilung 210 – Schwerbehindertenrecht 206 – soziales Entschädigungsrecht 205 – Sozialrecht 204 – Unfallversicherung, gesetzliche 206 – »vocal cord dysfunction« 203 – Ziliendyskinesiesyndrom 211 – obstruktive; Fahrereignung 210 – sonstige – als Folge von Operation 228 – Diagnostik 225 – Krankheitsbilder 227 – schlafbezogene Atemstörungen 226ff. – Sozialrecht 233 – thorakaler Defektzustand 227, 233 – Thoraxtrauma 227, 233 – Tumoren – Berufskrankheit 221, 223 – Diagnostik 221 – Einschränkung in der Berufsausübung 224 – GdB/MdE 224 – Inhalationsnoxe 223 – Krankheitsbilder 221 – Noxen, arbeitsbedingte 222 – Rehabilitation 225 – Risikobeurteilung 225 – Sozialrecht 223 Lungenfibrose 214, 216 – Schweißer 216 Lungenfunktionsparameter 192, 193 Lungenfunktionsprüfung 185 – Blutgasanalyse 190 – Ganzkörperplethysmographie 186 – Hyperreagibilitätstestung, bronchiale 190 – Lungenerkrankungen, interstitielle 212 – Lungenfunktionsparameter 192 – Silikose 231 – Sollwerte 190f. – Spirometrie 186 Lungenfunktionsstörung; Einschränkung in der Berufsausübung 205 Lungenkarzinom 221 – Asbest 222 – Lungenerkrankungen, obstruktive 212 Lungenödem, toxisches 229 Lungenresektion 224 Lupus erythematodes, chronisch-diskoider/ systemischer 306 – Nierenerkrankungen 425 Lüscher-Test 373 Lyme-Arthritis 93 Lyme-Borreliose 83, 99 Lymphödem 299 Lymphödem, sekundäres 175 Lymphom 522 – Ann-Arbor-Stadieneinteilung 525 – Burkitt 530
M Magen- und Duodenumerkrankungen – Diagnostik 268 – Einschränkung in der Berufsausübung 278 – Fahrereignung 279 – GdB/MdE 278, 279 – Krankheitsbilder 273 – Magenkarzinom 274, 277, 279 – Magenpolypen, adenomatöse 274 – postoperative 274, 277 – Präkanzerose 277 – Rehabilitation 280 – Risikobeurteilung 280 – Sozialrecht 277 Magenresektion 274, 275 Magenstumpfkarzinom 276 Makroangiopathie; Diabetes mellitus 464 Makulaödem 365 Malzarbeiterlunge 215 Mammakarzinom 453ff. Mammographie 453 manisch-depressiv 501 Marasmus 326 Maschinenarbeiterlunge 215 MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit); Begriffsbestimmung 30 Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) 37 Melanom 300f. – äußeres Genitale 453 – Klassifikation 301, 303 Ménétrier-Erkrankung 274 Menière-Erkrankung 380, 395 – Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/Schwindel 392 Meningitiden; Schädel-Hirn-Trauma 317 Meniskusverletzung 96 Mesotheliom 222 metabolisches Syndrom 252, 460, 465 Metallrauchfieber 229 Migräne; Schädel-Hirn-Trauma 317 Mikroangiopathie, myokardiale 133 Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG); Augenerkrankungen 367 Mineralokortikoidexzess 414 Mini-Mental-State-Examination 492 Mitralinsuffizienz 139ff. Mitralstenose 138ff. Mittelohrentzündung, chronische 379 «mixed connective tissue disease” (MCTD) 84 Morbus Hodgkin 531 Morphea 306 MR-Koronarangiographie 120 Mukoviszidose 211 »multiple chemical sensitivity« (MCS) 509 multiple Persönlichkeitsstörung 504 Münchhausen-Syndrom 509ff. Muskelverletzung 87 myelodysplastisches Syndrom 530 Myokardfaktor 124 Myokardinfarkt – akuter 134 – Einschränkung in der Berufsausübung 136
– Fahrereignung 137 – Hypertonie 485 Myokardischämie 133 Myokardtumoren 127, 129 – Risikobeurteilung 132 Myom 434, 437, 439
N Nachweissicherheit 24f. Nagelanomalie 304 Nagelerkrankungen 303 Nagelveränderung, psoriatische 297 Nebennierenerkrankungen – Diagnostik 414 – Einschränkung in der Berufsausübung 417 – GdB/MdE 416 – Krankheitsbilder 414 – Nebennierenrindenadenom 415 – Nebennierenrindeninsuffizienz 414, 415 – Nebennierenrindenkarzinom 415 – Risikobeurteilung 417 – Sozialrecht 416 Nebenschilddrüsenerkrankungen – Diagnostik 412 – Einschränkung in der Berufsausübung 414 – GdB/MdE 413 – Krankheitsbilder 412 – Sozialrecht 413 Nebentätigkeit(srecht) 7, 63 Nephropathie 477 – Diabetes mellitus 464 – Hypertonie 480 – sekundäre 423 nephrotisches Syndrom 113 Nervensystem, peripheres – Diagnostik 340 – Fahrereignung 357 – GdB/MdE 355 – Krankheitsbilder 340, 343 – obere Extremität 344 – Rehabilitation 358 – Risikobeurteilung 357 – Sozialrecht 352 – untere Extremiät 345 Neugeborenenhepatitis 253 Neurapraxie 340 Neuritis vestibularis 395 – Trauma 396 Neurofibromatose 300 Neuropathie; Diabetes mellitus 134, 464 neuropsychologische Testverfahren 312 Neurose 502 – Einschränkung in der Berufsausübung 505, 507 – Fahrereignung 507 – GdB/MdE 506 – Geschäftsfähigkeit 506 Neurotmesis 341 Neutral-Null-Methode 73 nichtalkoholische Steatohepatitis (NASH) 251 Nierenerkrankungen – Diabetes mellitus 422, 427
549 Sachverzeichnis
– Diagnostik 422 – Dialyse 428 – GdB/MdE 429 – Differenzierung 423 – Einschränkung in der Berufsausübung 428, 429 – Fahrereignung 430 – GdB/MdE 425 – glomeruläre Filtrationsrate (GFR) 428 – interstitielle 424 – Krankheitsbilder 422 – Niereninsuffizienz 422 – Nierenversagen, akutes 425 – Rehabilitation 430 – Risikobeurteilung 430 – sekundäre 425 – Sozialrecht 425 – Stadieneinteilung 423 – Transplantation; GdB/MdE 429 – Trauma 427 – vaskuläre 424 Nierentransplantation 426, 430, 431 Notarzteinsatzprotokoll 313, 319 Nüchternglukose, abnorme 461 NYHA-Klassifikation 112, 129 Nystagmus; Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/Schwindel 392
O Obduktion; Sachverständigenvergütung 62 Obstbauerlunge 215 Ödem – Lebererkrankungen 250 – venöse Insuffizienz, chronische 175 »off label use« 358 Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/ Schwindel – Anatomie 389 – Belastungsstufen nach Stoll 398 – Diagnostik 390 – Einschränkung in der Berufsausübung 399 – Fahrereignung 399 – GdB/MdE 398 – Halswirbelsäulenverletzung 396 – Krankheitsbilder 390 – Rehabilitation 396 – Sozialrecht 397 Ohrerkrankungen, Hörorgan – als Folge von Unfall 388 – Anatomie 370 – Diagnostik, audiologische 371 – Einschränkung in der Berufsausübung 388 – Fahrereignung 388 – GdB/MdE 385 – Gliedertaxe 388 – Hörgeräteträger; Begutachtung 389 – Hörgeräteversorgung 375 – Krankheitsbilder 379 – quantitative Bewertung 384 – Sozialrecht 387 – Trauma 379 Opferentschädigungsgesetz (OEG) 100 Opiatabhängigkeit 497
Organic-dust-toxic-Syndrom (ODTS 229 Ösophaguserkrankungen – Diagnostik 268 – Einschränkung in der Berufsausübung 270, 272 – Fahrereignung 272 – GdB/MdE 271 – Krankheitsbilder 268 – Ösophaguskarzinom 269 – Ösophagusspasmus 271 – diffuser 269 – Ösophagusstenose 275 – Rehabilitation 273 – Risikobeurteilung 272 – Sozialrecht 270 Osteopenie – Hypophysenerkrankungen 403 Osteoporose 81 – Hypophysenerkrankungen 403 – Therapienebenwirkung 295 otoakustische Emissionen 375 Ovarialkarzinom 435ff. Ovarialsyndrom, polyzystisches 434, 439
P Palmarerythem; Lebererkrankungen 250 Palpitation 112 Panarteriitis nodosa, Hepatitis 257 Panikattacke 503 Pankreaserkrankungen – Diagnostik 263 – GdB/MdE 263 – Krankheitsbilder 263 – Pankreaskarzinom 264 – Pankreatitis 263 – Diabetes mellitus 467 Papierarbeiterlunge 215 Paraquatlunge 217 pAVK – als Folge von Operation 159 – als Folge von Trauma 159, 163 – Amputation 167 – Begleitkrankheiten 165 – Berufskrankheit 159 – Diabetes mellitus 154 – Diagnostik 154 – Einschränkung in der Berufsausübung 162, 165 – Etagen 154 – Fahrereignung 165 – GdB/MdE 161 – Gefäßoperation 169 – Genese 155 – Herzinsuffizienz 155 – KHK 155 – Krankheitsbild 158 – Lokalisation 158 – Lungenerkrankungen, obstruktive 212 – nach Operation, GdB/MdE 161 – Noxen, chemische 159 – obere Extremität 157 – Polyneuropathie, diabetische 154 – Rehabilitation 167 – Risikobeurteilung 167 – Risikofaktoren 159
– – – – –
Schmerztherapie 165 Schweregradeinteilung 158 Sozialrecht 160 Stadien 154 transitorische ischämische Attacke (TIA) 155 – Ulkus 154 – Ursachen, mechanische 160 »pelvic inflammatory disease« (PID) 436, 438 Pemphigus 295 Perforanteninsuffizienz 172 Perfusionsszintigraphie; Herz-KreislaufErkrankungen 123 Periarthropathie 94 Perikard, Erkrankungen – Pericarditis constrictiva 126 – Perikarditis 126 – Perikardtumoren 126 – Perikardzyste 126 – Risikobeurteilung 131 perkutane transluminale Koronarangioplastie (PTCA) 146 Perlmuttalveolitis 215 Personenbeförderung 538, 540 Persönlichkeitsstörung 512 – Einschränkung in der Berufsausübung 514 – Fahrereignung 515 – Formen 512 Pflegebedürftigkeit 37 – Pflegeversicherung, private 38 Pflegegeld 39 Pflegepflichtversicherung, private 38 Pflegesachleistung 39 Pflegestufen 38, 39 Pflegeversicherung, gesetzliche 37 – Leistungsantrag 37 – Medizinischer Dienst der Krankenkassen (MDK) 37 – Pflegebedürftigkeit 37 – Pflegestufen 38 Pflegeversicherung, private 38 – Leistungsantrag 39 – Pflegebedürftigkeit 38 – Pflegegeld 39 – Pflegepflichtversicherung 38 – Pflegesachleistung 39 – Pflegestufen 39 – Streitfälle 40 Pflegezusatzversicherung, private 40 Phäochromozytom 414, 415, 478 Phlebitis migrans (saltans) 175 Phlebothrombose (s. Venenthrombose, tiefe) Phobie 503 Pilzarbeiterlunge 215 Pilzsporenalveolitis 215 Plattenepithelkarzinom; Haut 301f. Plegie; GdB/MdE 329 Pleuraerkrankung, benigne; Asbest 232 Pneumatozele; Schädel-Hirn-Trauma 317 Pneumokoniose, benigne 216 Pneumonie 218 Polymyalgia rheumatica; Diagnosekriterien 85 Polymyositis 91 Polyneuropathie (PNP) 341, 348ff.
N–P
550
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
– – – –
Ätiologie 348 auslösende Noxen 349 Critical-illness-Polyneuropathie 351 diabetische 351 – pAVK 154, 156, 161 – Einschränkung in der Berufstätigkeit 356 posthrombotisches Syndrom 175 – Risikofaktoren 179 Postmenopauseblutung 434 Postthorakotomiesyndrom 224 postthrombotisches Syndrom 178 Potroom-Asthma 216 Präexzitationssyndrom 115 Praxishypertonie 476 Privatgutachten 10 Prolaktinom 404, 405 Prolapsus uteri 434, 439, 446 Provokationstest; Lungenerkrankungen, interstitielle 212 Prozessordnung 10 pseudodemenzielles Syndrom (Ganser-Syndrom) 492 Psoriasis 296f. Psoriasisarthritis 81f., 89 psychiatrische Erkrankungen 488 – abnorme Gewohnheiten 515 – Begutachtungskriterien/-stufen 489 – biomedizinisches/biosoziales Modell 490 – Diagnostik 488 – Dissimulation 509 – DSM IV-TR 488 – Einschränkung in der Berufsausübung 489, 490 – ICD-10 488 – Impulskontrolle, Störungen 515 – Intelligenzminderung 515 – Kapitallebensversicherung 518 – organisch bedingt 488, 491 – psychosomatische Störungen 503 – Rehabilitation 490 – selbstständige Lebensführung 491 – Simulation 509 – somatoforme Störungen 504 – soziale Situation 491 – substanzinduziert 488 psychogene Hyperphagie 512 Psychoonkologie 524, 528 – Gutachten 534 psychosomatische Störungen 503 Psychosyndrom, organisches – GdB/MdE 329 – Schädel-Hirn-Trauma 318 pTNM-Klassifikation, pathologische 526 Pulmalklappenerkrankung; Schweregrade 140 Pulmonalinsuffizienz 140 Pulmonalklappenersatz; GdB/MdE 143 Pulmonalstenose 139 – GdB/MdE 143 Puls – Jugularvenenpuls 113 – peripherer 113 – pulsus paradoxus 113 – Wasserhammerpuls 113 Pulsationen, präkordiale 113
Q Querulant 514
R R-Klassifikation, chirurgische 526 Rauchen; Ösophaguskarzinom 270 Raynaud-Syndrom 160 – GdB/MdE 162 »reactive airways dysfunction syndrome« (RADS) 202 reaktive Arthritiden; bakterielle Infektion 90 reaktive Arthritis 89 – Diagnosekriterien 83 Rechtsherzinsuffizienz 112 Rechtsherzkatheter 123 Recurrenslähmung 318 Reflexdystrophie, sympathische 341 Reflux, juveniler; Nierenerkrankungen 427 Refluxkrankheit, gastroösophageale (GERD) 268 Refluxösophagitis 268, 275 Rehabilitation – affektive Störungen 501 – Alkoholabhängigkeit 496 – Auge(nerkrankungen) 369 – Begriffsbestimmung 27 – Bewegungsapparat 109 – Diabetes mellitus 472 – Ekzem (atopisches) 292, 293 – Epilepsie 339 – Herzrkrankungen – Herzoperation, -trauma 150 – Myokard 132 – Perikard 132 – Endokard und Herzklappen 145 – gynäkologische Erkrankungen 446, 452 – Hepatitiden 257 – Hypertonie 484 – Hypophysenerkrankungen 407 – KHK 137 – Lebererkrankungen 252 – Lungenerkrankungen – obstruktive 211 – Tumoren 225 – Magen- und Duodenumerkrankungen 280 – Mammakarzinom 455 – Nervensystem, peripheres 358 – Nierenerkrankungen 430 – Ohrerkrankungen; Gleichgewichtsstörung/Schwindel 396 – Ösophaguserkrankungen 273 – pAVK 167 – Psoriasis 297 – psychiatrische Erkrankungen 490 – Schädel-Hirn-Trauma 320 – Schilddrüsenerkrankungen 411 – Schlaganfall 331 – Tumoren der Haut, maligne 302 – Tumorerkrankungen 534 – Urtikaria 294 – Venenerkrankungen 179
Relevanztheorie 23 Rentengutachten 34 Rentenrecht; Lungenerkrankungen, obstruktive 204 Rentenreformgesetz 34 Rentenversicherung; Hypertonie 481 Rentenversicherung, gesetzliche 32 – Berufsunfähigkeit 33 – Erwerbsminderung 34 – Erwerbsunfähgikeit 32 Rentenversicherung, private (Berufsunfähigkeitsversicherung) 34 – Leistungsvermögen 35 reversibles ischämisches Defizit (RIND) 323 rheumatische Erkrankung 70 – endokrine Erkrankung 93 – Labordiagnostik 80 – Stoffwechselstörung 93 rheumatoide Arthritis 73, 78, 88, 99 – Diagnosekriterien 82 Rhinoconjunctivitis allergica 293 Rhinopathie – allergische 196, 203 – chemisch irritative/toxische 200 Rhizarthrose 73 Risiko, versichertes 31 Risikobeurteilung – Auge(nerkrankungen) 369 – Bewegungsapparat 109 – Diabetes mellitus 472 – Dünn- und Dickdarmerkrankungen 285 – Epilepsie 338 – Herzerkrankungen – Herzoperation 150 – Herztrauma 149 – KHK 123 – Perikard 131 – Myokard 132 – Endokard und Herzklappen 145 – gynäkologische Erkrankungen 445, 452 – Hepatitiden 256 – Hypertonie 477, 484 – Hypophysenerkrankungen 407 – kardiovaskuläres Ereignis 118 – Lebererkrankungen 252 – nichtvirale; Risikobeurteilung 258 – Lungenerkrankungen – Infektionen 220 – interstitielle 217 – obstruktive 210 – Tumoren 225 – Magen- und Duodenumerkrankungen 280 – Mammakarzinom 455 – Nebennierenerkrankungen 417 – Nervensystem, peripheres 357 – Nierenerkrankungen 430 – Ösophaguserkrankungen 272 – pAVK 167 – Schädel-Hirn-Trauma 319 – Schilddrüsenerkrankungen 410 – Schlafapnoesyndrom 235 – Schlaganfall 331 – thorakaler Defektzustand 235 – Thoraxtrauma 235 – Tumorerkrankungen 532
551 Sachverzeichnis
– Venenerkrankungen 178 Romberg-Stehversuch 393 Rotatorenmanschettenruptur 95 Ruhe-EKG 114
S Sachverständigenvergütung – Aufwandsentschädigung 56 – Auslagen 63 – Befunderhebung 62 – Blutentnahme 62 – Fahrtkosten 50, 56, 65 – Geltendmachung 55 – Geltungsbereich 54 – gesetzliche Regelung 54 – Grundsatz 57 – hochschulrechtliche Besonderheiten 53 – Honorarvereinbarung 52, 58 – Kosten für besondere Aufwendungen 51 – Kosten für Vertretung 51 – Leichenschau 62 – nach Honorargruppen 57, 60, 61 – nach Stundensätzen 63 – Obduktion 62 – Steuerrecht 54 – Übernachtungskosten 51 – Vaterschaftsfeststellung 62 – Verdienstausfall 59 Sachverständiger – Ablehnung durch Prozessbeteiligte 14 – Auswahl 11 – Beauftragung 11 – Dienstaufgaben 6 – Haftung 15 – in Gerichtsverfahren 5 – in Verwaltungsverfahren 5 – mit hoheitlichen Prüfungsaufgaben 6 – Nebentätigkeit 6 – öffentlich bestellter 5 – öffentlicher Dienst 6 – Pflichten 4, 10 – Qualifikation 14 – Rechte 4, 10 – Stellung vor Gericht 12 – Tagegeld 51 – Verantwortlichkeit 15 – Vereidigung; Zeugnisverweigerungsrecht 5 – Vergütung 48 – nach Honorargruppen 49 – nach Rahmensätzen 50 – nach Stundensätzen 49 – nach Zeitaufwand 49 sachverständiger Zeuge 5 – Entschädigung 48 – Vereidigung 5 Salpingitis 435, 438 Sarkoidose 213, 217 Säure-Basen-Haushalt; Nierenerkrankungen 422 Schädel-Hirn-Trauma – Betreuungsrecht 320 – Bewusstseinstrübung/störung 311, 313 – Commotio cerebri 313 – Contusio cerebri 316
– Diabetes mellitus 467 – Diagnostik 310 – Einschränkung in der Berufstätigkeit 317, 319 – Epilepsie 311, 333 – Fahrereignung 319 – GdB/MdE 317 – Gehirnschaden 318 – Glasgow Coma Scale (GCS) 313 – Glasgow Outcome Scale (GOS) 312 – Hirnnervenstörung 316 – Hypophysenerkrankungen 406 – Klassifikation 313 – Kopfschmerzen 317 – Krankheitsbilder 312 – Lagerungsschwindel, gutartiger 394 – Migräne 317 – Rehabilitation 320 – Rindenprellung 311 – Risikobeurteilung 319 – Schädelfraktur 311 – Schlaganfall 326 – Sozialrecht 317 – Spannungskopfschmerzen 317 – Strafrecht 321 – Subarachnoidalblutung 317 – Verletzung von Hirnnerven 343 – Wehrdienst 319 Schädelfraktur 311 Schädelprellung 311 Schadensanlage 107 Schallleitungsschwerhörigkeit 371, 379 Schilddrüsenerkrankungen – Diagnostik 407 – Einschränkung in der Berufsausübung 410 – Fahrereignung 410 – Iodzufuhr 408 – Karzinom 410 – Krankheitsbilder 407 – Rehabilitation 411 – Risikobeurteilung 410 – Schilddrüsenfunktionsstörung; rheumatische Beschwerden 94 – Schilddrüsenmalignom 409 – Sozialrecht 409 Schizophrenie – als Folge von Unfall 499 – Begrifflichkeit 498 – Einschränkung in der Berufsausübung 499f. – Fahrereignung 500 – GdB/MdE 500 – Geschäftsfähigkeit 499 Schlafapnoesyndrom 226, 227, 478 – Einschränkung in der Berufsausübung 234 – GdB/MdE 234 – Hypertonie 485 – Risikobeurteilung 235 – Wehrdienst 235 Schlaganfall – als Folge von Trauma 327 – arteriosklerotischer 326 – Diagnostik 321 – Einschränkung in der Berufstätigkeit 330
– Fahrereignung 330 – funktionales Defizit 322 – GdB/MdE 329 – Gefäßmissbildung 321 – Hirninfarkt 321 – Hirnvenenthrombose (HVT) 321 – Infarkt, lakunärer 324 – intrazerebrale Blutung 321 – Komplikationen 327 – Krankheitsbilder 322 – Rehabilitation 331 – Risikobeurteilung 331 – Riskikofaktoren 322 – Sozialrecht 328 – Strafrecht 331 – Subarachnoidalblutung 321 – Therapie 324 – Tumor 326 – Wehrdienst 330 Schluckstörung 329 Schmerzstörung, somatoforme 508 Schmerzsyndrom, chronisches 508 Schuldfähigkeit 41 Schweigepflicht, ärztliche 5 – Befreiung 9 – des Gutachters 16 – Verletzung 17 Schwerbehindertenrecht 40 – Lungenerkrankungen, obstruktive 206 Schwimmbadlunge 215 Sehnenverletzung 87 Sehnerv 364 Sehschärfe 364 – des schlechteren Auges (sA) 365 Sehvermögen; Fahrerlaubnisverordnung 540 Sekundärbehaarung; Lebererkrankungen 250 sensomotorische Störung; Schädel-HirnTrauma 318 Sequoiose 215 Sharp-Syndrom 91 Shulman-Syndrom 306 Shuntumkehr 140 »sick building syndrome« (SBS) 509 Siderose 216 Silikose 229f. – chronische/akute 230 Silikotuberkulose 231 Simulation – Auge(nerkrankungen) 370 – Ohrerkrankungen, Hörorgan 384 – psychiatrische Erkrankungen 509 – Verdacht auf 510 Sinusthrombose 323 – Therapie 326 SISI-Test 373 Sjögren-Syndrom 91 – Diagnosekriterien 84 Sklerodermie 91, 231, 306 – pAVK 164 Somatisierungsstörung 504 somatoforme Störungen 504 soziales Entschädigungsrecht; Lungenerkrankungen, obstruktive 205 Sozialrecht – Auge(nerkrankungen) 365
R–S
552
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sachverzeichnis
– – – – –
Diabetes mellitus 467 Dünn- und Dickdarmerkrankungen 283 Ekzem 291 Epilepsie 335 gynäkologische Erkrankungen 441, 451, 454 – Hepatitis 254 – Hypophysenerkrankungen 406 – Lebererkrankungen 252 – Leberversagen, akutes 259 – nichtvirale 258 – Lungenerkrankungen – Infektionen 220 – sonstige 233 – Tumoren 223 – Magen- und Duodenumerkrankungen 277 – Nebennierenerkrankungen 416 – Nebenschilddrüsenerkrankungen 413 – Nervensystem, peripheres 352 – Nierenerkrankungen 425 – Ohrerkrankungen, Gleichgewichtsstörung/Schwindel, Hörorgan 397 – Ösophaguserkrankungen 270 – pAVK 160 – psychiatrische Erkrankungen 489, 492 – Schädel-Hirn-Trauma 317 – Schilddrüsenerkrankungen 409 – Schlaganfall 328 – Tumorerkrankungen 530 – Venenerkrankungen 176 – Zumutbarkeit invasiver Untersuchungen 156, 157 Sozialversicherungsrecht 23 Spannungskopfschmerzen; Schädel-HirnTrauma 317 Spiroergometrie 192, 212 Spirometrie 185, 186 Spondylarthropathie – enteropathische 70 – seronegative 70, 89, 99 Spondylitis anklylosans; Diagnosekriterien 82 Spontanpneumothorax 229 Sprachaudiogramm 372 Spritzenlähmung 346 Stapediusreflexmessung 379 Stauungssyndrom, athrogenes 176 Steatohepatitis 251 Steatorrhö 276 Steinkohlenbergbau 201, 230 Stimmgabelversuch 372 Strafprozessordnung 10 Strafrecht 41 – Gewahrsamsfähigkeit 42 – Nachweissicherheit 25 – Schädel-Hirn-Trauma 321 – Schlaganfall 331 – Verhandlungsfähigkeit 42 – Verschulden 25 – Vollzugstauglichkeit 42 Straßenverkehrsrecht 44 Stressechokardiographie 116 Stromunfall 146 Struma 407 »stunned myocardium« 120
Subarachnoidalblutung 317ff. Suberose 215 Suchterkrankungen 494ff. Suizid; Kapitallebensversicherung 518 Synkope 113 systemischer Lupus erythematodes 90 – Diagnosekriterien 83 systemische Sklerose; Diagnosekriterien 83 systemische Vaskulitiden 91
T Tachykardie, supraventrikuläre 115 Tachykardie, ventrukuläre 115 Tagegeld (Gutachter) 51 Talkose 233 Tendopathie 94 Tendovaginitis 94 Tennisellbogen 94 Testierfähigkeit 43 thorakaler Defektzustand 227, 228 – Einschränkung in der Berufsausübung 234 – GdB/MdE 235 – Risikobeurteilung 235 Thoraxschmerzen, nichtkardiale; Ösophaguserkrankungen 270 Thoraxtrauma 227f. – Einschränkung in der Berufsausübung 234 – GdB/MdE 235 – Risikobeurteilung 235 Thromboembolie, venöse 178 Thrombophlebitis 172, 174 Thromboseprophylaxe; Schlaganfall 324 Thyreoiditis de Quervain, subakute 408 thyreotoxische Krise 408 Tinnitus 381ff., 395 TNM-Klassifikation 525 Tonschwellenaudiogramm 372, 383 transitorisch-ischämische Attacke (TIA) 322 – pAVK 155 Trikuspidalklappenerkrankung 140 Trommelfellverletzung 380 Tuberkulose 218 – Berufskrankheit 219 – Gemeinschaftseinrichtung 221 – Infektionsweg 219 – Silikose 231 Tumorerkrankung, benigne; Haut 300 Tumorerkrankungen, maligne 522 – Berufskrankheit 529 – Depression 528 – Diagnostik 522 – Einschränkung in der Berufsausübung 531 – Fahrereignung 532 – GdB/MdE 530 – Grading, histopathologisches 525 – Haut 300ff. – hormoninaktive Tumoren; Hypophysenerkrankungen 405 – International Classification of Functioning (ICF) 526 – Karnofsky-Index 527 – Kausalität 529
– Klassifikation – pTNM-Klassifikation 526 – R-Klassifikation, chirurgische 526 – Staging 522 – TNM-Klassifikation 525 – Krankheitsbilder 525 – Krankheitsbilder, psychoonkologische 528 – Krankheitsphasen 527 – Leukämie 522 – Lymphom 522 – Prognose 527 – psychoonkologisches/psychiatrisches Gutachten 524, 534 – psychosoziale Aspekte 524 – Rehabilitation 534 – Risikobeurteilung 532 – Sozialrecht 530 – Therapiefolgen 523 – Tumortypen 522 Tüpfelnägel 297 Tympanometrie 378, 383
U Ulcus cruris 176 – Venenthrombose, tiefe 175 – venöse Insuffizienz, chronische 175 Ulcus duodeni 273, 276 Ulcus pepticum jejuni 276 Ulcus ventriculi 273, 276 Ulkus, peptisches 273 Umwelterkrankung 509 Unfall – Bewegungsapparat 72 – Schweregrad 86 – Zusammenhang mit Berufskrankheit 24 – Verschlimmerung unfallunabhängiger Leiden 23 Unfallversicherung – Hepatitiden 256 – Hypertonie 482 – Schädel-Hirn-Trauma 318 Unfallversicherung, gesetzliche 30 – Arbeitsunfall 30 – Berufskrankheit 30 – Bewegungsapparat 107 – Gelegenheitsursache 107 – hirnorganische Psychosyndrome 493 – Lungenerkrankungen, obstruktive 206 – MdE 30 – Schadenslage 107 – Wegeunfall 30 Unfallversicherung, private 31 – Bewegungsapparat 106 – Gutachten 32 – Invaliditätsgrad 32 – Leistungspflicht, /prüfung 31f. – Schaden 31 – Streitfälle 32 – Tod des Versicherten 32 – Unfall(meldung) 31 – versichertes Risiko 31 Unterberger-Tretversuch 393 Urtikaria 294 »usual interstitial pneumonia« (UIP) 212
553 Sachverzeichnis
V Vagina – dermatologische Erkrankung 449 – Karzinom 449f. Varikophlebitis 175 Varikosis 172 – Einteilung 174 – primäre/sekundäre 173 – Risikofaktoren 178 Varize 172 – Gastrointestinaltrakt 250 Vaskulitiden 79, 100 – systemische; Nierenerkrankungen 425 Vaterschaftsfeststellung 43 Venenastthrombose; Auge(nerkrankungen) 365 Venenerkrankungen – als Folge von Operation 176 – als Folge von Trauma 176 – Berufskrankheit 176 – Diagnostik 172 – Einschränkung in der Berufsausübung 176, 178 – Fahrereignung 178 – GdB/MdE 177 – Krankheitsbilder 173 – Rehabilitation 179 – Risikobeurteilung 178 – Sozialrecht 176 Venenthrombose 88, 113 – Virchow-Trias 174 Venenthrombose, tiefe 174 – Lungenembolie 178 – Risikofaktoren 179 venöse Insuffizienz, chronische 174ff. – Risikofaktoren 179 Ventilationsstörung 192 Ventrikelseptumdefekt 140, 143 Ventrikulographie 124 Verbrennung – Nierenerkrankungen 427 – Herztrauma 146 Verdienstausfall des Gutachters 59 Vergewaltigung 450, 452 Vergütung – Grundsatz 48 – Sachverständiger 48 Verhandlungsfähigkeit 42 Verschlusskrankheit, arterielle (s. pAVK) Verwaltungsgutachten 10 Verwaltungsrecht 44 – Beamtenrecht 45 Vestibulopathie, bilaterale 399 Virchow-Trias 174 Virushepatitis 252 »vocal cord dysfunction« (VCD) 203 Vogelhalterlunge 215 Vollzugstauglichkeit 42 Vorhofseptumdefekt 140, 143 Vormundschaft 43 Vorsatz 26 Vulva – Bartholin-Pseudoabszess 450 – dermatologische Erkrankung 449
– Infektion 450 – Karzinom 449f. – Lichen sclerosus 450
W Wahrscheinlichkeitsgrad 24 Wegener-Granulomatose 213 Wegeunfall 30 Wehrdienst – Asthma bronchiale 212 – Epilepsie 338 – Lungenerkrankungen, interstitielle 218 – Schädel-Hirn-Trauma 319 – Schlafapnoesyndrom 235 – Schlaganfall 330 – Tuberkulose 219 weichteilrheumatische Erkrankung 94 Wernicke-Enzephalopathie 495 Wilson-Erkrankung 258
Z Zahntechnikerlunge 216 zentralvestibulärer Ausfall 316 zerebellärer Schaden; Schädel-Hirn-Trauma 318 zerebral-ischämisches Ereignis 326 Zervixkarzinom 435ff., 448 Zervizitis 435, 438 Zeuge (s. auch Sachverständiger, sachverständiger Zeuge) 48 Ziliendyskinesiesyndrom 211 Zimmerspringbrunnenalveolitis 215 Zivilprozessordnung 10 Zivilrecht 25 – Beweislast 26 – Nachweissicherheit 26 – psychiatrische Erkrankungen 489 Zurechnungszusammenhang 25 Zwangsstörung 503 Zwerchfelllähmung 229 Zyanose 113 Zylinderzellmetaplasie 268
V–Z