Psychologie 18., aktualisierte Auflage
ps
Philip G. Zimbardo Richard J. Gerrig
psychologie
Psychologie 18., aktualisierte Auflage
Aus dem Amerikanischen von Ralf Graf, Dagmar Mallett, Markus Nagler und Brigitte Ricker
Deutsche Bearbeitung von Ralf Graf Mit über 430 Abbildungen
ein Imprint von Pearson Education München • Boston • San Francisco • Harlow, England Don Mills, Ontario • Sydney • Mexico City Madrid • Amsterdam
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Die Informationen in diesem Produkt werden ohne Rücksicht auf einen eventuellen Patentschutz veröffentlicht. Warennamen werden ohne Gewährleistung der freien Verwendbarkeit benutzt. Bei der Zusammenstellung von Texten und Abbildungen wurde mit größter Sorgfalt vorgegangen. Trotzdem können Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden. Verlag, Herausgeber und Autoren können für fehlerhafte Angaben und deren Folgen weder eine juristische Verantwortung noch irgendeine Haftung übernehmen. Für Verbesserungsvorschläge und Hinweise auf Fehler sind Verlag und Herausgeber dankbar. Alle Rechte vorbehalten, auch die der fotomechanischen Wiedergabe und der Speicherung in elektronischen Medien. Die gewerbliche Nutzung der in diesem Produkt gezeigten Modelle und Arbeiten ist nicht zulässig. Fast alle Produktbezeichnungen und weitere Stichworte und sonstige Angaben, die in diesem Buch verwendet werden, sind als eingetragene Marken geschützt. Da es nicht möglich ist, in allen Fällen zeitnah zu ermitteln, ob ein Markenschutz besteht, wird das ®-Symbol in diesem Buch nicht verwendet. Authorized translation from the English language edition, entitled PSYCHOLOGY AND LIFE, 18th Edition by ZIMBARDO, PHILIP G.; GERRIG, RICHARD, published by Pearson Education, Inc., publishing as Allyn and Bacon, Copyright © 2007 by Pearson Education, Inc. All rights reserved. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording or by any information storage retrieval system, without permission from Pearson Education, Inc. GERMAN language edition published by PEARSON EDUCATION DEUTSCHLAND GMBH, Copyright © 2008. Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 10 09 08
ISBN: 978-3-8273-7275-8
© 2008 by Pearson Studium, ein Imprint der Pearson Education Deutschland GmbH, Martin-Kollar-Straße 10–12, D–81829 München Alle Rechte vorbehalten www.pearson-studium.de Übersetzung: Dr. Ralf Graf, Dagmar Mallett, Markus Nagler und Brigitte Ricker Lektorat: Dr. Stephan Dietrich,
[email protected] Fachlektorat: Dr. Ralf Graf, Institut für Psychologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt; Prof. Dr. Arthur Jacobs, Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin Herstellung: Claudia Bäurle,
[email protected] Einbandgestaltung: Thomas Arlt,
[email protected] Bildbearbeitung: ptp-graphics e.K., www.ptp-graphics.eu Korrektorat, Satz & Layout: PTP-Berlin Protago-TeX-Production GmbH, www.ptp-berlin.eu Druck und Verarbeitung: Print Consult GmbH Printed in the Slovak Republic
Inhaltsübersicht Kapitel 1 Psychologie als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2 Forschungsmethoden der Psychologie
1
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Kapitel 3 Die biologischen und evolutionären Grundlagen des Verhaltens . . . . .
65
Kapitel 4 Sensorische Prozesse und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Kapitel 5 Bewusstsein und Bewusstseinsveränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Kapitel 6 Lernen und Verhaltensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Kapitel 7 Gedächtnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
Kapitel 8 Kognitive Prozesse
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Kapitel 9 Intelligenz und Intelligenzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Kapitel 10 Entwicklung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Kapitel 11 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Kapitel 12 Emotionen, Stress und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Kapitel 13 Die menschliche Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Kapitel 14 Psychische Störungen Kapitel 15 Psychotherapie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595
Kapitel 16 Soziale Kognition und Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Kapitel 17 Soziale Prozesse, Gesellschaft und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
Inhaltsverzeichnis Vorwort zur amerikanischen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xix Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxvii
Kapitel 1 Psychologie als Wissenschaft 1.1 Was macht Psychologie einzigartig?
1
........................................ 1.1.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Ziele der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2 2 4
Psychologie im Alltag: Kann die Psychologie mir bei der Berufswahl helfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8 1.2.1 Historische Grundlagen der Psychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.2.2 Aktuelle Perspektiven der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.2.3 Perspektivenvergleich: Thema Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Kritisches Denken im Alltag: Warum enden Freundschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.3 Was machen Psychologen eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Kapitel 2 Forschungsmethoden der Psychologie
25
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
..................................... 2.1.1 Beobachterabhängige Urteilsverzerrung und operationale Definitionen . . . . . . . . . . . 2.1.2 Experimentelle Methoden: Alternativerklärungen und die Notwendigkeit von Kontrollbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Korrelationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Unterschwellige Beeinflussung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 28 31 35 36
Psychologie im Alltag: Kann eine Meinungsumfrage Ihre Einstellungen beeinflussen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.2 Psychologische Messung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39 2.2.1 Wie erreicht man Reliabilität und Validität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.2.2 Selbstberichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.2.3 Verhaltensmaße und Beobachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.3 Ethische Grundsätze der Forschung an Mensch und Tier
...................... Freiwillige Zustimmung nach Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiko-/Nutzen-Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsätzliche Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschlussgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen in der Tierforschung: Wissenschaft, Ethik, Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43 44 44 44 45 45
2.4 Wie wird man ein mündiger Forschungsrezipient? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
Kritisches Denken im Alltag: Wie können Sie psychologische Informationen im Internet bewerten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
vii
Inhaltsverzeichnis
Statistischer Anhang: Datenanalyse und Schlussfolgerungen
51
A.1 Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 A.1.1 Deskriptive Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 A.1.2 Inferenzstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
A.2 Wie wird man ein mündiger Rezipient von Statistiken?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Kapitel 3 Die biologischen und evolutionären Grundlagen des Verhalten
65
3.1 Vererbung und Verhalten
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.1.1 Evolution und natürliche Selektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.1.2 Variationen im Genotyp des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
3.2 Das Nervensystem in Aktion 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
............................................... Das Neuron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktionspotenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synaptische Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurotransmitter und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 75 77 80 81
3.3 Biologie und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 3.3.1 Ein Blick ins Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Kritisches Denken im Alltag: Was bedeutet „Es liegt in den Genen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6
Das Nervensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehirnstrukturen und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hemisphärenlateralisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das endokrine System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plastizität und Neurogenese: Unser Gehirn verändert sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 90 95 98 99
Psychologie im Alltag: Warum beeinflusst Musik, wie man sich fühlt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Kapitel 4 Sensorische Prozesse und Wahrnehmung
107
4.1 Sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation, Identifikation und Wiedererkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.1.1 Proximaler und distaler Reiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.1.2 Realität, Mehrdeutigkeit und Wahrnehmungstäuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
4.2 Sensorisches Wissen über die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2.1 Psychophysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2.2 Von physikalischen zu mentalen Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
4.3 Das visuelle System
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3.1 Das menschliche Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.3.2 Pupille und Linse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
viii
Inhaltsverzeichnis
4.3.3 Retina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.3.4 Prozesse im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Kritisches Denken im Alltag: Kann Technologie die Sehfähigkeit wiederherstellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.3.5 Farbensehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
4.4 Hören
129 129 130 131
4.5 Die weiteren Sinne
135 135 135 137 138 139
.................................................................... 4.4.1 Die Physik des Schalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Psychische Dimensionen des Schalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Die Physiologie des Hörens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
........................................................ Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hautsinne und Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichgewichtssinn und kinästhetischer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Psychologie im Alltag: Warum können sehr scharfe Speisen wehtun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6
Aufmerksamkeitsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumliche und zeitliche Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung räumlicher Tiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungskonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141 143 144 145 146 149
4.7 Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4.7.1 Bottom-up- und Top-down-Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4.7.2 Der Einfluss von Kontext und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.7.3 Abschließende Bemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Kapitel 5 Bewusstsein und Bewusstseinsveränderungen
161
5.1 Die Inhalte des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.1.1 „Gewahr“-Sein und Bewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 5.1.2 Erforschung der Bewusstseinsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
5.2 Die Funktionen des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.2.1 Der Nutzen des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.2.2 Erforschung der Funktionen des Bewusstseins. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
5.3 Schlaf und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5
Zirkadianer Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Schlafzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum schlafen wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Träume: Kino im Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 169 171 172 174
ix
Inhaltsverzeichnis
Psychologie im Alltag: Bekommen Sie ausreichend Schlaf?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
5.4 Veränderte Bewusstseinszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Luzide Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meditation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Ekstase. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177 178 181 182
5.5 Bewusstseinsverändernde Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.5.1 Abhängigkeit und Sucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.5.2 Die Bandbreite psychoaktiver Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Kritisches Denken im Alltag: Ist Ecstasy schädlich für das Gehirn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Kapitel 6 Lernen und Verhaltensanalyse
191
6.1 Die Erforschung des Lernens
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.1.1 Was ist Lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.1.2 Behaviorismus und Verhaltensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4
Pavlovs überraschende Beobachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prozess des Konditionierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwerb: Genauer betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassisches Konditionieren: Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 197 200 202
Psychologie im Alltag: Wie beeinflusst klassische Konditionierung die Krebstherapie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6
Das Gesetz des Effekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentelle Verhaltensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontingenzen bei der Verstärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzung von Kontingenzen bei der Verstärkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstärkereigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstärkerpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206 207 208 211 212 214
Kritisches Denken im Alltag: Ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.3.7 Shaping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
6.4 Biologie und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 6.4.1 Instinktverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6.4.2 Lernen von Geschmacksaversionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
6.5 Lernen und Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.5.1 Kognitionen im Tierreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 6.5.2 Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
x
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 7 Gedächtnis
231
7.1 Was ist Gedächtnis?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 7.1.1 Gedächtnisformen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.1.2 Überblick über Gedächtnisprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
7.2 Sensorisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 7.2.1 Ikonisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 7.2.2 Kurzzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 7.2.3 Arbeitsgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
................................ Hinweisreize beim Abruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext und Enkodieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Prozesse des Enkodierens und des Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum wir vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserung der Gedächtnisleistung bei unstrukturierten Informationen . . . . . . . . .
243 244 246 249 251 254
Kritisches Denken im Alltag: Wie kann Ihnen die Gedächtnisforschung bei der Prüfungsvorbereitung helfen? . . . . . . . . . . . . . . . 256 7.3.6 Metagedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
7.4 Strukturen im Langzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 7.4.1 Gedächtnisstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 7.4.2 Sich erinnern als rekonstruktiver Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
7.5 Biologische Aspekte des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 7.5.1 Suche nach dem Engramm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Psychologie im Alltag: Warum greift die Alzheimer‘sche Krankheit das Gedächtnis an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 7.5.2 Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 7.5.3 Bildgebende Verfahren in der Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Kapitel 8 Kognitive Prozesse
275
8.1 Die Untersuchung der Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 8.1.1 Die Entdeckung der geistigen Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 8.1.2 Geistige Prozesse und mentale Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
8.2 Sprachverwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4
Sprachproduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Evolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache, Denken und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283 287 292 293
Psychologie im Alltag: Wie und warum lügen Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
xi
Inhaltsverzeichnis
8.3 Visuelle Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 8.3.1 Die Verwendung visuellerRepräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 8.3.2 Die Kombination verbaler und visueller Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
8.4 Problemlösen und logisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 8.4.1 Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 8.4.2 Deduktives Schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 8.4.3 Induktives Schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
8.5 Urteilen und Entscheiden
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 8.5.1 Heuristiken und Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 8.5.2 Die Psychologie der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
Kritisches Denken im Alltag: Können Politikexperten die Zukunft voraussagen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Kapitel 9 Intelligenz und Intelligenzdiagnostik
325
9.1 Was ist Diagnostik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 9.1.1 Die Geschichte der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 9.1.2 Grundeigenschaften formaler Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
9.2 Intelligenzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 9.2.1 Die Ursprünge der Intelligenzmessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 9.2.2 IQ-Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 9.2.3 Außergewöhnlich hohe oder niedrige Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
9.3 Intelligenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 9.3.1 Psychometrische Intelligenztheorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Kritisches Denken im Alltag: Diagnostik im World Wide Web? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 9.3.2 Sternbergs triarchische Intelligenztheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 9.3.3 Gardners multiple Intelligenzen und emotionale Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Psychologie im Alltag: Sind Intelligenztheorien wichtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
9.4 Intelligenz als Politikum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4
Die Geschichte der Gruppenvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz und Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und die Validität von Intelligenztests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345 346 348 350
9.5 Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 9.5.1 Die Messung von Kreativität und die Verbindung zur Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . 353 9.5.2 Außergewöhnliche Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
9.6 Diagnostik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
xii
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 10 Entwicklung
361
10.1 Erforschung und Erklärung der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 10.2 Körperliche Entwicklung im Laufe des Lebens
365 365 370 371
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
372 373 376 379
.............................. 10.2.1 Pränatale Entwicklung und Entwicklung während der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Körperliche Entwicklung in der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Körperliche Veränderungen im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ................................ 10.3.1 Piagets Erkenntnisse über die geistige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Aktuelle Perspektiven auf die frühe kognitive Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Kognitive Entwicklung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Psychologie im Alltag: Funktioniert unser Gehirn mit zunehmendem Alter anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
10.4 Spracherwerb
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
10.4.1 Lautwahrnehmung und Wortwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 10.4.2 Lernen von Wortbedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 10.4.3 Erwerb der Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 10.5.1 Psychosoziale Stadien nach Erikson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 10.5.2 Soziale Entwicklung in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Kritisches Denken im Alltag: Wie wirken sich Tagesstätten auf die Entwicklung von Kindern aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 10.5.3 Soziale Entwicklung in der Adoleszenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 10.5.4 Soziale Entwicklung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
10.6 Unterschiede in Geschlecht und Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 10.6.1 Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 10.6.2 Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
10.7 Moralische Entwicklung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 10.7.1 Stufen des moralischen Urteils nach Kohlberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 10.7.2 Geschlechterperspektive und kulturelle Perspektiven auf das moralische Urteil . . 407
10.8 Erfolgreich älter werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Kapitel 11 Motivation 11.1 Was ist Motivation?
...................................................... 11.1.1 Die Funktionen verschiedener Motivationskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Motivationsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Eine Bedürfnishierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
413 414 414 415 420
xiii
Inhaltsverzeichnis
11.2 Essen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 11.2.1 Die Physiologie des Essens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 11.2.2 Die Psychologie des Essens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
Psychologie im Alltag: Gene und Übergewicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
11.3 Sexualverhalten 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5
......................................................... Sexuelles Verhalten bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Erregung und Reaktionen beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Evolution des Sexualverhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.4 Leistungsmotivation
..................................................... 11.4.1 Das Leistungsmotiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Attribution von Erfolg und Misserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.3 Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431 431 433 435 437 439 442 442 444 446
Kritisches Denken im Alltag: Wie beeinflusst Motivation den akademischen Erfolg?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
Kapitel 12 Emotionen, Stress und Gesundheit
453
12.1 Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 12.1.1 Grundlegende Emotionen und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 12.1.2 Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 12.1.3 Funktionen von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Psychologie im Alltag: Warum sind manche Menschen glücklicher als andere? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
12.2 Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4
Physiologische Stressreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Stressreaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stresscoping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Effekte von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
469 472 478 485
12.3 Gesundheitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 12.3.1 Das biopsychosoziale Modell der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 12.3.2 Gesundheitsförderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 12.3.3 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Kritisches Denken im Alltag: Kann die Gesundheitspsychologie Ihnen helfen, bis 2010 ein gesunder Mensch zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 12.3.4 Persönlichkeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 12.3.5 Burn-out im Beruf und das Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 12.3.6 Ein Lob der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
xiv
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 13 Die menschliche Persönlichkeit
503
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.1.5
Die Kategorisierung anhand von Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beschreibung anhand von Traits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traits und Vererbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sagen Traits Verhalten vorher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bewertung von Typologien und Trait-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
505 507 510 511 513
Psychologie im Alltag: Warum sind manche Menschen schüchtern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
13.2 Psychodynamische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 13.2.1 Freud’sche Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 13.2.2 Bewertung der Freud’schen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520 13.2.3 Erweiterungen psychodynamischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
13.3 Humanistische Theorien
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 13.3.1 Merkmale humanistischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 13.3.2 Bewertung humanistischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524
13.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien 13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4
............................... Mischels kognitiv-affektive Persönlichkeitstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Banduras sozial-kognitive Lerntheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cantors Theorie der sozialen Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der sozialen Lerntheorien und der kognitiven Theorien . . . . . . . . . . . .
13.5 Theorien des Selbst 13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4
...................................................... Dynamische Aspekte von Selbstkonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwertgefühl und Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kulturelle Konstruktion des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der Theorien des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
525 526 528 529 530 531 531 532 534 536
Kritisches Denken im Alltag: Das Selbst im Internet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
13.6 Vergleich der Persönlichkeitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 13.7 Persönlichkeitsdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 13.7.1 Objektive Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 13.7.2 Projektive Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541
Kapitel 14 Psychische Störungen 14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen 14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.1.4
................................. Was ist abweichend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ätiologie der Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
547 548 549 550 551 555
xv
Inhaltsverzeichnis
14.2 Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6
Generalisierte Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Panikstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phobien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angststörungen: Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
558 558 559 560 561 562
14.3 Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5
Major Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen: Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterunterschiede bei der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
565 566 567 570 571
Psychologie im Alltag: Wie können wir das Wechselspiel von Anlage und Umwelt erkennen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
14.4 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 14.4.1 Borderline-Persönlichkeitsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 14.4.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
14.5 Somatoforme und dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 14.5.1 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576 14.5.2 Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
14.6 Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 14.6.1 Die Hauptformen der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580 14.6.2 Ursachen der Schizophrenie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 Kritisches Denken im Alltag: Ist der Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit wirklich eine gute Verteidigungsstrategie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586
14.7 Psychische Störungen in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 14.7.1 Aufmerksamkeits-Defizit-Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 14.7.2 Autistische Störung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588
14.8 Das Stigma der psychischen Erkrankung
Kapitel 15 Psychotherapie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 595
15.1 Der therapeutische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 15.1.1 Ziele der Therapie und die wichtigsten Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 15.1.2 Therapeuten und Rahmenbedingungen der Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 15.1.3 Geschichtlicher und kultureller Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
15.2 Psychodynamische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 15.2.1 Freud’sche Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 15.2.2 Neo-freudianische Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
xvi
Inhaltsverzeichnis
Psychologie im Alltag: Werden wir von verdrängten Erinnerungen verfolgt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
15.3 Verhaltenstherapien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4
Gegenkonditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontingenzmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie des sozialen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generalisierungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
605 609 610 612
15.4 Kognitive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 15.4.1 Die Änderung falscher Überzeugungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 15.4.2 Kognitive Verhaltensmodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
15.5 Humanistische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 15.5.1 Klientenzentrierte Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 15.5.2 Gestalttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
15.6 Gruppentherapien
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 15.6.1 Paar- und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 15.6.2 Selbsthilfegruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
15.7 Biomedizinische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 15.7.1 Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 15.7.2 Psychochirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 15.7.3 Elektrokrampftherapie und rTMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Kritisches Denken im Alltag: Beeinflusst eine Therapie die Gehirnaktivität?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627
15.8 Therapieevaluation und Präventionsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 15.8.1 Die Evaluation therapeutischer Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 15.8.2 Präventionsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630
Kapitel 16 Soziale Kognition und Beziehungen 16.1 Die Konstruktion der sozialen Realität 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5
..................................... Die Ursprünge der Attributionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der fundamentale Attributionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Self-serving Bias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungen und Self-fulfilling Prophecies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungsbestätigendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16.2 Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4
.................... Einstellungen und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persuasionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persuasion durch eigene Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
635 636 637 638 640 641 642 644 644 646 648 651
16.3 Vorurteile
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 16.3.1 Die Ursprünge von Vorurteilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
xvii
Inhaltsverzeichnis
Kritisches Denken im Alltag: Funktionieren eigentlich Fernsehwerbespots im Nachtprogramm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 16.3.2 Die Effekte von Stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 16.3.3 Das Auflösen von Vorurteilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
16.4 Soziale Beziehungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 16.4.1 Zuneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660 16.4.2 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
Psychologie im Alltag: Können dauerhafte Beziehungen über das Internet geschlossen werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
Kapitel 17 Soziale Prozesse, Gesellschaft und Kultur
669
17.1 Die Macht der Situation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 670 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5
Rollen und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsfindung in Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht der Situation: Enthüllungen durch Versteckte Kamera . . . . . . . . . . . . . .
670 673 674 678 678
17.2 Altruismus und prosoziales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 17.2.1 Die Wurzeln des Altruismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 680 17.2.2 Motive für prosoziales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682 17.2.3 Die Effekte der Situation auf prosoziales Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Kritisches Denken im Alltag: Wie gewinnt man Freiwillige? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686
17.3 Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
Evolutionäre Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situative Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Einschränkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
.................................. 17.4.1 Gehorsam gegenüber Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.2 Die Psychologie des Völkermords und des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.3 Friedenspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
687 688 690 693 696 696 701 705
Psychologie im Alltag: Wie könnte Versöhnung möglich werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
Eine persönliche Schlussbemerkung
Anhang
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 713
Antworten auf Zwischenbilanz-Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 715 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829
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Vorwort zur amerikanischen Ausgabe Für einen akademischen Psychologen ist ein Einführungskurs in Psychologie eine der größten Herausforderungen. Aufgrund der enormen Breite unseres Themengebietes zählt es vielleicht zu den schwierigsten Aufgaben der gesamten Lehre, diesen Kurs effektiv zu gestalten. Wir müssen sowohl die Analysen von Prozessen auf der Mikroebene der Nervenzellen als auch die Analysen auf der Makroebene kultureller Systeme berücksichtigen, sowohl die Lebendigkeit der Gesundheitspsychologie als auch die Tragödie von Leben, die durch psychische Erkrankungen getrübt werden. Wir standen beim Schreiben dieses Buches der Herausforderung gegenüber, all diesen Informationen Form und Substanz zu verleihen: sie für unsere Studierenden zum Leben zu erwecken. Studierende kommen in unsere Kurse mit einem überwiegend falschen Verständnis von Psychologie, das sie der Populärpsychologie in unserer Gesellschaft entnommen haben. Sie bringen auch hohe Erwartungen an das mit, was sie aus einem Kurs über Psychologie mitnehmen wollen – sie wollen viel lernen, das für sie persönlich wertvoll sein wird, das ihnen helfen wird, ihr Alltagsleben zu verbessern. Dies sind in der Tat hohe Ansprüche an einen Dozenten, aber wir glauben, dass dieses Buch Ihnen helfen kann, diese Erwartungen zu erfüllen. Wir wollten einen Text entwerfen, den Studierende gerne lesen, während sie lernen, was so aufregend und besonders an den vielen Gebieten der Psychologie ist. Wir haben versucht, in jedem Kapitel und jedem Satz dafür zu sorgen, dass die Studierenden weiterlesen wollen. Gleichzeitig haben wir uns darauf konzentriert, wie unser Text innerhalb der Unterrichtsprogramme von Dozenten funktionieren wird, die Wert auf eine forschungsbasierte und anwendungsbezogene Herangehensweise an die Psychologie legen. Die 18. Auflage von „Psychologie“ ist die fünfte Zusammenarbeit von Philip Zimbardo und Richard Gerrig. Unsere Partnerschaft wurde geschmiedet, weil wir eine Verpflichtung teilten, Psychologie als eine Wissenschaft zu lehren, die für das Wohlergehen der Menschen relevant ist. Wir konnten beide unsere Lehrerfahrung in einen Text einbringen, der wissenschaftliche Strenge mit der Relevanz der Psychologie für aktuelle Lebensbelange in Einklang bringt. Darüber hinaus ist Gerrigs Expertise in kognitiver Psychologie eine wichtige Ergänzung zu Zimbardos Expertise in Sozialpsychologie. Mit Gerrig als Erstautor kann dieses Buch mit raschen Veränderungen in der Psychologie Schritt halten,
vor allem in Bereichen wie den kognitiven Neurowissenschaften. Dieses Buch ist das Produkt einer Zusammenarbeit verwandter Geister: Zusammen feiern wir sowohl eine fortbestehende Tradition als auch eine Weiterführung der Vision, die wichtigsten Erkenntnisse der Psychologie für das Leben der Studierenden anwendbar zu machen. Die 18. Auflage ist ein Produkt dieser ausgezeichneten Zusammenarbeit.
Thema dieses Buches: Die Wissenschaft der Psychologie Das Ziel dieses Buches ist es, solide wissenschaftliche Forschung zu nutzen, um Missverständnisse über die Psychologie auszuräumen. Unserer Erfahrung als Dozenten zufolge tritt mit großer Zuverlässigkeit am ersten Unterrichtstag des Einführungskurses folgendes ein: Eine Traube von Studierenden drängt am Ende der Veranstaltung nach vorne, um im Wesentlichen zu fragen: „Werde ich in diesem Kurs lernen, was ich wissen will?“: Meine Mutter nimmt Fluctin: Werden wir lernen, welche Wirkung es hat? Werden Sie uns lehren, wie wir besser lernen? Ich muss meinen Sohn in eine Kinderkrippe geben, um die Universität besuchen zu können. Das wird ihm doch nicht schaden, oder? Was sollte ich tun, wenn einer meiner Freunde von Selbstmord spricht? Wir sind beruhigt, dass jede dieser Fragen durch strenge empirische Forschung angegangen wurde. Dieses Buch widmet sich der Aufgabe, Studierenden wissenschaftliche Analysen der für sie dringendsten Belange zu liefern. Infolgedessen unterstützen die Merkmale dieses Buches ein zentrales Thema: Psychologie als Wissenschaft und die Anwendung dieser Wissenschaft auf das Leben der Studierenden.
Kritisches Denken im Alltag Ein wichtiges Ziel dieses Buches besteht in der Vermittlung der wissenschaftlichen Basis psychologischen Schlussfolgerns. Wenn unsere Studierenden uns Fragen stellen – uns sagen, was sie wissen wollen –, haben
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sie oft schon Teilantworten, die auf Informationen aus den Massenmedien beruhen. Ein Teil dieser Informationen ist korrekt, aber die Studierenden wissen oft nicht, wie sie sie beurteilen sollen. Wie lernen sie zu interpretieren und zu bewerten, was sie in den Medien hören? Wie können sie zu mündigeren Rezipienten der Überfülle von Forschungsarbeiten und Befragungen werden, die dort angeführt sind? Wie können sie die Glaubwürdigkeit dieser Quellen beurteilen? Um diesem Einfluss der so genannten zuverlässigen Forschung zu begegnen, stellen wir Studierenden die wissenschaftlichen Werkzeuge zur Verfügung, mit welchen sie die einströmenden Informationen effektiv prüfen und Verallgemeinerungen treffen können, die den Zielen und Methoden der Forschung angemessen sind.
Was bedeutet „Es liegt in den Genen“? (Kapitel 3) Kann Technologie die Sehfähigkeit wiederherstellen? (Kapitel 4) Ist Ecstasy schädlich für das Gehirn? (Kapitel 5) Ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet? (Kapitel 6) Wie kann Ihnen die Gedächtnisforschung bei der Prüfungsvorbereitung helfen? (Kapitel 7) Können Politikexperten die Zukunft vorhersagen? (Kapitel 8) Diagnostik im World Wide Web? (Kapitel 9) Wie wirken sich Tagesstätten auf die Entwicklung von Kindern aus? (Kapitel 10)
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Warum enden Freundschaften?
Ein wichtiges Anliegen von Psychologie ist es, Ihre Fähigkeit zu verbessern, sich kritisch mit der Umwelt auseinanderzusetzen: Wir möchten Ihnen helfen, „begründete Entscheidungen darüber zu treffen, was Sie glauben und wie Sie handeln sollten“ (Appleby, D.C., 2006, S. 61). Betrachten wir, was dies im Fall eines Problems bedeutet, das den Studierenden in unseren Seminaren offensichtlich oft zu schaffen macht: Warum enden Freundschaften? Erinnern Sie sich an die Umstände, unter welchen eine Ihnen wichtige Freundschaft endete. Konnten Sie damals verstehen, was schief gelaufen war? Die Psychologie kann theoretische Analysen liefern, die Ihnen verstehen helfen, was in Ihrem Leben vorgeht. So sind etwa gerade die Kategorien von Ereignissen, die Freundschaften beenden, Forschungsgegenstand gewesen (Sheets & Lugar 2005). Die Befragten berichten von Vorgängen wie Konkurrenz in Liebesbeziehungen („sie hat mit meinem Freund geschlafen“), respektlosem Benehmen („er hat zugelassen, dass seine Freunde mein Wohnheimzimmer verwüsten“) und Vertrauensbruch („er hat alle meine Geheimnisse verraten“). Wenn Sie diese verschiedenen Kategorien betrachten, gewinnen Sie einen Bezugsrahmen, um Spannungen in Ihren eigenen Freundschaften einzuordnen. Die Studie ergab sogar noch präzisere Schlussfolgerungen: Bei ungefähr 400 Studenten aus dem Mittleren Westen der USA waren die häufigsten Konfliktgründe – die Ursachen von Streitigkeiten, an denen Freundschaften zerbrachen – Konkurrenz in Liebesbeziehungen und respektloses Benehmen. Können Sie diese Information benutzen, um den Zustand Ihrer eigenen Freundschaften besser einzuschätzen? Dieses Beispiel zeigt, wie die Psychologie Ihnen helfen kann, angemessene Kategorien für Lebenserfahrungen aufzustellen und anzuwenden. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt kritischen Denkens, den Sie hier anwenden können: Fragen Sie sich, wie weit Sie das Gelernte verallgemeinern können. Im obigen Beispiel kamen die Ergebnisse über das Ende von Freundschaften von amerikanischen Studenten aus dem Mittelwesten. Wir haben in diesem Kapitel bereits die kulturvergleichende Perspektive beschrieben, die heutigen Forschern nahelegt,
sich stets der kulturellen Einflüsse auf Forschungsergebnisse bewusst zu sein. Um die interkulturelle Anwendbarkeit Ihrer Resultate zu bewerten, erhoben die Forscher daher Vergleichsdaten von einer Gruppe russischer Studierender. Diese Studierenden gaben allesamt an, dass ihre häufigste Konfliktursache in Freundschaften der Vertrauensbruch war. Worauf könnte das zurückgehen? Die Wissenschaftler spekulierten, dass Russen möglicherweise auf solches Verhalten wegen „Russlands totalitärer Vergangenheit, in welcher der Verrat eines Freundes lebensbedrohlich sein konnte“ (Sheets & Lugar, 2005, S. 391) empfindlicher reagieren. Dieser kulturelle Unterschied zwischen US-amerikanischen und russischen Studierenden hat einige bemerkenswerte Implikationen. Erstens erinnert Sie das Ergebnis daran, dass ein wichtiger Bestandteil kritischen Denkens die Prüfung jeder Schlussfolgerung auf Stichhaltigkeit und allgemeine Anwendbarkeit ist. In Kapitel 2 werden wir uns der wissenschaftlichen Methodik widmen. Anhand dieser Darstellung werden Sie sehen, welchen Standards Forschung genügen muss, bevor wir Sie in Psychologie übernehmen. Außerdem werden wir im gesamten Buch zu bedenken geben, auf welche Arten ein kultureller Hintergrund die Grundlagen der menschlichen Existenz beeinflussen kann. Die zweite Implikation dieses Unterschieds zwischen amerikanischen und russischen Studierenden betrifft Ihr Verhalten gegenüber den Menschen Ihrer Umgebung, denn die meisten Menschen leben und arbeiten inzwischen in einer multikulturellen Umwelt. Lassen Sie sich von Ihrer psychologischen Ausbildung dafür sensibilisieren, in welchen Bereichen der kulturelle Hintergrund wichtig und in welcher weniger wichtig ist. Denken Sie daran: Das Ziel ist, sich von Ihrem Wissen in Psychologie zu besseren Entscheidungen im Alltagsleben anleiten zu lassen. Kann es im Rahmen der erwähnten Studie von Bedeutung sein, dass die amerikanischen Daten alle aus dem Mittelwesten kamen? Welche Eigenheiten der US-amerikanischen Geschichte könnten für die Psychologie von US-Bürgern bedeutsam sein?
Mit den Kästen „Kritisches Denken im Alltag“ wollen wir den Studierenden unmittelbar die experimentelle Grundlage entscheidender Schlussfolgerungen vorstellen. Wir behaupten dabei nicht, dass jeder dieser Kästen eine endgültige Antwort auf die jeweilige Frage gibt; vielmehr wollen wir mit diesen Kästen zum kritischen Nachdenken einladen und weiterführende Fragen eröffnen. Die Themen von „Kritisches Denken im Alltag“, nach Kapiteln geordnet, sind: Warum enden Freundschaften? (Kapitel 1) Wie können Sie psychologische Informationen im Internet bewerten? (Kapitel 2)
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Wie beeinflusst Motivation den akademischen Erfolg? (Kapitel 11) Kann die Gesundheitspsychologie Ihnen helfen, bis 2010 ein gesunder Mensch zu werden? (Kapitel 12) Das Selbst im Internet? (Kapitel 13) Ist der Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit wirklich eine gute Verteidigungsstrategie? (Kapitel 14) Beeinflusst eine Therapie die Gehirnaktivität? (Kapitel 15) Funktionieren eigentlich Fernsehwerbespots im Nachtprogramm? (Kapitel 16) Wie gewinnt man Freiwillige? (Kapitel 17)
Psychologie im Alltag Die auf der vorangehenden Seite angeführten Fragen sind echte Fragen von echten Studierenden und sie werden die Antworten darauf im Buch finden. Diese Fragen von Studierenden wurden über Jahre hinweg gesammelt. Wir fragten sie: „Sagen Sie uns, was Sie über Psychologie wissen wollen“, und wir haben diese Fragen – die Fragen unserer Studierenden – direkt in den Text als Kästen „Psychologie im Alltag“ aufgenommen. Wir hoffen, dass Sie in jedem Beispiel genau erkennen können, warum psychologisches Wissen für die Entscheidungen im Alltag unmittelbar relevant ist. Die Themen von „Psychologie im Alltag“, nach Kapiteln geordnet, sind:
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe
Können dauerhafte Beziehungen über das Internet geschlossen werden? (Kapitel 16)
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Kann die Psychologie mir bei der Berufswahl helfen?
Wenn Sie jemals einen ungeliebten Job hatten, wissen Sie wahrscheinlich, was es bedeutet, wenn man nicht genügend motiviert ist: Man mag gar nicht daran denken, dass man wieder zur Arbeit gehen muss; jede Minute erscheint wie eine Stunde. Wichtig für eine gute Berufswahl ist, ein Arbeitsumfeld zu finden, dessen Anforderungen und Belohnungen Ihren Motivationsbedürfnissen entsprechen. Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, dass untersucht worden ist, wie bestimmte Berufe mit den Begabungen und Persönlichkeiten, Werten und Bedürfnissen einzelner Menschen zusammenpassen. Um für eine erfolgreiche Karriere motiviert zu bleiben, sollten Sie einen Beruf ausüben, der Ihren Interessen entspricht und Zielen dient, die Sie für erstrebenswert halten. Der 1927 vom Psychologen Edward Strong entwickelte Fragebogen zu den Interessengebieten ist der Prototyp dieses Ansatzes. Strong befragte zunächst Gruppen von Männern aus verschiedenen Berufen über Tätigkeiten, die sie mochten oder nicht mochten. Danach wurden die Antworten derer, die in ihren Berufen erfolgreich waren, mit denen von Männern allgemein verglichen, um eine Vergleichsskala zu erhalten. Überarbeitete Fassungen des Tests, bis hin zu der Fassung von 2004, haben Skalen für Frauen sowie für neu aufgekommene Berufe hinzugefügt. Der Interessenfragebogen von Strong ist sehr erfolgreich, wenn es darum geht, Vorlieben und Abneigungen von Menschen zu passenden Berufen in Beziehung zu setzen (Hansen & Dik, 2005). Wenn Sie diesen Test machen, kann ein Berufsberater Ihnen anschließend sagen, welche Berufsfelder typischerweise von Menschen besetzt werden, die Ihre Interessen teilen, weil diese Tätigkeiten Ihnen wahrscheinlich liegen.
Angenommen, Sie haben sich entsprechenden Rat für Ihre Berufswahl geholt. Wie wählen Sie dann einen bestimmten Arbeitgeber aus – und wie wählt dieser Arbeitgeber Sie aus? Forscher im Bereich der Personalpsychologie haben dem Konzept der Passung von Person und Organisation viel Aufmerksamkeit geschenkt, um eine möglichst große Kompatibilität zwischen Menschen und den Firmen, für die sie arbeiten, herzustellen (Dineen et al., 2002; Van Vianen, 2000). Ein Forschungsprojekt hat sich zum Beispiel auf die Übereinstimmungen zwischen menschlichen Persönlichkeiten und der „Unternehmenskultur“ kon zentriert. Betrachten wir den Persönlichkeitsfaktor „Nettigkeit“, der ein Kontinuum von „verständnisvoll und liebenswürdig“ bis „abweisend und streitlustig“ umfasst (siehe Kapitel 13). Beachten Sie auch ein Kontinuum von Unternehmenskulturen, das von unterstützender und teamorientierter bis zu aggressiver und ergebnisorientierter Firmenpolitik reicht. Erkennen Sie, wie diese Skalen zusammenpassen? Laut den Ergebnissen der Studie sollten sich Berufseinsteiger mit hohen „Nettigkeits“-Werten an Unternehmen mit unterstützender und teamorientierter Kultur halten (Judge & Cable, 1997). Die Forschung in diesem Bereich legt nahe, dass nicht nur Ihre Motivation für den Berufserfolg zählt, sondern dass es vielmehr auch darauf ankommt, wie weit eigene Vorlieben denjenigen des Unternehmens entsprechen. Welche Laufbahn wird also Ihre Motivation aufrecht erhalten? Wie bei vielen anderen schwierigen Fragen im Leben sind auch hier von Psychologen Untersuchungen angestellt worden, die Ihnen helfen können, diese wichtige Entscheidung zu treffen.
Kann die Psychologie mir bei der Berufswahl helfen? (Kapitel 1) Kann eine Meinungsumfrage Ihre Einstellungen beeinflussen? (Kapitel 2) Warum beeinflusst Musik, wie man sich fühlt? (Kapitel 3) Warum können sehr scharfe Speisen wehtun? (Kapitel 4) Bekommen Sie ausreichend Schlaf ? (Kapitel 5) Wie beeinflusst klassische Konditionierung die Krebstherapie? (Kapitel 6) Warum greift die Alzheimer’sche Krankheit das Gedächtnis an? (Kapitel 7) Wie und warum lügen Menschen? (Kapitel 8) Sind Intelligenztheorien wichtig? (Kapitel 9) Funktioniert unser Gehirn mit zunehmendem Alter anders? (Kapitel 10) Gene und Übergewicht? (Kapitel 11) Warum sind manche Menschen glücklicher als andere? (Kapitel 12) Warum sind manche Menschen schüchtern? (Kapitel 13)
Wie könnte Versöhnung möglich werden? (Kapitel 17)
Aus der Forschung Die in violetten Kästen platzierten Textabschnitte geben Ergebnisse „Aus der Forschung“ wieder und zeigen das Wie und Warum hinter Schlüsselprojekten der Psychologie. Die Kästen stehen in engem Zusammenhang mit dem Haupttext, so dass die Studierenden ihre volle Bedeutung integrativ erfassen können. Zu den dargestellten Experimenten gehört beispielsweise Plastizität im Gehirn der adulten Ratte; der Effekt von Meditation auf die Hirnstruktur; der kulturelle Einfluss auf Beurteilungen über die Typikalität von Angehörigen einer Kategorie; der Effekt von Emotionen auf die Erinnerung an visuelle Details; individuelle Unterschiede im Intimitätsverständnis; Familientherapien für Angststörungen im Kindesalter; interkulturelle Unterschiede der kognitiven Dissonanz sowie genetische Einflüsse auf physische und soziale Aggression. Viele der fast 200 so markierten Forschungsstudien im Text sind neu oder für diese Ausgabe überarbeitet worden. AUS DER FORSCHUNG Welche Umweltfaktoren erklären, warum manche Jungen bereits im Alter von fünf Jahren Verhaltensauffälligkeiten zeigen und andere nicht? Eine Forschergruppe versuchte nachzuweisen, dass der Unterschied zwischen den Jungen teilweise auf das unterschiedliche Ausmaß destruktiver Geschwisterkonflikte mit ihren Brüdern und Schwestern zurückzuführen ist (Garcia et al., 2000). Die Forscher argumentierten, dass ein hohes Maß an Geschwisterkonflikt die Bereitschaft der Jungen zu aggressiven oder unangemessenen Reaktionen in verschiedenen Situationen verstärken könnte. Um destruktive Geschwisterkonflikte messen zu können, zeichneten die Forscher einstündige Videos auf, auf denen jeweils einer von 180 Jungen zusammen mit seinem Geschwister mit verschiedenen Spielzeugen spielte. Diese auf Video aufgezeichneten Spielsituationen wurden unter Berücksichtigung verschiedener Dimensionen ausgewertet, wie beispielsweise der Anzahl von Konflikten und der Intensität dieser Konflikte. Korrelationsanalysen unterstützten die Vorhersage, dass Jungen, die ein hohes Maß an Geschwisterkonflikten erlebten, auch am wahrscheinlichsten aggressives und auffälliges Verhalten zeigten.
Wie können wir das Wechselspiel von Anlage und Umwelt erkennen? (Kapitel 14) Werden wir von verdrängten Erinnerungen verfolgt? (Kapitel 15)
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Weitere didaktische Merkmale Das Buch „Psychologie“ genießt einen sehr guten Ruf für die anspruchsvolle und dennoch für einen weiten Kreis Studierender verständliche Darstellung der Psychologie als Wissenschaft und die 18. Auflage bildet hier keine Ausnahme. Um die Erfahrung der Studierenden mit diesem Buch anzureichern, haben wir verschiedene didaktische Merkmale aufgenommen: Zwischenbilanzen. Diese Rubrik erscheint am Ende jedes größeren Abschnittes und stellt Fragen, die das Nachdenken über den Stoff fördern, so dass die Studierenden vor dem Weiterlesen überprüfen können, wie weit sie ihn beherrschen. Die Antworten zu den Fragen finden Sie im Anhang. ZWISCHENBILANZ 1 Was ist das Entwicklungsalter? 2 Warum werden oft Längsschnittpläne benutzt, um in-
dividuelle Unterschiede zu studieren? 3 Welche Relevanz haben Geburtskohorten für Quer-
schnittpläne?
Zusammenfassungen. Jedes Kapitel schließt mit einer Kapitelzusammenfassung, deren Aufbau sich an den großen Abschnittsüberschriften orientiert. Schlüsselbegriffe. Die Schlüsselbegriffe sind im Text hervorgehoben und werden mit Seitenzahlverweisen am Ende jedes Kapitels zur schnellen Übersicht aufgelistet. Glossar. Zusätzlich zum Literaturverzeichnis und dem Index findet sich im Anhang des Buches ein ausführliches Glossar. Es dient als kleines Wörterbuch der Psychologie, um für die Studierenden einen verständlichen Fundus der Begriffe bereitzustellen, die sie hier und in anderen Kursen verwenden können. Literaturverzeichnis. Es befindet sich ebenfalls am Ende des Buches und enthält bibliografische Informationen über jedes Buch, jeden Artikel und jede Medienquelle, die im Text zitiert wird. Es ist eine wertvolle Ressource für den Fall, dass Sie für eine Seminararbeit oder aus persönlichem Interesse mehr über ein Thema herausfinden wollen. In Klammern gesetzte Namen und Daten im Text – z.B. (Piaget, 1926) – geben die Quelle und das Veröffentlichungsdatum einer Zitation an. Die vollständige Information zur
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Quelle finden Sie im Literaturverzeichnis. Zitationen von mehr als zwei Autoren geben den Erstautor an, gefolgt von et al., was „und andere“ bedeutet. Namensregister und Sachregister. Diese finden Sie ebenfalls im Anhang; sie enthalten zusammen mit Seitenangaben alphabetische Auflistungen aller wichtigen Personen, Begriffe und Themen, die im Text erwähnt werden.
Persönlicher Dank Obwohl die Beatles vielleicht „with a little help from their friends“ ausgekommen sind, haben wir die Überarbeitung und Produktion dieser Auflage nur dank der großen Hilfe vieler Kollegen und Freunde überstanden. Wir danken insbesondere Brenda Anderson, Susan Bufferd, Lisa Burckell, Turhan Canli, Eliza Congdon, Joanne Davila, Tony Freitas, Ingrid Goldstrom, Hoi-Chung Leung, Sheri Levy, Feroze Mohamed, Anne Moyer, Timothy Peterson, John Robinson, Arthur Samuel, Nancy Squires und Patricia Whitaker. Wir danken den folgenden Lehrenden sowohl dieser wie vorangegangener Auflagen, die Manuskriptentwürfe gelesen und wertvolle Rückmeldungen gegeben haben: Debra Ainbinder, Lynn University Robert M. Arkin, Ohio State University Gordon Atlas, Alfred University Lori L. Badura, State University of New York at Buffalo David Barkmeier, Northeastern University Tanner Bateman, Virginia Tech Darryl K. Beale, Cerritos College N. Jay Bean, Vassar College Susan Hart Bell, Georgetown College Michael Bloch, University of San Francisco Richard Bowen, Loyola University Mike Boyes, University of Calgary Wayne Briner, University of Nebraska at Kearney D. Cody Brooks, Denison University Brad J. Bushman, Iowa State University Jennifer L. Butler, Case Western Reserve University James Calhoun, University of Georgia Timothy Cannon, University of Scranton John Caruso, University of Massachusetts, Dartmouth Marc Carter, Hofstra University Dennis Cogan, Texas Tech University Sheree Dukes Conrad, University of Massachusetts, Boston Randolph R. Cornelius, Vassar College Leslie D. Cramblet, Northern Arizona University Catherine E. Creeley, University of Missouri Lawrence Dachowski, Tulane University
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe
Mark Dombeck, Idaho State University Dale Doty, Monroe Community College Victor Duarte, North Idaho College Tami Egglesten, McKendree College Kenneth Elliott, University of Maine at Augusta Matthew Erdelyi, Brooklyn College, CUNY Valeri Farmer-Dougan, Illinois State University Trudi Feinstein, Boston University Mark B. Fineman, Southern Connecticut State University Kathleen A. Flannery, Saint Anselm College Rita Frank, Virginia Wesleyan College Eugene H. Galluscio, Clemson University Preston E. Garraghty, Indiana University Adam Goodie, University of Georgia Peter Gram, Pensacola Junior College Jeremy Gray, Yale University W. Lawrence Gulick, University of Delaware Pryor Hale, Piedmont Virginia Community College Rebecca Hellams, Southeast Community College Dong Hodge, Dyersburg State Community College Mark Hoyert, Indiana University Northwest Richard A. Hudiburg, University of North Alabama James D. Jackson, Lehigh University Matthew Johnson, University of Vermont Seth Kalichman, Georgia State University Mark Kline, Indiana University Stephen La Berge, Stanford University Andrea L. Lassiter, Minnesota State University Mark Laumakis, San Diego State University Charles F. Levinthal, Hofstra University Suzanne B. Lovett, Bowdoin College M. Kimberley Maclin, University of Northern Iowa Gregory Manley, University of Texas at San Antonio Leonard S. Mark, Miami University Michael R. Markham, Florida International University Kathleen Martynowicz, Colorado Northwestern Community College Lori Metcalf, Gatson College Michael McCall, Ithaca College Mary McCaslin, University of Arizona David McDonald, University of Missouri Greg L. Miller, Stanford University School of Medicine Karl Minke, University of Hawaii–Honolulu Charles D. Miron, Catonsville Community College J. L. Motrin, University of Guelph Ann Moyer, Stony Brook University Eric S. Murphy, University of Alaska William Pavot, Southwest State University Amy R. Pearce, Arkansas State University Kelly Elizabeth Pelzel, University of Utah Brady J. Phelps, South Dakota State University Gregory R. Pierce, Hamilton College William J. Pizzi, Northeastern Illinois University Mark Plonsky, University of Wisconsin–Stevens Point Bret Roark, Oklahoma Baptist University Cheryl A. Rickabaugh, University of Redlands Rich Robbins, Washburn University Daniel N. Robinson, Georgetown University
Michael Root, Ohio University Bernadette Sanchez, DePaul University Mary Schild, Columbus State University Norman R. Simonsen, University of Massachusetts, Amherst Peggy Skinner, South Plains College R. H. Starr, Jr., University of Maryland–Baltimore Walter Swap, Tufts University Priscilla Stillwell, Black River Technical College Charles Strong, Northwest Mississippi Community College Jeffrey Wagman, Illinois State University Douglas Wardell, University of Alberta Linda Weldon, Essex Community College Paul Whitney, Washington State University Allen Wolach, Illinois Institute of Technology Jim Zacks, Michigan State University
Die enorme Aufgabe, ein Buch mit dieser thematischen Breite zu schreiben, war nur durch die fachkundige Mitwirkung all dieser Freunde und Kollegen sowie des Verlagsteams von Allyn and Bacon möglich. Wir bedanken uns für ihre unschätzbaren Beiträge in jeder Phase dieses Projekts zunächst pauschal und nun einzeln. Wir danken folgenden Personen von Allyn and Bacon: Stephen Frail, verantwortlicher Lektor; Erin Liedel, Manuskriptlektorin; Liz DiMenno, Zusatzmaterialien; Karen Natale, Marketing; Roberta Sherman, Herstellung; Kathy Smith, Projektmanagement; Katherine Cebik, Bildrecherche.
Wie man dieses Buch benutzt Sie sind im Begriff, sich mit uns auf eine intellektuelle Reise durch die vielen Gebiete der modernen Psychologie zu begeben. Bevor wir aufbrechen, wollen wir Ihnen einige wichtige Informationen mitgeben, die Ihnen bei Ihrer Abenteuerreise behilflich sein werden. „Die Reise“ ist eine Metapher, die sich durch dieses Buch zieht; Ihre Dozenten sind die Reiseleiter, der Text Ihr Reiseführer und wir, Ihre Autoren, sind Ihre persönlichen Reisebegleiter. Das Ziel dieser Reise ist, dass Sie entdecken, was man über das unglaublichste Phänomen im ganzen Universum weiß: das Gehirn, den menschlichen Geist und das Verhalten aller Lebewesen. Die Psychologie versucht, die scheinbar mysteriösen Prozesse zu verstehen, aus welchen Ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen entstehen. Dieser Leitfaden bietet allgemeine Strategien und spezifische Vorschläge, wie Sie dieses Buch nutzen können, um die gute Note zu bekommen, die Ihnen für Ihre Leistung zusteht, und wie Sie das meiste aus Ihrer Einführung in die Psychologie herausholen.
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Lernstrategien 1 Nehmen Sie sich genügend Zeit, den Text zu le-
sen, den Sie lesen sollen, und Ihre Mitschriften durchzuarbeiten. Dieser Text enthält viele neue technische Informationen, viele Prinzipien, die zu lernen sind und ein neues Glossar von Fachbegriffen, die man parat haben muss. Um das Material zu beherrschen, werden Sie mindestens drei Stunden Lesezeit pro Kapitel brauchen. 2 Erfassen Sie Ihre Lernzeit für diesen Kurs. Tra-
gen Sie die Anzahl der Stunden (in Halbstunden-Intervallen), die Sie pro Lernphase lesen, in ein Diagramm ein. Verfolgen Sie die insgesamt aufgewendete Zeit mit einem kumulativen Diagramm. Fügen Sie jede neue Lernzeit zur bisherigen Summe hinzu und tragen Sie das Ergebnis auf der vertikalen Achse des Diagramms auf. Tragen Sie jede neue Lernphase auf der horizontalen Achse auf. Dieses Diagramm wird Ihnen eine nützliche visuelle Rückmeldung über Ihre Fortschritte geben und Ihnen zeigen, wann Sie sich nicht so intensiv über Ihre Bücher gesetzt haben, wie Sie es sollten. 3 Seien Sie ein aktiver Teilnehmer. Optimales
Lernen tritt dann ein, wenn Sie aktiv mit dem Lernmaterial beschäftigt sind. Das bedeutet aufmerksames Lesen, aufmerksames Zuhören in Veranstaltungen, das Gehörte oder Gelesene in eigenen Worten zu paraphrasieren und sich gute Notizen zu machen. Unterstreichen Sie entscheidende Stellen im Text, schreiben Sie sich Notizen an den Rand und fassen Sie Punkte zusammen, die Ihrer Meinung nach prüfungsrelevant sind. 4 Verteilen Sie Ihre Lernaktivität. Die psycholo-
gische Forschung sagt, dass es effektiver ist, regelmäßig zu lernen, als unmittelbar vor den Prüfungen zu büffeln. Wenn Sie zulassen, dass Sie ins Hintertreffen geraten, dann wird es schwierig, in der Panik fünf vor zwölf all die Informationen nachzuarbeiten, die in einem Einführungskurs enthalten sind.
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5 Machen Sie Lernen zentral. Suchen Sie sich zum
Lernen einen Platz, an dem Sie minimal gestört werden. Reservieren Sie diesen Platz für Lernen, Lesen und das Schreiben von Arbeiten – und tun Sie sonst nichts an diesem Platz. Der Platz wird mit Lernaktivitäten assoziiert werden und es wird Ihnen leichter fallen zu arbeiten, wenn Sie in Ihrem Lern-Zentrum sitzen. 6 Enkodieren Sie das Gelesene für zukünftige Prü-
fungen. Im Gegensatz zum Lesen von Magazinen und dem Fernsehen (was Sie üblicherweise wegen der unmittelbaren Wirkung tun) erfordert das Lesen von Lehrbüchern, dass Sie das Material auf spezielle Weise verarbeiten. Sie müssen die Information ständig in eine geeignete Form bringen (sie enkodieren), die es Ihnen ermöglicht, die Information später in einer Prüfung abzurufen. Enkodierung bedeutet, dass Sie wichtige Punkte zusammenfassen, Abschnitte erneut lesen (manchmal laut lesen) und sich Fragen stellen, die Sie bezüglich der Inhalte eines Abschnitts oder eines Kapitels beantworten können wollen. Sie sollten auch versuchen, die Perspektive des Dozenten einzunehmen, die Art von Fragen zu antizipieren, die er oder sie wahrscheinlich stellen wird, und sicherstellen, dass Sie diese Fragen beantworten können. Finden Sie heraus, welche Art von Prüfung Sie in diesem Kurs erwartet – Aufsatz, Lückentext, MultipleChoice-Aufgaben oder Bewertung von Aussagen als richtig oder falsch. Diese Form wird sich auf das Ausmaß auswirken, in dem Sie sich auf die große Linie und/oder die Details konzentrieren sollten. Aufsätze und Lückentexte erfordern die Wiedergabe von Gedächtnisinhalten, wohingegen Multiple-Choice-Aufgaben und Bewertung von Aussagen das Wiedererkennen von Gedächtnisinhalten erfordern. (Bitten Sie den Dozenten um einen Probetest, um einen besseren Eindruck von der Art der Fragen zu bekommen, auf die Sie sich vorbereiten müssen.)
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe
Lesetaktiken 1 Lesen Sie die das jedem Kapitel vorangestellte
Inhaltsverzeichnis. Es weist Sie auf die Hauptthemen hin, die abgedeckt werden, ihre Reihenfolge und ihre Beziehung zueinander und gibt Ihnen einen Überblick über das Kommende. 2 Springen Sie ans Ende des Kapitels, um den Ab-
schnitt „Zusammenfassung“ zu lesen. Dort werden Sie eine Zusammenfassung der Hauptideen des Kapitels finden, organisiert nach Überschriften der ersten Ebene. Diese Zusammenfassung wird Ihnen einen klaren Eindruck davon geben, was in dem Kapitel steht.
So, das wäre es also – einige hilfreiche Hinweise, um Ihre Freude an diesem Buch zu erhöhen und Ihnen zu helfen, das Maximum aus der Lektüre mitzunehmen. Unser Text wird konzentrierte Aufmerksamkeit erfordern, wenn Sie ihn lesen, um seinen Informationsreichtum aufzunehmen. Andere Texte erscheinen vielleicht einfacher als dieses Buch, weil sie Ihnen nicht dieselbe Tiefe vermitteln. Andererseits kommt mehr heraus, wenn mehr hineingeht. Nun wollen wir mit dem Anfang beginnen, den ersten Schritten der Reise. Und wir können es kaum erwarten, mit Ihnen auf unsere Reise zu gehen. Richard J. Gerrig Philip G. Zimbardo
3 Überfliegen Sie das Kapitel, um das Wesentliche
des Inhalts zu erfassen. Machen Sie keine Pause, machen Sie sich keine Notizen und lesen Sie so schnell Sie können (maximal eine Stunde). 4 Arbeiten Sie sich schließlich tief in das Kapitel
ein und beherrschen Sie das Material, indem Sie aktiv lesen, unterstreichen, Notizen machen, Fragen stellen, wiederholen und paraphrasieren, während Sie lesen (im Minimum sind zwei Stunden Zeitaufwand zu erwarten). Achten Sie besonders auf die Absätze „Zwischenbilanz“, die am Ende jedes Abschnitts stehen. Die Fragen dort dienen zur Rekapitulation des gesamten Kapitels. Die Antworten können Sie im Anhang des Buches nachlesen.
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Vo rwo rt
Über die Autoren Richard J. Gerrig ist Professor für Psychologie an der State University of New York, Stony Brook. Bevor er dort aufgenommen wurde, lehrte er in Yale, wo er den Lex-Hixon-Preis für herausragende Lehre in den Sozialwissenschaften erhielt. Gerrigs Forschungen zu den kognitionspsychologischen Aspekten der Sprachverwendung wurden vielfach veröffentlicht. Ein Arbeitsbereich untersucht die mentalen Prozesse, die der effizienten Kommunikation zugrunde liegen. Ein zweites Forschungsprogramm untersucht die kognitiven und emotionalen Veränderungen, die Leser erleben, wenn sie in das Reich der Geschichten eintauchen. Sein Buch Experiencing Narrative Worlds wurde von der Yale University Press veröffentlicht. Gerrig ist Mitglied der Abteilung für experimentelle Psychologie der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie. Er ist außerdem Mitherausgeber des Psychonomic Bulletin & Review. Gerrig ist stolzer Vater von Alexandra, die schon im Alter von sechzehn Jahren substanzielle und wertvolle Ratschläge zu vielen Aspekten der Psychologie im 21. Jahrhundert gab. Das Leben auf Long Island wird durch die Ratschläge und die Unterstützung von Timothy Peterson bedeutend verbessert.
Philip G. Zimbardo ist Professor für Psychologie an der Stanford University, wo er seit 1968 lehrt. Davor las er an den Universitäten Yale, New York und Columbia. Darüber hinaus unterrichtet er weiter an der Naval Post Graduate School in Monterey. Zimbardo ist international als „Gesicht und Stimme der modernen Psychologie“ bekannt, und zwar durch seine erfolg-
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reiche Fernsehserie Discovering Psychology, seine Auftritte in den Medien, seine populären Bücher über Schüchternheit und sein klassisches Stanford-Gefängnisexperiment. Sein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt liegt in der experimentellen Sozialpsychologie; er beschäftigt sich jedoch mit allem, was interessant erscheint, von Schüchternheit über Zeitempfinden, Überzeugung, Sekten, Wahnsinn, Gewalt, Vandalismus und politischer Psychologie bis zu Terrorismus. Zimbardo ist ein produktiver, innovativer Forscher in einer Reihe von Gebieten der Sozialpsychologie und hat über 300 Artikel und 50 Bücher veröffentlicht. Um die Spanne seiner Forschungserfolge zu würdigen, hat die Amerikanische Gesellschaft für Psychologie Zimbardo den Hilgard-Preis für sein Lebenswerk in der allgemeinen Psychologie verliehen. Er hat außerdem den Vaclav Havel Foundation Award für sein Forschungswerk über die menschliche Befindlichkeit erhalten. Zimbardo war zwei Mal Präsident der Western Psychological Association, Vorsitzender der American Psychological Association, Vorsitzender des Council of Scientific Society Presidents (CSSP) und inzwischen Vorsitzender der Western Psychological Foundation und Direktor des Center for Interdisciplinary Policy, Education, and Research on Terrorism. 2007 ist sein neuestes populärwissenschaftliches Buch erschienen, an dem er in den letzten Jahren intensiv gearbeitet hat. Es geht darin um die Psychologie des Bösen; der provokative Titel lautet: The Lucifer Effect: Understanding How Good People Turn Evil. (deutsch: Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen; erscheint Juli 2008).
Vorwort zur deutschen Ausgabe Der amerikanische Lehrbuchklassiker „Psychology and Life“ ist den meisten deutschsprachigen Psychologiestudierenden und an der Psychologie Interessierten erfahrungsgemäß weniger unter seinem deutschen Titel „Psychologie“ bekannt. Vielmehr wird dieses Buch häufig informell als „der Zimbardo“ bezeichnet. Der Grund hierfür mag in den schon früh angelegten Qualitäten des Buches liegen, das sich in der Lehre und als Einstieg für Haupt- und Nebenfachstudierende der Psychologie seit so vielen Jahren bestens bewährt hat. Inhaltlich hat sich gegenüber früheren Ausgaben einiges geändert: Aktuelle Perspektiven der kognitiven Psychologie und der kognitiven Neurowissenschaften werden noch stärker einbezogen, einem allgemeinen Trend der letzten Jahre in der Psychologie folgend. Als der experimentellen Psychologie nahestehend empfinde ich es auch als große Bereicherung, dass nunmehr verstärkt auf empirische Forschungsergebnisse Bezug genommen wird, die in zahlreichen neuen Kästen „Aus der Forschung“ Niederschlag gefunden haben. Angesichts der Qualität und der Aktualität dieses Lehrbuchklassikers bin ich gerne dem Vorschlag des Verlags Pearson Studium gefolgt, diese neue Ausgabe mitzuübersetzen und zu bearbeiten. Der erfolgreiche Entwicklungsprozess und die Realisation der deutschsprachigen Ausgabe wurden von vielen Menschen sehr hilfreich und mit persönlichem Engagement unterstützt und begleitet. Mein besonderer Dank gilt hierbei Arthur Jacobs und seitens des Verlags Stephan Dietrich sowie Dagmar Mallett, die die neuen Textteile übersetzt hat. Dieses Buch verfügt über eine Companion Website mit zusätzlichen Materialien in elektronischer Form. Unter http://www.pearson-studium.de finden Dozenten alle Abbildungen aus dem Buch elektronisch zum Download. Studierenden werden hier das Glossar, Lösungen zu den Übungsaufgaben, weitere Aufgaben und Links angeboten.
Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser ebenso viel Freude an der Lektüre dieses Buches haben wie wir bei der Übersetzung und Bearbeitung. Wenn das vorhandene Interesse an Psychologie und psychologischen Forschungsergebnissen durch dieses Buch aufgegriffen und gewinnbringend weitergeführt wird, so wäre unser Ziel erreicht. Eichstätt
Ralf Graf
Über den Bearbeiter der deutschen Ausgabe Ralf Graf studierte Psychologie in Mannheim und entwickelte bereits früh ein besonderes Interesse für experimentelle Psychologie mit dem Schwerpunkt Kognition und Sprache. 1994 folgte die Promotion in Psychologie und Linguistik an der Universität Mannheim sowie Forschungsaufenthalte u. a. an der Russischen Akademie der Wissenschaften (Moskau) sowie an der Harvard University (Cambridge, Massachusetts). Umfangreiche Forschungs- und Lehrerfahrung sammelte Ralf Graf an den Universitäten Mannheim, Marburg und Eichstätt, wo er derzeit als Akademischer Rat im Bereich Allgemeine Psychologie, Methodenlehre und Psychoakustik tätig ist. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur Psycholinguistik ist Ralf Graf Herausgeber und Übersetzer diverser Standardlehrbücher zur kognitiven und allgemeinen Psychologie.
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Psychologie als Wissenschaft ........................ 1.1.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Ziele der Psychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Kann die Psychologie mir bei der Berufswahl helfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Historische Grundlagen der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Aktuelle Perspektiven der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Perspektivenvergleich: Thema Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Warum enden Freundschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.3 Was machen Psychologen eigentlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
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Schlüsselbegriffe
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ÜÜ BB EE RR BB LL II CC KK
1.1 Was macht Psychologie einzigartig?
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Psycho l o g i e al s Wi ssen sc h aft
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arum sollten Sie eigentlich Psychologie studieren? Unsere Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Wir glauben, dass die psychologische Forschung unmittelbare und entscheidende Auswirkungen auf wichtige Aspekte des Alltags hat: auf Ihre körperliche und geistige Gesundheit, auf Ihre Fähigkeit, persönliche Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten, und auf Ihre Fähigkeit, Neues zu lernen und sich persönlich weiter zu entwickeln. Eines der wichtigsten Ziele dieses Buches ist es, die individuelle Relevanz und soziale Bedeutung psychologischer Expertise herauszustellen. Zu Beginn jedes Semesters stehen wir Studierenden gegenüber, die mit sehr spezifischen Fragestellungen in die Einführungsseminare kommen. Manchmal entstammen diese Fragen eigener Erfahrung („Was soll ich tun, wenn ich den Verdacht habe, meine Mutter sei psychisch erkrankt?“, „Kann ich in diesem Seminar lernen, meine Noten zu verbessern?“). In anderen Fällen werden die Fragen von psychologischen Kenntnissen ausgelöst, die in populären Zeitschriften verbreitet werden („Stimmt es, dass erstgeborene Kinder die konservativsten sind?“, „Sind Frauen wirklich immer bessere Eltern als Männer?“). Die Herausforderung an uns Lehrende besteht nun darin, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung auf Fragen anzuwenden, die unseren Studierenden wichtig sind. Die psychologische Forschung liefert uns ständig neue Informationen über die grundlegenden Mechanismen, die geistige und Verhaltensprozesse bestimmen. Während neue Ideen die alten ersetzen oder modifizieren, sind wir ständig neugierig und von den vielen faszinierenden Puzzleteilen der menschlichen Natur herausgefordert. Wir hoffen, dass Sie am Ende dieser Reise Ihren Vorrat an psychologischen Kenntnissen ebenfalls zu schätzen wissen. Auf unserem Reiseplan ganz oben steht die wissenschaftliche Suche nach Verständnis. Wir werden das Wie, Was, Wann und Warum menschlichen Verhaltens untersuchen und die Gründe und Konsequenzen von Verhalten erforschen, das Sie bei sich selbst, bei anderen Menschen und bei Tieren beobachten. Wir werden erklären, warum Sie gerade so und nicht anders denken, fühlen und sich verhalten. Was macht Sie einzigartig gegenüber anderen Menschen? Warum verhalten Sie sich dennoch häufig so wie andere Menschen auch? Sind Sie durch Vererbung oder stärker durch persönliche Erfahrungen geprägt? Wie können Aggression und Hilfeleistungsverhalten (Altruismus), Liebe und Hass, Wahnsinn und Kreativität Seite an Seite in dem komplexen Geschöpf Mensch existieren? In diesem Eröffnungskapitel wer-
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den wir betrachten, wie und warum all diese Arten von Fragen für die Psychologie als Disziplin relevant wurden.
Was macht Psychologie einzigartig?
1.1
Um die Einzigartigkeit und Einheitlichkeit der Psychologie wertzuschätzen, muss man die Art und Weise betrachten, in der Psychologinnen und Psychologen ihr Forschungsfeld definieren und welche Ziele sie sich für ihre Forschung und Anwendungen stecken. Am Ende des Buches werden wir Sie dazu ermutigen, wie eine Psychologin oder ein Psychologe zu denken. In diesem ersten Abschnitt wollen wir Ihnen eine klare Vorstellung davon vermitteln, was wir damit meinen.
1.1.1 Definitionen Viele Psychologen suchen Antworten auf die grundlegende Frage: Was ist das Wesen des Menschen? Die Psychologie beantwortet diese Frage, indem sie sowohl die Prozesse innerhalb eines Individuums als auch die Kräfte in seiner physischen und sozialen Umwelt betrachtet. So gesehen definieren wir Psychologie formal als die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen. Lassen Sie uns die entscheidenden Begriffe dieser Definition genauer untersuchen: wissenschaftlich, Verhalten, Individuum und mental. Um Psychologie wissenschaftlich zu betreiben, müssen die psychologischen Schlussfolgerungen auf Belege gründen, die entsprechend den Prinzipien der wissenschaftlichen Methode gesammelt wurden. Die wissenschaftliche Methode besteht aus einer Menge geordneter Schritte zur Analyse und Lösung von Problemen. Diese Methode benutzt objektiv erhobene Informationen als Faktenbasis des Schlussfolgerns. Wir werden die Merkmale der wissenschaftlichen Methode genauer in Kapitel 2 darstellen, wenn wir betrachten, wie Psychologen ihre Forschung durchführen. Verhalten ist das Mittel, durch welches sich der Organismus an die Umwelt anpasst. Verhalten bedeutet Aktivität. Der Gegenstand der Psychologie ist zum großen Teil das beobachtbare Verhalten von Menschen und den verschiedensten Tierarten. Lachen, Weinen, Rennen, Schlagen, Sprechen und Berühren sind einige offensichtliche Beispiele von beobachtbarem Verhalten.
1.1 Was macht Psychologie einzigartig?
Psychologen untersuchen, was das Individuum tut und wie es dieses Tun in einer vorgegebenen Verhaltensumgebung und im größeren sozialen und kulturellen Kontext umsetzt. Der Gegenstand psychologischer Untersuchungen ist meistens das Individuum – ein Neugeborenes, ein Athlet im Teenageralter, eine Studentin, die versucht, sich an das WG-Leben zu gewöhnen, ein Mann, der sich Mitte 40 einer Veränderung seiner Karriere gegenübersieht, oder eine Frau, die mit dem Stress zurechtkommen muss, dass sich der Zustand ihres Ehemanns aufgrund seiner Alzheimererkrankung verschlimmert hat. Die Untersuchungseinheit kann aber auch ein Schimpanse sein, der lernt, Symbole zur Kommunikation zu benutzen, eine weiße Ratte, die durch ein Labyrinth läuft, oder eine Seeschnecke, die auf ein Gefahrensignal reagiert. Ein Individuum kann in seinem natürlichen Lebensraum oder unter den kontrollierten Bedingungen eines Forschungslabors untersucht werden. Viele Forscher in der Psychologie haben erkannt, dass sie das menschliche Verhalten nicht verstehen können, ohne auch die mentalen Prozesse zu verstehen, die Arbeitsweise des menschlichen Geistes. Viele
Aktivitäten des Menschen finden als private, innere Ereignisse statt – denken, planen, schlussfolgern, fantasieren und träumen. Viele Psychologen glauben, dass mentale Prozesse den wichtigsten Aspekt psychologischer Untersuchungen darstellen. Wie Sie noch sehen werden, haben Forscher in der Psychologie ausgefeilte Techniken entwickelt, um mentale Ereignisse und Prozesse zu untersuchen – und diese privaten Erfahrungen somit offen zu legen. Die Kombination dieser Anliegen definiert die Psychologie als einzigartiges Feld. Während sich Psychologen stark auf das Verhalten von Individuen konzentrieren, untersuchen Soziologen das Verhalten von Menschen in Gruppen oder Institutionen, und Anthropologen konzentrieren sich auf den breiteren Kontext von Verhalten in unterschiedlichen Kulturen. Dennoch profitieren die Psychologen auch viel von den Erkenntnissen anderer Disziplinen. Als eine der Sozialwissenschaften profitiert die Psychologie von Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie und Kulturanthropologie. Psychologen teilen viele Interessen mit Forschern aus den Biowissenschaften, insbesondere mit jenen, die Prozesse im Gehirn und die biochemischen Grundlagen des Verhal-
Psychologische Untersuchungen finden meistens an Individuen statt – üblicherweise am Menschen, manchmal aber auch an anderen Spezies. Welche Aspekte Ihres eigenen Lebens hätten Sie gerne von Psychologen untersucht?
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Psycho l o g i e al s Wi ssen sc h aft
tens untersuchen. Als Teil des aufkommenden Feldes der Kognitionswissenschaften stehen die Fragen der Psychologen zum Funktionieren des menschlichen Geistes in Beziehung zu Forschungen und Theorien der Informatik, der Künstlichen Intelligenz und der angewandten Mathematik. Als Gesundheitswissenschaft – in Verbindung mit Medizin, Pädagogik, Rechts- und Umweltwissenschaften – versucht die Psychologie, etwas zur Verbesserung der Lebensqualität von Individuen und Kollektiven beizutragen. Obwohl die beachtliche Breite und Tiefe der modernen Psychologie für fortgeschrittenere Studierende der Psychologie eine Quelle der Freude sein kann, bilden die gleichen Merkmale eine Herausforderung für Studierende, die sich zum ersten Mal mit Psychologie beschäftigen. Das Studium der Psychologie hält so viel mehr bereit, als man zunächst annimmt – und daher gibt es auch jede Menge wertvollen Wissens, das Sie aus dieser Einführung in die Psychologie mitnehmen können. Der beste Weg, etwas über dieses Gebiet zu lernen, besteht darin, sich die Ziele von Psychologen und Psychologinnen zu eigen zu machen. Lassen Sie uns diese Ziele betrachten.
1.1.2 Ziele der Psychologie Bei Psychologen, die Grundlagenforschung betreiben, kann man folgende Ziele ausmachen: Verhalten beschreiben, erklären, vorhersagen und kontrollieren. Psychologen, die in der Anwendung arbeiten, verfolgen ein fünftes Ziel – die Lebensqualität des Menschen zu verbessern. Diese Ziele bilden die Grundlage des psychologischen Gesamtunternehmens. Was muss man beim Verfolgen dieser Ziele jeweils beachten? Beschreibung Die erste Aufgabe in der Psychologie besteht darin, Verhalten genau zu beobachten. Psychologen bezeichnen typischerweise solche Beobachtungen als ihre Daten. Verhaltensdaten sind Aufzeichnungen von Beobachtungen, wie sich Organismen verhalten, und den Bedingungen, unter denen das Verhalten auftritt. Wenn Forscher Daten sammeln, dann müssen sie eine angemessene Analyseebene wählen und Verhaltensmaße entwickeln, die Objektivität garantieren. Um das Verhalten eines Individuums zu erforschen, können Forscher unterschiedliche Ebenen der Analyse verwenden – von der obersten, gröbsten bis hin zu der genauesten, spezifischsten Ebene. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie wollten das Gemälde
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Abbildung 1.1: Analyseebenen. Stellen Sie sich vor, Sie wollten sich mit einem Freund vor diesem Gemälde verabreden. Wie würden Sie es beschreiben? Angenommen, Ihr Freund wollte das Bild exakt kopieren. Wie würden Sie es dann beschreiben? (씰 Abbildung 1.1) beschreiben, das Sie in einem Museum gesehen haben. Auf einer globalen Ebene könnten Sie es durch den Titel „Die Badenden“ und anhand des Künstlers „George Seurat“ beschreiben. Auf einer spezifischeren Ebene könnten Sie Merkmale des Gemäldes anführen: Einige Menschen sonnen sich am Flussufer, während andere sich im Wasser vergnügen usw. Auf einer sehr spezifischen Ebene könnten Sie die von Seurat verwendete Technik beschreiben – kleine Farbtupfer –, um die Szene entstehen zu lassen. Die Beschreibung auf jeder Ebene würde jeweils eine andere Frage über das Gemälde beantworten. Unterschiedliche Ebenen der psychologischen Beschreibung beziehen sich ebenfalls auf unterschiedliche Fragen. Auf der obersten Ebene psychologischer Analyse untersuchen Forscher das Verhalten der gesamten Person in komplexen sozialen und kulturellen Kontexten. Auf dieser Ebene könnten Forscher kulturelle Unterschiede bei der Gewaltbereitschaft, den Ursachen von Vorurteilen sowie den Folgen psychischer Störungen untersuchen. Auf der nächsten Ebene konzentrieren sich Psychologen auf engere, kleinere Verhaltenseinheiten, wie beispielsweise die Reaktionszeit auf ein Stoppsignal hin, Augenbewegungen während des Lesens und grammatische Fehler, die Kinder beim Spracherwerb machen. Forscher können auch noch kleinere Verhaltenseinheiten untersuchen. Sie können daran arbeiten, die biologische Grundlage des Verhaltens zu entdecken, indem sie die Gehirnregionen identifizieren, in denen verschiedene Arten von Erinnerungen gespeichert werden, die biochemischen Veränderungen, die während des Lernens auftreten, und die sensorischen Bahnen, die für das Sehen und das Hören verantwortlich sind. Jede Ana-
1.1 Was macht Psychologie einzigartig?
lyseebene liefert Informationen zu dem Gesamtbild der menschlichen Natur, das Psychologen am Ende zu entwickeln hoffen. Wie grob oder fein die Auflösung bei der Beobachtung auch ist: Psychologen versuchen, das Verhalten objektiv zu beschreiben. Die Fakten so zu erheben, wie sie sind, und nicht so, wie die Forscher sie erwarten oder gerne hätten, ist von größter Wichtigkeit. Da jeder Beobachter in jede Beobachtung seinen subjektiven Blickwinkel einbringt – Verzerrungen, Vorurteile und Erwartungen –, ist es grundlegend, dass diese persönlichen Faktoren nicht zum Tragen kommen und die Datenerhebung negativ beeinflussen. Wie Sie im nächsten Kapitel sehen werden, hat die psychologische Forschung eine ganze Reihe von Techniken entwickelt, um Objektivität zu gewährleisten. Erklärung Während Beschreibungen sich an wahrnehmbare Informationen halten müssen, gehen Erklärungen absichtlich über das Beobachtbare hinaus. In vielen Bereichen der Psychologie besteht das zentrale Ziel darin, regelhafte Muster im Verhalten und in mentalen Prozessen zu finden. Psychologen wollen entdecken, wie das Verhalten funktioniert. Warum lachen Sie in Situationen, die von Ihren Erwartungen abweichen, was als Nächstes kommen wird? Welche Umstände können jemanden dazu bringen, Suizid zu begehen oder jemanden zu vergewaltigen? Erklärungen in der Psychologie gehen in der Regel davon aus, dass Verhalten durch eine Kombination von Faktoren beeinflusst wird. Einige Faktoren sind innerhalb des Individuums zu finden, beispielsweise die genetische Ausstattung, Motivation, Intelligenz oder Selbstwertgefühl. Diese inneren Determinanten des Verhaltens werden als organismische Variablen bezeichnet. Sie sagen etwas Bestimmtes über den Organismus aus. Bei Menschen spricht man von diesen Determinanten auch als dispositionelle Variablen. Einige Faktoren kommen jedoch auch von außen. Stellen Sie sich beispielsweise ein Kind vor, das einem Lehrer gefallen möchte, um einen Preis zu gewinnen, oder einen Verkehrsteilnehmer, der in einem Stau steckt und frustriert und aggressiv wird. Diese Verhaltensweisen sind stark durch Einflüsse außerhalb der Person bestimmt. Externale Einflüsse auf das Verhalten werden als Umweltvariablen oder situationale Variablen bezeichnet. Wenn Psychologen versuchen, Verhalten zu erklären, dann berücksichtigen sie fast immer beide Arten von Erklärungsmöglichkeiten. Angenommen, Psychologen suchen eine Erklärung dafür,
dass Menschen mit dem Rauchen anfangen. Die Forscher könnten in Betracht ziehen, dass einige Individuen besonders anfällig für Risikoverhalten (eine dispositionelle Erklärung) sind oder dass einige Individuen starkem Gruppendruck ausgesetzt sind (eine situationale Erklärung) – oder dass sowohl eine Disposition zum Risikoverhalten als auch situationaler Gruppendruck notwendig sind (eine kombinierte Erklärung). Oftmals besteht das Ziel eines Psychologen darin, eine große Bandbreite von Verhaltensweisen auf der Grundlage einer einzigen Ursache zu erklären. Betrachten Sie folgende Situation: Der Dozent sagt, dass sich jeder Studierende regelmäßig an den Diskussionen während des Seminars beteiligen muss, um eine gute Note zu erhalten. Ihr WG-Mitbewohner, der sich immer gut auf den Unterricht vorbereitet, meldet sich nie, um Fragen zu beantworten oder um Informationen anzubieten. Der Dozent tadelt ihn ob seines Mangels an Motivation und nimmt an, er sei nicht besonders klug. Dieser gleiche WG-Mitbewohner geht auch auf Partys, aber er fragt nie ein Mädchen, ob es mit ihm tanzen will, verteidigt seinen Standpunkt nicht, wenn dieser von jemandem mit geringerem Wissen angegriffen wird, und er beteiligt sich kaum am Small Talk beim Essen. Was wäre Ihre Diagnose? Welcher Grund könnte für all diese Verhaltensweisen verantwortlich sein? Wie wäre es beispielsweise mit Schüchternheit? Wie viele andere Menschen auch, die unter intensiven Gefühlen der Schüchternheit leiden, kann Ihr WG-Mitbewohner sich nicht in gewünschter Weise verhalten (Zimbardo & Radl, 1999). Wir können also das Konzept der Schüchternheit einsetzen, um das ganze Muster des Verhaltens Ihres Zimmergenossen zu erklären. Um solche kausalen Erklärungen zu finden, müssen die Forscher oftmals einen kreativen Prozess durchlaufen, in dem sie eine Vielzahl verschiedener Daten sammeln. Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes hat spitzfindige Schlussfolgerungen aus Hinweisschnipseln gezogen. In ähnlicher Weise muss jede Forscherin und jeder Forscher eine durch Sachwissen fundierte Vorstellungskraft einsetzen, die in kreativer Weise dasjenige zusammenbringt, was bereits bekannt ist und was noch nicht bekannt ist. Ein gut ausgebildeter Psychologe kann Beobachtungen erklären, indem er seine Einsicht in die menschliche Erfahrung zusammen mit den Fakten nutzt, welche die frühere Forschung zu dem in Frage stehenden Phänomen beigesteuert hat. Oft versucht psychologische Forschung zu bestimmen, welche der verschiedenen möglichen Erklärungen am genauesten dem gegebenen Verhaltensmuster Rechnung trägt.
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Psycho l o g i e al s Wi ssen sc h aft
Vorhersage Vorhersagen in der Psychologie sind Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten auftreten wird oder ein bestimmter Zusammenhang nachgewiesen werden kann. Oftmals erlaubt eine zutreffende Erklärung der Ursachen, die einer Verhaltensweise zu Grunde liegen, eine zutreffende Vorhersage über zukünftiges Verhalten. Wenn wir also beispielsweise glauben, dass Ihr WG-Mitbewohner schüchtern sei, dann könnten wir mit Zuversicht vorhersagen, dass er sich unwohl fühlen würde, wenn er sich mit einem Fremden unterhalten sollte. Wenn mehrere verschiedene Erklärungen ins Feld geführt werden, um ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Zusammenhang zu erklären, dann werden sie üblicherweise danach bewertet, wie gut sie zutreffende und umfassende Vorhersagen treffen. Sollte Ihr WG-Mitbewohner im Kontakt mit einem Fremden geradezu aufblühen, dann wären wir gezwungen, unsere Diagnose zu überdenken. So wie Beobachtungen objektiv gemacht werden müssen, müssen auch wissenschaftliche Vorhersagen hinreichend exakt formuliert werden, um getestet und zurückgewiesen werden zu können, falls es keine positiven Belege geben sollte. Eine wissenschaftliche Vorhersage basiert auf dem Verstehen der Art und Weise, wie Ereignisse zusammenhängen, und sie trifft Aussagen darüber, welche Mechanismen diese Ereignisse mit bestimmten Prädiktoren verbinden. Eine kausale Vorhersage spezifiziert die Bedingungen, unter denen sich das Verhalten ändert. Beispielsweise bringt die Anwesenheit eines Fremden Menschen- und Affenbabys jenseits eines be-
stimmten Alters zuverlässig dazu, mit Anzeichen von Angst zu reagieren. Veränderungen des beobachteten Verhaltens können jedoch in einer Variation der genaueren Beschaffenheit einer Situation begründet liegen – beispielsweise im Ausmaß der Fremdheit. Gäbe es weniger Anzeichen von Angst bei Menschen- und Affenbabys, wenn der Fremde ebenfalls ein Baby und nicht ein Erwachsener wäre oder wenn der Fremde der gleichen Spezies angehören würde und nicht einer anderen? Um eine kausale Vorhersage zu verbessern, würde der Forscher die Umweltbedingungen systematisch variieren und den Einfluss dieser Änderungen auf die Reaktionen des Babys beobachten.
Was verleitet Menschen zum Rauchen? Können Psychologen Bedingungen herstellen, unter denen Menschen diesem Verhalten mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit nachgehen? Kontrolle
Eine psychologische Vorhersage.
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Für viele Psychologen ist Kontrolle das zentrale und wirksamste Ziel. Kontrolle bedeutet, Verhalten auftreten oder auch nicht auftreten zu lassen – es zu starten, aufrechtzuerhalten, zu beenden, seine Form, Stärke und Auftretenswahrscheinlichkeit zu beeinflussen. Eine kausale Erklärung von Verhalten ist dann überzeugend, wenn sie Bedingungen herstellen kann, unter denen das Verhalten kontrolliert werden kann. Die Möglichkeit der Verhaltenskontrolle ist wichtig, da sie den Psychologen Wege eröffnet, Menschen dabei zu helfen, ihre Lebensqualität zu verbessern. Durch das ganze Buch Psychologie hindurch werden Sie Beispiele für Interventionen sehen. Diese haben Psychologen entwickelt, um Menschen zu helfen, Kontrolle über problematische Aspekte in ihrem Leben zu erlangen. In Kapitel 15 beispielsweise werden Behandlungsmethoden bei psychischen Störungen besprochen. Wir beschreiben
1.1 Was macht Psychologie einzigartig?
auch, wie Menschen psychische Kräfte nutzen können, um gesundheitsschädliche Verhaltensweisen wie das Rauchen aufzugeben und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wie regelmäßigen Sport aufzunehmen (siehe Kapitel 12). Sie können lernen, welche Erziehungspraktiken Eltern helfen können, eine stabile Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen (Kapitel 10); Sie werden lernen, welche Kräfte Fremde davon abhalten, in Notfallsituationen zu helfen, und wie diese Kräfte überwunden werden können (Kapitel 17). An diesem kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl von Situationen zeigt sich, wie Psychologen ihr Wissen nutzen, um das Leben von Menschen zu kontrollieren und zu verbessern. In dieser Hinsicht sind Psychologen eine eher optimistische
Gruppe; viele sind der Ansicht, dass nahezu jedes unerwünschte Verhaltensmuster durch eine angemessene Intervention modifiziert werden kann. Unser Buch teilt diesen Optimismus.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche vier Komponenten umfasst die Definition des
Begriffs „Psychologie“? 2 Welche vier Ziele sind für Psychologen in der For-
schungsarbeit relevant? 3 Warum besteht oft ein enger Zusammenhang zwischen
den Zielen der Erklärung und denen der Vorhersage?
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Kann die Psychologie mir bei der Berufswahl helfen?
Wenn Sie jemals einen ungeliebten Job hatten, wissen Sie wahrscheinlich, was es bedeutet, wenn man nicht genügend motiviert ist: Man mag gar nicht daran denken, dass man wieder zur Arbeit gehen muss; jede Minute erscheint wie eine Stunde. Wichtig für eine gute Berufswahl ist, ein Arbeitsumfeld zu finden, dessen Anforderungen und Belohnungen Ihren Motivationsbedürfnissen entsprechen. Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, dass untersucht worden ist, wie bestimmte Berufe mit den Begabungen und Persönlichkeiten, Werten und Bedürfnissen einzelner Menschen zusammenpassen. Um für eine erfolgreiche Karriere motiviert zu bleiben, sollten Sie einen Beruf ausüben, der Ihren Interessen entspricht und Zielen dient, die Sie für erstrebenswert halten. Der 1927 vom Psychologen Edward Strong entwickelte Fragebogen zu den Interessengebieten ist der Prototyp dieses Ansatzes. Strong befragte zunächst Gruppen von Männern aus verschiedenen Berufen über Tätigkeiten, die sie mochten oder nicht mochten. Danach wurden die Antworten derer, die in ihren Berufen erfolgreich waren, mit denen von Männern allgemein verglichen, um eine Vergleichsskala zu erhalten. Überarbeitete Fassungen des Tests, bis hin zu der Fassung von 2004, haben Skalen für Frauen sowie für neu aufgekommene Berufe hinzugefügt. Der Interessenfragebogen von Strong ist sehr erfolgreich, wenn es darum geht, Vorlieben und Abneigungen von Menschen zu passenden Berufen in Beziehung zu setzen (Hansen & Dik, 2005). Wenn Sie diesen Test machen, kann ein Berufsberater Ihnen anschließend sagen, welche Berufsfelder typischerweise von Menschen besetzt werden, die Ihre Interessen teilen, weil diese Tätigkeiten Ihnen wahrscheinlich liegen.
Angenommen, Sie haben sich entsprechenden Rat für Ihre Berufswahl geholt. Wie wählen Sie dann einen bestimmten Arbeitgeber aus – und wie wählt dieser Arbeitgeber Sie aus? Forscher im Bereich der Personalpsychologie haben dem Konzept der Passung von Person und Organisation viel Aufmerksamkeit geschenkt, um eine möglichst große Kompatibilität zwischen Menschen und den Firmen, für die sie arbeiten, herzustellen (Dineen et al., 2002; Van Vianen, 2000). Ein Forschungsprojekt hat sich zum Beispiel auf die Übereinstimmungen zwischen menschlichen Persönlichkeiten und der „Unternehmenskultur“ kon zentriert. Betrachten wir den Persönlichkeitsfaktor „Nettigkeit“, der ein Kontinuum von „verständnisvoll und liebenswürdig“ bis „abweisend und streitlustig“ umfasst (siehe Kapitel 13). Beachten Sie auch ein Kontinuum von Unternehmenskulturen, das von unterstützender und teamorientierter bis zu aggressiver und ergebnisorientierter Firmenpolitik reicht. Erkennen Sie, wie diese Skalen zusammenpassen? Laut den Ergebnissen der Studie sollten sich Berufseinsteiger mit hohen „Nettigkeits“-Werten an Unternehmen mit unterstützender und teamorientierter Kultur halten (Judge & Cable, 1997). Die Forschung in diesem Bereich legt nahe, dass nicht nur Ihre Motivation für den Berufserfolg zählt, sondern dass es vielmehr auch darauf ankommt, wie weit eigene Vorlieben denjenigen des Unternehmens entsprechen. Welche Laufbahn wird also Ihre Motivation aufrecht erhalten? Wie bei vielen anderen schwierigen Fragen im Leben sind auch hier von Psychologen Untersuchungen angestellt worden, die Ihnen helfen können, diese wichtige Entscheidung zu treffen.
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Psycho l o g i e al s Wi ssen sc h aft
Die Entwicklung der modernen Psychologie
1.2
Im 21. Jahrhundert fällt es uns relativ leicht, Psychologie zu definieren und die Ziele psychologischer Forschung anzugeben. Gerade zu Beginn eines Studiums der Psychologie ist es jedoch wichtig, die vielen Kräfte zu verstehen, die zum Aufkommen der modernen Psychologie geführt haben. Im Zentrum dieses historischen Rückblicks steht ein einfaches Prinzip: Es kommt auf Ideen an! Ein Großteil der Geschichte der Psychologie war geprägt von hitzigen Debatten darüber, welcher Gegenstand und welche Methodologie für eine Wissenschaft von Geist und Verhalten angemessen sind. Unser historischer Rückblick wird zwei Ebenen berücksichtigen. Im ersten Abschnitt werden wir jenen geschichtlichen Zeitraum darstellen, in dem die wichtigsten Grundsteine für die moderne Psychologie gelegt wurden. Dieser enge Zuschnitt wird Ihnen die Möglichkeit geben, den Wettstreit der Ideen aus nächster Nähe zu beobachten. Im zweiten Abschnitt beschreiben wir aus einem größeren Blickwinkel sieben Perspektiven, die in der modernen Psychologie aufgetaucht sind. Sie sollten sich auf beiden Betrachtungsebenen die intellektuelle Leidenschaft vorstellen, mit der die Theorien sich entwickelt haben.
1.2.1 Historische Grundlagen der Psychologie „Die Psychologie besitzt eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte“, schrieb einer der ersten Experimentalpsychologen, Herrmann Ebbinghaus (1908 – 1973). Gelehrte hatten sich seit langem wichtige Fragen über die menschliche Natur gestellt, wie Menschen die Realität wahrnehmen, wie das Bewusstsein beschaffen ist und worin die Ursprünge des Wahnsinns liegen; sie besaßen jedoch nicht die Mittel, sie zu beantworten. Betrachten Sie einmal die fundamentalen Fragen, die die klassischen griechischen Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles im 4. und 5. Jahrhundert vor Christus stellten. Obwohl Formen von Psychologie in alten indischen Yogi-Traditionen existierten, geht der Ursprung westlicher Psychologie auf die Dialoge dieser berühmten Denker zurück. Sie diskutierten die Funktionsweise des Geistes, das Wesen der Willensfreiheit und die Beziehung des einzelnen Bürgers zu seiner Gemeinschaft oder dem Staat. Gegen Ende
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Im Jahre 1879 gründete Wilhelm Wundt das erste formal als solches ausgewiesene Labor für experimentelle Psychologie. Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihr eigenes Labor gründen. Welche Themen würden Sie darin untersuchen? des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychologie zu einer eigenen Fachdisziplin, als die Forscher Labortechniken aus anderen Wissenschaften – beispielsweise der Physiologie und der Physik – zur Untersuchung dieser fundamentalen Fragen aus der Philosophie benutzten. Eine entscheidende Person für die Entwicklung der modernen Psychologie war Wilhelm Wundt, der 1879 in Leipzig das erste ausgewiesene Labor für experimentelle Psychologie gründete. Obwohl Wundt als Physiologe ausgebildet war, verlagerte sich sein Interesse im Zuge seiner Forschungskarriere weg von Fragen des Körpers hin zu Fragen des Geistes: Er wollte die elementaren Prozesse der Empfindung und Wahrnehmung und die Geschwindigkeit einfacher mentaler Prozesse verstehen. Zu der Zeit, als er sein psychologisches Labor einrichtete, hatte Wundt bereits eine große Menge an Forschung betrieben und die erste von mehreren Auflagen seiner Grundzüge der Physiologischen Psychologie (zuerst 1874) veröffentlicht. Als Wundts Labor in Leipzig fertiggestellt war, begann er, die ersten Doktoranden speziell im aufkommenden Gebiet der Psychologie auszubilden. Diese Studierenden wurden oftmals zu Gründern eigener psychologischer Labore rund um den Erdball. Als sich die Psychologie als eigenständige Disziplin etabliert hatte, wurden auch psychologische Labore in Universitäten Nordamerikas eröffnet, das erste an der Johns Hopkins University im Jahre 1883. Diese frühen Labore waren oft stark von Wundt beeinflusst. Beispielsweise wurde Edward Titchener – er hatte bei Wundt studiert – einer der ersten Psychologen der
1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie
USA, der im Jahre 1892 ein Labor an der Cornell University gründete. Etwa zur gleichen Zeit jedoch entwickelte ein junger Harvard-Professor der Philosophie, der Medizin studiert hatte und ein starkes Interesse an Literatur und Religion besaß, eine spezifisch amerikanische Perspektive. William James, Bruder des berühmten Romanautors Henry James, schrieb ein zweibändiges Werk mit dem Titel The Principles of Psychology (1890; deutsch 1950 unter dem Titel Psychologie), das viele Experten für den bedeutsamsten psychologischen Text halten, der jemals geschrieben wurde. Kurz darauf, im Jahre 1892, gründete G. Stanley Hall die American Psychological Association, die bis heute existierende nationale wissenschaftliche Fachgesellschaft der USA. (Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie wurde demgegenüber 1904 gegründet). Bis zum Jahre 1900 gab es mehr als 40 psychologische Labore in Nordamerika (Hilgard, 1986). Beinahe gleichzeitig mit dem Entstehen der Psychologie entfachte sich eine Debatte über den richtigen Gegenstand und die Methoden der neuen Disziplin. Diese Debatte schälte einige Themen heraus, die in der Psychologie noch immer wichtig sind. Wir werden die Spannung zwischen Strukturalismus und Funktionalismus herausgreifen und näher betrachten. Strukturalismus: Der Inhalt des Geistes Das Potenzial der Psychologie, einen einzigartigen Beitrag zum Wissen zu leisten, wurde deutlich, als die Psychologie eine Laborwissenschaft wurde, deren zentraler Baustein das Experiment war. In Wundts Labor gaben die Versuchsteilnehmer einfache Reaktionen (Ja oder Nein sagen, einen Knopf drücken) auf Stimuli, die sie unter Bedingungen wahrnahmen, die von Laborinstrumenten kontrolliert wurden. Da die Daten mit systematischen, objektiven Methoden erhoben wurden, konnten unabhängige Beobachter die Ergebnisse dieser Experimente replizieren. Die Betonung der wissenschaftlichen Methode (siehe Kapitel 2), das Bemühen um exakte Messung und eine statistische Analyse der Daten charakterisierte die psychologische Tradition Wundts. Als Titchener die Psychologie Wundts nach Amerika brachte, trat er dafür ein, mithilfe dieser wissenschaftlichen Methoden das Bewusstsein zu untersuchen. Seine Methode, die Elemente bewussten geistigen Lebens zu untersuchen, war die Introspektion. Bei der Introspektion untersuchen die Individuen systematisch ihre eigenen Gedanken und Gefühle im Hinblick auf spezifische Wahrnehmungs- und Empfindungserleb-
nisse. Titchener betonte das „Was“ mentaler Inhalte und weniger das „Warum“ und „Wie“ des Denkens. Sein Ansatz wurde als Strukturalismus bekannt, die Untersuchung der Struktur des Geistes und des Verhaltens. Der Strukturalismus fußte auf der Vorannahme, dass jedwede geistige Erfahrung des Menschen als Kombination verschiedener grundlegender Komponenten aufgefasst werden kann. Das Ziel dieses Ansatzes bestand darin, die zu Grunde liegende Struktur des menschlichen Geistes dadurch zu enthüllen, dass die konstituierenden Elemente von Empfindungen und anderen Erfahrungen, die das geistige Leben eines Individuums ausmachen, bestimmt werden. Viele Psychologen haben den Strukturalismus von drei Seiten her angegriffen: (1) Er sei reduktionistisch, da er jede komplexe menschliche Erfahrung auf einfache Empfindungen zurückführt; (2) er sei elementaristisch, da er versucht, Teile oder Elemente zu einem Ganzen zusammenzufügen, anstatt komplexes, ganzheitliches Verhalten direkt zu untersuchen; und (3) er sei mentalistisch, da er lediglich verbale Berichte des menschlichen Bewusstseins untersucht, unter Ausschluss von Individuen, die ihre Introspektionen nicht berichten konnten, wie beispielsweise Tiere, Kinder und geistig Verwirrte. Eine wichtige Alternative zum Strukturalismus wurde von dem deutschen Psychologen Max Wertheimer erstmalig eingeführt. Er konzentrierte sich darauf, wie der menschliche Geist eine Erfahrung, statt als Summe einfacher Teile, als Gestalt – als organisiertes Ganzes – auffasst: Ihre Erfahrung eines Gemäldes ist mehr als die Summe der einzelnen Farbtupfer. Wie wir in Kapitel 4 sehen werden, besitzt die Gestaltpsychologie noch immer einen Einfluss auf die Untersuchung der Wahrnehmung. Wir werden hier eine zweite wichtige Gegenposition zum Strukturalismus anführen, die als Funktionalismus bekannt geworden ist. Funktionalismus: Absichtsvoller Geist William James stimmte mit Titchener darin überein, dass das Bewusstsein zentral für die Wissenschaft der Psychologie sei; für James war die Untersuchung des Bewusstseins jedoch nicht auf Elemente, Inhalte und Strukturen reduziert. Stattdessen war für ihn Bewusstsein ein stetiger Strom, eine Eigenschaft des Geistes, der in fortlaufender Interaktion mit der Umwelt steht. Das menschliche Bewusstsein erleichtert die Anpassung an die Umwelt; daher wurden die Tätigkeiten und die Funktionen der mentalen Prozesse als wichtig erachtet und nicht die Inhalte des Geistes.
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Das Vermächtnis dieser Ansätze
Durch die Arbeit des Funktionalisten John Dewey haben sich die Unterrichtsmethoden in den Schulen verändert. Was können Lehrer tun, um die „intellektuelle Neugier“ zu fördern? Der Funktionalismus legte besonderes Augenmerk auf erlernte Gewohnheiten, die den Organismus in die Lage versetzen, sich an seine Umwelt anzupassen und effektiv zu funktionieren. Für die Funktionalisten lautet die durch Forschung zu beantwortende zentrale Frage: „Was ist die Funktion oder der Zweck eines Verhaltensaktes?“ Gründer der funktionalistischen Schule war der amerikanische Philosoph John Dewey. Seine Beschäftigung mit der praktischen Anwendung mentaler Prozesse führte zu wichtigen Fortschritten in der Pädagogik. Die Theorien Deweys lieferten den Impuls für fortschrittliche Erziehung in seiner eigenen Laborschule und allgemein in den Vereinigten Staaten: „Auswendiglernen wurde zugunsten von handlungsorientiertem Lernen abgeschafft; man erwartete, dass die intellektuelle Neugier dadurch gefördert und das Verständnis erhöht würde“ (Kendler, 1987, S. 124). Obwohl James an sorgfältige Beobachtung glaubte, maß er den exakten Labormethoden Wundts nur wenig Wert bei. In der Psychologie von James war Platz für Emotionen und das Selbst, für Wille, Werte und sogar religiöse und mystische Erfahrungen. Seine „warmherzige“ Psychologie erkannte in jedem Individuum eine Einzigartigkeit, die nicht auf Formeln oder Zahlen aus Testergebnissen reduziert werden konnte. Für James lag das Ziel der Psychologie eher im Erklären und weniger in experimenteller Kontrolle (Arkin, 1990).
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Trotz der Unterschiede haben die Erkenntnisse sowohl des Strukturalismus als auch des Funktionalismus einen intellektuellen Kontext hergestellt, in dem die zeitgenössische Psychologie aufblühen konnte. Psychologen untersuchen heutzutage sowohl die Struktur als auch die Funktion von Verhalten. Betrachten wir den Prozess der Sprachproduktion. Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Freund zu einem Fußballspiel ins Stadion einladen. Um dies zu tun, müssen Ihre Wörter die richtige Funktion erfüllen – Bayern München, mit mir, Samstag nachmittag – und sie müssen auch die richtige Struktur besitzen: eine Phrase wie „Würdest gehen München mir zu nachmittag mit Du Samstag gerne Bayern?“ würde nicht funktionieren. Um zu verstehen, wie Sprachproduktion funktioniert, untersuchen Forscher, wie Sprecher Bedeutungen (Funktionen) in die grammatikalischen Strukturen ihrer Sprache einfügen (Bock, 1990). (Wir werden in Kapitel 8 einige der Prozesse der Sprachproduktion beschreiben.) Im gesamten vorliegenden Buch Psychologie werden wir sowohl Struktur als auch Funktion betonen, wenn wir die klassische und zeitgenössische Forschung darstellen. Psychologen wenden nach wie vor eine Vielzahl von Methoden zur Untersuchung der allgemeinen Kräfte an, die für alle Menschen gelten, und jener Kräfte, welche die Einzigartigkeit eines jeden Individuums ausmachen.
1.2.2 Aktuelle Perspektiven der Psychologie Nehmen wir an, Ihr Freund nimmt die Einladung ins Fußballstadion an. Welche Perspektive bringt jeder von Ihnen zu diesem Spiel mit? Nehmen wir weiter an, dass einer von Ihnen früher selbst im Verein Fußball gespielt hat, der andere aber nicht oder dass einer von Ihnen seit jeher Fan von Bayern München, der andere jedoch ein Fan der gegnerischen Mannschaft ist. Sie sehen, wie diese unterschiedlichen Perspektiven Ihre Sichtweise des Spiels beeinflussen würden. In ähnlicher Weise bestimmen die Perspektiven oder Herangehensweisen der Psychologen die Art, wie sie Verhalten und Denkprozesse untersuchen. Die Perspektiven beeinflussen, wonach Psychologen suchen, wo sie es suchen und welche Forschungsmethoden sie anwenden. In diesem Abschnitt definieren wir sieben Perspektiven – die psychodynamische, die behavioristische, die humanistische, die kognitive, die biologische, die evolutionäre und die kulturvergleichende.
1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie
Achten Sie beim Lesen dieses Abschnitts darauf, wie jede einzelne Perspektive die Ursachen und Folgen von Verhaltensweisen definiert. Eine kurze Anmerkung zur Vorsicht: Obwohl jede Perspektive für einen unterschiedlichen Ansatz zu den zentralen Themen der Psychologie steht, sollten Sie sich darüber bewusst werden, warum die meisten Psychologen von mehr als einer dieser Perspektiven Konzepte entlehnen und sie miteinander verschmelzen. Jede Perspektive erweitert das Verständnis der Gesamtheit menschlicher Erfahrung. In den folgenden Kapiteln werden wir genauer auf die Beiträge jedes Ansatzes eingehen, da sie zusammengenommen dafür stehen, was zeitgenössische Psychologie heute ausmacht. Die psychodynamische Perspektive Entsprechend der psychodynamischen Perspektive wird das Verhalten durch starke innere Kräfte angetrieben und motiviert. Nach dieser Perspektive rühren Handlungen von ererbten Instinkten, biologischen Trieben und dem Versuch her, Konflikte zwischen persön-
lichen Bedürfnissen und sozialen Erfordernissen zu lösen. Zustände der Deprivation, physiologische Erregung und Konflikte liefern die Energie für das Verhalten, genauso wie Kohle eine Dampflokomotive antreibt. Nach diesem Modell enden die Reaktionen des Organismus, wenn seine Bedürfnisse befriedigt und seine Triebe reduziert sind. Der Hauptzweck von Handlungen besteht in der Reduktion von Spannung. Die psychodynamischen Mechanismen der Motivation wurden am deutlichsten durch den Wiener Arzt Sigmund Freud (1856 –1939) im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert herausgearbeitet. Freuds Ideen erwuchsen aus seiner Arbeit mit psychisch gestörten Patienten; er glaubte aber, dass diese beobachteten Prinzipien für normales wie gestörtes Verhalten zuträfen. Nach Freuds psychodynamischer Theorie wird eine Person durch ein komplexes Netzwerk innerer und äußerer Kräfte gezogen und geschoben. Freuds Modell erkannte als erstes, dass die menschliche Natur nicht immer rational ist und dass Handlungen durch Motive gesteuert sein können, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Seit Freud haben viele Psychologen das psychodynamische Modell in neue Richtungen gelenkt. Freud selbst betonte die frühe Kindheit als jene Phase, in der sich die Persönlichkeit ausbildet. Neo-Freudianer haben die Theorie Freuds dahingehend erweitert, dass sie soziale Einflüsse und Interaktionen, die im Laufe des gesamten Lebens eines Individuums auftreten, mit einbeziehen. Psychodynamische Ideen hatten einen großen Einfluss auf viele Bereiche der Psychologie. Sie werden in diesem Buch verschiedenen Aspekten von Freuds Beiträgen begegnen, beispielsweise bei der Entwicklung von Kindern, dem Träumen, Vergessen, unbewusster Motivation, Persönlichkeit und psychoanalytischer Therapie. Die behavioristische Perspektive
Sigmund Freud und seine Tochter Anna, photographiert während einer Reise in den italienischen Alpen 1913. Freud nahm an, dass Verhalten oftmals durch Motive beeinflusst wird, derer man sich nicht bewusst ist. Was ergibt sich aus dieser Perspektive für die Art und Weise, wie Sie Lebensentscheidungen treffen?
Entsprechend der behavioristischen Perspektive wird untersucht, wie bestimmte Umweltstimuli bestimmte Arten des Verhaltens kontrollieren. Erstens untersuchen Verhaltensanalytiker die Antezedensbedingungen der Umwelt – jene Bedingungen, die dem Verhalten vorangehen und die den Rahmen für einen Organismus schaffen, eine Reaktion zu zeigen oder sie zurückzuhalten. Dann betrachten sie die Verhaltensreaktion, die der Hauptgegenstand der Untersuchung ist – die Verhaltensweise, die es zu verstehen, vorherzusagen und zu kontrollieren gilt. Schließlich untersuchen sie die beobachtbaren Konsequenzen, die auf die Reaktion folgen.
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Beispielsweise könnte ein Behaviorist daran interessiert sein, wie Strafzettel unterschiedlicher Höhe (Konsequenzen) für Geschwindigkeitsüberschreitungen die Wahrscheinlichkeit ändern, dass Kraftfahrer vorsichtig oder unvorsichtig fahren (Verhaltensreaktionen). Die behavioristische Perspektive wurde von John Watson (1878 –1958) entwickelt, der postulierte, dass psychologische Forschung nach Spezies übergreifenden, beobachtbaren Verhaltensmustern suchen sollte. B. F. Skinner (1904 –1990) förderte den Einfluss des Behaviorismus, indem er seine Analysen auch auf die Konsequenzen von Verhaltensweisen ausdehnte. Beide Wissenschaftler legten besonderen Wert auf die exakte Beschreibung der beobachteten Phänomene und strenge Standards für die Beweisführung. Sowohl Watson als auch Skinner gingen davon aus, dass die grundlegenden Prozesse, die sie an Tieren untersuchten, allgemeine Prinzipien darstellten, die sich auch auf Menschen anwenden ließen.
John Watson war ein wichtiger Wegbereiter der behavioristischen Perspektive. Warum suchte Watson nach Verhaltensmustern, die über die Artengrenzen hinaus gelten?
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Der Behaviorismus hinterließ ein bedeutsames Erbe in der Praxis. Seine Betonung der Notwendigkeit genauen Experimentierens und sorgfältig definierter Variablen beeinflusste die meisten Bereiche der Psychologie. Obwohl die Behavioristen einen Großteil ihrer Grundlagenforschung an Tieren durchführten, wurden die Prinzipien des Behaviorismus in vielen Bereichen auf menschliche Probleme angewandt. Behavioristische Prinzipien haben einen humaneren Ansatz der Kindererziehung (durch die bevorzugte Nutzung positiver Verstärkung an Stelle von Bestrafung) erbracht, neue Therapien zur Modifikation von Verhaltensstörungen und Richtlinien zur Gestaltung idealer utopischer Gemeinschaften. Die humanistische Perspektive Die humanistische Psychologie wurde in den 50erJahren des vorigen Jahrhunderts als Alternative zu den psychodynamischen und behavioristischen Modellen entwickelt. Aus humanistischer Perspektive werden Menschen weder durch starke, instinktive Kräfte getrieben, wie sie von den Freudianern angeführt werden, noch werden sie durch ihre Umgebung manipuliert, wie von den Behavioristen vorgeschlagen. Stattdessen werden Menschen als aktive Geschöpfe angesehen, die von Grund auf gut sind und über die Freiheit der Wahl verfügen. Humanistische Psychologen untersuchen Verhalten, allerdings nicht, indem sie es auf Komponenten, Elemente und Variablen in Laborexperimenten reduzieren. Vielmehr halten sie in der Lebensgeschichte eines Menschen nach Verhaltensmustern Ausschau. Gemäß der humanistischen Perspektive ist es die Hauptaufgabe des Menschen, nach positiver Entwicklung zu streben. So betonte etwa Carl Rogers (1902 – 1987) die natürliche Tendenz des Individuums zu geistiger Weiterentwicklung und Gesundheit – ein Vorgang, der durch die positive Beurteilung durch die Umwelt noch verstärkt wird. Abraham Maslow (1908 –1970) prägte den Begriff self-actualization (Selbstverwirklichung) für den Drang jedes Individuums, sein Potenzial möglichst umfassend zu verwirklichen. Außerdem definierten Rogers, Maslow und ihre Kollegen eine Perspektive, die sich um die ganze Person bemüht, und praktizierten damit eine holistische Herangehensweise an die Psychologie des Menschen. Sie glaubten, dass für wirkliches Verständnis das Wissen über Geist, Körper und Verhalten eines Menschen vor dem Hintergrund sozialer und kultureller Faktoren einbezogen werden müsse.
1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie
Carl Rogers entwickelte fundamentale Ideen für die humanistische Perspektive. Warum betonte Rogers die Wichtigkeit positiver Wertschätzung? Der humanistische Ansatz erweitert das Gebiet der Psychologie um wertvolle Erkenntnisse aus Untersuchungen zur Literatur, Geschichte und den Künsten. Dadurch wird die Psychologie eine vollständigere Disziplin. Humanisten vertreten die Ansicht, dass ihr Blickwinkel so etwas wie ein Enzym sei, das der Psychologie hilft, sich über die Konzentration auf negative Kräfte und tierähnliche Aspekte des menschlichen Daseins zu erheben. Wie wir in Kapitel 15 sehen werden, hatte die humanistische Perspektive einen starken Einfluss auf die Entwicklung neuer Ansätze in der Psychotherapie. Die kognitive Perspektive Die kognitive Wende in der Psychologie entstand als weitere Herausforderung an die Beschränkungen des Behaviorismus. Der zentrale Fokus der kognitiven Perspektive ist das menschliche Denken und all seine wissensbasierten Prozesse – Aufmerksamkeit, Denken, Erinnern und Verstehen. Aus kognitiver Perspektive handeln Personen, weil sie denken, und Personen denken, da sie menschliche Wesen sind, die herausragend mit dieser Fähigkeit ausgestattet sind.
Nach dem kognitiven Modell ist Verhalten nur zum Teil durch vorangehende Umweltereignisse und frühere Verhaltenskonsequenzen bestimmt, wie Behavioristen annehmen. Einige der augenfälligsten Verhaltensweisen treten durch völlig neue Wege des Denkens auf und nicht durch vorhersagbare Wege, die in der Vergangenheit benutzt wurden. Die Fähigkeit, sich Optionen und Alternativen vorzustellen, die sich komplett von dem unterscheiden, was ist oder war, verschafft dem Menschen die Möglichkeit, sich in eine Zukunft zu bewegen, die die aktuellen Umstände transzendiert. Ein Individuum reagiert nicht so auf die Realität, wie sie in der objektiven gegenständlichen Welt ist, sondern wie sie sich in der subjektiven Realität der inneren Welt der Gedanken und Vorstellungen des Individuums darstellt. Kognitive Psychologen betrachten Gedanken sowohl als Ergebnis als auch als Ursache offen gezeigten Verhaltens. Dass es einem Leid tut, wenn man jemanden verletzt hat, ist ein Beispiel für Gedanken als Ergebnis. Sich jedoch für sein Verhalten zu entschuldigen, nachdem es einem Leid getan hat, ist ein Beispiel für Gedanken als Ursache von Verhalten. Kognitive Psychologen untersuchen höhere geistige Prozesse wie etwa Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Problemlösen und Entscheiden auf einer Vielzahl von Ebenen. So untersuchen sie beispielsweise Durchblutungsmuster im Gehirn bei verschiedenen Arten kognitiver Aufgaben, die Erinnerung einer Studierenden an ein Ereignis aus ihrer frühen Kindheit oder Veränderungen der Gedächtnisfähigkeit im Laufe des Lebensalters. Bedingt durch die Ausrichtung auf geistige Prozesse sehen viele Forscher die kognitive Perspektive als dominierend in der heutigen Psychologie an. Die biologische Perspektive Die biologische Perspektive ist das Leitbild jener Psychologen, welche die Ursachen des Verhaltens in der Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems und des endokrinen Systems suchen. Das Funktionieren eines Organismus wird anhand der zugrunde liegenden körperlichen Strukturen und biochemischen Prozesse erklärt. Erfahrungen und Verhalten werden weitgehend als das Ergebnis chemischer und elektrischer Aktivitäten, die zwischen Nervenzellen stattfinden, angesehen. Forscher, welche die biologische Perspektive einnehmen, gehen davon aus, dass psychische und soziale Phänomene letztlich auf biochemische Prozesse zurückgeführt werden können: Sogar die komplexesten Phäno-
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mene können dadurch verstanden werden, dass man sie analysiert und auf immer kleinere, spezifischere Einheiten reduziert. Sie würden beispielsweise zu erklären versuchen, wie sie die Wörter dieses Satzes lesen, indem sie die exakten zellphysiologischen Prozesse im Gehirn heranziehen. Aus dieser Sicht wird Verhalten durch körperliche Strukturen und Vererbungsprozesse determiniert. Erfahrung kann dadurch Verhalten modifizieren, dass sie diese zu Grunde liegenden biologischen Strukturen und Prozesse verändert. Forscher könnten sich fragen „Welche Veränderungen traten im Gehirn auf, während wir lesen lernten?“ Die Aufgabe psychobiologischer Forschung ist es, Verhalten auf der präzisesten Analyseebene zu verstehen. Viele Forscher, die sich der biologischen Perspektive zuwenden, arbeiten im multidisziplinären Feld der verhaltensbezogenen Neurowissenschaften. Die Neurowissenschaften beschäftigen sich mit den Gehirnfunktionen; die verhaltensbezogenen Neurowissenschaften versuchen die Vorgänge im Gehirn zu verstehen, die Verhaltensweisen wie Sinneswahrnehmung, Lernen und Emotion zu Grunde liegen. Die Fortschritte der Hirnforschung in den bildgebenden Verfahren, die wir in Kapitel 3 beschreiben, haben zu dramatischen Durchbrüchen auf dem Feld der kognitiven Neurowissenschaften geführt. Die kognitiven Neurowissenschaften setzen einen multidisziplinären Forschungsschwerpunkt auf die Gehirngrundlagen höherer kognitiver Funktionen, wie Gedächtnis und Sprache. Wie wir sehen werden, ermöglichen es bildgebende Verfahren, die biologische Perspektive auf ein breites Spektrum menschlicher Erfahrung auszudehnen. Die evolutionäre Perspektive Die evolutionäre Perspektive versucht, die zeitgenössische Psychologie mit einer zentralen Idee der Biowissenschaften zu verknüpfen, der Theorie von Charles Darwin zur Evolution durch natürliche Selektion. Die Idee der natürlichen Selektion ist recht einfach: Diejenigen Organismen, die besser an ihre Umwelt angepasst sind, tendieren dazu, mehr Nachkommen zu produzieren (und ihre Gene weiterzugeben) als Organismen mit schlechterer Anpassung. Über viele Generationen hinweg verändern sich die Spezies in Richtung der bevorzugten Anpassung. Die evolutionäre Perspektive in der Psychologie geht davon aus, dass geistige Fähigkeiten, ebenso wie körperliche Fähigkeiten, sich über Millionen von Jahre entwickelten, um spezifischen Anpassungserfordernissen gerecht zu werden.
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Welche geistigen Fähigkeiten benötigte der Australopithecus africanus vor zwei bis drei Millionen Jahren und wie könnten sich diese Fähigkeiten bis heute weiterentwickelt haben? Bei der Ausübung evolutionärer Psychologie konzentrieren sich die Forscher auf die Umweltbedingungen, unter welchen sich das menschliche Gehirn entwickelte. Die Menschen verbrachten 99 Prozent ihrer Evolutionsgeschichte als Jäger und Sammler, die in kleinen Gruppen während des Pleistozäns (einer Periode von etwa zwei Millionen Jahren, die vor 10.000 Jahren endete) lebten. Die evolutionäre Psychologie nutzt das reiche theoretische Rahmengerüst der Evolutionsbiologie, um die zentralen Probleme adaptiven Verhaltens dieser Spezies zu identifizieren: vermeiden von Beutejägern und Parasiten, Sammeln und Austauschen von Nahrung, Partner zur Paarung finden und behalten und gesunde Kinder großziehen. Nachdem die Anpassungsprobleme, welchen sich diese frühen Menschen gegenübersahen, identifiziert sind, können Psychologen mit evolutionärer Ausrichtung Schlussfolgerungen über die Arten geistiger Mechanismen und psychologischer Anpassungen ziehen, die sich zur Lösung solcher Probleme entwickelten. Die evolutionäre Psychologie unterscheidet sich von den anderen Perspektiven am grundlegendsten in ihrer Konzentration auf zeitlich extrem lange Prozesse der Evolution, die als zentrales Erklärungsprinzip dienen. Beispielsweise versuchen Evolutionspsychologen die unterschiedlichen Geschlechterrollen als Produkt der Evolution anzusehen und nicht als Produkt aktueller gesellschaftlicher Zwänge. Da evolutionäre Psychologen keine Experimente ausführen können, die den Gang der Evolution variieren, müssen sie ausgesprochen erfinderisch sein, um Belege für ihre Theorien zu liefern.
1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie
Die kulturvergleichende Perspektive Psychologen, die eine kulturvergleichende Perspektive einnehmen, untersuchen interkulturelle Unterschiede der Ursachen und Konsequenzen von Verhalten. Die kulturvergleichende Perspektive ist eine wichtige Reaktion auf die Kritik, dass psychologische Forschung allzu häufig auf einer westlichen Konzeption der menschlichen Natur basiert und dass sie als Untersuchungspopulation ausschließlich weiße Angehörige der Mittelklasse (Gergen et al., 1996) heranzog. Eine angemessene Betrachtung der kulturellen Kräfte kann Vergleiche zwischen Gruppen innerhalb gemeinsamer nationaler Grenzen beinhalten. Beispielsweise können Forscher die Prävalenz von Essstörungen innerhalb der USA zwischen weißen und afro-amerikanischen Teenagern vergleichen (siehe Kapitel 11). Kulturelle Einflüsse können auch zwischen Nationalitäten untersucht werden, wie beispielsweise ein Vergleich zwischen moralischen Urteilen in den USA und Indien (siehe Kapitel 10). Kulturvergleichende Psychologen wollen herausfinden, ob die Theorien, welche die psychologische Forschung hervorgebracht hat, auf alle Menschen oder nur auf eine engere, spezifischere Population zutreffen. Die kulturvergleichende Perspektive lässt sich auf nahezu jeden Gegenstand psychologischer Forschung anwenden: Wird die menschliche Wahrnehmung von der Welt durch Kultur beeinflusst? Beeinflusst die Sprache, die wir sprechen, die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren? Wie beeinflusst Kultur die Art und Weise, wie sich Kinder zu Erwachsenen entwickeln? Wie formen kulturelle Einstellungen das Erleben des höheren Alters? Wie beeinflusst Kultur unser Selbstverständnis? Beeinflusst Kultur die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum spezifische Verhaltensweisen zeigt? Beeinflusst Kultur die Art und Weise, wie Menschen ihre Gefühle ausdrücken? Und beeinflusst Kultur die Häufigkeit, mit der Menschen an psychischen Störungen leiden? Die Folgerungen aus kulturvergleichender Perspektive stellen die aus den anderen Perspektiven gezogenen Schlüsse oftmals unmittelbar in Frage. Beispielsweise haben Forscher die Auffassung vertreten, dass viele Aspekte von Freuds psychodynamischen Theorien nicht auf Kulturen übertragbar seien, die sich stark von Freuds Wien unterscheiden. Diese Bedenken wurden bereits 1927 von dem Anthropologen Bronislaw Malinowski (1927) formu-
liert. Dieser kritisierte mit stichhaltigen Argumenten Freuds vaterzentrierte Theorie, indem er Familienpraktiken der Trobriander auf Neuguinea beschrieb; in diesem Stamm liegt die Familienautorität bei den Müttern und nicht bei den Vätern. Die kulturvergleichende Perspektive lässt also erkennen, dass einige der universellen Behauptungen der psychodynamischen Perspektive so nicht zutreffen. Die kulturvergleichende Perspektive leistet einen beständigen und wichtigen Beitrag, Generalisierungen über menschliche Erfahrungen zu relativieren, die der Unterschiedlichkeit und Reichhaltigkeit von Kulturen keine Rechnung tragen.
1.2.3 Perspektivenvergleich: Thema Aggression Jede der sieben Perspektiven beruht auf einem unterschiedlichen Satz von Annahmen und führt zu unterschiedlichen Arten der Antwortsuche auf Fragen zum Verhalten. 씰 Tabelle 1.1 fasst die Perspektiven zusammen. Lassen Sie uns anhand des Beispiels, warum sich Menschen aggressiv verhalten, kurz vergleichen, wie Psychologen unter Heranziehung der jeweiligen Modelle mit dieser Frage umgehen. Alle Ansätze sollten dem Bemühen dienen, das Wesen von Aggression und Gewalt zu verstehen. Für jede Perspektive geben wir Beispiele, welche Behauptungen die Forscher aufstellen und welche Experimente sie durchführen könnten.
Bronislaw Malinowski dokumentierte die wichtige Rolle, die Frauen in der Kultur der Trobriand-Inseln spielen. Warum ist interkulturelle Forschung für die Suche nach universellen psychologischen Prinzipien entscheidend?
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Psychodynamisch. Untersucht Aggression als Reaktion auf Frustrationen, die durch Barrieren auf dem Weg zur Freude, beispielsweise durch ungerechte Autoritäten, entstanden sind. Betrachtet Aggression beim Erwachsenen als Resultat der Verschiebung der Feindseligkeit, die ursprünglich als Kind gegenüber den Eltern gefühlt wurde.
Biologisch. Untersucht die Rolle spezifischer Gehirnareale für die Aggression, indem verschiedene Gehirnregionen stimuliert und dann alle hervorgerufenen destruktiven Handlungen aufgezeichnet werden. Analysiert auch das Gehirn von Massenmördern im Hinblick auf Abnormalitäten; untersucht Aggression bei Frauen im Zusammenhang mit den Phasen des Menstruationszyklus.
Behavioristisch. Identifiziert die Verstärker vergangener aggressiver Reaktionen, wie etwa ein Mehr an Aufmerksamkeit, die einem Kind von seinen Klassenkameraden oder Geschwistern zukommt. Behauptet, dass Kinder von körperlich züchtigenden Eltern lernen, später mit ihren Kindern genauso zu verfahren.
Evolutionär. Betrachtet, welche Bedingungen Aggression zu einem Anpassungsverhalten für Urmenschen machten. Identifiziert psychologische Mechanismen, die in der Lage sind, unter diesen Bedingungen selektiv aggressives Verhalten hervorzurufen.
Humanistisch. Sucht nach persönlichen Werten und sozialen Bedingungen, die selbst-einschränkende und aggressive Perspektiven anstelle von wachstumsfördernden und geteilten Erfahrungen nähren.
Kulturvergleichend. Betrachtet, wie Mitglieder verschiedener Kulturen Aggression zeigen und interpretieren. Findet heraus, wie kulturelle Kräfte die Wahrscheinlichkeit verschiedener Arten aggressiven Verhaltens beeinflusst.
Kognitiv. Erfasst die unterschiedlichen feindseligen Gedanken und Phantasien, die Menschen bei der Wahrnehmung gewalttätiger Handlungen erleben. Beachtet sowohl aggressive Vorstellungen als auch Absichten, andere zu verletzen. Untersucht den Einfluss von Gewalt in Filmen und Videos, inklusive pornographischer Gewaltdarstellungen, beispielsweise auf Haltungen zur Kontrolle von Waffenbesitz, Vergewaltigung und Krieg.
Anhand dieses Beispiels von Aggression können Sie erkennen, wie die verschiedenen Perspektiven zusammenwirken, um ein umfassendes Verständnis in spezifischen Feldern der psychologischen Forschung zu ermöglichen. In der gegenwärtigen Psychologie wird die meiste Forschungsarbeit von mehreren Perspektiven aus geleistet. Wenn Sie Psychologie durcharbeiten, werden Sie sehen, dass neue Theorien oft aus Kombinationen verschiedener Perspektiven entstehen. Zudem hat der technische Fortschritt die Kombi-
Tabelle 1.1
Vergleich von sieben Perspektiven zeitgenössischer Psychologie
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Perspektive
Untersuchungsschwerpunkt
Primäre Forschungsthemen
Psychodynamisch
Unbewusste Triebe, Konflikte
Verhalten als sichtbarer Ausdruck unbewusster Motive
Behavioristisch
Spezifische gezeigte Reaktionen
Verhalten und seine Verursachung durch Stimuli und Konsequenzen
Humanistisch
Menschliches Erleben und Potenziale
Lebensmuster, Werte, Ziele
Kognitiv
Mentale Prozesse, Sprache
Schlussfolgern auf geistige Prozesse durch Verhaltensindikatoren
Biologisch
Prozesse in Gehirn und Nervensystem
Biochemische Basis von Verhalten und mentalen Prozessen
Evolutionär
Evolutionär entstandene psychische Anpassungsvorgänge
Mentale Mechanismen als evolutionär entstandene adaptive Funktionen
Kulturvergleichend
Interkulturelle Muster von Haltungen und Verhalten
Universelle und kulturspezifische Aspekte menschlicher Erfahrung
1.2 Die Entwicklung der modernen Psychologie
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Warum enden Freundschaften?
Ein wichtiges Anliegen von Psychologie ist es, Ihre Fähigkeit zu verbessern, sich kritisch mit der Umwelt auseinanderzusetzen: Wir möchten Ihnen helfen, „begründete Entscheidungen darüber zu treffen, was Sie glauben und wie Sie handeln sollten“ (Appleby, 2006, S. 61). Betrachten wir, was dies im Fall eines Problems bedeutet, das den Studierenden in unseren Seminaren offensichtlich oft zu schaffen macht: Warum enden Freundschaften? Erinnern Sie sich an die Umstände, unter welchen eine Ihnen wichtige Freundschaft endete. Konnten Sie damals verstehen, was schief gelaufen war? Die Psychologie kann theoretische Analysen liefern, die Ihnen verstehen helfen, was in Ihrem Leben vorgeht. So sind etwa gerade die Kategorien von Ereignissen, die Freundschaften beenden, Forschungsgegenstand gewesen (Sheets & Lugar 2005). Die Befragten berichten von Vorgängen wie Konkurrenz in Liebesbeziehungen („sie hat mit meinem Freund geschlafen“), respektlosem Benehmen („er hat zugelassen, dass seine Freunde mein Wohnheimzimmer verwüsten“) und Vertrauensbruch („er hat alle meine Geheimnisse verraten“). Wenn Sie diese verschiedenen Kategorien betrachten, gewinnen Sie einen Bezugsrahmen, um Spannungen in Ihren eigenen Freundschaften einzuordnen. Die Studie ergab sogar noch präzisere Schlussfolgerungen: Bei ungefähr 400 Studenten aus dem Mittleren Westen der USA waren die häufigsten Konfliktgründe – die Ursachen von Streitigkeiten, an denen Freundschaften zerbrachen – Konkurrenz in Liebesbeziehungen und respektloses Benehmen. Können Sie diese Information benutzen, um den Zustand Ihrer eigenen Freundschaften besser einzuschätzen? Dieses Beispiel zeigt, wie die Psychologie Ihnen helfen kann, angemessene Kategorien für Lebenserfahrungen aufzustellen und anzuwenden. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt kritischen Denkens, den Sie hier anwenden können: Fragen Sie sich, wie weit Sie das Gelernte verallgemeinern können. Im obigen Beispiel kamen die Ergebnisse über das Ende von Freundschaften von amerikanischen Studenten aus dem Mittelwesten. Wir haben in diesem Kapitel bereits die kulturvergleichende Perspektive beschrieben, die heutigen Forschern nahelegt,
nation mehrerer Perspektiven erleichtert; so ermöglichen etwa die bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung, die Sie in Kapitel 3 kennen lernen, den Forschern, eine biologische Perspektive auf so unter-
sich stets der kulturellen Einflüsse auf Forschungsergebnisse bewusst zu sein. Um die interkulturelle Anwendbarkeit Ihrer Resultate zu bewerten, erhoben die Forscher daher Vergleichsdaten von einer Gruppe russischer Studierender. Diese Studierenden gaben allesamt an, dass ihre häufigste Konfliktursache in Freundschaften der Vertrauensbruch war. Worauf könnte das zurückgehen? Die Wissenschaftler spekulierten, dass Russen möglicherweise auf solches Verhalten wegen „Russlands totalitärer Vergangenheit, in welcher der Verrat eines Freundes lebensbedrohlich sein konnte“ (Sheets & Lugar, 2005, S. 391) empfindlicher reagieren. Dieser kulturelle Unterschied zwischen US-amerikanischen und russischen Studierenden hat einige bemerkenswerte Implikationen. Erstens erinnert Sie das Ergebnis daran, dass ein wichtiger Bestandteil kritischen Denkens die Prüfung jeder Schlussfolgerung auf Stichhaltigkeit und allgemeine Anwendbarkeit ist. In Kapitel 2 werden wir uns der wissenschaftlichen Methodik widmen. Anhand dieser Darstellung werden Sie sehen, welchen Standards Forschung genügen muss, bevor wir Sie in Psychologie übernehmen. Außerdem werden wir im gesamten Buch zu bedenken geben, auf welche Arten ein kultureller Hintergrund die Grundlagen der menschlichen Existenz beeinflussen kann. Die zweite Implikation dieses Unterschieds zwischen amerikanischen und russischen Studierenden betrifft Ihr Verhalten gegenüber den Menschen Ihrer Umgebung, denn die meisten Menschen leben und arbeiten inzwischen in einer multikulturellen Umwelt. Lassen Sie sich von Ihrer psychologischen Ausbildung dafür sensibilisieren, in welchen Bereichen der kulturelle Hintergrund wichtig und in welchen er weniger wichtig ist. Denken Sie daran: Das Ziel ist, sich von Ihrem Wissen in Psychologie zu besseren Entscheidungen im Alltagsleben anleiten zu lassen. Kann es im Rahmen der erwähnten Studie von Bedeutung sein, dass die amerikanischen Daten alle aus dem Mittelwesten kamen? Welche Eigenheiten der US-amerikanischen Geschichte könnten für die Psychologie von US-Bürgern bedeutsam sein?
schiedliche Gegenstände wie Persönlichkeitsunterschiede (Kapitel 13) und Therapieergebnisse (Kapitel 15) anzuwenden. Darüber hinaus haben Entwicklungen wie das Internet es den Forschern erleichtert,
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weltweit zu kooperieren. Sie können eine kulturvergleichende Perspektive auf so unterschiedliche Phänomene wie moralisches Argumentieren (Kapitel 10) oder das wahrgenommene Körperbild (Kapitel 11) anwenden. Die Vielfalt an Perspektiven in der Psychologie hilft den Forschern, Kernfragen der menschlichen Erfahrung kreativ zu erforschen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was sind die zentralen Anliegen der strukturalistischen
und der funktionalistischen Herangehensweise? 2 Wie formulieren die psychodynamische und die beha-
vioristische Perspektive jeweils die Faktoren, von denen menschliches Handeln bestimmt wird? 3 Welche Perspektive geht davon aus, dass Menschen
aktive Wesen sind, die nach positiver Entwicklung streben? 4 Was ist das Ziel der kognitiven Neurowissenschaften? 5 Wie ergänzen sich die evolutionäre und die kulturver-
gleichende Perspektive?
Was machen Psychologen eigentlich?
1.3
Sie wissen jetzt hinreichend viel über Psychologie, um Fragen zu formulieren, welche die ganze Bandbreite psychologischer Fragestellungen abdecken. Wenn Sie eine solche Frageliste erstellen, dann werden Sie mit den Spezialgebieten einer Vielzahl von Personen in Berührung kommen, die sich als Psychologen bezeichnen. In 씰 Tabelle 1.2 zeigen wir Ihnen unsere eigene Fassung solcher Fragen und geben Hinweise darauf, welche Art von Psychologen sich damit beschäftigen. Wenn Sie die Zeit finden, dann erstellen Sie Ihre eigene Frageliste. Machen Sie einen Haken hinter jede Frage, wenn das vorliegende Buch sie beantwortet. Wenn Sie die Tabelle betrachten, werden Ihnen die zahlreichen verschiedenen Sparten im Berufsbild des Psychologen auffallen. Manche dieser Bezeichnungen beziehen sich auf den hauptsächlichen Gegenstand der Tätigkeit: So befassen sich etwa kognitive Psychologen mit den kognitiven oder Erkenntnisprozessen wie Gedächtnis und Sprache; Sozialpsychologen konzentrieren sich auf die sozialen Faktoren, die Einstellungen und Verhalten des Menschen prägen. Andere Bezeichnungen beziehen sich auf das Anwendungsgebiet der jeweiligen Fachrichtung: Arbeits- und Organi-
18
sationspsychologen beispielsweise arbeiten an der Verbesserung des Verhältnisses von Mensch und Arbeit; Schulpsychologen befassen sich mit dem Verhältnis von Schüler zu Schule. Psychologen aller Fachgebiete wahren in ihrer Arbeit ein Gleichgewicht zwischen Forschung – der Gewinnung neuer Erkenntnisse – und Anwendung – der Nutzung dieser Erkenntnisse. Diese zwei Aspekte ihrer Tätigkeit sind ohne einander nicht denkbar. So stellen wir uns zum Beispiel klinische Psychologen oft als Menschen vor, die psychologisches Wissen anwenden, um die Lebensqualität anderer Menschen zu verbessern. Wie wir allerdings in Kapitel 14 und 15 sehen werden, haben klinische Psychologen auch eine wichtige Funktion in der Forschung. Die gegenwärtige Forschung verbessert ständig unser diagnostisches Verständnis der verschiedenen psychischen Erkrankungen und der Behandlungsmethoden, die dem Patienten am besten helfen. Vielleicht haben Sie sich die Frage gestellt, wie viele Psychologen weltweit diesen Beruf ausüben? Schätzungen nennen eine Zahl deutlich über 500.000. 씰 Abbildung 1.2 vermittelt einen Eindruck von den verschiedenen Arbeitsgebieten für Psychologen und ihrer Verteilung. Obwohl der prozentuale Anteil an Psychologinnen und Psychologen in den westlichen Industrienationen am größten ist, steigt das Interesse an Psychologie in vielen Ländern kontinuierlich an. Unter dem Dach der International Union of Psychological Science sind Mitgliedsorganisationen aus mehr als 70 Ländern vereint (Ritchie, 2004). Die amerikanische Psychologen-Vereinigung American Psychological Association (APA) zählt gegenwärtig mehr als 150.000 Mitglieder aus allen Teilen der Welt. Eine zweite internationale Organisation, die Association for Psychological Science (APS), mit mehr als 14.000 Mitgliedern, konzentriert sich stärker auf wissenschaftliche Aspekte der Psychologie und weniger auf die klinischen und Anwendungsaspekte. In Deutschland entspricht diese Zweiteilung der Existenz des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP; klinische und Anwendungsaspekte: http://www.bdp-verband.org) und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs; akademische Aspekte: http://www.dgps.de). Es wird Sie vielleicht nicht überraschen zu hören, dass Forschung und Praxis der Psychologie in ihrer frühen Geschichte von Männern dominiert wurden. Auch wenn sie noch gering an Zahl waren, leisteten Frauen dennoch einen wichtigen Beitrag zu dem Gebiet (Russo & Denmark, 1987; Scarborough & Furomoto, 1987). Im Jahre 1894 beendete Margaret Washburn
1.3 Was machen Psychologen eigentlich?
Tabelle 1.2
Die Unterschiedlichkeit psychologischer Fragestellungen Die Frage
Wer beschäftigt sich damit?
Forschungsschwerpunkte und praktische Anwendung
Wie können Menschen besser mit Alltagsproblemen umgehen?
Klinische Psychologen, Beratungspsychologen, Psychiater
Untersuchung der Ursachen psychischer Störungen und Evaluation von Behandlungsmöglichkeiten; Erstellung einer Diagnose und Behandlung von psychischen Störungen
Wie bewältige ich die Folgeeffekte eines Schlaganfalls?
Rehabilitationspsychologen
Diagnose und Beratung für Menschen mit Traumata, Krankheiten oder Behinderungen; Angebot von Strategien des Umgangs mit den Folgen und Anleitung betroffener Individuen, des Pflegepersonals und der Arbeitgeber
Wie werden Gedächtnisinhalte gespeichert?
Biologische Psychologen, Psychopharmakologen
Untersuchung der biochemischen Grundlagen von Verhalten, Gefühlen und mentalen Prozessen
Wie kann man einem Hund beibringen, dass er auf Kommandos hört?
Experimentelle Psychologen, Verhaltensanalytiker
Untersuchung grundlegender Prozesse von Lernen, Empfinden, Wahrnehmung, Emotion und Motivation mithilfe von Laborexperimenten, häufig mit nicht menschlichen Probanden
Warum kann ich mich nicht immer an Informationen erinnern?
Kognitive Psychologen, Kognitionswissenschaftler
Untersuchung mentaler Prozesse wie Gedächtnis, Wahrnehmung, logisches Denken, Problemlösen, Entscheidungsfindung und der Verwendung von Sprache
Was unterscheidet den einen Menschen vom anderen?
Persönlichkeitspsychologen, Verhaltensgenetiker
Entwicklung von Tests und Theorien zum besseren Verständnis von Unterschieden bei Individuen und Verhaltensweisen; Untersuchung des Einflusses von Genen und Umwelt auf diese Unterschiede
Wie funktioniert „Gruppendruck“?
Sozialpsychologen
Untersuchung der Art und Weise, wie Menschen in sozialen Gemeinschaften funktionieren, sowie der Prozesse, mithilfe derer sie soziale Informationen selektieren, interpretieren und speichern
Was wissen Babys von der Welt?
Entwicklungspsychologen
Untersuchung der Veränderungen von physischen, kognitiven und sozialen Funktionen in unterschiedlichen Lebensabschnitten; Untersuchung des Einflusses von Genen und Umwelt auf diese Veränderungen
Warum ruft meine Arbeit depressive Verstimmungen hervor?
Arbeits- und Organisationspsychologen
Untersuchung der Faktoren, die Leistung und Motivation in einer größeren Arbeitsumgebung steuern; Anwendung der Ergebnisse am Arbeitsplatz
Wie sollten Lehrer mit Schülern umgehen, die ständig stören?
Pädagogische Psychologen, Schulpsychologen
Untersuchung von Verbesserungsmöglichkeiten für verschiedene Aspekte des Lernens; Beratung beim Entwurf von Lehrplänen, Programmen zur Lehrerfortbildung und Förderprogrammen für Kinder
Warum ist mir vor jeder Prüfung übel?
Klinische Psychologen, Gesundheitspsychologen
Untersuchung der Art und Weise, wie unterschiedliche Lebensstile die physische Gesundheit beeinflussen; Entwurf und Evaluation von Maßnahmen, die den Menschen bei der Vermeidung ungesunder Lebensweisen und bei der Bewältigung von Stress helfen
War die Angeklagte psychisch gestört, als sie das Verbrechen beging?
Forensische Psychologen
Anwendung psychologischer Erkenntnisse in juristischen Fällen
Warum bekomme ich bei wichtigen Fußballspielen immer Atemnot?
Sportpsychologen
Beurteilung der Leistung von Sportlern und die Verwendung von Motivations-, Kognitions- und Verhaltensmodellen, um ihnen zu Spitzenleistungen zu verhelfen
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1
Psycho l o g i e al s Wi ssen sc h aft
Arbeits- und Organisationsbereich Eigene Praxis
Schulen und andere Bildungseinrichtungen Diverse 8,5
6,3 4,2 33,6 28,0 19,4
Forschung und Lehre
Kliniken und Beratungsstellen
Entwicklungspsychologinnen benutzen Puppen oder andere Spielzeuge, um zu untersuchen, wie Kinder sich verhalten, denken oder fühlen. Warum könnte es für ein Kind leichter sein, seine Gedanken einer Puppe als einem Erwachsenen mitzuteilen?
als erste Frau ihre Studien an der Cornell University mit einem Doktorgrad in Psychologie. Sie hat in der Folge ein einflussreiches Lehrbuch, The Animal Mind, geschrieben. Im Jahre 1895 erfüllte Mary Calkins die entsprechenden Anforderungen an der elitären Harvard University mit Bestleistungen. Dennoch weigerte sich damals die Universitätsleitung von Harvard, den Doktortitel einer Frau zu verleihen. Trotz dieses Affronts wurde Calkins eine erfolgreiche Forscherin und die erste weibliche Präsidentin der American Psychological Association. Anna Freud, die wir zuvor schon mit ihrem Vater auf einer Urlaubsreise zeigten, leistete
viel für wichtige Fortschritte der Psychoanalyse, einer Therapieform, die auf der psychodynamischen Perspektive beruht. Charlotte Bühler, in den 20er Jahren bereits Professorin, leistete vor und nach ihrer Emigration aus Nazi-Deutschland Beachtliches als Entwicklungspsychologin und Therapeutin und kann als Mitbegründerin der Humanistischen Psychologie gelten. Wir werden die Pioniertätigkeiten von Forscherinnen im Laufe des Buches immer wieder hervorheben. In der zeitgenössischen Psychologie teilen sich Männer und Frauen die lohnende Aufgabe, Theorien und Anwendungen voranzutreiben. Wie 씰 Abbildung 1.3
Abbildung 1.3: Prozent an Doktorgraden, die an Frauen verliehen wurden. Der Verlauf der letzten 30 Jahre: Mittlerweile bilden Frauen knapp die Hälfte der doktoralen Graduierungen (Quelle: Statistisches Bundesamt).
20
Anteil Frauen mit Promotionsabschluss (Prozent)
Abbildung 1.2: Arbeitsgebiete von Psychologen. Prozentanteile der Arbeitsgebiete von Psychologinnen und Psychologen, die einen Doktorgrad in Psychologie besitzen und der American Psychological Association (APA) angeschlossen sind.
60 49,39
50 40 30
36,37 28,84
20 10 0 1973–1982 Früheres Bundesgebiet
1983–1992 Früheres Bundesgebiet
1993–2002 Deutschland
Zusammenfassung
zeigt, wird in Deutschland knapp die Hälfte der Doktorgrade in der Psychologie – der Titel für fortgeschrittene Forschungsarbeiten, den wissenschaftliche Nachwuchskräfte meistens erwerben – nun an Frauen vergeben (Quelle: Statistisches Bundesamt). Indem die Psychologie weiterhin einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung des Menschen leistet, fühlen sich immer mehr Menschen – Frauen und Männer, Mitglieder aller Teile der Gesellschaft – zu diesem Beruf hingezogen.
ZWISCHENBILANZ 1 Welches Verhältnis besteht zwischen Forschung und
praktischer Anwendung? 2 In welchen beiden Bereichen sind die meisten Psycho-
logen beschäftigt? Margaret Washburn erwarb 1894 als erste Frau in den USA einen Doktorgrad in Psychologie. Später schrieb sie ein wichtiges Lehrbuch, The Animal Mind (1908). Welchen Schwierigkeiten könnte sie als eine der ersten Frauen im Forschungsbetrieb gegenüber gestanden haben?
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Psycho l o g i e al s Wi ssen sc h aft
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Was macht Psychologie einzigartig? Psychologie ist die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens und der mentalen Prozesse von Individuen.
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Was machen Psychologen eigentlich? Psychologen arbeiten in einer Vielzahl von Umgebungen und nutzen Expertise aus einer ganzen Bandbreite von Spezialgebieten. Nahezu jede Fragestellung aus dem Bereich der Alltagserfahrungen wird von Mitgliedern des Berufsstandes der Psychologen bearbeitet. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde der Beruf des Psychologen internationaler in seiner Ausrichtung und erfuhr eine Ausdifferenzierung in Praxis und Forschung.
Nach der behavioristischen Perspektive ist Verhalten durch externe Stimulusbedingungen determiniert.
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Die kulturvergleichende Perspektive untersucht Verhalten und seine Interpretation im kulturellen Kontext.
Die psychodynamische Perspektive betrachtet Verhalten als getrieben durch Instinktkräfte, innere Konflikte sowie bewusste und unbewusste Motive.
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Die evolutionäre Perspektive betrachtet Verhalten als etwas, das sich zur Anpassung an die Umwelt entwickelt hat.
Zusammen genommen bildeten diese Theorien die Agenda der modernen Psychologie. Jeder der sieben zeitgenössischen Ansätze zu psychologischen Untersuchungen unterscheidet sich in seinem Menschenbild, den Determinanten des Verhaltens, dem Hauptaugenmerk der Untersuchungen und dem bevorzugten Forschungsansatz.
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Die biologische Perspektive untersucht Beziehungen zwischen Verhalten und Mechanismen des Gehirns.
Funktionalismus wurde durch James und Dewey ent wickelt und betont die Absicht hinter dem Verhalten.
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Die kognitive Perspektive unterstreicht mentale Prozesse, die Verhaltensreaktionen beeinflussen.
Die Entwicklung der modernen Psychologie Strukturalismus entstand aus den Arbeiten von Wundt und Titchener. Er betonte die Struktur des Geistes und Verhalten, das sich aus elementaren Empfindungen zusammensetzt.
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Die humanistische Perspektive betont die einem Individuum innewohnende Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen.
Die Ziele der Psychologie bestehen darin, zu beschreiben, zu erklären, vorherzusagen und zu helfen, Verhalten zu kontrollieren.
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1.1 Die Inhalte des Bewusstseins
SCHLÜSSELBEGRIFFE Schlüsselbegriffe sind innerhalb des Kapitels in Fettdruck gesetzt, so dass sie beim Lesen sofort ins Auge fallen. Wie Sie hier sehen, werden sie am Ende jedes Kapitels zusammen mit der Seitennummer aufgelistet, auf der sie zuerst auftauchen. Wenn Sie sich auf Prüfungen vorbereiten, dann stellen Sie sicher, dass Sie jeden Begriff definieren können. Zusätzlich sind alle Schlüsselbegriffe am Ende des Buches im Glossar alphabetisch aufgelistet und definiert. Das Glossar liefert Definitionen der Schlüsselbegriffe und zeigt die Seitenzahlen ihres Erscheinens. Sie können es zum Auffrischen Ihres Gedächtnisses benutzen.
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Behaviorismus (S. 12) Behavioristische Perspektive (S. 11) Biologische Perspektive (S. 13) Dispositionelle Variablen (S. 5) Evolutionäre Perspektive (S. 14) Funktionalismus (S. 10) Humanistische Perspektive (S. 12) Kognitive Neurowissenschaftten (S. 14) Kognitive Perspektive (S. 13) Kulturvergleichende Perspektive (S. 15) Organismische Variablen (S. 5) Psychodynamische Perspektive (S. 11) Psychologie (S. 2) Situationale Variablen (S. 5) Strukturalismus (S. 9) Umweltvariablen (S. 5) Verhalten (S. 2) Verhaltensbezogene Neurowissenschaften (S. 14) Verhaltensdaten (S. 4) Wissenschaftliche Methode (S. 2)
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Forschungsmethoden der Psychologie .....................
2.1.1 Beobachterabhängige Urteilsverzerrung und operationale Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Experimentelle Methoden: Alternativerklärungen und die Notwendigkeit von Kontrollbedingungen. . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Korrelationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Unterschwellige Beeinflussung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologie im Alltag: Kann eine Meinungsumfrage Ihre Einstellungen beeinflussen? . . . . . . . . . . . .
2.2 Psychologische Messung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Wie erreicht man Reliabilität und Validität? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Selbstberichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Verhaltensmaße und Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Ethische Grundsätze der Forschung an Mensch und Tier
28 31 35 36
38 39 39 40 40
...... Freiwillige Zustimmung nach Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiko-/Nutzen-Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorsätzliche Täuschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschlussgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Themen in der Tierforschung: Wissenschaft, Ethik, Politik. . . . . .
43 44 44 44 45 45
2.4 Wie wird man ein mündiger Forschungsrezipient? . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Wie können Sie psychologische Informationen im Internet bewerten? . . . . . .
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2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
2
26
............................................
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.............................................
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Ü B E R B L I C K
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
2
F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
I
n Kapitel 1 haben wir Sie gebeten, eine Liste mit Fragen zu erstellen, die Sie am Ende Ihrer Lektüre von Psychologie gern beantwortet sähen. Studierende, die bereits mit dem Buch gearbeitet haben, reagierten auf diese Aufforderung mit einer Reihe interessanter Fragestellungen, wie etwa: Warum „brennt“ scharfes Essen? Schadet Ihren Kindern ein Klaps auf den Hintern? Kann die Psychologie mir bei der Berufswahl helfen? Ist Fernsehwerbung am späten Abend überhaupt wirksam? Im vorliegenden Kapitel beschreiben wir, wie Psychologen zu Antworten auf die Fragen kommen, die Ihnen wichtig sind. Wir konzentrieren uns dabei auf die besondere Art und Weise, mit der die Psychologie die wissenschaftliche Methodik auf ihr Forschungsgebiet anwendet. Sie sollten verstehen, wie Psychologen ihre Forschung planen: Wie können aus den komplexen und oft ungenauen Phänomenen, welche Psychologen untersuchen – unser Denken, Fühlen und Handeln –, jemals sichere Schlussfolgerungen gezogen werden? Auch für jemanden, der nie in seinem Leben wissenschaftliche Forschung betreiben wird, kann es nützlich sein, dieses Kapitel durchzuarbeiten. Der Hauptzweck des Kapitels ist es, die Fähigkeit zu kritischem Nachdenken zu verbessern, die richtigen Fragen zu vermitteln und die Antworten auf Fragen zu den Ursachen, Folgen und Korrelaten psychologischer Phänomene zu bewerten. Die Medien veröffentlichen ständig Beiträge, die mit „Die Forschung zeigt, dass …“ beginnen. Wer seine rationale Skepsis schärft, wird ein mündiger Rezipient der forschungsbasierten Schlussfolgerungen, die uns im Alltag begegnen.
Der psychologische Forschungsprozess
2.1
Der psychologische Forschungsprozess kann in mehrere Schritte unterteilt werden, die für gewöhnlich aufeinander folgen (씰 Abbildung 2.1). Der erste Schritt im Prozess besteht typischerweise darin, dass Beobachtungen, Überzeugungen, Informationen und Allgemeinwissen jemanden auf eine neue Idee bringen oder ihm eine neue Sichtweise auf ein Phänomen ermögli-
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chen. Woher kommen die Fragen der Forscher? Einige entstehen aufgrund direkter Beobachtung von Ereignissen, Menschen und anderen Lebewesen in der Umwelt. Ein weiterer Teil der Forschung widmet sich traditionellen Forschungsgegenständen: Einige Themen werden als „große ungelöste Fragen“ betrachtet, die von einer älteren Forschungsgeneration weitergereicht wurden. Oft kombinieren Forscher auch alte Ideen auf einzigartige Weise, um so neue Sichtweisen zu erschließen. Das Wahrzeichen der wirklich großen Denker ist die Entdeckung einer neuen Wahrheit, die Wissenschaft und Gesellschaft eine neue, bessere Richtung gibt. Wenn Psychologen Informationen über bestimmte Phänomene sammeln, dann entwerfen sie Beweise, die einen wichtigen Kontext für die Formulierung neuer Forschungsfragen darstellen. Eine Theorie ist eine geordnete Menge von Begriffen und Aussagen, die ein Phänomen oder eine Gruppe von Phänomenen erklärt. Die gemeinsame Grundlage der meisten psychologischen Beweise ist die Annahme des Determinismus, das heißt die Annahme, dass alle Ereignisse, gleich ob physikalischer, geistiger oder behavioraler Natur, das Ergebnis von spezifischen Kausalfaktoren sind oder von diesen bestimmt werden. Diese Kausalfaktoren sind auf das Individuum oder dessen Umgebung begrenzt. Man geht auch davon aus, dass Verhalten und mentale Prozesse regelmäßigen Mustern von Zusammenhängen folgen und dass diese Muster durch Forschung entdeckt und offen gelegt werden können. Wenn in der Psychologie eine Theorie aufgestellt wird, erwartet man für gewöhnlich von ihr, dass sie sowohl
Wissenschaftliche Beweise müssen einer strengen Überprüfung standhalten, deren Ergebnisse wiederum von unabhängigen Forschern repliziert werden müssen, bevor eine Theorie als bestätigt gilt.
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
bekannte Fakten erklärt als auch, in einem zweiten Schritt im Forschungsprozess, auch neue Hypothesen generiert. Eine Hypothese ist eine vorläufige und überprüfbare Aussage über den Zusammenhang zwischen Ursachen und Folgen. Hypothesen werden oft als Wenn-dann-Vorhersagen formuliert, in denen bestimmte Ergebnisse aufgrund spezifischer Bedingungen erwartet werden. Wir könnten zum Beispiel vorhersagen: Wenn Kinder sehr viel Gewalt im Fernsehen sehen, dann werden sie mehr aggressive Handlungen gegenüber ihren Spielkameraden ausführen. Um die Wenndann-Beziehung zu bestätigen, muss geforscht werden. Beweise sind von grundlegender Bedeutung für die Generierung neuer Hypothesen. Falls wissenschaftliche Daten einer Hypothese nicht entsprechen, müssen Forscher einzelne Aspekte ihrer Beweise überdenken. Insofern besteht ein ständiger Austausch zwischen Theorie und Forschung. In einem dritten Schritt greifen Forscher dann auf die wissenschaftliche Methode zurück, um ihre Hypothesen zu überprüfen. Die wissenschaftliche Methode ist eine allgemein gültige Sammlung von Vorgehensweisen, um Ergebnisse so zu gewinnen, dass Fehlerquellen minimiert und verlässliche Schlussfolgerungen gezogen werden können. Die Psychologie wird als eine Wissenschaft betrachtet, weil und so weit sie der wissenschaftlichen Methode folgt. Ein großer Teil dieses Kapitels ist der Beschreibung dieser Methode gewidmet. Wenn die Daten gesammelt sind, folgt ein vierter Schritt, in dem die Daten analysiert und Schlüsse daraus gezogen werden. Wenn die Forscher davon ausgehen, dass ihre Ergebnisse Auswirkungen auf das Forschungsgebiet haben, reichen sie diese in einem fünften Schritt als Fachartikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Veröffentlichung ein. Damit eine Veröffentlichung möglich wird, müssen die Forscher alle ihre Beobachtungen und Analysen in einer Form dokumentieren, die es anderen Forschern ermöglicht, sie nachzuvollziehen und zu bewerten. Geheimniskrämerei ist im Forschungsprozess nicht akzeptabel, weil alle Daten und Methoden schließlich der öffentlichen Überprüfbarkeit zugänglich sein müssen. Andere Forscher müssen die Gelegenheit haben, die Daten und Methoden zu inspizieren, zu kritisieren, zu replizieren oder zu widerlegen (mehr dazu finden Sie im Kasten Kritisches Denken im Alltag auf Seite 47). Im sechsten Schritt des Forschungsprozesses diskutiert die Wissenschaftsgemeinde die vorgelegten Ergebnisse und ermittelt, welche Fragen die Arbeit noch offen lässt. Die meisten Forschungsaufsätze initiieren diese Diskussion in einem entsprechenden Abschnitt,
Schritt
1 Schritt
2 Schritt
3 Schritt
4 Schritt
5 Schritt
6 Schritt
7
Anfängliche Beobachtung oder Frage
Erfolgreiche Ballspieler berichten, dass der Ball für sie größer wirke.
Hypothesenbildung
Spieler, denen der Ball größer erscheint, erzielen bessere Spielergebnisse.
Konzeption der Untersuchung
Spielern wurde eine Grafik mit acht schwarzen Kreisen gezeigt und sie sollten den Kreis bezeichnen, der ihrer Meinung nach der Größe eines Softballs entsprach. Die Spieler stellten auch Daten zur Verfügung, die den Forschern die Ermittlung ihrer Spielstärke ermöglichten.
Datenauswertung und Schlussfolgerungen
Die Daten ergaben, dass Spieler mit höherer Spielstärke tendenziell größere Kreise als die zutreffende Softballgröße auswählten.
Veröffentlichung der Ergebnisse
Der Aufsatz erschien in der renommierten Fachzeitschrift Psychological Science.
Diskussion der ungelösten Fragen
Lösung offener Fragen
Der Abschnitt „Diskussion” im Aufsatz nennt eine Reihe weiter gehender Fragestellungen, so zum Beispiel, ob den Spielern der Ball bereits vor oder erst nach einer Steigerung ihrer Spielstärke größer erscheint. Die Autoren der Studie oder ihre Kollegen können neue Forschungen angehen, um die noch offenen Fragen zu klären.
Abbildung 2.1: Die Abfolge der Schritte von Forschung und Veröffentlichung. Um die einzelnen Schritte des Forschungsprozesses zu veranschaulichen, nehmen wir eine Studie als Beispiel, die einen Zusammenhang zwischen den Spielergebnissen von Softballspielern und ihrer Größenwahrnehmung des Balls suchte (Witt & Proffitt, 2005). in dem die Autoren Implikationen und Grenzen ihrer Argumentation aufführen. Sie beschreiben vielleicht auch schon die Richtung künftiger Forschung, die sich anschließen könnte. Wenn die Daten eine Hypothese
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2
F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
nicht widerspruchsfrei stützen, müssen die Autoren die entsprechenden Aspekte ihrer Beweise überdenken. So ergibt sich eine dauernde Wechselwirkung zwischen Theorie und Forschung. In einem siebten Schritt werden sich die Autoren des Aufsatzes oder ihre Kollegen eventuell offener Fragen annehmen und den Forschungsprozess in eine neue Phase führen. Dieser Forschungsprozess basiert auf einer angemessenen Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Das Ziel der wissenschaftlichen Methode ist es, Schlussfolgerungen mit möglichst großer Objektivität ziehen zu können. Schlussfolgerungen sind objektiv, wenn sie von den Emotionen und der beobachterabhängigen Urteilsverzerrung (persönlichen Voreingenommenheit) der Forschenden unbeeinflusst sind. Die beiden nächsten Abschnitte beginnen jeweils mit einer möglichen Gefährdung der Objektivität und beschreiben dann die Gegenmaßnahme der wissenschaftlichen Methode.
2.1.1 Beobachterabhängige Urteilsverzerrung und operationale Definitionen Wenn verschiedene Menschen die gleichen Ereignisse beobachten, „sehen“ sie nicht immer das Gleiche. In diesem Abschnitt beschreiben wir das Problem der beobachterabhängigen Urteilsverzerrung und die Schritte, die Forscher einleiten, um dem entgegenzuwirken. Die Herausforderung an die Objektivität Eine beobachterabhängige Urteilsverzerrung (im Englischen: observer bias) ist ein Fehler, der durch persönliche Motive und Erwartungen des Betrachters entsteht. Manchmal sehen und hören Menschen statt der Tatsachen eher das, was sie erwarten. Betrachten wir ein recht drastisches Beispiel für eine solche Urteilsverzerrung. Etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielt ein bedeutender Psychologe, Hugo Münsterberg, eine Rede zum Thema Frieden vor einer großen Zuhörerschaft, in der sich auch viele Journalisten befanden. Er fasste ihre Berichte über das, was sie sahen und hörten, folgendermaßen zusammen. Die Journalisten saßen unmittelbar vor der Rednerbühne. Ein Mann schrieb, dass die Zuhörer so überrascht von meiner Rede waren, dass sie ihr in völligem Schweigen lauschten; ein anderer schrieb, dass ich ständig durch lauten Beifall unterbrochen wurde und dass
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am Ende meiner Rede der Beifall minutenlang andauerte. Der eine schrieb, dass ich während der Rede meines Gegenübers ständig lächelte. Dem anderen fiel auf, dass mein Gesicht ernst blieb und keine Spur eines Lächelns zeigte. Der eine sagte, dass ich vor Aufregung rot anlief, der andere sagte, dass ich leichenblass wurde. (1908, S. 35–36) Es wäre interessant, die ursprünglichen Zeitungsartikel herauszusuchen und nachzusehen, wie die Berichte der Reporter in Beziehung zu ihren politischen Überzeugungen stehen. Vielleicht könnten wir dann verstehen, warum die Reporter „sahen“, was sie sahen. In einem psychologischen Experiment würden wir nicht erwarten, dass die Unterschiede zwischen verschiedenen Betrachtern so extrem sind wie die Unterschiede, von denen Münsterberg berichtet. Dessen ungeachtet zeigt das Beispiel, wie dieselben Befunde verschiedene Betrachter zu verschiedenen Schlussfolgerungen veranlassen können. Die Voreingenommenheit der Betrachter und ihre daraus resultierende Urteilsverzerrung wirken dabei als Filter, durch den einige Sachverhalte als relevant und bedeutend bemerkt werden, während andere Aspekte als irrelevant und bedeutungslos angesehen und ignoriert werden. Sie sollten an dieser Stelle das Beispiel in 씰 Abbildung 2.2 ausprobieren, um einen Eindruck davon zu erhalten, wie leicht es ist, eine beobachterabhängige Urteilsverzerrung zu produzieren. Diese kleine Demonstration gibt Ihnen einen Eindruck davon, wie die Erfahrungen, die man vor einer Beobachtung machte, beeinflussen, wie man das Gesehene letztlich interpretiert.
Teilnehmer unterliegen genau wie Zuschauer im Stadion und vor dem Bildschirm einer beobachterabhängigen Urteilsverzerrung. Wie kann man feststellen, was wirklich passiert ist?
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
Sehen Sie sich das Glas in dieser Zeichnung an. Wie würden Sie die klassische Frage beantworten: Ist das Glas halbvoll oder halb leer?
Nehmen Sie jetzt an, Sie sähen diese Sequenz, in der Wasser in das Glas gegossen wird. Würden Sie das Glas jetzt nicht wahrscheinlich als halb voll bezeichnen?
Angenommen, Sie sähen die Sequenz, in der das Wasser entfernt wird. Erscheint das Glas jetzt nicht halb leer?
Abbildung 2.2: Beobachterabhängige Urteilsverzerrung. Ist das Glas halb leer oder halb voll? Wenden wir das soeben Veranschaulichte auf die Vorgänge in einem psychologischen Experiment an. Zu den Aufgaben des Forschers gehört es oft, Beobachtungen zu machen. Unter der Annahme, dass jeder Betrachter unterschiedliche Vorerfahrungen in die Beobachtung einbringt – und diese Vorerfahrungen nicht selten den Glauben an eine bestimmte Theorie enthalten –, kann die beobachterabhängige Urteilsverzerrung offensichtlich zum Problem werden. Was können Forscher tun, um sicherzustellen, dass ihre Beobachtungen nur minimal von vorher bestehenden Erwartungen beeinträchtigt werden? Die Gegenmaßnahme Um die beobachterabhängige Urteilsverzerrung zu minimieren, verlassen sich Forscher auf Standardisierung und operationale Definitionen. Standardisierung bedeutet, dass bei allen Stufen der Datengewinnung einheitliche und konsistente Verfahren benutzt werden. Alle Merkmale des jeweiligen Tests oder Experiments sollten hinreichend standardisiert sein, so dass alle Probanden den genau gleichen Bedingungen ausgesetzt werden. Standardisierung heißt, immer die
gleichen Fragen zu stellen und die Antworten nach vorgeschriebenen Regeln auszuwerten. Die schriftliche oder akustische Dokumentation der Ergebnisse trägt dazu bei, ihre Vergleichbarkeit zu anderen Zeitpunkten an anderen Orten, mit anderen Probanden und Versuchsleitern sicherzustellen. Die Beobachtungen selbst müssen auch standardisiert werden: Das von den Wissenschaftlern zu lösende Problem ist die Übertragung ihrer Beweise in Begriffe mit gleich bleibender Bedeutung. Das Verfahren zur Standardisierung der Bedeutung von Konzepten heißt Operationalisierung. Eine operationale Definition standardisiert die Bedeutung innerhalb eines Experiments, indem ein Konzept durch die spezifischen Methoden zur Messung des Konzepts oder zur Bestimmung seines Auftretens definiert wird. Alle Variablen innerhalb eines Experiments müssen operational definiert sein. Eine Variable ist jeder Faktor, der sich in Menge oder Art verändert. In einem Experiment wollen Wissenschaftler meist einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen zwei Arten von Variablen nachweisen. Die unabhängige Variable ist jener Faktor, den der Wissenschaftler verändert – sie fungiert im Experiment als Ursache. Die Wirkung zeigt sich dann an der abhängigen Variablen, die der Wissenschaftler misst. Wenn seine Hypothese zum Ursache-Wirkungs-Zusammenhang richtig ist, dann muss der Wert der abhängigen Variablen von jenem der unabhängigen Variablen abhängen. Stellen wir uns vor, Sie wollen die vorhin erwähnte Hypothese testen: Wenn Kinder sehr viel Gewalt im Fernsehen sehen, dann werden sie mehr aggressive Handlungen gegenüber ihren Spielkameraden ausführen. Sie könnten ein Experiment entwerfen, bei dem die Menge an Gewalt, die jeder Proband sieht, manipuliert wird (unabhängige Variable). Anschließend soll bewertet werden, wie viel Aggression diese Person zeigte (abhängige Variable). Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um diese neuen Konzepte im Kontext eines Experiments zu erproben. Die Studie, die wir hier beschreiben wollen, geht von der Beobachtung aus, dass man die Welt in „Morgenmenschen“ – die Art von Leuten, die sich am besten fühlen, wenn sie ihre Aufgaben morgens erledigen können – und die anderen einteilen kann, die definitiv keine Morgenmenschen sind. Die meisten Studierenden sind übrigens keine Morgenmenschen! Die Forschung hat gezeigt, dass diese Selbsteinschätzungen zutreffen: In Laborversuchen erwiesen sich die Probanden meistens zu den Tageszeiten als am leistungsfähigsten, die sie zu bevorzugen angaben (Yoon et al., 1999). Aber warum eigentlich? Eine Theorie lautet,
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2
F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
dass die Leistungsfähigkeit zur „falschen“ Tageszeit geringer ist, weil die Betreffenden an einem allgemeinen Tiefstand physiologischer Erregung oder Aufmerksamkeit leiden. Das führt zu einer Hypothese: Könnte man die physiologische Erregung in der „falschen“ Tageszeit verbessern, sollten sich auch die Leistungsprobleme verringern oder aufhören. In 씰 Abbildung 2.3 stellen wir ein Experiment vor, das diese Hypothese untersuchte (Ryan et al., 2002). Der Versuch konzentrierte sich auf ältere Erwachsene (65 Jahre oder älter). Anders als in jüngeren Jahren sind die meisten älteren Erwachsenen Morgenmenschen. In dieser Studie wollten die Experimentatoren sicher gehen, dass alle Probanden Morgenmenschen waren. Deshalb ließen sie alle Teilnehmer den Fragenbogen zum Chronotypen (Morningness-Eveningness Questionnaire) ausfüllen – ein Instrument, mit dem sich Menschen auf einer Skala von „absoluter Morgenmensch“ bis „absoluter Abendmensch“ einordnen lassen (Horne & Ostberg, 1976). An dem Experiment nahmen dann nur Menschen teil, die mindestens „mäßige“ Morgenmenschen waren. Als Nächstes brauchten die Forscher ein Verfahren, um die unabhängige Variable zu ändern – die physiologische Erregung. Wie Abbildung 2.3 zeigt, setzten sie eine Ihnen vermutlich vertraute Prozedur ein: Eine Gruppe trank koffeinhaltigen Kaffee, die andere koffeinfreien. Die Teilnehmer wussten dabei nicht, welche Art Kaffee sie bekamen. Die Forscher prognostizierten, dass das Koffein die physiologische Erregung erhöhen würde, die ihrerseits auf die Leistungsfähigkeit der Probanden zur „falschen“ Tageszeit rückwirken wür-
den. Um die abhängige Variable – die Leistungsfähigkeit – zu messen, gaben sie den Versuchspersonen auf, eine Liste von 16 Wörtern auswendig zu lernen. 20 Minuten später wurde dann ein Gedächtnistest durchgeführt. Die Probanden erhielten Listen und Gedächtnistests einmal am Morgen (8 Uhr) und einmal am Nachmittag (16 Uhr) in 5 bis 11 Tage auseinander liegende Sitzungen. Wie Sie in Abbildung 2.3 sehen können, erbrachte die unabhängige Variable den vorausgesagten Effekt auf die abhängige Variable. Bei hoher physiologischer Erregung – nachdem die Teilnehmer koffeinhaltigen Kaffee getrunken hatten – war die Leistungsfähigkeit unabhängig von der Tageszeit jeweils etwa gleich hoch. Ohne das Koffein lag sie am Nachmittag niedriger. Wie bei allen Forschungsergebnissen müssen wir festhalten, was wir jetzt wissen. Die Theorie wird in verallgemeinerten Begriffen formuliert: Es gibt eine Beziehung zwischen physiologischer Erregung und der erbrachten Leistung. Allerdings benutzt das Experiment die spezifische unabhängige Variable „Koffeinkonsum“ und die spezifische abhängige Variable „Gedächtnisleistung“ stellvertretend für „physiologische Erregung“ und „erbrachte Leistung“. Versuchen Sie einmal, weitere Arten zu finden, diese zwei Konzepte konkret umzusetzen, um dieselbe Hypothese in anderer Weise zu testen. Vielleicht möchten Sie die physiologische Erregung ohne Koffein manipulieren, um zu zeigen, dass nicht etwa das Koffein magische Kräfte hat. Dieses Anliegen dient uns als Übergang zur Erklärung experimenteller Methoden.
Die Forscher verändern die unabhängige Variable.
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14 12 10 8 6 4 2 Nachmittags 0 Morgens Tageszeit des Tests
Teilnehmer trinken koffeinhaltigen Kaffee.
Anzahl richtiger Wörter
Die Forscher messen die abhängige Variable.
Anzahl richtiger Wörter
Teilnehmer trinken koffeinfreien Kaffee.
14 12 10 8 6 4 2 Nachmittags 0 Morgens Tageszeit des Tests
Abbildung 2.3: Bestandteile eines Experiments. Zur Hypothesentestung werden die unabhängigen und abhängigen Variablen operational definiert.
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
2.1.2 Experimentelle Methoden: Alternativerklärungen und die Notwendigkeit von Kontrollbedingungen Aus der alltäglichen Erfahrung wissen wir, dass für dasselbe Ergebnis verschiedene Ursachen in Frage kommen können. Psychologen stehen vor dem gleichen Problem, wenn sie versuchen, genaue Aussagen über kausale Zusammenhänge zu machen. Um unklare kausale Zusammenhänge aufzuklären, werden experimentelle Methoden verwendet: Eine unabhängige Variable wird manipuliert und ein Einfluss auf eine abhängige Variable gesucht. Ziel dieses Vorgehens ist es, sichere Kausalaussagen über den Einfluss einer Variablen auf eine andere machen zu können. In diesem Abschnitt beschreiben wir das Problem von Alternativerklärungen und die Schritte, die unternommen werden, um diesem Problem zu begegnen. Die Herausforderung an die Objektivität Wenn Psychologen eine Hypothese testen, haben sie oft eine Erklärung parat, weshalb eine Veränderung der unabhängigen Variable die abhängige Variable in einer bestimmten Weise beeinflussen sollte. Zum Beispiel könnten sie vorhersagen und experimentell nachweisen, dass im Fernsehen gesehene Gewalt zu hohem Aggressionsniveau führt. Aber woher weiß man, dass es genau die im Fernsehen gesehene Gewalt war, welche die Aggressionen hervorgerufen hat? Um ihre Hypothese möglichst überzeugend zu unterstützen, müssen Psychologen sehr darauf achten, dass auch mögliche Alternativerklärungen existieren könnten. Je mehr Alternativerklärungen es für ein Ergebnis gibt, desto weniger sicher wird man sich seiner Ausgangshypothese sein. Wenn etwas, das nicht vom Versuchsleiter absichtlich in die Forschungssituation eingebracht wurde, das Verhalten des Probanden verändert und Verwirrung bei der Interpretation der Daten stiftet, nennt man das eine konfundierende Variable. Wenn die wahre Ursache eines beobachteten Verhaltenseffekts konfundiert ist, steht die Interpretation der Daten durch den Versuchsleiter in Frage. Nehmen wir beispielsweise an, Gewaltszenen im Fernsehen seien lauter und enthielten mehr Bewegung als die meisten Szenen ohne Gewaltdarstellung. In diesem Fall wären „Gewalt“ und oberflächliche Eigenschaften der Szenen konfundiert. Der Forscher kann nicht sicher sagen, welcher Faktor allein aggressives Verhalten produziert. Obwohl jedes experimentelle Vorgehen eine Reihe von Alternativerklärungen zulässt, kann man doch zwei Arten konfundierender Variablen identifizieren,
Wird aggressives Verhalten durch im Fernsehen gesehene Gewalt verursacht? Wie könnten Sie das herausfinden? die in fast allen Experimenten auftreten und zu Erwartungseffekten und Placeboeffekten führen. Ungewollte Erwartungseffekte treten auf, wenn ein Forscher oder Betrachter dem Probanden auf subtile Weise mitteilt, welches Ergebnis er erwartet – und so erst die gewünschte Reaktion hervorruft. In einem solchen Fall sind es die Erwartungen des Versuchsleiters und nicht die unabhängige Variable, welche die beobachteten Reaktionen auslösen.
AUS DER FORSCHUNG In einem klassischen Experiment sollten zwölf Studierende jeweils eine Gruppe von Ratten trainieren, durch ein Labyrinth zu laufen. Der Hälfte der Studierenden wurde mitgeteilt, dass ihre Ratten einem speziellen Stamm angehören, der sich in Labyrinthen besonders schlau verhielte. Der anderen Hälfte wurde gesagt, ihre Ratten seien extra so gezüchtet worden, dass sie sich in Labyrinthen besonders dumm verhalten. Wie Sie sich vermutlich denken können, waren in Wirklichkeit alle Ratten gleich. Dessen ungeachtet entsprachen die Ergebnisse der Studierenden deren Erwartungen. Die als klug bezeichneten Ratten erwiesen sich als weitaus lernfähiger als diejenigen, die angeblich dumm waren (Rosenthal & Fode, 1963).
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F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
Wie haben die Studierenden den Ratten ihre Erwartungen wohl mitgeteilt? Ist Ihnen klar, warum Sie sich noch weitaus mehr Gedanken über Erwartungseffekte machen sollten, wenn ein Versuch innerhalb unserer Spezies durchgeführt wird – mit einem menschlichen Versuchsleiter und menschlichen Probanden (siehe auch Bungard, 1988)? Erwartungseffekte verzerren die Ergebnisse, die man gefunden zu haben glaubt. Ein Placeboeffekt tritt auf, wenn Probanden ihr Verhalten ohne irgendeine experimentelle Manipulation verändern. Das Konzept wurde in der Medizin entwickelt, um Fälle erklären zu können, in denen sich der Gesundheitszustand von Patienten verbesserte, nachdem sie ein chemisch unwirksames Medikament oder eine unspezifische Behandlung erhalten hatten. Der Begriff „Placeboeffekt“ bezieht sich auf eine Verbesserung des Gesundheitszustands oder des Wohlbefindens, die auf der Überzeugung des Individuums beruht, dass die Behandlung wirksam sei. Für einige Behandlungsmethoden ohne genuin medizinische Wirksamkeit konnte dementsprechend nachgewiesen werden, dass sie bei 70 Prozent der Patienten, bei denen sie angewendet werden, gute bis ausgezeichnete Ergebnisse erzielen (Roberts et al., 1993). Wenn das Antwortverhalten durch die Erwartungen eines Probanden hinsichtlich dessen, was er fühlen oder tun sollte, beeinflusst wird, spricht man in der psychologischen Forschung von einem Placeboeffekt. Der Einfluss der spezifischen Interventionen oder Verfahren, die angewandt wurden, um das Antwortverhalten zu produzieren, kann durch den Placeboeffekt überdeckt werden. Erinnern Sie sich an Ihr Experiment, welches das Fernsehen mit späterem aggressivem Verhalten verband. Nehmen wir an, wir hätten festgestellt, dass Probanden, die überhaupt nicht ferngesehen hatten, ebenfalls ein hohes Aggressionsniveau zeigten. Man könnte folgern, dass diese Probanden allein dadurch, dass sie in eine Situation gebracht wurden, in der sie aggressives Verhalten zeigen konnten, zu der Annahme gelangten, dass sie aggressives Verhalten zeigen sollten und dass sie dann genau das taten. Forscher müssen immer bedenken, dass ihre Probanden einfach deshalb ihr Verhalten ändern, weil sie wissen, dass sie beobachtet oder getestet werden. So könnten es Probanden beispielsweise als Auszeichnung empfinden, für die Teilnahme an einem Versuch ausgewählt worden zu sein, und sich deshalb anders verhalten, als sie es für gewöhnlich tun würden. Solche Effekte können die Ergebnisse eines Versuchs in Frage stellen.
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Die Gegenmaßnahme Weil menschliches und tierisches Verhalten komplex ist und oft mehrere Ursachen hat, wird ein gutes Forschungsdesign mögliche konfundierende Variablen antizipieren und Strategien enthalten, die zu deren Ausschluss beitragen. Analog zu defensiven Strategien im Sport wird ein gutes Forschungsdesign versuchen, vorherzusagen, was das gegnerische Team tun wird, und Gegenmaßnahmen entwickeln. Die Strategie der Forscher ist die Verwendung von Kontrollbedingungen. Man versucht alle Variablen und Bedingungen konstant zu halten, bis auf diejenigen, die in direktem Zusammenhang mit der zu testenden Hypothese stehen. Die Instruktionen, Zimmertemperatur, Aufgaben, die Kleidung des Versuchsleiters, die zur Verfügung stehende Zeit, die Art und Weise, wie Antworten aufgezeichnet werden und viele andere Details der Experimentalsituation müssen für alle Probanden gleich sein, um sicherzustellen, dass die Erfahrungen aller Probanden gleich sind. Unterschiede in den Erfahrungen der Probanden sollten einzig und allein durch die unabhängige Variable bedingt sein. Sehen wir uns die Gegenmaßnahmen für die beiden vorher erwähnten konfundierenden Variablen, Erwartungseffekte und Placeboeffekte, an. Stellen wir uns vor, Sie hätten das Aggressionsexperiment um eine Probandengruppe erweitert, die Comedysendungen sieht. Es ist für Sie wichtig, die „Comedy“- und die „Gewalt“-Versuchsteilnehmer nicht aufgrund Ihrer Erwartungen unterschiedlich zu behandeln. Daher ist es wünschenswert, dass der Forschungsassistent, der die Probanden begrüßt und später ihre Aggressivität bewertet, nicht weiß, ob sie eine Gewaltsendung oder eine Comedysendung gesehen haben. Im Idealfall kann der Erwartungseffekt vermieden werden, indem weder Probanden noch Versuchsleiter wissen, welcher Proband welcher Versuchsbedingung zugeordnet wird. Man nennt diese Technik Doppel-blind-Verfahren. Erinnern Sie sich, dass wir im Koffeinversuch (siehe Abbildung 2.3) besonders darauf hinwiesen, dass die Teilnehmer nicht wussten, ob ihr Kaffee Koffein enthielt oder nicht. Tatsächlich war der Versuch sogar doppelblind konzipiert, weil auch die Versuchsleiter nicht wussten, welche Probanden Koffein bekommen hatten. Um weiter sicher zu stellen, dass Erwartungen die Gedächtnisleistungen nicht beeinflussten, sollten die Teilnehmer raten, welche Sorte Kaffee sie zuvor getrunken hatten. Es war den Versuchspersonen nicht möglich, richtig zu raten (Ryan et al., 2002). Dadurch ist abgesichert, dass die Resultate der Gedächtnistests nicht von den Erwartungen der Teilnehmer über die Wirkungen von Koffein beeinflusst waren.
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
Um Placeboeffekte aufzuspüren, wird im Allgemeinen eine Versuchsbedingung hinzugefügt, in der keine Behandlung oder Manipulation stattfindet, die so genannte Placebo-Kontrollgruppe. Placebo-Kontrollgruppen gehören zu der allgemeinen Sorte von Kontrollbedingungen, durch die sich Forscher vergewissern, dass sie angemessene Vergleiche anstellen. Nehmen wir zum Beispiel folgende Anekdote: Ein kleines Mädchen antwortete auf die Frage, ob sie ihre ältere Schwester liebe, mit „Verglichen mit wem?“. Damit wir wirklich verstehen können, was ein Forschungsergebnis bedeutet, muss diese Frage beantwortet werden, und zwar in zufrieden stellender Weise. Nehmen wir an, Sie sehen nachts im Fernsehen einen Werbespot, der das pflanzliche Nahrungsergänzungsmittel Ginkgo biloba als Lösung all Ihrer Gedächtnisprobleme anpreist. Was würden Sie erwarten, wenn Sie sich das Mittel kaufen und wöchentlich einnehmen? Eine Studie zeigte, dass Universitätsstudenten, die sechs Wochen lang jeden Morgen Ginkgo einnahmen, tatsächlich bessere kognitive Leistungen erbrachten (Elsabagh et al., 2005). Eine der Aufgaben war, sich 20 Bilder auf einem Bildschirm anzusehen, sie zu benennen und sich später an diese Benennungen zu erinnern. Nach sechs Wochen Ginkgo-Einnahme hatten sich die Teilnehmer bei dieser Aufgabe um 14 Prozent verbessert. Allerdings verbesserten sich auch Teilnehmer, die stattdessen ein Placebo – eine Pille ohne wirksame Inhaltsstoffe – einnahmen, um 14 Prozent. Die Placebokontrolle legt nahe, dass die Leistungsverbesserung ein Effekt der Übung aus der vorangegangenen Sitzung war. Solche Kontrolldaten stellen einen wichtigen Bezugspunkt dar, an dem der Wert des experimentellen Ergebnisses gemessen wird. In einigen Versuchsplänen, die man als Betweensubjects-Designs bezeichnet, werden unterschiedliche Probandengruppen zufällig entweder einer Experimentalbedingung oder einer Kontrollbedingung zugewiesen. „Between subjects“ bedeutet, dass man die untersuchten Einflüsse anhand des Vergleichs „zwischen Probanden“ untersucht. In der Experimentalbedingung werden sie einer oder mehreren Behandlungen oder Manipulationen ausgesetzt, in der Kontrollbedingung erfolgt keine experimentelle Manipulation. Zufällige Zuordnung ist einer der wesentlichen Schritte, die ein Forscher unternimmt, um konfundierende Variablen auszuschließen, die auf interindividuellen Unterschieden zwischen den Probanden beruhen. Ein solches Design haben wir für das Aggressionsexperiment vorgeschlagen. Die zufällige Zuordnung zur Experimental- und Kontrollgruppe
macht es wahrscheinlich, dass die beiden Gruppen sich zu Beginn des Experiments in den wesentlichen Punkten ähnlich sind, weil jeder Proband gleiche Chancen hat, der Experimental- oder der Kontrollgruppe zugeordnet zu werden. Wir sollten uns also beispielsweise keine Gedanken machen müssen, dass alle Probanden in der Experimentalgruppe Gewaltdarstellungen im Fernsehen schätzen und alle Probanden in der Kontrollgruppe Gewaltdarstellungen ablehnen. Die zufällige Zuordnung sollte beide Arten von Probanden in jeder der beiden Gruppen mischen. Wenn sich zwischen den Bedingungen Unterschiede ergeben, können wir uns sicherer sein, dass diese Unterschiede auf die Manipulation oder Intervention zurückzuführen sind anstatt auf vorher bestehende Unterschiede. Auch durch die Art und Weise, wie die Forscher ihre Probanden anwerben, kann eine zufällige Verteilung unterstützt werden. Üblicherweise nehmen an einem psychologischen Experiment 20 bis 100 Probanden teil. Die Forscher würden gerne von dieser Stichprobe Rückschlüsse auf die ganze Population ziehen, der diese Stichprobe entnommen wurde. Nehmen wir an, Sie wollten die Hypothese testen, dass sechsjährige Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit lügen als vierjährige. Sie können aber nur einen sehr geringen Anteil aller Vier- und Sechsjährigen in Ihrem Labor untersuchen. Um von Ihrer Stichprobe auf die Gesamtheit generalisieren zu können, brauchen Sie die Gewissheit, dass Ihre Vier- und Sechsjährigen mit allen anderen zufällig ausgewählten Stichproben von Kindern vergleichbar sind. Eine Stichprobe ist eine repräsentative Stichprobe aus einer Population, wenn sie die Eigenschaften der Population möglichst genau widerspiegelt, beispielsweise in Hinblick auf die Geschlechterverteilung, die ethnischen Gruppierungen, den sozio-ökonomischen Status usw. Man kann von einer Stichprobe nur Rückschlüsse auf die Populationen ziehen, die von der Stichprobe angemessen repräsentiert werden. Wenn man in der Lügen-Studie nur Jungen als Probanden verwendet, kann man daraus keine gültigen Schlussfolgerungen über das Verhalten von Mädchen ableiten. Eine andere Art von Experimentaldesign, das Within-subjects-Design, nutzt jeden Probanden gleichzeitig als seine eigene Kontrolle. Zum Beispiel kann das Verhalten einer Versuchsperson vor der Behandlung mit dem Verhalten danach verglichen werden. Wir betrachten hier ein Experiment, mit dem die Fähigkeit einjähriger Kleinkinder gemessen wurde, von emotionalen Reaktionen zu lernen, die sie auf einem Bildschirm sahen.
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F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
Wie lernen Kinder, welche Gegenstände in ihrer Umgebung gut sind und welche schlecht? Forscher überprüften die These, dass Kinder einen Teil dieser positiven und negativen Informationen aus der Beobachtung anderer Menschen gewinnen (Mumme & Fernald, 2003). In einer Studie erhielten einjährige Kleinkinder die Gelegenheit, mit neuartigen Objekten wie einem Gummiball oder einem Plastikventil zu spielen. Wie in 씰 Abbildung 2.4 zu sehen ist, saßen die Kinder vor einem Bildschirm, mit den Gegenständen in Reichweite. Die Kinder sahen zwei Videopräsentationen einer Darstellerin, die eines der zwei Objekte beschrieb. In der ersten Präsentation erwähnte die Darstellerin das Zielobjekt in neutralem Ton und mit neutralem Gesichtsausdruck. In der zweiten Präsentation benutzte die Darstellerin einen ablehnenden Tonfall und Gesichtsausdruck, während sie dasselbe Objekt erwähnte. Das Ablenkungsobjekt erwähnte sie überhaupt nicht. Abbildung 2.4 zeigt den Within-subjects-Vergleich, wie oft die Kinder jeden der beiden Gegenstände berührten. Wie man sieht, neigten die Kinder dazu, vor dem Zielobjekt zurückzuschrecken, wenn die Darstellerin negative Emotionen darüber ausdrückte. Die Kinder fingen nicht an, sich zu langweilen: Ihr Verhalten gegenüber dem von der Darstellerin nicht erwähnten Gegenstand änderte sich nicht.
Weil es sich um eine Within-subjects-Studie handelte, konnten die Experimentatoren den sicheren Schluss ziehen, dass die Bereitschaft der Kleinkinder, sich mit einem Gegenstand zu befassen, durch ihre Beobachtung der negativen Emotionen der Darstellerin verändert wurde. Übrigens wiederholten die Forscher das Experiment mit zehn Monate alten Kindern und entdeckten, dass diese jüngeren Versuchspersonen ihr Verhalten nicht entsprechend den dargestellten Emotionen änderten (Mumme & Fernald, 2003). Demgemäß liegt irgendwo im Zeitfenster zwischen zehn und zwölf Monaten Lebensalter der Punkt, ab dem Kinder sich in ihrem Verhalten vom beobachteten Verhalten anderer Menschen leiten lassen. Die Forschungsmethoden, die wir bisher beschrieben haben, beruhten alle auf der Manipulation einer unabhängigen Variablen, um den Effekt auf eine abhängige Variable zu untersuchen. Obwohl dieses experimentelle Vorgehen oft die stärksten Aussagen über Kausalzusammenhänge zwischen Variablen erlaubt, gibt es doch einige Bedingungen, unter denen die experimentelle Methode nicht optimal ist. Zum einen wird in einem Experiment das Verhalten der Probanden oft in einer künstlichen Umgebung untersucht. In dieser Umgebung werden Einflüsse der Situation so
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stark kontrolliert, dass die Umgebung selbst das Verhalten im Vergleich zu dem Verhalten in der natürlichen Umgebung verändert. Kritiker sagen, dass der Reichtum und die Komplexität natürlicher Verhaltensmuster in kontrollierten Experimenten verloren gehen, dass dieser Reichtum zugunsten der einfacheren Handhabung einer oder weniger Variablen und Antworten geopfert wird. Zweitens wissen Probanden in der Regel, dass sie an einem Experiment teilnehmen und untersucht und beobachtet werden. Sie können auf dieses Wissen reagieren, indem sie versuchen, dem Forscher einen Gefallen zu tun oder
0,8 Durchschnittlicher Berührungszeitanteil
AUS DER FORSCHUNG
0,7
Ablenkungsobjekt Zielobjekt
0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 Neutrale Vergleichsbasis
Negativ-Test
Abbildung 2.4: Kleinkinder lernen emotionale Reaktionen. Die ein Jahr alten Kinder wurden so platziert, dass sie mit den gleichen Gegenständen interagieren konnten, die auf dem Fernsehschirm erschienen. In zwei Videopräsentationen erwähnte eine Darstellerin das Zielobjekt und ignorierte das Ablenkungsobjekt. Die erste Präsentation stellte eine neutrale Vergleichsbasis dar, um festzustellen, inwieweit das Kind ein Objekt von sich aus bevorzugte. Die Balkendiagramme zeigen jeweils den Zeitanteil, den die Kleinkinder damit verbrachten, jeden der beiden Gegenstände zu berühren. Die Experimentatoren berechneten diese Anteile, indem sie die Zeit, in der die Kinder jeweils einen Gegenstand berührten, auf die Dauer der gesamten Spielperiode relativierten. Wie Sie sehen, berührten die Kinder einen Gegenstand sehr viel seltener, wenn die Darstellerin negative Emotionen darüber ausdrückte.
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
versuchen, den Forschungszweck zu unterlaufen. Sie können aber auch versuchen, ihr Verhalten zu verändern, einfach deshalb, weil sie wissen, dass sie beobachtet werden. Drittens gibt es einige wichtige Forschungsfragen, die nicht durch ethisch vertretbare experimentelle Forschung zu klären sind. Man könnte beispielsweise nicht herausfinden, ob die Neigung zum Kindesmissbrauch von Generation zu Generation weitergegeben wird, indem man eine Experimentalgruppe, in der die Kinder missbraucht werden und eine Kontrollgruppe, in der die Kinder nicht missbraucht werden, schafft. Im nächsten Abschnitt widmen wir uns Forschungsmethoden, die oft eingesetzt werden, um solche Fragen zu klären.
Bowler (A) Verdienst
100
150
200
250
300
Golfer (B)
2.1.3 Korrelationsmethoden Verdienst Besteht ein Zusammenhang zwischen Intelligenz und Kreativität? Sind optimistische Menschen gesünder als Pessimisten? Besteht ein Zusammenhang zwischen der Erfahrung, als Kind missbraucht zu werden, und späteren seelischen Erkrankungen? Diese Fragen betreffen Variablen, die nicht leicht oder in ethisch vertretbarer Weise von Psychologen manipuliert werden können. Um solche Fragen beantworten zu können, was wir in einem späteren Kapitel tun werden, bedarf es Forschung, die auf Korrelationsmethoden beruht. Psychologen benutzen Korrelationsmethoden, wenn sie herausfinden wollen, in welchem Ausmaß zwei Variablen, Eigenschaften oder Charakteristika zusammenhängen. Um das genaue Ausmaß der Korrelation zwischen zwei Variablen zu bestimmen, berechnet man eine als Korrelationskoeffizient (r) bekannte statistische Größe. Der Wert des Korrelationskoeffizienten variiert zwischen + 1,0 und – 1,0, wobei + 1,0 eine perfekte positive Korrelation und – 1,0 eine perfekte negative Korrelation bezeichnet. Ein Korrelationskoeffizient von 0,0 zeigt an, dass überhaupt keine Korrelation besteht. Ein positiver Korrelationskoeffizient besagt, dass wenn die Werte eines von zwei Maßen steigen, die Werte des anderen Maßes ebenfalls steigen. Für negative Korrelationen gilt das Gegenteil; die Werte des zweiten Maßes verändern sich entgegengesetzt zu den Werten des ersten Maßes (씰 Abbildung 2.5). Korrelationen, die näher bei null liegen, deuten auf einen schwachen oder nicht vorhandenen Zusammenhang zwischen den Werten beider Maße hin. Wenn der Korrelationskoeffizient steigt und sich dem ±1,0 Maximum nähert, werden Vorhersagen über eine Variable auf der Basis der anderen immer genauer.
60
70
80
90
100
Punktwertung Abbildung 2.5: Positive und negative Korrelationen. Diese fiktiven Daten zeigen den Unterschied zwischen positiver und negativer Korrelation. Jeder Punkt repräsentiert einen einzelnen Bowling-Spieler oder Golfer. (A) Im Allgemeinen verdient ein ProfiBowler umso mehr Geld, je mehr Punkte er erzielt. Insofern besteht eine positive Korrelation zwischen diesen beiden Variablen. (B) Die Korrelation für Golfer ist negativ, weil Golfer mehr Geld verdienen, wenn sie weniger Schläge benötigen. Nehmen wir zum Beispiel an, die Forschung sei am Zusammenhang zwischen den Schlafgewohnheiten und den Lernerfolgen von Studierenden interessiert. Als operationale Definition von Schlafgewohnheiten könnte man die durchschnittliche Schlafzeit pro Nacht ansetzen. Lernerfolg könnte als kumulativer Grade Point Average (GPA) (US-Notendurchschnitt) definiert werden. Die Forscher könnten dann diese beiden Variablen in einer passend gewählten Gruppe Studierender messen und den Korrelationskoeffizienten zwischen ihnen berechnen. Ein ausgeprägt positiver Wert würde bedeuten, dass der GPA eines/r Studierenden umso höher liegt, je mehr er oder sie schläft. Die Kenntnis der „Schlafstunden pro Nacht“ würde dann eine begründete Vorhersage des GPA ermöglichen. Die Forscher würden vielleicht auch den nächsten Schritt gehen und behaupten, dass sich der GPA von Studierenden verbessern ließe, wenn man sie dazu brächte, mehr zu schlafen. Diese Einmischung ist al-
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F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
lerdings fehlgeleitet. Eine starke Korrelation bedeutet nur, dass die beiden Datenwerte in systematischer Weise zusammenhängen; die Korrelation besagt aber nicht, dass ein Wert den anderen verursacht. Korrelation impliziert keine Kausalität. Die Korrelation könnte irgendeine von mehreren Ursache-Wirkung-Möglichkeiten widerspiegeln oder auch gar keine. Beispielsweise könnte eine positive Korrelation zwischen Schlaf und GPA bedeuten, dass (1) Menschen, die effizienter lernen, früher zu Bett gehen, (2) Menschen, die mit Angst auf Lernanforderungen reagieren, nicht einschlafen können, oder (3) Menschen besser schlafen, wenn sie in leichte Seminare gehen. Sie können an diesem Beispiel sehen, dass Korrelationen die Forscher meistens zwingen, nach tiefer gehenden Erklärungen zu suchen. Wir wollen nicht, dass Sie jetzt den Eindruck haben, Korrelationsmethoden wären keine wertvollen Forschungsinstrumente. Sie werden in diesem Buch immer wieder Korrelationsstudien finden, die zu bedeutenden Erkenntnissen geführt haben. Um Ihre Neugier zu wecken, bieten wir noch ein kleines Beispiel an:
Mit welchem Vorgehen würden Sie den Zusammenhang zwischen den Schlafgewohnheiten von Studierenden und ihrer Leistung an der Universität messen? Wie würden Sie mögliche Kausalzusammenhänge, die einer Korrelation zugrunde liegen, evaluieren?
AUS DER FORSCHUNG Welche Umweltfaktoren erklären, warum manche Jungen bereits im Alter von fünf Jahren Verhaltensauffälligkeiten zeigen und andere nicht? Eine Forschergruppe versuchte nachzuweisen, dass der Unterschied zwischen den Jungen teilweise auf das unterschiedliche Ausmaß destruktiver Geschwisterkonflikte mit ihren Brüdern und Schwestern zurückzuführen ist (Garcia et al., 2000). Die Forscher argumentierten, dass ein hohes Maß an Geschwisterkonflikt die Bereitschaft der Jungen zu aggressiven oder unangemessenen Reaktionen in verschiedenen Situationen verstärken könnte. Um destruktive Geschwisterkonflikte messen zu können, zeichneten die Forscher einstündige Videos auf, auf denen jeweils einer von 180 Jungen zusammen mit seinem Geschwister mit verschiedenen Spielzeugen spielte. Diese auf Video aufgezeichneten Spielsituationen wurden unter Berücksichtigung verschiedener Dimensionen ausgewertet, wie beispielsweise der Anzahl von Konflikten und der Intensität dieser Konflikte. Korrelationsanalysen unterstützten die Vorhersage, dass Jungen, die ein hohes Maß an Geschwisterkonflikten erlebten, auch am wahrscheinlichsten aggressives und auffälliges Verhalten zeigten.
Ist Ihnen deutlich, warum eine Korrelationsmethode notwendig ist, um diese Vorhersage zu überprüfen? Sie können Kinder nicht per Zufall einer Gruppe mit viel oder wenig Geschwisterkonflikten zuordnen. Sie müssen abwarten, welche Unterschiede sich ergeben, nachdem Kinder in der einen oder anderen Situation waren.
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2.1.4 Unterschwellige Beeinflussung? Um diesen Abschnitt abzuschließen, wollen wir noch ein Beispiel anbieten, das zeigt, wie die psychologische Forschung dazu genutzt wurde, die marktschreierischen Behauptungen der Werbenden zu überprüfen, die ein Interesse daran haben, Sie von ihrem Produkt zu überzeugen. Sie haben sicher schon einmal Werbung für Audiokassetten gesehen oder gehört, die Ihnen verspricht, Ihr Leben durch nicht bewusst wahrgenommene Botschaften – unterschwellige Botschaften – zu verändern. Es handelt sich um magische Kassetten! Eine Kassette garantiert ein erfüllteres Sexualleben, eine andere die schnelle Behandlung von zu geringem Selbstwertgefühl, eine dritte verspricht sicheren und dauerhaften Gewichtsverlust. Wie? Alles, was Sie zu tun haben, ist – gleich ob im Bett, beim Joggen oder beim Erledigen der Hausaufgaben – dem „entspannenden Rauschen der Meereswellen, die sich an sandigen Stränden brechen“, zuzuhören. Unterschwellige Beeinflussung hat eine lange Vorgeschichte. Obwohl es sich mit ziemlicher Sicherheit um eine Fälschung handelte, sorgte 1957 eine Studie für Aufmerksamkeit, in welcher der Erfinder der unterschwelligen Werbung behauptete, der Verkauf von Popcorn steige um 57 Prozent, wenn während eines Kinofilms die Botschaft „Kauft Popcorn!“ eingeblen-
2.1 Der psychologische Forschungsprozess
Vortest
Population
Stichprobe
Unabhängige Variablen
Nachtest
Experimentalbedingung 1 Selbstwertgefühlskassette
Selbstwertgefühl
Experimentalbedingung 2
Gedächtnis
Gedächtniskassette Zufällige Zeit, Dauer der Zuordnung Manipulation
Abbildung 2.6: Versuchsdesign für die Prüfung von Hypothesen zur Wirksamkeit von Audiokassetten mit unterschwelligen Botschaften. In dieser vereinfachten Version des Experiments wird eine Stichprobe von Personen aus der Population entnommen. Sie werden einer Reihe von Vortests unterzogen und anschließend zufällig auf die Experimentalbedingung aufgeteilt. Sie erhalten dann eine Kassette mit unterschwelligen Botschaften zur Steigerung entweder des Selbstwertgefühls oder des Gedächtnisses. Im nächsten Schritt werden sie einer Reihe von Nachtests unterzogen, mit denen objektiv gemessen werden kann, ob sich Veränderungen der abhängigen Variablen Selbstwertgefühl und Gedächtnis ergeben haben.
det würde (Rogers, 1993). Das Wall Street Journal berichtete einmal, dass ein Supermarkt in New Orleans die Anzahl von Diebstählen und Fehlbeträgen in den Kassen drastisch senken konnte, indem die folgende unterschwellige Botschaft in die Kaufhausmusik eingefügt wurde: „Wenn ich stehle, komme ich ins Gefängnis.“ Eine Telefonumfrage in Toledo, Ohio, zeigte, dass fast 75 Prozent der 400 befragten Erwachsenen von unterschwelliger Werbung gehört hatten (Rogers & Smith, 1993). Von diesen 75 Prozent glaubten wiederum fast 75 Prozent, dass unterschwellige Werbung mit Erfolg von Werbeagenturen eingesetzt würde. Im Allgemeinen stieg die Bereitschaft, an die Wirksamkeit von unterschwelliger Werbung zu glauben, mit dem Bildungsniveau der Befragten. Sie verfügen jetzt über das notwendige Wissen, um die entscheidende Frage in Angriff zu nehmen: Beeinflussen Audiokassetten mit unterschwelligen Botschaften tatsächlich Geist und Verhalten in der von ihren Befürwortern behaupteten Weise? Unsere Antwort beruht auf der Anwendung der experimentellen Methoden, die wir beschrieben haben (씰 Abbildung 2.6).
AUS DER FORSCHUNG Eine Forschergruppe wollte herausfinden, wie effektiv die im Handel angebotenen Audiokassetten zur Verbesserung des Selbstwertgefühls oder des Gedächtnisses sind. Als Probanden wurden 237 männliche und weibliche Freiwillige aller Altersgruppen von 18 bis 60 Jahren gewonnen. In der Untersuchung wurde ein Vortest durchgeführt, in dem das anfängliche Selbstwertgefühl und die Gedächtnisleis-
tung der Probanden mit standardisierten psychologischen Tests und Fragebögen erhoben wurden. Anschließend wurden die Probanden per Zufall auf die beiden Experimentalbedingungen verteilt. Die Hälfte erhielt unterschwellige Gedächtnis-Kassetten, die anderen Probanden erhielten unterschwellige Selbstwertgefühl-Kassetten. Die Probanden hörten die nächsten fünf Wochen regelmäßig ihre Kassetten und kamen dann wieder zur Untersuchung, um ihre Gedächtnisleistung (anhand von vier Gedächtnistests) und ihr Selbstwertgefühl (anhand von drei Selbstwert-Skalen) erneut zu messen. Den Untersuchungsleitern war nicht bekannt, welcher Proband welcher Bedingung zugeordnet worden war (Greenwald et al., 1991).
Wurden durch die Kassetten Selbstwertgefühl und Gedächtnisleistung gesteigert? Die Ergebnisse dieses kontrollierten Experiments zeigen, dass es keine bedeutsame Verbesserung bei den objektiven Messverfahren für Selbstwertgefühl oder Gedächtnis gab. Man fand dennoch einen sehr starken Effekt: einen Placeboeffekt aufgrund der Erwartung, dass eine Verbesserung eintreten würde. Weil sie mit einem solchen Placeboeffekt rechneten, hatten die Forscher noch eine weitere unabhängige Variable hinzugefügt. Die Hälfte der Probanden in einer Gruppe erhielt GedächtnisKassetten, die fälschlich mit „Selbstwertgefühl“ gekennzeichnet waren, und die Hälfte der Probanden in der anderen Gruppe erhielt Selbstwert-Kassetten in Hüllen mit der Aufschrift „Gedächtnis“. Die Probanden glaubten, ihr Selbstwertgefühl habe sich gesteigert, wenn sie Kassetten mit dieser Beschriftung erhielten. Oder sie waren der Ansicht, ihr Gedächtnis
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F o rsch u n g sm eth oden der P syc h ologie
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Kann eine Meinungsumfrage Ihre Einstellungen beeinflussen?
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denjenigen Studierenden, die an britischer Politik interessiert waren – vermutlich aufgrund ausreichenden Wissens und ausgeprägter Einstellungen –, hatte die Leichtigkeit, mit der sie Informationen über Blair aufführen konnten, keine entsprechende Auswirkung auf ihre Einstellungen. Aus diesem Ergebnismuster ersehen Sie, was passieren könnte, wenn Sie abends diesen Anruf bekommen: Das Erste, wonach die Stimme fragen sollte, ist Ihr Interesse an Politik. Danach wird der Anrufer wissen, wie leicht es sein könnte, Ihre Meinung mit Fragen zu manipulieren, die oberflächlich ganz vernünftig wirken. Hätten Sie gedacht, dass man Menschen für Blair einnehmen könnte, indem man sie nach seinen negativen Eigenschaften fragt? Wenn Sie also draußen im richtigen Leben „Forschungs“-Fragen beantworten, seien Sie sich der wahren Absichten dahinter bewusst. Im Labor müssen die Forscher Sie in einem Abschlussgespräch informieren (debriefing information, siehe Seite 45, wie die Teilnahme am Experiment Ihre Gedanken oder Gefühle beeinflusst haben könnte. Die Leute, die abends bei Ihnen anrufen, haben keine derartige Verantwortung, sich zu erklären – ihr Hauptmotiv ist es, Ihre Einstellung so zu manipulieren, dass die Stimmabgabe bei der Wahl davon beeinflusst wird.
Interesse an Politik Uninteressiert
Zustimmungsrate
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Wahlen stehen bevor. Kurz nach dem Abendessen klingelt das Telefon. Eine freundliche Stimme am anderen Ende fragt Sie, ob Sie ein paar Minuten übrig haben, um einige Fragen über die Kandidaten zu beantworten. Sie antworten: „Warum nicht?“ Hier ist eine Gelegenheit für Sie, außerhalb des Labors an der Forschung mitzuwirken! Aber jetzt kommt eine Antwort auf Ihre Frage „Warum nicht?“: Die Meinungsumfrage kann Ihre eigenen Einstellungen stark beeinflussen! Betrachten wir eine Laborstudie, die dieses Prinzip verdeutlicht. Der Versuch fand in England statt, also befasste er sich mit Einstellungen der Teilnehmer gegenüber Premierminister Tony Blair (Haddock, 2002). Die Probanden füllten einen Fragebogen aus, der mit der Frage „Wie stark sind Sie an britischer Politik interessiert?“ begann. Danach ging der Fragebogen auf eine von vier verschiedenen Arten weiter. Eine Version fragte die Teilnehmer nach zwei positiven Eigenschaften von Tony Blair; eine zweite wollte fünf positive Eigenschaften aufgelistet haben. Die anderen beiden Fassungen fragten nach zwei beziehungsweise fünf negativen Eigenschaften. Die nächsten Fragen in jeder Version baten die Teilnehmer um Zustimmungswerte für Blair auf einer 7-Punkte-Skala, mit höheren Werten für größere Zustimmung. Aus der Beschreibung ersehen Sie, dass ein wichtiger Bestandteil des Experiments die Anzahl der Eigenschaften war, die jeder Teilnehmer anführen sollte. Wieso war das so wichtig? Angenommen, Sie sollten negative Eigenschaften eines Politikers auflisten. Wahrscheinlich würden Sie leicht auf zwei Negativpunkte kommen, aber nur sehr schwer auf fünf. Nachdem Sie versucht haben, fünf negative Eigenschaften zu finden, würden Sie vielleicht denken: „Hm, wenn mir keine fünf schlechten Eigenschaften dieses Politikers/dieser Politikerin einfallen, ist er/sie vielleicht sogar ziemlich gut“ (siehe Schwarz et al., 2003). Deshalb würde man, indem man auf mehr schlechte Eigenschaften zu kommen versucht, womöglich damit enden, die betreffende Politikerin /den betreffenden Politiker besser zu finden; umgekehrt könnte ein Suchen nach positiven Eigenschaften zu einer negativeren Einstellung des Befragten führen. Die im Diagramm dargestellten Ergebnisse bestätigen diese Voraussage für diejenige Teilnehmergruppe, die an britischer Politik eher uninteressiert war. So waren zum Beispiel die Zustimmungsraten für Blair bei diesen Befragten höher, wenn sie nach mehr negativen Eigenschaften gefragt wurden. Bei
Interessiert
4,5
4,5
4
4
3,5
3,5
3
3
2,5
2,5
2
positiv
negativ
Aufgeführte Eigenschaften 2 Eigenschaften
2
positiv
negativ
Aufgeführte Eigenschaften 5 Eigenschaften
2.2 Psychologische Messung
habe sich verbessert, wenn ihre Kassetten mit „Gedächtnis“ beschriftet waren, sogar dann, wenn sie in Wirklichkeit die andere Kassette gehört hatten! Dieses sorgfältige Experiment erlaubt es uns, Ihnen einen ziemlich konkreten Ratschlag zu geben: Sparen Sie sich Ihr Geld; Selbsthilfe-Kassetten mit unterschwelligen Botschaften erzielen nur Placeboeffekte. Es ist eines der Ziele dieses Buches, Sie mit solchen konkreten Schlussfolgerungen aus soliden Experimenten vertraut zu machen. Dieses Experiment gibt Ihnen auch ein konkretes Beispiel für die Art von Variablen, die Psychologen erfassen. In diesem Fall waren das sowohl die Meinungen der Probanden bezüglich einer Verbesserung von Selbstwertgefühl und Gedächtnis als auch objektive Maße für Selbstwertgefühl und Gedächtnis. Im nächsten Abschnitt werden wir uns etwas allgemeiner damit auseinander setzen, wie Psychologen wichtige Prozesse und Erfahrungsdimensionen messen.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Beziehung besteht zwischen Beweisen und
Hypothesen? 2 Was können Forscher unternehmen, um beobachter-
abhängige Urteilsverzerrung zu vermeiden? 3 Warum benutzen Forscher Doppel-blind-Verfahren? 4 Was bedeutet ein Within-subjects-Design? 5 Warum impliziert eine Korrelation keine Kausalität?
KRITISCHES DENKEN: Warum war es in der Studie, in der einjährige Kleinkinder Emotionen gegenüber Gegenständen von einem Bildschirm lernten, wichtig, dass die Kinder vorher noch keine Erfahrung mit diesen Objekten hatten?
Psychologische Messung
2.2
Weil psychologische Prozesse so vielfältig und komplex sind, stellen sie für die Forscher, die sie messen wollen, ein beträchtliches Problem dar. Einige Handlungen und Prozesse sind leicht zu beobachten, die meisten, wie Furcht oder Träume, sind dagegen nur schwer zu erfassen. Deshalb ist es eine der Aufgaben eines forschenden Psychologen, Unsichtbares sichtbar zu machen, innere Prozesse und Vorgänge zu externalisieren und persönliche Erfahrungen öffentlich zugänglich zu machen. Wie wichtig es für Forscher ist, operationale Definitionen für die von ihnen unter-
suchten Phänomene zu entwickeln, wissen Sie ja bereits. Diese Definitionen liefern im Allgemeinen eine Regel oder ein Verfahren zur Quantifizierung einer Variablen. Quantifizierung heißt, dass verschiedenen Stufen, Größen oder Mengen einer Variablen Zahlenwerte zugewiesen werden. Es gibt eine Vielzahl von Messmethoden, die alle ihre Vor- und Nachteile besitzen. Unser Überblick über die psychologischen Messmethoden beginnt mit einer Diskussion der beiden Möglichkeiten, die Genauigkeit einer Messung zu erfassen: Reliabilität und Validität. Dann befassen wir uns mit verschiedenen Methoden der Datengewinnung. Gleich mit welcher Methode ein Psychologe seine Daten gewinnt, er muss anschließend geeignete statistische Verfahren anwenden, um seine Hypothesen zu bestätigen. Eine Beschreibung dieser Verfahren zur Datenanalyse finden Sie im „Statistischen Anhang“, der auf dieses Kapitel folgt. Sie sollten den Anhang zusammen mit diesem Kapitel lesen.
2.2.1 Wie erreicht man Reliabilität und Validität? Das Ziel psychologischer Messungen ist es, Ergebnisse zu erhalten, die sowohl zuverlässig (reliabel) als auch gültig (valide) sind. Reliabilität meint die Konsistenz und Verlässlichkeit von Verhaltensdaten, die sich aus psychologischer Testung oder experimenteller Forschung ergeben. Ein reliables Ergebnis ist ein Ergebnis, das sich bei wiederholter Testung unter ähnlichen Umständen zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder ergeben wird. Ein reliables Messinstrument liefert vergleichbare Messwerte, wenn es wiederholt angewandt wird (und sich das zu Messende nicht verändert). Nehmen wir beispielsweise das gerade beschriebene Experiment, welches zeigte, dass Audiokassetten mit unterschwelligen Botschaften nur Placeboeffekte erzielen. An diesem Experiment nahmen 237 Personen teil. Die Behauptung der Forscher, ihr Ergebnis sei reliabel, besagt, dass sie in der Lage sein sollten, das Experiment mit jeder neuen Probandengruppe von vergleichbarer Größe zu wiederholen und dass sie dabei dasselbe Datenmuster erhalten sollten. Validität bedeutet, dass die Information, die durch die Forschung oder Testung gewonnen wurde, die psychologische Variable oder Qualität, die sie wiedergeben soll, auch tatsächlich wiedergibt. Ein valides Maß für Glücklichsein sollte also erlauben vorherzusagen, wie glücklich Sie in einer bestimmten Situation wahrscheinlich sind. Wenn ein Experiment valide ist, heißt das, dass der Forscher das Ergebnis auf allgemeinere
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Umstände generalisieren kann, in vielen Fällen beispielsweise vom Labor auf den Alltag. Als wir Ihnen aufgrund der Ergebnisse des Versuchs mit den Audiokassetten einen Ratschlag gaben, haben wir die Behauptung der Forscher akzeptiert, dass ihre Ergebnisse valide sind. Wir könnten auch beispielsweise Ihre Schuhgröße als Indikator Ihres Glücklichseins verwenden. Das wäre reliabel (wir würden immer das gleiche Ergebnis erhalten), aber nicht valide (wir wüssten nicht, wie glücklich Sie von Tag zu Tag sind). Wenn Sie jetzt die Beschreibung der verschiedenen Messmethoden lesen, versuchen Sie, diese jeweils hinsichtlich Reliabilität und Validität zu beurteilen.
2.2.2 Selbstberichtsverfahren Forscher wollen oft Daten über Erfahrungen sammeln, die sie nicht direkt beobachten können. Manchmal handelt es sich bei diesen Erfahrungen um innere psychische Zustände wie Überzeugungen, Einstellungen oder Gefühle. In anderen Fällen handelt es sich bei diesen Erfahrungen um gezeigtes Verhalten, dessen Beobachtung durch Psychologen in der Regel nicht angemessen wäre, wie zum Beispiel Geschlechtsverkehr und Verbrechen. In all diesen Fällen verlässt man sich auf Selbstberichtsverfahren. Selbstberichtsverfahren bestehen aus Fragen, die der Forscher stellt, und sprachlichen Antworten, entweder in mündlicher oder schriftlicher Form. Man versucht reliable Methoden zu finden, um diese Antworten zu quantifizieren, um sinnvolle Vergleiche zwischen den Antworten verschiedener Personen ziehen zu können. Selbstberichte umfassen Antworten auf Fragebögen und in Interviews. Ein Fragebogen oder eine Umfrage ist ein Satz festgeschriebener Fragen, die inhaltlich alles von Sachfragen (Sind Sie wahlberechtigt?) über Fragen zu gegenwärtigem oder vergangenem Verhalten (Wie viele Zigaretten rauchen Sie pro Tag?) bis hin zu Fragen bezüglich der Einstellungen und Gefühle einer Person (Wie zufrieden sind Sie mir Ihrem gegenwärtigen Arbeitsplatz?) erfassen können. Offene Fragen erlauben den Befragten, in eigenen Worten zu antworten. Es gibt auch Fragen, bei denen eine Reihe fester Antwortalternativen vorgegeben ist, wie beispielsweise Ja, Nein und Weiß nicht. Ein Interview ist ein Gespräch zwischen dem Forscher und einer anderen Person mit dem Zweck, detaillierte Informationen zu erhalten. Im Gegensatz zum vollständig standardisierten Fragebogen ist ein Interview interaktiv. Der Interviewer kann die Fragen verändern, um gegebenenfalls bei etwas nachzuhaken,
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was der Befragte gerade gesagt hat. Gute Interviewer berücksichtigen neben der mitgeteilten Information auch die sozialen Interaktionsprozesse während des Interviews. Sie sind darin geschult, Rapport zwischen sich und dem Befragten herzustellen, das heißt eine positive soziale Beziehung zu schaffen, die Vertrauen einflößt und die Bereitschaft erhöht, persönliche Informationen mitzuteilen. Obwohl eine Vielzahl von Selbstberichtsverfahren eingesetzt wird, ist ihr Nutzen begrenzt. Zum einen, weil manche Personen nicht in der Lage sind, ausreichend über sich selbst nachzudenken, um die Fragen sinnvoll zu beantworten (Introspektionsfähigkeit). Andere sind unfähig, die Fragen zu verstehen und Antworten zu geben (Kommunikationsfähigkeit). Kleinkinder etwa werden in der Regel nicht über eine ausreichende Introspektionsfähigkeit verfügen, Personen mit anderer Muttersprache sind unter Umständen nicht in der Lage, die deutschen Fragen zu verstehen und sinnvolle Antworten zu geben. Selbst wenn Selbstberichtsverfahren eingesetzt werden können, sind sie unter Umständen weder reliabel noch valide. Die Befragten können eine Frage falsch verstehen oder sich nicht richtig an ihre Erfahrungen erinnern. Darüber hinaus sind Selbstberichtsverfahren anfällig für soziale Erwünschtheit. Die Befragten geben unter Umständen falsche oder irreführende Antworten, um sich selbst besser (oder manchmal auch schlechter) darzustellen. Es kann den Befragten peinlich sein, ihre wahren Erfahrungen oder Gefühle preiszugeben. Wenn die Befragten wissen, worum es bei dem Fragebogen oder dem Interview geht, werden sie unter Umständen lügen oder die Wahrheit verdrehen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, aus einer psychiatrischen Klink entlassen zu werden oder irgendein anderes Ziel zu erreichen. In einer Interviewsituation besteht auch die Möglichkeit, dass persönliche Voreingenommenheit und Vorurteile die Art und Weise beeinflussen, in der ein Interviewer seine Fragen stellt und der Befragte sie beantwortet.
2.2.3 Verhaltensmaße und Beobachtungen Als Gruppe betrachtet, interessieren sich forschende Psychologen für ein breites Spektrum an Verhaltensweisen. Sie studieren unter anderem Ratten, die durch ein Labyrinth laufen, Kinder, die ein Bild malen, Studierende, die ein Gedicht auswendig lernen, oder Arbeiter, die immer wieder dieselbe Aufgabe ausführen. Verhaltensmaße sind Mittel und Wege, gezeigtes Ver-
2.2 Psychologische Messung
halten und beobachtbare und registrierbare Reaktionen zu untersuchen. Die Hauptmethode, mit der man erfasst, was Menschen tun, ist die Beobachtung. In der Forschung werden Beobachtungen geplant, genau und systematisch durchgeführt. Beobachtungen konzentrieren sich entweder auf den Prozess des Verhaltens oder auf dessen Ergebnis. In einem Experiment zum Lernen könnte ein Forscher beispielsweise beobachten, wie oft ein Proband eine Wortliste wiederholt (Prozess) und an wie viele Wörter sich der Proband im abschließenden Test noch erinnern kann (Ergebnis). Für eine direkte Beobachtung muss das untersuchte Verhalten sichtbar, offen und leicht registrierbar sein. Beispielsweise würde man in einem Laborversuch über Emotionen den Gesichtsausdruck des Probanden beobachten, während dieser emotional erregende Reize sieht. Die direkte Beobachtung wird oft durch den Einsatz technischer Hilfsmittel verbessert. Ein Beispiel ist der Computer, der heutzutage oft genutzt wird, um sehr genaue Zeitmessungen für bestimmte Aufgaben zu erhalten, wie etwa das Lesen eines Satzes oder die Lösung einer Aufgabe. Obwohl es schon vor dem Computerzeitalter einige sehr genaue Messmethoden gab, haben wir nunmehr mithilfe von Computern eine außergewöhnliche Flexibilität bei der Datenerhebung und -auswertung erreicht. In Kapitel 3 werden wir uns mit den neuesten Techniken zur Gewinnung von Verhaltensmaßen besonderer Art auseinander setzen: Bilder, die das Gehirn bei der Arbeit zeigen. Bei der Beobachtung unter natürlichen Bedingungen wird spontan auftretendes Verhalten beobachtet, ohne dass der Forscher versucht, einzugreifen oder
Die Beobachtung durch einen Einwegspiegel macht es möglich, Verhaltensbeobachtungen durchzuführen, ohne das Verhalten zu beeinflussen oder zu verändern. Haben Sie schon einmal Ihr Verhalten verändert, weil Sie wussten, dass Sie beobachtet werden?
das Verhalten zu verändern. Beispielsweise könnte ein Forscher hinter einem Einwegspiegel das Spielverhalten von Kindern beobachten, die nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Bestimmte menschliche Verhaltensweisen können aus ethischen oder praktischen Gründen nur unter natürlichen Bedingungen beobachtet werden. So wäre es beispielsweise ethisch nicht vertretbar, kleinen Kindern in einem Experiment jede Art von Reizen zu entziehen (massive Deprivation), um die Auswirkungen dieser Maßnahme auf die weitere Entwicklung der Kinder zu untersuchen. Wenn man Verhalten im Labor untersucht, ist man nicht in der Lage, den langfristigen Einfluss zu untersuchen, den der Lebensraum eines Wesens auf die Entstehung komplexer Verhaltensmuster ausübt. Eines der wertvollsten Beispiele natürlicher Beobachtung im Feld ist die Arbeit von Jane Goodall (1986, 1990, Peterson & Goodall, 1993). Sie hat über 30 Jahre lang die Verhaltensmuster von Schimpansen in Gombe am Tanganjika-See in Afrika studiert. Jane Goodall weist darauf hin, dass sie nicht zu den richtigen Schlussfolgerungen gekommen wäre, wenn sie ihre Forschung wie geplant nach zehn Jahren beendet hätte: Wir hätten viele Parallelen zwischen ihrem Verhalten und unserem gefunden, aber wir hätten geglaubt, dass Schimpansen wesentlich friedfertiger sind als Menschen. Weil wir über das erste Jahrzehnt hinaus weitermachen konnten, konnten wir die Spaltung der sozialen Gruppe beobachten und die gewalttätigen Aggressionen dokumentieren, die zwischen den vor kurzem getrennten Gruppierungen entstanden. Wir entdeckten, dass Schimpansen unter bestimmten Umständen ihre Artgenossen töten und sogar zu Kannibalen werden können. Andererseits haben wir aber auch die außergewöhnlich dauerhaften gefühlsmäßigen Bindungen unter Familienmitgliedern kennen gelernt … höhere geistige Fähigkeiten, [und die Entwicklung von] kulturellen Traditionen … (Goodall, 1986, S. 3 – 4). Beobachtung unter natürlichen Bedingungen ist besonders in den Anfangsstadien einer Untersuchung nützlich. Sie hilft, den Verbreitungsgrad eines Phänomens zu erfassen oder einen Eindruck davon zu bekommen, welche Variablen und Zusammenhänge wichtig sein könnten. Die Daten aus einer Beobachtung unter natürlichen Bedingungen können oft wichtige Hinweise für die Formulierung spezifischer Hypothesen oder eines Forschungsplans geben.
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Jane Goodall hat fast ihr gesamtes Leben mit der Beobachtung von Schimpansen unter natürlichen Bedingungen verbracht. Was hat sie herausgefunden, was sie nicht hätte herausfinden können, wenn die Tiere nicht in ihrem natürlichen Lebensraum gewesen wären?
Wenn Verhaltensforscher Hypothesen mit Verhaltensmaßen überprüfen möchten, greifen Sie manchmal auf Archivdaten zurück. Stellen Sie sich all die Arten von Information vor, die Sie in einer Bibliothek oder dem Internet finden können: Geburts- und Sterberegister, Wetterberichte, Statistiken über Kinobesuche, Auflistungen des Stimmverhaltens von Abgeordneten und so weiter. Jede dieser Arten von Informationen kann wertvoll werden, um eine bestimmte Hypothese zu testen. Nehmen wir eine Studie, die überprüfte, ob Männer und Frauen sich im Grad ihrer Heldenhaftigkeit unterscheiden (Becker & Eagly, 2004). Um diese Frage anzugehen, hätten die Forscher keinen Laborversuch entwickeln können – man konnte ja kein Gebäude in Brand setzen, um zu zählen, ob mehr Männer oder Frauen hineinrannten. Stattdessen definierten sie Verhaltensweisen im wirklichen Leben, die unzweifelhaft heroisch sind, und sahen dann Archivaufzeichnungen durch, um den relativen Anteil von Männern und Frauen daran zu bestimmen. So überprüften die Forscher etwa die Mitgliederanteile von Doctors of the World, einer Organisation, die medizinisches Personal in alle Welt entsendet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Programms gehen ein „nicht unbeträchtliches Risiko ein, wenn sie medizinische Dienste an Orten leisten, an denen Gewalt und unhygienische Verhältnisse herrschen“ (Becker & Eagly, 2004, S. 173). Was zeigten nun die Archivdaten? Mehr als die Hälfte der Teilnehmer von Doctors of the World (65,8 Prozent) waren Frauen. Man sieht hier, wie wesentlich Archivdaten für die Beantwortung bestimmter Arten von Fragen sind.
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Bevor wir das Thema der psychologischen Messungen abschließen, soll noch betont werden, dass viele Forschungsprojekte Selbstberichtsverfahren und Verhaltensbeobachtung kombinieren. Beispielsweise könnten sich Forscher speziell für den Zusammenhang zwischen dem, was Menschen nach eigenen Angaben zu tun beabsichtigen, und ihrem tatsächlichen Verhalten interessieren. Darüber hinaus gibt es Forschungsprojekte, in denen sich in einer Fallstudie alle Messungen auf eine einzelne Person konzentrieren, anstatt wie üblich eine Vielzahl von Probanden zu untersuchen. Die intensive Analyse einzelner Personen in solchen Fallstudien kann manchmal wichtige Erkenntnisse über allgemeine Eigenschaften des menschlichen Erlebens erbringen. In Kapitel 3 werden Sie beispielsweise sehen, dass sorgfältige Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten die Grundlage für bedeutende Beweise zur Lokalisation der Sprache im Gehirn schufen. Wir haben jetzt verschiedene Verfahren und Messmethoden beschrieben, die in der Forschung angewandt werden. Bevor wir fortfahren, möchten wir Ihnen eine Gelegenheit geben zu sehen, wie dieselbe Frage mit verschiedenen Forschungsansätzen untersucht werden kann. Als Beispiel dient Shakespeares Frage „Was ist ein Name?“ In Romeo und Julia behauptet Julia: „Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften“. Stimmt das aber? Würden Sie sagen, dass Ihr Name die Art beeinflusst, wie andere Menschen sich Ihnen gegenüber verhalten? Ist es besser einen gewöhnlichen und häufigen oder eher einen seltenen und auffälligen Namen zu haben? Oder kommt es auf Ihren Namen überhaupt nicht an? In
2.3 Ethische Grundsätze der Forschung an Mensch und Tier
Tabelle 2.1
Was ist ein Name? Methoden und Maße Forschungsziel
Abhängiges Maß Selbstbericht
Korrelationsmethoden
Erfassung der Korrelation zwischen der Häufigkeit von Namen und dem Ausmaß persönlichen Glücks
Bewertung eigenen Glücks und eigener Zufriedenheit durch die Versuchsperson Ausmaß sozialer Interaktion bei Kindern auf dem Spielplatz
Erfassung der Korrelation zwischen der Häufigkeit von Kindernamen und der Akzeptanz durch Gleichaltrige Experimentelle Methoden
Beobachtung
Versuchspersonen bewerten Überprüfung, ob Menschen Babybilder, denen willkürlich identische Bilder verschieden bewerten, wenn ihnen verschie- Namen zugeordnet wurden dene Namen zugeordnet werden Überprüfung, ob soziale Interaktionen sich auf Grund von namensgebundenen Erwartungen verändern
씰 Tabelle 2.1 nennen wir Beispielkombinationen von Maßen und Methoden, die Forscher zur Beantwortung dieser Fragen einsetzen könnten. Wenn Sie Tabelle 2.1 durcharbeiten, fragen Sie sich bei jeder vorgeschlagenen Studie, inwieweit Sie jeweils bereit wären, daran teilzunehmen. Im nächsten Abschnitt behandeln wir die ethischen Grundsätze, denen psychologische Forschung unterliegt.
ZWISCHENBILANZ 1 Warum können Maße reliabel, aber trotzdem nicht
valide sein? 2 Warum ist es für den Befragenden wichtig, Beziehung
herzustellen? 3 Angenommen, ein Forscher beobachtet das Verhalten
von Kindern auf einem Spielplatz. Was für eine Art von Maß wäre das?
Anzahl positiver Gesichtsausdrücke im Gespräch mit einer Person, die sich als Mark oder Marcus vorgestellt hat
Ethische Grundsätze der Forschung an Mensch und Tier
2.3
In der Untersuchung zur Wirksamkeit von Audiokassetten mit unterschwelligen Botschaften täuschten die Forscher ihre Probanden, indem sie die Kassetten falsch beschrifteten. Sie machten dies, um herauszufinden, ob die Erwartungen der Probanden diese dazu veranlassen würden, an die Wirksamkeit der Kassetten zu glauben, auch wenn objektive Verfahren zur Messung von Selbstwertgefühl und Gedächtnis keine Verbesserung erkennen ließen. Eine Täuschung ist ethisch immer fragwürdig, aber wie sonst hätten die Forscher den Placeboeffekt untersuchen können, der durch die falschen Überzeugungen der Probanden zustande kam? Wie soll man den potenziellen Nutzen eines Forschungsprojekts gegen die Kosten aufwiegen, die jenen Probanden entstehen, die riskanten, schmerzhaften, belastenden oder unaufrichtigen Untersuchungen ausgesetzt werden? Psychologen sind ständig mit diesen Fragen konfrontiert (Rosenthal, 1994). Die Achtung vor den Grundrechten von Mensch und Tier ist eine Grundverpflichtung jedweder For-
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schung. In Deutschland haben die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und der Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen (BDP) gemeinsam ethische Richtlinien veröffentlicht. Die American Psychological Association (APA) gibt seit 1953 ebenfalls detaillierte ethische Richtlinien für Forscher heraus. Gegenwärtig gilt die Revision dieser Richtlinien aus dem Jahre 2002. Nehmen wir das Beispiel der Täuschung in der Forschung. Die Richtlinien von 2002 legen fest, dass „Psychologen mögliche Probanden nicht über Experimente täuschen, die mutmaßlich physischen Schmerz oder ernsthafte emotionale Belastungen hervorrufen“ (American Psychological Association, 2002, S. 1070). Richtlinien dieser Art hat es nicht immer gegeben. In Kapitel 16 berichten wir beispielsweise von klassischen Experimenten zum Thema Gehorsam gegenüber Autoritäten. In diesen Experimenten wurden Probanden insoweit getäuscht, als sie glaubten, sie würden völlig fremden Menschen lebensgefährliche elektrische Schocks verabreichen. Ergebnisse aus diesen Experimenten deuten darauf hin, dass die Probanden in der Tat „ernsthaften emotionalen Belastungen“ ausgesetzt waren. Daher kann sich heutzutage kein verantwortungsvoller Psychologe dafür einsetzen, solche Experimente zu wiederholen, selbst wenn sie für ein Verständnis des menschlichen Wesens sehr wichtig sind. Forscher treffen für sich sogar überhaupt keine Entscheidungen mehr über Fragen wie den Einsatz von Täuschung. Um sicherzustellen, dass die ethischen Rechte gewahrt bleiben, werden Forschungsvorhaben im Allgemeinen von speziellen Komitees überwacht, die für die Einhaltung der ethischen Richtlinien sorgen. Hochschulen, Krankenhäuser und Forschungsinstitute haben eigene Ethikkommissionen, die Forschungsvorhaben an Menschen und Tieren bewilligen oder ablehnen. Schauen wir uns einige der Faktoren an, nach denen solche Kommissionen ihre Entscheidungen treffen.
2.3.1 Freiwillige Zustimmung nach Aufklärung Zu Anfang jedes Laborversuchs mit menschlichen Teilnehmern werden diese über den Ablauf des Versuchs, potenzielle Risiken und den zu erwartenden Nutzen aufgeklärt. Der Schutz ihrer Privatsphäre wird den Probanden zugesichert: Alle Aufzeichnungen werden streng vertraulich behandelt. Die Probanden müssen der Veröffentlichung ihrer Daten zustimmen. Die Probanden werden aufgefordert, Erklärungen zu unterschreiben, dass sie über diese Dinge aufgeklärt
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wurden und freiwillig zustimmen, an der Untersuchung teilzunehmen. Den Probanden wird im Vorfeld mitgeteilt, dass sie den Versuch jederzeit ohne Angabe von Gründen oder negative Konsequenzen abbrechen können und an wen sie sich wenden können, falls sie eine Beschwerde haben.
2.3.2 Risiko-/Nutzen-Abwägung Die meisten psychologischen Experimente sind mit sehr geringen Risiken für die Probanden verbunden, insbesondere, wenn die Probanden nur aufgefordert werden, Routinetätigkeiten auszuführen. Es gibt aber einige Versuche zu intimeren Aspekten der menschlichen Natur, wie beispielsweise emotionale Reaktionen, das Selbstbild, Konformität, Stress oder Aggressivität, die den Probanden verärgern oder verstören könnten. Deshalb muss bei der Durchführung einer solchen Untersuchung darauf geachtet werden, dass die Risiken minimiert werden, dass die Probanden über die Risiken aufgeklärt werden und dass entsprechende Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, um mit extremen Reaktionen umgehen zu können. Wenn es ein solches Risiko gibt, wird es durch die Ethikkommission der betreffenden Einrichtung sorgfältig geprüft und seine Notwendigkeit gegen den erhofften Nutzen für die Versuchsteilnehmer, die Wissenschaft und die Gesellschaft abgewogen.
2.3.3 Vorsätzliche Täuschung Bei manchen Forschungsvorhaben ist es im Vorfeld nicht möglich, den Probanden die ganze Wahrheit von Anfang an mitzuteilen, ohne die Ergebnisse zu verfälschen. Wenn Sie beispielsweise die Auswirkung von Gewaltdarstellungen im Fernsehen auf die Aggressivität untersuchen wollen, sollten Ihre Probanden das nach Möglichkeit nicht wissen. Aber ist die Hypothese hinreichend, um diese Täuschung zu rechtfertigen? Wir haben bereits erwähnt, dass die APA-Richtlinien von 2002 den Einsatz von Täuschung ausdrücklich regeln. Zusätzlich zu der Vorschrift, dass Probanden über wahrscheinliche physische oder emotionale Belastungen nicht im Unklaren gelassen werden dürfen, gibt es noch weitere Einschränkungen: (1) Die Untersuchung muss von hinreichendem wissenschaftlichem und pädagogischem Wert sein, der die Täuschung rechtfertigt; (2) die Forscher müssen nachweisen, dass kein gleichwertiges Verfahren existiert, das ohne Täuschung auskommt; (3) die Täuschung muss
2.3 Ethische Grundsätze der Forschung an Mensch und Tier
am Ende der Untersuchung offen gelegt werden; (4) die Probanden müssen die Möglichkeit haben, nach Offenlegung der Täuschung die Verwendung ihrer Daten zu untersagen. Bei Versuchen, bei denen eine Täuschung vorgenommen wird, kann die Ethikkommission dem Forscher besondere Einschränkungen auferlegen, darauf bestehen, die Vorversuche zu überwachen, oder die Zustimmung verweigern. Gemäß den Richtlinien, die von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und dem Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen gemeinsam herausgegeben wurden, ist eine vollständige Täuschung der Probanden nicht zulässig. Die Probanden müssen in solchen Fällen in allgemeiner Form über den Mangel an Aufklärung informiert werden.
2.3.4 Abschlussgespräch Die Teilnahme an einem psychologischen Experiment sollte immer ein Informationsaustausch zwischen dem Psychologen und dem Probanden sein, der auf Gegenseitigkeit beruht. Der Forscher kann aus den Reaktionen des Probanden etwas Neues über ein Verhaltensphänomen lernen, der Proband sollte über den Zweck, die Hypothesen, die erwarteten Ergebnisse und den zu erwartenden Nutzen aus der Studie informiert werden. Nach dem Experiment sollte mit jedem Probanden ein ausführliches Abschlussgespräch geführt werden, in dem der Versuchsleiter so viele Informationen wie möglich gibt und sich vergewissert, dass niemand mit einem Gefühl von Verwirrung, Kränkung oder Scham den Versuchsraum verlässt. Sollte es notwendig gewesen sein, die Probanden während ir-
gendeiner Phase des Experiments zu täuschen, erklärt der Versuchsleiter die Gründe für die Täuschung sehr genau. Zuletzt haben Probanden das Recht, die Verwendung ihrer Daten zu untersagen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie ausgenutzt wurden oder ihre Grundrechte in irgendeiner Weise verletzt wurden.
2.3.5 Themen in der Tierforschung: Wissenschaft, Ethik, Politik Sollten Tiere in der psychologischen und medizinischen Forschung eingesetzt werden? Diese Frage hat zu sehr polarisierten Antworten geführt. Auf der einen Seite stehen diejenigen Forscher, die auf die wissenschaftlichen Durchbrüche verweisen, die in vielen Bereichen der Wissenschaft durch Tierversuche möglich wurden (Domjan & Purdy, 1995; Petrinovich, 1998). Der aus Tierversuchen gewonnene Nutzen umfasst die Entdeckung und Erprobung von Medikamenten, die zur Behandlung von Angststörungen und seelischen Erkrankung eingesetzt werden, und auch wichtige Informationen über Drogenabhängigkeit (Miller, 1985). Auch Tiere profitieren von Tierversuchen. Beispielsweise haben Psychologen herausgefunden, wie man den Stress von Zootieren, der durch die Gefangenschaft bedingt ist, verringern kann. Untersuchungen zu tierischem Lernen und zu sozialer Organisation haben dazu beigetragen, das Design von Gehegen zu verbessern und Tiergehege zu schaffen, die gesundheitsförderlich sind (Nicoll et al., 1988). Für Tierrechtler mindert diese Liste von Erfolgen nicht die Schwere des Fehlers, der in der Annahme steckt, es gäbe einen „moralisch relevanten Unterschied
Forscher, die Versuchstiere verwenden, müssen für eine artgerechte Haltung sorgen. Glauben Sie, dass wissenschaftlicher Fortschritt den Einsatz von Tieren zu Forschungszwecken rechtfertigt?
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zwischen Homo sapiens und anderen Lebewesen“ (Bowd & Shapiro, 1993, S. 136; siehe auch Shapiro, 1998). Um diesen Fehler zu korrigieren, plädieren die Ethiker für einen „Wandel von laborgestützter invasiver Forschung hin zu Forschung mit minimalen Eingriffen in natürlichen oder annähernd natürlichen Umgebungen“ (Bowd & Shapiro, 1993, S. 140). Jeder Forscher, der Tierversuche durchführt, muss seine Arbeit mit erhöhter Sorgfalt prüfen. Auch die Forschung an Tieren ist in den APA-Richtlinien von 2002 strikt geregelt. Befragungen von 1188 Studierenden der Psychologie und 3982 Mitgliedern der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie bezüglich ihrer Einstellung zu Tierversuchen sprechen für das Kriterium erhöhter Sorgfalt (Plous, 1996a, 1996b): Etwa 80 Prozent der Befragten hielten Beobachtungsstudien in der natürlichen Umgebung für angemessen. Eine geringere Anzahl (30 bis 70 Prozent) befürwortete Studien, bei denen Tiere in Käfigen oder anderweitig gefangen gehalten wurden, wobei die Zustimmung von der Art der betroffenen Tiere (beispielsweise Ratten, Tauben, Hunde oder Primaten) abhing. Sowohl Studierende als auch Professoren sprachen sich gegen Studien aus, bei denen die Tiere körperliche Schmerzen erlitten oder getötet wurden. Die Mehrheit der Befragten beider Gruppen (etwa 60 Prozent) befürwortete den Einsatz von Tierversuchen im Grundstudium Psychologie, aber nur ein Drittel der beiden Gruppen war der Ansicht, dass Laborforschung an Tieren ein unverzichtbarer Bestandteil des psychologischen Grundstudiums sei. Sind Ihre Überzeugungen mit denen Ihrer Vergleichsgruppe identisch? Wie würden Sie Entscheidungen über Aufwand und Ertrag von Tierversuchen treffen?
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist der Zweck der freiwilligen Zustimmung nach
Aufklärung? 2 Welchen Zweck erfüllt das Abschlussgespräch? 3 Was empfehlen Forscher hinsichtlich des Einsatzes von
Tieren zu Forschungszwecken?
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Wie wird man ein mündiger Forschungsrezipient?
2.4
Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden wir uns auf diejenigen Fähigkeiten zu kritischem Denken konzentrieren, die es Ihnen erlauben, ein mündiger Rezipient psychologischen Wissens zu werden. Pflege und Training dieser Fähigkeiten ist für einen verantwortungsbewussten Menschen in einer dynamischen Gesellschaft wie der unseren essenziell. Die Welt ist voll von Wahrheitsbehauptungen, populären Irrtümern des „gesunden Menschenverstandes“ und voreingenommenen Schlussfolgerungen, die einer bestimmten Klientel oder Überzeugung dienen. Ein kritischer Denker zu sein heißt, sich mit mehr als den vorgefertigten Informationen auseinander zu setzen und oberflächliche Eindrücke mit dem Ziel zu durchdringen, das Wesentliche zu verstehen und sich nicht vom Glanz der äußeren Erscheinung blenden zu lassen. Psychologische Behauptungen sind ein allgegenwärtiger Aspekt jeder denkenden, fühlenden und handelnden Person in unserer psychologisch vorgebildeten Gesellschaft. Bedauerlicherweise stammt das meiste Wissen über Psychologie nicht aus den Büchern, Artikeln und Berichten angesehener praktisch arbeitender Psychologen. Vielmehr stammt dieses Wissen aus Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, aus Fernseh- und Hörfunksendungen, aus der populärwissenschaftlichen Psychologie und aus Selbsthilfe-Ratgebern. Erinnern wir uns noch einmal an die Idee der unterschwelligen Gedankenmanipulation. Obwohl die Idee ihren Anfang mit der Fälschung des nach Gewinn strebenden Werbeberaters James M. Vicary nahm (Rogers, 1993) und, wie wir gesehen haben, im Laborversuch sorgfältig und vollständig widerlegt wurde, bleibt die Vorstellung von unterschwelligen Einflüssen auf bewusstes Verhalten lebendig und wirkt sich auf die Glaubenshaltungen der Menschen aus – und auf ihren Geldbeutel! Das Studium der Psychologie wird Ihnen dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, die auf Belegen beruhen, die Sie oder andere gesammelt haben. Sie sollten ständig versuchen, die Erkenntnisse, die Sie sich durch Ihr akademisches Studium der Psychologie erwerben, auf die Sie umgebende, nicht akademische Psychologie anzuwenden: Stellen Sie Fragen über Ihr eigenes Verhalten und das Verhalten anderer, versuchen Sie Antworten auf diese Fragen zu finden, die sich an rationalen psychologischen Theorien orientieren, und überprüfen Sie die Antworten anhand der Ihnen vorliegenden Befunde.
2.4 Wie wird man ein mündiger Forschungsrezipient?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Wie können Sie psychologische Informationen im Internet bewerten?
Wenn Sie sich ins World Wide Web begeben, werden Sie eine schier unglaubliche Menge von Webseiten finden, die sich mit psychologischen Themen beschäftigen. Beispielsweise geben wir schon seit Jahren regelmäßig den Begriff Schizophrenie (siehe Kapitel 14) in die von uns bevorzugte Suchmaschine ein. Hier sind einige Testdaten: Vor sechs Jahren ergab die Suche 83.760 Treffer. Vor drei Jahren waren es dann „ungefähr 764.000“ Seiten. Und heute Morgen, als wir diese Passage geschrieben haben, ergab die Suche „ungefähr 30.300.000“ Seiten. Wenn das keine Steigerung ist! Zweifelsohne wird während der kurzen Zeit, die der Verlag braucht, um unsere Abschnitte in Ihr Buch zu verwandeln, diese Zahl noch weiter steigen. Diese Daten machen klar, warum viele Leute die Zeit, in der wir leben, als das Zeitalter der Informationsexplosion bezeichnen. Wir alle stehen vor der Herausforderung, zu mündigen Rezipienten dieser Informationen zu werden. Wie können Sie feststellen, welche Informationen im Internet aus glaubwürdigen und verlässlichen Quellen stammen und welche nicht? In einer realen Bibliothek ist es weitaus einfacher, die Quelle einer Information zu finden. Ein Großteil der psychologischen Forschung wird in Zeitschriften veröffentlicht, die von Organisationen wie der American Psychological Association oder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie herausgegeben werden. Wenn Forschungsmanuskripte zur Veröffentlichung eingereicht werden, werden sie einem so genannten peer review unterzogen, einer Beurteilung durch Kollegen. Jedes Manuskript wird in der Regel an zwei bis fünf Experten aus dem entsprechenden Arbeitsbereich verschickt. Diese Experten erstellen eine detaillierte Analyse der dem Manuskript zugrunde liegenden Überlegungen, der Methoden und der Ergebnisse. Erst wenn diese Experten zufriedengestellt sind, wird aus einem Manuskript ein Aufsatz in einer Zeitschrift. Das ist ein sehr gründlicher Vorgang. 2005 wurden beispielsweise im Durchschnitt 69 Prozent aller bei
Hier sind ein paar allgemeine Regeln, die Sie im Kopf behalten sollten, um ein anspruchsvollerer Kunde im Supermarkt des Wissens zu sein: Vermeiden Sie die Schlussfolgerung, dass Korrelationen auf Kausalzusammenhängen beruhen. Fragen Sie nach operationalen Definitionen der wesentlichen Begriffe und Konzepte, damit man sich über deren Bedeutung einig werden kann.
den Zeitschriften der American Psychological Association eingereichten Manuskripte nicht zur Veröffentlichung zugelassen. Das Peer-review-Verfahren ist nicht perfekt. Mit Sicherheit werden einige wertvolle Forschungsarbeiten übersehen und einige fragwürdige Arbeiten gelangen zur Veröffentlichung. Im Allgemeinen wird aber durch dieses Verfahren sichergestellt, dass die Beiträge, die Sie in der überwältigenden Mehrzahl der Zeitschriften lesen, hohen Standards gerecht werden. In diesem Zusammenhang ist leicht ersichtlich, worin das Problem mit Informationen aus dem Internet besteht: Sie können oft nicht feststellen, wer, wenn überhaupt, die Ratschläge oder Behauptungen auf einer Internetseite begutachtet hat. Wenn Sie Informationen auf einer Internetseite Glauben schenken, müssen Sie sich vergewissern, dass die Quelle zuverlässig ist. Ein guter Ansatz ist die Suche nach Online-Versionen der Zeitschriften aus der Bibliothek. Sie können auch die Homepages verschiedener Forscher suchen, auf denen diese oft ihre Ergebnisse und Projekte zusammenfassen und ihre einschlägigen Veröffentlichungen angeben. Wenn Sie sich für die dort oder anderswo gefundenen Informationen interessieren, versuchen Sie, die dort angegebenen Quellen und Veröffentlichungen zu finden. Im Allgemeinen können Sie sich ziemlich sicher auf die Informationen auf einer Internetseite verlassen, wenn die Autoren dieser Seite auf die Forschungsquellen für diese Informationen verweisen. Sie können sich auf die Schlussfolgerungen, die wir in diesem Buch ziehen, verlassen, weil wir unsere Behauptungen mit Verweisen auf die entsprechende Forschung stützen. Sie sollten bei Internetseiten den gleichen Standard anlegen!
Warum wird im Internet so viel zu psychologischen Themen veröffentlicht? Warum verlangen Zeitschriften Gutachten von mehr als einem Experten?
Überlegen Sie zuerst, wie man eine Theorie, eine Hypothese oder eine Überzeugung widerlegen könnte, bevor Sie bestätigende Belege sammeln, die leicht zu finden sind, wenn man nach einer Rechtfertigung sucht. Suchen Sie stets nach Alternativerklärungen zu den unmittelbar einleuchtenden Erklärungen, die vorgelegt werden – vor allem dann, wenn diese Erklärungen den begünstigen, der sie vorbringt.
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Machen Sie sich klar, wie sehr persönliche Voreingenommenheit die Wahrnehmung der Realität verzerren kann. Misstrauen Sie einfachen Antworten auf komplexe Fragen oder einfachen Ursachen und Lösungen für komplexe Wirkungen und Probleme. Stellen Sie jede Aussage über die Wirksamkeit einer Behandlung, Intervention oder eines Produktes in Frage, indem Sie nach der Vergleichsbasis für den Effekt suchen: verglichen mit wem oder was?
Ein Experteninterview für eine Nachrichtensendung kann irreführende, aus dem Kontext gerissene Satzbruchstücke oder eine grob vereinfachte Darstellung von Forschungsergebnissen enthalten. Wie könnten Sie zu einem mündigen Rezipienten von Medienberichten werden?
Bleiben Sie aufgeschlossen, aber skeptisch: Machen Sie sich klar, dass die meisten Schlussfolgerungen vorläufig sind und nicht sicher; suchen Sie nach neuen Befunden, die Ihre Unsicherheit verringern, aber bleiben Sie dabei offen für Veränderungen oder eine erneute Beurteilung der Sachlage.
Wir wollen, dass Sie Ihren aufgeschlossenen Skeptizismus beim Lesen dieses Lehrbuchs anwenden. Wir wollen nicht, dass Sie Ihr Studium der Psychologie als Aneignung einer Liste von Fakten verstehen. Stattdessen hoffen wir, dass Sie mit uns zusammen Freude an der Beobachtung, Entdeckung und Überprüfung von Ideen haben.
Stellen Sie Autoritäten in Frage, die ihre Schlussfolgerungen auf persönliche Überzeugungen statt auf Fakten gründen und sich nicht auf konstruktive Kritik einlassen.
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In der Entdeckungsphase der Forschung führen Beobachtungen, Überzeugungen, Informationen und Allgemeinwissen zu einer neuen Sichtweise auf ein Phänomen. Der Forscher formuliert eine Theorie und überprüfbare Hypothesen.
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Achtung vor den Grundrechten menschlicher und tierischer Versuchsteilnehmer ist für alle Forscher verpflichtend. Um eine ethische und menschenwürdige Behandlung sicherzustellen, wurde eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen entwickelt.
Wie wird man ein mündiger Forschungsrezipient? Um ein mündiger Rezipient von Forschungsergebnissen zu werden, muss man lernen, kritisch zu denken und Behauptungen über Forschungsergebnisse zu bewerten.
Mit Korrelationsmethoden kann man feststellen, ob und wie stark zwei Variablen in Zusammen-
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Ethische Grundsätze der Forschung an Mensch und Tier
Alternativerklärungen können durch geeignete Kontrollbedingungen ausgeschlossen werden.
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Zu den psychologischen Messinstrumenten gehören Selbstberichtsverfahren und Verhaltensmaße.
Mit experimentellen Methoden kann man herausfinden, ob zwischen den Variablen, die durch die zu überprüfenden Hypothesen spezifiziert werden, ein kausaler Zusammenhang besteht.
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Forscher bemühen sich um reliable und valide Maße.
Um beobachterabhängige Urteilsverzerrungen zu minimieren, verwendet man standardisierte Verfahren und operationale Definitionen.
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Psychologische Messung
Um ihre Ideen zu überprüfen, verwenden Forscher die wissenschaftliche Methode, die aus einer Reihe von Verfahren zur Datengewinnung und -interpretation besteht, die Fehler minimiert.
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hang stehen. Aus einer Korrelation folgt keine Kausalbeziehung.
Der psychologische Forschungsprozess
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Abhängige Variable (S. 29) Abschlussgespräch (S. 45) Beobachterabhänge Urteilsverzerrung (S. 28) Between-subjects-Design (S. 33) Determinismus (S. 26) Doppel-blind-Verfahren (S. 32) Erwartungseffekte (S. 31) Experimentelle Methoden (S. 31) Fallstudie (S. 42) Hypothese (S. 27) Konfundierende Variable (S. 31)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Kontrollbedingungen (S. 32) Korrelationskoeffizient (S. 35) Korrelationsmethoden (S. 35) Operationale Definition (S. 29) Placeboeffekt (S. 32) Population (S. 33) Reliabilität (S. 39) Repräsentative Stichprobe (S. 33) Selbstberichtsverfahren (S. 40) Standardisierung (S. 29) Stichprobe (S. 33) Theorie (S. 26) Unabhängige Variable (S. 29) Validität (S. 39) Variable (S. 29) Verhaltensmaße (S. 40) Wissenschaftliche Methode (S. 27) Within-subjects-Design (S. 33)
49
A.1 Datenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.1.1 Deskriptive Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeitsverteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maße der zentralen Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 54 54 55 56 57 58
A.1.2 Inferenzstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Normalverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statistische Signifikanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 59 60
A.2 Wie wird man ein mündiger Rezipient von Statistiken? Schlüsselbegriffe
.......
62
.............................................
63
Ü B E R B L I C K
Statistischer Anhang: Datenanalyse und Schlussfolgerungen
A1
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W
ie wir in Kapitel 2 festgestellt haben, nutzen Psychologen die Statistik zur Analyse der Daten, die sie erheben. Darüber hinaus wird die Statistik auch benutzt, um eine quantitative Basis für Schlussfolgerungen zu liefern. Wenn man sich mit Statistik auskennt, kann man den Prozess, in dem psychologisches Wissen entsteht, besser verstehen. Auf einer persönlicheren Ebene ist ein grundlegendes Verständnis der Statistik hilfreich, wenn es gilt, bessere Entscheidungen in Situationen zu treffen, in denen andere versuchen, Ihre Meinungen und Handlungen durch Daten zu beeinflussen. Die meisten Studierenden halten Statistik für ein trockenes und uninteressantes Thema. Die Statistik ist aber vielfach in entscheidender Weise auf das Leben des Einzelnen anwendbar. Um dies zu illustrieren, werden wir ein einzelnes Projekt von seiner Inspiration durch das tägliche Leben bis hin zu den statistischen Argumenten verfolgen, die benutzt wurden, um allgemeine Schlussfolgerungen zu unterstützen. Das Projekt begann in Reaktion auf eine der Geschichten, die Schlagzeilen machen. Geschichten, in denen eine schüchterne Person plötzlich zum Amokläufer wird. Hier ein Beispiel: Verwandte, Kollegen und Bekannte beschrieben Fred Cowan als „freundlichen, ruhigen Mann“, ein „sanfter Typ, der Kinder mochte“ und „ein prima Kumpel“. Der Rektor der Gemeindeschule, die Cowan als Kind besucht hatte, gab an, Cowan hätte sich im Benehmen, in der Kooperationsbereitschaft und in Religion beste Noten verdient. Nach Aussage eines Kollegen war Cowan jemand, der „sich nie mit irgendjemandem unterhielt und den man problemlos herumschubsen konnte“. Cowan überraschte jedoch alle, die ihn kannten, als er eines Tages am Valentinstag mit einer halbautomatischen Waffe zur Arbeit kam und vier Kollegen, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschoss. Die Geschichte folgt einem vertrauten Muster: Ein schüchterner, ruhiger Mensch wird gewalttätig und schockiert alle, welche die Person kannten. Was hatte Fred Cowan mit anderen Personen gemein, die plötzlich von einem sanften und liebevollen Mitmenschen zu einem gewalttätigen und rücksichtslosen Mörder werden? Anhand welcher Persönlichkeitseigenschaften könnten sie sich von uns unterscheiden? Ein Forschungsteam hatte die Vermutung, dass es einen Zusammenhang zwischen Schüchternheit und
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anderen Persönlichkeitseigenschaften einerseits und gewalttätigem Verhalten andererseits geben könnte (Lee et al., 1977). Das Team begann also, Daten zu sammeln, die eine solche Verbindung aufklären könnten. Die Forscher gingen davon aus, dass scheinbar friedfertige Personen, die plötzlich Morde begehen, wahrscheinlich üblicherweise schüchterne Menschen sind, die nicht aggressiv sind und ihre Emotionen und Regungen streng unter Kontrolle halten. Die meiste Zeit ihres Lebens nehmen sie viele stille Kränkungen hin. Sie machen – wenn überhaupt – ihrem Ärger nur selten Luft, unabhängig davon, wie wütend sie wirklich sind. Von außen sehen sie vielleicht aus, als würde ihnen nichts etwas ausmachen, aber im Inneren kann eine fürchterliche Wut brodeln. Sie erwecken als Kinder wie auch als Erwachsene den Eindruck, ruhig, passiv und verantwortungsbewusst zu sein. Wegen ihrer Schüchternheit lassen sie wahrscheinlich niemanden zu nahe an sich heran, was dazu führt, dass niemand weiß, wie es wirklich in ihnen aussieht. Dann explodiert mit einem Mal etwas. Auf die leichteste Provokation hin – eine weitere kleine Beleidigung, eine weitere kleine Zurückweisung, ein weiteres Stückchen sozialen Drucks – brennt die Sicherung durch, und diese Menschen lassen den ganzen unterdrückten Aggressionen, die sich seit langem anstauten, freien Lauf. Weil sie nicht gelernt haben, zwischenmenschliche Konflikte durch Gespräche und Verhandlungen zu lösen, werden diese Menschen zu Amokläufern, die ihre Wut körperlich abreagieren. Die Überlegungen der Forscher führten sie zu der Hypothese, dass Schüchternheit typischer für Personen sei, die zu Amokläufern werden – Personen, die ein Tötungsdelikt begangen hatten, ohne jemals vorher durch Gewalt oder antisoziales Verhalten aufgefallen zu sein – als für Personen, die morden, weil sie Gewohnheitsverbrecher sind – Personen, die ein Tötungsdelikt begangen hatten und eine Vorgeschichte kriminellen gewalttätigen Verhaltens hatten. Darüber hinaus wurde erwartet, dass Amokläufer mehr Kontrolle über ihre Impulse haben sollten als Personen, die gewohnheitsmäßig gewalttätig sind. Schließlich sollte die Passivität und Abhängigkeit der ersten Gruppe im Vergleich zu Gewohnheitsverbrechern in einem Standard-Test zum Geschlechterrollenverhalten in feminineren und androgyneren Merkmalen zum Ausdruck kommen. (Bei androgynen Personen sind weibliche und männliche Merkmale ausbalanciert, so dass keine Geschlechterrolle überwiegt.) Um ihre Annahmen zu überprüfen, verschafften sich die Forscher die Genehmigung, einer Gruppe von kalifornischen Häftlingen, die wegen Mordes ein-
Datenanalyse
saßen, psychologische Fragebögen vorzulegen. 19 Häftlinge (alle männlich) erklärten sich bereit, an der Untersuchung teilzunehmen. Vor ihrem Tötungsdelikt hatte ein Teil der Versuchsteilnehmer bereits eine Reihe von Gewaltverbrechen begangen, die andere Hälfte hingegen hatte keine Einträge im Vorstrafenregister. Die Forscher erhoben von beiden Probandengruppen dreierlei Daten: Maße für Schüchternheit, für die Identifikation mit einer Geschlechterrolle und für ihre Impulskontrolle. Schüchternheit wurde mit dem Stanford Shyness Survey erhoben. Das wichtigste Item dieses Fragebogens lautet, ob der Befragte schüchtern sei; die Antwortalternativen sind Ja und Nein. Andere Items erfassen das Ausmaß und die Art der Schüchternheit und eine Vielzahl an Dimensionen, die sich auf Ursprünge und Auslöser der Schüchternheit beziehen. Der zweite Fragebogen diente zur Erfassung von Geschlechterrollen (Bem Sex-Role Inventory BSRI: Bem, 1974, 1981; deutsche Adaption von Schneider-Düker & Kohler, 1988). Er besteht aus einer Liste von Adjektiven wie aggressiv und herzlich und erfragt, wie gut jedes Adjektiv die befragte Person beschreibt. Manche Adjektive werden üblicherweise mit femininen Zügen assoziiert, und der Gesamtwert dieser Adjektive ergibt den Femininitätswert einer Person. Andere Adjektive gelten als maskulin, und der Gesamtwert dieser Adjektive ergibt den Maskulinitätswert einer Person. Der endgültige Geschlechterrollen-Wert, der den Unterschied zwischen den femininen und maskulinen Anteilen einer Person zum Ausdruck bringt, wird errechnet, indem man den Femininitätswert vom Maskulinitätswert subtrahiert. Die Kombination beider Werte (hohe Femininität und hohe Maskulinität) kann als Maß für die Androgynität einer Person gelten. Der dritte Fragebogen war das Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI; deutsch: MMPI-2, Engel, 2000), das verschiedene Aspekte der Persönlichkeit im Zusammenhang mit klinischen Diagnosen misst (siehe Kapitel 13). Im Rahmen der Untersuchung wurde nur die Impulskontrollskala verwendet, die erfasst, inwieweit eine Person Impulse kontrolliert oder auslebt. Je höher der Wert einer Person auf dieser Skala, desto mehr Impulskontrolle schreibt sich diese Person zu. Die Forscher sagten voraus, dass sich Menschen, die zu Amokläufern geworden waren, im Vergleich zu Mördern mit Vorstrafen (1) öfter als schüchtern beschreiben würden, (2) mehr weibliche als männliche Eigenschaften wählen würden und (3) angeben würden, über mehr Impulskontrolle zu verfügen. Was haben sie herausgefunden?
Bevor Sie das erfahren, müssen Sie einige der grundlegenden Verfahren verstehen, die zur Analyse der Daten eingesetzt wurden. Die tatsächlich von den Forschern erhobenen Daten werden als Quellenmaterial dienen, um Ihnen einige unterschiedliche statistische Analyseverfahren und die Arten von Schlussfolgerungen, die dadurch ermöglicht werden, nahe zu bringen.
Datenanalyse
A.1
Für die meisten Forscher in der Psychologie ist die Analyse der Daten ein aufregender Moment – durch statistische Analysen können Forscher herausfinden, ob ihre Vorhersagen richtig waren. In diesem Abschnitt werden wir Schritt für Schritt die Analyse einiger Daten der Amokläuferstudie betrachten. Wenn Sie schon vorgeblättert haben, werden Sie Zahlen und Gleichungen gesehen haben. Vergessen Sie nicht, dass Mathematik ein Werkzeug, ein Hilfsmittel ist; mathematische Symbole sind Kürzel, um Ideen und ihre Verknüpfungen darzustellen. Die Rohdaten – die tatsächlich erhobenen Testwerte oder andere Maße – der 19 Häftlinge aus der Studie sind in Tabelle A.1 wiedergegeben. Wie Sie sehen können, fallen zehn Häftlinge in die Gruppe der Amokläufer und neun Häftlinge in die Gruppe der Mörder und Gewohnheitsverbrecher. Bei einem ersten, flüchtigen Blick auf die Daten würde jeder Forscher dasselbe empfinden wie Sie: Verwirrung. Was bedeuten all diese Testwerte? Unterscheiden sich die beiden Gruppen von Mördern hinsichtlich dieser drei Persönlichkeitsmaße voneinander? Wenn man nur diese unstrukturierten Zahlenreihen sieht, ist dies nicht ganz leicht zu beurteilen. Psychologen stützen sich auf zwei Arten von Statistik, um vorliegende Daten zu verstehen und sinnvolle Schlussfolgerungen aus ihnen abzuleiten: deskriptive (beschreibende) Statistik und Inferenzstatistik (schlussfolgernde Statistik). Die deskriptive Statistik benutzt mathematische Verfahren in einer objektiven, standardisierten Weise, um verschiedene Aspekte numerischer Daten zu beschreiben. Wenn Sie sich einmal Ihren Notendurchschnitt ausgerechnet haben, haben Sie schon deskriptive Statistik benutzt. Die Inferenzstatistik verwendet die Wahrscheinlichkeitstheorie, um fundierte Entscheidungen darüber zu treffen, welche Ergebnisse lediglich die Folge zufälliger Variation sein könnten.
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A1
S ta tist i sc h er An h an g: D aten an al y s e und S c hlus s fo lg e r ung e n
Tabelle A.1
Rohdaten aus der Studie zu Amokläufern BSRI
MMPI
Schüchternheit
Femininität – Maskulinität
Impulskontrolle
1
Ja
+5
17
2
Nein
–1
17
Häftling Gruppe 1: Amokläufer
3
Ja
+4
13
4
Ja
+61
17
5
Ja
+19
13
6
Ja
+41
19
7
Nein
–29
14
8
Ja
+23
9
9
Ja
–13
11
10
Ja
+5
14
Gruppe 2: Gewohnheitsverbrecher als Mörder
54
11
Nein
–12
15
12
Nein
–14
11
13
Ja
–33
14
14
Nein
–8
10
15
Nein
–7
16
16
Nein
+3
11
17
Nein
–17
6
18
Nein
+6
9
19
Nein
–10
12
A.1.1 Deskriptive Statistik
Häufigkeitsverteilungen
Die deskriptive Statistik liefert eine Zusammenfassung von Datenmustern. Maße der deskriptiven Statistik werden zur Beschreibung von Datenmengen benutzt, die an einem Probanden oder häufiger an verschiedenen Probandengruppen erhoben wurden. Sie werden auch zur Beschreibung von Beziehungen zwischen Variablen verwendet. Statt also zu versuchen, sich alle Testwerte zu merken, die an jedem der Probanden erhoben wurden, berechnen Forscher Indizes von Testwerten, die besonders typisch für jede Gruppe sind. Sie berechnen auch Maße, die angeben, wie variabel die Testwerte im Vergleich zum typischen Testwert sind – ob sich die Testwerte stark unterscheiden oder nahe beieinander liegen. Sehen wir uns an, wie diese Maße abgeleitet werden.
Wie würden Sie die Daten in Tabelle A.1 zusammenfassen? Um ein klares Bild davon zu erhalten, wie die verschiedenen Werte verteilt sind, können wir eine Häufigkeitsverteilung erstellen – eine Zusammenfassung davon, wie häufig jeder der Werte auftritt. Die Daten zur Schüchternheit sind am leichtesten zusammenzufassen. Neun der 19 Antworten sind Ja-Antworten, zehn sind Nein-Antworten; fast alle Ja-Antworten sind in Gruppe 1 und fast alle Nein-Antworten sind in Gruppe 2. Die Impulskontroll- und Geschlechterrollenwerte lassen sich jedoch nicht in einfache Ja- und Nein-Kategorien einteilen. Um zu illustrieren, wie Häufigkeitsverteilungen von numerischen Angaben aufschlussreiche Vergleiche zwischen Gruppen ermöglichen können, werden wir uns auf die Werte zu Geschlechterrollen konzentrieren.
Datenanalyse
Werfen Sie einen Blick auf die Daten zu Geschlechterrollen in Tabelle A.1. Der höchste Wert ist +61 (am meisten feminin), der niedrigste ist – 33 (am meisten maskulin). Von den 19 Werten sind neun positiv und zehn negativ – was bedeutet, dass sich neun Mörder als vergleichsweise feminin und zehn als vergleichsweise maskulin beschrieben haben. Aber wie sind diese Werte zwischen den Gruppen verteilt? Der erste Schritt zu einer Häufigkeitsverteilung der Daten ist es, eine Rangordnung der Werte vom höchsten zum niedrigsten zu erstellen. Die Rangordnung der Werte zu Geschlechterrollen ist in Tabelle A.2 wiedergegeben. Ein zweiter Schritt ist die Gruppierung dieser nach Rängen geordneten Daten zu einer kleineren Zahl von Kategorien, die man als Intervalle bezeichnet. In dieser Untersuchung wurden zehn Kategorien verwendet, wobei jede Kategorie zehn mögliche Werte abdeckte. Im dritten Schritt wird eine tabellarische Häufigkeitsverteilung erstellt, indem man die Intervalle vom obersten zum untersten auflistet und die jeweilige Häufigkeit – die Anzahl der Werte innerhalb jedes Intervalls – angibt. Unsere Häufigkeitsverteilung zeigt, dass die Werte zu Geschlechterrollen vorwiegend zwischen –20 und +9 liegen ( Tabelle A.3.) Die Mehrzahl der Werte der Häftlinge unterschied sich nicht wesentlich von Null. Mit anderen Worten, die Werte waren weder sehr positiv noch sehr negativ.
Tabelle A.2
Rangordnung der Testwerte zu Geschlechterrollen Höchster Wert
+ 61
–1
+ 41
–7
+ 23
–8
+19
–10
+6
–12
+5
–13
+5
–14
+4
–17
+3
–29 –33
Tabelle A.3
Häufigkeitsverteilung der Testwerte zu Geschlechterrollen Kategorie
Häufigkeit
+ 60 bis + 69
1
+ 50 bis + 59
0
+ 40 bis + 49
1
+ 30 bis + 39
0
+ 20 bis + 29
1
+10 bis + 19
1
0 bis + 9
5
–10 bis
–1
4
– 20 bis – 11
4
– 30 bis – 21
1
– 40 bis – 31
1
Die Daten werden jetzt zu sinnvollen Kategorien gruppiert. Der nächste Schritt ist die grafische Darstellung der Verteilung. Diagramme Verteilungen sind häufig leichter zu verstehen, wenn sie in Diagrammen dargestellt werden. Die einfachste Form eines Diagramms ist ein Balkendiagramm. Balkendiagramme ermöglichen es, Muster in den Daten zu erkennen. Wir können ein Balkendiagramm verwenden, um aufzuzeigen, wie viele Amokläufer sich im Vergleich zu den Gewohnheitsverbrechern als schüchtern beschrieben Abbildung A.1.
Niedrigster Wert
Hinweis: + Werte sind femininer; – Werte sind maskuliner. Abbildung A.1: Schüchternheit bei zwei Gruppen von Mördern (ein Balkendiagramm).
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A1
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Für komplexere Daten, wie die Werte zu Geschlechterrollen, können wir ein Histogramm verwenden. Ein Histogramm ähnelt einem Balkendiagramm, allerdings handelt es sich bei den Kategorien um Intervalle – Kategorien von Zahlen statt der Kategorien aufgrund von Namen, die im Balkendiagramm verwendet wurden. Ein Histogramm vermittelt einen visuellen Eindruck der Anzahl von Werten in einer Verteilung, die in jedem der Intervalle liegen. Aus den Werten zu Geschlechterrollen, die in den Histogrammen Abbildung A.2 wiedergegeben sind, kann man leicht erkennen, dass die Verteilung der Werte bei den beiden Gruppen von Mördern unterschiedlich ist. Man kann aus den Abbildungen A.1 und A.2 ersehen, dass die Gesamtverteilung der Daten mit zwei der Hypothesen übereinstimmt. Amokläufer beschreiben sich mit größerer Wahrscheinlichkeit als schüchtern und verwenden mehr feminine Eigenschaften, um sich zu beschreiben, als Gewohnheitsverbrecher, die zu Mördern wurden. Maße der zentralen Tendenz Bisher haben wir uns grob einen Eindruck von der Verteilung der Werte verschafft. Tabellen und Diagramme vergrößern unser allgemeines Verständnis der Forschungsresultate, aber wir wollen mehr wissen – beispielsweise den einen Wert, der am typischsten für die Gruppe als Ganzes ist. Dieser Wert wird besonders nützlich, wenn wir zwei oder mehr Gruppen vergleichen; es ist wesentlich leichter, die typischen Werte zweier Gruppen zu vergleichen als ihre vollständigen Verteilungen. Ein einzelner, repräsentativer Wert, der als Index des typischsten Wertes einer Gruppe von Probanden verwendet werden kann, wird als Maß der zentralen Tendenz bezeichnet. (Er liegt in der Mitte der Verteilung und die anderen Werte scharen sich für gewöhnlich um ihn.) Psychologen verwenden üblicherweise drei unterschiedliche Maße der zentralen Tendenz: den Modalwert, den Median und das arithmetische Mittel. Der Modalwert ist derjenige Wert, der am häufigsten vorkommt. Bezogen auf Schüchternheit war der Modalwert der Antwort bei den Amokläufern Ja – acht von zehn sagten, sie seien schüchtern. Bei den Gewohnheitsverbrechern war der Modalwert der Antworten Nein. Die Werte zu Geschlechterrollen hatten bei den Amokläufern einen Modalwert von +5. Können Sie den entsprechenden Modalwert für Impulskontrolle finden? Der Modalwert ist das Maß der zentralen Tendenz, das am leichtesten zu erheben ist, aber
56
Abbildung A.2: Werte zu Geschlechterrollen (Histogramme). oft auch das am wenigsten nützliche. Einer der Gründe für den vergleichsweise geringen Nutzen des Modalwertes wird ersichtlich, wenn man beachtet, dass nur ein Wert für Impulskontrolle über dem Modalwert von 17 liegt, aber sechs Werte darunter liegen. Obwohl 17 der häufigste Wert ist, entspricht er vielleicht nicht Ihrer Vorstellung von „typisch“ oder „zentral“. Der Median eignet sich eher als zentraler Wert. Er trennt die obere Hälfte der Werte in einer Verteilung von der unteren Hälfte. Es gibt genauso viele Werte, die größer sind als der Median, wie es Werte gibt, die kleiner sind. Bei einer ungeraden Anzahl von Werten ist der Median der mittlere Wert. Bei einer geraden Anzahl von Werten muss man oft einen Mittelwert aus den beiden mittleren Werten bilden. Wenn man beispielsweise eine Rangreihe der Werte zu Geschlechterrollen bei den Gewohnheitsverbrechern erstellt, sieht
Datenanalyse
man, dass der Median –10 beträgt und vier Werte größer und vier Werte kleiner sind. Für die Amokläufer ist der Median +5 – der Mittelwert aus dem fünften und sechsten Wert, welche beide +5 sind. Der Median wird durch extreme Werte nicht beeinflusst. Wenn beispielsweise der höchste Wert unter den Amokläufern +129 statt +61 betragen hätte, wäre der Median immer noch +5. Dieser Wert würde nach wie vor die obere Hälfte der Daten von der unteren trennen. Der Median ist einfach der Wert in der Mitte einer als Rangreihe dargestellten Verteilung. Das arithmetische Mittel ist der Wert, an den die meisten Menschen denken, wenn von Mittelwert oder Durchschnitt die Rede ist. Es ist außerdem der statistische Kennwert, der am häufigsten zur Beschreibung eines Datensatzes verwendet wird. Um das arithmetische Mittel zu bestimmen, addiert man alle Werte einer Verteilung auf und teilt die Summe durch die Gesamtanzahl der Werte. Der Vorgang lässt sich durch folgende Formel zusammenfassen:
M = ( ∑ X)/N In dieser Formel steht M für das arithmetische Mittel, X ist jeder einzelne Wert, Σ (das griechische Zeichen Sigma) bezeichnet die Summe dieser Werte, und N ist die Gesamtanzahl der Werte. Weil die Summe aller Werte zu Geschlechterrollen (ΣX) 115 beträgt und die Anzahl der Werte (N) 10, ergibt sich das arithmetische Mittel der Werte zu Geschlechterrollen bei Amokläufern als
M = 115/10 = 11,5 Versuchen Sie bitte, das arithmetische Mittel der Impulskontrollwerte selbst zu bestimmen. Sie sollten einen Wert von 14,4 erhalten. Im Gegensatz zum Median wird das arithmetische Mittel durch die konkreten Werte aller Testwerte in einer Verteilung beeinflusst. Eine Veränderung eines Extremwertes verändert den Wert des arithmetischen Mittels. Betrüge beispielsweise der Wert zu Geschlechterrollen bei Häftling vier +101 statt +61, dann würde sich das arithmetische Mittel der Gruppe von 11,5 auf 15,5 erhöhen. Variabilität Neben der Frage, welcher Wert die gesamte Verteilung am besten repräsentiert, ist es oft auch interessant zu wissen, wie repräsentativ dieses Maß der zentralen Tendenz ist. Liegen die meisten anderen Werte nah
beieinander oder sind sie breit gestreut? Maße der Variabilität sind statistische Maße, welche die Verteilung von Werten um ein Maß der zentralen Tendenz beschreiben. Ist Ihnen klar, weshalb Maße der Variabilität wichtig sind? Ein Beispiel ist hier vielleicht hilfreich. Angenommen, Sie wären Grundschullehrer. Das Schuljahr hat gerade begonnen und Sie werden eine Gruppe Zweitklässler im Lesen unterrichten. Ihr Wissen, dass das durchschnittliche Kind in der Lage ist, ein Buch für die erste Klasse zu lesen, wird Ihnen bei der Unterrichtsvorbereitung helfen. Sie könnten sich noch besser vorbereiten, wenn Sie wüssten, wie ähnlich oder unterschiedlich die Lesefähigkeiten der 30 Kinder sind. Sind alle in etwa auf dem gleichen Stand (geringe Variabilität)? Wenn ja, können Sie eine ganz normale Stunde für die zweite Klasse vorbereiten. Was ist aber, wenn mehrere schon in der Lage sind, anspruchsvollere Werke zu lesen, und andere gerade eben in der Lage sind, überhaupt zu lesen (hohe Variabilität)? In diesem Fall ist der Durchschnitt weniger repräsentativ für die gesamte Klasse und Sie werden eine Vielfalt an Stunden planen müssen, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Das einfachste Maß der Variabilität ist die Spannweite, die Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert in einer Häufigkeitsverteilung. Bei den Werten zu Geschlechterrollen der Amokläufer beträgt die Spannweite 90: (+65) – (–29). Die Spannweite ihrer Impulskontrollwerte beträgt 10: (+19) – (+9). Man benötigt für die Berechnung der Spannweite nur zwei Werte: den höchsten (Maximum) und den niedrigsten (Minimum). Die Spannweite ist leicht zu errechnen, aber Psychologen bevorzugen häufig Maße der Variabilität, die empfindlicher sind und alle Werte in einer Verteilung berücksichtigen und nicht nur die Extreme. Ein häufig verwendetes Maß ist die Standardabweichung (SD, von englisch „standard deviation“), ein Maß der Variabilität, das die mittlere Differenz zwischen den Werten und ihrem arithmetischen Mittel widerspiegelt. Um die Standardabweichung einer Verteilung zu ermitteln, muss man das arithmetische Mittel der Verteilung und die einzelnen Werte kennen. Zur Berechnung der Standardabweichung wird folgende Formel verwendet:
∑ (X − M ) ∑
2
SD =
N
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Sie sollten die meisten Symbole noch aus der Formel für das arithmetische Mittel kennen. Der Ausdruck (X–M) bedeutet „einzelner Testwert minus dem arithmetischen Mittel“ und wird allgemein als Abweichungswert bezeichnet. Das arithmetische Mittel wird von jedem Testwert abgezogen und alle resultierenden Werte werden quadriert (um negative Werte auszuschließen). Anschließend wird das arithmetische Mittel dieser quadrierten Abweichungen bestimmt, indem man die quadrierten Abweichungen aufsummiert (Σ) und durch die Anzahl der Datenpunkte (N) teilt. Das Symbol √ weist darauf hin, dass man die Wurzel des darunter liegenden Wertes ziehen muss, um die vorherige Quadrierung aufzuheben. Die Standardabweichung der Impulskontrollwerte bei Amokläufern wird in Tabelle A.4 berechnet. Wie Sie sich erinnern werden, ist das arithmetische Mittel dieser Werte 14,4. Diese 14,4 sind also von jedem Wert abzuziehen, um die entsprechenden Abweichungswerte zu erhalten.
Die Standardabweichung gibt an, wie variabel eine Menge von Werten ist. Je größer die Standardabweichung, desto breiter gestreut sind die Werte. Die Standardabweichung der Werte zu Geschlechterrollen bei Amokläufern beträgt 24,6. Bei den Gewohnheitsverbrechern beträgt die Standardabweichung nur 10,7. Das zeigt, dass es unter den Gewohnheitsverbrechern weniger Variabilität gab. Ihre Werte gruppierten sich näher um ihr arithmetisches Mittel als die Werte der Amokläufer. Eine kleine Standardabweichung bedeutet, dass das arithmetische Mittel ein guter repräsentativer Index für die gesamte Verteilung ist. Ist die Standardabweichung hoch, ist das arithmetische Mittel weniger typisch für die gesamte Gruppe. Korrelation Ein weiteres nützliches Werkzeug zur Interpretation psychologischer Daten ist der Korrelationskoeffizient. Er erfasst, wie stark und von welcher Art die Bezie-
Tabelle A.4
Berechnung der Standardabweichung der Impulskontrollwerte von Amokläufern
Wert
Abweichung (Wert minus arithmetischem Mittel)
Quadrierte Abweichung (Wert minus arithmetischem Mittel) 2
(X)
(X – M)
(X – M) 2
17
2,6
6,76
17
2,6
6,76
13
–1,4
1,96
17
2,6
6,76
13
–1,4
1,96
19
4,6
21,16
14
–0,4
0,16
9
–5,4
29,16
11
–3,4
11,56
14
–0,4
0,16
Standardabweichung = SD =
∑ (X − M )
2
N
86.40 , = 10 SD = 2.94 ,
58
8.64 = 2.94 , ,
, = ∑ (X − M ) 86.40
2
Datenanalyse
hung zwischen zwei Variablen (wie etwa Körpergröße und Körpergewicht oder Geschlechterrolle und Impulskontrolle) ist. Der Korrelationskoeffizient gibt an, inwiefern Werte einer Variablen mit den Werten einer anderen zusammenhängen. Wenn Personen mit hohen Werten bei einer Variablen in der Regel auch hohe Werte bei der anderen Variablen haben, ist der Korrelationskoeffizient positiv (größer Null). Wenn aber die meisten Personen mit hohen Werten bei einer Variablen in der Regel niedrige Werte bei der anderen Variablen haben, wird der Korrelationskoeffizient negativ sein (kleiner Null). Wenn es keine systematische Beziehung zwischen den Werten gibt, wird die Korrelation nahe Null liegen (siehe auch Kapitel 2). Korrelationskoeffizienten variieren von +1 (vollständige positive Korrelation) über 0 bis hin zu –1 (vollständige negative Korrelation). Je mehr der Korrelationskoeffizient von Null verschieden ist, desto enger ist der Zusammenhang zwischen den beiden Variablen, gleich ob positiv oder negativ. Höhere Koeffizienten erlauben bessere Vorhersagen einer Variablen, wenn man die andere kennt. Bei der Untersuchung zu Amokläufern beträgt der Korrelationskoeffizient (abgekürzt durch r) zwischen den Werten zu Geschlechterrollen und den Impulskontrollwerten +0,35. Es besteht also eine positive Korrelation zwischen den Werten zu Geschlechterrollen und den Impulskontrollwerten – Menschen, die sich selbst als femininer wahrnehmen, haben in der Regel auch höhere Impulskontrollwerte. Die Korrelation ist aber mäßig, verglichen mit dem Maximum von +1,00, so dass klar ist, dass es viele Ausnahmen von dem gerade beschriebenen Zusammenhang gibt. Wenn man das Selbstwertgefühl der Häftlinge erfasst hätte und eine Korrelation von –0,68 zwischen den Impulskontrollwerten und dem Selbstwertgefühl gefunden hätte, wäre dies eine negative Korrelation. Wäre dies der Fall, würde man sagen, dass Personen mit hohen Werten bei der Impulskontrolle in der Regel ein niedrigeres Selbstwertgefühl aufweisen. Es läge in diesem Fall auch ein stärkerer Zusammenhang vor als zwischen den Werten zu Geschlechterrollen und den Impulskontrollwerten, weil –0,68 weiter von 0 – dem Punkt, an dem kein Zusammenhang besteht – entfernt ist als +0,35.
A.1.2 Inferenzstatistik Wir haben eine Reihe von deskriptiven Maßen verwendet, um die Daten aus der Studie über Amokläufer zu beschreiben, und haben jetzt einen Eindruck vom
Ergebnismuster. Einige grundlegende Fragen sind jedoch nach wie vor offen. Sie werden sich erinnern, dass die Forscher die Hypothese hatten, dass die Amokläufer schüchterner und femininer seien und über eine größere Impulskontrolle verfügten. Nachdem wir unter Verwendung deskriptiver Statistik das durchschnittliche Antwortverhalten und seine Variabilität bei beiden Gruppen miteinander verglichen haben, scheint es so, als gäbe es einige Unterschiede zwischen den Gruppen. Aber woher sollen wir wissen, ob diese Unterschiede groß genug sind, um bedeutsam zu sein? Wenn wir die Studie mit zwei anderen Stichproben von Mördern wiederholen würden, würden wir dann erwarten, dasselbe Muster von Ergebnissen vorzufinden, oder könnten unsere Ergebnisse auf den Zufall zurückzuführen sein? Wenn es uns auf irgendeine Weise möglich wäre, die Gesamtpopulation der Amokläufer und der Gewohnheitsverbrecher, die zu Mördern wurden, zu untersuchen, wären die arithmetischen Mittel und die Standardabweichungen genauso groß wie die, die wir in unseren kleinen Stichproben gefunden haben? Solche Fragen kann man mithilfe der Inferenzstatistik beantworten. Sie gibt Aufschluss darüber, welche Schlüsse (Inferenzen) aus den Stichproben ableitbar sind und welche Schlussfolgerungen man legitimerweise aus den Daten ziehen kann. Die Inferenzstatistik verwendet die Wahrscheinlichkeitstheorie um festzustellen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Datensatz durch Zufall entstanden ist. Die Normalverteilung Um zu verstehen, wie Inferenzstatistik funktioniert, muss man zuerst einen Blick auf die speziellen Eigenschaften einer Verteilung werfen, die als Normalverteilung bekannt ist. Wenn man Werte einer Variablen (beispielsweise Körpergröße, IQ oder Impulskontrolle) bei einer großen Zahl von Personen erhebt, folgen die so erhaltenen Zahlen oft einer Verteilung ähnlich der in Abbildung A.3. Die Verteilung ist symmetrisch (die linke Hälfte ist ein Spiegelbild der rechten) und glockenförmig (in der Mitte, wo die meisten Werte liegen, ist sie hoch und sinkt, je weiter man sich vom arithmetischen Mittel entfernt). Diese Art von Verteilung wird als Normalverteilung oder Gauß‘sche Kurve bezeichnet (nach dem deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß, 1777–1855). Bei einer Normalverteilung sind Median, Modalwert und arithmetisches Mittel identisch. Man kann vorhersagen, dass ein bestimmter Prozentsatz an Werten in unterschiedliche Abschnitte der Verteilung fällt.
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A1
Anzahl der Fälle
S ta tist i sc h er An h an g: D aten an al y s e und S c hlus s fo lg e r ung e n
Standardabweichungen Anzahl der Werte im Intervall falls die Gesamtzahl = 1000 Prozentsatz der Werte im Intervall Perzentile Stanford-Binet IQ
–1SD Arithmetisches Mittel +1SD
-2SD
–3SD
+2SD
+3SD
1
22
136
341
341
136
22
1
0,1%
2,1%
13,6%
34,1%
34,1%
13,6%
2,1%
0,1%
1 52
5 68
10
20 30 40 50 60 70 80 84
100
90 95
116
99 132
148
Abbildung A.3: Eine Normalverteilung.
Abbildung A.3 zeigt die IQ-Werte eines Stanford-Binet-Intelligenz-Tests. Diese Werte haben ein arithmetisches Mittel von 100 und eine Standardabweichung von 16 (in anderen IQ-Tests wurde, bei gleichem Mittelwert von 100, als Standardabweichung der Wert 15 oder 10 gesetzt). Wenn man Standardabweichungen als Abstände vom Mittelwert einzeichnet, stellt man fest, dass etwas mehr als 68 Prozent der Werte zwischen dem Mittelwert und einer Standardabweichung darüber und darunter liegen – zwischen den IQ-Werten 84 und 116. Etwa weitere 27 Prozent der Werte liegen zwischen der ersten und zweiten Standardabweichung unter dem Mittelwert (IQ-Werte zwischen 64 und 84) und über dem Mittelwert (IQ-Werte zwischen 116 und 132). Weniger als 5 Prozent der Werte sind bis zu drei Standardabweichungen vom Mittelwert entfernt und sehr wenige Werte – nur etwa 0,25 Prozent – sind über drei Standardabweichungen entfernt. Kennwerte der Inferenzstatistik geben die Wahrscheinlichkeit an, dass die vorliegende Stichprobe an Werten tatsächlich in Beziehung zu dem steht, was man zu messen versucht, oder ob sie auch durch Zufall zustande gekommen sein könnten. Es ist beispielsweise wahrscheinlicher, dass jemand einen IQ von 105 hat als einen IQ von 140, aber ein IQ von 140 ist wahrscheinlicher als ein IQ von 35. Man erhält auch dann eine Normalverteilung, wenn man eine Reihe von Messungen macht, deren Unterschiede nur auf den Zufall zurückzuführen sind. Wenn
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man eine Münze zehn Mal hintereinander wirft und jedes Mal das Ergebnis (Kopf oder Zahl) notiert, wird man wahrscheinlich fünfmal Kopf und fünfmal Zahl erhalten – meistens. Wenn man die Münze weiterhin wirft und solche 10er-Serien 100 Mal wiederholt, werden wahrscheinlich auch ein paar Zehner-Sets dabei sein, in denen nur Kopf oder nur Zahl vorkam. Es wird mehr Sets geben, in denen das Verhältnis zwischen diesen Extremen liegt, und bei den meisten 10er-Sets wird das Verhältnis zwischen Kopf und Zahl in etwa ausgewogen sein. Würde man die 10er-Verteilungen dieser insgesamt 1.000 Münzwürfe grafisch darstellen, erhielte man eine Verteilung, die der Normalverteilung sehr ähnlich ist, so wie die Verteilung in der Abbildung (5:5 als häufigster Wert und abnehmende Häufigkeiten bis hin zu den Kopf-Zahl-Verhältnissen 0:10 bzw. 10:0). Statistische Signifikanz Ein Forscher, der einen Unterschied zwischen den arithmetischen Mitteln zweier Stichproben findet, muss sich fragen, ob der Unterschied tatsächlich besteht oder ob er nur zufällig entstanden ist. Weil zufällige Unterschiede einer Normalverteilung folgen, kann man die Normalverteilung verwenden, um die Frage zu beantworten. Ein einfaches Beispiel wird helfen, diesen Punkt zu verstehen. Angenommen, ein Professor wollte herausfinden, ob das Geschlecht des Testleiters einen Einfluss auf die Testwerte von männlichen und weib-
Datenanalyse
lichen Probanden hat. Zu diesem Zweck weist der Professor die Hälfte der Probanden per Zufall einem männlichen Testleiter zu, die andere Hälfte erhält eine Testleiterin. Der Professor vergleicht dann die Mittelwerte der beiden Gruppen. Die beiden Mittelwerte wären wahrscheinlich recht ähnlich; ein kleiner Unterschied wäre vermutlich zufällig. Weshalb? Weil die Mittelwerte der Stichproben mit männlichem Testleiter und weiblicher Testleiterin meistens recht nahe aneinander liegen sollten, wenn nur der Zufall wirkt und beide Gruppen aus der gleichen Population (kein Unterschied) stammen. Aufgrund der Prozentsätze von Werten, die man in verschiedenen Bereichen der Normalverteilung findet, weiß man, dass weniger als ein Drittel der Werte aus der Gruppe mit männlichem Testleiter mehr als eine Standardabweichungen über oder unter dem Mittelwert der Gruppe mit weiblicher Testleiterin liegen sollte. Die Wahrscheinlichkeit, einen Mittelwert für die Gruppe mit männlichem Testleiter zu erhalten, der mehr als drei Standardabweichungen über oder unter dem Großteil der Mittelwerte der Gruppe mit weiblicher Testleiterin liegt, ist sehr gering. Ein Professor, der einen solchen Unterschied fände, wäre sich ziemlich sicher, dass der Unterschied als solcher existiert und irgendwie in Beziehung zum Geschlecht des Testleiters steht. Die nächste Frage wäre, wie diese Variable die Testwerte beeinflusst. Würde man männliche und weibliche Probanden per Zufall auf die beiden Testleiter aufteilen, wäre es möglich herauszufinden, ob ein insgesamt vorhandener Unterschied zwischen den Testleitern konsistent bei beiden Probandengruppen auftritt oder ob er auf ein Geschlecht begrenzt ist. Angenommen, die Daten zeigen, dass männliche Testleiter weibliche Probanden besser bewerten als weibliche Testleiter es tun, aber beide Testleiter männliche Probanden gleich bewerten. Unser Professor könnte ein statistisches Inferenz-Verfahren verwenden, um die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der ein beobachteter Unterschied durch Zufall entstanden ist. Diese Berechnung basiert auf der Größe des Unterschieds und der Variabilität der Werte. Auf der Basis einer Konvention betrachten Psychologen einen Unterschied als bedeutsam, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass er durch Zufall zustande gekommen ist, weniger als 5 von 100 beträgt (man notiert dies als p << 0,05). Ein signifikanter Unterschied ist ein Unterschied, der dieses Kriterium erfüllt. In manchen Fällen werden jedoch auch noch strengere Wahrscheinlichkeitsgrenzen verwendet, wie beispielsweise p << 0,01 (weniger als 1 von 100) und p << 0,001 (weniger als 1 von 1000).
Anhand eines statistisch signifikanten Unterschieds kann ein Forscher Schlussfolgerungen über das untersuchte Verhalten ziehen. Es gibt viele verschiedene Testverfahren zur Abschätzung der statistischen Signifikanz von Datenmengen. Welcher Test jeweils gewählt wird, hängt vom Untersuchungsdesign, der Form der Daten und der Stichprobengröße ab. Wir werden nur einen der gebräuchlichsten Tests erwähnen, den t-Test, den man einsetzen kann, wenn man wissen möchte, ob der Unterschied zwischen den arithmetischen Mitteln zweier Gruppen statistisch signifikant ist. Man kann einen t-Test verwenden, um herauszufinden, ob sich der Mittelwert der Werte zu Geschlechterrollen bei den Amokläufern signifikant von dem entsprechenden Mittelwert der Gewohnheitsverbrecher unterscheidet. Ein t-Test benutzt ein mathematisches Verfahren, um die Schlussfolgerung zu bestätigen, die Sie vielleicht aus Abbildung A.2 gezogen haben: Die Verteilungen der Werte zu Geschlechterrollen der beiden Gruppen sind hinreichend unterschiedlich, um den Unterschied als bedeutsam zu bezeichnen. Wenn man die entsprechenden Berechnungen durchführt – man beurteilt den Unterschied zwischen den beiden arithmetischen Mitteln in Abhängigkeit von der Variabilität um diese beiden Mittelwerte herum –, stellt man fest, dass es eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit von weniger als 5 von 100 (p << 0,05) gibt, einen solch hohen t-Wert zu erhalten, wenn in Wirklichkeit kein Unterschied vorhanden ist. Der Unterschied ist also statistisch signifikant und wir sind uns sicherer, dass es einen tatsächlichen Unterschied zwischen den Gruppen gibt. Die Amokläufer haben sich selbst als femininer beschrieben als die Gewohnheitsverbrecher. Andererseits ist der Unterschied in der Impulskontrolle zwischen den beiden Gruppen von Mördern nicht signifikant (p << 0,10), so dass wir vorsichtiger sein müssen, wenn wir über diesen Unterschied sprechen. Es gibt einen Trend in Richtung der Vorhersage – der Unterschied würde nur in 10 von 100 Fällen per Zufall auftreten. Der Unterschied liegt aber nicht innerhalb des normalen 5-von-100-Bereichs. (Der Unterschied bei der Schüchternheit, der mit einem anderen statistischen Testverfahren für die Häufigkeit von Werten untersucht wurde, ist hoch signifikant.) Wir haben also durch die Verwendung der Inferenzstatistik einige der grundlegenden Fragen, mit denen wir begonnen haben, beantworten können und sind jetzt einem Verständnis derjenigen Menschen etwas näher, die plötzlich von höflichen, schüchternen Menschen zu Mördern werden. Jede Schlussfolgerung ist aber nur eine Aussage über die wahrscheinlichen Zu-
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A1
S ta tist i sc h er An h an g: D aten an al y s e und S c hlus s fo lg e r ung e n
sammenhänge hinter den untersuchten Ereignissen; sie ist nie eine Aussage über Gewissheiten. In der Wissenschaft ist die Wahrheit provisorisch, immer offen für eine Revision durch später erhobene Daten aus besseren Untersuchungen, die aufgrund besserer Hypothesen entwickelt wurden. Nehmen Sie sich die Zeit und denken darüber nach, was Sie noch gerne erfahren würden, um diese Daten in einen umfassenderen Zusammenhang stellen zu können. Vielleicht möchten Sie wissen, wie beide Typen von Mördern sich von Menschen, die nie einen Mord begangen haben, in den Geschlechterrollenwerten unterscheiden. Wenn wir neue Daten sammelten, könnten wir mithilfe deskriptiver und inferenzieller Statistik Fragen beantworten, wie zum Beispiel, ob alle Mörder sich auf diesen Skalen von den Menschen, die keine Morde begehen, unterscheiden. Was würden Sie erwarten?
Wie wird man ein mündiger Rezipient von Statistiken?
A.2
Nachdem wir uns nun damit beschäftigt haben, was Statistik ist, wie man sie verwendet und was Statistiken bedeuten, sollten wir kurz darüber sprechen, wie man sie missbrauchen kann. Viele Menschen glauben den „Fakten“, die durch nichts gestützt werden, eher als dem Hauch von Autorität, den eine Statistik verleiht. Andere ziehen es vor, den Statistiken zu glauben oder zu misstrauen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie sie die Zahlen in Frage stellen sollen, die zur Unterstützung eines Produktes, eines Politikers oder eines Vorschlags herangezogen werden. Am Ende von Kapitel 2 haben wir einige Vorschläge gemacht, wie man ein mündiger Rezipient von Forschungsergebnissen wird. Auf der Basis dieses kurzen Überblicks über die Statistik können wir diese Ratschläge auf Situationen übertragen, in denen jemand spezifische statistische Behauptungen aufstellt. Es gibt viele Möglichkeiten, irreführende Eindrücke durch Statistiken zu erzeugen. Die Entscheidungen, die auf jeder Stufe des Forschungsprozesses getroffen werden – von der Wahl der Probanden bis zum Untersuchungsdesign, der Wahl der statistischen Verfahren und der Art und Weise, wie sie eingesetzt werden –, können deutlichen Einfluss auf die Schlussfolgerungen haben, die man aus den Daten ziehen kann. Die Probandengruppe kann eine große Rolle spielen, die leicht unbemerkt bleibt, wenn die Ergebnisse
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veröffentlicht werden. Beispielsweise wird eine Untersuchung über Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch sehr unterschiedliche Ergebnisse erbringen, wenn man sie in einer kleinen, fundamentalistischen Gemeinde durchführt anstatt an einer Universität in New York. In ähnlicher Weise wird die Befragung einer Gruppe von Abtreibungsgegnern unter ihren Mitgliedern andere Schlussfolgerungen erbringen als dieselbe Befragung, wenn sie unter Abtreibungsbefürwortern durchgeführt wird. Selbst wenn die Probanden zufällig ausgewählt und von der Untersuchungsmethode nicht einseitig beeinflusst werden, können die statistischen Verfahren irreführende Resultate produzieren, wenn die den Verfahren zugrunde liegenden Annahmen verletzt werden. Angenommen, 20 Personen machen einen IQ-Test; 19 erhalten Werte zwischen 90 und 110, und eine Person erhält ein Ergebnis von 220. Das arithmetische Mittel der Gruppe wird durch diesen einzelnen „Ausreißer“ stark angehoben. Bei einem solchen Datensatz wäre es weitaus genauer, den Median oder den Modalwert anzugeben, welche die durchschnittliche Intelligenz der Gruppe treffend wiedergeben, anstatt das arithmetische Mittel zu benutzen, das den Eindruck erweckt, das durchschnittliche Gruppenmitglied sei überdurchschnittlich intelligent. Eine solche Verzerrung ist vor allem bei kleinen Stichproben kritisch. Wenn andererseits 2.000 statt 20 Personen in der Gruppe wären, würde der „Ausreißer“ praktisch keinen Unterschied machen und das arithmetische Mittel wäre eine legitime Zusammenfassung der Intelligenz der Gruppe. Um zu vermeiden, dass man auf solche Täuschungen hereinfällt, ist es am besten, die Stichprobengröße zu prüfen – große Stichproben sind mit geringerer Wahrscheinlichkeit irreführend als kleine. Eine weitere Kontrollmöglichkeit besteht darin, einen Blick auf den Median oder den Modalwert zu werfen, nicht nur auf das arithmetische Mittel – die Ergebnisse können mit größerer Sicherheit interpretiert werden, wenn diese Maße der zentralen Tendenz ähnlich sind. Man sollte sich die Untersuchungsmethoden und die Ergebnisse der Forschung, über die berichtet wird, immer genau ansehen. Man sollte überprüfen, ob die Experimentatoren ihre Stichprobengröße, die Maße der Variabilität und die Signifikanzniveaus angeben. Man sollte versuchen herauszufinden, ob die verwendeten Methoden genau und konsistent das messen, was sie vorgeben zu messen. Die Statistik ist das Rückgrat psychologischer Forschung. Man benutzt sie, um Beobachtungen zu verstehen und sicherzustellen, ob die Befunde tatsächlich richtig sind. Anhand der Methoden, die wir beschrie-
Datenanalyse
ben haben, können Psychologen eine Häufigkeitsverteilung der Daten erstellen und zentrale Tendenzen und die Variabilität von Werten ermitteln. Sie können den Korrelationskoeffizienten verwenden, um Richtung und Stärke eines Zusammenhangs zwischen Mengen von Werten zu bestimmen. Schließlich können Psychologen auch herausfinden, wie repräsenta-
tiv ihre Beobachtungen sind und ob sie sich statistisch von der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Statistik kann auch schlecht oder zu Täuschungszwecken eingesetzt werden und diejenigen irreführen, die sie nicht verstehen. Wenn die Statistik aber korrekt und verantwortungsvoll eingesetzt wird, ermöglicht sie den Forschern, den Wissensstand der Psychologie zu vergrößern.
SCHLÜSSELBEGRIFFE Arithmetisches Mittel (S. 57) Deskriptive Statistik (S. 53) Häufigkeitsverteilungen (S. 54)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Inferenzstatistik (S. 53) Korrelationskoeffizient (S. 58) Maß der zentralen Tendenz (S. 56) Maße der Variabilität (S. 57) Median (S. 56) Modalwert (S. 56) Normalverteilung (S. 59) Signifikanter Unterschied (S. 61) Spannweite (S. 57) Standardabweichung (S. 57)
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Die biologischen und evolutionären Grundlagen des Verhaltens 66 67 71
3.2 Das Nervensystem in Aktion
............................... Das Neuron. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktionspotenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synaptische Übertragung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurotransmitter und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 75 77 80 81
3.3 Biologie und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Ein Blick ins Gehirn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83 84
Kritisches Denken im Alltag: Was bedeutet „Es liegt in den Genen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6
Das Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehirnstrukturen und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hemisphärenlateralisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das endokrine System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plastizität und Neurogenese: Unser Gehirn verändert sich . . . . . .
88 90 95 98 99
Psychologie im Alltag: Warum beeinflusst Musik, wie man sich fühlt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
.................................. 3.1.1 Evolution und natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Variationen im Genotyp des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
............................................
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.............................................
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3
ÜÜ BB EE RR BB LL II CC KK
3.1 Vererbung und Verhalten
3
Die b io l o g i sc h en u n d evol u ti on ä re n G r und la g e n d e s Ve r ha lt e ns
W
as macht uns zu einzigartigen Individuen? Dieses Lehrbuch gibt viele verschiedene Antworten auf diese Frage, doch im vorliegenden Kapitel konzentrieren wir uns auf die biologischen Aspekte unserer Individualität. Um besser verstehen zu können, was uns von anderen Menschen unterscheidet, gehen wir zuerst auf die Rolle ein, welche die Vererbung für unser Leben und die Ausformung unseres Gehirns spielt, das unsere Erfahrungen steuert. Natürlich können wir diese Unterschiede nur vor dem Hintergrund dessen richtig einschätzen, was wir mit allen anderen Menschen gemein haben. Betrachten wir dieses Kapitel deshalb als ein Kapitel über das biologische Potenzial: Welche Möglichkeiten des Verhaltens kennzeichnen die menschliche Spezies und wie treten diese Möglichkeiten bei bestimmten Mitgliedern dieser Spezies in Erscheinung? In gewisser Weise stellt dieses Kapitel einen Beweis für einen bemerkenswerten Aspekt unseres biologischen Potenzials dar: Unser Gehirn ist hinreichend komplex, um eine systematische Erforschung seiner eigenen Funktionen zu unternehmen. Warum ist dies so bemerkenswert? Das menschliche Gehirn wird manchmal mit einem sensationellen Computer verglichen: Mit nur 1,5 Kilogramm enthält unser Gehirn mehr Zellen, als sich Sterne in unserer Galaxie befinden – über 100 Milliarden Zellen, die erstaunlich effizient miteinander kommunizieren und Informationen speichern. Doch selbst der beste Computer der Welt ist nicht fähig, über die Regeln nachzudenken, die seine eigenen Abläufe steuern. Wir sind also weit mehr als ein Computer; unser Bewusstsein erlaubt es uns, unsere gewaltige Rechenleistung bei dem Versuch einzusetzen, die Verhaltensregeln unserer eigenen Spezies zu erkunden. Die Forschung, die wir in diesem Kapitel beschreiben, erwuchs aus der dem Menschen eigenen Sehnsucht, sich selbst zu verstehen. Für viele Studierende wird dieses Kapitel eine größere Herausforderung darstellen als der Rest dieses Buches. Es ist erforderlich, einiges über die Anatomie und viele neue Begriffe zu lernen. Dies scheint weit von dem entfernt zu sein, was man von einem Einführungswerk in die Psychologie erwartet. Das Verstehen unserer biologischen Natur wird uns jedoch befähigen, das komplexe Zusammenspiel von Gehirn, Geist, Verhalten und Umwelt besser zu erkennen, aus dem die einzigartige Erfahrung der menschlichen Existenz erwächst. Unser Ziel für dieses Kapitel ist es, dem Leser den biologischen Anteil am Entstehen einzigartiger Individuen vor dem gemeinsamen Hintergrund an Möglichkeiten verständlich zu machen. Um dieses Ziel zu er-
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reichen, beschreiben wir zunächst, wie Evolution und Vererbung unseren Körper und unser Verhalten bestimmen. Dann werden wir sehen, wie Labor- und klinische Forschung einen Blick auf die Arbeitsweise des Gehirns, des Nervensystems und des endokrinen Systems ermöglichen. Im Anschluss betrachten wir einige interessante Beziehungen zwischen diesen biologischen Funktionen und einigen Aspekten unserer alltäglichen Erfahrungen. Schließlich behandeln wir Unterschiede zwischen Individuen hinsichtlich der Beziehung zwischen Gehirn und Verhalten.
Vererbung und Verhalten
3.1
In Kapitel 1 haben wir als eines der Hauptziele der Psychologie den Versuch definiert, die Ursachen für die Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen aufzudecken. Eine wichtige Dimension kausaler Erklärungen in der Psychologie wird durch die Pole von Anlage (oder Erbe) und Umwelt aufgespannt. Betrachten wir wie in Kapitel 1 die Frage nach den Wurzeln aggressiven Verhaltens. Man könnte denken, dass Menschen aufgrund bestimmter Aspekte ihrer biologischen Ausstattung aggressiv sind: Ein Mensch hat seine Gewaltneigung vielleicht von einem Elternteil geerbt. Oder man ist der Meinung, dass alle Menschen eine etwa gleiche Veranlagung zur Aggression besitzen und dass der Grad der Aggression, den Menschen letztlich an
Psychologen versuchen oft, die verschiedenartigen Einflüsse von Anlage und Umwelt auf den Verlauf des Lebens festzustellen. Warum ist es möglicherweise einfacher, Umwelteinflüsse zu identifizieren als Erbeinflüsse?
3.1 Vererbung und Verhalten
3.1.1 Evolution und natürliche Selektion Frisch von der Universität mit einem Abschluss in Theologie setzte im Jahre 1831 Charles Darwin in England die Segel und war auf der HMS Beagle, einem Meeresforschungsschiff, fünf Jahre auf See, um die Küste Südamerikas zu erforschen. Während dieser Reise sammelte Darwin alles, was seinen Weg kreuzte: Meerestiere, Vögel, Insekten, Pflanzen, Fossilien, Muscheln und Steine. Seine ausführlichen Notizen legte er seinen Büchern zugrunde, die sich mit Themen von der Geologie über Emotion bis hin zur Zoologie befassten. Darwins bekanntestes Buch ist The Origin of Species (Die Entstehung der Arten), veröffentlicht 1859 (deutsch 1884). In diesem Werk legte Darwin die bedeutendste naturwissenschaftliche Theorie dar: die Evolution des Lebens auf dem Planeten Erde. Natürliche Selektion Welche Beobachtungen brachten Charles Darwin letztlich dazu, die Evolutionstheorie aufzustellen?
den Tag legen, als Reaktion auf die Bedingungen der Umwelt entsteht, in der sie aufgewachsen sind. Die richtige Antwort auf diese Frage wirkt sich grundlegend darauf aus, wie die Gesellschaft mit übermäßig aggressiven Menschen umgeht – ob man sich darauf konzentriert, bestimmte Umweltbedingungen oder aber bestimmte Aspekte der Person selbst zu verändern. Die Kräfte der Vererbung müssen von den Kräften der Umwelt unterschieden werden können. Weil die Merkmale der Umwelt direkt beobachtbar sind, ist es oft leichter zu verstehen, wie sie das Verhalten von Menschen beeinflussen. Man kann zum Beispiel ein Elternteil, das sich gegenüber einem Kind aggressiv verhält, beobachten und sich fragen, welche Folgen eine solche Behandlung später auf die Aggressionsneigung des Kindes haben wird; man kann die beengten und ärmlichen Verhältnisse beobachten, in denen manche Kinder aufwachsen, und sich fragen, ob diese Umweltmerkmale zu aggressivem Verhalten führen. Im Gegensatz dazu sind die biologischen Kräfte, die das Verhalten formen, nie mit bloßem Auge zu erkennen. Um die Biologie des Verhaltens verständlicher zu machen, werden wir zunächst einige grundlegende Prinzipien beschreiben, die das mögliche Verhaltensrepertoire einer Spezies formen – das sind Bestandteile der Evolutionstheorie. Dann beschreiben wir, wie die Variation des Verhaltens von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Darwin entwickelte seine Evolutionstheorie, indem er über die Arten von Tieren nachdachte, denen er während seiner Reise begegnet war. Einer der vielen Orte, die die Beagle besuchte, waren die Galapagosinseln, ein vulkanischer Archipel vor der Westküste Südamerikas. Diese Inseln sind Zufluchtsorte für diverse Tierarten, darunter 13 Arten von Finken, die heute Darwinfinken genannt werden. Darwin fragte sich, wie es dazu kam, dass so viele unterschiedliche Arten von Finken diese Inseln bevölkern. Er folgerte, dass sie nicht vom Festland gekommen sein konnten, weil solche Arten dort nicht existierten. Deshalb vermutete er, dass die Artenvielfalt einen Prozess widerspiegelt, den er später natürliche Selektion (natürliche Auslese) nannte. Nach Darwins Theorie entstammt jede Spezies der Finken einer gemeinsamen Gruppe von Vorfahren. Ursprünglich fand eine kleine Schar von Finken ihren Weg auf eine der Inseln: Sie paarten sich untereinander, und ihre Zahl vervielfachte sich schließlich. Mit der Zeit zogen einige Finken auf andere Inseln des Archipels. Was dann geschah, war der Prozess der natürlichen Selektion. Futterquellen und Lebensbedingungen – ökologische Nischen – variieren beträchtlich von Insel zu Insel. Auf einigen Inseln gedeihen Beeren und Körner, andere sind mit Kakteen bedeckt, und wieder andere weisen eine Menge Insekten auf. Zu Anfang waren die Populationen auf allen Inseln ähnlich – es gab Variationen zwischen den Gruppen von Finken auf jeder Insel. Weil jedoch die Futterressourcen auf den Inseln begrenzt waren, hatten diejenigen Vögel die besten Überlebens- und Fort-
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Die b io l o g i sc h en u n d evol u ti on ä re n G r und la g e n d e s Ve r ha lt e ns
pflanzungschancen, deren Schnabelform gut zu den Futterquellen passte, die es auf der Insel gab. Vögel, die zum Beispiel auf Inseln zogen, die reich an Beeren und Körnern waren, überlebten und reproduzierten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit, wenn sie mit einem dicken Schnabel ausgestattet waren. Vögel mit dünnerem, spitzerem Schnabel, der für das Knacken und Aufbrechen von Körnern ungeeignet war, starben auf diesen Inseln. Die Umwelt jeder Insel legte fest, welche Individuen der ursprünglichen Population überleben und sich fortpflanzen würden und welche wahrscheinlich eingehen würden, ohne Nachkommen produziert zu haben. Im Laufe der Zeit führte dies zu sehr unterschiedlichen Populationen auf jeder Insel, und unterschiedliche Arten von Darwinfinken konnten sich aus der ursprünglichen Gruppe der Vorfahren entwickeln. Generell postuliert die Theorie der natürlichen Selektion, dass Organismen, die gut an ihre jeweilige Umwelt – gleich, wie diese Umwelt beschaffen ist – angepasst sind, mehr Nachkommen produzieren als die schlechter angepassten. Nach einiger Zeit werden Organismen, die geeignetere Eigenschaften zum Überleben besitzen, zahlreicher sein als diejenigen, die diese Eigenschaften nicht aufweisen. Aus evolutionärer Sicht wird der Erfolg eines Individuums an der Anzahl seiner Nachkommen gemessen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass die natürliche Selektion sogar nach kurzer Zeit drastische Aus-
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wirkungen haben kann. In einer Reihe von Studien von Peter und Rosemary Grant (Grant & Grant, 1989; Grant, 1986; Weiner, 1994) an verschiedenen Arten von Darwinfinken wurden Niederschlagsmenge, Futterversorgung und Größe der Population dieser Finken auf einer der Galapagosinseln aufgezeichnet. Im Jahre 1976 umfasste die Population weit mehr als 1000 Vögel. Das folgende Jahr brachte eine mörderische Trockenheit mit sich, die den größten Teil des Futterangebots vernichtete. Die kleinsten Körner wurden zuerst gefressen, nur größere und härtere Körner blieben übrig. In diesem Jahr sank die Finkenpopulation um mehr als 80 Prozent. Jedoch starben mehr kleinere Vögel mit kleinerem Schnabel als größere Finken mit dickerem Schnabel. Folglich wurden, wie Darwin es vorhergesagt hätte, die größeren Vögel in den folgenden Jahren zahlreicher. Warum? Weil nur die mit größerem Körper und dickerem Schnabel fit genug waren, um sich auf die veränderte Umwelt auf Grund der Trockenheit einzustellen. Interessanterweise fiel 1983 reichlich Regen, und es gab Körner im Überfluss, insbesondere die kleineren. Daraus resultierte, dass die kleineren Vögel die größeren überlebten; wahrscheinlich war ihr Schnabel besser für das Picken kleinerer Körner geeignet. Die Untersuchung der Grants zeigt, dass natürliche Selektion sogar in kurzen Abschnitten bemerkenswerte Effekte nach sich ziehen kann. Forscher dokumentieren weiterhin den Einfluss der Umwelt auf die natürliche Selektion bei verschiedenen Spezies,
3.1 Vererbung und Verhalten
beispielsweise der Europäischen Fruchtfliege (Huey et al., 2000) und dem Stichling (Rundle et al., 2000). Obwohl Darwin das Fundament für die Evolutionstheorie legte, werden von seinen Nachfolgern heute noch Mechanismen evolutionären Wandels erforscht, die jenseits seiner Vorstellungen lagen (Gould, 2002). So war zum Beispiel eine der Fragen, die Darwin nicht stichhaltig beantworten konnte, wie Populationen mit gemeinsamen Vorfahren sich so auseinander entwickeln, dass aus einer Spezies zwei werden. Wie an den Forschungen der Grants mit Darwinfinken bereits deutlich wurde, können sich Spezies als Reaktion auf örtliche Bedingungen rasch verändern. Eine Erklärung für das Auftreten neuer Spezies ist, dass sie entstehen, wenn zwei Populationen einer Ursprungsart geografisch getrennt werden – und sich daher als Reaktion auf unterschiedliche Umweltbedingungen weiterentwickeln. Allerdings hat die gegenwärtige Evolutionsforschung zahlreiche Beispiele neuer Spezies gefunden, die ohne diese Art geografischer Isolierung entstanden sind (Barton, 2000). Die Forschung geht mehreren Erklärungen dafür nach, wie sich Arten unter diesen Umständen entwickeln. Diese Erklärungen befassen sich zum Beispiel damit, wie Untergruppen innerhalb einer Art unterschiedliche Signale entwickeln – wie etwa die chemischen Signale bei Fruchtfliegen –, um geeignete Geschlechtspartner zu erkennen (Higgie et al., 2000). Wenn sich diese Signale im Laufe der Zeit auseinanderentwickeln, können unterschiedliche Arten entstehen. Genotyp und Phänotyp Kehren wir zu den Ursachen der Veränderung innerhalb existierender Arten zurück. Das Beispiel der Abnahme und des Anstiegs von Finkenpopulationen zeigt, warum Darwin den Verlauf der Evolution als survival of the fittest (Überleben der Bestangepassten) charakterisierte. Man stelle sich vor, dass jede Umwelt eine Reihe von Schwierigkeiten für jede Lebensform mit sich bringt. Diejenigen Mitglieder einer Spezies, deren physische und psychische Eigenschaften in dem Bereich liegen, der am besten zur Umwelt passt, haben die besten Überlebenschancen. In dem Maße, in dem die Eigenschaften, die das Überleben fördern, von Generation zu Generation weitergegeben werden können – sofern die Belastungsfaktoren in der Umwelt im Laufe der Zeit konstant bleiben –, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Spezies entsprechend weiterentwickelt. Um den Prozess der natürlichen Selektion detaillierter betrachten zu können, führen wir nun einige
Fachbegriffe der Evolutionstheorie ein. Betrachten wir einen einzelnen Finken. Bei der Zeugung erbte dieser Fink einen Genotyp, oder die genetische Struktur, von seinen Eltern. Im Kontext einer spezifischen Umwelt legte dieser Genotyp die Entwicklung und das Verhalten des Finken fest. Das äußere Erscheinungsbild und das Verhaltensrepertoire des Finken wird Phänotyp genannt. Im Falle unseres Finken habe sein Genotyp im Zusammenspiel mit der Umwelt einen Phänotyp mit kleinem Schnabel und der Fähigkeit, kleinere Körner zu picken, hervorgebracht. Wären alle Arten von Körnern ausreichend vorhanden, hätte dieser Phänotyp keine besondere Bedeutung für das Überleben des Finken. Was wäre aber, wenn in der Umgebung nicht ausreichend Samen zur Verfügung stünden, um die gesamte Population zu ernähren? In diesem Falle würden die einzelnen Finken in Konkurrenz um die Ressourcen treten. Bei einer Art, die unter den Bedingungen solcher Konkurrenz lebt, bestimmt der Phänotyp, welchen Individuen durch bessere Anpassung an die Gegebenheiten das Überleben ermöglicht wird. Werfen Sie noch einmal einen Blick auf unseren Finken mit dem kleinen Schnabel: Wenn nur kleine Körner verfügbar wären, hätte er einen selektiven Vorteil gegenüber Finken mit großem Schnabel. Gäbe es nur große Körner, wäre unser Fink im Nachteil. Nur Finken, die überleben, können sich auch fortpflanzen. Nur jene Tiere, die sich fortpflanzen, können ihren Genotyp weitergeben. Stellte die Umwelt weiterhin nur kleine Körner bereit, hätten die Finken daher nach einigen Generationen wahrscheinlich fast ausschließlich einen schmalen Schnabel – mit der Konsequenz, dass sie fast nur noch fähig wären, kleine Körner zu fressen. Auf diesem Wege können Umweltbedingungen das Verhaltensrepertoire einer Spezies formen. 씰 Abbildung 3.1 stellt ein vereinfachtes Modell des Prozesses der natürlichen Selektion dar. Übertragen wir nun diese Gedanken auf die menschliche Evolution. Die menschliche Evolution Wenn wir auf die Umstände zurückblicken, unter denen sich die menschliche Spezies entwickelte, beginnt man zu verstehen, warum gewisse körperliche Merkmale und Verhaltensmerkmale Teil der biologischen Ausstattung der gesamten menschlichen Spezies geworden sind. Im Laufe der Evolution unserer Spezies begünstigte die natürliche Selektion hauptsächlich zwei Adaptionen – den Gang auf zwei Beinen und die Weiterentwicklung des Gehirns. Beide Aspekte zu-
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Die b io l o g i sc h en u n d evol u ti on ä re n G r und la g e n d e s Ve r ha lt e ns
Abbildung 3.1: Wie natürliche Selektion funktioniert. Veränderungen in der Umwelt führen unter den Angehörigen einer Spezies zum Kampf um Ressourcen. Nur diejenigen Individuen, die Merkmale besitzen, die im Zurechtkommen mit diesen Veränderungen nützlich sind, werden überleben und sich fortpflanzen. Die folgende Generation wird eine größere Anzahl von Individuen aufweisen, die diese genetisch begründeten Eigenschaften besitzen.
Äußerer Druck (Umweltveränderungen)
Eine schwere Dürre vernichtete einen großen Teil der Nahrungsquellen der Finken.
Konkurrenz (um Ressourcen)
Die Finken konkurrierten um die großen harten Samenkörner, die nicht der Dürre zum Opfer gefallen waren.
Auswahl des leistungsfähigsten Phänotyps (aus einer Anzahl von Phänotypen)
Die Finken mit den kräftigsten Schnäbeln konnten die großen harten Körner am besten knacken. Die Finken mit kleineren Schnäbeln gingen größtenteils zu Grunde.
Fortpflanzungserfolg (der dem leistungsfähigsten Phänotyp entsprechende Genotyp wird an die nächste Generation weiter gegeben)
Die überlebenden Finken pflanzten sich fort.
Die Häufigkeit dieses Genotyps (und des Phänotyps) nimmt (in der nächsten Generation) zu.
Die nächste Generation wies einen höheren Prozentsatz größerer Finken mit kräftigeren Schnäbeln auf.
sammen ermöglichten das Entstehen der menschlichen Zivilisation. Zweibeiner sind fähig, aufrecht zu gehen, und die Ausbildung des Großhirns lässt die Größe des Gehirns anwachsen. Diese beiden Anpassungsleistungen sind für die meisten, wenn nicht gar für alle weiteren größeren Fortschritte der menschlichen Entwicklung, darunter auch die kulturelle Entwicklung, verantwortlich (씰 Abbildung 3.2). Mit der Entwicklung des aufrechten Ganges waren unsere Vorfahren in der Lage, neue Umwelten zu erkunden und neue Ressourcen zu nutzen. Mit wachsender Gehirngröße wurden unsere Vorfahren intelligenter und verfügten über Kapazitäten für komplexes Denken, Schlussfolgern, Gedächtnis und Planen. Die Entwicklung eines größeren Gehirns garantierte jedoch nicht, dass die Menschen intelligenter wurden – wichtig war die Art und Beschaffenheit der Zellen, die sich entwickelten und im Gehirn ausbreiteten (Gibbons, 2002). Der Genotyp, der die Informationen eines intelligenten und mobilen Phänotyps kodierte, verdrängte nach und nach andere, weniger gut angepasste Genotypen aus dem menschlichen Genpool, so dass sich nur in-
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telligenten Zweibeinern die Gelegenheit bot, sich fortzupflanzen. Nach dem Gang auf zwei Beinen und der Ausformung des Großhirns war der vielleicht bedeutendste Meilenstein der menschlichen Evolution die Entstehung der Sprache (Bickerton, 1990; Holden, 1998). Man stelle sich die ungeheuren Anpassungsvorteile vor, welche die Sprache dem frühen Menschen bot. Einfache Anweisungen, wie ein Werkzeug herzustellen ist, wo man gute Jagd- oder Fischgründe findet und wie man Gefahren vermeidet, würden Zeit, Mühen und Menschenleben sparen. Menschen konnten von den Erfahrungen anderer profitieren und mussten nicht durch Versuch und Irrtum alles, was man für das Leben brauchte, jedes Mal wieder neu erlernen. Konversation, auch Humor, würde die sozialen Bande unter Mitgliedern einer von Natur aus geselligen Spezies stärken. Doch am wichtigsten erscheint mit der Entstehung der Sprache die Möglichkeit, gesammeltes Wissen von einer Generation zur nächsten zu tradieren. Sprache ist die Basis für kulturelle Evolution, die Tendenz von Kulturen, adaptiv durch Lernen auf Ver-
3.1 Vererbung und Verhalten
Homo erectus (1,6 Mill.– Wachstum des 550.000) Gehirns und (?) Ursprung des Homo Erste Steinwerkzeuge 5 Millionen 10 Millionen
3 Millionen 4 Millionen
Australopithecus (2,3 Millionen) Gang auf zwei Beinen
Von Afrika nach Eurasien
Homo sapiens (150.000) Große Fortschritte in der Werkzeugherstellung (150.000) Landwirtschaftliche Revolution (10.000) 0,01 Millionen
0,1 Millionen Gegenwart Ursprung des modernen Menschen Industrielle (40.000) Revolution Gebrauch (150) von Feuer Technologische HaushaltsHomo habilis (? 700.000) Revolution (35) (2–1,6 Millionen) gegenstände, um Fleisch zu essen 2 Millionen
Abbildung 3.2: Zeitschiene für die wichtigsten Ereignisse der menschlichen Evolution. Der Gang auf zwei Beinen machte die Hände zum Greifen und zum Werkzeuggebrauch frei. Die Ausbildung des Großhirns stellte die Möglichkeit für höhere kognitive Prozesse wie das abstrakte Denken und Schlussfolgern bereit. Diese beiden Anpassungsleistungen führten wahrscheinlich zu den großen Fortschritten in der Entwicklung des Menschen.
änderungen in der Umwelt zu reagieren. Die kulturelle Evolution ließ größere Fortschritte im Werkzeugbau, verbesserte Landwirtschaft und die Entwicklung und ständige Verbesserung von Industrie und Technik entstehen. Unserer Spezies erlaubt die kulturelle Evolution eine sehr schnelle Anpassung an Veränderungen der Umweltbedingungen. Anpassungen an die Nutzung von Computern sind zum Beispiel erst in den letzten 20 Jahren entstanden. Die kulturelle Evolution kann sich aber nicht ohne einen Genotyp ereignen, der die Kapazitäten für Lernen und abstraktes Denken in sich trägt. Kultur – Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft und Liebhabereien usw. – ist erst aufgrund des Potenzials des menschlichen Genotyps möglich.
tiger Zeitplan für unsere Entwicklung. Die Wissenschaft von den Mechanismen der Vererbung – dem Übernehmen von körperlichen und psychischen Eigenschaften von unseren Vorfahren – ist die Genetik. Die früheste systematische Forschung, die sich mit der Beziehung zwischen Eltern und ihren Nachkommen befasste, wurde 1866 von Gregor Mendel (1822 – 1884) veröffentlicht. Mendel führte seine Studien an der bescheidenen grünen Erbse durch. Er konnte zeigen, dass die äußeren Merkmale von Erbsen, die aus verschiedenen Samen keimten – zum Beispiel, ob die Erbsen prall oder runzlig aussahen –, aus den äußeren Merkmalen derjenigen Pflanzen vorhergesagt werden konnten, von denen die Samen stammten. Mendel postulierte, dass Paare von „Faktoren“ – jeweils einer
3.1.2 Variationen im Genotyp des Menschen Wir haben gesehen, dass die Bedingungen, unter denen sich der Mensch entwickelte, die Entwicklung eines wichtigen gemeinsamen biologischen Potenzials begünstigten: beispielsweise der Gang auf zwei Beinen und die Fähigkeit zu denken und zu sprechen. Es bleiben jedoch beträchtliche Variationen innerhalb dieses gemeinsamen Potenzials. Unsere Eltern haben uns mit einem Teil von dem ausgestattet, was sie von ihren Eltern, Großeltern und all den zurückliegenden Generationen ihres Stammbaumes erhielten. Und es entstand ein einzigartiges biologisches Muster und ein einzigar-
Menschliche Chromosomen – im Augenblick der Zeugung erben wir 23 von unserer Mutter und 23 vom Vater.
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Die b io l o g i sc h en u n d evol u ti on ä re n G r und la g e n d e s Ve r ha lt e ns
Zellkern Abbildung 3.3: Genetisches Material. Der Zellkern einer jeden Zelle Ihres Körpers enthält eine Kopie der Chromosomen, die die genetische Vererbung steuern. Jedes Chromosom enthält einen langen DNS-Strang, der in einer Doppelhelix angeordnet ist. Ein Gen ist ein Segment der DNS, das Baupläne zur Bildung von Proteinen enthält, welche Ihre individuelle Entwicklung leiten (nach Lefton & Brennon, 2003).
Zelle
von einem Elternteil vererbt –, die Eigenschaften der Nachkommen bestimmten (Lander & Weinberg, 2000). Mendels Arbeit wurde zwar ursprünglich von der Wissenschaft kaum zur Kenntnis genommen, aber moderne Verfahren haben die Forschung in den Stand gesetzt, Mendels „Faktoren“ zu bestimmen und zu erforschen – wir nennen sie heute Gene. Genetische Grundlagen Im Kern jeder unserer Zellen befindet sich genetisches Material, die DNS (Desoxyribonukleinsäure; auch DNA, vom Englischen deoxyribonucleic acid, 씰 Abbildung 3.3). Die DNS besteht aus kleinsten Einheiten, den Genen. Gene enthalten die Instruktionen zur Produktion von Proteinen. Diese Proteine regulieren die physiologischen Prozesse des Körpers und die Ausprägung der phänotypischen Eigenschaften: Körperbau, körperliche Stärke, Intelligenz und viele Verhaltensmuster. Gene findet man auf stäbchenartigen Strukturen, den Chromosomen. Zum Zeitpunkt unserer Zeugung erbten wir von unseren Eltern 46 Chromosomen – 23 von der Mutter und 23 vom Vater. Jedes dieser Chromosomen enthält Tausende von Genen – die Vereinigung eines Spermiums mit einer Eizelle stellt nur eine aus vielen Milliarden möglicher Genkombinationen dar. Die Geschlechtschromosomen enthalten Gene, die den Code für die Entwicklung männlicher oder weiblicher Körpermerkmale tragen. Wir erben ein XChromosom von der Mutter und entweder ein X- oder ein Y-Chromosom vom Vater. Eine XX-Kombination codiert die Entwicklung weiblicher, eine XY-Kombination die Entwicklung männlicher Merkmale.
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Chromosom Segment der DNS
Von 1990 an finanzierte die Regierung der Vereinigten Staaten ein internationales Forschungsvorhaben namens Human Genome Project (HGP). Das Genom eines Organismus ist die vollständige Gensequenz auf den Chromosomen mit der zugehörigen DNS. 2003 hatte das HGP sein Ziel erreicht, die komplette Sequenz des menschlichen Genoms zu erstellen. Auf der Grundlage dieser Daten hat die Forschung jetzt begonnen, alle 20.000 bis 25.000 Gene des Menschen zu identifizieren. Das Ziel hier ist eine vollständige Auflistung der Anordnung und Funktionen sämtlicher Gene. Gene und Verhalten Wir haben gesehen, dass evolutionäre Prozesse eine beträchtliche Menge an Variation des menschlichen Genotyps bestehen ließen; die Interaktionen dieser Genotypen mit speziellen Umweltgegebenheiten rufen eine Variation des menschlichen Phänotyps hervor. Forscher im Bereich der Verhaltensgenetik spannen einen Bogen zwischen Genetik und Psychologie, um kausale Beziehungen zwischen Vererbung und Verhalten zu ergründen (Plomin et al., 2003). Die Erforschung menschlicher Verhaltensgenetik befasst sich oft mit der Erblichkeit bestimmter menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen. Erblichkeit wird auf einer Skala von 0 bis 1 gemessen. Liegt ein Wert nahe 0, wird damit ausgesagt, dass er hauptsächlich das Resultat von Umwelteinflüssen ist; liegt er nahe 1, handelt es sich größtenteils um das Ergebnis genetischer Einflüsse. Um diese beiden Faktoren auseinander zu halten, greifen Wissenschaftler oft auf Adoptionsstudien oder Zwillingsstudien zurück. Für
3.1 Vererbung und Verhalten
Adoptionsstudien erheben die Forscher so viele Informationen wie möglich über die leiblichen Eltern von Kindern, die bei Pflegeeltern aufwachsen. Während die Kinder aufwachsen, werden ihre relativen Ähnlichkeiten mit den leiblichen Eltern – die genetischen Einflüsse – mit denen mit ihren Adoptiveltern – also den Umwelteinflüssen – verglichen. In Zwillingsstudien wird untersucht, in welchem Ausmaß monozygote (MZ), das heißt eineiige, und dizygote (DZ), also zweieiige, Zwillingspaare einander in bestimmten Eigenschaften oder Verhaltensweisen ähneln. MZ-Zwillinge teilen 100 Prozent ihres Genmaterials, während es bei DZ-Zwillingen nur etwa 50 Prozent sind. (DZ-Zwillinge haben genetisch nicht mehr gemeinsam als andere Geschwisterpaare.) Indem man feststellt, wie viel ähnlicher MZ-Zwillinge einander, verglichen mit DZ-Zwillingen, hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft sind, kann man die Erblichkeit abschätzen. Betrachten wir eine Zwillingsstudie zur Bestimmung des Erblichkeitsanteils, Verzerrungen in einfachen Melodien zu erkennen:
AUS DER FORSCHUNG Beschweren sich Ihre Nachbarn, wenn Sie unter der Dusche singen? Wie weit ist Ihr musikalisches Talent (oder dessen Fehlen) ein Ergebnis Ihres genetischen Erbes? Eine Studie sollte diese Frage für einen Aspekt der Musikalität beantworten – die Fähigkeit, falsche Tonfolgen in einfachen Melodien zu erkennen (Drayna et al., 2001). In 씰 Abbildung 3.4 finden Sie ein Beispiel. Selbst, wenn Sie keine Noten lesen können, sehen Sie doch, dass die Noten am Ende der Phrase verändert worden sind. Würden Sie die Veränderung aber auch hören? In diesem Experiment bekamen 136 MZ-Zwillingspaare und 148 DZ-Zwillingspaare 26 kurze Melodien vorgespielt und gaben jeweils an, ob die Melodie korrekt oder verändert klang. Die Ergebnisse der MZ-Zwillinge – Anzahl der Treffer unter 26 möglichen – glichen einander mit einer Korrelation von 0,67 stärker als die der DZ-Zwillinge mit einer Korrelation von 0,44. Auf Grund dieser Daten ermittelten die Experimentatoren einen Erblichkeitswert von 0,71. Diese Schätzung legt einen großen genetischen Anteil bei der Tonhöhenwahrnehmung nahe.
Vergegenwärtigen Sie sich aber, dass dieser hohe Erblichkeitsfaktor nicht bedeutet, dass jedes Mitglied einer Familie dieselbe Fähigkeit zur Tonhöhenwahrnehmung hätte. Genau wie ein einziges Elternpaar sowohl Kinder mit blauen als auch mit braunen Augen zeugen kann, kann es auch Kinder mit und ohne musikalische Begabung hervorbringen. Der hohe Erblichkeitsfaktor
bedeutet vielmehr, dass bei der Fähigkeit zur Tonhöhenwahrnehmung Umwelteinflüsse nur einen sehr geringen Einfluss darauf haben, wie talentiert Sie in dieser Hinsicht werden können. Dieses Beispiel der Erblichkeit von Tonhöhenwahrnehmung lässt einige der ethischen Probleme erkennen, die sich im Gefolge des Erfolgs des HGP ergeben haben. Angenommen, das HGP könnte die Gene identifizieren, die für die unterschiedlichen Fähigkeiten in der Tonhöhenwahrnehmung verantwortlich sind – würden Sie dann als werdender Elternteil nur Kinder mit großen musikalischen Talenten haben wollen? Obwohl diese Frage vielleicht, weil es um musikalische Fähigkeiten geht, nicht so brisant erscheinen mag, hat sich die genetische Forschung doch bereits mit den Konsequenzen genetischen Vorwissens beschäftigt (Bostrom, 2005; Liao, 2005). So gibt es etwa schon mehrere Verfahren, die Eltern gestatten, das Geschlecht ihres Kindes zu wählen. Sollten sie eine solche Wahl treffen können? Wie steht es mit Auswahlmöglichkeiten hinsichtlich der Intelligenz, Sportlichkeit oder der kriminellen Neigungen eines Kindes? Weil das HGP und ähnliche Projekte hier laufend neue Erkenntnisse beisteuern, werden solche Fragen in der Debatte politscher Grundsätze immer wichtiger werden. Trotzdem muss man sich vor Augen halten, dass – außer in Fällen wie dem Geschlecht eines Kindes – Gene kein Schicksal sind. Tatsächlich gibt es bereits Dokumentationen wichtiger Fälle, in denen sowohl Erblichkeit als auch Umwelteinflüsse eine entscheidende Rolle dabei spielen, das Verhalten eines Organismus zu bestimmen. Das zeigt etwa eine Studie der Erb- und Umwelteinflüsse auf aggressives Verhalten bei männlichen Rhesusaffen (Newman et al., 2005). Beginnen wir mit der Erblichkeit: Innerhalb der 45 Affen umfassenden Population variierte ein Gen, das den Pegel von Neurotransmittern (siehe Seite 80) im Gehirn steuerte – einige der Affen hatten die aktive Variante des Gens, andere dagegen die träge Variante. Was die Umwelteinflüsse angeht, so wurde ungefähr die Hälfte der Affen von ihrer eigenen oder einer Pflegemutter aufgezogen; die anderen wuchsen anfänglich ohne Mütter auf. Die Experimentatoren erhoben die Aggression der Affen, indem sie beispielsweise beobachteten, wie effektiv sie um ihr Futter kämpften. Diese Beobachtungen ergaben, dass die Aggressivität der Affen sowohl von ihrer genetischen Disposition wie auch von ihrer Umwelt abhing: Die Affen mit der trägen Genvariante, die außerdem von Müttern aufgezogen worden waren, verhielten sich am aggressivsten. Affen mit derselben Genvariante, die keinen Kontakt zu ihrer Mutter erfahren hatten, zeigten dagegen keine
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America the Beautiful (korrekt)
Abbildung 3.4: Verfälschte Melodien als Beispiel, um die Erblichkeit von Tonhöhenwahrnehmung zu untersuchen. Wenn Sie diese zwei Melodien vorgespielt bekämen, könnten Sie dann sagen, welche korrekt und welche verfälscht ist?
gesteigerte Aggressivität. Aus diesem Beispiel ersehen Sie, wieso die Forschung verstehen möchte, wie und warum bestimmte Umgebungen die Realisierung genetischer Dispositionen ermöglichen. Die Forschung im Rahmen der menschlichen Verhaltensgenetik fokussiert meist den Ursprung der individuellen Unterschiede: Welche Faktoren unseres individuellen genetischen Erbgutes tragen zur Erklärung unseres Denkens und Handelns bei? In Ergänzung zur Verhaltensgenetik gibt es mittlerweile zwei Forschungsfelder, die auf breiterer Basis untersuchen, wie sich Selektionsprozesse auf das Verhaltensrepertoire von Menschen und anderen Arten ausgewirkt haben. Forscher aus dem Gebiet der Soziobiologie versuchen, diese Frage im Hinblick auf evolutionäre Erklärungen für soziales Verhalten und soziale Systeme von Menschen und anderen Spezies zu beantworten. Forscher aus dem Gebiet der evolutionären Psychologie weiten diese Erklärungen auf andere Aspekte der menschlichen Erfahrung aus, wie etwa die Frage nach den Funktionsweisen des Denkens. Betrachten wir das Glücklichsein etwas genauer. Wie würde man aus evolutionärer Perspektive die generelle Fähigkeit der menschlichen Spezies erklären, Glück empfinden zu können? Buss (2000) ist der Ansicht, dass „Diskrepanzen zwischen der heutigen Umwelt und der unserer Vorfahren“ (S. 15) dem menschlichen Glücklichsein gewisse Grenzen auferlegen. Obwohl sich beispielsweise der Mensch in kleinen Gruppen entwickelte, leben heute viele Menschen in großen Städten, wo sie hauptsächlich von einer großen Zahl völlig Fremder umgeben sind. Wir unterhalten keine engen Beziehungen mehr zu der Gruppe von Individuen in unserer räumlichen Nähe – und das sind die Arten von Beziehungen, die uns helfen, Kri-
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(verfälscht)
sen zu meistern, um ein glückliches Leben zu führen. Was kann man tun? Obwohl wir den Verlauf der kulturellen Evolution nicht umkehren können, der diese Veränderungen mit sich brachte, können wir doch versuchen, diese Veränderungen durch eine engere Bindung an unsere Familie und unseren Freundeskreis zu kompensieren (Buss, 2000). Dieses Beispiel verdeutlicht den Kontrast zwischen der soziobiologischen Betonung der Gemeinsamkeiten der menschlichen Spezies in einer bestimmten Umwelt und der verhaltensgenetischen Betonung der Variationen innerhalb eines solchen allgemeinen Verhaltensmusters. Im weiteren Verlauf von Psychologie werden wir mehrere weitere Fälle vorstellen, in denen die evolutionäre Perspektive die menschliche Alltagserfahrung beleuchtet. Diese Beispiele reichen von Partnerwahl in Beziehungen (Kapitel 11) über den Ausdruck von Emotionen (Kapitel 12) bis hin zu Mustern aggressiven Verhaltens (Kapitel 17).
ZWISCHENBILANZ 1 Auf welche Weise illustriert die Studie der Grants über
Finken die Rolle der genetischen Variation im Evolutionsprozess? 2 Was ist der Unterschied zwischen Genotyp und Phä-
notyp? 3 Welche zwei evolutionären Fortschritte waren ent-
scheidend in der Entwicklung des Menschen? 4 Was bedeutet Erblichkeit?
KRITISCHES DENKEN: Warum benutzten die Experimentatoren in der US-amerikanischen Studie zur Tonhöhenwahrnehmung dort bekannte Melodien wie „America the Beautiful?“
3.2 Das Nervensystem in Aktion
Das Nervensystem in Aktion
3.2
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun den bemerkenswerten Produkten des menschlichen Genotyps zu: den biologischen Systemen, die das gesamte Spektrum des Denkens und Handelns erst möglich machen. Lange bevor sich Darwin auf seine Reise auf der Beagle vorbereitete, diskutierten Naturwissenschaftler, Philosophen und andere die Rolle, die biologische Prozesse im Alltag spielen. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Hirnforschung war der französische Philosoph René Descartes (1596 – 1650). Descartes vertrat eine zu seiner Zeit völlig neue und radikale Idee: Der menschliche Körper gleicht einer „lebendigen Maschine“, die wissenschaftlich verstanden werden kann – indem man Naturgesetze durch empirische Beobachtungen entdeckt. Forscher aus der Tradition, die auf Descartes zurückgeht, nennen sich heute Neurowissenschaftler. In heutigen Tagen ist die Neurowissenschaft eines der am schnellsten wachsenden Forschungsgebiete. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels widmen wir uns der Analyse und dem Verstehen derjenigen Prozesse, durch die Informationen von unseren Sinnesorganen mithilfe von Nervenimpulsen letztlich durch Körper und Gehirn transportiert und kommuniziert werden. Wir behandeln in diesem Abschnitt zunächst die Eigenschaften des Neurons, der Basiseinheit des Nervensystems.
Ein Neuron, das Kontraktionen im menschlichen Darm beeinflusst. Welche Rollen spielen Dendriten, Soma und Axone bei der Nervenübertragung? (Nukleus) und das Zytoplasma, das die Zelle am Leben erhält. Das Soma integriert Informationen über die Stimulation, die von den Dendriten empfangen wird (oder in manchen Fällen direkt von einem anderen Neuron), und leitet sie über eine einzelne, ausgedehnte Faser, das Axon, weiter. Das Axon wiederum leitet diese Informationen seiner Länge nach weiter – die im Rückenmark über einen Meter und im Gehirn weniger als einen Millimeter betragen kann. Am anderen Ende des Axons befinden sich verdickte, knollenähn-
3.2.1 Das Neuron Ein Neuron ist eine Zelle, die darauf spezialisiert ist, Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und/oder an andere Zellen innerhalb des Körpers weiterzuleiten. Neurone besitzen unterschiedliche Formen, Größen, chemische Zusammensetzungen und Funktionen – über 200 verschiedene Arten wurden in Gehirnen von Säugetieren identifiziert –, aber alle Neurone besitzen dieselbe grundlegende Struktur (씰 Abbildung 3.5). Es gibt zwischen 100 Milliarden und einer Billion Neurone in unserem Gehirn. Neurone erhalten typischerweise an einem Ende Informationen und senden am anderen Ende Botschaften aus. Der Teil der Zelle, der ankommende Signale erhält, ist eine Anzahl von verästelten Fasern außerhalb des Zellkörpers, die man Dendriten nennt. Die Hauptaufgabe der Dendriten besteht darin, Erregung von Sinnesrezeptoren oder anderen Zellen zu empfangen. Der Zellkörper, oder das Soma, enthält den Zellkern
Abbildung 3.5: Zwei Arten von Neuronen. Man beachte die Unterschiede in Form und Dendritenverzweigungen. Die Pfeile zeigen die Richtung an, in die Informationen fließen. Beide Zellen sind Formen von Interneuronen.
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liche Strukturen, die Endknöpfchen, über die das Neuron angrenzende Drüsen, Muskeln oder andere Neurone stimulieren kann. Neurone übertragen normalerweise Informationen nur in eine Richtung: von den Dendriten über das Soma zum Axon bis hin zu den Endknöpfchen (씰 Abbildung 3.6). Es gibt drei Hauptarten von Neuronen. Sensorische Neurone übermitteln Botschaften von Sinnesrezeptorzellen hin zum Zentralnervensystem. Rezeptorzellen sind hoch spezialisierte Zellen, die beispielsweise auf Licht, Geräusche oder Körperpositionen reagieren. Motorneurone leiten Botschaften weg von Zentralnervensystem hin zu den Muskeln und Drüsen. Die Mehrzahl der Neurone im Gehirn sind Interneurone, die Botschaften von sensorischen Neuronen an andere Interneurone oder Motorneurone weiterleiten. Auf jedes Motorneuron im Körper kommen etwa 5.000 Interneurone im riesigen Schaltnetz, welches das Verarbeitungssystem des Gehirns bildet. Wie diese drei Arten von Neuronen zusammenarbeiten, sieht man am Beispiel des Schmerzrückzugsreflexes (씰 Abbildung 3.7). Werden Schmerzrezeptoren nahe der Hautoberfläche mit einem scharfen Gegenstand stimuliert, senden sie Botschaften über die sensorischen Neurone zu einem Interneuron im Rückenmark. Das Interneuron reagiert, indem es Motorneurone stimuliert, die wiederum Muskeln im entsprechenden Körperteil aktivieren, sich von dem Schmerz erzeugenden Gegenstand zurückzuziehen. Erst nach dieser Abfolge von neuronalen Ereignissen und dem Rückzug des Körpers vom stimulierenden Objekt erhält das Gehirn Informationen über diese Si-
tuation. In Fällen, wo das Überleben von schnellem Handeln abhängt, nehmen wir den Schmerz erst wahr, wenn wir körperlich auf die Gefahr reagiert haben. Natürlich werden dann die Informationen über den Vorfall im Gedächtnissystem gespeichert, so dass wir beim nächsten Mal das potenziell gefährliche Objekt meiden, bevor es uns verletzen kann. Das weite Netz von Neuronen im Gehirn ist von ungefähr der fünf- bis zehnfachen Anzahl von Gliazellen (Stützzellen) durchsetzt. Das Wort Glia kommt vom griechischen Wort für Klebstoff, was auf eine der Hauptaufgaben dieser Zellen hinweist: Sie halten Neurone an ihrem Platz. Bei Wirbeltieren haben Gliazellen einige weitere wichtige F unktionen. Eine erste Funktion erfüllen sie während der Entwicklung. Gliazellen helfen neu gebildeten Neuronen, den richtigen Ort im Gehirn zu finden. Eine zweite Funktion liegt im Bereich des Körperhaushalts. Wenn Neurone geschädigt sind und absterben, vermehren sich die Gliazellen in diesem Bereich und entsorgen das übrig gebliebene zelluläre Abfallmaterial; sie können zudem überschüssige Neurotransmitter und andere Substanzen aus dem synaptischen Spalt zwischen Neuronen aufnehmen. Eine dritte Funktion ist die der Isolierung. Gliazellen bilden eine Hülle, die Myelinscheide, um einige Arten von Axonen. Diese Isolierungen aus Fett erhöhen die Geschwindigkeit der Übertragung von Nervensignalen ganz enorm. Eine vierte Funktion der Gliazellen besteht darin zu verhindern, dass giftige Substanzen im Blut die empfindlichen Zellen im Gehirn erreichen. Spezialisierte Gliazellen, so genannte Astrozyten, bilden die Blut-Hirn-Schranke, indem sie die Blutgefäße
Abbildung 3.6: Die Hauptstrukturen des Neurons. Das Neuron erhält über seine Dendriten Nervenimpulse. Es sendet dann die Nervenimpulse durch sein Axon zu den Endknöpfchen, wo Neurotransmitter zur Stimulation anderer Neurone freigesetzt werden.
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3.2 Das Nervensystem in Aktion
Sensorischer Cortex
Schmerzbotschaft an das Gehirn
Motorneuron
Muskeln Hautrezeptoren
Interneuron
Rückenmark
Senorisches Neuron Abbildung 3.7: Der Schmerzrückzugsreflex. Der hier gezeigte Schmerzrückzugsreflex benötigt nur drei Neurone: ein sensorisches, ein motorisches und ein Interneuron.
im Gehirn mit einer beständigen Hülle aus Fett umgeben. Nicht fettlösliche Substanzen können diese Barriere nicht überwinden, und weil viele Gifte und andere gefährliche Substanzen nicht fettlöslich sind, können sie diese Barriere nicht durchdringen und ins Hirn gelangen. Schließlich gelangten Neurowissenschaftler zur Ansicht, dass Gliazellen wohl auch bei der neuronalen Kommunikation eine aktive Rolle spielen, indem sie die Konzentration von Ionen beeinflussen, welche die Übertragung von Nervenimpulsen ermöglicht (Fields & Stevens-Graham, 2002).
3.2.2 Aktionspotenziale Bis jetzt haben wir eher unspezifisch davon gesprochen, dass Neurone „Botschaften aussenden“ oder sich gegenseitig „stimulieren“. Nun ist es Zeit, die Arten der elektro-chemischen Signale etwas formeller
zu beschreiben, die vom Nervensystem zur Verarbeitung und Übertragung von Informationen eingesetzt werden. Es sind diese Signale, welche die Basis all dessen darstellen, was wir wissen, fühlen, wünschen und schaffen. Für jedes Neuron lautet die grundlegende Frage: Soll es zu einem bestimmten Zeitpunkt feuern – eine Reaktion erzeugen – oder nicht? Neurone treffen sozusagen diese Entscheidung, indem sie die Informationen zusammenfassen, die an ihren Dendriten oder am Soma (Zellkörper) ankommen, und bestimmen, ob dieser Input überwiegend „feuern“ oder „nicht feuern“ sagt. Formaler ausgedrückt, erhält jedes Neuron eine Bilanz aus exzitatorischen – Feuern! – und inhibitorischen – Nicht feuern! – Inputs. Das richtige Muster von exzitatorischen Inputs zur rechten Zeit oder am rechten Ort führt bei einem Neuron zur Erzeugung eines so genannten Aktionspotenzials: Das Neuron feuert.
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Die biochemische Basis der Aktionspotenziale Um zu erklären, wie ein Aktionspotenzial funktioniert, müssen wir die biochemische Umgebung beschreiben, in der Neurone die eintreffenden Informationen miteinander verknüpfen. Jegliche neuronale Kommunikation wird durch den Fluss elektrisch geladener Teilchen, der Ionen, durch die Membran des Neurons erzeugt eine dünne „Haut“, die das Zellinnere von der äußeren Umgebung trennt. Stellen wir uns eine Nervenfaser als Makkaroni vor, die mit Salzwasser gefüllt sind und in einem salzigen Sud schwimmen. Sowohl der Sud als auch das Wasser in den Makkaroni enthalten Ionen – Natrium- (Na+), Chlor- (Cl–), Kalzium- (Ca+) und Kalium- (K+) Atome –, die entweder positiv (+) oder negativ (–) geladen sind (씰 Abbildung 3.8). Die Membran oder die Oberfläche der Makkaroni spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Bestandteile der beiden Flüssigkeiten in einem geeigneten Gleichgewicht zu halten. Ist eine Zelle nicht aktiv oder in einem Ruhezustand, befinden sich etwa zehnmal mehr Kalium-Ionen innerhalb der Zelle als Natrium-Ionen außerhalb. Die Membran ist keine perfekte Barriere, sie „leckt“ ein bisschen. Einige Natrium-Ionen schlüpfen in die Zelle, während einige Kalium-Ionen hinausschlüpfen. Um dies zu korrigieren, stellt die Natur Transportmechanismen innerhalb der Membran bereit, die Natrium hinaus- und Kalium hineinpumpen. Bei erfolgreicher Funktion dieser Pumpen ist die Flüssigkeit innerhalb des Neurons im Vergleich zur Flüssigkeit außerhalb des Neurons leicht negativ geladen (70 mV). Dies bedeutet, dass die Flüssigkeit innerhalb der Zelle hinsichtlich der Flüssigkeit außerhalb der Zelle polarisiert ist. Diese leichte Polarisierung ist das Ruhepotenzial. Das Ruhepotenzial stellt den elektrochemischen Kontext bereit, in dem eine Nervenzelle ein Aktionspotenzial erzeugen kann. Die Nervenzellen leiten den Übergang eines Ruhepotenzials in ein Aktionspotenzial als Reaktion auf das Muster inhibitorischer und exzitatorischer Inputs ein. Jede Art eines Inputs beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Bilanz der Ionen innerhalb und außerhalb der Zelle ändern wird. Sie verursachen Veränderungen in den Funktionen der Ionenkanäle, den erregbaren Teilen der Zellmembran, die bestimmte Ionen selektiv hinaus- und hineinströmen lassen. Inhibitorische Inputs lassen die Ionenkanäle härter arbeiten, um die negative Ladung im Zellinneren beizubehalten – dies hält die Zelle vom Feuern ab. Exzitatorische Inputs verursachen, dass die Ionenkanäle Natrium einströmen lassen – die Zelle kann feuern. Weil Natrium-Ionen positiv geladen sind, kann
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ihr Einströmen die relative Bilanz positiver und negativer Ladungen über die Zellmembran hinweg verändern. Ein Aktionspotenzial beginnt, wenn die exzitatorischen Inputs im Vergleich zu den inhibitorischen genügend stark sind, um die Zelle zunächst von –70 mV auf –55 mV zu depolarisieren: Genügend Natrium ist in die Zelle eingedrungen, um diese Veränderung hervorzurufen. Sobald das Aktionspotenzial beginnt, strömt Natrium ins Neuron. Infolgedessen wird das Innere des Neurons im Vergleich zur Umgebung positiv geladen; das bedeutet, das Neuron ist vollständig depolarisiert. Ein Dominoeffekt treibt nun das Aktionspotenzial das Axon entlang. Die Spitze der Depolarisation öffnet die Ionenkanäle in den angrenzenden Regionen des Axons und lässt Natrium einströmen. So wandert das Signal durch sukzessive Depolarisation das Axon entlang (Abbildung 3.8). Wie kehrt das Neuron zu seinem ursprünglichen Ruhezustand der Polarisation zurück, nachdem es gefeuert hat? Wird das Innere des Neurons positiv, schließen sich die Kanäle, die Natrium einströmen ließen, und die Kanäle, die Kalium einströmen lassen, öffnen sich. Das Ausströmen von Kalium-Ionen stellt die negative Ladung des Neurons wieder her. Sogar noch während sich das Signal dem entfernten Ende des Axons nähert, können die Teile der Zelle, in denen das Aktionspotenzial seinen Anfang nahm, in ihren Ruhezustand zurückgekehrt sein, so dass sie zur nächsten Stimulation bereit sind. Eigenschaften des Aktionspotenzials Die biochemische Art und Weise, wie das Aktionspotenzial übertragen wird, führt zu diversen wichtigen Eigenschaften. Das Aktionspotenzial gehorcht dem Alles-oder-nichts-Gesetz: Das Ausmaß des Aktionspotenzials hängt nicht von der steigenden Intensität der Stimulationen über einen Schwellenwert hinaus ab. Erreicht die Summe der exzitatorischen Inputs einmal die Schwelle, wird ein gleichförmiges Aktionspotenzial generiert. Wird die Schwelle nicht erreicht, ereignet sich kein Aktionspotenzial. Eine weitere Folge dieser Alles-odernichts-Eigenschaft ist, dass sich die Größe des Aktionspotenzials über die Länge des Axons hinweg nicht verringert. In diesem Sinne bezeichnet man das Aktionspotenzial als selbst-propagierend (sich selbst fortpflanzend); einmal gestartet, bedarf es keiner Stimulation von außen, um sich in Bewegung zu halten. Es gleicht der brennenden Zündschnur eines Feuerwerkskörpers.
3.2 Das Nervensystem in Aktion
Im Ruhezustand liegt in der Flüssigkeit außerhalb des Axons eine andere Ionenkonzentration vor als in der Flüssigkeit innerhalb des Axons. Daher ist die Flüssigkeit innerhalb der Zelle hinsichtlich der umgebenden Flüssigkeit polarisiert und sorgt so für das Ruhepotenzial des Neurons.
Wenn ein Nervenimpuls an einer bestimmten Stelle des Axons ankommt, strömen positiv geladene Natrium-Ionen in die Zelle ein. Der Na+Einwärtsstrom bewirkt eine Depolarisiation der Zelle. Der Nervenimpuls wird entlang des Axons weitergeleitet, indem ein Segment nach dem anderen auf diese Weise depolarisiert wird.
Sobald der Nervenimpuls weitergeleitet wurde, strömen Na+-Ionen wieder aus dem Axon heraus, um das Ruhepotenzial wiederherzustellen.
Sobald das Ruhepotenzial wiederhergestellt ist, ist das Segment des Axons bereit, den nächsten Impuls weiterzuleiten.
Abbildung 3.8: Die biochemische Basis des Aktionspotenzials. Aktionspotenziale funktionieren über die unterschiedliche elektrische Ladung von Ionen innerhalb und außerhalb von Axonen (nach Lefton & Brannon, 2003).
Unterschiedliche Neurone leiten Aktionspotenziale entlang ihrer Axone mit unterschiedlicher Geschwindigkeit; die schnellsten senden Signale, die sich mit 200 Metern pro Sekunde bewegen, die langsamsten schaffen nur 10 Zentimeter pro Sekunde. Die Axone der schnelleren Neurone sind mit einer eng umwickelten Myelinscheide umgeben – die, wie wir weiter oben schon erklärt haben, aus Gliazellen besteht. So ähnelt dieser Teil des Neurons kleinen Röhrchen auf einer Schnur. Die schmalen Unterbrechungen zwischen den Röhrchen werden Ranvier’sche Schnürringe genannt (siehe Abbildung 3.6). In Neuronen mit myelinisierten Axonen hüpft das Aktionspotenzial buchstäblich von einem Schnürring zum anderen – das spart Zeit und Energie, die zum Öffnen und Schließen der Ionenkanäle an jeder Stelle des Axons gebraucht wird. Eine Schädigung der Myelinscheide wirft die genaue zeitliche Planung des Aktionspotenzials durcheinander und verursacht schwerwiegende Probleme. Multiple Sklerose (MS) ist eine verheerende Krankheit, verursacht durch die Degeneration der Myelinscheide. Sie ist durch Doppelsichtigkeit, Zittern und schließlich Lähmung gekennzeichnet. Bei MS greifen spezialisierte Zellen des Immunsystems des Körpers myelinisierte Neurone an, legen das Axon
frei und stören die normale synaptische Übertragung (Joyce, 1990). Nachdem ein Aktionspotenzial ein Segment des Axons passiert hat, befindet sich diese Region des Neurons in der Refraktärphase (씰 Abbildung 3.9). Während der absoluten Refraktärphase kann eine neue Stimulation, gleich wie intensiv, kein weiteres Aktionspotenzial hervorrufen; während der relativen Refraktärphase wird das Neuron nur in Reaktion auf einen Stimulus feuern, der stärker ist als üblicherweise nötig. Haben Sie schon einmal versucht, die Toilettenspülung zu betätigen, während sich der Spülkasten wieder füllt? Eine gewisse Wassermenge muss vorhanden sein, um erneut zu spülen. Damit ein Neuron ein weiteres Aktionspotenzial generieren kann, muss es sich in ähnlicher Weise „zurückstellen“ und auf eine überschwellige Stimulation warten. Die Refraktärphase garantiert zum Teil, dass sich das Aktionspotenzial nur in eine Richtung entlang des Axons bewegt: Es kann sich nicht rückwärts ausbreiten, weil sich „frühere“ Teile des Axons in der Refraktärphase befinden.
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Absolute Refraktärphase
Spannung (mV)
+40 0
Ruhepotenzial
70
Relative Refraktärphase 0 1
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4 Zeit (ms)
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Abbildung 3.9: Zeitliche Darstellung der Veränderungen elektrischer Ladung im Neuron während eines Aktionspotenzials. Natrium-Ionen, die ins Neuron eindringen, verändern dessen elektrisches Potenzial von leicht negativ während des Ruhezustands zu leicht positiv während der Depolarisation. Ist das Neuron depolarisiert, folgt eine kurzzeitige Refraktärphase, während der eine weitere Stimulation kein weiteres Aktionspotenzial hervorruft. Das nächste Aktionspotenzial kann erst dann wieder ausgelöst werden, wenn das Gleichgewicht der Ionen zwischen dem Äußeren und Inneren der Zelle wiederhergestellt ist.
3.2.3 Synaptische Übertragung Beendet das Aktionspotenzial seinen „sprunghaften Weg“ entlang des Axons am Endknöpfchen, so muss es seine Information dem nächsten Neuron übermitteln. Niemals jedoch berühren sich zwei Neurone: Sie treffen sich an einer Synapse, mit einem schmalen Spalt zwischen der präsynaptischen Membran (dem Endknöpfchen des sendenden Neurons) und der postsynaptischen Membran (der Oberfläche eines Dendriten oder Somas eines empfangenden Neurons). Wenn ein Aktionspotenzial das Endknöpfchen erreicht, setzt es eine Reihe von Ereignissen in Gang: die synaptische Übertragung, die Übermittlung von Informationen von einem Neuron zu einem anderen über den synaptischen Spalt hinweg (씰 Abbildung 3.10). Synaptische Übertragung beginnt, wenn das Eintreffen des Aktionspotenzials am Endknöpfchen kleine runde Pakete, so genannte synaptische Vesikel, dazu anregt, zur inneren Membran des Endknöpfchens zu wandern und sich daran anzuheften. In jedem Vesikel befinden sich Neurotransmitter, biochemische Substanzen, die andere Neurone stimulieren. Das Aktionspotenzial verursacht auch, dass sich die Ionenkanäle öffnen und Kalzium-Ionen in das Endknöpfchen einströmen. Das Einströmen der Kalzium-Ionen verursacht das Platzen der synaptischen Vesikel und die Freisetzung der darin enthaltenen Neurotransmitter. Ist das synaptische Vesikel geplatzt, werden die Neurotransmitter schnell über den synaptischen Spalt zur
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postsynaptischen Membran gestreut. Um die synaptische Übertragung zu vervollständigen, binden sich die Neurotransmitter an Rezeptormoleküle, die in der postsynaptischen Membran eingebettet sind. Die Neurotransmitter binden sich unter zwei Bedingungen an die Rezeptormoleküle. Zum einen können keine anderen Neurotransmitter oder andere chemische Substanzen an den Rezeptormolekülen festmachen. Zum anderen muss die Form der Neurotransmitter zur Form der Rezeptormoleküle passen – so genau, wie ein Schlüssel in ein Schlüsselloch passt. Trifft keine der beiden Bedingungen zu, kann sich der Neurotransmitter nicht an das Rezeptormolekül heften. Das bedeutet, dass er die postsynaptische Membran nicht stimulieren kann. Bindet der Neurotransmitter an das Rezeptormolekül an, kann es diesem nächsten Neuron Informationen zum „feuern“ oder „nicht feuern“ liefern. Hat der Neurotransmitter seine Aufgabe erfüllt, löst er sich wieder vom Rezeptormolekül und geht in den synaptischen Spalt zurück. Hier wird er entweder durch Enzyme aufgespaltet oder vom präsynaptischen Endknöpfchen wieder aufgenommen, um schnell wieder eingesetzt zu werden. In Abhängigkeit vom Rezeptormolekül hat ein Neurotransmitter einen exzitatorischen oder inhibitorischen Effekt. So kann derselbe Neurotransmitter an einer Synapse exzitatorisch, an einer anderen jedoch inhibitorisch wirken. Jedes Neuron integriert die Informationen, die es an den Synapsen mit 1.000 bis 10.000 anderen Neuronen erhält, um zu entscheiden, ob es ein weiteres Aktionspotenzial initiieren soll. Es ist die Integration dieser Tausenden von inhibitorischen und exzitatorischen Inputs, die es den Allesoder-Nichts-Aktionspotenzialen erlaubt, die Grundlage allen menschlichen Erlebens bereitzustellen. Vielleicht wundern Sie sich, warum wir so tief in die Materie des Nervensystems eingedrungen sind. Schließlich ist das ein Psychologiebuch, und Psychologie befasst sich mit Verhalten, Denken und Emotion. Tatsächlich sind die Synapsen das biologische Medium, in dem sich all diese Aktivitäten ereignen. Eine Veränderung der normalen Aktivität der Synapse würde eine Veränderung im Verhalten, Denken und Fühlen der Menschen nach sich ziehen. Das Verstehen der Funktionsweise der Synapse führte zu gewaltigen Fortschritten im Verstehen von Lernen, Gedächtnis, Emotion, psychischen Störungen, Drogenabhängigkeit und ganz allgemein von der chemischen Formel für geistige Gesundheit. Sie werden das Wissen, das Sie sich in diesem Kapitel angeeignet haben, das gesamte Buch hindurch benötigen.
3.2 Das Nervensystem in Aktion
Abbildung 3.10: Synaptische Übertragung. Das Aktionspotenzial im präsynaptischen Neuron verursacht, dass Neurotransmitter in den synaptischen Spalt entlassen werden. Ist der Spalt überwunden, stimulieren sie Rezeptormoleküle, die in der Membran des postsynaptischen Neurons eingebettet sind. Innerhalb einer Zelle kann es mehrere Neurotransmitter geben.
3.2.4 Neurotransmitter und ihre Funktionen Wir kennen oder vermuten mehr als 60 unterschiedliche chemische Substanzen, die als Neurotransmitter im Gehirn fungieren. Die Neurotransmitter, die am intensivsten erforscht werden, weisen einige technische Kriterien auf. Jeder wird im präsynaptischen Endknöpfchen erzeugt und freigesetzt, wenn ein Aktionspotenzial das Ende des Axons erreicht. Das Vorhandensein des Neurotransmitters im synaptischen Spalt erzeugt eine biologische Reaktion in der postsynaptischen Membran, und wenn seine Ausschüttung verhindert wird, kann keine nachfolgende Reaktion eintreten. Um die Effekte unterschiedlicher
Neurotransmitter auf die Steuerung des Verhaltens aufzuzeigen, werden wir einige Neurotransmitter diskutieren, die sich für das alltägliche Funktionieren des Gehirns als wichtig herausgestellt haben. Diese kurze Diskussion wird auch dazu beitragen zu verstehen, wie viel dabei schief gehen kann. Azetylcholin Azetylcholin findet man im zentralen und peripheren Nervensystem. Der Gedächtnisverlust bei AlzheimerPatienten, einer degenerativen Erkrankung, die bei älteren Menschen zunehmend häufiger auftritt, wird vermutlich durch den Abbau von Neuronen verursacht, die Azetylcholin absondern. Azetylcholin wirkt
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Dopamin, Norepinephrin und Serotonin
Warum erfahren Patienten Schmerzlinderung durch Akupunktur? auch an Verbindungen zwischen Nerven und Muskeln exzitatorisch, wo es Muskelkontraktionen verursacht. Eine Reihe von Giften beeinflusst die synaptische Tätigkeit des Azetylcholins. Botulinumtoxin zum Beispiel, das oft in Lebensmitteln vorkommt, die falsch aufbewahrt wurden, vergiftet einen Menschen, indem es die Freisetzung von Azetylcholin im Atmungssystem verhindert. Diese Vergiftungserscheinung, der Botulismus, kann zum Tode durch Ersticken führen. Curare, ein Gift, das Amazonasindianer auf der Spitze der Pfeile ihrer Blasrohre anbringen, lähmt die Atemmuskeln, weil es wichtige Azetylcholinrezeptoren besetzt und die normale Aktivität des Transmitters unmöglich macht.
Katecholamine sind eine Klasse von chemischen Substanzen, zu der zwei wichtige Neurotransmitter gehören: Dopamin und Norepinephrin. Beiden kommt bei psychischen Störungen wie affektiven Störungen und Schizophrenie eine entscheidende Rolle zu. Norepinephrin scheint an einigen Formen von Depression beteiligt zu sein: Substanzen, welche die Konzentration dieses Neurotransmitters im Gehirn erhöhen, heben die Stimmung und lindern die Depression. Umgekehrt fand man bei Schizophrenen einen erhöhten Dopaminspiegel. Man kann Menschen mit dieser Störung durch Medikamente behandeln, die den Dopaminspiegel im Gehirn senken. Als die medikamentöse Therapie entstand, tauchte ein interessantes Problem auf. Hohe Dosen der Substanz zur Schizophreniebehandlung riefen Symptome des Parkinson-Syndroms hervor, einer fortschreitenden und schließlich tödlichen Krankheit, die eine Störung der motorischen Funktionen mit sich bringt. (Das Parkinson-Syndrom wird durch die Degeneration von Neuronen verursacht, die den größten Anteil des Dopamins im Gehirn erzeugen.) Dieser Befund führte zu Untersuchungen, welche die medikamentöse Behandlung von Schizophrenie verbesserten, und zur Erforschung von Substanzen, die zur Behandlung des Parkinson-Syndroms eingesetzt werden können.
GABA GABA (Gammaaminobuttersäure) ist der bekannteste inhibitorische Neurotransmitter im Gehirn. GABA kann als Botenstoff in etwa einem Drittel aller Synapsen des Gehirns eingesetzt werden. Neurone, die auf GABA ansprechen, finden sich in besonders hoher Konzentration in Hirnregionen wie dem Thalamus, dem Hypothalamus und im Okzipitallappen (siehe Seite 93–94). GABA hat sich bei einigen Formen der Psychopathologie als wichtig herausgestellt, da es neuronale Aktivität hemmt; sinkt die Konzentration dieses Neurotransmitters im Hirn, empfindet man diese gesteigerte neuronale Aktivität als ein Gefühl der Angst. Angststörungen werden oft mit Benzodiazepinen wie Valium oder Xanax behandelt, welche die GABA-Aktivität steigern (Ballenger, 1999). Benzodiazepine binden nicht direkt an GABA-Rezeptoren. Vielmehr bewirken sie, dass sich GABA selbst auf effektivere Weise an die postsynaptischen Rezeptormoleküle binden kann.
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Ungefähr 1,5 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten, darunter auch der Schauspieler Michael J. Fox, leiden an der Parkinson´schen Krankheit. Die Erforschung des Neurotransmitters Dopamin hat zu Fortschritten im Verständnis dieser Krankheit geführt. Wie kann neurologische Grundlagenforschung zu verbesserten Behandlungsmöglichkeiten führen?
3.3 Biologie und Verhalten
Alle Neurone, die Serotonin produzieren, befinden sich im Hirnstamm (siehe Seite 92), der für das Erregungsniveau und viele autonome Prozesse wichtig ist. Die halluzinogene Droge LSD (Lysergsäure-Diäthylamid) erreicht ihre Wirkung, indem sie die Wirkweise der Serotonin-Neurone unterdrückt. Diese Serotonin-Neurone hemmen normalerweise andere Neurone. Der Mangel an Hemmung aufgrund von LSD erzeugt jedoch lebhafte und bizarre Sinneseindrücke, die zum Teil einige Stunden andauern können. Viele Antidepressiva (zum Beispiel Fluctin oder Zoloft) erhöhen die Wirkung von Serotonin, indem sie die Wiederaufnahme aus dem synaptischen Spalt verhindern (Barondes, 1994).
Wie kann das Studium des Gehirns beim Verständnis der menschlichen Psyche helfen?
Endorphine Endorphine sind eine Gruppe von Stoffen, die gewöhnlich als Neuromodulatoren klassifiziert werden. Ein Neuromodulator ist jedwede Substanz, welche die Aktivität des postsynaptischen Neurons modifiziert oder moduliert. Endorphine (kurz für endogene Morphine) sind wichtig bei der Kontrolle emotionalen Verhaltens (Angst, Furcht, Anspannung, Freude) und beim Schmerzempfinden – Stoffe wie Opium und Morphine binden an denselben Rezeptoren im Hirn. Endorphine werden aufgrund ihrer Eigenschaften, Freude und Schmerz zu kontrollieren, als „Schlüssel zum Paradies“ bezeichnet. Forscher haben die Möglichkeit untersucht, dass Endorphine zumindest teilweise für die Schmerz reduzierenden Effekte der Akupunktur und von Placebos verantwortlich sind (Benedetti et al., 2005; Han, 2004). Solche Tests beziehen sich auf die Substanz Naloxon, deren einziger bekannter Effekt darin liegt, Morphine und Endorphine an der Bindung an Rezeptoren zu hindern. Jegliche Behandlung, die Schmerzen durch die Stimulation der Endorphinausschüttung lindert, wird wirkungslos, wenn Naloxon verabreicht wird. Mit der Injektion von Naloxon verlieren Akupunktur und Placebos tatsächlich ihre Wirkung – was den Schluss zulässt, dass hier normalerweise Endorphine am Werke sind. Forscher dokumentierten zudem, dass Gase wie Kohlenmonoxid und Stickstoff als Neurotransmitter fungieren können (Barinaga, 1993). Am erstaunlichsten an dieser neuen Klasse von Neurotransmittern ist, dass sie vielen der normalen Erwartungen bezüglich der synaptischen Übertragung widersprechen. Statt sich zum Beispiel an Rezeptormoleküle zu binden, wie das andere Neurotransmitter tun, scheinen diese gasförmigen Neurotransmitter die äußere Membran
der Rezeptorzelle direkt zu passieren. Diese überraschende Entdeckung sollte Ihren Eindruck verstärken, dass das Hirn noch viele Geheimnisse in sich birgt, die es zu enthüllen gilt.
ZWISCHENBILANZ 1 Welchem Muster folgt der Informationsfluss durch die
wichtigsten Teile jedes Neurons? 2 Was ist das „Alles-oder-nichts“-Gesetz? 3 Wie werden Neurotransmitter von einem Neuron in
das nächste übertragen? 4 Welche chemische Substanz ist der häufigste inhibito-
rische Neurotransmitter im Gehirn?
Biologie und Verhalten
3.3
Wir wissen jetzt, mit welchen grundlegenden Mechanismen Nervenzellen mit einander kommunizieren. Es ist an der Zeit, diese Neuronen zu größeren Systemen zu kombinieren, die unseren Körper und unseren Geist steuern. Wir beginnen diese Darstellung mit einem Überblick über die Verfahren, mit welchen die Forschung neue Entdeckungen beschleunigen kann. Danach wird das Nervensystem im Überblick beschrieben, gefolgt von einem detaillierteren Blick auf das Gehirn selbst. Weiterhin betrachten wir die Tätigkeit des endokrinen Systems, eines zweiten biologischen Kontrollsystems, das mit dem Nervensystem und dem Gehirn zusammenarbeitet. Zum Schluss beschreiben wir, wie Lebenserfahrungen unser Gehirn ständig verändern.
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3.3.1 Ein Blick ins Gehirn Neurowissenschaftler versuchen, die Arbeitsweise des Gehirns auf unterschiedlichen Ebenen zu verstehen – angefangen bei der Arbeitsweise von großen Strukturen, die mit bloßem Auge erkennbar sind, bis hin zu Eigenschaften von einzelnen Nervenzellen, die nur mithilfe starker Mikroskope sichtbar sind. Die Untersuchungsebene bestimmt die Methoden, die Wissenschaftler nutzen. An dieser Stelle behandeln wir die gebräuchlichsten Verfahren, mit denen Funktionen und Verhaltensweisen mit bestimmten Gehirnregionen in Verbindung gebracht werden.
Der Schädel von Phineas Gage wird in der Sammlung des Warren Anatomical Museum der Harvard University Medical School aufbewahrt. Warum waren die Ärzte von Gages Persönlichkeitsveränderungen so fasziniert?
Eingriffe in das Gehirn Verschiedene Forschungsmethoden in der Neurowissenschaft bringen einen direkten Eingriff in Hirnstrukturen mit sich. Diese Methoden wurzeln historisch in Fällen wie jenem von Phineas Gage. Am 13. September des Jahres 1848 erlitt Phineas P. Gage, ein Vorarbeiter beim Bau einer Eisenbahnstrecke, einen Unfall: Eine ca. 1,10 Meter lange Eisenstange durchstieß aufgrund einer unerwarteten Explosion seinen Schädel. Gages körperliche Beeinträchtigung war erstaunlich gering: Er büßte die Sehfähigkeit auf dem linken Auge ein, und seine linke Gesichtshälfte war teilweise gelähmt, aber Haltung, Bewegung und Sprache waren intakt. Doch psychisch war er ein anderer Mensch, wie aus dem Bericht seines Arztes hervorging:
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Das Äquilibrium oder Gleichgewicht zwischen seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinen animalischen Trieben scheint zerstört zu sein. Er ist bisweilen launisch, respektlos und gibt sich manchmal hemmungslos seinen niederen Trieben hin (was früher nicht zu seinen Eigenschaften zählte) und zeigt wenig Respekt vor seinen Mitmenschen, er reagiert ungehalten auf Einschränkungen oder Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen entgegenstehen, ist manchmal hartnäckig und halsstarrig, er ist launisch und wankelmütig, er denkt sich Pläne für die Zukunft aus, die ebenso schnell entworfen werden, wie sie wieder verworfen werden, zugunsten anderer, scheinbar durchführbarer Pläne. In seiner intellektuellen Fähigkeit und seinen Äußerungen ein Kind, besitzt er die animalischen Leidenschaften eines kräftigen Mannes. Vor seinem Unfall besaß er trotz fehlender Schulbildung ein ausgeglichenes Gemüt, er war von denen, die ihn kannten, als scharfsinniger, kluger Geschäftsmann angesehen, der mit sehr viel Energie und Ausdauer seine Vorhaben ausführte. In dieser Hinsicht hatte sich sein Verstand grundlegend und dermaßen verändert, dass seine Freunde und Verwandten sagten, er sei „nicht mehr Gage“. (Harlow, 1868, S. 339 – 340) Gages Unfall ereignete sich zu einer Zeit, als Wissenschaftler gerade erst begannen, Hypothesen über die Beziehung zwischen Hirnfunktionen und komplexem Verhalten zu bilden. Gages Verhaltensänderungen nach seinem Unfall veranlassten seinen Arzt dazu, Gehirnbereiche als Grundlage für die Aspekte der Persönlichkeit und des rationalen Verhaltens anzunehmen. Etwa zu der Zeit, als sich Gage von seiner Verletzung erholte, untersuchte Paul Broca die Rolle des Gehirns bei der Sprache. Seine Forschung auf diesem Gebiet begann mit der Autopsie eines Mannes, der nach dem einzigen Wort benannt wurde, das er noch aussprechen konnte, „Tan“. Broca fand heraus, dass der linke vordere Bereich von Tans Gehirn schwer geschädigt war. Diese Entdeckung veranlasste Broca, auch andere Personen mit sprachlichen Beeinträchtigungen zu untersuchen. In allen Fällen entdeckte er eine ähnliche Schädigung derselben Gehirnregion, die heute als Broca-Areal bekannt ist. Wie Sie im Laufe der Lektüre dieses Buches sehen werden, versuchen Forscher auch heute noch, Muster von Verhaltensänderungen und Beeinträchtigungen mit Orten und Regionen von Hirnschädigungen in Zusammenhang zu bringen.
3.3 Biologie und Verhalten
Das Problem bei der Untersuchung unfallgeschädigter Gehirne besteht natürlich darin, dass die Forscher den Ort und das Ausmaß der Schädigung nicht kontrollieren können. Um ein gut fundiertes Wissen über das Gehirn und dessen Beziehung zu verhaltensbezogenen und kognitiven Funktionen zu erlangen, sind Wissenschaftler auf Methoden angewiesen, die ihnen erlauben, die beeinträchtigte Region des Gehirns genau zu spezifizieren. Forscher haben eine Reihe von Techniken entwickelt, um Läsionen, eng umgrenzte Schädigungen des Gehirns, hervorzurufen. Sie entfernen beispielsweise spezifische Hirnareale auf chirurgischem Weg, durchtrennen die neuronale Verbindungen zu diesen Arealen oder zerstören die Areale durch starke Hitze, Kälte oder Elektrizität. Wie man sich denken kann, werden Läsionsexperimente nur an Tieren durchgeführt. (Erinnern wir uns an die Diskussion in Kapitel 2; die ethische Rechtfertigung dieser Art von Tierforschung wird mittlerweile intensiv geprüft.) Unser Wissen über das Gehirn hat sich radikal gewandelt, seit die Forscher immer wieder die Ergebnisse von Läsionsstudien an Tieren mit der wachsenden Anzahl klinischer Befunde über die Auswirkungen von Hirnschädigungen auf menschliches Verhalten abgleichen. In den letzten Jahren hat die Forschung ein als repetitive transkraniale Magnetstimulation (rTMS) bezeichnetes Verfahren entwickelt, das mit magnetischen Stimulationspulsen temporäre, vorübergehende „Läsionen“ bei menschlichen Versuchspersonen hervorruft – einzelne Hirnregionen können ohne Gewebe-
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Abbildung 3.11: Test des visuellen Vorstellungsvermögens. Versuchen Sie, sich diese Abbildung Quadrant für Quadrant einzuprägen, bis Sie ein geistiges Abbild aller vier Quadranten erzeugen können. Jetzt decken Sie die Abbildung mit der Hand ab. Beantworten Sie dann mithilfe Ihres visuellen Vorstellungsvermögens folgende Frage: Sind die Linien in Quadrant 1 oder 2 länger? Überprüfen Sie die Antwort anschließend an Hand der Abbildung.
schädigung kurzzeitig abgeschaltet werden. Diese neue Technik ermöglicht den Forschern die Beantwortung von Fragen, die man in Tierversuchen nicht hätte beantworten können. Nehmen wir als Beispiel eine Anwendung von rTMS, um die Grundlagen visuellen Vorstellens im Gehirn zu erforschen.
AUS DER FORSCHUNG Fixieren Sie Ihre Augen auf ein Objekt in der Umgebung, vielleicht einen Baum draußen vor dem Fenster. Schließen Sie jetzt die Augen und erzeugen ein geistiges Bild desselben Gegenstandes. Was ist in Ihrem Gehirn während dieser beiden Aktivitäten geschehen? Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass einige derselben Hirnareale sowohl am Perzeptions- als auch am visuellen Imaginationsakt beteiligt sind? Um diese Frage zu beantworten, baten die Experimentatoren ihre Probanden, sich Darstellungen mit vier Quadranten einzuprägen (씰 Abbildung 3.11) und sich diese Darstellungen dann mit geschlossenen Augen vorzustellen (Kosslyn et al., 1999). Die Versuchspersonen sollten dann etwa Fragen über die relative Länge oder Breite der Streifen in den einzelnen Quadranten beantworten. Anschließend erzeugten die Forscher mit rTMS temporäre „Läsionen“ in den Hirnarealen, die für normales Sehen benutzt werden (das in Kapitel 4 beschrieben wird). Genau wie bei Vergleichen mit offenen Augen wurde die Leistung beim visuellen Vorstellen durchgängig gemindert. Dieses Ergebnis legt nahe, dass dieselben Hirnareale benutzt werden, wenn man einen Baum sieht und wenn man sich einen Baum vorstellt.
Man sieht, warum dieses Experiment mit Versuchstieren nicht möglich gewesen wäre: Wie könnten wir sicher sein, dass eine Ratte sich etwas bildlich vorstellt? Diese Studie zeigt, welch großes Potenzial die Möglichkeit, temporäre „Läsionen“ im Hirn zu erzeugen, für die Erforschung der Hirnfunktionen hat. Unter gewissen Bedingungen können Neurowissenschaftler etwas über die Funktion von Gehirnregionen erfahren, indem sie diese direkt stimulieren. Ein Pionier im Einsatz elektrischer Stimulation, um tief liegende Hirnstrukturen zu erforschen, war Walter Hess Mitte der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Hess implantierte zum Beispiel Elektroden ins Gehirn sich frei bewegender Katzen. Mit einem Knopfdruck konnte er einen kleinen elektrischen Impuls an der Spitze der Elektrode auslösen. Hess stimulierte 4.500 Gehirnregionen von annähernd 500 Katzen und hielt die Konsequenzen im Verhalten genau fest. Er entdeckte, dass in Abhängigkeit von der Platzierung der Elektroden Schlaf, Sexualtrieb, Angst oder Furcht auf Knopfdruck erzeugt und genauso schnell wieder abge-
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KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Was bedeutet „Es liegt in den Genen“?
Das Human Genome Project hat die Genetik stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt. In den Medien wird regelmäßig über die Fortschritte der Wissenschaft im Verständnis genetischer Beiträge zu solch wichtigen menschlichen Erfahrungen wie Fettleibigkeit, Sexualität und psychischer Erkrankung berichtet. Wir möchten Ihnen einen Bezugsrahmen zur Bewertung solcher Medienberichte geben. Wir werden uns dabei auf die Charaktereigenschaft der Impulsivität konzentrieren. Die Forschung interessiert sich für diese Verhaltensdimension, weil hohe Impulsivität Menschen anfällig für Probleme wie Alkohol- und Drogensucht macht (Sher et al., 2000). Angenommen, Sie stoßen auf einen Zeitungsartikel mit der Überschrift „Wissenschaftler finden Impulsivitäts-Gen“. Welche Informationen sollte dieser Artikel enthalten? Erstens ist es wichtig, genau zu verstehen, was „Impulsivität“ im Zusammenhang des betreffenden Artikels bedeutet. Überlegen Sie einen Moment, wie Sie selbst diesen Begriff definieren oder anwenden würden: Sie kennen wahrscheinlich einige Menschen, die Sie als impulsiv bezeichnen würden, und andere, die Sie nicht so nennen würden. Aber was bedeutet das genau? Sind Ihre Bekannten impulsiv, weil sie nie voraus planen? Weil sie sich nicht beherrschen können? Weil sie zu viele Risiken eingehen? Wenn Sie auf die Behauptung „Wissenschaftler finden Impulsivitäts-Gen“ stoßen, müssen Sie genau feststellen, wie die Forscher den Begriff benutzen. Diese hohe Spezifizierung ist wichtig, weil es gut möglich ist, dass verschiedene Verhaltensmuster, die unter „Impulsivität“ zusammengefasst werden, verschiedene genetische Ursachen haben (Congdon & Canli, 2006). Wenn der Artikel keine genaue Definition von „Impulsivität“ bietet, sollten Sie seine Schlussfolgerungen nur mit Vorbehalt akzeptieren. Als Nächstes suchen Sie nach einer Erklärung, warum die beteiligten Forscher glauben, dass das identifizierte Gen, eine ursächliche Rolle für impulsives Verhalten spielt. Manchmal wird diese Information als Tatsachenbehauptung gegeben: „Menschen mit der Variante A dieses Gens sind impulsiv; Menschen mit der Variante B sind es nicht.“ In der gegenwärtigen Forschung wollen die Forscher allerdings meistens eine Vorstellung des Mechanismus geben, mit dem das Gen das Verhalten steuert. Aus diesen Berichten erfahren Sie häufig lediglich, dass das angesprochene Gen die Charaktereigenschaft nur indirekt beeinflusst.
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So haben sich beispielsweise Analysen impulsiven Verhaltens in letzter Zeit auf den Neurotransmitter Dopamin konzentriert. Dopamin wirkt in Hirnarealen, die wesentlich für Aufgaben wie etwa Vorausplanung sind – es ist dieser Neurotransmitter, der für kognitive Stabilität und Flexibilität sorgt (Bilder et al., 2004). Aus dieser Beschreibung können Sie ersehen, warum Störungen der Dopaminfunktion Menschen zu impulsiven oder instabilen Verhaltensweisen veranlassen könnten. Wenn Sie also eine genetische Grundlage der Impulsivität finden möchten, so impliziert das allerdings, dass Sie in Wirklichkeit eine genetische Grundlage für den individuell unterschiedlichen Gebrauch von Dopamin suchen. Forscher haben tatsächlich begonnen, Variationen in mehreren Genen – mit Bezeichnungen wie DRD4 und COMT – zu dokumentieren, die den Dopaminhaushalt verändern (Congdon & Canli, 2006). Sie sehen jetzt allmählich, wie alle diese Dinge zusammenpassen. Die Forscher setzen bei einer Charaktereigenschaft oder Verhalten wie Impulsivität an, die bei einzelnen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Mit der Zeit verstehen sie, welche Vorgänge im Gehirn diese Unterschiede hervorrufen könnten. Dann können sie nach genetischen Variationen suchen, die diese unterschiedliche Gehirnaktivität erklären. Obwohl also die Überschrift „Wissenschaftler finden Impulsivitäts-Gen“ lautet, ist die wirkliche Nachricht eher, dass Wissenschaftler entdeckt haben, wie ein bestimmtes Gen – vielleicht eines von vielen – den Dopaminhaushalt des Gehirns beeinflusst. Das ist keine so prägnante Schlagzeile, käme aber der wirklichen Entdeckung näher. Warum ist es in der genetischen Forschung wichtig, Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen genau zu definieren? Warum könnten die Gene, die Impulsivität beeinflussen, auch auf andere Verhaltensweisen wirken?
3.3 Biologie und Verhalten
schaltet werden konnten. Die elektrische Stimulation bestimmter Gehirnregionen konnte beispielsweise normalerweise zahme Katzen dazu bringen, vor Erregung die Haare aufzustellen und sich auf das nächstbeste Objekt zu stürzen. Aufzeichnung und Bildgebung der Gehirnaktivität Andere Neurowissenschaftler lokalisieren Gehirnfunktionen, indem sie mit Elektroden die elektrische Aktivität des Gehirns in Reaktion auf einen äußeren Reiz aufzeichnen. Die vom Gehirn produzierte elektrische Energie kann mit unterschiedlicher Genauigkeit betrachtet werden. Auf der Ebene höchster Genauigkeit führen Forscher höchst empfindliche Mikroelektroden ins Gehirn ein, um die elektrische Aktivität eines einzelnen Neurons aufzuzeichnen. Derartige Aufzeichnungen können Veränderungen der Aktivität einzelner Zellen in Reaktion auf Umweltreize aufzeigen. Bei menschlichen Versuchspersonen platzieren Forscher oft eine Anzahl von Elektroden außen auf dem Schädel, um größere, zusammenhängende Muster elektrischer Aktivität aufzuzeichnen. Diese Elektroden liefern die Daten für ein Elektroenzephalogramm (EEG), eine verstärkte Darstellung der Gehirnaktivität. Mit dem EEG kann die Beziehung zwischen psychischer Aktivität und der Reaktion des Gehirns untersucht werden. In einem Experiment sollten die Probanden eine Reihe von Gesichtern betrachten und bei jedem Gesicht angeben, ob sie es wohl in einem späteren Gedächtnistest wiedererkennen würden. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Probanden ihre Entscheidungen fällten, ließen sich über das EEG unterscheidbare Muster von Gehirnaktivität ermitteln, und diese Muster waren ein guter Prädiktor für diejenigen Gesichter, die anschließend tatsächlich wiedererkannt wurden (Sommer et al., 1995). Zu den spannendsten technologischen Neuerungen bei der Erforschung des Gehirns gehören Geräte, die eigentlich entwickelt wurden, damit Neurochirurgen Abnormitäten des Gehirns, wie Schädigungen nach Schlaganfall oder Krankheit, entdecken können. Diese Geräte liefern Bilder des lebenden Gehirns ohne invasive Verfahren, die das Risiko einer Gewebeschädigung mit sich bringen. Bei der Forschung unter Einsatz der PositronenEmissions-Tomographie (PET) werden den Probanden unterschiedliche Arten radioaktiver (aber ungefährlicher) Substanzen injiziert, die über das Blut schließlich ins Gehirn wandern, wo sie dann von aktiven Gehirnzellen aufgenommen werden. Aufzeichnungsgeräte außerhalb des Schädels können die Radioaktivität er-
Wie haben neue bildgebende Verfahren die Fragen aufgefächert, die sich Forscher stellen können? fassen, die diejenigen Zellen abgeben, die während unterschiedlicher geistiger oder verhaltensbezogener Aufgaben aktiv sind. Diese Informationen werden dann in einen Computer eingegeben, der ein dynamisches Bild (einen so genannten PET-Scan) des Gehirns erstellt, das zeigt, wo die verschiedenen Arten psychischer Aktivitäten tatsächlich stattfinden (씰 Abbildung 3.12). Die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT, auch MRI von magnetic resonance imaging) nutzt Magnetfelder und Radiowellen, um Energieimpulse im Gehirn zu erzeugen. Wird der Magnetimpuls auf verschiedene Frequenzen eingestellt, richten sich einige Atome im Magnetfeld aus. Wird der Magnetimpuls wieder abgeschaltet, vibrieren die Atome (sie erzeugen eine Resonanz), wenn sie sich in ihre Ursprungslage zurück orientieren. Spezielle Wellenempfänger orten diese Resonanz und leiten diese Information an einen Computer weiter, der wiederum Bilder der Positionen unterschiedlicher Atome in den Hirnarealen generiert. Mithilfe dieser Bilder können Forscher Hirnstrukturen mit psychischen Prozessen in Verbindung bringen. Die deutlichsten Bilder anatomischer Details liefert das MRT, während PET-Scans genauere Informationen über Funktionen bereitstellen. In einem neuen Verfahren, der funktionalen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT; englisch fMRI), spielen einige Vorteile beider Techniken zusammen, indem magnetische Veränderungen im Blutfluss zu den Zellen im Gehirn gemessen werden können; die fMRT erlaubt präzisere Aussagen über Struktur und Funktion des Gehirns. Forscher nutzen die fMRT, um die Hirnregionen zu entdecken, die für viele der wichtigsten kognitiven Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Sprachverarbeitung und Gedächtnis verantwortlich sind (Cabeza & Nyberg, 2000).
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Abbildung 3.12: PET-Scans des tätigen Gehirns. Diese PET-Aufnahmen zeigen, dass unterschiedliche Aufgaben neuronale Aktivität in unterschiedlichen Hirnregionen hervorrufen. (Höchste Nervenzellaktivität ist rot dargestellt, jeweils niedrigere Aktivität orange, gelb, grün und schließlich blau für geringe Aktivität.)
Mehr als 300 Jahre ist es her, dass Descartes bei Kerzenlicht in seinem Arbeitszimmer saß und über das Gehirn sinnierte; mehr als 100 Jahre sind vergangen, seit Broca entdeckte, dass Hirnregionen offenbar mit spezifischen Funktionen in Verbindung stehen. Seit diesen Entwicklungen hat die kulturelle Evolution die Neurowissenschaftler mit den benötigten Technologien ausgerüstet, um dem Gehirn einige seiner größten Geheimnisse zu entlocken. Der Rest dieses Kapitels beschreibt einige dieser Geheimnisse.
Die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) liefert dieses farbige Profil eines normalen Gehirns. (Hier stehen die verschiedenen Farben für unterschiedliche Gewebestrukturen.) Warum versucht man, Gehirnregionen zu identifizieren, die bestimmten Funktionen zugrunde liegen?
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3.3.2 Das Nervensystem Das Nervensystem besteht aus Milliarden von hoch spezialisierten Nervenzellen, oder Neuronen, die das Gehirn und die Nervenfasern bilden, die man überall im Körper findet. Das Nervensystem ist in zwei Hauptbereiche unterteilt: das zentrale Nervensystem (ZNS) und das periphere Nervensystem (PNS). Das ZNS umfasst alle Neurone des Gehirns und des Rückenmarks; zum PNS gehören alle Neurone, welche die Nervenfasern bilden, die das ZNS mit dem Körper verbinden. Die 씰 Abbildungen 3.13 und 씰 3.14 zeigen die Beziehung vom ZNS zum PNS. Die Aufgabe des ZNS ist die Integration und Koordination aller körperlichen Funktionen, die Verarbeitung aller eintreffenden neuronalen Informationen und die Entsendung von Befehlen an unterschiedliche Bereiche des Körpers. Das ZNS sendet und erhält neuronale Information über das Rückenmark, einen Strang von Neuronen, der das Gehirn mit dem PNS verbindet. Dieser Strang befindet sich in einem Hohlraum der Wirbelsäule. Die Spinalnerven des Rückenmarks treten zwischen jedem Wirbelpaar der Wirbelsäule aus, verzweigen sich und stehen mit Sinnesrezeptoren, Muskeln und Drüsen in Verbindung. Das Rückenmark koordiniert die Aktivität der linken und rechten Körperseite und ist für einfache, schnelle reflektorische Aktionen ohne Beteiligung des Gehirns verantwortlich. Ein Organismus, dessen Rückenmark vom Gehirn abgetrennt wurde, kann immer noch seine Körperteile von einem Schmerz auslösenden Reiz zurückziehen.
3.3 Biologie und Verhalten
Zentrales Nervensystem
Peripheres Nervensystem
Abbildung 3.13: Die Struktur des menschlichen zentralen und peripheren Nervensystems. Die sensorischen und motorischen Nervenfasern, die das periphere Nervensystem bilden, sind über das Rückenmark mit dem Gehirn verbunden (nach McAnulty & Burnette, 2003).
Obgleich ein intaktes Gehirn normalerweise von einer derartigen Handlung Notiz nehmen würde, kann der Organismus die Handlung ohne Anweisungen von oben zu Ende führen. Schädigungen der Nerven des Rückenmarks können zu Lähmungen der Beine oder des Rumpfes führen, wie beispielsweise bei Querschnittsgelähmten. Das Ausmaß der Lähmung hängt davon ab, wie weit oben das Rückenmark geschädigt ist; höher angesiedelte Schädigung führt zu ausgedehnterer Lähmung. Trotz seiner Funktion als Kommandozentrale ist das ZNS von jeglichem direktem Kontakt mit der Außenwelt isoliert. Es ist die Rolle des PNS, das ZNS mit Informationen aus den Sinnesrezeptoren zu versorgen, wie man sie in den Augen und Ohren findet, und Anweisungen vom Gehirn zu den Organen und Muskeln weiterzuleiten. Das PNS umfasst wiederum zwei
Arten von Nervenfasern (siehe Abbildung 3.14). Das somatische Nervensystem reguliert die Aktivität der Skelettmuskulatur. Man stelle sich vor, man tippt einen Brief. Die Bewegung der Finger auf der Tastatur wird vom somatischen Nervensystem gesteuert. Sobald man weiß, was man schreiben will, sendet das Gehirn Anweisungen an die Finger, bestimmte Tasten zu drücken. Gleichzeitig senden die Finger eine Rückmeldung über ihre Position und ihre Bewegung an das Gehirn. Drückt man die falsche Taste, informiert das somatische Nervensystem das Gehirn, das dann die nötige Korrektur vornimmt, und in Sekundenbruchteilen löscht man den Fehler und drückt die richtige Taste. Der andere Teil des PNS ist das autonome Nervensystem, das grundlegende Lebensfunktionen überwacht. Dieses System arbeitet rund um die Uhr und
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Nervensystem
Abbildung 3.14: Die hierarchische Struktur des menschlichen Nervensystems. Das zentrale Nervensystem besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Das periphere Nervensystem teilt sich gemäß seiner Funktionen auf: Das somatische Nervensystem kontrolliert die Willkürbewegungen und das autonome Nervensystem reguliert die inneren Prozesse. Das autonome Nervensystem teilt sich weiter in zwei Subsysteme auf: Das sympathische Nervensystem steuert das Verhalten in Notfallsituationen, und das parasympathische Nervensystem regelt Verhalten und interne Prozesse unter normalen Umständen.
Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark)
Somatisches Nervensystem (sensorische und motorische Nerven, willkürlich)
reguliert die Körperfunktionen, die wir gewöhnlich nicht bewusst kontrollieren, wie Atmung, Verdauung und Erregungsniveau. Das autonome Nervensystem muss auch während des Schlafes arbeiten, und es hält während einer Narkose oder eines längeren Komas die Lebensfunktionen aufrecht. Das autonome Nervensystem ist für zwei Arten von überlebensrelevanten Situationen zuständig: solche, die den Organismus bedrohen, und solche, die zur Erhaltung des Organismus beitragen. Um diese Funktionen zu erfüllen, ist das autonome Nervensystem wiederum in ein sympathisches und ein parasympathisches Nervensystem unterteilt (siehe Abbildung 3.14). Diese Teile arbeiten gegensätzlich (antagonistisch), um ihre Aufgaben zu erfüllen. Das sympathische Nervensystem dirigiert Reaktionen auf Notfallsituationen; das parasympathische Nervensystem überwacht die Routinefunktionen des Körpers. Der sympathische Teil kann als der „Krisenbeauftragte“ des Körpers angesehen werden – in einer Notfall- oder Stresssituation regt er die Hirnstrukturen für „Kampf oder Flucht“ an. Die Verdauung hält inne, das Blut fließt von den inneren Organen zu den Muskeln, der Sauerstoffverbrauch und der Puls steigen. Wenn die Gefahr vorüber ist, ist es die Aufgabe des parasympathischen Teils, diese Prozesse zu verlangsamen, und die Person beruhigt sich langsam wieder. Die Verdauung stellt sich wieder ein, das Herz schlägt langsamer, und die Atmung wird ruhiger. Der parasympathische Teil ist für die „häuslichen Pflichten“ des Körpers im Normalbetrieb zu-
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Peripheres Nervensystem (neuronales Gewebe außerhalb von Gehirn und Rückenmark)
Sympathischer Teil (»Notfall«)
Autonomes Nervensystem (internes System, nicht willkürlich)
Parasympathischer Teil (»Warnung«)
ständig, wie die Beseitigung von Abfallstoffen, den Schutz des visuellen Systems (durch das Erzeugen von Tränenflüssigkeit und die Pupillenreaktion) und die Langzeitversorgung des Körpers mit Energie. Die unterschiedlichen Aufgaben des sympathischen und parasympathischen Nervensystems sind in 씰 Abbildung 3.15 dargestellt.
3.3.3 Gehirnstrukturen und ihre Funktionen Das Gehirn ist die wichtigste Komponente unseres zentralen Nervensystems. Das menschliche Gehirn besteht aus drei miteinander verbundenen Schichten. Im tiefsten Bereich des Gehirns, dem Hirnstamm, befinden sich Strukturen, die hauptsächlich an autonomen Prozessen wie Pulsfrequenz, Atmung, Schlucken und Verdauung beteiligt sind. Dieser zentrale Kern ist umgeben vom limbischen System, das an Prozessen von Motivation, Emotion und Gedächtnis beteiligt ist. Das Großhirn (Cerebrum) umschließt diese beiden Strukturebenen. Im Großhirn befindet sich die Gesamtheit des menschlichen Geistes. Das Cerebrum und dessen Oberfläche, der cerebrale Cortex, integriert sensorische Informationen, koordiniert die Bewegungen und ermöglicht abstraktes Denken und Schlussfolgern (씰 Abbildung 3.16). Betrachten wir nun die Funktionen dieser drei wichtigen Hirnregionen etwas genauer, beginnend mit dem Hirnstamm, dem Thalamus und dem Kleinhirn (Cerebellum).
3.3 Biologie und Verhalten
Abbildung 3.15: Das autonome Nervensystem. Das parasympathische Nervensystem, das die internen Prozesse und das Verhalten im Alltag regelt, ist links, das sympathische Nervensystem, das interne Prozesse und das Verhalten in Stresssituationen regelt, rechts dargestellt. Man beachte, dass die Nervenfasern des sympathischen Nervensystems auf ihrem Weg zum und vom Rückenmark Ganglien innervieren, also Verbindungen zu ihnen herstellen; Ganglien sind spezialisierte Cluster von Neuronenketten.
Limbisches System: reguliert Emotionen und motivationales Verhalten
Cerebraler Cortex: ist in komplexe mentale Prozesse involviert
Limbisches System
Hypothalamus: reguliert internen Zustand des Körpers Cerebellum: reguliert koordinierte Bewegung
Thalamus: überträgt sensorische Informationen
Thalamus
Hirnstamm und Cerebellum Hirnstamm: bestimmt das generelle Erregungsniveau des Gehirns und stellt ein Warnsystem bereit Rückenmark: Pfad der Nervenfasern vom Gehirn weg und zum Gehirn hin
Abbildung 3.16: Gehirnstrukturen. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Hauptkomponenten, unter anderem dem Hirnstamm, dem Kleinhirn, dem limbischen System und der Großhirnrinde. All diese Bestandteile bilden zusammen ein komplexes Ganzes.
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Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn Den Hirnstamm findet man bei allen Wirbeltieren. Er enthält Strukturen, die die internen Prozesse des Körpers regeln (씰 Abbildung 3.17). Die Medulla oblongata (verlängertes Rückenmark), am oberen Ende des Rückenmarks angesiedelt, stellt das Zentrum für Atmung, Blutdruck und Herzschlag dar. Weil diese Prozesse lebenswichtig sind, kann eine Schädigung der Medulla fatale Folgen haben. Nervenfasern, die vom Körper aufsteigen und vom Gehirn hinabführen, kreuzen in der Medulla. Das bedeutet, dass die linke Körperseite mit der rechten, die rechte Körperseite mit der linken Hirnhälfte verbunden ist. Genau über der Medulla liegt die Brücke (Pons), die ankommende Informationen in andere Strukturen des Hirnstamms und in das Kleinhirn leitet (Pons ist das lateinische Wort für Brücke). Die Formatio reticularis ist ein dichtes Netzwerk von Nervenzellen, das als Wächter des Gehirns dient. Sie regt den cerebralen Cortex an, die Aufmerksamkeit auf eine neue Stimulation zu richten, und hält das Gehirn sogar während des Schlafes aufmerksam (Kinomura et al., 1996). Eine massive Schädigung in diesem Bereich führt oft zum Koma. Die Formatio reticularis besitzt lange Nervenfasern, die zum Thalamus führen, der die eintreffende sensorische Information kanalisiert und zu den entsprechenden Arealen des Cortex zur Verarbeitung weiterleitet. Der Thalamus leitet zum Beispiel Informationen
von den Augen in cortikale Areale der visuellen Verarbeitung. Neurowissenschaftler wissen seit langem, dass das Cerebellum (Kleinhirn), beim Hirnstamm an der Schädelbasis liegend, Körperbewegungen koordiniert, die Haltung kontrolliert und das Gleichgewicht aufrecht erhält. Eine Schädigung des Cerebellums unterbricht den Fluss ansonsten weicher Bewegungen; sie erscheinen unkoordiniert und ruckartig. Neuere Forschungen lassen vermuten, dass das Kleinhirn auch eine wichtige Rolle spielt, wenn es um die Fähigkeit geht, beispielsweise die Kontrolle von Körperbewegungen zu erlernen (Hazeltine & Ivry, 2002; Seidler et al., 2002). Das limbische System Das limbische System vermittelt zwischen motiviertem Verhalten, emotionalen Zuständen und Gedächtnisprozessen. Des Weiteren regelt es Körpertemperatur, Blutdruck, Blutzuckerspiegel und andere Aspekte des Körperhaushalts. Das limbische System besteht aus drei Strukturen: Hippocampus, Amygdala und Hypothalamus (씰 Abbildung 3.18). Der Hippocampus, die größte Struktur des limbischen Systems, spielt beim Erwerb expliziter Gedächtnisinhalte eine wichtige Rolle. Es gibt beträchtliche klinische Belege für diese Ansicht, insbesondere aus Studien mit dem Patienten H. M., einem der bekanntesten Probanden der Psychologie.
Thalamus
Hypothalamus Amygdala
Pons (Brücke) Medulla
Hippocampus
Cerebellum Formatio reticularis
Abbildung 3.17: Hirnstamm, Thalamus und Kleinhirn. Diese Strukturen sind primär an grundlegenden Lebensprozessen beteiligt: Atmung, Puls, Erregungsniveau, Bewegung, Gleichgewicht und einfache Verarbeitung sensorischer Informationen.
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Abbildung 3.18: Das limbische System. Die Strukturen des limbischen Systems, die man nur bei Säugetieren findet, sind an motiviertem Verhalten, emotionalen Zuständen und Gedächtnisprozessen beteiligt.
3.3 Biologie und Verhalten
AUS DER FORSCHUNG Als er 27 Jahre alt war, unterzog sich H. M. einer Operation, um zu versuchen, dadurch die Häufigkeit und Schwere seiner epileptischen Anfälle zu reduzieren. Während dieser Operation wurden Teile seines Hippocampus entfernt. Infolgedessen konnte sich H. M. nur noch an Dinge erinnern, die sehr lange zurücklagen; er verlor seine Fähigkeiten, neue Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern. Noch lange nach jener Operation glaubte er, im Jahre 1953 zu leben – das war das Jahr seiner Operation.
Bestimmte Arten von Erinnerungen können allerdings auch nach einer Schädigung des Hippocampus noch gespeichert werden – zum Beispiel konnte sich H. M. noch neue Fähigkeiten aneignen. Sollten Sie also in einen Unfall verwickelt worden sein und eine Verletzung des Hippocampus erlitten haben, dann könnten Sie immer noch neue Aufgaben lernen, Sie würden sich aber nicht mehr daran erinnern können! Nach weiterer Beschäftigung mit dem Hippocampus ist die Forschung zu noch detaillierteren Erkenntnissen darüber gelangt, wie sogar verschiedene Bereiche dieser Struktur an der Aneignung verschiedener Arten von Gedächtnisinhalten beteiligt sind (Zeineh et al., 2003). In Kapitel 7 werden wir auf die Funktion des Hippocampus bei der Einspeicherung von Gedächtnisinhalten zurückkommen. Die Amygdala (der Mandelkern) ist maßgeblich an der emotionalen Kontrolle und der Formung emotionaler Gedächtnisinhalte beteiligt. Aufgrund ihrer Kontrollfunktion wirken sich Schädigungen der Amygdala beruhigend auf sonst ungehaltene Menschen aus. (In Kapitel 15 diskutieren wir die Psychochirurgie.) Die Schädigung einiger Areale der Amygdala beeinträchtigt jedoch auch die Fähigkeit, den emotionalen Gehalt von Gesichtsausdrücken zu erinnern (Adolphs et al., 1994). Das gilt im Besonderen für negative emotionale Ausdrücke wie beispielsweise Angst. Forscher vermuten, dass die Amygdala bei der Aneignung und dem Einsatz von Wissen über Bedrohung und Gefahr eine spezielle Rolle spielt (Adolphs et al., 1999). Der Hypothalamus ist eine der kleinsten Strukturen des Gehirns und spielt doch bei vielen unserer wichtigsten alltäglichen Handlungen eine entscheidende Rolle. Er ist aus verschiedenen Kernen (Nuclei), kleinen Neuronenbündeln, zusammengesetzt, die physiologische Prozesse des motivationalen Verhaltens regulieren (darunter Essen, Trinken, Regelung der Temperatur und sexuelle Erregung). Der Hypothalamus erhält das innere Gleichgewicht des Körpers, die Homöostase. Hat der Körper wenige Energiereserven zur Verfü-
gung, ist der Hypothalamus an der Stimulation des Organismus zur Nahrungsbeschaffung und Nahrungsaufnahme beteiligt. Sinkt die Körpertemperatur, verursacht der Hypothalamus eine Kontraktion der Blutgefäße oder kleine unwillkürliche Bewegungen, das Frösteln oder Zittern vor Kälte. Der Hypothalamus reguliert auch die Aktivitäten des endokrinen Systems. Das Großhirn Beim Menschen überragt das Großhirn den Rest des Gehirns; es beansprucht zwei Drittel der Gehirnmasse für sich. Seine Aufgabe ist die Regulierung höherer kognitiver und emotionaler Funktionen. Die äußere Oberfläche des Großhirns, bestehend aus Milliarden von Zellen in einer Schicht von etwa drei Millimetern, wird cerebraler Cortex genannt. Das Großhirn ist in zwei fast symmetrische Hälften, die cerebralen Hemisphären, unterteilt (wir werden diese beiden Hemisphären weiter unten in diesem Kapitel noch ausführlich behandeln). Die beiden Hemisphären sind über einen gewaltigen Strang aus Nervenfasern, das Corpus callosum (auch Balken genannt), verbunden. Über diesen Pfad vollzieht sich der Informationsaustausch zwischen den Hemisphären. Neurowissenschaftler kartografierten jede Hemisphäre mithilfe zweier wichtiger Landmarken. Eine Furche, der Sulcus centralis (Zentralfurche), teilt jede Hemisphäre vertikal, und eine zweite ähnliche Furche, die Fissura lateralis (auch Sylvische Furche genannt), teilt jede Hemisphäre horizontal (씰 Abbildung 3.19). Durch diese vertikalen und horizontalen Unterteilungen lassen sich vier Areale oder Hirnlappen in jeder Hemisphäre definieren. Der Frontallappen, beteiligt an der motorischen Kontrolle und kognitiven Aktivitäten wie Planen, Entscheiden und dem Setzen von Zielen, befindet sich oberhalb der Fissura lateralis und vor dem Sulcus centralis. Schädigungen der Frontallappen können verheerende Auswirkungen auf das Handeln und die Persönlichkeit eines Menschen haben. Genau dort lag die Verletzung, die bei Phineas Gage solch dramatische Veränderungen hervorrief (Damasio et al., 1994). Der Frontallappen enthält auch das Broca-Areal, jene Region des Gehirns, die Paul Broca im Laufe seiner Arbeiten mit Patienten mit Sprachstörungen identifizierte. Der Parietallappen ist für Empfindungen wie Berührung, Schmerz und Temperatur verantwortlich und befindet sich direkt hinter der Zentralfurche. Der Okzipitallappen, die Endstation für visuelle Informationen, liegt am Hinterkopf. Der Temporallappen, verantwortlich für das Hören, befindet sich unter der La-
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Draufsicht Corpus callosum Motorareal Sulcus Frontallappen centralis
Areal für Körperempfinden Parietallappen
BrocaAreal
Okzipitallappen
Fissura lateralis
Wernicke-Areal
Visuelles Areal
Auditorisches Areal Temporallappen Linke Hemisphäre vorne
Rechte Hemisphäre
hinten
Abbildung 3.19: Die Großhirnrinde. Jede der beiden Hemisphären des Cortex besteht aus vier Lappen. Unterschiedliche sensorische und motorische Funktionen konnten mit speziellen Teilen jedes Hirnlappens in Verbindung gebracht werden. teralfurche auf jeder Hemisphäre. Im Temporallappen befindet sich ein als Wernicke-Areal bezeichnetes Gebiet. 1874 entdeckte Carl Wernicke, dass Patienten mit einer Schädigung dieses Areals ihr Sprachverständnis verloren. Es wäre irreführend zu sagen, dass irgendein Hirnlappen irgendeine spezifische Funktion allein kontrolliert. Die Hirnstrukturen vollziehen ihre Aufgaben gemeinsam, sie arbeiten reibungslos als eine integrale Einheit zusammen, gleich einem Symphonieorchester. Ob wir den Abwasch machen, eine Rechenaufgabe lösen oder mit unseren Freunden reden, unser Gehirn arbeitet als ein einheitliches Ganzes. Jeder Hirnlappen interagiert und kooperiert mit den anderen. Dennoch können Neurowissenschaftler Areale der vier Hirnlappen ausmachen, die für spezielle Funktionen wie das Sehen, das Hören, die Sprache und das Gedächtnis notwendig sind. Sind sie geschädigt, sind ihre Funktionen gestört oder gänzlich verloren. Die Aktionen der mehr als 600 Muskeln unseres Körpers, die wir willentlich einsetzen, werden vom motorischen Cortex kontrolliert, der sich genau vor dem Sulcus centralis im Frontallappen befindet. Erinnern wir uns, dass Befehle von einer Seite des Gehirns zu Muskeln auf der gegenüberliegenden Körperseite
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geleitet werden. Außerdem werden Muskeln der unteren Körperhälfte – zum Beispiel die, mit denen wir unsere Zehen bewegen – von Neuronen im oberen Bereich des motorischen Cortex gesteuert. Muskeln der oberen Körperhälfte, beispielsweise die Muskeln des Vokaltrakts, werden von Neuronen im unteren Bereich des motorischen Cortex gesteuert. Wie aus 씰 Abbildung 3.20 zu entnehmen ist, erhalten die oberen Bereiche des Körpers sehr viel detailliertere motorische Instruktionen als die unteren. In der Tat sind die zwei größten Areale des motorischen Cortex für die Finger – speziell für den Daumen – und für die Muskeln, die an der Sprache beteiligt sind, zuständig. Diese vergleichsweise großen Bereiche des motorischen Cortex reflektieren die für das menschliche Verhalten besondere Wichtigkeit des Umgangs mit Gegenständen, des Werkzeuggebrauchs, des Essens und des Sprechens. Der somatosensorische Cortex befindet sich genau hinter der Zentralfurche im linken und rechten Parietallappen. Dieser Bereich des Cortex verarbeitet Informationen über Temperatur, Berührung, Position im Raum und Schmerz. Vergleichbar mit dem motorischen Cortex ist der obere Teil des sensorischen Cortex mit den unteren Körperbereichen verbunden und der unte-
Bein
Sc hu l te Ha r n g e dlen Ze k ig Ha ef in nd Da ge um r en
3.3 Biologie und Verhalten
A. Primärer motorischer Cortex
e
Zeh
en
Schlucken Kauen
Zehen
H g e and len Fin Han k Da ge d um r en Ge sic h Lip t pe n
Sc
hu
Knie
r
Primärer somatosensorischer Cortex lte
Primärer motorischer Cortex
Kiefer
Primärer auditorischer Cortex und auditorische Assoziationsareale
Primärer visueller Cortex (tief in das hintere Ende des Gehirns eingegraben)
re Teil des sensorischen Cortex mit den höher liegenden Körperbereichen. Der größte Teil dieses Areals repräsentiert Lippen, Zunge, Daumen und Zeigefinger – die Körperteile, welche die wichtigsten sensorischen Informationen liefern (siehe Abbildung 3.20). Und wie der motorische Cortex kommuniziert die rechte Hälfte des somatosensorischen Cortex mit der linken und die linke Hälfte mit der rechten Körperseite. Auditive Information wird im auditorischen Cortex verarbeitet, der in den beiden Temporallappen angesiedelt ist. Der auditorische Cortex in jeder Hemisphäre erhält Informationen von beiden Ohren. Ein Areal des auditorischen Cortex ist an der Sprachproduktion beteiligt und ein anderes am Sprachverstehen. Visueller Input wird im hinteren Hirnbereich, im visuellen Cortex, verarbeitet. Hier ist der größte Bereich für den Input vom zentralen Bereich der Retina, der Fovea centralis, am Augenhintergrund zuständig. Die Fovea centralis überträgt die detailliertesten visuellen Informationen. Nicht der gesamte Cortex ist für die Verarbeitung sensorischer Information und für die Steuerung der Muskeln zuständig. Tatsächlich ist der größte Teil mit der Interpretation und Integration von Informationen befasst. Prozesse wie Planen und Entscheiden ereig-
B. Primärer somatosensorischer Cortex
Abbildung 3.20: Motorischer und somatosensorischer Cortex. Die verschiedenen Körperteile reagieren mehr oder weniger empfindlich auf Stimulationen aus der Umwelt und auf Kontrollprozesse vom Gehirn. Die Reizempfindlichkeit einer bestimmten Körperregion steht mit der Menge an Volumen im Cortex in Verbindung, die dieser Region zugeschrieben ist. In dieser Abbildung ist der Körper so gezeichnet, dass die Größe der Körperteile dem ihnen zugeordneten cortikalen Volumen entspricht. Je größer der Körperteil in der Zeichnung, desto größer ist dessen Reizempfindlichkeit gegenüber Stimulationen aus der Umwelt und desto stärker kann das Gehirn seine Bewegungen kontrollieren.
nen sich vermutlich im Assoziationscortex. Assoziationsareale sind über unterschiedliche Areale des Cortex verteilt – eine Region ist in Abbildung 3.20 bezeichnet. Der Assoziationscortex ermöglicht uns, Informationen aus verschiedenen sensorischen Modalitäten zu kombinieren, um geeignete Reaktionen auf Reize aus der Umwelt zu planen. Wir haben uns nun einen Überblick über viele wichtige Strukturen unseres Nervensystems verschafft. Als wir begannen, über das Großhirn zu sprechen, bemerkten wir, dass jede cerebrale Struktur in beiden Hemisphären unseres Gehirns repräsentiert ist. Die Strukturen in diesen beiden Hemisphären besitzen jedoch etwas unterschiedliche Funktionen bezüglich vieler Arten des Verhaltens. Wir befassen uns nun mit diesen Unterschieden zwischen den beiden Hemisphären unseres Gehirns.
3.3.4 Hemisphärenlateralisation Welche Arten von Informationen ließen Forscher ursprünglich vermuten, dass es Unterschiede in den Funktionen beider Hemisphären gibt? Erinnern wir uns, dass Paul Broca bei der Autopsie von Tan eine
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Corpus callosum
jeder Hemisphäre separat präsentiert werden konnten. Sperrys und Gazzanigas Methode beruht auf der Anatomie des visuellen Systems (씰 Abbildung 3.22). Für jedes Auge verlaufen Informationen vom rechten visuellen Feld in die linke Hemisphäre und Informationen vom linken in die rechte Hemisphäre. Normalerweise wird die Information beider Hemisphären sehr schnell über das Corpus callosum ausgetauscht. Weil jedoch dieser Weg bei Split-brain-Patienten unterbrochen ist, bleibt die Information, die im rechten oder linken visuellen Feld präsentiert wurde, nur in der linken bzw. rechten Hemisphäre (씰 Abbildung 3.23). Da bei den meisten Menschen die Sprache von der linken Hemisphäre gesteuert wird, konnte die linke Hemisphäre mit den Forschern kommunizieren, die rechte hingegen nicht. Kommunikation mit der rechten Hemisphäre war möglich, wenn man sie mit manuellen Aufgaben konfrontierte, die eine Identifikation, einen Vergleich oder ein Anordnung von Objekten beinhalteten – Aufgaben, die nicht den Einsatz von
Abbildung 3.21: Das Corpus callosum. Das Corpus callosum ist ein massives Netzwerk an Nervenfasern, das Informationen zwischen den beiden Hemisphären übermittelt. Eine Durchtrennung des Corpus callosum beeinträchtigt diesen Kommunikationsprozess. Schädigung in der linken Hemisphäre entdeckte. Broca ging dieser ersten Entdeckung nach und fand, dass weitere Patienten, die eine ähnliche Störung ihrer sprachlichen Fähigkeiten aufwiesen – ein Muster, das heute als Broca-Aphasie bekannt ist – ebenfalls eine Schädigung der linken Hirnhälfte aufwiesen. Eine Schädigung des entsprechenden Areals auf der rechten Seite des Gehirns hatte nicht denselben Effekt. Was bedeutet dies? Die Möglichkeit, Hemisphärenunterschiede zu erforschen, entstand erstmals im Kontext einer Behandlung schwerer Epilepsie, bei der das Corpus callosum durchtrennt wird – ein Strang von etwa 200 Millionen Nervenfasern, die Informationen zwischen den zwei Hemisphären hin und her übertragen (씰 Abbildung 3.21). Durch diese Operation soll verhindert werden, dass die heftige elektrische Aktivität, die epileptische Anfälle begleitet, von der einen auf die andere Hemisphäre übergreift. Die Operation verläuft für gewöhnlich erfolgreich, und der Patient erscheint darauf in seinem Verhalten in den meisten Fällen normal. Patienten, die sich dieser Operation unterziehen, werden oft als Split-brain-Patienten bezeichnet. Um die Fähigkeiten der voneinander getrennten Hemisphären der epileptischen Patienten zu testen, kreierten Roger Sperry (1968) und Michael Gazzaniga (1970) Situationen, in denen visuelle Informationen
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Abbildung 3.22: Die neuronalen Pfade der visuellen Informationen. Die neuronalen Pfade der visuellen Informationen, von der Innenseite (der Nase zugewandten Seite) jedes Auges kommend, kreuzen am Corpus callosum von einer Hirnseite auf die andere. Die Pfade, die Informationen von der Außenseite (der Nase abgewandten Seite) jedes Auges transportieren, kreuzen sich nicht. Eine Durchtrennung des Corpus callosum verhindert, dass Informationen, die nur im rechten Sehfeld präsentiert wurden, die rechte Hemisphäre erreichen, und die Information aus dem linken Sehfeld kann nicht in die linke Hemisphäre gelangen.
3.3 Biologie und Verhalten
Abbildung 3.23: Koordination zwischen Auge und Hand. Die Koordination zwischen Auge und Hand ist normal, wenn ein Splitbrain-Patient die linke Hand einsetzt, um ein Objekt zu finden und zu vergleichen, das im linken Sehfeld erscheint, weil beides in der rechten Hemisphäre registriert wird. Wird er jedoch aufgefordert, die rechte Hand zu benutzen, um ein im linken Sehfeld gesehenes Objekt zu vergleichen, kann er diese Aufgabe nicht lösen, weil sensorische Informationen der rechten Hand in die linke Hemisphäre projiziert werden und es keine Verbindung mehr zwischen den Hemisphären gibt. Hier wird die Tasse fälschlicherweise der Birne zugeordnet.
Sprache erforderten. Betrachten wird die folgende Demonstration eines Split-brain-Patienten, der seine linke Hirnhälfte benutzt, um die Aktivitäten seiner linken Hand zu erklären, die von seiner rechten Hirnhälfte gesteuert wird.
AUS DER FORSCHUNG Der rechten Hemisphäre wurde eine verschneite Szene gezeigt und gleichzeitig der linken ein Bild einer Hühnerkralle. Die Person wählte aus einer Reihe von Objekten jene aus, die zu jeder dieser Szenen passten. Mit seiner rechten Hand zeigte der Patient auf einen Hühnerkopf, mit der linken auf eine Schaufel. Der Patient berichtete, dass man die Schaufel braucht, um den Hühnerstall zu reinigen (und nicht, um Schnee zu schippen). Weil die linke Hirnhälfte aufgrund der Durchtrennung des Corpus callosum nicht in das eingeweiht war, was die rechte „sah“, musste sie erklären, warum die linke Hand auf eine Schaufel zeigte, wenn das einzige Bild, das die linke Hemisphäre wahrnahm, eine Hühnerkralle war. Das kognitive System der linken Hirnhälfte lieferte eine Theorie, dem Verhalten der verschiedenen Körperteile einen Sinn zu geben (Gazzaniga, 1985).
Aus einer Vielzahl von anderen Forschungsmethoden als nur den Split-brain-Studien wissen wir, dass bei den meisten Menschen viele Sprachfunktionen in der linken Hemisphäre lateralisiert sind. Eine Funktion wird
als lateralisiert angesehen, wenn eine Hirnhälfte die übergeordnete Rolle bei der Ausübung dieser Funktion spielt. Der Umgang mit Sprache – die Fähigkeit, zusammenhängend zu sprechen – ist vielleicht die am stärksten lateralisierte Funktion. Neurowissenschaftler fanden heraus, dass bei nur etwa 5 Prozent der Rechtshänder und 15 Prozent der Linkshänder Sprache von der rechten Hemisphäre gesteuert wird, während bei weiteren 15 Prozent der Linkshänder Sprachprozesse in beiden Hemisphären ablaufen (Rasmussen & Milner, 1977). Daher ist Sprache bei den meisten Menschen eine linkshemisphärische Funktion. Daraus folgt, dass eine Schädigung der linken Hemisphäre bei den meisten Menschen Sprachstörungen verursacht. Interessant ist, dass bei Menschen, die sich mithilfe einer Gebärdensprache – einem syntaktisch geregelten System komplizierter Handpositionen und Handbewegungen zur Vermittlung von Bedeutungen – verständigen, eine linksseitige Hirnschädigung eine ähnlich stark beeinträchtigende Wirkung hat (Corina & McBurney, 2001; Hickok et al., 2002). Was lateralisiert ist, ist folglich nicht Sprache als solche, sondern die Fähigkeit, eine Folge von – verbalen oder manuellen – Gesten zu produzieren, die kommunikative Bedeutung tragen. Man darf nicht den Schluss ziehen, dass die linke Hemisphäre irgendwie „besser“ sei als die rechte. Forscher haben die Annahme vertreten, dass die beiden Hemisphären dieselbe Information auf verschiedene Weise – sozusagen stilistisch unterschiedlich – verar-
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Wie haben Untersuchungen über Menschen, die sich einer Gebärdensprache bedienen, die Auffassungen der Forscher über die Lateralisation von Hirnfunktionen beeinflusst? beiten. Die linke Hemisphäre scheint analytischer zu sein: Sie verarbeitet Informationen Stück für Stück. Die rechte Hemisphäre scheint holistischer zu arbeiten: Sie verarbeitet Informationen unter Berücksichtigung globaler Muster. Es ist das gemeinsame Agieren beider Hemisphären – jede mit ihrem besonderen Verarbeitungsstil –, das unser Erleben reich werden lässt. Nicht überraschend ist beispielsweise, dass die linke Hemisphäre mit ihrem „Augenmerk“ auf kleine Details eine
Schilddrüse und Nebenschilddrüse
Nebennieren Bauchspeicheldrüse
Schlüsselrolle bei den meisten Formen der Problemlösung spielt. Die Funktion der rechten Hemisphäre jedoch tritt mehr in Erscheinung, wenn Probleme kreative Lösungen oder plötzliche Geistesblitze erfordern – die rechte Hemisphäre hilft, ausgedehnter im Gedächtnis zu suchen, was bei diesen Arten von Problemen nötig ist (Bowden & Beeman, 1998). (Wenn Sie Ihre rechte Hemisphäre zum Einsatz bringen wollen, versuchen Sie doch, einige der Aufgaben in Kapitel 8 zu lösen). Wir haben uns jetzt einen Überblick über die vielen wichtigen Strukturen unseres Nervensystems verschafft. Betrachten wir nun das endokrine System, ein System unseres Körpers, das bei der Regulation der Körperfunktionen eng mit dem Nervensystem zusammenarbeitet.
3.3.5 Das endokrine System Der menschliche Genotyp spezifiziert ein zweites, hoch komplexes Regulationssystem, das endokrine System, um die Arbeit des Nervensystems zu unterstützen. Das endokrine System ist ein Netzwerk von Drüsen, das chemische Botenstoffe, die Hormone, synthetisiert und in die Blutbahn entlässt (씰 Abbildung 3.24). Hormone sind für das tägliche Funktio-
Schilddrüse und Nebenschilddrüse
Nebennieren Bauchspeicheldrüse Eierstöcke
Hoden
Hirnanhangdrüse Abbildung 3.24: Die endokrinen Drüsen von Frauen und Männern. Die Hirnanhangdrüse ist ganz rechts abgebildet; sie ist die Steuerzentrale, welche die Drüsen auf der linken Seite der Abbildung reguliert. Die Hirnanhangdrüse wird vom Hypothalamus kontrolliert, einer wichtigen Struktur des limbischen Systems.
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3.3 Biologie und Verhalten
nieren wichtig, wobei sie in einigen Lebensphasen und in einigen Situationen wichtiger sind als in anderen. Hormone beeinflussen unser Körperwachstum. Sie initiieren, erhalten und beenden die Entwicklung von primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen; sie beeinflussen Erregungsniveau und Bewusstsein; sie dienen als Basis für Stimmungsschwankungen und sie regulieren den Stoffwechsel, das Ausmaß, in dem der Körper seine Energiereserven einsetzt. Das endokrine System fördert das Überleben des Organismus, indem es beim Kampf gegen Infektionen und Krankheiten hilft. Es begünstigt über die Regulation des Sexualtriebs, die Produktion von Fortpflanzungszellen und die Produktion von Milch bei stillenden Müttern das Überleben der Spezies. Wir können also nicht ohne ein effektives endokrines System überleben. Endokrine Drüsen reagieren auf die Konzentration von chemischen Stoffen im Blut oder werden von anderen Hormonen oder von Nervenimpulsen aus dem Gehirn angeregt. Dann werden Hormone in das Blut abgesondert und wandern zu mitunter weit entfernten Zielzellen, die mit spezifischen Rezeptoren ausgestattet sind; Hormone üben ihren Einfluss auf die chemische Regulation des Körpers nur an den Stellen aus, die genetisch dazu bestimmt sind, auf sie anzusprechen. Durch das Beeinflussen unterschiedlicher, aber spezifischer Zielorgane oder Gewebestrukturen können Hormone eine enorme Bandbreite an biologischen Prozessen steuern. Dieses vielfältig agierende Kommunikationssystem ermöglicht die Kontrolle langsamer, kontinuierlicher Prozesse wie der Aufrechterhaltung des Blutzuckerspiegels und des Kalziumspiegels, des Kohlenhydratstoffwechsels und des allgemeinen Körperwachstums. Doch was passiert in Krisenzeiten? Das endokrine System entlässt auch das Hormon Adrenalin in die Blutbahn; Adrenalin mobilisiert unseren Körper, so dass wir schnell auf Herausforderungen reagieren können. Wie wir schon erwähnten, dient die Hirnstruktur des Hypothalamus als Schaltstelle zwischen dem endokrinen System und dem zentralen Nervensystem. Spezialisierte Zellen im Hypothalamus erhalten Botschaften von anderen Zellen mit dem Befehl, eine Reihe verschiedener Hormone an die Hirnanhangdrüse zu senden, wo sie die Freisetzung von anderen Hormonen stimulieren oder hemmen. Hormone werden in unterschiedlichen Körperregionen gebildet. Diese „Produktionsstätten“ erzeugen eine Vielzahl von Hormonen, und jedes von ihnen reguliert unterschiedliche Prozesse des Körpers, wie 씰 Tabelle 3.1 zeigt. Betrachten wir den bedeutendsten dieser Prozesse.
Die Hirnanhangdrüse wird oft als „wichtigste aller Drüsen“ bezeichnet, weil sie etwa zehn verschiedene Arten von Hormonen produziert, welche die Sekrete aller anderen endokrinen Drüsen beeinflussen. Darüber hinaus erzeugt die Hirnanhangdrüse ein Hormon, welches das Wachstum beeinflusst. Das Fehlen dieses Wachstumshormons hat Kleinwüchsigkeit zur Folge; ein Überschuss führt zu Riesenwuchs. Beim Mann aktivieren die Sekrete der Hirnanhangdrüse die Testikel zur Absonderung von Testosteron, das die Produktion von Spermien stimuliert. Die Hirnanhangdrüse ist des Weiteren an der Entwicklung von männlichen sekundären Geschlechtsmerkmalen wie dem Bartwuchs, dem Stimmbruch und der körperlichen Reife beteiligt. Testosteron kann sogar den Aggressions- und Sexualtrieb steigern. Bei der Frau stimuliert ein Hormon der Hirnanhangdrüse die Produktion von Östrogen, das für die hormonelle Kettenreaktion essenziell ist, welche die Freisetzung von Eizellen aus den Eierstöcken der Frau anregt und die Frau fruchtbar macht. Diverse Antibabypillen wirken, indem sie die Mechanismen in der Hirnanhangdrüse blockieren, die diesen Hormonfluss kontrollieren, und verhindern so einen Eisprung.
3.3.6 Plastizität und Neurogenese: Unser Gehirn verändert sich Sie haben jetzt eine gute allgemeine Vorstellung davon, wie das Nervensystem arbeitet: Zu jedem Zeitpunkt kommunizieren Millionen von Neuronen miteinander, um Körper und Geist am Laufen zu halten. Was das Gehirn aber noch interessanter macht, ist eine Folge all dieser neuronalen Kommunikation: Das Gehirn selbst verändert sich im Laufe der Zeit. Wollen Sie sich einen Moment Zeit nehmen, um Ihr Gehirn zu verändern? Blättern Sie ein paar Seiten zurück und lernen Sie die Definition von Aktionspotenzial auswendig. Wenn Sie das – oder das Lernen einer beliebigen anderen Information – geschafft haben, dann haben Sie bereits eine Modifikation Ihres Gehirns verursacht. In der Forschung werden Änderungen in der Hirnleistung als Plastizität bezeichnet. Ein Großteil der neurowissenschaftlichen Forschung befasst sich mit den physischen Grundlagen der Plastizität. So wird beispielsweise untersucht, wie ein Lerneffekt aus der Bildung neuer Synapsen oder aus der Veränderung der Kommunikation über bestehende Synapsen resultiert (Baudry et al., 1999). Weil die Hirnplastizität von der Lebenserfahrung abhängt, wird es Sie nicht überraschen, dass Gehirne
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Die b io l o g i sc h en u n d evol u ti on ä re n G r und la g e n d e s Ve r ha lt e ns
Tabelle 3.1
Die wichtigsten endokrinen Drüsen und die Funktionen der Hormone, die sie produzieren Diese Drüsen ...
produzieren Hormone, die Folgendes regulieren:
Hypothalamus
Freisetzung der Hormone der Hirnanhangdrüse
Vordere Hirnanhangdrüse
Hoden und Eierstöcke Milchproduktion Stoffwechsel Stressreaktionen
Hintere Hirnanhangdrüse
Wasserhaushalt Milchfluss Kontraktion des Uterus (Wehen)
Schilddrüse
Stoffwechsel Wachstum und Entwicklung
Nebenschilddrüse
Kalziumspiegel
Darm
Verdauung
Bauchspeicheldrüse (Pankreas)
Glukosestoffwechsel
Nebennieren
Kampf- oder Fluchtreaktionen Stoffwechsel Sexuelle Begierde bei Frauen
Eierstöcke
Entwicklung weiblicher Geschlechtsmerkmale Eizellenproduktion
Hoden
Entwicklung männlicher Geschlechtsmerkmale Spermienproduktion Sexuelle Begierde bei Männern
verschiedene Umgebungen und Aktivitäten widerspiegeln. Eine Forschungsrichtung, die von Mark Rosenzweig begründet wurde, zeigt, welche Konsequenzen das Aufwachsen von Ratten in reizarmen oder reizangereicherten Umgebungen hat (für einen Überblick siehe Rosenzweig, 1996, 1999). Frühe Versuche zeigten einen Vorteil für Jungtiere: Der Cortex von Ratten, die in Umgebungen mit vielen Reizen aufwuchsen, war im Durchschnitt schwerer und dicker – positive Attribute – als der ihrer reizarm aufgewachsenen Geschwister. Die Forschung hat gezeigt, dass die Menge an Umgebungsreizen auch auf das Gehirn ausgewachsener Ratten noch Einfluss hat.
AUS DER FORSCHUNG 25 männliche Ratten aus demselben Wurf wurden in ihren ersten 120 Lebenstagen in kleinen Gruppen gehalten – nach dieser Zeitspanne sind die Ratten ausgewachsen. Danach wurden sie in eine von drei Umgebungen verlegt. In der
100
komplexen Umgebung waren die Ratten zusammen in einem Käfig untergebracht, „der mit einer Auswahl von Gegenständen wie Schaukeln, Holzklötzen, Spielzeugautos, Plastiktunnels und Spiegeln gefüllt war“ (Briones et al., 2004, S. 131). In der inaktiven Umgebung waren die Ratten einzeln in ansonsten leeren Käfigen untergebracht. In der sozialen Umgebung lebten die Ratten zu zweit in ansonsten leeren Käfigen. Nach 30 Tagen untersuchten die Experimentatoren den Effekt der Umgebungen auf die Neuronen im visuellen Cortex. Die Analysen zeigten, dass die Ratten aus der komplexen Umgebung 21 Prozent mehr Synapsen pro Neuron aufwiesen als die Ratten aus der sozialen Umgebung und 27 Prozent mehr als die isolierten Ratten. Diese Ergebnisse bestätigen, dass reizangereicherte Umgebungen auch im Gehirn von ausgewachsenen Ratten noch Veränderungen hervorrufen.
Mithilfe bildgebender Verfahren ist es möglich, sehr spezifische Unterschiede im Gehirn zu messen, die mit der individuellen Lebenserfahrung in Zusammenhang ste-
3.3 Biologie und Verhalten
hen. Man denke an Musiker, die Geige spielen. Sie müssen die Finger ihrer linken Hand mit höchster Genauigkeit kontrollieren können. In Abbildung 3.20 sahen wir, dass ein beträchtlicher Teil des sensorischen Cortex für die Finger zuständig ist. Aufnahmen des Gehirns zeigen, dass die Repräsentation der Finger der linken Hand bei Geigern im Vergleich zu nicht Geige spielenden Menschen sogar noch verstärkt ist (Elbert et al., 1995). Eine solche Verstärkung findet man nicht für die Finger der rechten Hand, die beim Geigenspiel keine derart große sensorische Rolle besitzt. Die verbesserte Repräsentation der Finger der linken Hand war bei denjenigen Geigern am größten, die das Instrument vor ihrem 12. Lebensjahr erlernten. Ein wichtiger Aspekt der Plastizitätsforschung betrifft Fälle, in denen Menschen oder Tiere durch Schlaganfälle, degenerative Krankheiten oder Unfälle Hirn- oder Rückenmarksschäden erlitten haben. Es gibt hinreichend klinische Beweise dafür, dass sich das Gehirn manchmal selbst heilen kann. Zum Beispiel genesen Schlaganfallpatienten, die das Sprechvermögen verloren haben, im Laufe der Zeit oft wieder. In manchen Fällen verbleibt dem geschädigten Hirnareal genug Restkapazität, um eine Erholung zu ermöglichen; in anderen Fällen übernehmen andere Hirnareale die Funktionen des geschädigten Bereichs (Kuest & Karbe, 2002). Die Forschung hat inzwischen auch mit der Entwicklung von Verfahren begonnen, die das Gehirn in seinem Heilungsprozess unterstützen. In den letzten Jahren konzentriert sich die Aufmerksamkeit dabei auf Stammzellen – unspezialisierte Zellen, die unter den richtigen Bedingungen dazu gebracht werden können, als neue Neuronen zu fungieren (Kintner, 2002; Wilson & Edlund, 2001). Es besteht die Hoffnung, dass Stammzellen letztlich dazu dienen können, geschädigtes Gewebe im Nervensystem durch nachwachsendes neuronales Gewebe zu ersetzen. Weil die flexibelsten Stammzellen aus Embryonen und abgetriebenen Föten stammen, ist die Stammzellenforschung allerdings politisch umstritten. Forscher sind indes überzeugt, dass die Stammzellenforschung sogar zu Heilverfahren für Lähmungen und andere tiefgreifende Fehlfunktionen des Nervensystems führen könnte. Deshalb ist die scientific community sehr daran interessiert, einen Weg zu finden, diese Forschung im Rahmen eines gesellschaftlichen Konsenses fortzusetzen. Die Erforschung der Heilungsprozesse im Gehirn hat in den letzten Jahren durch neue Daten Auftrieb erhalten. Diese Daten legen nahe, dass Neurogenese – die Produktion neuer Gehirnzellen aus natürlichen Stammzellen – auch in den Gehirnen adulter Säuge-
tiere einschließlich des Menschen stattfindet (Gould & Gross, 2002; Gross, 2000). Fast einhundert Jahre lang ist die Neurologie davon ausgegangen, dass im erwachsenen Säugerhirn keine Neuronen nachwachsen – alles, was sich in der adulten Phase ereignen könne, sei das Absterben von Neuronen. Diese Ansicht ist durch das neue Datenmaterial in Frage gestellt worden. Erinnern wir uns beispielsweise daran, dass wir den Hippocampus als eine wichtige Struktur für die Aneignung bestimmter Arten von Gedächtnisinhalten identifiziert haben. Nachdem die Forschung inzwischen Neurogenese im Hippocampus bei Erwachsenen belegt hat, wird jetzt versucht, die Rolle neu entstandener Neuronen beim Erhalt dauerhafter Zugänglichkeit von Gedächtnisspuren zu verstehen (Kempermann, 2002). In diesem Kapitel haben wir einen kurzen Blick in das wundervolle Anderthalb-Kilo-Universum geworfen, das unser Gehirn ist. Es ist eine Sache, zu erkennen, dass Verhalten und geistige Vorgänge vom Gehirn kontrolliert werden, aber eine ganz andere, zu verstehen, wie es das eigentlich anstellt. Die Neurowissenschaft untersucht die faszinierende Wechselwirkung von Gehirn, Verhalten und Umwelt. Sie haben jetzt das Hintergrundwissen, um neue Forschungsergebnisse würdigen zu können.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Vorteile hat fMRT gegenüber anderen bild-
gebenden Verfahren in der Hirnforschung? 2 Aus welchen zwei Hauptbestandteilen besteht das auto-
nome Nervensystem? 3 Welche Hauptfunktionen hat die Amygdala? 4 Welche Verarbeitungsweisen zeigen die beiden Hirn-
hemisphären? 5 Warum wird die Hirnanhangdrüse oft als „wichtigste
aller Drüsen“ bezeichnet? 6 Was ist Neurogenese?
KRITISCHES DENKEN: Warum haben die Experimentatoren bei der Plastizitätsstudie an adulten Ratten sowohl eine inaktive als auch eine soziale Kontrollgruppe eingesetzt?
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3
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PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Warum beeinflusst Musik, wie man sich fühlt?
Angenommen, Sie sitzen im Kino und sehen sich eine Komödie an. Sehr wahrscheinlich wird im Soundtrack aufmunternde und lebhafte Musik vorkommen – Musik, die man als „fröhlich“ bezeichnen könnte. In Saal 2 wird ein Drama von „trauriger“ Musik begleitet. Der Horrorfilm in Saal 3 benutzt Musik, um ängstliche Spannung zu erzeugen. Hat Musik wirklich Auswirkungen auf unsere Emotionen? Die Forschung sucht die Antwort auf diese Frage im Gehirn. Wie wir in Kapitel 12 sehen werden, hat es wesentliche Fortschritte im Verständnis des Verhältnisses zwischen Hirnaktivität und Gefühlen gegeben. Diese Ergebnisse bieten einen Hintergrund für die Untersuchung der Wirkung von Musik auf das Gehirn. Wir wissen zum Beispiel, dass angenehme und unangenehme Bilder unterschiedliche Aktivitätsmuster im Gehirn auslösen (Davidson et al., 2000). Beim Betrachten angenehmer Reize zeigt das Gehirn vergleichsweise mehr Aktivität im präfrontalen Cortex (dem vorderen Bereich der Frontallappen) der linken Hirnhälfte; unangenehme Stimuli lösen dagegen stärkere Aktivität in der entsprechenden Region der rechten Hirnhälfte aus. Folgt Musik demselben Schema? Um dies herauszufinden, zeichneten Forscher EEG-Daten von Studierenden auf, die sich angenehme (lebhafte und fröhliche) oder unangenehme (unheimliche oder traurige) Musik anhörten (Schmidt & Trainor, 2001). Die Musikstücke erzeugten dieselben Asymmetrien in der Gehirnaktivität wie sie für andere Stimuli gefunden wurden. Diese Ergebnisse zeigen, dass beispielsweise fröhliche Musik einen glücklich stimmt, weil sie dieselben Hirnareale aktiviert wie andere Reize, die Glücksgefühle auslösen. Aber welche Bestandteile der Musik lassen sie eigentlich fröhlich oder traurig klingen? Ein wichtiger Unterschied ist das Tempo: Schnellere Musik wirkt im Allgemeinen fröhlicher als langsame. Um die Auswirkungen verschiedener Tempi zu erfassen, werteten die Experimentatoren wieder die EEG-Auf-
102
zeichnungen Musik hörender Studierender aus. In diesem Fall waren die Musikstücke entweder relativ schnell oder relativ langsam (Tsang et al., 2001). Auch hier zeigte das Gehirn eine asymmetrische Aktivität. In einer Entsprechung zu den früheren Ergebnissen ergab ein „fröhlicheres“ Tempo höhere Aktivität im linken Frontalcortex, während „traurigeres“ Tempo vergleichsweise stärkere Aktivität in der rechten Hirnhälfte auslöste. Betrachten wir noch einen weiteren Aspekt von Emotion und Musik. Haben Sie jemals Musik gehört, die so schön war, dass sie davon eine Gänsehaut bekamen? Um dieses Phänomen zu erforschen, baten die Forscher zehn Studierende, ihre eigene „GänsehautMusik“ ins Labor mitzubringen (Blood & Zatorre, 2001). Während die Probanden abwechselnd ihrer Lieblingsmusik und neutralen Musikstücken lauschten, wurden sowohl ihre physiologische Erregung (z.B. Herzfrequenz und Atmung) als auch die Hirnaktivität (mit PET-Scans) überwacht. Die physiologischen Daten bestätigten die Realität der Gänsehaut: Gegenüber dem Hören neutraler Musik war die Herzund Atemfrequenz beim Hören der Lieblingsmusik erhöht. Die PET-Scans zeigten, dass die Gänsehautempfindung von verstärkter Hirnaktivität in Bereichen begleitet war, die angenehme emotionale Erregung signalisieren – je intensiver die Gänsehaut, desto aktiver wurden diese Areale. Die Forscher erklärten die Bedeutung dieser Ergebnisse: „Die Musik bedient sich neuronaler Belohnungs- und Emotionsmechanismen ähnlich derer, die speziell auf biologisch relevante Stimuli reagieren, wie etwa Nahrung und Sex, und derer, die künstlich durch Drogen aktiviert werden. Das ist recht bemerkenswert, weil Musik weder für das biologische Überleben oder für die Fortpflanzung notwendig, noch eine pharmakologische Substanz ist“ (S. 11823). Wenn Ihnen das nächste Mal Musik einen Schauer über den Rücken jagt, denken Sie daran, wie Ihr Gehirn genau beteiligt ist.
Zusammenfassung
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hirn und Verhalten ein: Sie untersuchen Patienten mit Hirnschädigungen, sie erzeugen Läsionen an bestimmten Stellen im Gehirn, sie stimulieren das Gehirn elektrisch, sie zeichnen Hirnaktivität auf und sie erzeugen am Computer Bilder vom Gehirn.
Vererbung und Verhalten Arten entstehen und verändern sich mit der Zeit aufgrund der natürlichen Selektion. Bei der Evolution des Menschen waren der aufrechte Gang auf zwei Beinen und die Ausbildung des Großhirns für anschließende Fortschritte wie Sprache und Kultur verantwortlich.
Hirn und Rückenmark bilden das Zentralnervensystem (ZNS). Das periphere Nervensystem (PNS) besteht aus allen Neuronen, die das ZNS mit dem Körper verbinden. Das PNS setzt sich aus dem somatischen Nervensystem, das die Skelettmuskulatur des Körpers steuert, und dem autonomen Nervensystem (ANS), das lebenserhaltende Prozesse reguliert, zusammen.
Die Basiseinheit der Vererbung ist das Gen. Gene legen das Ausmaß der Auswirkungen fest, die Faktoren der Umwelt auf die Ausbildung phänotypischer Merkmale haben können.
Das Nervensystem in Aktion Das Neuron, die Basiseinheit des Nervensystems, empfängt, verarbeitet und überträgt Informationen auf andere Zellen, Drüsen und Muskeln.
Das Hirn besteht aus drei integrierten Schichten: dem Hirnstamm, dem limbischen System und dem Großhirn.
Neurone übertragen Informationen von den Dendriten über den Zellkörper (Soma) und das Axon hin zu den Endknöpfchen.
Der Hirnstamm ist für Atmung, Verdauung und Herzschlag verantwortlich.
Sensorische Neurone erhalten von speziellen Rezeptorzellen Botschaften und senden sie an das ZNS. Motorneurone leiten Botschaften vom ZNS zu Muskeln und Drüsen. Interneurone übertragen Informationen von sensorischen Neuronen auf andere Interneurone oder auf Motorneurone.
Das limbische System ist an Langzeitgedächtnis, Aggression, Essen, Trinken und Sexualverhalten beteiligt. Das Großhirn kontrolliert höhere mentale Funktionen.
Überschreitet einmal die Summe der Inputs eines Neurons eine spezifische Schwelle, wird ein Aktionspotenzial das Axon entlang bis hin zum Endknöpfchen gesendet.
Einige Funktionen sind auf eine Hemisphäre des Gehirns lateralisiert. Bei den meisten Menschen sitzt beispielsweise die Sprache in der linken Hemisphäre.
Alles-oder-Nichts-Aktionspotenziale werden erzeugt, wenn die Öffnung der Ionenkanäle einen Austausch von Ionen durch die Zellmembran hindurch ermöglicht.
Obwohl die beiden Hemisphären reibungslos zusammenarbeiten, verkörpern sie typischerweise unterschiedliche Verarbeitungsstile: Die linke Hemisphäre arbeitet eher analytisch, die rechte eher holistisch.
Neurotransmitter werden in den synaptischen Spalt zwischen Neuronen ausgeschüttet. Diffundieren sie durch den Spalt, binden sie an die Rezeptormoleküle der postsynaptischen Membran.
Das endokrine System produziert Hormone und entlässt sie in die Blutbahn. Hormone tragen dazu bei, Wachstum, primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, Stoffwechsel, Verdauung und Erregungsniveau zu regulieren.
Ob diese Neurotransmitter die Membran erregen oder hemmen, hängt von der Beschaffenheit der Rezeptormoleküle ab.
Biologie und Verhalten
Das Wachstum neuer Zellen und Lebenserfahrungen beeinflussen die Umbildung des Gehirns nach der Geburt.
Neurowissenschaftler setzen verschiedene Methoden zur Erforschung der Beziehung zwischen Ge-
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SCHLÜSSELBEGRIFFE
104
Aktionspotenzial (S. 78)
Hirnanhangdrüse (S. 99)
Alles-oder-Nichts-Gesetz (S. 78)
Hirnstamm (S. 92)
Amygdala (S. 93)
Homöostase (S. 93)
Assoziationscortex (S. 95)
Hormone (S. 98)
Auditorischer Cortex (S. 95)
Hypothalamus (S. 93)
Autonomes Nervensystem (ANS) (S. 89)
Inhibitorischer Input (S. 77)
Axon (S. 75)
Interneurone (S. 76)
Broca-Areal (S. 84)
Ionenkanäle (S. 78)
Brücke (Pons) (S. 92)
Läsionen (S. 85)
Cerebellum (Kleinhirn) (S. 92)
Limbisches System (S. 92)
Cerebrale Hemisphären (S. 93)
Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) (S. 87)
Cerebraler Cortex (Großhirnrinde) (S. 93)
Medulla oblongata (S. 92)
Cerebrum (Großhirn) (S. 93)
Motorischer Cortex (S. 94)
Corpus callosum (S. 93)
Motorneurone (S. 76)
Dendriten (S. 75)
Natürliche Selektion (S. 67)
DNS (Desoxyribonukleinsäure) (S. 72)
Neurogenese (S. 101)
Elektroenzephalogramm (EEG) (S. 87)
Neuromodulator (S. 83)
Endknöpfchen (S. 76)
Neuron (S. 75)
Endokrines System (S. 98)
Neurotransmitter (S. 80)
Erblichkeit (S. 72)
Neurowissenschaft (S. 75)
Evolutionäre Psychologie (S. 74)
Okzipitallappen (S. 93)
Exzitatorischer Input (S. 77)
Östrogen (S. 99)
Formatio reticularis (S. 92)
Parasympathisches Nervensystem (S. 90)
Frontallappen (S. 93)
Parietallappen (S. 93)
Funktionale MRT (fMRT) (S. 87)
Peripheres Nervensystem (PNS) (S. 98)
Gene (S. 72)
Phänotyp (S. 69)
Genetik (S. 71)
Plastizität (S. 99)
Genom (S. 72)
Positronen-Emissions-Tomographie (S. 87)
Genotyp (S. 69)
Refraktärphase (S. 79)
Geschlechtschromosomen (S. 72)
Repetitive transkraniale Magnetstimulation (rTMS)
Gliazellen (S. 76)
(S. 85)
Großhirn (S. 93)
Ruhepotenzial (S. 78)
Hippocampus (S. 92)
Sensorische Neurone (S. 76)
Schlüsselbegriffe
Soma (S. 75)
Thalamus (S. 92)
Somatisches Nervensystem (S. 89)
Vererbung (S. 71)
Somatosensorischer Cortex (S. 94)
Verhaltensgenetik (S. 72)
Soziobiologie (S. 74)
Visueller Cortex (S. 95)
Sympathisches Nervensystem (S. 90)
Zentrales Nervensystem (ZNS) (S. 88)
Synapse (S. 80) Synaptische Übertragung (S. 80) Temporallappen (S. 93)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Testosteron (S. 99)
105
Sensorische Prozesse und Wahrnehmung
4.2 Sensorisches Wissen über die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Psychophysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Von physikalischen zu mentalen Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Das visuelle System
108 109 111 114 114 118
....................................... Das menschliche Auge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pupille und Linse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prozesse im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 119 120 120 122
Kritisches Denken im Alltag: Kann Technologie die Sehfähigkeit wiederherstellen? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
4.3.5 Farbensehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
4.4 Hören
129 129 130 131
4.5 Die weiteren Sinne
........................................ Geruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hautsinne und Berührung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gleichgewichtssinn und kinästhetischer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135 135 135 137 138 139
Psychologie im Alltag: Warum können sehr scharfe Speisen wehtun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
.................................................... 4.4.1 Die Physik des Schalls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Psychische Dimensionen des Schalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Die Physiologie des Hörens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6
Aufmerksamkeitsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räumliche und zeitliche Integration. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung räumlicher Tiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungskonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.7 Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens . . . . . . . . 4.7.1 Bottom-up- und Top-down-Prozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.2 Der Einfluss von Kontext und Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.3 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
141 141 143 144 145 146 149 152 152 154 155
............................................
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.............................................
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4.1.1 Proximaler und distaler Reiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Realität, Mehrdeutigkeit und Wahrnehmungstäuschungen. . . . . .
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4.1 Sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation, Identifikation und Wiedererkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aben Sie sich jemals gewundert, wie Ihr Gehirn – abgeschlossen in der stillen Dunkelkammer des Schädels – Ihnen die Erfahrung der leuchtenden Farben eines Bilds von van Gogh ermöglicht, der treibenden Melodien und Rhythmen des Rock’n’Roll, des erfrischenden Geschmacks einer Wassermelone an einem heißen Tag, der sanften Berührung eines Kinderkusses oder des Geruchs von Wiesenblumen im Frühling? Wir wollen Ihnen in diesem Kapitel erklären, wie Ihr Körper und das Gehirn dem ständig auf Sie eindringenden Ansturm von Reizen – Gesehenes, Gehörtes usw. – Sinn entnimmt. Sie werden sehen, wie die Evolution Sie mit der Fähigkeit ausstattete, viele unterschiedliche Dimensionen von Erfahrungen auszumachen. In diesem Kapitel beschreiben wir, wie sich unsere Welterfahrung auf die Vorgänge der Empfindung (sensorische Prozesse) und der Wahrnehmung (perzeptuelle Prozesse) stützt. Es wird sich herausstellen, dass diese Vorgänge die Funktion haben, sowohl dem Überleben als auch der Sinnesfreude zu dienen. Unsere Sinne helfen uns zu überleben, indem sie bei Gefahr Alarm schlagen, uns auf schnelles Handeln zur Abwendung von Gefahr vorbereiten und uns zu angenehmen Empfindungsmöglichkeiten hinlenken. Die Sinne versorgen uns auch mit Sinnesfreuden. Sinnesfreude ist jene Qualität, die durch hingebungsvolle Befriedigung der Sinne entsteht; sie beinhaltet das Genießen von Erfahrungen, die unsere Sinne ansprechen, das Sehen, Hören, Berühren, Schmecken und Riechen. Wir beginnen mit einem Überblick über sensorische und perzeptuelle Prozesse – und einigen Anforderungen, die die gegenständliche Welt an sie stellt.
Welche Sinne sind beim Genuss einer Wassermelone beteiligt?
108
Sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation, Identifikation und Wiedererkennen
4.1
Der Begriff Wahrnehmung bezieht sich in seinem weiten Sinne auf den allgemeinen Prozess, Objekte und Ereignisse in der Umwelt zu begreifen – sie mit den Sinnen zu empfinden, zu verstehen, zu identifizieren und zu klassifizieren sowie sich darauf vorzubereiten, auf sie zu reagieren. Ein Perzept ist das, was wahrgenommen wird – das phänomenologische (oder: erlebte) Ergebnis des Prozesses der Wahrnehmung. Der Prozess der Wahrnehmung ist am besten zu verstehen, wenn wir ihn in drei Stufen unterteilen: sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation und Identifikation/Wiedererkennen von Objekten. Empfindung ist der Vorgang, in dem durch Stimulation der Sinnesrezeptoren – der Strukturen in Ihren Augen, Ohren und so weiter – neuronale Impulse erzeugt werden, die Vorgänge innerhalb oder außerhalb Ihres Körpers darstellen. Zum Beispiel stellt Empfindung die grundlegenden Fakten im Gesichtsfeld bereit. Nervenzellen in unseren Augen leiten die Informationen dann an andere Zellen in der Hirnrinde weiter, die aus diesem Input erste Merkmale ableiten. Perzeptuelle Organisation betrifft die nächste Stufe, auf der eine interne Repräsentation eines Objekts gebildet und daraus ein Perzept des externen Reizes aufgebaut wird. Die Repräsentation stellt, im Sinne einer Arbeitshypothese, eine erste Beschreibung der externen Welt des Wahrnehmenden dar. Im Hinblick auf das Sehen liefern perzeptuelle Prozesse Schätzungen der wahrscheinlichen Größe, Form, Bewegung, Entfernung und Ausrichtung eines Objekts. Diese Schätzungen basieren auf mentalen Berechnungen, die das Vorwissen mit der aktuellen Evidenz aus den Sinnen sowie mit dem Reiz in seinem Wahrnehmungskontext kombinieren. Wahrnehmung besteht aus der Synthese (Integration und Kombination) einfacher sensorischer Merkmale wie beispielsweise Farben, Kanten und Linien zu einem Perzept eines Objekts, das später wiedererkannt werden kann. Diese mentalen Aktivitäten erfolgen meistens schnell und effizient, ohne dass wir uns ihrer bewusst sind. Identifikation und Wiedererkennen, die dritte Stufe im Wahrnehmungsgeschehen, weist den Perzepten Bedeutung zu. Runde Objekte „werden“ zu Fußbällen, Münzen, Uhren, Orangen oder Monden; Menschen werden als weiblich oder männlich identifiziert, Freund oder Feind, Verwandter oder Fernsehstar. Auf
4.1 Sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation, Identifikation und Wiedererkennen
(linkes retinales Abbild)
B.
A.
(Gemälde)
(Fenster)
(Tischplatte)
(Teppich) C.
Abbildung 4.1: Die Interpretation retinaler Abbilder. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem bequemen Stuhl und schauen sich im Raum um (A). Das von den Gegenständen im Raum reflektierte Licht wirft Bilder auf Ihre Retina. Beachten Sie die Information, die in Ihrem linken Auge ankommt (B). Wenn Sie diese Information ohne die dazugehörende Umgebung betrachten (C), können Sie abschätzen, welche Aufgabe Ihr visuelles System hat: Ihre visuelle Wahrnehmung muss den distalen Reiz, das tatsächliche Objekt in der Umgebung, an Hand der Informationen des proximalen Reizes, also des retinalen Abbildes des Objekts, interpretieren beziehungsweise identifizieren.
dieser Stufe ändert sich die Wahrnehmungsfrage („Wie sieht dieses Objekt aus?“) zur Frage der Identifikation („Was ist das für ein Objekt?“) und zur Frage der Wiedererkennung („Was ist die Funktion dieses Objekts?“). Um zu identifizieren und wiederzuerkennen, was etwas ist und wie man am besten darauf reagieren sollte, werden höhere kognitive Prozesse benötigt. Diese umfassen unsere Theorien, Erinnerungen, Wertesysteme, Glaubenssätze und Haltungen im Hinblick auf das Objekt. Wir haben Ihnen jetzt eine kleine Einführung in die Stufen der Verarbeitung gegeben, die unsere Wahrnehmungen der Welt um uns herum mit Bedeutung füllt. Im Alltag scheint Wahrnehmung völlig mühelos zu sein. Wir werden Sie zu überzeugen versuchen,
dass tatsächlich eine ganze Menge ausgefeilte Verarbeitung und viel mentale Arbeit vonnöten sind, um zu dieser „Wahrnehmungstäuschung der Leichtigkeit“ zu gelangen.
4.1.1 Proximaler und distaler Reiz Stellen Sie sich vor, Sie wären die Person in 씰 Abbildung 4.1A und betrachteten den Raum von einem Lehnstuhl aus. Ein Teil des Lichts, das von den Objekten im Raum reflektiert wird, trifft auf Ihre Augen und erzeugt Abbilder auf Ihren Netzhäuten. 씰 Abbildung 4.1B zeigt, was sich in etwa in Ihrem linken Auge abbilden würde, während Sie so in dem Raum sitzen.
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(Die Ausbuchtung rechts ist Ihre Nase, und die Hand und das Knie unten gehören Ihnen.) In welchem Verhältnis steht dieses retinale Abbild zur Umgebung, die es erzeugte? Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass das retinale Abbild zweidimensional ist, während die Umgebung dreidimensional ist. Dieser Unterschied hat viele Konsequenzen. Vergleichen Sie beispielsweise die Formen der Objekte in Abbildung 4.1A mit den Formen ihrer zugehörigen retinalen Abbilder (씰 Abbildung 4.1C). Tisch, Teppich, Fenster und Gemälde sind in der objektiven Welt alle rechteckig, aber nur das Fenster erzeugt tatsächlich ein Rechteck als Abbild auf Ihrer Retina. Das Abbild des Gemäldes ist trapezförmig, das Abbild der Tischoberfläche ist ein unregelmäßiges Viereck, und das Abbild des Teppichs besteht eigentlich aus drei unterschiedlichen Regionen mit insgesamt mehr als 20 Kanten. Hier ist unser erstes Wahrnehmungsrätsel: Wie schaffen wir es, alle diese Objekte als einfache, ganz normale Rechtecke wahrzunehmen? Die Sachlage ist allerdings noch etwas komplizierter. Sie können ebenfalls bemerken, dass Sie viele Teile des Raums wahrnehmen, die sich gar nicht als Abbild auf Ihrer Retina befinden. Beispielsweise wer-
Abbildung 4.2: Drei Stufen der Wahrnehmung: sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation und Identifikation/Wiedererkennen. Das Diagramm skizziert die Transformationsprozesse von eingehenden Informationen auf den Stufen der sensorischen Prozesse, der perzeptuellen Organisation und der Identifikation/ Wiedererkennung. Wird die perzeptuelle Repräsentation aus verfügbaren Informationen des sensorischen Inputs gewonnen, so handelt es sich um Bottom-up-Verarbeitung. Wird die perzeptuelle Repräsentation durch Vorwissen, Motivationen, Erwartungen und andere Aspekte höherer mentaler Tätigkeiten beeinflusst, so handelt es sich um Top-down-Verarbeitung.
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den Sie die senkrechte Kante zwischen den beiden Wänden so wahrnehmen, als verlaufe sie bis zum Boden; das retinale Abbild dieser Kante endet jedoch an der Tischoberfläche. In gleicher Weise sind Teile des Teppichs im retinalen Abbild hinter den Tischbeinen verschwunden; das hält Sie jedoch nicht davon ab, den Teppich als einzelnes, lückenloses Rechteck wahrzunehmen. Wenn Sie sich all die Unterschiede zwischen den Objekten in der Umgebung und ihren retinalen Abbildern verdeutlichen, sind Sie vielleicht überrascht, dass Sie die Anordnung überhaupt so gut wahrnehmen können. Die Unterschiede zwischen einem physikalischen Objekt in der Welt und seinem optischen Abbild auf der Retina sind so tiefgreifend und wichtig, dass die Psychologen sie sorgfältig als unterschiedliche Reize für die Wahrnehmung auseinander halten. Das physikalische Objekt in der Welt wird als distaler Reiz (vom Beobachter entfernt) und das optische Abbild auf der Retina als proximaler Reiz (dem Beobachter nah) bezeichnet. Wir können den Kernpunkt unserer Diskussion nun präziser neu formulieren: Was wir wahrnehmen wollen, ist der distale Reiz – das „wahre“ Objekt in der Umgebung. Der Reiz hingegen, aus dem wir die Infor-
4.1 Sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation, Identifikation und Wiedererkennen
mationen gewinnen müssen, ist der proximale Reiz – das Abbild auf der Retina. Die wichtigste Berechnungsaufgabe der Wahrnehmung kann als Prozess verstanden werden, den distalen Reiz aus Informationen des proximalen Reizes abzuleiten. Dies gilt für alle Wahrnehmungsbereiche. Beim Hören, Berühren, Schmecken und so fort beinhaltet die Wahrnehmung Prozesse, die Informationen des proximalen Reizes nutzen, um Aufschluss über Eigenschaften des distalen Reizes zu gewinnen. Wir können uns anhand eines der Objekte aus Abbildung 4.1 verdeutlichen, wie der distale und der proximale Reiz auf den drei Stufen der Wahrnehmung zusammenpassen. Wählen wir hierfür das Gemälde aus, das an der Zimmerwand hängt. Auf der sensorischen Stufe entspricht diesem Gemälde ein zweidimensionales Trapezoid als retinales Abbild; die Oberund Unterkante laufen nach rechts zusammen, und die linke und rechte Kante sind unterschiedlich lang. Dies ist der proximale Reiz. Auf der Stufe der perzeptuellen Organisation sehen Sie dieses Trapezoid als ein von Ihnen abgewandtes Rechteck im dreidimensionalen Raum. Sie nehmen die Ober- und Unterkante als parallel wahr, die allerdings nach rechts in die Ferne entfliehen; Sie nehmen die linke und die rechte Kante als gleich lang wahr. Ihre perzeptuellen Prozesse haben eine starke Hypothese über die physikalischen Merkmale des distalen Reizes gebildet; nun braucht dieser eine Identität. Auf der Stufe der Wiedererkennung identifizieren Sie dieses rechteckige Objekt als ein Gemälde. 씰 Abbildung 4.2 zeigt ein Ablaufdiagramm, das diese Folge von Ereignissen veranschaulicht. Die Prozesse, welche die Informationen von einer Stufe zur nächsten übertragen, sind in der Abbildung als Pfeile zwischen den Kästen eingezeichnet. Bis zum Ende dieses Kapitels werden wir auf alle Interaktionen eingehen, die in dieser Abbildung eingetragen sind.
oder
Necker-Würfel: von oben oder von unten?
4.1.2 Realität, Mehrdeutigkeit und Wahrnehmungstäuschungen Wir haben die Aufgabe der Wahrnehmung als Identifikation des distalen Reizes aus Informationen des proximalen Reizes definiert. Bevor wir uns einigen Wahrnehmungsmechanismen zuwenden, die diese Aufgabe erfolgreich lösen, wollen wir einige andere Aspekte von Reizen der Umgebung diskutieren, welche die Wahrnehmung komplex werden lassen: mehrdeutige Reize und Wahrnehmungstäuschungen.
Mehrdeutigkeit Ein vornehmliches Ziel der Wahrnehmung besteht darin, zu einer zutreffenden Festlegung im Hinblick auf die Welt zu gelangen. Das Überleben hängt von exakten Wahrnehmungen der Objekte und Ereignisse in der Umwelt ab, die nicht immer leicht zu entschlüsseln sind: Handelt es sich bei diesen Bewegungen zwischen den Bäumen um einen Tiger? Mehrdeutigkeit trägt viel zum Verständnis von Wahrnehmung bei, da sie zeigt, dass das gleiche Abbild auf sensorischer Ebene multiple Interpretationen auf der Wahrnehmungsund Identifikationsebene erfahren kann. 씰 Abbildung 4.3 zeigt zwei Beispiele für mehrdeutige Figuren. Jedes Beispiel erlaubt zwei jeweils eindeutige, allerdings miteinander konfligierende Interpretationen. Betrachten Sie jedes Bild, bis Sie die beiden Alternativinterpretationen sehen können. Wenn Sie beide Alternativen sehen konnten, dann achten Sie darauf, wie Ihre Wahrnehmung zwischen beiden hin und her springt, wenn Sie die mehrdeutige Figur betrachten. Diese perzeptuelle Instabilität mehrdeutiger Figuren zählt zu ihren wichtigsten Eigenschaften. (Sie können auch versuchen, die beiden alternativen Interpretationen einer Figur gleichzeitig
oder
Ente oder Kaninchen?
Abbildung 4.3: Perzeptuelle Mehrdeutigkeiten (Kippfiguren). Jedes Beispiel erlaubt zwei Interpretationen, man kann jedoch nicht beide gleichzeitig in den Bildern sehen. Bemerken Sie, wie Sie bei jeder Figur zwischen beiden Perzepten hin und her springen?
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zu sehen – es wird Ihnen nicht gelingen. Deshalb nennt man solche mehrdeutigen Objekte auch Kippfiguren.) Der Necker-Würfel ist ein Beispiel für Mehrdeutigkeit auf der Stufe der perzeptuellen Organisation. Sie haben zwei unterschiedliche Wahrnehmungen (Perzepte) desselben Objekts in der Umgebung. Der Necker-Würfel kann auf zwei Arten gesehen werden: als dreidimensionaler, hohler Würfel, auf den Sie entweder von schräg oben oder von schräg unten blicken. Die Alternativen entsprechen unterschiedlichen physikalischen Anordnungen des Objekts im dreidimensionalen Raum, die jeweils auf derselben Reizvorlage beruhen. Die Ente/Kaninchen-Figur ist ein Beispiel für Mehrdeutigkeit auf der Stufe des Wiedererkennens. Sie wird in beiden Interpretationen als die gleiche physikalische Umrissform behandelt. Die Mehrdeutigkeit entsteht bei der Zuordnung, um welches Objekt es sich handelt und wie man es angesichts der gemischten verfügbaren Informationslage am besten klassifizieren könnte. Viele berühmte Künstler haben perzeptuelle Mehrdeutigkeiten als zentrales Moment in ihre Arbeiten aufgenommen. 씰 Abbildung 4.4 zeigt den Sklavenmarkt mit unsichtbarer Büste Voltaires von Salvador Dali. Diese Arbeit zeigt eine komplexe Mehrdeutigkeit auf, da ein ganzer Bereich des Gemäldes komplett reorganisiert und reinterpretiert werden muss, um die „unsichtbare“ Büste des französischen Philosophen und Schriftstellers Voltaire wahrzunehmen. Der weiße Himmel unten im rechten Bogen ist Stirn und Haare Voltaires; die weißen Teile der Kleidung der beiden
Abbildung 4.4: Mehrdeutigkeit in der Kunst. Dieses Gemälde von Salvador Dali trägt den Titel Sklavenmarkt mit unsichtbarer Büste Voltaires. Finden Sie Voltaire? Dali ist einer von vielen modernen und zeitgenössischen Künstlern, die Mehrdeutigkeit in ihre Arbeiten integrierten.
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Frauen sind seine Wangen, Nase und Kinn. (Sollten Sie Schwierigkeiten haben, Voltaire in dem Bild zu sehen, dann versuchen Sie einmal zu schielen, die Augen leicht zuzukneifen, das Buch auf Armeslänge vom Körper wegzuhalten oder Ihre Brille abzusetzen.) Konnten Sie einmal die Büste von Voltaire in diesem Bild sehen, dann werden Sie dieses Bild nie mehr betrachten können, ohne zu wissen, wo sich dieser Franzose versteckt. Eine der grundlegendsten Eigenschaften normaler menschlicher Wahrnehmung ist die Tendenz, Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten über die Umgebung in eine eindeutige Interpretation zu überführen, der man in seiner Reaktion mit Vertrauen folgen kann. In einer Welt der Variabilität und der Veränderung muss unser Wahrnehmungssystem der Herausforderung begegnen, Invarianz und Stabilität zu entdecken.
Wahrnehmungstäuschungen Mehrdeutige Reize stellen die Wahrnehmungssysteme vor das Problem, eine einzige Figur aus mehreren möglichen zu erkennen. Die eine oder auch die andere Interpretation des Reizes ist zutreffend oder nicht im Hinblick auf einen bestimmten Kontext. Sollten Sie durch Ihre Wahrnehmungssysteme allerdings eine Reizvorlage so wahrnehmen, dass die Wahrnehmung definitiv falsch ist, so erleben Sie eine Wahrnehmungstäuschung. Wahrnehmungstäuschungen funktionieren bei den meisten Menschen gleichermaßen, sofern die Wahrnehmungssituation übereinstimmt, da unsere Physiologie der sensorischen Systeme nahezu gleich ist und wir in etwa die gleichen Erfahrungen im Umgang mit der Welt besitzen. (Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, unterscheiden sich Wahrnehmungstäuschungen hierdurch von Halluzinationen. Halluzinationen sind Wahrnehmungsstörungen, die nicht von allen geteilt werden und ein Ergebnis ungewöhnlicher physischer oder psychischer Zustände sind.) Betrachten Sie die klassischen Wahrnehmungstäuschungen der 씰 Abbildung 4.5. Obwohl es in einem Buch am leichtesten ist, visuelle Wahrnehmungstäuschungen darzustellen, gibt es auch Wahrnehmungstäuschungen in den anderen Sinnesmodalitäten, beispielsweise beim Hören (Russo & Thompson, 2005; Sonnadara & Trainor, 2005), beim Geschmack (Todrank & Bartoshuk, 1991) und bei der taktilen Wahrnehmung (Heller et al., 2003).
4.1 Sensorische Prozesse, perzeptuelle Organisation, Identifikation und Wiedererkennen
Abbildung 4.5: Fünf Wahrnehmungstäuschungen. Jede dieser fünf Wahrnehmungstäuschungen leitet die Wahrnehmung nachweislich in die falsche Richtung. In der Forschung werden Wahrnehmungstäuschungen oftmals genutzt, um Theorien zu überprüfen. Diese Theorien erklären, warum Wahrnehmungssysteme, die im Allgemeinen recht gut funktionieren, unter speziellen Umständen Wahrnehmungstäuschungen erzeugen. Wahrnehmungstäuschungen im Alltag Wahrnehmungstäuschungen spielen auch im Alltag eine Rolle. Betrachten wir unsere Alltagserfahrung im Hinblick auf unseren Heimatplaneten Erde. Wir sehen die Sonne „aufgehen“ und „untergehen“, obwohl wir wissen, dass die Sonne unverändert im Zentrum unseres Sonnensystems verharrt. Sie können sich vielleicht vorstellen, welch großen Mut Christoph Columbus und andere Entdecker aufbringen mussten, um die augenfällige Wahrnehmungstäuschung zu ignorieren, dass die Erde flach sei, und einfach bis zu ihrem scheinbaren Rand loszusegeln. In ähnlicher Weise
scheint uns der Vollmond über uns auf Schritt und Tritt zu folgen, obwohl wir wissen, dass der Mond nicht hinter uns her ist. Was wir erleben, ist eine Wahrnehmungstäuschung, die durch die große Entfernung zwischen Mond und Auge entsteht. Die vom Mond reflektierten Lichtstrahlen sind beim Auftreffen auf die Erde nahezu parallel und lotrecht zur Richtung, in der wir uns bewegen, gleich, wohin wir gehen. Menschen nutzen zuweilen Wahrnehmungstäuschungen, um erwünschte Effekte zu erzielen. Architekten und Innendesigner nutzen Wahrnehmungsmechanismen, um Objekte im Raum zu schaffen, die größer oder kleiner wirken, als sie in Wirklichkeit
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sind. Eine kleine Wohnung wirkt größer, wenn sie in hellen Farben gestrichen ist und sich wenig Möbel darin befinden, wie beispielsweise eine niedrige kleine Couch, mit Stühlen und Tischen in der Mitte des Raumes statt an den Wänden. Psychologen, die mit der NASA in US-Raumfahrtprogrammen zusammenarbeiten, haben die Effekte der Umgebung auf die Wahrnehmung untersucht, um Raumkapseln mit angenehmen sensorischen Qualitäten zu entwickeln. Die Verantwortlichen für Kulisse und Beleuchtung bei Film- und Theaterproduktionen schaffen absichtsvoll Wahrnehmungstäuschungen im Film oder auf der Bühne. Trotz all dieser Wahrnehmungstäuschungen – einige nützlicher als andere – kommen wir im Allgemeinen in unserer Umgebung ganz gut zurecht. Typischerweise untersucht die Forschung aus diesem Grund Wahrnehmungstäuschungen, um zur Erklärung beizutragen, warum die Wahrnehmung normalerweise so gut funktioniert. Die Wahrnehmungstäuschungen selbst lassen allerdings erkennen, dass unsere Wahrnehmungssysteme die Aufgabe, den distalen Reiz aus dem proximalen Reiz zu erschließen, nicht perfekt ausführen. Sie haben jetzt einen Überblick über die sensorischen und perzeptuellen Prozesse und einige der Probleme, die von ihnen bewältigt werden müssen. Lassen Sie uns nun diese Vorgänge genauer betrachten.
ZWISCHENBILANZ 1 Nennen Sie einige Stufen im Gesamtvorgang der
logische Forschung zu Empfindungen die Beziehung zwischen Ereignissen in der Umwelt und der menschlichen Erfahrung dieser Ereignisse.
4.2.1 Psychophysik Wie laut muss ein Feueralarm in einer Fabrik ertönen, damit er von den Arbeitern und Arbeiterinnen trotz des Maschinenlärms noch gehört wird? Wie hell muss eine Warnleuchte am Steuerpult eines Piloten sein, damit sie doppelt so hell erscheint wie die anderen Kontrolllampen? Wie viel Zucker müssen Sie in den Kaffee tun, damit er süß schmeckt? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir in der Lage sein, die Intensität von Empfindungen zu messen. Dies ist die zentrale Aufgabe der Psychophysik, welche die Beziehung zwischen physikalischen Reizen und dem Verhalten oder dem mentalen Erlebnis untersucht, das diese Reize hervorruft. Als bedeutendste Persönlichkeit in der Geschichte der Psychophysik gilt der deutsche Physiker Gustav Fechner (1801–1887). Fechner prägte den Begriff der Psychophysik und entwickelte Methoden, um die Intensität eines physikalischen Reizes – gemessen in physikalischen Einheiten – zum Ausmaß sensorischer Erfahrung – gemessen in psychischen Einheiten – in Beziehung zu setzen (Fechner, 1860). Die Methoden Fechners sind dieselben, gleich ob es sich um Licht, Töne, Geschmack, Geruch oder Berührung handelt: Es werden immer Schwellen bestimmt und psychophysische Skalen konstruiert, die die Stärke der Empfindungen zu der Stärke der Reize in Beziehung setzen.
Wahrnehmung. 2 Was ist ein proximaler Stimulus?
Absolute Schwellen und sensorische Adaptation
3 Was macht einen Stimulus mehrdeutig?
Sensorisches Wissen über die Welt
4.2
Unser Wissen über die äußere Realität muss relativ genau und fehlerfrei sein. Anders könnten wir nicht überleben. Wir brauchen Nahrung, um uns bei Kräften zu halten, einen Unterschlupf, um uns zu schützen, Interaktionen mit anderen Menschen, um unsere sozialen Bedürfnisse zu erfüllen, und ein Bewusstsein von Gefahren, um Verletzungen zu vermeiden. Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, müssen wir verlässliche Informationen über die Welt erhalten. Wie wir gleich sehen werden, untersuchte die früheste psycho-
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Was ist die geringste, schwächste Energie eines Reizes, die ein Organismus eben noch entdecken kann? Wie leise kann beispielsweise ein Ton sein, dass er noch gehört wird? Diese Fragen betreffen die Absolutschwelle der Stimulation – das Minimum an physikalischer Energie, die eben noch eine sensorische Erfahrung hervorruft. In der Forschung werden Absolutschwellen dadurch gemessen, dass Probanden ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, ein schwaches Licht in einem dunklen Raum zu sehen oder einen leisen Schall in einem ruhigen Raum zu hören. In einer ganzen Reihe von Versuchsdurchgängen wird der Reiz mit unterschiedlicher Intensität präsentiert und die Probanden sollen jedes Mal angeben, ob sie den Reiz wahrgenommen haben. (Falls Sie sich jemals einem Hörtest unterzogen haben, dann haben Sie an einem Test zur Bestimmung der Absolutschwelle teilgenommen.)
4.2 Sensorisches Wissen über die Welt
Hören Sie den Ton? Hörtests werden üblicherweise mit der Methode der Absolutschwelle durchgeführt. Warum erfordern diese Tests mehrere Durchgänge?
Das Ergebnis einer Untersuchung zur Absolutschwelle kann in einer psychometrischen Funktion zusammengefasst werden: einem Kurvenzug, der den Prozentsatz entdeckter Reize (auf der Y-Achse abgetragen) als Funktion der Reizintensität (auf der X-Achse abgetragen) darstellt. Eine typische psychometrische Funktion zeigt 씰 Abbildung 4.6. Ist das Licht sehr schwach, dann liegt die Erkennungsrate bei 0 Prozent; ist das Licht sehr hell, liegt sie bei 100 Prozent. Sollte es genau eine Absolutschwelle geben, dann würde man erwarten, dass der Übergang der Erkennungsrate von 0 zu 100 Prozent sehr scharf wäre und genau da läge, wo die Reizintensität die Schwelle erreicht. Aus zumindest zwei Gründen ist dies allerdings nicht so: Die Probanden selbst unterliegen Veränderungen bei dem Versuch, Reize zu erkennen (es treten Aufmerksamkeitsschwankungen, Müdigkeit und weiteres auf), und gelegentlich reagieren die Probanden auch in Abwesenheit eines Reizes (dies wird als falscher Alarm be-
zeichnet, den wir weiter unten im Rahmen der Signalentdeckungstheorie beschreiben werden). Daher besteht die psychometrische Funktion üblicherweise aus einer sanften S-Kurve, in der es einen Übergangsbereich von keiner zu gelegentlicher zu perfekter Entdeckung gibt. Weil ein Reiz nicht plötzlich ab einer bestimmten Intensität immer klar erkennbar ist, wird auf eine operationale Definition der Absolutschwelle zurückgegriffen: Als Absolutschwelle gilt jene Reizintensität, bei der ein sensorisches Signal bei der Hälfte der Darbietungen erkannt wird. Die Schwellen für unterschiedliche Sinnesmodalitäten können immer mit derselben Methode bestimmt werden, indem man einfach die Reizdimension wechselt. 씰 Tabelle 4.1 zeigt die Absolutschwellen für mehrere vertraute Reize aus der natürlichen Umgebung. Obwohl es möglich ist, Absolutschwellen der Entdeckung zu bestimmen, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass unsere Sinnessysteme empfindlicher auf Veränderungen der sensorischen Umgebung rea-
Abbildung 4.6: Bestimmung von Absolutschwellen. Da Reize nicht ab einer bestimmten Intensität plötzlich erkennbar werden, wird die Absolutschwelle als jene Intensität definiert, bei der die Reize im Verlauf mehrerer Durchgänge bei der Hälfte der Fälle erkannt werden.
Tabelle 4.1
Ungefähre Schwellen vertrauter Ereignisse Sensorische Modalität
Erkennungsschwelle
Licht
Die Flamme einer Kerze auf etwa 50 km Entfernung in einer dunklen, klaren Nacht
Schall
Das Ticken einer Uhr ohne Umgebungsgeräusche aus etwa 6 Metern Entfernung
Geschmack
Ein Teelöffel Zucker auf etwa 7,6 Liter Wasser
Geruch
Ein Tropfen Parfum, verteilt in einer Drei-Zimmer-Wohnung
Berührung
Der Flügel einer Biene, der aus etwa 1 Zentimeter Entfernung auf Ihre Wange fällt
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gieren als auf gleichbleibende Zustände. Die Systeme haben sich so entwickelt, dass sie neuen Input aus der Umgebung gegenüber Bekanntem bevorzugen; dieser Prozess wird als Adaptation bezeichnet. Sensorische Adaptation vermindert die Reaktionsbereitschaft des sensorischen Systems bei länger andauerndem Reizinput. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass Sonnenlicht weniger zu blenden scheint, wenn Sie eine Weile draußen sind. Wir erleben oftmals die Erfahrung der Adaptation als besonders hilfreich im Bereich des Riechens: Wenn wir einen Raum betreten, in dem etwas wirklich sehr streng riecht, dann adaptiert sich mit der Zeit unser Geruchssystem und der strenge Geruch verschwindet aus unserem Bewusstsein. Unsere Umgebung ist ständig angefüllt mit einer Vielzahl sensorischer Reize. Der Mechanismus der Adaptation erlaubt uns, die Herausforderungen neuer Informationsquellen schneller zu bemerken und schneller auf sie zu reagieren.
Response Bias und Signalentdeckungstheorie Bei unserer bisherigen Betrachtung sind wir davon ausgegangen, dass alle Probanden völlig gleich sind. Die Schwellenbestimmung kann jedoch auch durch Response Bias (Reaktionsverzerrungen) beeinflusst werden. Hierbei handelt es sich um systematische Tendenzen der Probanden, in einer ganz bestimmten Art und Weise zu reagieren, die nichts mit den sensorischen Merkmalen der Reize zu tun hat. Angenommen, Sie nehmen an einem Experiment teil, in dem Sie einen schwachen Lichtpunkt entdecken sollen. In der ersten Phase des Experiments erhalten Sie 5 Euro, wenn Sie in zutreffender Weise sagen „Ja, da war ein Licht“. In der zweiten Phase erhalten Sie 5 Euro, wenn Sie in zutreffender Weise sagen „Nein, da war kein Licht“. In jeder Phase müssen Sie 2 Euro abgeben, wenn Sie eine falsche Entscheidung treffen. Erkennen Sie, wie diese Belohnungsstruktur eine Verschiebung des Response Bias von Phase 1 zu Phase 2 bewirken wird? Würden Sie trotz gleich bleibender Sicherheit/ Unsicherheit darüber, dass der Reiz vorhanden war, in der ersten Phase nicht öfter „Ja“ sagen als in Phase 2? Die Signalentdeckungstheorie (SET; englisch: SDT von signal detection theory) stellt einen systematischen Ansatz zum Problem des Response Bias dar (Green & Swets, 1966). Anstatt sich ausschließlich auf sensorische Prozesse zu konzentrieren, betont die Signalentdeckungstheorie den Prozess der Entscheidung über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Reizereignisses. Während die klassische Psychophysik von einer einzigen Absolutschwelle ausgeht,
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Stellen Sie sich vor, Sie sagen eine Einladung zum Abendessen ab: Sparen Sie sich so einen langweiligen Abend (korrekte Ablehnung) oder verpassen Sie womöglich die Chance, die Liebe Ihres Lebens zu treffen (Auslassung)? identifiziert SET zwei unterschiedliche Prozesse der sensorischen Entdeckung: (1) einen vorgeschalteten sensorischen Prozess, der die Empfindlichkeit oder Sensitivität des Probanden für den Reiz widerspiegelt, und (2) einen darauf folgenden separaten Entscheidungsprozess, der den Response Bias des Probanden widerspiegelt. Mithilfe der SET erhalten wir eine Methode, gleichzeitig den sensorischen Prozess wie auch den Entscheidungsprozess zu untersuchen. Das grundlegende Versuchsdesign zeigt 씰 Abbildung 4.7. In der einen Hälfte der Fälle wird ein schwacher Reiz dargeboten, in der anderen Hälfte kein Reiz. In jedem Durchgang reagieren die Probanden mit „Ja“, wenn sie glauben, das Signal war vorhanden, und mit „Nein“, wenn sie glauben, dass kein Signal vorhanden war. Wie in der Grafik gezeigt, wird jede Antwort auf eine von vier Arten gewertet: Eine Antwort ist ein Treffer (englisch: hit), wenn das Signal vorhanden ist und der Beobachter „Ja“ sagt. Eine Antwort ist eine Auslassung (englisch: miss), wenn das Signal vorhanden ist und der Beobachter „Nein“ sagt. Eine Antwort ist ein falscher Alarm (englisch: false alarm), wenn das Signal fehlt und der Beobachter „Ja“ sagt. Eine Antwort ist eine korrekte Ablehnung (englisch: correct rejection), wenn das Signal fehlt und der Beobachter „Nein“ sagt.
4.2 Sensorisches Wissen über die Welt
Reaktion Nein
An
Treffer
Auslassung
Aus
Falscher Alarm
Korrekte Zurückweisung
Signal
Ja
Abbildung 4.7: Die Signalentdeckungstheorie. Die Matrix zeigt die möglichen Ergebnisse, wenn ein Proband angeben soll, ob ein Zielreiz in einem Durchgang vorhanden war oder nicht. Wie können wir den Effekt der Entscheidungen der Versuchsperson sehen? Wenn Simone eine Ja-Sagerin ist (sie antwortet überwiegend mit „Ja“), wird sie fast unvermeidlich „Ja“ sagen, wenn der Stimulus vorhanden war, so dass sie eine Menge Treffer erzielen wird. Allerdings wird sie auch oft falschen Alarm auslösen, weil sie auch dann oft „Ja“ sagen wird, wenn der Stimulus fehlt. Wenn Michael ein Nein-Sager ist (er antwortet überwiegend mit „Nein“), wird er weniger Treffer erzielen, aber auch weniger falsche Alarme. Durch die Anwendung mathematischer Methoden zur Verrechnung der Prozentzahlen für Treffer und falsche Alarme können unterschiedliche Maße für die Sensitivität und den Response Bias von Probanden berechnet werden. Diese Methode ermöglicht herauszufinden, ob zwei Probanden die gleiche Sensitivität (Reizempfindlichkeit) besitzen, obwohl sie große Unterschiede in ihrem Reaktionskriterium aufweisen. Durch die Möglichkeit, sensorische Prozesse vom Response Bias zu trennen, erlaubt die Signalentdeckungstheorie, die Beiträge des sensorischen Reizes und der Höhe des Kriteriums eines Individuums zur schlussendlichen Reaktion zu identifizieren und voneinander zu trennen.
Unterschiedsschwellen Angenommen, Sie wären in einer Getränkefabrik beschäftigt, die eine neue Cola-Sorte produzieren will. Dieses neue Getränk soll merklich süßer schmecken als bestehende Cola-Marken, es soll jedoch (um Geld zu sparen) nur so viel Zucker wie nötig hinzugefügt werden. Sie werden beauftragt, eine Unterschieds-
schwelle zu bestimmen, den kleinsten physikalischen Unterschied zwischen zwei Reizen, der noch als Unterschied erkannt wird. Um die Unterschiedsschwelle zu bestimmen, verwenden Sie Paare von Reizen, und die Probanden sollen angeben, ob beide Reize gleich oder verschieden sind. Angewandt auf das Getränkeproblem, würden Sie den Probanden in jedem Durchgang zwei Colas geben, eine mit einem Standardrezept und die andere ein klein wenig süßer. Jedes Paar sollen die Probanden als gleich oder verschieden beurteilen. Nach vielen Durchgängen würden Sie eine psychometrische Funktion erstellen, wobei auf der Y-Achse die Prozentzahlen für die Verschieden-Urteile und auf der X-Achse die tatsächlichen Unterschiede abgetragen werden. Die Unterschiedsschwelle wird operational definiert als jener Punkt, an dem die Reize in der Hälfte der Fälle als unterschiedlich beurteilt wurden. Der Unterschiedswert an dieser Stelle wird als eben merklicher Unterschied (EMU; englisch: JND von just noticeable difference) bezeichnet. Der EMU dient als quantitative Grundlage, um den psychischen Unterschied zwischen zwei Empfindungen zu bestimmen. Ernst Weber, der Pionier der Erforschung von EMUs, entdeckte im Jahre 1834 die wichtige Beziehung, die in 씰 Abbildung 4.8 dargestellt ist. Diese Beziehung ist im Weber’schen Gesetz zusammengefasst: Der EMU zwischen Reizen steht in einem konstanten Verhältnis zur Intensität des Referenzreizes. Somit ergibt sich: Je größer der Referenzreiz oder je größer seine Intensität, desto größer ist der Zuwachs, um einen eben merklichen Unterschied zu erzielen. Dies ist eine sehr allgemeine Eigenschaft aller Sinnessysteme. Die Formel des Weber’schen Gesetzes lautet: ¢I/I = k, mit I als Intensität des Standardreizes; ¢I, gelesen Delta I, als benötigter Zuwachs, der einen EMU hervorruft. Weber entdeckte, dass jede Reizdimension einen charakteristischen Wert für diesen Quotienten besitzt. In der Formel steht k für diesen Quotienten, k wird auch als die Weber’sche Konstante bezeichnet und gilt für die jeweilige Reizdimension. Das Weber’sche Gesetz stellt eine gute Näherung, allerdings keine perfekte Passung zu experimentellen Daten dar, wie die Größe des EMU mit der Intensität der Referenzreize ansteigt (die meisten Probleme mit dem Gesetz entstehen, wenn die Reizintensität sehr hoch wird). Sie können 씰 Tabelle 4.2 entnehmen, dass die Weber’sche Konstante (k) unterschiedliche Werte für unterschiedliche sensorische Dimensionen annimmt – kleinere Werte bedeuten, dass Probanden kleinere Unterschiede entdecken können. Aus dieser Tabelle können Sie entnehmen, dass man die Frequenz zweier
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Abbildung 4.8: Eben merkliche Unterschiede und Weber‘sches Gesetz. Angenommen, Sie führen ein Experiment durch, dessen Teilnehmer angeben sollen, ob zwei Striche gleich oder verschieden lang sind. Je länger der Referenzstrich, desto größer ist die hinzuzufügende Länge (D L) von Vergleichsstrichen, um einen eben merklichen Unterschied zu erzielen. Die Unterschiedsschwelle ist die jeweils zu addierende Länge, damit in je der Hälfte der Fälle ein Unterschied erkannt wird. Wenn dieser jeweilige Zuwachs gegen die steigende Länge der Referenzstriche abgetragen wird, bleibt der Quotient gleich. Der benötigte Zuwachs ist immer ein Zehntel der Standardlänge. Die Beziehung ist linear, was sich in der Grafik als Gerade ausdrückt. Wir können vorhersagen, dass D L bei einem Referenzstrich von 5 Millimetern 0,5 Millimeter betragen wird.
Tabelle 4.2
Weber‘sche Konstanten für ausgewählte Reizdimensionen
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Reizdimension
Weber‘sche Konstante (k)
Schallfrequenz
0,003
Lichtintensität
0,01
Geruchskonzentration
0,07
Druckintensität
0,14
Schallintensität
0,15
Geschmackskonzentration
0,20
Töne besser unterscheiden kann als die Intensität zweier Lichtpunkte. Diese wiederum sind durch einen kleineren EMU besser zu entdecken als Geruchs- oder Geschmacksunterschiede. Ihre Getränkefabrik bräuchte eine relativ große Menge zusätzlichen Zuckers, um eine merklich süßere Cola zu produzieren!
4.2.2 Von physikalischen zu mentalen Ereignissen Unser Überblick über die Psychophysik hat Sie vielleicht auf das grundlegende Mysterium von Empfindungen aufmerksam gemacht: Wie werden aus physikalischen Energien spezifische psychische Erfahrungen? Wie entsteht beispielsweise aus Licht unterschiedlicher physikalischer Wellenlängen die Er-
4.3 Das visuelle System
fahrung eines Regenbogens? Bevor wir uns den spezifischen Sinnesbereichen zuwenden, wollen wir Ihnen einen Überblick über den Informationsfluss von physikalischen Ereignissen – Licht- und Schallwellen, komplexen chemischen Ereignissen und so fort – zu mentalen Ereignissen – den Erfahrungen von Gesehenem und Gehörtem, von Geschmack und Geruch – geben. Die Umwandlung einer bestimmten Form physikalischer Energie, beispielsweise von Lichtwellen, in eine andere Form, beispielsweise Nervenimpulse, wird als Transduktion bezeichnet. Da jede Form sensorischer Information in jeweils denselben Informationstyp, nämlich Nervenimpulse, umgewandelt wird, unterscheidet unser Gehirn die verschiedenen Sinneseindrücke dadurch, dass spezielle Areale des Cortex spezifischen Sinnesbereichen zugeordnet sind. Für jede Domäne versucht die Forschung zu entschlüsseln, wie die physikalische Energie in elektrochemische Energie des Nervensystems umgewandelt wird, um Empfindungen unterschiedlicher Qualität (Rot und nicht Grün) und unterschiedlicher Quantität (A ist lauter als B) hervorzubringen. Sensorische Systeme nutzen alle im Prinzip den gleichen Informationsfluss. Aktiviert wird jedes Sinnessystem durch die Entdeckung eines Ereignisses in der Umwelt, durch den Reiz (Stimulus). Umweltreize werden durch spezialisierte Sinnesrezeptoren entdeckt. Sinnesrezeptoren wandeln die physikalische Form des sensorischen Signals in Zellsignale um, die vom Nervensystem verarbeitet werden können. Diese Zellsignale übermitteln Informationen an Neurone höherer Ebene, die Informationen von unterschiedlichen Detektoreinheiten integrieren. Auf dieser Stufe extrahieren Neurone Informationen über grundlegende Qualitäten des Reizes wie beispielsweise Größe, Intensität, Form und Entfernung. Tiefer in den sensorischen Systemen werden dann die Informationen zu noch komplexeren Codes kombiniert, die an spezifische Areale des sensorischen Cortex und des
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist der Gegenstand der Psychophysik? 2 Wie lautet die operationale Definition einer Absolut-
schwelle? 3 Welche zwei Prozesse tragen in der Signalentdeckungs-
theorie zu den Urteilen der Beobachter bei? 4 Was ist eine Unterschiedsschwelle? 5 Was ist Transduktion?
Assoziationscortex des Gehirns weitergegeben werden. Als Nächstes wenden wir uns spezifischen Bereichen des sensorischen Systems zu.
Das visuelle System
4.3
Die Sehfähigkeit ist die komplexeste und am höchsten entwickelte Sinnesmodalität beim Menschen, wie auch bei den meisten anderen mobilen Lebewesen. Lebewesen mit einer guten Sehfähigkeit verfügen über einen enormen evolutionären Vorteil. Eine gute Sehfähigkeit hilft Tieren, ihre Beute wie auch ihre Jäger aus der Distanz heraus zu entdecken. Dem Menschen hilft die Sehfähigkeit, Merkmalsveränderungen in der physikalischen Umwelt wahrzunehmen und das Verhalten entsprechend anzupassen. Die Sehfähigkeit ist die am besten untersuchte Sinnesmodalität.
4.3.1 Das menschliche Auge Das Auge ist die Kamera, mit der das Gehirn Filme von der Außenwelt dreht (씰 Abbildung 4.9). Eine Kamera nimmt die Welt durch eine Linse war, die das einfallende Licht sammelt und bündelt. Auch das Auge sammelt und bündelt Licht – das Licht tritt durch die Hornhaut (Cornea), eine transparente Ausstülpung vorne am Auge, ein. Dann durchquert das Licht die vordere Augenkammer, die mit klarer Augenkammerflüssigkeit gefüllt ist, und die Pupille, eine Öffnung in der lichtundurchlässigen Iris. Um eine Kamera scharf zu stellen, bewegt man die Linse näher an das gesehene Objekt heran oder auch weiter weg. Um Licht im Auge zu bündeln, verändert die bohnenförmige Linse ihre Form; sie wird flacher, um entfernte Objekte, und gekrümmter, um nahe Objekte scharf zu stellen. Um die Menge an Licht zu steuern, die in eine Kamera fällt, wird der Durchmesser der Blende variiert. Im Auge verändert der Kreis aus Muskeln der Iris die Größe der Pupille, jener Öffnung, durch die das Licht in das Innere des Augapfels fällt. In einem Kameragehäuse befindet sich innen auf der Rückseite der photoempfindliche Film, der die Veränderungen des Lichts erfasst, das durch die Linse eingetreten ist. In gleicher Weise wandert das Licht durch die Glaskörperflüssigkeit und trifft schließlich auf die Retina (Netzhaut), einer dünnen Schicht auf der Rückseite des Augapfels.
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Vordere Augenkammerflüssigkeit Glaskörperflüssigkeit Ziliarmuskeln Hornhaut
Retina
Fovea centralis Pupille
Abbildung 4.9: Die Struktur des menschlichen Auges. Die Hornhaut, Pupille und Linse bündeln Licht auf die Retina. Nervensignale werden von der Retina über den Sehnerv an das Gehirn weitergeleitet.
Sehnerv Iris
Blutgefäße
Linse
Wie Sie sehen können, sind die Merkmale einer Kamera jenen des Auges sehr ähnlich. Lassen Sie uns nun die am Sehprozess beteiligten Komponenten genauer betrachten.
4.3.2 Pupille und Linse Die Pupille ist jene Öffnung in der Iris, durch die Licht einfällt. Die Pupille erweitert oder verkleinert sich mithilfe der Iris, um die Lichtmenge zu steuern, die in den Augapfel eintritt. Das Licht, das durch die Pupille fällt, wird durch die Linse fokussiert, so dass ein scharfes Abbild auf der Retina entsteht; hierbei kehrt die Linse das Lichtmuster um, so dass es auf dem Kopf steht und spiegelverkehrt ist. Die Linse ist insbesondere wichtig, da sie nahe und entfernte Objekte unter-
Blinder Fleck
schiedlich fokussieren kann. Die Ziliarmuskeln können die Krümmung der Linse durch den Prozess der Akkommodation so beeinflussen, dass sich ihre optischen Eigenschaften ändern. Menschen mit unbeeinträchtigter Akkommodationsfähigkeit können in einem Bereich von etwa 7,6 cm vor der Nasenspitze bis zu großen Entfernungen fokussieren. Allerdings leiden viele Menschen an Problemen mit der Akkommodation. Beispielsweise ist bei kurzsichtigen Menschen der Bereich der Akkommodation näher zum Körper hin verschoben, was dazu führt, dass sie entfernte Objekte nur mangelhaft fokussieren können; bei Menschen mit Weitsichtigkeit ist der Akkommodationsbereich weg vom Körper verschoben, so dass Schwierigkeiten auftreten, nahe Objekte zu fokussieren. Auch das menschliche Altern führt zu Akkommodationsschwierigkeiten. Die Linse ist im jungen Alter klar, ungetrübt und konvex. Im Zuge des Alterns wird sie zusehends bernsteinfarbener, lichtundurchlässiger und flacher, und sie verliert ihre Elastizität. Einige dieser Veränderungen haben zur Folge, dass die Linse für nahe Objekte nicht hinreichend gekrümmt werden kann. Ab einem Lebensalter von etwa 45 Jahren verschiebt sich der Nahpunkt – die kürzeste Distanz, in der man noch gut fokussieren kann – immer weiter vom Köper weg.
4.3.3 Retina
Durch scharfes Sehen können Jäger ihre potenzielle Beute aus der Distanz heraus entdecken. Welche Bandbreite an Funktionen stellt die Evolution für das menschliche visuelle System bereit?
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Man blickt mit den Augen, aber man sieht mit dem Gehirn. Das Auge sammelt Licht, bündelt es und schickt ein neuronales Signal an das Gehirn. Die entscheidende Funktion des Auges ist daher, Informati-
4.3 Das visuelle System
Abbildung 4.10: Retinale Bahnen. In dieser stilisierten und stark vereinfachten Abbildung sind die Bahnen dargestellt, welche die drei Nervenzellschichten der Retina verbinden. Das einfallende Licht durchquert alle drei Schichten, auf dem Weg zu den Rezeptoren. Diese befinden sich auf der Außenseite der Retina und sind der Lichtquelle abgewandt. Beachten Sie, dass die Bipolarzellen Impulse mehrerer Rezeptorzellen sammeln und das Ergebnis an die Ganglienzellen weiterleiten. Nervenimpulse (in der Abbildung der blaue Pfeil) der Ganglienzellen verlassen das Auge durch den Sehnerv und wandern weiter zur nächsten Schaltstelle. onen über die Welt von Lichtwellen in Nervensignale umzuwandeln. Dies geschieht in der Retina im Inneren des Auges. Unter dem Mikroskop lassen sich mehrere stark strukturierte Schichten unterschiedlicher Typen von Nervenzellen unterscheiden. Die grundlegende Umwandlung von Lichtenergie zu neuronalen Reaktionen wird in der Retina durch die Stäbchen und die Zapfen, zwei Arten lichtempfindlicher Rezeptorzellen, geleistet. Diese Photorezeptoren sind an genau jener Stelle im visuellen System platziert, die zwischen der Außenwelt des Lichts und der inneren Welt der neuronalen Verarbeitung liegt. Da man sich manchmal in nahezu völliger Dunkelheit und manchmal in hellem Licht bewegt, hat die Natur zwei Arten der Verarbeitung von Licht eingerichtet: Stäbchen und Zapfen (씰 Abbildung 4.10). Die 120 Millionen dünnen Stäbchen arbeiten am besten bei schwachem Licht, die 7 Millionen dicken Zapfen sind auf den hellen und farbdurchfluteten Tag spezialisiert. Sie können die Funktionen der Stäbchen und Zapfen beispielsweise immer dann feststellen, wenn Sie beim Zubettgehen das Licht löschen. Sie haben sicherlich oft bemerkt, dass Sie im verbleibenden schwachen
Licht zunächst kaum etwas erkennen können, dass sich mit der Zeit Ihre visuelle Empfindlichkeit jedoch verbessert. Sie durchlaufen den Prozess der Dunkeladaptation – der allmählichen Verbesserung der Empfindlichkeit des Auges, wenn die Beleuchtung von hell zu sehr schwach wechselt. Die Dunkeladaptation tritt auf, weil in anhaltender Dunkelheit die Stäbchen allmählich empfindlicher als die Zapfen werden; mit der Zeit können die Stäbchen auf schwächeres Licht aus der Umgebung reagieren, als die Zapfen es können. Nahe des Zentrums der Retina befindet sich eine kleine Region, die als Fovea bezeichnet wird. Die Fovea besteht ausschließlich aus dicht gepackten Zapfen und enthält keine Stäbchen. Die Fovea ist die Region des schärfsten Sehens; hier werden sowohl Farben als auch räumliche Details am genauesten erkannt. Andere Zellen der Retina sind für die Informationsintegration aus ganzen Regionen von Stäbchen und Zapfen verantwortlich. Bipolarzellen sind Nervenzellen, die Impulse von vielen Rezeptoren kombinieren und das Ergebnis an Ganglienzellen schicken. Jede Ganglienzelle integriert dann die Impulse einer oder mehrerer Bipolarzellen zu einer einzigen Folge von Nerven-
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impulsen. Während die Zapfen der zentral gelegenen Fovea ihre Impulse zu Ganglienzellen in jeweils derselben Region senden, konvergieren die Stäbchen und Zapfen der retinalen Peripherie auf gemeinsame Bipolar- und Ganglienzellen. Die Axone der Ganglienzellen bilden den Sehnerv, der diese visuelle Information aus dem Auge heraus nach hinten zum Gehirn transportiert. Die Horizontalzellen und Amakrinzellen integrieren Informationen über die Retina hinweg. Sie senden keine Signale an das Gehirn, sondern die Horizontalzellen verbinden die Rezeptoren untereinander und die Amakrinzellen verknüpfen Bipolarzellen mit anderen Bipolarzellen sowie Ganglienzellen mit anderen Ganglienzellen. Eine interessante Kuriosität des anatomischen Aufbaus der Retina ergibt sich an der Stelle, an welcher der Sehnerv aus dem Auge austritt. Diese Region, die als blinder Fleck bezeichnet wird, enthält keinerlei Rezeptorzellen. Aus zwei Gründen hat man allerdings nicht den Eindruck, hier blind zu sein, es sei denn unter ganz speziellen Bedingungen: Erstens ist die Lage des blinden Flecks in beiden Augen so, dass die Rezeptoren des einen Auges das aufnehmen, was in dem anderen Auge fehlt; zweitens „füllt“ das Gehirn die fehlenden sensorischen Informationen dieser Region durch Informationen der umgebenden Region angemessen auf. Mithilfe von 씰 Abbildung 4.11 können Sie Ihren blinden Fleck unter speziellen Sehbedingungen aufspüren. Halten Sie dieses Buch auf Armeslänge entfernt, schließen Sie Ihr rechtes Auge und fixieren Sie das Bankgebäude mit Ihrem linken Auge, während Sie
Abbildung 4.11: Finden Sie Ihren blinden Fleck. Um Ihren blinden Fleck aufzuspüren, halten Sie dieses Buch auf Armeslänge entfernt, schließen Sie Ihr rechtes Auge und fixieren Sie das Bankgebäude mit Ihrem linken Auge, während Sie das Buch langsam näher heranführen. Wenn das Euro-Zeichen auf Ihren blinden Fleck fällt, wird es verschwinden, Sie werden jedoch keine Lücke in Ihrem Sehfeld feststellen. Wenn Sie das Plus-Zeichen mit der gleichen Methode fixieren, werden Sie eine durchgezogene Linie sehen, wenn die Lücke auf Ihren blinden Fleck fällt. In beiden Fällen füllt Ihr visuelles System die fehlenden Informationen mit Informationen der umgebenden Region; Sie sehen etwas, was nicht da ist.
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das Buch langsam näher heranführen. Wenn das EuroZeichen auf Ihren blinden Fleck fällt, wird es verschwinden, Sie werden jedoch keine Lücke in Ihrem Sehfeld feststellen. Stattdessen füllt sich Ihr Sehfeld in dieser Region mit dem Hintergrundweiß der umgebenden Region, Sie „sehen“ daher ein Weiß, das an dieser Stelle nicht existiert. Für eine weitere Demonstration des blinden Flecks können Sie dieselbe Methode verwenden: Fokussieren Sie nun das Plus-Zeichen in Abbildung 4.11. Wenn Sie das Buch heranführen, sehen Sie dann, wie die Lücke in der Linie verschwindet und sie zu einer durchgezogenen Linie wird?
4.3.4 Prozesse im Gehirn Das letztliche Ziel vieler visueller Informationen ist der Teil des Okzipitallappens (Hinterhauptslappen) des Gehirns, der als primärer visueller Cortex bezeichnet wird. Allerdings durchlaufen die meisten Informationen aus der Retina zunächst andere Gehirnregionen, bevor sie im visuellen Cortex ankommt. Verfolgen wir nun die Bahnen, welche die visuelle Information nimmt. Die Millionen Axone der Ganglienzellen, die die beiden Sehnerven bilden, treffen im optischen Chiasma zusammen, einem Kreuzungspunkt, der dem griechischen Buchstaben x (chi) ähnelt (daher der Name). Die Axone der Sehnerven beider Augen teilen sich im optischen Chiasma jeweils in zwei Bündel. Die Hälfte der Fasern jeder Retina verbleibt auf der Seite des Körpers, von der sie stammen. Die Axone der inneren (der Nase zugewandten) Hälfte jedes Auges überkreuzen sich auf ihrem Weg zum hinteren Cortex (씰 Abbildung 4.12). Diese beiden Faserbündel, die nun aus Axonen beider Augen bestehen, werden als optischer Trakt bezeichnet. Die optischen Trakte liefern Informationen an zwei Zellverbände des Gehirns. Die Forschungsergebnisse unterstützen die Theorie, dass die visuelle Analyse in Pfade aufgeteilt wird: einen Pfad zur Mustererkennung – wie Dinge aussehen – und einen Pfad zur Ortserkennung – wo sich Dinge im Raum befinden (Pasternak et al., 2003, Rao et al., 1997). Die Unterscheidung zwischen Muster- und Ortserkennung kann Ihnen als Beispiel dafür dienen, dass Ihr visuelles System aus mehreren separaten Teilsystemen besteht, die unterschiedliche Aspekte desselben retinalen Bildes analysieren. Obwohl Ihre Endwahrnehmung die einer einheitlichen visuellen Szenerie ist, wird diese durch eine Vielzahl von Pfaden in Ihrem visuellen System
4.3 Das visuelle System
Durch die Fortschritte in den bildgebenden Verfahren, die wir in Kapitel 3 beschrieben haben, konnte die Forschung Hirnareale entdecken, die besonders empfänglich für noch komplexere Reize der Umgebung sind.
AUS DER FORSCHUNG Betrachten Sie einen Augenblick lang Ihre Hand. Dann betrachten Sie ein beliebiges anderes Objekt im Zimmer. Wenn ein bestimmtes Forscherteam Recht hat, dann hat sich eine Region Ihres Gehirns gerade an- und wieder abgeschaltet, als Sie Ihre Aufmerksamkeit von der Hand – einem Körperteil – auf einen Gegenstand aus einer anderen Kategorie verschoben haben (Downing et al., 2001). Um diese Hypothese zu überprüfen, sammelten die Forscher fMRTDaten zu den Bildern aus 씰 Abbildung 4.14. Die fMRTBilder des Gehirns zeigten, dass ein Bereich des Cortex auf der Grenze zwischen den Okzipital- und Temporallappen ausschließlich auf Abbildungen des menschlichen Körpers reagierte (A – F). Ausnahmen waren dabei Gesichter (G) und Teile von Gesichtern (M). Die Verarbeitung der Wahrnehmung menschlicher Gesichter scheint in anderen Hirnarealen zu erfolgen. Abbildung 4.12: Sehbahnen des menschlichen visuellen Systems. Die Abbildung zeigt, wie das Licht des Sehfelds auf beide Netzhäute projiziert wird, und veranschaulicht die Bahnen, auf welchen die neuronalen Botschaften einer Retina an die beiden visuellen Zentren jeder Gehirnhemisphäre transportiert werden. erzeugt, die unter normalen Bedingungen sehr genau auf einander abgestimmt sind. Pionierarbeiten zur Frage, wie das visuelle System die Informationen aus der Außenwelt zusammensetzt, stammen von David Hubel und Torsten Wiesel, zwei Sinnesphysiologen, die 1981 den Nobelpreis für ihre Untersuchungen zu den rezeptiven Feldern von Zellen des visuellen Cortex erhielten. Das rezeptive Feld einer Zelle ist der Bereich des Sehfelds, aus welchem sie Stimulation erhält. Wie 씰 Abbildung 4.13 zeigt, fanden Hubel und Wiesel heraus, dass Zellen einer bestimmten Ebene der Sehbahn jeweils selektiv nur auf einen bestimmten Teil des Sehfelds reagierten. Ein Typ cortikaler Zellen beispielsweise, die einfachen Zellen, reagierte am stärksten auf Lichtbalken in ihrer „bevorzugten“ Orientierung. Komplexe Zellen besitzen ebenfalls eine „bevorzugte“ Orientierung, allerdings muss sich der Balken auch noch bewegen. Hyperkomplexe Zellen erfordern sich bewegende Balken einer bestimmten Länge oder sich bewegende Ecken oder Winkel. Die Zellen liefern jene Arten von Informationen an höhere visuelle Zentren des Gehirns, die letztlich dem Gehirn erlauben, Objekte der visuellen Welt zu erkennen.
Menschen sind für andere Menschen besonders wichtig – das erklärt wahrscheinlich, warum besondere Hirnregionen für die Verarbeitung menschlicher Gesichter und Körper zuständig sind. Es ist allerdings der Forschung noch nicht bekannt, ob diesen Regionen ihre speziellen Funktionen schon von Geburt an zugeordnet sind oder ob sie das Produkt gesammelter Lebenserfahrung sind.
Abbildung 4.13: Rezeptive Felder der Ganglienzellen und der cortikalen Zellen. Das rezeptive Feld einer Zelle der Sehbahn ist jenes Gebiet des Sehfelds, aus dem sie Stimulation erhält. Die rezeptiven Felder der retinalen Ganglienzellen sind kreisrund (A, B); die rezeptiven Felder der einfachsten Zellen des visuellen Cortex sind in eine spezifische Orientierung ausgedehnt (C, D, E, F). In beiden Fällen wird die Zelle durch Licht in der mit Plus-Zeichen markierten Region erregt und durch Licht in der mit Minus-Zeichen markierten Region inhibiert. Zusätzlich erregen Stimuli die Zelle dann am stärksten, wenn auf Regionen mit Plus-Zeichen Licht fällt und gleichzeitig Regionen mit Minus-Zeichen, wo Licht inhibitorisch wirkt, im Dunkeln liegen.
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Abbildung 4.14: Cortikale Areale der visuellen Verarbeitung des menschlichen Körpers. Forscher nutzten die fMRT, um bei den Versuchsteilnehmern die Aktivierung des Gehirns auf 19 verschiedene Stimuli festzustellen. Diese stellen einerseits Körperteile, andererseits visuelle Kontrollen dieser Körperteile dar. Beachten Sie zum Beispiel, wie die Werkzeuge in Feld J den Körperteilen in Feld C entsprechen. Der Gehirnscan zeigt das Areal des Cortex auf der Grenze zwischen den Okzipital- und Temporallappen, das selektiv auf alle Darstellungen des menschlichen Körpers (A – F) reagierte. Dieses Areal wurde nicht aktiviert, wenn die Teilnehmer ganze Gesichter (G), Objekte (H – J) oder aus Körperteilen zusammengewürfelte Figuren (K – L) betrachteten. Mäßig aktiv wurde das Areal als Antwort auf Gesichter (M) und Säugetiere (N) (nach Downing et al., 2001). Sie haben nun Grundlegendes darüber gelernt, wie visuelle Informationen von den Augen auf dem Weg zu unterschiedlichen Gehirnregionen verteilt werden. Forscher und Forscherinnen müssen noch mehr lernen: Es gibt bei Primaten ungefähr 30 anatomisch abgrenzbare Bereiche des visuellen Cortex, und die Theorien variieren, wie die Kommunikationsmuster zwischen diesen Regionen beschaffen sind (Hilgetag et al., 1996). Wir werden uns jetzt speziellen Aspekten der visuellen Welt zuwenden. Eines der herausragenden Merkmale des menschlichen visuellen Systems besteht darin, dass unsere Erfahrungen von Form, Farbe, Position und räumlicher Tiefe darauf basieren, dass die gleiche sensorische Information auf verschiedene Art verarbeitet wird. Wie sind nun die Transformationen beschaffen, die uns diese unterschiedlichen Merkmale der visuellen Welt sehen lassen?
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Welche drei Dimensionen liegen der Wahrnehmung von Farben zugrunde?
4.3 Das visuelle System
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Kann Technologie die Sehfähigkeit wiederherstellen?
In diesem Abschnitt haben Sie ein erstes Verständnis der biologischen Komplexität erworben, die unserer Fähigkeit zugrunde liegt, visuelle Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Mit diesem Wissen können Sie bereits die Schwierigkeiten richtig einschätzen, vor denen Wissenschaftler stehen, die an Strategien zur Korrektur von Sehfehlern arbeiten. Wenn Sie nun in den Medien etwas von neuen Technologien für diese Probleme hören, können Sie den tatsächlich erzielten wissenschaftlichen Fortschritt an Hand Ihrer Kenntnisse des visuellen Systems bewerten. Im Dezember 1999 berichteten beispielsweise mehrere Nachrichtenagenturen, dass Stevie Wonder, der kurz nach der Geburt erblindete, hoffte, sich einer experimentellen chirurgischen Methode unterziehen zu können, die ihm das Augenlicht wiedergeben würde. Diese Methode, die von Wentai Liu, Mark Humayun und ihrem Forschungsteam (Liu et al., 2001) entwickelt wurde, besteht darin, einen kleinen Mikrochip direkt mit der Retina zu verbinden, um die Funktionen der durch Erkrankung geschädigten Stäbchen und Zapfen zu ersetzen. Unglücklicherweise war Stevie Wonder kein guter Kandidat für diese Methode, da er schon so lange blind war. Allerdings ist diese Technik sehr vielversprechend für Menschen, deren Schaltkreise des visuellen Systems noch stärker erhalten sind. Die meisten Menschen erblinden, weil die Rezeptorzellen ihrer Netzhäute – die Stäbchen und Zapfen – einer degenerativen Erkrankung unterliegen. (Stevie Wonder wurde kurz nach seiner Geburt in einen Brutkasten gelegt und erblindete als Folge einer zu großen Sauerstoffkonzentration im Brutkasten.) Auch wenn die sensorischen Rezeptoren nicht länger funktionieren, so überlebt doch eine große Zahl anderer Zellen der visuellen Nervenbahnen, wie beispielsweise Bipolar- und Ganglienzellen. Mit der Struktur der Retina, wie sie Abbildung 4.10 zeigt, können diese anderen Zellen direkt elektrisch stimuliert werden. Der von Liu, Humayun und Kollegen entwickelte Mikrochip leistet genau dies: Er liefert
Muster elektrischer Stimulation als Input anstelle der nicht funktionierenden Stäbchen und Zapfen. Das ganze System, das als multiple-unit artificial retina chipset (MARC) bezeichnet wird, besteht aus unterschiedlichen Komponenten, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Augapfels ihren Dienst tun. Beispielsweise fängt eine Miniaturvideokamera Bilder der Umgebung ein. Diese Bilder werden verarbeitet und an den Mikrochip weitergegeben, der in die Retina implantiert ist. Der Mikrochip stimuliert die Ganglienzellen in einem Gitter, vergleichbar einem Fernseh- oder Computerbildschirm: Jedes Element der Anordnung – jedes Pixel – kann unterschiedliche Grauwerte annehmen und liefert so eine gewisse Bandbreite visueller Informationen. Wie Sie sich sicherlich denken, kann die MARCMethode die volle Sehfähigkeit, wie es in den Zeitungsberichten über Stevie Wonder anklang, nicht komplett wiederherstellen. Die durch die Technologie bereitgestellte Informationsmenge ist im Vergleich zur normalerweise erhaltenen Information durch die große Zahl an Stäbchen und Zapfen recht begrenzt. Allerdings konnten Teilnehmer in experimentellen Untersuchungen des MARC-Systems einfache Bilder und Umrisse erkennen. Es besteht die Hoffnung, dass das MARC-System die visuellen Funktionen zumindest so weit wiederherstellen kann, dass die Betroffenen sich in ihrer Umgebung zurechtfinden und groß gedruckten Text lesen können. Für die Millionen weltweit betroffenen Menschen, die an einer Degenerationserkrankung der Stäbchen und Zapfen leiden, können solche in Entwicklung begriffenen Technologien wie das MARCSystem ein hervorragendes Mittel darstellen, um ihre Sehtüchtigkeit wiederherzustellen.
Warum führt die Degeneration der Zapfen und Stäbchen zur Erblindung? Warum wird bei der MARC-Behandlung der Mikrochip direkt auf der Netzhaut implantiert?
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4.3.5 Farbensehen Physikalische Objekte erscheinen uns, als käme ihnen die wunderbare Eigenschaft zu, mit Farbe bemalt zu sein. Wir haben oftmals den Eindruck, dass Objekte von bunter Farbe wären – rote Plüschherzen, grüne Tannen, gelbe Sonnenblumen –, aber unsere lebhafte Farbwahrnehmung beruht auf den Lichtstrahlen, die diese Objekte zu unseren Sinnesrezeptoren reflektieren. Der Farbeindruck entsteht, wenn unser Gehirn die in der Lichtquelle enkodierte Information verarbeitet.
Wellenlängen und Farbwerte Das sichtbare Licht stellt nur einen kleinen Ausschnitt einer physikalischen Dimension dar, die als elektromagnetisches Spektrum (씰 Abbildung 4.15) bezeichnet wird. Das visuelle System ist nicht dafür ausgerüstet, andere Arten von Wellen dieses Spektrums wahrzunehmen, wie beispielsweise Röntgenstrahlen, Mikrowellen oder Radiowellen. Elektromagnetische Energie, darunter auch Licht, lässt sich anhand der physikalischen Eigenschaft der Wellenlänge in verschiedene Typen unterscheiden. Als Wellenlänge wird der Abstand zwischen den Gipfeln zweier benachbarter Wellen bezeichnet. Die Wellenlängen des sichtbaren Lichts werden in Nanometern (10–9 m) gemessen. Was wir als Licht sehen, umfasst eine Bandbreite der Wellenlängen von etwa 400 bis 700 Nanometern. Licht einer bestimmten Wellenlänge erzeugt in uns die
Abbildung 4.15: Das elektromagnetische Spektrum. Das menschliche visuelle System kann lediglich einen kleinen Bereich an Wellenlängen des elektromagnetischen Spektrums erfassen. Wir erleben diesen Wellenbereich (in der Abbildung vergrößert) als Farben von Violett bis Rot.
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Wahrnehmung einer bestimmten Farbe – beispielsweise Violett-Blau am unteren und Rot-Orange am oberen Ende des sichtbaren Spektrums. Licht wird somit physikalisch in der Begrifflichkeit von Wellenlängen und nicht von Farben beschrieben; Farben existieren nur in unserem Sinnessystem als Interpretation der Wellenlängen. Jeder Farbeindruck kann auf drei grundlegenden Dimensionen beschrieben werden: Farbwert, Sättigung und Helligkeit. Die Dimension Farbwert erfasst den qualitativen Farbeindruck von Licht. In reinem Licht, das ausschließlich Licht einer Wellenlänge enthält (beispielsweise ein Laserstrahl), korrespondiert der psychische Eindruck des Farbwerts direkt mit der physikalischen Dimension der Wellenlänge des Lichts. 씰 Abbildung 4.16 zeigt die Farbwerte als Farbenkreis angeordnet. Farbwerte, die als sehr ähnlich wahrgenommen werden, liegen im Farbenkreis nebeneinander. Diese Anordnung der Farbwerte entspricht der Anordnung im physikalischen Spektrum. Die psychische Dimension der Sättigung erfasst die Reinheit und Klarheit von Farbempfindungen. Reine Farben (die weder mit Weiß noch mit anderen Farbtönen vermischt sind) besitzen die größte Sättigung; gedämpfte, trübe Farben und Pastellfarben besitzen eine mittlere Sättigung; Grautöne besitzen eine Sättigung von null. Die psychische Dimension Helligkeit erfasst die Lichtintensität. Weiß besitzt die größte Helligkeit, Schwarz die geringste. Wenn Farben entlang dieser drei Dimensionen untersucht werden, dann ergibt sich ein inter-
4.3 Das visuelle System
Abbildung 4.16: Der Farbenkreis. Die Farben sind nach Ähnlichkeit angeordnet. Komplementärfarben stehen sich im Farbenkreis gegenüber. Werden zwei Komplementärfarben gemischt, so ergibt sich ein neutrales Grau oder Weiß im Zentrum. Die Zahlen für jeden Farbwert geben die Wellenlänge der Spektralfarben in Nanometern an. Spektralfarben liegen im Bereich der visuellen Empfindlichkeit des Menschen. Nichtspektrale Farbwerte erhält man durch Mischen von kurzen und langen spektralen Wellenlängen. essantes Ergebnis: Menschen können ungefähr sieben Millionen Farben unterscheiden! Dennoch können die meisten Menschen nur eine geringe Zahl dieser Farben auch bezeichnen. Lassen Sie uns einige Fakten zur Alltagserfahrung des Farbensehens erklären. Eventuell haben Sie im Zuge Ihrer Schulausbildung im Physikunterricht einmal das Experiment von Isaac Newton nachgestellt, in dem er entdeckte, dass Sonnenlicht alle Wellenlängen des Lichts enthält: Mithilfe eines Prismas wird das Licht in alle Farben des Regenbogens aufgespalten. Uns kann also das Prisma lehren, dass die richtige Kombination von Wellenlängen zu weißem Licht führt. Die Kombination von Wellenlängen wird als additive Farbmischung bezeichnet. Betrachten Sie nochmals Abbildung 4.9. Wellenlängen, die sich im Farbenkreis direkt gegenüberstehen – so genannte Komplementärfarben – erzeugen den Farbeindruck Weiß, wenn sie gemischt werden. Wollen Sie selbst die Existenz von Komplementärfarben überprüfen? Dann betrachten Sie 씰 Abbildung 4.17. Die grün-gelbschwarze Flagge sollte bei Ihnen ein negatives Nachbild erzeugen (das Nachbild wird als „negativ“ bezeichnet, da es aus den Komplementärfarben der abgebildeten Farben besteht). Wenn Sie auf eine bestimmte Farbe lange genug blicken, dann ermüden zum Teil die Photorezeptoren, und wenn Sie anschließend eine weiße Oberfläche betrachten, dann „sehen“ Sie die Komplementärfarbe zur ursprünglichen Farbe.
Die Gründe hierfür werden wir erklären, wenn wir Theorien der Farbwahrnehmung besprechen. Vielleicht haben Sie im Alltag beim Betrachten von Farben ebenfalls gelegentlich Nachbilder festgestellt. Die meisten Erfahrungen mit Farben rühren allerdings nicht von komplementärem Licht her, sondern vielleicht eher vom Farbmischen mit Buntstiften oder Wasserfarben unterschiedlicher Farbwerte. Ob Sie mit einem Buntstift eine Linie zeichnen oder eine farbige Fläche betrachten: Sie sehen immer die Farbe, die der Wellenlänge entspricht, die nicht durch die Oberfläche absorbiert wird. Obwohl ein gelber Stift vorwiegend gelb aussieht, bleiben auch einige Wellenlängen
Abbildung 4.17: Nachbilder. Fixieren Sie den Punkt in der Mitte der grün-gelb-schwarzen Flagge mindestens 30 Sekunden lang. Fixieren Sie anschließend die Mitte eines weißen Blatts oder eine weiße Wand. Probieren Sie diesen Nachbildeffekt auch mit Ihren Freunden aus.
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nicht absorbiert, welche die Empfindung von Grün auslösen. In ähnlicher Weise lässt ein blauer Stift Wellenlängen zurückprallen, die die Empfindung Blau und ein wenig Grün auslösen. Werden gelbe und blaue Buntstifte gemischt, dann absorbiert das Gelb das Blau und umgekehrt – die einzigen Wellenlängen, die nicht absorbiert werden, erscheinen grün! Dieses Phänomen wird als subtraktive Farbmischung bezeichnet. Die nicht absorbierten übrig bleibenden Wellenlängen – die reflektierten Wellenlängen – geben dieser Farbmischung die von Ihnen wahrgenommen Farbe. Einige dieser Regeln treffen nicht auf Menschen zu, die mit einer Beeinträchtigung der Farbwahrnehmung geboren wurden. Farbenblindheit bezeichnet die teilweise oder komplette Unfähigkeit, Farben zu unterscheiden. Der Effekt des negativen Nachbilds wird bei Menschen mit Farbenblindheit nicht auftreten. Farbenblindheit ist üblicherweise ein geschlechtsgebundener Erbdefekt, der mit einem Gen auf dem X-Chromosom in Verbindung gebracht wird. Da Männer ein einziges X-Chromosom besitzen, weisen sie mit größerer Wahrscheinlichkeit dieses rezessiv vererbte Merkmal auf als Frauen. Frauen müssten einen Gendefekt auf beiden X-Chromosomen aufweisen, um farbenblind zu sein. Eine Schätzung der Verbreitung von Farbenblindheit ergab bei weißen Männern etwa 8 Prozent, bei weißen Frauen weniger als 0,5 Prozent (Coren et al., 1999). Die meisten Formen der Farbenblindheit bestehen aus Schwierigkeiten, Rot von Grün zu unterscheiden,
Abbildung 4.18: Ein Test auf Farbenblindheit. Wer in dieser Grafik keine Ziffern erkennen kann, hat Schwierigkeiten, Rot und Grün von einander zu unterscheiden.
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speziell bei geringen Sättigungsgraden. Weit geringer ist die Verbreitung von Gelb-Blau-Verwechslungen, und am geringsten verbreitet sind Schwierigkeiten, überhaupt irgendeine Farbe und nicht nur Helligkeitsstufen zu sehen. 씰 Abbildung 4.18 zeigt ein Beispiel für die Bilder, die von Forschern als Test für Farbenblindheit benutzt werden. Menschen mit der entsprechenden Schwäche des Rot-Grün-Systems können die Ziffern nicht erkennen. Wir wollen nun betrachten, wie Wissenschaftler Phänomene des Farbensehens wie Komplementärfarben und Farbenblindheit erklärt haben.
Theorien des Farbensehens Die erste wissenschaftliche Theorie des Farbensehens stammt von Sir Thomas Young (um das Jahr 1800). Er vertrat die Ansicht, dass sich im normalen menschlichen Auge drei Arten von Farbrezeptoren befinden, die psychologisch primäre Empfindungen auslösen: Rot, Grün und Blau. Er glaubte, dass alle anderen Farben additive oder subtraktive Kombinationen dieser drei Primärempfindungen seien. Die Theorie von Young wurde später von Hermann von Helmholtz weiter ausgearbeitet und wurde als trichromatische Theorie oder Dreifarbentheorie von Young-Helmholtz bekannt. Die trichromatische Theorie lieferte eine plausible Erklärung für die Farbempfindungen des Menschen und für Farbenblindheit (der Theorie zufolge verfügen Farbenblinde lediglich über eine oder zwei Arten von Rezeptoren). Allerdings konnten andere Fakten und Beobachtungen weniger gut durch diese Theorie erklärt werden. Warum führte Adaptation auf eine Farbe zu Nachbildern im komplementären Farbwert? Warum haben Farbenblinde immer Schwierigkeiten, Paare von Farben zu unterscheiden: Rot und Grün oder Blau und Gelb? Antworten auf diese Fragen bildeten die Grundpfeiler einer zweiten Theorie des Farbensehens, die von Ewald Hering im ausgehenden 19. Jahrhundert vertreten wurde. Nach dieser Gegenfarbentheorie beruhen alle Farbempfindungen auf drei zugrunde liegenden Systemen, von denen jedes aus zwei gegensätzlichen Elementen besteht: Rot – Grün, Blau – Gelb und Schwarz (keine Farbe) – Weiß (alle Farben). Hering nahm an, dass Farben deshalb Nachbilder in der Komplementärfarbe erzeugen, weil ein Element des Systems (durch Überstimulation) ermüdet und dadurch der relative Beitrag des gegensätzlichen Elements vergrößert wird. Herings Theorie zufolge betreffen Formen der Farbenblindheit immer Farbpaare, da unser Farbsystem tatsächlich aus Gegensatzpaaren und nicht aus einzelnen Primärfarben aufgebaut ist.
4.4 Hören
Über viele Jahre hinweg wurden in der Wissenschaft die Verdienste beider Theorien diskutiert. Schließlich erkannten die Wissenschaftler, dass die beiden Theorien nicht wirklich im Konflikt zueinander stehen; sie beschreiben einfach zwei verschiedene Stufen der Verarbeitung, die mit unterschiedlichen aufeinander folgenden physiologischen Strukturen des visuellen Systems in Zusammenhang stehen (Hurvich & Jameson, 1974). Wir wissen jetzt beispielsweise, dass es wirklich drei Typen von Zapfen gibt. Obwohl jeder der drei Zapfentypen auf eine Bandbreite von Wellenlängen reagiert, so ist doch jeder am empfindlichsten für Licht einer bestimmten Wellenlänge. Die Reaktionen dieser drei Zapfentypen bestätigen die Vorhersage von Young und Helmholtz, dass das Farbensehen auf drei Typen von Farbrezeptoren beruht. Farbenblinden Menschen fehlt einer oder fehlen mehrere dieser Typen von Zapfenrezeptoren. Wir wissen auch, dass die retinalen Ganglienzellen den Output dieser drei Zapfentypen in Übereinstimmung mit der Gegenfarbentheorie von Hering kombinieren. Entsprechend der neueren Version der Gegenfarbentheorie von Leo Hurvich und Dorothea Jameson (1974) beruht die Opposition der beiden Mitglieder eines Farbpaares auf neuronaler Hemmung (Inhibition). Einige Ganglienzellen empfangen erregenden (exzitatorischen) Input von rot erscheinendem Licht und inhibitorischen Input von grün erscheinendem Licht. Andere Zellen des Systems weisen genau das umgekehrte Muster von Exzitation und Inhibition auf. Zusammengenommen bilden diese beiden Typen von Ganglienzellen die physiologische Basis des Rot-GrünGegenfarbensystems, während andere Zellen in gleicher Weise das Blau-Gelb-Gegenfarbensystem bilden. Das Schwarz-Weiß-System trägt zur Wahrnehmung der Farbsättigung und der Farbhelligkeit bei.
ZWISCHENBILANZ 1 Was bedeutet im visuellen System „Akkommodation“? 2 Welche Anteile von Stäbchen und Zapfen finden sich
in der Fovea? 3 Welche Stimulationsmuster lassen komplexe Zellen
reagieren? 4 Welche Theorie des Farbensehens erklärt, warum man
ein blaues Nachbild sieht, wenn man auf einen gelben Fleck geblickt hat? KRITISCHES DENKEN: Betrachten Sie Abbildung 4.14. Warum benutzten die Forscher so viele verschiedene Arten der Abbildungen von Körperteilen?
Wir gehen nun von der Welt des Sehens zur Welt des Hörens über.
Hören
4.4
Dem Hören und dem Sehen kommen komplementäre Funktionen in unserer Erfahrung der Welt zu. Wir hören oftmals einen Reiz, bevor wir ihn sehen, insbesondere wenn er sich hinter unserem Rücken oder auf der anderen Seite von undurchsichtigen Objekten wie beispielsweise einer Wand befindet. Obwohl unsere Sehfähigkeit besser als unsere Hörfähigkeit dazu geeignet ist, Objekte zu identifizieren, wenn sie sich erst einmal in unserem Sehfeld befinden, so sehen wir die Objekte oftmals nur deshalb, weil wir unsere Ohren dazu benutzt haben, um den Augen die richtige Richtung zu weisen. Wir beginnen unsere Besprechung des Hörens (Hellbrück & Ellermeier, 2004) mit der Beschreibung der Arten physikalischer Energie, die auf unsere Ohren trifft.
4.4.1 Die Physik des Schalls Klatschen Sie in die Hände! Pfeifen Sie! Klopfen Sie mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte! – Warum erzeugen diese Handlungen Schall? Der Grund ist, dass sie die Objekte zum Schwingen bringen. Die Schwingungsenergie wird auf das umgebende Medium – üblicherweise Luft – übertragen, indem die schwingenden Objekte die Moleküle des Mediums hin und her bewegen. Die sich ergebenden leichten Druckänderungen breiten sich (in Luft bei 20 Grad Celsius) mit etwa 344 Metern pro Sekunde von dem schwingenden Objekt in Form einer Kombination von Sinuswellen aus (씰 Abbildung 4.19). Es ist unmöglich, in einem echten Vakuum (wie beispielsweise im Weltall) Schall zu erzeugen, da sich in einem Vakuum keine (Luft-)Moleküle befinden, die durch schwingende Objekte zu Schwingungen angeregt werden könnten. Bei einer Sinuswelle bestimmen zwei grundlegende physikalische Eigenschaften, wie sie für Sie klingt: Frequenz und Amplitude. Die Frequenz bezeichnet die Anzahl der Perioden, welche die Welle in einem gegebenen Zeitraum durchläuft. Für Sinuswellen ist eine Periode, wie in Abbildung 4.19 dargestellt, der Abstand von einem Gipfel zum benachbarten. Die Schallfrequenz wird üblicherweise in Hertz (Hz) angegeben, was die Zahl der Perioden pro Sekunde angibt.
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Tonhöhe
Abbildung 4.19: Eine idealisierte Sinuswelle. Die zwei grundlegenden Eigenschaften einer Sinuswelle sind ihre Frequenz – die Anzahl von Perioden in einem bestimmten Zeitabschnitt – und ihre Amplitude – die vertikale Auslenkung ihrer Periode. Die Amplitude gibt die physikalische Stärke der Schallwelle an und wird durch den Abstand vom Wellengipfel zum Wellental bestimmt. Die Amplitude wird in Einheiten von Schalldruck oder Energie ausgedrückt.
4.4.2 Psychische Dimensionen des Schalls Die physikalischen Eigenschaften der Frequenz und der Amplitude bestimmen die drei psychischen Dimensionen: Tonhöhe, Lautheit und Klangfarbe. Lassen Sie uns diese Phänomene näher betrachten.
Die Tonhöhe rangiert auf einer Skala von hoch zu tief und ist durch die Schallfrequenz bestimmt; hohe Frequenzen produzieren hohe Töne und niedrige Frequenzen tiefe Töne. Die gesamte Bandbreite der menschlichen Hörempfindlichkeit für reine Töne liegt zwischen Frequenzen von 20 Hz an der unteren und 20.000 Hz an der oberen Grenze. (Frequenzen unterhalb von 20 Hz werden nicht als Schall, sondern als Vibrationen „in der Bauchgegend“ wahrgenommen. Der Einsatz dieser Tiefstfrequenzen ist ein Merkmal vieler modernerer Musikstile wie beispielsweise Drum & Bass, Hip Hop, aber auch schon bei Reggae. Hören Sie mal in eine Platte von Linton Kwesi Johnson rein!) Sie können einen Eindruck von der Bandbreite der Frequenzen erhalten, wenn Sie sich vorstellen, dass ein Klavier mit 88 Tasten lediglich einen Bereich von 30 bis 4.000 Hz abdeckt. Wie Sie nach unserer Darstellung der Psychophysik weiter oben vielleicht bereits vermuten, ist die Beziehung zwischen Frequenz (der physikalischen Realität) und Tonhöhe (dem psychischen Effekt) nicht linear. Am unteren Ende der Frequenzskala bewirkt eine Anhebung der Frequenz nur um einige Hertz eine merkliche Erhöhung der Tonhöhe. Am oberen Bereich der Frequenzskala wird eine viel stärkere Erhöhung der Frequenz benötigt, um einen Unterschied in der Tonhöhe zu hören. Beispielsweise beträgt der Unterschied der beiden tiefsten Töne eines Klaviers nur 1,6 Hz, der Unterschied der beiden höchsten Töne hingegen 235 Hz. Die ist ein weiteres Beispiel der Psychophysik für eben merkliche Unterschiede. Lautheit
Welche physikalischen Eigenschaften des Schalls erlauben Ihnen, die Klangfarbe einzelner Instrumente aus der gesamten Band herauszuhören?
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Die Lautheit eines Schalls, oder Schallintensität, wird durch seine Amplitude bestimmt; Schallwellen mit großen Amplituden werden als laut und jene mit kleinen Amplituden als leise empfunden. Das auditive System des Menschen ist für einen enormen Bereich von Schallintensitäten empfindlich. Am einen Ende können wir das Ticken einer (mechanischen) Armbanduhr aus gut sechs Metern Entfernung hören; dies stellt die Absolutschwelle dar – wäre unser System noch empfindlicher, dann würden wir das Blut in unseren Ohren rauschen hören. Am anderen Extrem ist das Starten eines Flugzeugs in knapp 100 Metern Entfernung so laut, dass der Schall schmerzt. In physikalischen Einheiten des Schalldrucks ausgedrückt, produziert ein Flugzeug eine Schallwelle mit über einer Milliarde mal mehr Schalldruck als eine tickende Uhr.
4.4 Hören
Da der Hörbereich so außerordentlich groß ist, werden Schallintensitäten üblicherweise als Quotienten und nicht in absoluten Größen dargestellt; der Schalldruck – ein Maß für die Größe der Amplitude, die als Basis der Lautheitsempfindung dient – wird in Dezibel (dB) gemessen. 씰 Abbildung 4.20 zeigt die DezibelWerte einiger repräsentativer Schallereignisse der natürlichen Umgebung. Der zugehörige Schalldruck ist zum Vergleich ebenfalls abgetragen. Sie können erkennen, dass zwei Schalle, die sich um 20 dB unterscheiden, ein Verhältnis des Schalldrucks von 10 zu 1 aufweisen. Beachten Sie, dass Schalle, die lauter als 90 dB sind, eine Hörschädigung verursachen können, je nachdem wie lange Sie dem Schall ausgesetzt sind.
plexe Wellen, die eine Kombination von Frequenzen und Amplituden enthalten. Schalle, die wir als Geräusche bezeichnen, besitzen keine klaren, einfachen Strukturen von Grundfrequenz und harmonischen Schwingungen. Geräusche beinhalten viele Frequenzen, die in keiner systematischen Beziehung zueinander stehen. Das Rauschen, das wir hören, wenn wir ein Radio zwischen zwei Sendefrequenzen einstellen, beinhaltet Energie auf allen hörbaren Frequenzen; wir nehmen keine Tonhöhe wahr, da das Signal keine Grundfrequenz besitzt.
Klangfarbe
Sie haben bislang etwas über die physikalische Basis psychischer Schallempfindungen erfahren; wir wollen nun sehen, wie diese Empfindungen aus physiologischer Aktivität im auditiven System entstehen. Zunächst werden wir die Funktionsweise des Ohrs betrachten. Anschließend werden wir einige Theorien zur Enkodierung von Tonhöhen im auditiven System und zur Lokalisierung von Schallereignissen anführen.
Die Klangfarbe eines Geräusches oder Tons spiegelt die Komponenten seiner komplexen Schallwelle wider. So unterscheidet sich beispielsweise der Schall eines Klaviers von dem einer Flöte durch die Klangfarbe. Eine kleine Zahl physikalischer Objekte, wie beispielsweise eine Stimmgabel, produziert reine Töne, die aus einer einzigen Sinuswelle bestehen. Ein reiner Ton besitzt nur eine Frequenz und eine Amplitude. Die meisten Geräusche der uns umgebenden Welt bestehen nicht aus reinen Tönen. Vielmehr sind sie kom-
Dezibel (dB) 180
Start einer Rakete (25 m)
Schalldruck (Dynes/Quadratzentimeter)
160 2000. 140 200. 120
Dsenflugzeug (25 m) Schmerzschwelle Lauter Donner; Rockband Zweipropeller-Flugzeug
20. 100
In der U-Bahn Hrschdigung bei langfristiger Dauer
2.
80
Im Innern eines lauten Autos Im Innern eines leisen Autos
.2
60
Normale Unterhaltung Normales Bro
.02
40
Ruhiges Bro Ruhiges Zimmer
.002
20
.0002
0
Leises Flstern (1,5 m) Absolute Hrschwelle (fr Ton von 1.000 Hz)
Abbildung 4.20: Dezibel-Werte vertrauter Schallereignisse. Die Abbildung zeigt die Bandbreite von Schallen in Dezibel von der absoluten Hörschwelle bis zum Lärm einer startenden Rakete. Die Dezibel-Werte werden aus dem Schalldruck berechnet, der ein Maß für die Größe der Amplitude der Schallwelle darstellt und im Allgemeinen mit der Lautheitsempfindung korrespondiert.
4.4.3 Die Physiologie des Hörens
Das auditive System Sie haben bereits gelernt, dass sensorische Prozesse Formen externer Energie in Energieformen innerhalb unseres Gehirns transformieren. Um hören zu können, müssen vier grundlegende Transformationen (씰 Abbildung 4.21) stattfinden: (1) In der Cochlea des Innenohrs werden die Schallwellen aus dem Luftmedium in ein flüssiges Medium übersetzt, (2) die Schallwellen des flüssigen Mediums stimulieren dann mechanische Schwingungen der Basilarmembran, (3) diese Schwingungen müssen in elektrische Impulse umgewandelt werden und (4) dann müssen die Impulse an den auditiven Cortex weitergeleitet werden. Lassen Sie uns jede dieser Transformationen genauer betrachten. In der ersten Transformation gelangen schwingende Luftmoleküle in die Ohren (Abbildung 4.21). Einige Schallwellen gelangen direkt in den Gehörgang, andere werden zunächst durch die Ohrmuschel reflektiert. Die Schallwellen wandern den Gehörgang entlang durch das äußere Ohr und erreichen das Ende des Gehörgangs. Dort trifft der Schall auf eine dünne Membran, das Trommelfell. Die Schalldruckveränderungen versetzen das Trommelfell in Bewegung. Das Trommelfell überträgt die Schwingungen vom äußeren Ohr zum Mittelohr, einer Kammer, welche die drei kleinsten Knochen des menschlichen Körpers beherbergt: Hammer, Amboss und Steigbügel. Diese Knöchel-
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Abbildung 4.21: Der Aufbau des menschlichen Ohrs. Die Schallwellen werden durch die Ohrmuschel in den Gehörgang kanalisiert, wo sie das Trommelfell in Schwingungen versetzen. Diese Schwingungen aktivieren die Innenohrknöchelchen – Hammer, Amboss und Steigbügel. Deren mechanische Schwingungen werden vom ovalen Fenster an die Cochlea weitergegeben, wo sie die darin enthaltene Flüssigkeit in Bewegung versetzen. Kleine Haarzellen entlang der aufgewickelten Basilarmembran in der Cochlea biegen sich, wenn sich die Flüssigkeit bewegt, und stimulieren dadurch die an ihnen befestigten Nervenendigungen. Die mechanische Energie wird dann in neuronale Energie umgewandelt und durch den Hörnerv an das Gehirn übertragen.
chen bilden eine mechanische Kette, die die Schwingungen des Trommelfells verstärkt und an das primäre Organ des Hörens überträgt, die Cochlea (oder Hörschnecke), die sich im Innenohr befindet. In der zweiten Transformation, die in der Cochlea stattfindet, werden die nunmehr mechanischen Bewegungen der Schallwellen in ein flüssiges Medium übertragen. Die Cochlea ist eine mit Flüssigkeit gefüllte, aufgewickelte Röhre mit einer in Längsrichtung mittig angeordneten Membran, der Basilarmembran. Wenn der Steigbügel das ovale Fenster an der Basis der Cochlea zum Schwingen bringt, dann verursacht die Flüssigkeit in der Cochlea eine wellenförmige Bewegung der Basilarmembran. Forscher spekulieren, dass die typische Spiralform der Cochlea eine größere Empfindlichkeit für niederfrequente Töne ergibt, als ohne die Spirale möglich wäre (Manoussaki et al., 2006). In der dritten Transformation biegt die wellenförmige Bewegung der Basilarmembran die kleinen Haarzellen, die mit der Membran verbunden sind. Die
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Haarzellen sind die Rezeptorzellen des auditiven Systems. Wenn sich die Haarzellen verbiegen, dann stimulieren sie Nervenendigungen, welche die mechanischen Schwingungen der Basilarmembran in neuronale Aktivität umformen. In der vierten Transformation schließlich verlassen Nervenimpulse die Cochlea in einem Faserbündel, das als Hörnerv bezeichnet wird. Diese Fasern laufen im Nucleus Cochlearis des Hirnstamms zusammen. Ähnlich wie sich die Sehbahnen des visuellen Systems kreuzen, wird die Stimulation eines Ohrs an beide Gehirnhälften übertragen. Auditive Signale durchlaufen eine Reihe weiterer Nuclei auf ihrem Weg zum auditiven Cortex, einem Bereich in den Temporallappen (Schläfenlappen) beider Gehirnhemisphären. Höhere Verarbeitungsprozesse dieser Signale beginnen im auditiven Cortex. (Wie Sie bald sehen werden, spielen weitere in Abbildung 4.21 bezeichnete Teile eine Rolle für andere Sinnesmodalitäten).
4.4 Hören
Die vier Transformationen treten bei voller Funktionstüchtigkeit des auditiven Systems auf. Allerdings leiden Millionen Menschen an der einen oder anderen Beeinträchtigung des Hörvermögens. Man kann zwei grundlegende Arten von Beeinträchtigungen unterscheiden, wobei jede durch Einschränkungen einer oder mehrerer Komponenten des auditiven Systems verursacht wird. Die weniger schlimme Beeinträchtigung ist der Leitungsverlust, ein Problem der Weiterleitung der Luftschwingungen an die Cochlea. Bei diesem Typ der Schädigung funktionieren die Knöchelchen des Mittelohrs nicht einwandfrei; dieses Problem kann häufig durch einen mikrochirurgischen Eingriff behoben werden, indem ein künstlicher Amboss oder Steigbügel eingesetzt wird. Die ernstere Schädigung stellt der sensorisch-neuronale Verlust dar, ein Defizit in den neuronalen Mechanismen, die Nervenimpulse im Ohr generieren oder sie an den auditiven Cortex weitergeben. Eine Schädigung des auditiven Cortex kann ebenfalls zu einem sensorischneuronalen Verlust führen.
Anhaltender lauter Lärm kann zu Hörschädigungen führen. Was können Menschen tun, um diese Schädigungen zu vermeiden?
Theorien der Tonhöhenwahrnehmung Um zu erklären, wie das auditive System Schallwellen in Tonhöhenempfindungen umwandelt, hat die Forschung zwei unterschiedliche Theorien hervorgebracht: die Ortstheorie und die Zeittheorie (zuweilen auch als Frequenztheorie bezeichnet). Die Ortstheorie wurde ursprünglich von Herrmann von Helmholtz Anfang des 19. Jahrhunderts vertreten und später von Georg von Békésy, der 1961 für seine Arbeiten den Nobelpreis erhielt, modifiziert, weiterentwickelt und überprüft. Die Ortstheorie basiert auf dem Umstand, dass sich die Basilarmembran bewegt, wenn die Schallwellen durch das Innenohr geleitet werden. Unterschiedliche Frequenzen lösen dabei die stärksten Bewegungen an ganz bestimmten Stellen entlang der Basilarmembran aus. Bei hohen Frequenzen ist die Wellenbewegung an der Basis der Cochlea dort am größten, wo sich das ovale und das runde Fenster befinden. Bei tiefen Frequenzen besteht die größte Wellenbewegung der Basilarmembran hingegen am entgegengesetzten Ende. Die Ortstheorie nimmt an, dass die Tonhöhenwahrnehmung an den spezifischen Ort der Basilarmembran gebunden ist, an dem die stärkste Stimulation erfolgt. Die zweite Theorie, die Zeittheorie (Frequenztheorie), erklärt die Tonhöhenwahrnehmung durch die Schwingungsrate der Basilarmembran pro Zeiteinheit, daher auch die Bezeichnung Zeittheorie. Diese Theorie sagt vorher, dass eine Schallwelle mit einer Frequenz von 100 Hz die Basilarmembran 100-mal pro Sekunde schwingen lässt. Die Frequenztheorie sagt weiterhin voraus, dass die Schwingungen der Basilarmembran dazu führen, dass die Neurone mit der gleichen Rate feuern; somit wird nach dieser Theorie der neuronale Code für die Tonhöhe durch die Feuerungsrate der Nervenzellen gebildet. Ein Problem dieser Theorie besteht darin, dass die Feuerungsrate eines Neurons nicht hoch genug ist, um Schalle mit hohen Frequenzen zu kodieren, da jedes einzelne Neuron nicht mehr als 1.000 mal pro Sekunde feuern kann. Durch diese Beschränkung ist es einem Neuron nicht möglich, Schalle oberhalb von 1.000 Hz zu unterscheiden, während das menschliche auditive System dies selbstverständlich sehr gut leisten kann. Die Beschränkung kann durch Phasenkopplung überwunden werden, die erklärt, was bei höheren Frequenzen geschehen kann. Phasenkopplung bedeutet, dass ein Neuron in die „Lücke“ eines anderen Neurons feuert. Hierdurch wird eine Gesamtfeuerungsrate erzielt, die einem Stimuluston von 2.000 Hz, 3.000 Hz usw. entspricht (Wever, 1949).
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Wie bei der trichromatischen Theorie und der Gegenfarbentheorie im Zusammenhang mit dem Farbensehen tragen die Orts- und die Zeittheorie erfolgreich unterschiedlichen Aspekten der Tonhöhenwahrnehmung Rechnung. Die Zeittheorie erklärt die Kodierung für Frequenzen unterhalb 5.000 Hz gut, bei höheren Frequenzen können Zellen auch unter Phasenkopplung nicht mehr schnell und präzise genug feuern, um das Signal zu kodieren. Die Ortstheorie erklärt die Tonhöhenwahrnehmung für Frequenzen oberhalb 1.000 Hz gut. Unterhalb 1.000 Hz schwingt die Basilarmembran insgesamt in so großen Teilen, dass sie kein unterscheidbares Signal für die neuronalen Rezeptoren liefern kann, um zur Tonhöhenunterscheidung zu dienen. Im Bereich zwischen 1.000 Hz und 5.000 Hz funktionieren beide Mechanismen. Eine komplexe sensorische Aufgabe wird also hier auf zwei Systeme verteilt, die zusammengenommen eine größere Präzision bewirken als jedes für sich allein. Wir werden als Nächstes sehen, dass wir ebenfalls zwei konvergierende neuronale Systeme zur Lokalisierung von Schallquellen in der Umgebung besitzen.
Die Lokalisiserung von Schallquellen Angenommen, Sie sind auf dem Universitätsgelände unterwegs und hören plötzlich jemanden Ihren Namen rufen. In den meisten Fällen werden Sie den räumlichen Ort des Sprechers schnell feststellen können. Dieses Beispiel zeigt, wie effizient das Gehör die Aufgabe der Schalllokalisierung erfüllt – Sie sind in der Lage, den räumlichen Ursprung von Schallereignissen festzustellen. Dies geschieht mithilfe zweier Mechanismen: Bewertung des Zeitabstandes und der unterschiedlichen Lautstärke, mit der der Schall an jedem der beiden Ohren ankommt (Middlebrooks & Green, 1991; Phillips, 1993). Zum ersten Mechanismus gehören Neurone, welche die relativen Zeitpunkte vergleichen, zu welchen die eintreffenden Schalle jedes Ohr erreichen. Wenn sich beispielsweise eine Schallquelle zu unserer Rechten befindet, dann erreicht der Schall unser rechtes Ohr vor dem linken (vergleiche Punkt B in 씰 Abbildung 4.22). Es gibt Neurone im auditiven System, die so spezialisiert sind, dass sie bei einer ganz bestimmten Zeitverzögerung zwischen beiden Ohren am stärksten feuern. Unser Gehirn nutzt diese unterschiedlichen Ankunftszeiten zur genauen Schätzung des wahrscheinlichen Ortes der Schallquelle im Raum. Der zweite Mechanismus beruht auf dem Umstand, dass die Intensität des Schalls an jenem Ohr ein wenig höher ist, an dem er zuerst eintrifft; der Kopf selbst
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A
B
Abbildung 4.22: Schall trifft mit leichter Zeitdifferenz zwischen beiden Ohren ein. Das Gehirn nutzt diese Unterschiede, um Schallquellen im Raum zu lokalisieren. wirft einen Schallschatten, der das Signal abschwächt. Dieser Intensitätsunterschied hängt von der relativen Größe der Wellenlänge eines Tons im Verhältnis zum Kopf ab. Töne großer Wellenlängen, also tieffrequente Töne, bewirken nahezu keine Intensitätsunterschiede, Töne kurzer Wellenlängen, hochfrequente Töne, bewirken merkliche Intensitätsunterschiede. Unser Gehirn besitzt auch hier spezialisierte Zellen, um die Intensitätsunterschiede der Signale zwischen beiden Ohren zu erkennen. Was geschieht hingegen, wenn ein Schall weder Unterschiede im Zeitverlauf noch in der Intensität verursacht? In Abbildung 4.22 würde einer Schallquelle, die sich an Punkt A befindet, diese Eigenschaft zukommen. Mit geschlossenen Augen können wir die Schallquelle nicht genau lokalisieren. Wir müssen unseren Kopf drehen und die Ohren neu positionieren; dies durchbricht die Symmetrie, und wir erhalten die notwendigen Informationen, um die Schallquelle zu lokalisieren.
Warum wohl haben Fledermäuse die Fähigkeit entwickelt, mithilfe von Echoortung durch ihre Umgebung zu navigieren?
4.5 Die weiteren Sinne
Es ist interessant, dass Schweinswale und Fledermäuse ihr Gehör anstatt ihres Sehvermögens benutzen, um Objekte in der Dunkelheit unter Wasser oder in Höhlen zu orten. Diese Tierarten benutzen Echolotortung – sie erzeugen hochfrequente Töne, die von Gegenständen reflektiert werden und den Tieren so eine Rückmeldung über Entfernung, Ort, Größe, Oberflächenbeschaffenheit und Bewegung des betreffenden Objekts verschaffen. Eine bestimmte Fledermausart ist sogar imstande, mit der Echoortung Objekte auseinanderzuhalten, die nur 0,3 mm Abstand haben (Simmons et al., 1998).
ZWISCHENBILANZ 1 Welche physikalische Eigenschaft des Schalls erzeugt
eine Tonhöhenwahrnehmung? 2 Welche Rolle spielen Haarzellen im Gehörapparat? 3 Welche Theorie postuliert, dass die Wahrnehmung der
Tonhöhe davon abhängt, an welcher Stelle der Basilarmembran die stärkste Stimulation erfolgt? 4 Welche Art von Zeitdifferenz würden Sie erwarten,
wenn ein Ton von Ihrer rechten Seite her käme?
Die weiteren Sinne
4.5
Wir haben in unserer Darstellung dem Sehen und Hören den größten Platz eingeräumt, da die Wissenschaft sie am ausführlichsten untersucht hat. Unsere Fähigkeit, in der äußeren Umgebung zu überleben und sie zu genießen, beruht jedoch auf dem ganzen Repertoire unserer Sinnesmodalitäten. Wir werden unsere Diskussion der sensorischen Prozesse mit Kurzdarstellungen der weiteren Sinnesmodalitäten abschließen.
4.5.1 Geruch Sicherlich können Sie sich Umstände vorstellen, in denen Sie am liebsten auf Ihren Geruchssinn verzichten würden: Sind Sie schon einmal in Hundekot getreten? Um dieser Erfahrung zu entgehen, müssten Sie allerdings auch auf den Duft frischer Rosen, eines Knoblauchbaguettes und einer frischen Seebrise verzichten. Gerüche, angenehme wie unangenehme, machen sich zuerst bemerkbar, indem sie mit Rezeptorproteinen der olfaktorischen Zilien (haarähnliche Zellen) der Riechschleimhaut interagieren (씰 Abbil-
dung 4.23). Es bedarf lediglich acht Molekülen einer Substanz, um einen dieser Nervenimpulse auszulösen; es müssen jedoch mindestens 40 Nervenendigungen stimuliert werden, damit man die Substanz riechen kann. Sind diese stimuliert, dann transportieren diese neuronalen Impulse Geruchsinformationen zum Bulbus olfactorius (dem Riechkolben), einer Gehirnregion direkt oberhalb der Rezeptoren und unterhalb der Frontallappen des Großhirns. Geruchsreize starten den Prozess des Riechens, indem sie einen Zustrom chemischer Substanzen in Ionenkanäle olfaktorischer Neurone anregen. Wie Sie sich vielleicht noch aus Kapitel 3 erinnern, löst dieses Ereignis ein Aktionspotenzial der Zelle aus. Die Bedeutung des Geruchssinns ist bei einzelnen Tierarten sehr unterschiedlich. Die Geruchswahrnehmung entwickelte sich wahrscheinlich als Nahrungsentdeckungs- und Nahrungsortungssystem (Moncrieff, 1951). Menschen scheinen den Geruchssinn hauptsächlich in Verbindung mit dem Geschmackssinn einzusetzen, um Nahrung zu suchen und zu probieren. Bei vielen Tierarten dient der Geruchssinn allerdings auch zur Entdeckung potenzieller Gefahrenquellen. Hunde, Ratten, Insekten und viele andere Wesen, für die der Geruchssinn wichtig zum Überleben ist, haben eine viel schärfere Geruchswahrnehmung als Menschen und widmen ihr einen vergleichsweise größeren Hirnanteil. Der Geruchssinn ist für diese Tiere nützlich, weil ein Organismus nicht in direkten Kontakt mit einem anderen Organismus kommen muss, um ihn riechen zu können. Außerdem kann der Geruch eine wirkungsvolle Methode aktiver Kommunikation sein. Angehörige vieler Spezies verständigen sich, indem sie als Pheromone bezeichnete chemische Signalstoffe ausscheiden bzw. wahrnehmen; diese Stoffe bezeichnen innerhalb einer Tierart sexuelle Bereitschaft, Gefahr, Revieransprüche und Nahrungsquellen (Luo et al., 2003). Beispielsweise sondern die Weibchen verschiedener Insektenarten Sexualpheromone ab, um ihre Paarungsbereitschaft anzuzeigen (Carazo et al., 2004; De Cock & Matthysen, 2005). Wir werden uns noch mit dem Thema Pheromone beschäftigen, wenn wir in Kapitel 11 das Sexualverhalten beim Menschen und bei Tieren besprechen.
4.5.2 Geschmack Obwohl Gourmets bei Speisen und Wein bemerkenswert feinsinnige und komplexe Geschmacksunterscheidungen treffen können, beruhen doch viele ihrer
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Abbildung 4.23: Geruchsrezeptoren. Die olfaktorischen Rezeptorzellen der Nasengänge werden durch chemische Substanzen der Umgebung stimuliert. Sie senden Informationen an den Bulbus olfactorius im Gehirn. Empfindungen auf Geruch und nicht auf Geschmack. Der Geruchs- und der Geschmackssinn arbeiten beim Essen eng zusammen. Wenn Sie beispielsweise eine Erkältung haben, dann scheinen die Speisen fade zu schmecken, da ihre Nasengänge blockiert sind und Sie die Speisen dadurch nicht riechen können. Sie können dies selbst ausprobieren: Halten Sie sich die Nase zu und versuchen Sie, den Unterschied zwischen Speisen gleicher Konsistenz, aber unterschiedlichen Geschmacks herauszufinden, wie beispielsweise einem Stück Apfel und einem Stück rohe Kartoffel.
Warum wäre jemand mit chronischen Problemen der Nasennebenhöhlen schlecht beraten, Weintester zu werden?
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Die Oberfläche der Zunge ist mit Papillen bedeckt, die ihr ein höckeriges Aussehen verleihen. Viele dieser Papillen enthalten Ansammlungen von Geschmacksrezeptorzellen; diese Ansammlungen werden als Geschmacksknospen bezeichnet (씰 Abbildung 4.24). Einzelzellableitungen der Geschmacksrezeptoren zeigen, dass die einzelnen Rezeptorzellen am stärksten auf jeweils eine der vier primären Geschmacksqualitäten reagieren: süß, sauer, bitter und salzig (Frank & Nowlis, 1989). In den vergangenen Jahren hat die Forschung noch Rezeptoren für eine fünfte grundlegende Geschmacksqualität gefunden: umami (Chaudhari et al., 2000). Umami ist der Geschmack von (Monosodium)-Glutamat (Geschmacksverstärker), einer chemischen Substanz, die oftmals asiatischem Essen beigemischt wird. Glutamat kommt natürlicherweise in Nahrungsmitteln vor, die reich an Proteinen sind, also beispielsweise in Fleisch, Meeresprodukten und gereiftem Käse. Obwohl die Rezeptorzellen für die fünf Qualitäten auch geringe Reaktionen für andere Geschmacksvarianten zeigen, enkodiert die „beste“ Reaktion die Geschmacksqualität am direktesten. Für jede der grundlegenden Geschmacksklassen scheint es eigene Transduktionssysteme zu geben (Bartoshuk & Beauchamp, 1994). Die Geschmacksrezeptoren können durch vielerlei Dinge Schaden nehmen, die wir in unseren Mund bringen, beispielsweise Alkohol, Zigarettenrauch und Säuren. Glücklicherweise werden unsere Geschmacksrezeptoren alle paar Tage ausgetauscht – sogar häufiger als die Geruchsrezeptoren. In der Tat ist von unseren
4.5 Die weiteren Sinne
Abbildung 4.24: Geschmacksrezeptoren. Teil A zeigt die Verteilung der Papillen auf der Oberseite der Zunge. Teil B zeigt eine einzelne Papille, so dass die Geschmacksknospen sichtbar werden. Teil C zeigt in Vergrößerung eine Geschmacksknospe.
sensorischen Systemen das Geschmackssystem das widerstandsfähigste gegen Beschädigung; es ist äußerst selten, an einem kompletten und dauerhaften Geschmacksverlust zu leiden (Bartoshuk, 1990).
4.5.3 Hautsinne und Berührung Die Haut ist ein bemerkenswert vielseitiges Organ. Sie schützt uns nicht nur gegen Verletzungen der Körperoberfläche, hält die Körperflüssigkeiten im Körper und hilft, die Körpertemperatur zu regulieren, sondern sie enthält auch Nervenendigungen, die Empfindungen von Druck, Wärme und Kälte erzeugen. Diese Empfindungen entstehen durch die Hautsinne. Betrachten Sie, wie Sie gewahr werden, dass ein Stimulus Druck auf Ihre Haut ausübt. Da wir so viele sensorische Informationen durch unsere Haut erhalten, arbeiten viele unterschiedliche Typen von Rezeptorzellen knapp unterhalb der Körperoberfläche. Jeder Rezeptortyp reagiert auf ein etwas unterschiedliches Muster von Hautkontakten (Sekuler & Blake, 2001). Beispielsweise reagieren die Meissner-Körperchen dann am stärksten, wenn etwas über die Haut streicht, die Merkel-Zellen hingegen sind am aktivsten, wenn ein kleines Objekt gleichmäßigen Druck auf die Haut ausübt. Die Druckempfindlichkeit variiert sehr stark je nach Körperregion. Beispielsweise können wir an den Fingerspitzen zehnmal genauer die Position einer Stimulation feststellen als am Rücken. Die starke Empfindlichkeit verschiedener Körperregionen zeigt sich in einer größeren Dichte von Nervenendigungen sowie durch
einen größeren Bereich des sensorischen Cortex, der diesen Körperregionen zugeordnet ist. In Kapitel 3 haben Sie gelernt, dass Ihre Empfindlichkeit dort am größten ist, wo Sie sie am meisten benötigen – im Gesicht, auf der Zunge und an den Händen. Genaue sensorische Rückmeldungen aus diesen Körperteilen erlauben uns effektiv zu essen, zu sprechen und zu greifen. Angenommen, jemand reibt einen Eiswürfel auf Ihrem Arm hin und her. Sie haben jetzt eine Vorstellung, wie Sie den Druck des Eiswürfels wahrnehmen würden. Aber wie würden Sie spüren, dass seine Temperatur niedrig ist? Sie sind vielleicht überrascht zu erfahren, dass es unterschiedliche Rezeptoren für Wärme und Kälte gibt. Statt nur eines Typus von Rezeptor, der wie ein Thermometer arbeiten würde, verarbeitet Ihr Gehirn getrennte Signale von Kälte- und Wärmefasern, um Änderungen in der Umgebungstemperatur anzuzeigen. Einem Aspekt der Hautempfindlichkeit kommt eine zentrale Rolle in menschlichen Beziehungen zu: Berührung. Durch Berührung kommunizieren wir mit anderen Menschen; beispielsweise geben oder erhalten wir Trost, Unterstützung, Zuneigung und Leidenschaft. Allerdings macht es einen Unterschied, wo wir berührt werden oder wo wir jemanden berühren; jene Regionen der Hautoberfläche, die erotische oder sexuelle Empfindungen auslösen, werden als erogene Zonen bezeichnet. Weitere berührungsempfindliche Regionen, die erotische Empfindungen auslösen, variieren von Mensch zu Mensch in ihrem Erregungspotenzial, je nach gelernten Assoziationen und der Konzentration sensorischer Rezeptoren in diesen Regionen.
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4.5.4 Gleichgewichtssinn und kinästhetischer Sinn Wir werden jetzt zwei Sinne behandeln, die Ihnen möglicherweise völlig neu sind, da sie keine direkt sichtbaren Rezeptoren wie Augen, Ohren oder Nase aufweisen. Der Gleichgewichtssinn sagt uns, wie unser Körper – insbesondere unser Kopf – in der Welt im Hinblick auf die Schwerkraft ausgerichtet ist. Die Rezeptoren für diese Informationen bestehen aus kleinen Haaren in flüssigkeitsgefüllten Säcken und Kanälen des Innenohrs. Wenn sie den Kopf schnell drehen, dann bewegt sich die Flüssigkeit und übt Druck auf die Haare aus, wodurch sie sich biegen. Sacculus und Utriculus (in Abbildung 4.21 abgebildet) liefern Informationen über Beschleunigung und Verzögerung entlang der Sagittalachse, also Vorwärtsbewegungen. Die drei als Bogengänge bezeichneten Kanäle stehen senkrecht aufeinander und können somit Informationen über Bewegungen in jede Richtung liefern. Sie informieren über Bewegungen beim Drehen, Nicken und Neigen des Kopfes. Menschen, die ihren Gleichgewichtssinn durch Unfall oder Erkrankung verlieren, sind anfangs stark desorientiert und neigen zum Stürzen und zu Schwindelgefühl. Allerdings kompensieren die meisten Betroffenen diesen Missstand allmählich, indem sie sich stärker auf visuelle Informationen verlassen. Wenn die Signale des visuellen Systems jenen des Gleichgewichtssystems widersprechen, dann kann Reiseübelkeit entstehen. Menschen wird zuweilen übel, wenn sie in einem fahrenden Auto lesen, da das visuelle Signal, das sie verarbeiten, von einem ruhenden Ob-
Warum wird Ihnen in einer Achterbahn nicht so schnell übel, wenn Sie vorne sitzen?
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Welche Bedeutung kommt dem kinästhetischen Sinn bei der Leistung von Profisportlern zu? jekt stammt, der Gleichgewichtssinn hingegen zur gleichen Zeit Bewegung signalisiert. Dem Fahrzeuglenker wird selten übel, weil er die Bewegung sowohl sieht als auch fühlt. Ob wir aufrecht stehen, im Sitzen ein Bild malen oder Sex haben, unser Gehirn benötigt fortwährend genaue Informationen über die momentanen Positionen und Bewegungen unserer Körperteile in Relation zueinander. Der kinästhetische Sinn liefert ständig sensorische Rückmeldungen, was der Körper während motorischer Aktivitäten tut. Ohne ihn wären wir nicht in der Lage, die meisten Willkürbewegungen zu koordinieren. Wir verfügen über zwei Quellen kinästhetischer Informationen: Rezeptoren in den Gelenken und Rezeptoren in den Muskeln und Sehnen. Die Rezeptoren in den Gelenken reagieren auf Druckveränderungen, die mit unterschiedlichen Positionen der Gliedmaßen einhergehen, und auf Druckveränderungen, die Bewegungen der Gelenke begleiten. Die Rezeptoren in den Muskeln und Sehnen reagieren auf Anspannungsveränderungen, die das Verkürzen oder Dehnen von Muskeln begleiten. Oftmals integriert das Gehirn Informationen des kinästhetischen Sinnes mit Informationen der Berührungssinne. Beispielsweise kann unser Gehirn nicht die volle Bedeutung der Signale von den einzelnen Fingern erfassen, ohne die genaue Lage der Finger zueinander zu kennen. Angenommen, Sie ergreifen ein Objekt mit geschlossenen Augen. Ihr Berührungssinn erlaubt Ihnen die Annahme, dass es sich um einen Stein handelt, aber erst Ihr kinästhetischer Sinn wird Ihnen Wissen darüber verschaffen, wie groß der Stein ist.
4.5 Die weiteren Sinne
4.5.5 Schmerz Schmerz ist die Reaktion des Körpers auf Stimulation durch schädigende Reize – jene Reize, die stark genug sind, das Gewebe zu zerstören, oder drohen, dies zu tun. Sind Sie vollauf glücklich, dass Sie über einen so gut entwickelten Schmerzsinn verfügen? Ihre Antwort lautet möglicherweise: „Ja und Nein“. Auf der „Ja“Seite steht, dass der Schmerzsinn für das Überleben entscheidend ist. Menschen mit einer angeborenen Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden, spüren keine Verletzungen, aber ihr Körper trägt oftmals Narben, und die Gliedmaßen sind von Verletzungen deformiert; wäre ihr Gehirn in der Lage gewesen, vor der Gefahr zu warnen, dann hätte dies verhindert werden können (Larner et al., 1994). Die Erfahrungen dieser Menschen lassen uns bewusst werden, dass Schmerz ein grundlegendes Abwehrsignal ist – es warnt uns vor potenziellem Schaden. Auf der „Nein“-Seite gibt es sicherlich Anlässe, wo Sie froh wären, wenn Sie den Schmerzsinn abschalten könnten. Mehr als 50 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika leiden unter chronischem Schmerz; in Deutschland sind es etwa 6 Millionen Menschen. Die Kosten für die medizinische Schmerzbehandlung und die schmerzbedingt ausgefallenen Arbeitstage belaufen sich in den USA auf etwa 70 Milliarden Dollar jährlich (Gatchel & Oordt, 2003). Für Deutschland werden die Behandlungs- und Folgekosten allein im Bereich chronischer Rückenschmerzen auf über 15 Milliarden Euro geschätzt, für chronische Kopfschmerzen kommen weitere 2,5 Milliarden Euro hinzu (Bundesministerium für Bildung und Forschung). Die Wissenschaft hat damit begonnen, jene Rezeptoreinheiten zu identifizieren, die auf Schmerz auslösende Reize reagieren. Man weiß mittlerweile, dass einige Rezeptoren ausschließlich auf Temperatur reagieren, andere auf chemische Substanzen, wiederum andere auf mechanische Stimulation und manche schließlich auf Kombinationen Schmerz auslösender Reize. Dieses Netzwerk von Schmerzfasern bildet ein feines Geflecht, das den gesamten Körper bedeckt. Die peripheren Nervenfasern schicken Schmerzsignale auf zwei Bahnen zum zentralen Nervensystem: ein schnellleitender Verbund von Nervenfasern, die mit Myelin ummantelt sind, und ein langsamerer Verbund von Nervenfasern ohne Myelinummantelung. Vom Rückenmark ausgehend werden die Impulse zum Thalamus geschaltet und dann zum Cortex. Dort werden der Ort und die Intensität des Schmerzes identifiziert, die Bedeutsamkeit der Verletzung beurteilt und Handlungspläne festgelegt.
Innerhalb des Gehirns beeinflussen Endorphine die Schmerzempfindung. In Kapitel 3 haben Sie erfahren, dass schmerzstillende Drogen wie Morphium an dieselben Rezeptoren im Gehirn andocken wie die Endorphine – der Begriff Endorphin leitet sich aus endogene (selbst erzeugte) Morphine her. Die Freisetzung von Endorphinen im Gehirn regelt unsere Schmerzempfindung, und die Forschung geht davon aus, dass Endorphine zumindest teilweise für die schmerzstillende Wirkung von Akupunktur und Placebos verantwortlich sind (Benedetti et al., 2005; Han, 2004). Unsere emotionalen Reaktionen, Kontextfaktoren und unsere Interpretation der Situation können bei der Festlegung, wie viel Schmerz wir empfinden, ebenso wichtig sein wie die tatsächlichen physikalischen Reize (Price, 2000; Turk, 1994). Wie werden Schmerzempfindungen durch den psychologischen Kontext beeinflusst? Eine Theorie, wie Schmerz moduliert werden könnte, ist als die Filter-Kontrolltheorie von Robert Melzack (1978, 1980) bekannt geworden. Dieser Theorie zufolge wirken Zellen im Rückenmark als neurologische Filter, die bestimmte Schmerzsignale unterbrechen und blockieren, während sie andere auf ihrem Weg zum Gehirn passieren lassen. Das Gehirn und Rezeptoren in der Haut senden Botschaften an das Rückenmark, um diese Filter zu schließen oder durchlässiger zu machen. Diese vom Gehirn nach unten gesendeten Botschaften bilden den psychischen Kontext des Schmerzerlebens. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass Sie sich das Schienbein an einem Tisch anschlagen, während Sie zum klingelnden Telefon laufen. Wenn Sie sich die schmerzende Stelle reiben, senden Sie damit hemmende Signale an Ihr Rückenmark und schließen damit die schmerzempfindlichen Tore. Aber auch Signale, die vom Gehirn gesendet werden, können diese Tore schließen. Wenn etwa der Telefonanruf eine wichtige Nachricht für Sie bringt, dann kann das Gehirn dafür sorgen, dass Sie den ablenkenden Schmerz nicht empfinden. Seit einigen Jahren vertritt Melzack (1999) eine neuere Theorievariante, die Neuromatrixtheorie des Schmerzes, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Menschen oftmals auch trotz nur geringer oder völlig fehlender körperlicher Ursachen Schmerz empfinden: In diesen Fällen habe der Schmerz seinen Ursprung vollständig im Gehirn. Die Art, wie wir Schmerz wahrnehmen, wie wir darüber mit anderen kommunizieren und sogar, wie wir auf Schmerz lindernde Behandlungen ansprechen, verrät vielleicht mehr über unseren psychischen Zustand als über die Intensität des Schmerz auslösenden Reizes. Was wir wahrnehmen, kann sich von dem un-
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PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Warum können sehr scharfe Speisen wehtun?
Ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen? Sie essen ein scharfes Gericht in einem chinesischen oder mexikanischen Restaurant und beißen versehentlich direkt auf eine Chilischote. Binnen weniger Augenblicke wird aus Genuss brennendes Feuer. Sollte dies passieren, dann wissen Sie, dass es im Bereich des Geschmacks einen schmalen Grat zwischen angenehm und schmerzhaft gibt. Lassen Sie uns diese Beziehung näher betrachten. Physiologisch ist es leicht zu erklären, warum Chilischoten schmerzhaft sein können. Die Geschmacksknospen auf der Zunge sind mit nozizeptiven Schmerzfasern verbunden (Bartoshuk, 1993). Somit können genau die gleichen chemischen Substanzen, welche die Rezeptoren in den Geschmacksknospen stimulieren, auch die eng damit verbundenen Schmerzfasern stimulieren (Caterina et al., 2000). Im Falle von Chili ist diese chemische Substanz Capsaicin. Wenn Sie eine würzige Speise genießen wollen, dann müssen Sie die Capsaicinkonzentration in dem Gericht so gering halten, dass Ihre Geschmacksrezeptoren aktiver sind als Ihre Schmerzrezeptoren. Sie fragen sich vielleicht, warum Menschen offensichtlich so große Unterschiede in der Vorliebe für scharfe Speisen aufweisen. Menschen finden es manch mal schwer zu verstehen, warum ihre Freunde stark gewürzte Speisen essen können oder auch gerade nicht. Ein Blick zur Physiologie hilft auch hier wieder, diese Unterschiede zu erklären. Die Abbildung unten zeigt Aufnahmen der Zungen zweier Menschen, die Linda Bartoshuk und ihre Kollegen untersucht haben. Man kann erkennen, dass die eine Zunge weitaus mehr Geschmacksknospen aufweist als die andere. Sind mehr Geschmacksknospen vorhanden, dann gibt es auch mehr Schmerzrezeptoren. Somit zeigen Menschen mit mehr Geschmacksknospen mit größerer Wahrscheinlichkeit auch eine starke Schmerzreaktion durch Capsaicin. Die Gruppe von Probanden mit vielen Geschmacksknospen wurde als Superschmecker (Bartoshuk, 1993) bezeichnet. Sie bilden in den extremen Ausprägungen ihrer sensorischen Er-
(A) Die Zunge eines Superschmeckers.
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fahrungen einen scharfen Kontrast zu den Nichtschmeckern. Bei den meisten Geschmacksempfindungen sind beide Gruppen äquivalent – Sie wüssten bei den meisten Gelegenheiten nicht, ob Sie ein Superschmecker oder ein Nichtschmecker sind oder irgendwo dazwischen liegen. Die Unterschiede werden nur bei bestimmten chemischen Substanzen deutlich – Capsaicin ist hierfür ein hervorragendes Beispiel. Die Unterschiede hinsichtlich der Dichte von Geschmacksknospen auf der Zunge sind genetisch bedingt (Bartoshuk, et al., 1994). Frauen sind mit größerer Wahrscheinlichkeit Superschmecker als Männer. Superschmecker reagieren im Allgemeinen empfindlicher auf bittere Substanzen – eine sensorische Qualität, die auch vielen giftigen Substanzen zukommt. Wenn Frauen im Zuge der Evolution in der Regel für die Pflege und Ernährung der Nachkommen zuständig waren, dann kann man sich vorstellen, dass die Kinder von Müttern mit größerer Geschmacksempfindlichkeit mit größerer Wahrschein lichkeit überlebten. Da der Geschmackstyp genetisch festgelegt ist, findet man Unterschiede der Vorlieben bereits bei sehr kleinen Kindern (Anliker et al., 1991). Fünfbis siebenjährige Superschmecker bevorzugen Milch gegenüber Cheddarkäse. Bei Nichtschmeckern ist es umgekehrt. Warum? Die Superschmecker nehmen mög licherweise die Milch süßer und den Cheddarkäse bitterer wahr als Nichtschmecker. Die genetischen Unterschiede tragen somit zur Erklärung bei, warum einige Kinder so starke (und lautstarke) Geschmacksvorlieben haben. Lassen Sie uns nun zum Essen im Restaurant zurückkommen, wo sich der schmerzhafte Zwischenfall ereignete. Vielleicht haben Sie bemerkt, dass die Schmerzempfindung mit der Zeit nachlässt. In dieser Hinsicht funktionieren die Schmerzrezeptoren im Mund wie die anderen sensorischen Rezeptoren: Sie passen sich allmählich an konstante Reize an. Das sind doch gute Neuigkeiten! Sie können froh sein, dass Ihre sensorischen Prozesse einen eingebauten Mechanismus besitzen, der Erleichterung verschafft.
(B) Die Zunge eines Nichtschmeckers.
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
Wahrnehmung zu ermöglichen, werden zusammenfassend als Prozesse der Wahrnehmungsorganisation bezeichnet. Wir beginnen unsere Darstellung der Wahrnehmungsorganisation mit den Prozessen der Aufmerksamkeit. Diese ermöglichen uns eine Konzentration auf eine Untergruppe von Stimuli aus dem Kaleidoskop der Empfindungen. Wir betrachten dann die Organisationsprozesse, die zuerst von Gestalttheoretikern formuliert wurden. Diese postulierten, dass Wahrnehmungen von Prinzipien der Organisation abhängen, das heißt von einfachen Regeln, nach denen Gestalten und Formen wahr genommen werden. Bei religiösen Ritualen wie beispielsweise dem Gang über glühende Kohlen können Menschen das Schmerzempfinden blockieren. Was erfahren wir hierdurch über die Beziehung zwischen der Physiologie und der Psychologie des Schmerzes? terscheiden oder sogar unabhängig davon sein, was wir empfinden. Die vorangegangene Einführung zum Thema Schmerz gibt Ihnen das benötigte Grundwissen, um die verbleibenden Abschnitte dieses Kapitels zu verstehen. Dort werden wir uns den Wahrnehmungsprozessen zuwenden, die uns ermöglichen, unsere Welterfahrung zu ordnen und zu systematisieren.
ZWISCHENBILANZ
4.6.1 Aufmerksamkeitsprozesse Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und suchen Sie nach zehn Dingen in Ihrer Umgebung, die sich bislang nicht unmittelbar in Ihrem Bewusstsein befanden. Hatten Sie den kleinen Fleck an der Wand bemerkt? Hatten Sie das Ticken einer Uhr bemerkt? Wenn Sie beginnen, Ihre Umgebung sehr genau zu untersuchen, dann werden Sie feststellen, dass es dort buchstäblich Tausende von Dingen gibt, auf die Sie Ihre Aufmerksamkeit lenken könnten. Im Allgemeinen nehmen wir von einem Objekt oder Ereignis mehr wahr und lernen mehr darüber, wenn wir ihm mehr Aufmerksamkeit schenken.
1 Welche wichtige Gehirnstruktur ist am Geruchssinn be-
teiligt?
Die Bestimmung des Aufmerksamkeitsfokus
2 Auf welche grundlegenden Geschmacksrichtungen
reagieren die Geschmacksknospen? 3 Wie nimmt unsere Haut Temperatur wahr? 4 Welchem Zweck dient der Gleichgewichtssinn? 5 Was ist das Ziel der Filter-Kontrolltheorie?
Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
4.6
Wie verwirrend wäre die Welt, wenn wir die Informationen, die aus Millionen von Netzhautrezeptoren stammen, nicht zusammensetzen und organisieren könnten! Wir würden ein Kaleidoskop unzusammenhängender Farbpünktchen sehen, die vor unseren Augen herumwirbeln. Die Vorgänge, die sensorische Informationen integrieren, um uns eine kohärente
Wodurch wird bestimmt, welche Objekte in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken? Die Antwort auf diese Frage besteht aus zwei Komponenten, die wir als zielgesteuerte Wahl und als reizinduzierte Vereinnahmung (Yantis, 1993) bezeichnen. Bei der zielgesteuerten Wahl schenken wir Objekten Aufmerksamkeit aufgrund eigener Ziele. Wenn Sie beispielsweise eine Schachtel mit süßem Gebäck betrachten, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit vielleicht nur auf jene Stücke mit Schokoladenguss. Sie sind vielleicht bereits mit der Vorstellung vertraut, dass man bestimmte Objekte willentlich einer genauen Musterung unterziehen kann. Reizinduzierte Vereinnahmung tritt auf, wenn Merkmale von Reizen – Objekten in der Umgebung – automatisch und unabhängig von den eigenen Zielen des Wahrnehmenden unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sollten Sie einmal mit Ihrem Auto vor einer Ampel gestanden und vor sich hin geträumt haben, dann haben Sie beispielsweise reizinduzierte Vereinnahmung erleben können, als die Ampel von
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Rot auf Grün schaltete. Der plötzliche Wechsel des Ampellichts wird oft Ihre Aufmerksamkeit einfangen, auch wenn Sie nicht speziell darauf fokussiert war. Sie werden sich vielleicht fragen, wie diese beiden Prozesse zueinander stehen: Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich zumindest unter bestimmten Umständen die reizinduzierte Vereinnahmung gegenüber der zielgesteuerten Wahl durchsetzt.
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8 8
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AUS DER FORSCHUNG Die Forschung entwickelte visuelle Anordnungen, welche die zielgesteuerte Wahl und die reizinduzierte Vereinnahmung in Wettstreit treten lassen (Theeuwes et al., 1998). Wie in Teil A der 씰 Abbildung 4.25 veranschaulicht ist, begann jeder Versuchsdurchgang in dem Experiment mit einer visuellen Anordnung von sechs lichtschwachen grauen Kreisen, in welchen jeweils die Zahl Acht stand. Nach einer Sekunde wechselte die Anordnung. In der Hälfte der Durchgänge wechselten alle Kreise bis auf einen ihre Farbe von Grau zu Rot (siehe Teil B der Abbildung 4.25). Die Probanden sollten ihre Augen auf den verbleibenden grauen Kreis richten und angeben, ob der Buchstabe darin ein normal ausgerichtetes oder spiegelverkehrtes „c“ war. Bei der Ausführung dieser Aufgabe nutzen die Probanden die zielgesteuerte Wahl: Sie verschieben ihre Aufmerksamkeit absichtsvoll auf den verbleibenden grauen Kreis. Betrachten Sie nun Teil C der Abbildung 4.25. In diesem Fall, der anderen Hälfte der Durchgänge, wurde ein neues Element der Anordnung hinzugefügt – ein weiterer roter Kreis. Neue Objekte stellen jene visuellen Reize dar, die typischerweise eine reizinduzierte Vereinnahmung auslösen. Unter normalen Umständen würden wir erwarten, dass die Probanden ihre Augen auf das neue Objekt richten. In diesem Experiment wollen die Probanden jedoch nicht, dass sich ihre Augen auf dieses Objekt richten: Sie sollen nämlich immer noch den Inhalt des einzigen grauen Kreises wiedergeben. Was geschieht also? Können die Probanden verhindern, ihre Aufmerksamkeit auf den neuen roten Kreis zu lenken? In den meisten Durchgängen zog das neue Objekt automatisch die Aufmerksamkeit der Probanden auf sich – obwohl dieses Objekt für die Erreichung des von den Experimentatoren gesetzten Ziels vollständig irrelevant war.
Man kann in diesem Phänomen eine reizinduzierte Vereinnahmung erkennen, da es den Zielen des Wahrnehmenden entgegenwirkt. Weil die Probanden bei der Aufgabe besser abgeschnitten hätten, wenn sie den roten Kreis ignoriert hätten, konnten sie ihn offenbar nicht ignorieren. (Probanden versuchen in Experimenten nahezu immer, die von den Experimentatoren zugewiesenen Aufgaben so gut wie möglich zu bewäl-
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Abbildung 4.25: Prozesse der Aufmerksamkeitslenkung. Zu Beginn jedes Durchgangs in diesem Experiment sahen die Probanden eine Anordnung von sechs grauen Kreisen (Teil A). Dann änderte sich die Anordnung, und die Probanden sollten angeben, ob in dem verbleibenden grauen Kreis der Buchstabe „c“ in normaler Ausrichtung oder spiegelverkehrt zu sehen war. In der Hälfte der Durchgänge wurde kein neues Objekt eingeführt (Teil B); in der anderen Hälfte kam ein roter Kreis hinzu (Teil C). Obwohl das Ziel der Teilnehmer darin bestand, die Aufmerksamkeit auf den einzigen grauen Kreis zu lenken, zog das neue Objekt – in den Fällen, in denen es hinzukam – automatisch Aufmerksamkeit auf sich. tigen.) Die wichtige allgemeine Schlussfolgerung besteht darin, dass unser Wahrnehmungssystem so organisiert ist, dass unsere Aufmerksamkeit automatisch auf Objekte gelenkt wird, die neu in der Umgebung sind (Yantis & Jonides, 1996).
Das Schicksal der unbeachteten Information Wenn wir einer Teilmenge einer perzeptuellen Anordnung selektiv Aufmerksamkeit geschenkt haben – sei es aufgrund unserer eigenen Ziele oder wegen Eigenschaften der Reize: Welches Schicksal ereilt dann jene Informationen, welchen wir keine Aufmerksamkeit zukommen ließen? Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Vorlesung und Ihre Nachbarn links und rechts unterhalten sich. Wie können Sie der Vorlesung folgen? Was bekommen Sie von den Unterhaltungen der Nachbarn mit? Könnte etwas im Inhalt des einen oder anderen Gesprächs auftauchen, das Ihre Aufmerksamkeit von der Vorlesung ablenken würde? Diese Konstellation von Fragen wurde zuerst von Donald Broadbent (1958) untersucht, der den menschlichen Geist als Kommunikationskanal konzipierte –
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
ähnlich wie eine Telefonleitung oder eine Computerverbindung –, der Informationen aktiv verarbeitet und überträgt. Nach Broadbents Theorie verfügt der Geist, wie ein Kommunikationskanal, lediglich über eine begrenzte Kapazität, um Informationen vollständig zu verarbeiten. Diese Beschränkung erfordert, dass die Aufmerksamkeit den Informationsfluss vom sensorischen Input zum Bewusstsein streng reguliert. Die Filtertheorie der Aufmerksamkeit behauptete, dass die Auswahl früh im Prozess stattfindet, bevor der Inhalt des Inputs erkannt wurde. Um die Filtertheorie zu überprüfen, bildeten die Forscher die Alltagssituation von mehreren Inputquellen mit der Methode des dichotischen Hörens im Labor nach. In diesem Paradigma tragen die Probanden einen Kopfhörer und hören vom Band zwei unterschiedliche Botschaften gleichzeitig, je eine auf einem Ohr. Die Probanden werden instruiert, eine der beiden Botschaften laut nachzusprechen, während sie die des anderen Ohrs ignorieren sollen. Diese Aufgabe wird als Beschatten (shadowing) der mit Aufmerksamkeit belegten Botschaft bezeichnet (씰 Abbildung 4.26). Eine Herausforderung für eine starke Formulierung der Filtertheorie war der Befund, dass sich einige Hörer an Dinge erinnerten, an die sie sich nicht hätten erinnern können, wenn die Aufmerksamkeit alles ignorierte Material vollständig ausgefiltert hätte (Cherry, 1953). Betrachten Sie beispielsweise Ihren Namen. Viele Menschen berichten, dass sie die Erwähnung ihres Namens
2
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7 9 1 Sekunde
4.6.2 Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung
1 links
5 rechts
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in einem lauten Raum hören, auch wenn sie sich gerade einer eigenen Unterhaltung widmen. Dies wird oft als Cocktailparty-Phänomen bezeichnet. Laboruntersuchungen haben bestätigt, dass Menschen in nicht aufmerksam verfolgter Information besonders leicht ihren eigenen Namen heraushören (Wood & Cowan, 1995a). Auf der Grundlage von Experimenten glauben die Forscher, dass Informationen des nicht beachteten Kanals zu einem gewissen Ausmaß verarbeitet werden – allerdings nicht genügend, um ins Bewusstsein zu gelangen (Wood & Cowan, 1995b). Nur wenn Eigenschaften der nicht beachteten Information hinreichend auffällig sind – beispielsweise weil sie den Namen des Hörers enthält – wird diese Information ins Zentrum der bewussten Aufmerksamkeit gerückt. (Wir werden in Kapitel 5 auf die Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und Bewusstsein zurückkehren.) Im Allgemeinen jedoch wird die nicht beachtete Information nicht bemerkt. Sie können hierdurch sehen, warum es gefährlich ist, sich von Ihrer eigentlichen Aufgabe oder Ihrem eigentlichen Ziel ablenken zu lassen. Wenn es Ihnen nicht gelingt, den Informationen – vielleicht den Ausführungen des Dozenten in der Vorlesung – Aufmerksamkeit zu schenken, dann wird das Material nicht von alleine einsickern! Nehmen wir an, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einen Stimulus in Ihrer Umgebung gerichtet haben. Jetzt wird es für die Prozesse der Wahrnehmungsorganisation Zeit, sich ans Werk zu machen.
795
Abbildung 4.26: Dichotisches Hören. Ein Proband hört gleichzeitig auf beiden Ohren (= dichotisch) unterschiedliche Ziffern: 2 (links), 7 (rechts), 6 (links), 9 (rechts), 1 (links) und 5 (rechts). Er berichtet, beide Ziffernfolgen korrekt zu hören – 261 und 795. Wird er jedoch instruiert, seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Input des rechten Ohrs zu lenken, dann gibt er an, nur 795 zu hören.
Betrachten Sie das linke Bild in 씰 Abbildung 4.27. Wenn es Ihnen so wie den meisten Leuten geht, dann sehen Sie die Figur einer Vase vor einem schwarzen Grund. Eine Figur wird als eine gegenstandsähnliche Region im Vordergrund gesehen, und der Grund wird als Unterlage gesehen, vor der sich die Figuren abzeichnen. Wie Sie am rechten Bild in Abbildung 4.27 sehen können, kann man das Verhältnis zwischen Figur und Grund ändern – um zwei Gesichter statt einer Vase zu sehen. Ihre Wahrnehmungsprozesse müssen ganz zu Beginn entscheiden, was in einer gegebenen Szene der Hintergrund und was die Figur ist. Wie entscheiden Ihre Wahrnehmungsprozesse, was als Figur zusammengefasst werden soll? Die Prinzipien der Wahrnehmungsgruppierung wurden von den Vertretern der Gestaltpsychologie ausführlich untersucht, wie etwa Kurt Koffka (1935), Wolfgang Köhler (1947) und Max Wertheimer (1923). Mitglieder
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3 Das Gesetz der guten Fortsetzung: Menschen se-
hen Linien als durchgehend, selbst wenn sie unterbrochen sind. Deshalb sehen Sie hier einen Pfeil, der ein Herz durchbohrt anstatt eines Musters mit drei verschiedenen Teilen.
Abbildung 4.27: Figur und Grund. Ein erster Schritt in der Wahrnehmungsgruppierung ist, einen Teil einer Szene als Figur vor einem Hintergrund zu interpretieren. dieser Gruppe gingen davon aus, dass psychische Phänomene nur verstanden werden können, wenn man sie als organisiertes, strukturiertes Ganzes sieht, und nicht, wenn man sie in einfache, elementare Perzepte zerlegt. In ihren Experimenten haben die Gestaltpsychologen untersucht, wie Wahrnehmungsanordnungen als Gestalten wahrgenommen werden: Sie zeigten, dass sich das Ganze oft erheblich von der Summe seiner Teile unterscheidet. Indem sie jeweils einen einzigen Faktor veränderten und beobachteten, wie er die Wahrnehmung der ganzen Anordnung beeinflusste, konnten sie eine Reihe von Gesetzen formulieren:
4 Das Gesetz der Geschlossenheit: Menschen neigen
dazu, kleine Lücken aufzufüllen, um Objekte als Ganzes sehen zu können. Deshalb füllen Sie hier automatisch das fehlende Stück auf, um einen geschlossenen Kreis zu sehen.
O 5 Das Gesetz des gemeinsamen Schicksals: Men-
schen neigen dazu, Objekte als Gruppe zu sehen, die sich scheinbar in dieselbe Richtung bewegen. Deshalb sehen Sie diese Grafik als abwechselnde Zeilen, die sich auseinander bewegen.
1 Das Gesetz der Nähe: Menschen nehmen die ein-
ander am nächsten liegenden Elemente als Gruppe wahr. Deshalb sehen Sie diese Abbildung als fünf Spalten von Objekten anstatt als vier Zeilen.
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2 Das Gesetz der Ähnlichkeit: Menschen nehmen
die einander ähnlichsten Elemente als Gruppe wahr. Deshalb sehen Sie hier ein Viereck aus Os vor einem Feld von Xen und nicht Spalten aus vermischten Xen und Os.
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4.6.3 Räumliche und zeitliche Integration Die bislang angeführten Gestaltgesetze sollten Sie davon überzeugt haben, dass ein großer Teil der Wahrnehmung darin besteht, Teile unserer Welt auf „richtige Weise“ zusammenzufügen. Oftmals können wir die gesamte Anordnung nicht auf einen Blick oder mit einer Fixation wahrnehmen. (Denken Sie an unsere Diskussion der Aufmerksamkeit.) Was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrnehmen, ist oft ein Bildausschnitt aus einer großen visuellen Welt, die sich in alle Richtungen in nicht gesehene Bereiche der Umgebung ausdehnt. Um eine vollständige Vorstellung dessen zu erhalten, was uns umgibt, müssen wir Informationen aus Fixationen verschiedener räumlicher Regionen und unterschiedlicher Zeitpunkte kombinieren; wir sprechen hier von räumlicher Integration und zeitlicher Integration.
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
Abbildung 4.28: Wechselblindheit. (A) Probanden sollten beurteilen, ob die zweite Anordnung im Vergleich zur ursprünglichen Anordnung „gleich“ oder „verschieden“ war. (B) Wenn sich die Identität eines Objekts änderte oder zwei Objekte vertauscht wurden, haben die Probanden oftmals den Unterschied nicht bemerkt. Nur wenn sich die Konfiguration änderte, antworteten die Probanden nahezu immer korrekt. Vielleicht überrascht es Sie, dass sich unser visuelles System nicht schwer daran tut, ein von einem zum nächsten Moment fortgeschriebenes integriertes Bild der Umgebung zu erstellen. Die Forschungsergebnisse geben Hinweise darauf, dass unser visuelles Gedächtnis bei jeder Fixation in der Welt keine sehr präzisen Details abspeichert (Simons & Ambinder, 2005). In der Tat sind Betrachter manchmal nicht einmal in der Lage, die Veränderung eines kompletten Objekts von einer Fixation zur nächsten zu bemerken.
AUS DER FORSCHUNG In einem Experiment aus einer Serie von Experimenten betrachteten die Probanden zwei Sekunden lang eine Anordnung mit Bildern von fünf vertrauten Objekten. Ungefähr vier Sekunden später sahen die Probanden eine zweite Anordnung. In der einen Hälfte der Durchgänge war die zweite Anordnung identisch mit der ersten. In der anderen Hälfte (씰 Abbildung 4.28) unterschied sich die zweite Anordnung auf eine der drei folgenden Weisen: (1) Eines der Objekte wechselte die Identität (beispielsweise wurde aus einem Klammerhefter in der ersten Anordnung ein Klammerentferner in der zweiten), (2) zwei Objekte tauschten ihre räumliche Position, oder (3) die Gesamtkonfiguration der Objekte änderte sich. Die Probanden sollten angeben, ob die Anordnungen gleich oder verschieden seien. Sie werden vielleicht nach kurzem Nachdenken glauben, dass dies eine leichte Aufgabe war: Wie könnte man nicht bemerken, dass aus einem Klammerhefter ein Klammer-
entferner wurde? Wie allerdings Teil B der Abbildung 4.28 zeigt, lag die Leistung in der Identitätsbedingung und in der Vertauschungsbedingung deutlich unter 100 Prozent korrekt. Die Probanden waren gegenüber sehr offensichtlichen Veränderungen „blind“ (Simons, 1996)!
Viele Menschen überrascht dieses Ergebnis. Wie konnte es sein, dass wir so wenige Verarbeitungsressourcen dem Behalten von Details einer Anordnung widmen – so dass wir nicht bemerken, dass aus einem Klammerhefter ein Bleistift wurde? Ein Teil der Antwort könnte darin liegen, dass die Welt selbst im Allgemeinen eine stabile Quelle von Informationen darstellt (O‘Regan, 1992). Es ist einfach unnötig, Informationen, die stets in der externen Umgebung verfügbar sind, an das Gedächtnis zu übergeben – und daher verfügen wir über keine Prozesse, die dies gewöhnlich tun.
4.6.4 Bewegungswahrnehmung Bewegungswahrnehmung ist eine Art der Wahrnehmung, die einen Vergleich zwischen verschiedenen Augenblicken der Welt erfordert. Stellen Sie sich vor, Sie sähen einen Freund in der anderen Ecke des Seminarraums. Wenn der Freund stehen bleibt, während Sie auf ihn zugehen, wird sein Bild auf Ihrer Retina größer, je näher Sie kommen. Wie schnell dieses Bild
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größer wird, gibt Ihnen ein Gefühl dafür, wie schnell Sie sich genähert haben (Gibson, 1979). Wie wir gesehen haben, erfordert Bewegungswahrnehmung die Kombination von Informationen verschiedener Augenblicke der Wahrnehmung. Sie können die Konsequenzen dieses ausgeprägten Kombinationsprozesses in Ihrer Sinneswahrnehmung an Hand des PhiPhänomens ermessen. Dieses Phänomen tritt auf, wenn zwei feststehende Lichtquellen an verschiedenen Stellen ihres Gesichtsfeldes abwechselnd einund ausgeschaltet werden, und zwar etwa vier- oder fünfmal pro Sekunde. Dieser Effekt wird auch in Leuchtreklamen und Lauflichtern bei Discobeleuchtungen eingesetzt. Selbst bei dieser relativ langsamen Wechselrate scheint es, dass sich ein einzelnes Licht zwischen zwei Positionen hin und her bewegt. Man kann sich viele Pfade vorstellen, die von der Position des ersten Punktes zur Position des zweiten Punktes führen. Der menschliche Betrachter sieht normalerweise lediglich den einfachsten Pfad, eine gerade Linie (Cutting & Proffitt, 1982; Shepard, 1984). Diese Regel der geraden Linie ist allerdings außer Kraft gesetzt, wenn Betrachtern verschiedene Ansichten eines sich bewegenden menschlichen Körpers gezeigt werden. In diesem Falle fügt das visuelle System Pfade der normalen biologischen Bewegung ein (Shiffrar, 1994; Stevens et al., 2000).
Binokulare und bewegungsinduzierte Tiefenkriterien Haben Sie sich schon einmal gewundert, warum Sie zwei Augen und nicht nur eines haben? Das zweite Auge ist mehr als nur Ersatz – es liefert einige der besten und faszinierendsten Informationen über die räumliche Tiefe. Die beiden Quellen der binokularen Tiefeninformation sind die retinale Querdisparation und die Konvergenz. Da die Augen in der Horizontalen etwa 5 bis 8 cm auseinander stehen, empfangen sie leicht unterschiedliche Bilder der Welt. Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, dann versuchen Sie folgendes Experiment. Schließen Sie zunächst Ihr linkes Auge und benutzen Sie das rechte, um mit beiden Zeigefingern ein kleines Objekt in der Ferne anzupeilen, so dass sich Ihre Zeigefinger mit dem angepeilten Objekt in einer Linie befinden. Halten Sie dabei den einen Zeigefinger auf Armeslänge, den anderen in etwa 30 cm Entfernung vor Ihr Gesicht. Behalten Sie nun die Position Ihrer Finger bei, schließen Sie das rechte Auge und öffnen Sie das linke, während Sie weiterhin das entfernte Objekt fixieren. Was geschieht mit der Position Ihrer Finger? Das zweite Auge sieht sie nicht mehr in einer Linie mit dem entfernten Objekt, da es ein leicht unterschiedliches Bild erhält.
4.6.5 Wahrnehmung räumlicher Tiefe Bislang haben wir ausschließlich zweidimensionale Muster auf einer ebenen Oberfläche betrachtet. Unsere Wahrnehmung im Alltag beinhaltet allerdings auch Objekte im dreidimensionalen Raum. Die Wahrnehmung aller drei räumlichen Dimensionen ist für uns absolut lebenswichtig, um uns dem zu nähern, wem wir wollen, beispielsweise interessanten Menschen und gutem Essen, und um das zu vermeiden, was gefährlich ist, wie etwa rasende Autos oder herabstürzende Klaviere. Diese Wahrnehmung erfordert genaue Informationen über die räumliche Tiefe (den Abstand zwischen Beobachter und Objekt) sowie über die Richtung zum Beobachter. Unsere Ohren können uns helfen, die Richtung zu bestimmen, aber sie sind keine große Hilfe, um die räumliche Tiefe zu bestimmen. Unsere Interpretation der räumlichen Tiefe beruht auf verschiedenen Informationsquellen über die Distanz (oftmals als Tiefenkriterien bezeichnet) – dazu gehören binokulare, bewegungsinduzierte und monokulare (im einzelnen Abbild selbst enthaltene) Tiefenkriterien.
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Was macht Ihnen deutlich, dass sich der „Protagonist“ dieses Fotos bewegt – und in welche Richtung verläuft die Bewegung?
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
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Diese Verschiebung der horizontalen Positionen korrespondierender Bilder in beiden Augen wird als retinale Querdisparation bezeichnet. Sie liefert Tiefeninformation, weil das Ausmaß an Disparität (oder Ungleichheit) von der relativen Distanz von Objekten zum Betrachter abhängt (씰 Abbildung 4.29). Als Sie beispielsweise eben vom einen Auge auf das andere gewechselt haben, wurde der nahe Finger weiter zur Seite hin versetzt als der entfernte Finger. Wenn Sie die Welt mit beiden Augen gleichzeitig betrachten, dann stimulieren die meisten Objekte, die Sie sehen, unterschiedliche Stellen auf den beiden Netzhäuten. Wenn die Querdisparation zwischen zwei korrespondierenden Abbildern auf beiden Netzhäuten hinreichend klein ist, dann verschmilzt das visuelle System die Bilder zu einer Wahrnehmung eines einzelnen Objekts in räumlicher Tiefe. (Liegen die Bilder allerdings zu weit auseinander, zum Beispiel, wenn Sie versuchen zu schielen, dann sehen Sie tatsächlich beide Bilder). Wenn man kurz darüber nachdenkt, ist es sehr faszinierend, was unser visuelles System tut: Es nimmt zwei retinale Bilder, vergleicht sie in Bezug auf die horizontale Versetzung korrespondierender Teile (binokulare Disparität) und erzeugt eine einheitliche Wahrnehmung eines einzelnen Objekts in räumlicher Tiefe. Das visuelle System interpretiert somit die horizontale Versetzung zwischen zwei Bildern als räumliche Tiefe in der dreidimensionalen Welt. Eine andere binokulare Information über die räumliche Tiefe entspringt der Konvergenz. Die beiden Augen drehen sich etwas nach innen, wenn sie ein Objekt fixieren (씰 Abbildung 4.30). Wenn das Objekt sehr nahe ist – einige Zentimeter vor Ihrem Gesicht –, müssen sich beide Augen recht stark nach innen bewegen, damit auf beide Foveae das gleiche Bild fällt. Sie kön-
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Abbildung 4.29: Retinale Querdisparation. Die retinale Querdisparation nimmt mit dem Abstand zweier Objekte in der räumlichen Tiefe zu.
nen ganz gut beobachten, wie die Augen konvergieren, wenn Sie einen Freund bitten, zunächst ein entferntes Objekt und anschließend ein Objekt in etwa 30 Zentimetern Abstand zu fokussieren. Unser Gehirn nutzt Informationen von unseren Augenmuskeln, um räumliche Tiefe zu beurteilen. Die Konvergenzinformationen der Augenmuskeln sind allerdings nur für die Wahrnehmung räumlicher Tiefen bis etwa 3 Meter nützlich. Bei größeren Distanzen sind die Winkeldifferenzen für eine Auswertung zu klein, da die Augen bei der Fixation eines entfernten Objekts nahezu parallel stehen.
Abbildung 4.30: Konvergenz als Tiefenkriterium. Wenn ein Objekt nahe ist, müssen die Augen stärker konvergieren als bei einem entfernteren Objekt. Unser Gehirn nutzt Informationen der Augenmuskeln, um Konvergenz als Tiefenkriterium einzusetzen.
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Eine weitere Informationsquelle der räumlichen Tiefe ist Bewegung. Versuchen Sie Folgendes: Schließen Sie, wie zuvor, ein Auge und bringen Sie beide Zeigefinger in eine Linie mit einem entfernten Objekt. Drehen Sie dann Ihren Kopf zur Seite, während Sie das entfernte Objekt fixieren und Ihre Finger in der gleichen Position lassen. Wenn Sie Ihren Kopf drehen, dann sehen Sie beide Finger sich bewegen, aber der nähere Finger scheint sich weiter und schneller zu bewegen als der entferntere. Das fixierte Objekt bewegt sich überhaupt nicht. Diese Informationsquelle der räumlichen Tiefe wird als relative Bewegungsparallaxe bezeichnet. Die Bewegungsparallaxe liefert Informationen über die räumliche Tiefe, da bei eigener Bewegung der relative Abstand von Objekten in der Welt das Ausmaß und die Richtung der relativen Bewegung der zugehörigen retinalen Abbilder bestimmt. Wenn Sie das nächste Mal in einem Auto mitfahren, können Sie durch das Fenster die Bewegungsparallaxe in Aktion beobachten. Vom fahrenden Auto weit entfernte Objekte scheinen sich sehr viel weniger zu bewegen als nahe Objekte; die nahen Reflektorpfosten am Straßenrand huschen nur so durchs Gesichtsfeld.
Monokulare Tiefenkriterien Angenommen, Sie könnten nur mit einem Auge sehen. Könnten Sie dann keine räumliche Tiefe wahrnehmen? In der Tat erhalten wir auch Informationen über die räumliche Tiefe von nur einem Auge. Diese Quellen werden als monokulare Tiefenkriterien bezeichnet, da sie aus dem retinalen Abbild eines Auges stammen; gelegentlich werden sie auch als Bildtiefenkriterien bezeichnet, da sie die Art von Informationen über räumliche Tiefe beinhalten, die man in Gemälden findet. Künstler, die auf den zwei Dimensionen einer Leinwand ein Bild mit dreidimensionalem Eindruck schaffen wollen, nutzen die Kriterien der Bildtiefe in gekonnter Weise. Interposition, oder Okklusion, entsteht, wenn ein undurchsichtiges Objekt einen Teil eines anderen Objekts verdeckt (씰 Abbildung 4.31). Interpositionen geben uns Tiefeninformation, da sie anzeigen, dass das verdeckte Objekt weiter entfernt ist als das verdeckende. Verdeckende Oberflächen lassen je nach Beleuchtung auch Schatten entstehen, die als zusätzliche Informationsquelle für räumliche Tiefe genutzt werden können. Drei weitere Quellen von Bildinformationen hängen damit zusammen, wie Licht aus einer dreidimensionalen Welt auf eine zweidimensionale Oberfläche wie die Retina projiziert wird: relative Größe, Linear-
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Abbildung 4.31: Interposition als Tiefenkriterium. Welche visuellen Hinweisreize sagen uns, ob sich diese Frau auch im wörtlichen Sinne hinter Gittern befindet? perspektive und Texturgradienten. Die relative Größe bezieht sich auf eine Grundregel der Lichtprojektion: Objekte gleicher Größe, aber unterschiedlicher Entfernung projizieren Bilder unterschiedlicher Größe auf die Retina. Das naheste Objekt projiziert das größte Bild, das entfernteste das kleinste. Diese Regel wird als Größe-Entfernungs-Relation bezeichnet. Wie in 씰 Abbildung 4.32 dargestellt, interpretieren wir eine Anordnung mit identischen Objekten so, dass die kleineren Objekte weiter entfernt erscheinen. Auch die Linearperspektive als Tiefenkriterium bezieht sich auf die Größe-Entfernungs-Relation. Wenn parallele Linien (die definitionsgemäß überall den gleichen Abstand aufweisen) sich in der Weite verlieren, dann konvergieren sie im retinalen Abbild in einem Punkt des Horizonts (씰 Abbildung 4.33). Die Interpretation konvergierender Linien durch unser visuelles System führt zur Ponzo’schen Wahrnehmungstäuschung (ebenfalls in Abbildung 4.33 dargestellt). Die obere Linie scheint länger zu sein, da wir die beiden konvergierenden Linien an der Seite entsprechend der Linearperspektive als parallele Linien wahrneh-
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
Abbildung 4.32: Nähere Objekte projizieren größere Bilder auf die Retina. Als Ergebnis hiervon interpretieren wir bei gleichartigen Objekten in einer Anordnung die kleineren Objekte als weiter entfernt. men, die sich am Horizont verlieren. In diesem Kontext interpretieren wir die obere Linie so, als wäre sie weiter entfernt, und nehmen sie deshalb als länger wahr – ein entfernteres Objekt müsste länger sein als ein nahes, um auf der Retina ein Abbild gleicher Länge zu erzeugen. Texturgradienten liefern Tiefenkriterien, da die Dichte der Textur einer Oberfläche mit steigender Entfernung anwächst. Das Weizenfeld in 씰 Abbildung 4.34 ist ein Beispiel für die Art und Weise, wie Textur als Tiefenkriterium genutzt wird. Man kann
dies als weitere Konsequenz der Größe-EntfernungsRelation auffassen. In diesem Fall werden die texturbildenden Einheiten mit zunehmender Entfernung kleiner, und unser visuelles System interpretiert diese Verkleinerung des Auflösungsgrads als größere Entfernung im dreidimensionalen Raum. Jetzt sollte deutlich geworden sein, dass es viele Quellen der Tiefeninformation gibt. Unter normalen Bedingungen des Sehens führen die Informationen aus diesen Quellen jedoch zu einer einzigen, kohärenten dreidimensionalen Interpretation der Umgebung. Wir erleben räumliche Tiefe und nicht die einzelnen Hinweise auf die räumliche Tiefe, die der proximale Reiz aufweist. Mit anderen Worten: Unser visuelles System nutzt Kriterien wie unterschiedliche Bewegung, Interposition und relative Größe automatisch und unbewusst, um komplexe Berechnungen auszuführen, die uns die Wahrnehmung räumlicher Tiefe in der dreidimensionalen Umgebung erlauben.
Abbildung 4.34: Beispiele für Texturgradienten als Tiefenkriterium. Das Weizenfeld ist ein natürliches Beispiel dafür, wie Texturgradienten als Tiefenkriterium genutzt werden. Beachten Sie, wie der Weizen mit zunehmender Entfernung enger zusammenrückt.
4.6.6 Wahrnehmungskonstanz
Abbildung 4.33: Die Ponzo-Täuschung. Die konvergierenden Linien fügen eine Tiefendimension hinzu. Der Hinweisreiz der Entfernung lässt daher im oberen Teil der Abbildung den oberen horizontalen Strich länger erscheinen als den unteren, obwohl tatsächlich beide die gleiche Länge besitzen.
Um eine weitere wichtige Eigenschaft der visuellen Wahrnehmung zu entdecken, bitten wir Sie, ein wenig mit dem Lehrbuch herumzuspielen. Legen Sie Ihr Buch auf den Tisch und bewegen Sie Ihren Kopf darauf zu, so dass er nur einige Zentimeter vom Buch entfernt ist. Bewegen Sie Ihren Kopf zurück bis zur normalen Leseentfernung. Haben Sie nicht die Größe des Buches in beiden Fällen als gleich erlebt, obwohl das Buch einen viel größeren Teil Ihrer Retina stimulierte, als Sie mit dem Kopf nahe an dem Buch waren? Stellen Sie das
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Buch nun aufrecht und versuchen Sie, Ihren Kopf nach rechts zu neigen. Wenn Sie dies tun, dann rotiert das Abbild des Buches auf Ihrer Retina entgegengesetzt dem Uhrzeigersinn, aber haben Sie das Buch nicht weiterhin als aufrecht wahrgenommen? Im Allgemeinen sehen wir die Welt als invariant, konstant und stabil, trotz der Veränderungen der Stimulation unserer sensorischen Rezeptoren. Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als Wahrnehmungskonstanz. Grob gesprochen bedeutet dies, dass wir die Eigenschaften des distalen Reizes, die normalerweise konstant sind, wahrnehmen, und nicht die Eigenschaften des proximalen Reizes, die sich mit jeder Bewegung der Augen oder des Kopfes ändern. Für unsere Überlebensfähigkeit ist es entscheidend, dass wir konstante und stabile Eigenschaften der Objekte in der Welt wahrnehmen, trotz des enormen Wechsels der Eigenschaften der Lichtmuster in unseren Augen. Die entscheidende Aufgabe der Wahrnehmung besteht darin, invariante Eigenschaften der Umgebung trotz Veränderungen ihrer retinalen Eindrücke zu entdecken. Wir werden dies für Größe, Form und Ausrichtung näher betrachten.
Größen- und Formkonstanz Was bestimmt die Wahrnehmung der Größe eines Objekts? Zum Teil nehmen wir die tatsächliche Größe eines Objekts auf der Grundlage der Größe des retinalen Abbilds wahr. Allerdings zeigt das Beispiel mit Abbildung 4.35: Der Ames’sche Raum. Der Ames‘sche Raum wurde so konstruiert, dass er durch ein Guckloch mit einem Auge betrachtet wird – von diesem Punkt aus wurden diese Fotos aufgenommen. Die Oberflächen des Ames‘schen Raums sind nicht rechteckig und die Winkel sind schief in Tiefe und Höhe. Betrachtet man den Raum allerdings nur durch das Guckloch, dann interpretiert das visuelle System ihn als einen normalen Raum und gelangt zu ungewöhnlichen Schlussfolgerungen über die relative Größe der darin befindlichen Personen.
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dem Lehrbuch, dass die Größe des retinalen Abbilds sowohl von der tatsächlichen Größe des Buches als auch vom Abstand zu den Augen abhängt. Wie Sie jetzt wissen, sind Informationen über die Entfernung aus einer Vielzahl von Tiefenkriterien verfügbar. Unser visuelles System kombiniert diese Informationen mit retinalen Informationen über die Größe des Abbilds, um zu einer Wahrnehmung der Objektgröße zu gelangen, die üblicherweise mit der tatsächlichen Größe des distalen Reizes korrespondiert. Größenkonstanz bezieht sich auf unsere Fähigkeit, die wahre Größe eines Objekts trotz Veränderungen der Größe seines retinalen Abbilds wahrzunehmen. Wenn die Größe eines Objekts dadurch wahrgenommen wird, dass wir die Entfernungshinweisreize in Betracht ziehen, dann müssten wir über die Größe immer dann irregeführt werden, wenn wir über die Entfernung irregeführt werden. Eine solche Wahrnehmungstäuschung entsteht durch den Ames’schen Raum, den 씰 Abbildung 4.35 zeigt. Im Vergleich zu dem Kind wirkt der Erwachsene ziemlich klein in der linken Ecke dieses Raumes, in der rechten Ecke sieht er jedoch aus wie ein Riese. Der Grund für diese Wahrnehmungstäuschung ist, dass Sie den Raum als rechteckig und die beiden hinteren Ecken gleich weit entfernt wahrnehmen. Sie nehmen somit in beiden Fällen die tatsächliche Größe des Kindes als konsistent mit der Größe der Abbilder auf Ihrer Retina wahr. Tatsächlich steht das Kind jedoch nicht in der gleichen Entfernung, da der Ames’sche Raum eine clevere
4.6 Prozesse der Wahrnehmungsorganisation
Abbildung 4.36: Formkonstanz. Wenn ein Münze rotiert wird, dann wird ihr Bild zu einer immer enger werdenden Ellipse bis hin zu einem dünnen Rechteck, dann wieder zu einer Ellipse und schließlich wieder zu einem Kreis. In jeder Ausrichtung wird sie immer noch als runde Münze wahrgenommen.
Wahrnehmungstäuschung erzeugt. Es scheint ein rechteckiger Raum zu sein, in Wahrheit aber sind die Oberflächen nicht rechteckig und die Winkel sind schief in Tiefe und Höhe, wie sie den Zeichnungen neben den Fotos entnehmen können. Jede Person in der rechten Ecke wird ein größeres retinales Abbild erzeugen, da sie nur halb so weit vom Betrachter entfernt ist wie eine Person in der linken Ecke. (Nebenbei bemerkt, müssen Sie die tatsächliche Anordnung mit einem Auge durch ein Guckloch betrachten, um die Wahrnehmungstäuschung zu erhalten – dies entspricht dem Standpunkt der Kamera, mit der die Fotos von Abbildung 4.35 aufgenommen wurden. Wenn Sie umherlaufen könnten, während Sie sich den Raum betrachten, würde Ihr visuelles System Informationen über die ungewöhnliche Struktur des Raumes erhalten.) Das Wahrnehmungssystem kann auch auf eine weitere Weise die objektive Größe schlussfolgern, indem es auf Vorwissen über die charakteristische Größe von Objekten ähnlicher Form zurückgreift. Wenn wir beispielsweise die Form eines Hauses, Baumes oder Hundes wiedererkennen, dann haben wir eine ganz gute Vorstellung davon, wie groß das Objekt jeweils ist, auch wenn wir die Entfernung nicht kennen. Wenn uns frühere Erfahrungen kein Wissen darüber liefern, wie vertraute Objekte aus extremen Distanzen aussehen, dann kann die Größenkonstanz zusammenbrechen. Sie haben dieses Problem vielleicht schon einmal kennen gelernt, wenn Sie von einem Wolkenkratzer aus auf die Menschen unten in der Straße geblickt haben und dachten, dass sie Ameisen gleichen. Die Formkonstanz ist eng mit der Größenkonstanz verbunden. Wir nehmen die tatsächliche Form eines Objekts korrekt wahr, auch wenn das Objekt schräg vor uns steht und sich die Form des retinalen Abbilds dadurch wesentlich von der Form des Objekts selbst unterscheidet. Ein leicht nach hinten gedrehtes Rechteck beispielsweise projiziert ein Trapezoid auf die Retina; ein nach hinten gedrehter Kreis projiziert ein el-
liptisches Abbild (씰 Abbildung 4.36). Wir nehmen allerdings üblicherweise die Formen korrekt als Rechteck und Kreis wahr, die im Raum gedreht stehen. Wenn hinreichend Tiefeninformation verfügbar ist, dann kann unser visuelles System die wahre Form eines Objekts bestimmen, indem es einfach unserer Entfernung zu den verschiedenen Teilen des Objekts Rechnung trägt.
Helligkeitskonstanz Betrachten Sie die 씰 Abbildung 4.37. Wenn Sie das Bild dieser Steinmauer betrachten, dann werden Sie nicht einige Steine als hellrot und andere als dunkelrot wahrnehmen – stattdessen nehmen wir dies als Mauer wahr, in der alle Steine gleich hell oder dunkel sind, nur einige von ihnen liegen im Schatten (Goldstein, 1999). Dies ist eine Beispiel für Helligkeitskonstanz: die Tendenz, die Weiß-, Grau- und Schwarztöne von Objekten als konstant gegenüber unterschiedlichen Beleuchtungsstufen wahrzunehmen. Wie auch bei den anderen Konstanzphänomenen, die wir beschrieben haben, begegnen wir der Helligkeitskonstanz im Alltag recht häufig. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie tragen ein weißes T-Shirt und
Abbildung 4.37: Helligkeitskonstanz. Die Helligkeitskonstanz hilft zu erklären, warum alle Steine der Mauer aus dem gleichen Material gemacht erscheinen.
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gehen von einem mäßig beleuchteten Raum hinaus in einen sonnendurchfluteten Tag. In der hellen Sonne reflektiert das T-Shirt weitaus mehr Licht in Ihre Augen als in dem düsteren Raum, trotzdem erscheint das T-Shirt Ihnen in beiden Kontexten ungefähr gleich hell. Tatsächlich ist hier die Helligkeitskonstanz am Werke, da der relative Prozentanteil an Licht, das ein Objekt reflektiert, in beiden Fällen der gleiche ist, auch wenn sich die Absolutmenge von Licht geändert hat. Ihr strahlend weißes T-Shirt wird etwa 80 bis 90 Prozent des jeweils verfügbaren Lichts reflektieren; Ihre schwarzen Jeans reflektieren etwa 5 Prozent des verfügbaren Lichts. Daher – wenn Sie beides im gleichen Kontext betrachten – wird das T-Shirt immer heller aussehen als die Jeans. In diesem Abschnitt haben wir einige Organisationsprozesse der Wahrnehmung beschrieben. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels betrachten wir Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens, die den Objekten und Ereignissen in der Umwelt Bedeutung verleihen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist mit reizinduzierter Vereinnahmung gemeint? 2 Was besagt das Gesetz der Geschlossenheit? 3 Welche visuellen Informationen lassen Sie erkennen,
dass ein Mann auf sie zukommt? 4 Wie funktioniert Konvergenz als Tiefenkriterium? 5 Was ist Formkonstanz?
KRITISCHES DENKEN: Warum ist die Leistung der Probanden im Experiment zur Wechselblindheit am besten, wenn sich die Anordnung der Gegenstände ändert?
Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens
4.7
Wir können alle bislang beschriebenen Wahrnehmungsprozesse so verstehen, dass sie uns hinreichend genaues Wissen über die physikalischen Eigenschaften des distalen Reizes geben – die Position, Größe, Form, Textur und Farbe von Objekten in der dreidimensionalen Umgebung. Allerdings wüssten Sie bislang noch nicht, was das für Objekte sind und ob Sie sie zuvor schon einmal gesehen haben. Ihr Erleben würde einem Besuch auf einem fremden Planeten gleichen, wo alles neu für Sie wäre; Sie wüssten nicht, was Sie essen dürften, was Sie sich auf den Kopf setzen könnten, wovor Sie davonrennen oder mit wem Sie sich verab-
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reden sollten. Ihre Umwelt kommt Ihnen nicht fremdartig vor, da Sie die meisten Objekte wiedererkennen und identifizieren können als etwas, das sie zuvor schon einmal gesehen haben, und als Mitglieder bedeutungsvoller Kategorien, die sie aus der Erfahrung kennen. Identifikation und Wiedererkennen verleiht den Perzepten Bedeutung.
4.7.1 Bottom-up- und Top-downProzesse Wenn wir ein Objekt identifizieren, dann müssen wir das Gesehene mit dem gespeicherten Wissen in Übereinstimmung bringen. Das Aufnehmen sensorischer Daten aus der Umwelt und die Weiterleitung zum Gehirn, um relevante Informationen zu extrahieren und zu analysieren, wird als Bottom-up-Verarbeitung bezeichnet. Die Bottom-up-Verarbeitung ist in der empirischen Realität verankert und beschäftigt sich mit Informationsbestandteilen und der Transformation konkreter, physikalischer Reizmerkmale in abstrakte Repräsentationen. Diese Art der Verarbeitung wird auch als datengesteuerte Verarbeitung bezeichnet, da der Ausgangspunkt der Identifikation in der sensorischen Evidenz, die wir aus der Umwelt erhalten – den Daten –, liegt. In vielen Fällen können wir für die perzeptuelle Identifikation allerdings auch Informationen nutzen, die wir bereits über die Umwelt besitzen. Wenn wir beispielsweise einen Zoo besuchen, dann ist unsere Bereitschaft, einige Tierarten wiederzuerkennen, wahrscheinlich etwas größer als sonst. Wir werden mit größerer Wahrscheinlichkeit die Hypothese aufstellen, dass es sich bei dem Gesehenen um einen Tiger handelt, als wenn wir uns im eigenen Garten befinden würden. Das Phänomen, dass unsere Erwartungen die Wahrnehmung beeinflussen, wird als Top-down-Verarbeitung bezeichnet. Die Top-down-Verarbeitung beteiligt unsere Erfahrungen, unser Wissen, unsere Motive und den kulturellen Hintergrund bei der Wahrnehmung der Welt. Bei der Top-down-Verarbeitung beeinflussen höhere mentale Prozesse, wie wir Objekte und Ereignisse verstehen. Sie wird auch als konzeptgesteuerte (oder hypothesengesteuerte) Verarbeitung bezeichnet, da die Konzepte in unserem Gedächtnis die Interpretation der sensorischen Daten beeinflussen. Die Bedeutsamkeit der Top-down-Verarbeitung kann durch Zeichnungen, die als Drudel (Price, 1953/ 1980) bekannt wurden, veranschaulicht werden. Ohne die Bezeichnungen scheinen diese Zeichnungen keine Bedeutung zu besitzen. Sind die Zeichnungen aber
4.7 Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens
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Abbildung 4.38: Drudel. Um welche Tiere handelt es sich? Sehen Sie in (A) den frühen Vogel, der einen besonders starken Wurm gefangen hat, und in (B) den Hals einer Giraffe? Jede dieser Zeichnungen kann so verstanden werden, dass sie etwas Vertrautes zeigt, obwohl das perzeptuelle Wiedererkennen üblicherweise nicht eintritt, bevor Informationen zur Identifikation gegeben werden.
erst einmal identifiziert, dann findet man leicht Bedeutung in ihnen (씰 Abbildung 4.38). Für eine genauere Betrachtung von Top-down- versus Bottom-up-Verarbeitung wenden wir uns einem Beispiel aus dem Bereich der Sprachwahrnehmung zu. Sicherlich kennen Sie die Erfahrung, den Versuch zu unternehmen, auf einer lauten Party eine Unterhaltung zu führen. Unter diesen Umständen ist es sehr gut möglich, dass nicht alle von Ihnen produzierten physikalischen Signale ohne Mehrdeutigkeiten am Ohr Ihres Bekannten ankommen: Einiges von dem, was Sie gesagt haben, wurde mit großer Wahrscheinlichkeit durch Husten, das Stampfen der Musik oder lautes Gelächter maskiert. Dennoch bemerken Menschen selten, dass Lücken im erlebten physikalischen Signal aufgetreten sind. Dieses Phänomen wird als Phonemergänzungseffekt (Warren, 1970) bezeichnet. Wie wir in Kapitel 10 genauer darstellen werden, sind Phoneme die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit einer Sprache; Phonemergänzung tritt dann auf, wenn Menschen Top-down-Verarbeitung nutzen, um fehlende Phoneme aufzufüllen. Hörer finden es oftmals schwierig zu entscheiden, ob sie ein Wort hören, bei dem ein Geräusch einen Teil des Sprachsignals komplett ersetzt, oder ob sie ein Wort hören, bei dem das Geräusch lediglich über das intakte Sprachsignal gelegt wurde (siehe Teil A der 씰 Abbildung 4.39) (Samuel, 1981, 1991). Teil B der Abbildung 4.39 zeigt, wie Bottom-upund Top-down-Prozesse interagieren könnten, um die Phonemergänzung zu erzeugen (McClelland & Elman, 1986). Angenommen, ein Teil dessen, was Ihr Freund auf der lauten Party sagte, war maskiert, und was an
Ihren Ohren anlangte war: „Ich muss nach Hause gehen, weil mein (Geräusch)und noch Gassi gehen muss.“ Wenn ein Geräusch das /h/ überdeckt, dann werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit glauben, das ganze Wort „Hund“ gehört zu haben. Warum aber? In Abbildung 4.39 sehen Sie zwei Arten von Informationen, die für die Sprachwahrnehmung wichtig sind. Wir haben die einzelnen Laute als Bestandteile der Wörter und die Wörter als Ganze. Wenn die Laute /u/, /n/ und /d/ dieses System erreichen, dann liefern sie Informationen – Bottom-up-Verarbeitung – an die Wortebene (wir haben hier nur einen kleinen Ausschnitt der Wörter mit der Endung /und/ dargestellt). Diese Information gibt uns einige Möglichkeiten dafür, was Ihr Freund gesagt haben könnte. Jetzt beginnen Top-down-Prozesse zu arbeiten – der Kontext hilft, dass Sie „Hund“ als das wahrscheinlichste Wort auswählen, das in dieser Äußerung enthalten war. Geschieht dies alles schnell genug – die Bottom-up-Identifikation einer Anzahl von Wortkandidaten und die Top-down-Auswahl des wahrscheinlich korrekten Kandidaten –, werden Sie nie bemerken, dass das /h/ fehlte. Die Wahrnehmungsprozesse lassen uns glauben, dass das Wort völlig intakt war (Samuel, 1997). Wenn Sie sich das nächste Mal in einer lauten Umgebung befinden, werden Sie sich vielleicht glücklich schätzen, dass Ihre Wahrnehmungsprozesse so effektiv die Laute ergänzen.
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Abbildung 4.39: Phonemergänzung. (A) Hörer sollen angeben, ob ein Geräusch über eine Silbe gelegt wurde oder die Silbe ersetzt hat. Auch wenn Laute durch ein Geräusch vollständig ersetzt werden, „hören“ die Zuhörer aufgrund der Phonemergänzung die fehlende Information. (B) In diesem Beispiel maskierte ein Geräusch den Laut /h/, als der Freund „Hund“ sagte. Ausschließlich auf der Grundlage des Inputs aus der Umgebung kann Ihr Wahrnehmungssystem mehrere Hypothesen aufstellen: Hund, Mund, Schund usw. Die Top-downInformation aus dem Kontext – „Ich muss nach Hause … Gassi…“ – unterstützt die Hypothese, dass Ihr Freund „Hund“ sagte.
4.7.2 Der Einfluss von Kontext und Erwartungen Zu Anfang dieses Kapitels haben wir festgestellt, dass die Außenwelt Ihnen oft mehrdeutige Informationen liefert. Betrachten Sie 씰 Abbildung 4.40: Was sehen Sie darin? Angenommen, wir sagen Ihnen, es handele sich um einen Blick in den Hof des Nachbarn, mit einem Baum, um den herum sein Dalmatiner oft schnüffelt – können Sie den Hund jetzt erkennen? (Seine Nase ist ungefähr in der Mitte des Bildes.) Dies ist ein weiterer Top-down-Aspekt der Wahrnehmung: Kontext und Erwartungen können die Hypothesen beeinflussen, was sich da draußen in der Welt befinden mag. Sie kennen dies wahrscheinlich: Sie treffen jemanden, den Sie kennen, jedoch an einem Ort, an dem Sie ihn nicht erwartet hätten, wie beispielsweise in einer anderen Stadt oder in einer anderen sozialen Gruppe. Man braucht viel länger, um diese Person in solchen Situationen wiederzuerkennen, und manchmal ist man sich nicht einmal sicher, ob man sie über-
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haupt kennt. Das Problem besteht nicht darin, dass sie irgendwie anders aussähe, sondern dass der Kontext unpassend ist; Sie haben die Person dort nicht erwartet. Der räumliche und zeitliche Kontext, in dem Objekte erkannt werden, stellt eine wichtige Informationsquelle dar, da wir aus dem Kontext Erwartungen
Abbildung 4.40: Ein mehrdeutiges Bild. Was sehen Sie auf diesem Bild?
4.7 Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens
darüber generieren, welche Objekte wir gleich sehen werden und welche nicht. Die perzeptuelle Identifikation hängt von den Erwartungen wie auch von den physikalischen Eigenschaften der gesehenen Objekte ab – Objektidentifikation ist ein konstruktiver, interpretativer Prozess. In Abhängigkeit davon, was Sie schon wissen, wo Sie sich befinden und was Sie noch um sich herum sehen, kann Ihre Identifikation variieren. Lesen Sie die folgenden Wörter:
Sie lauten: DAS OHR – richtig? Betrachten Sie nochmals den jeweils mittleren Buchstaben in beiden Wörtern. Physikalisch sind diese beiden Buchstaben exakt gleich, dennoch nehmen wir den ersten als A und den zweiten als H wahr. Warum? Natürlich wurde Ihre Wahrnehmung durch Ihr Wissen über deutsche Wörter beeinflusst. Der von D_S gelieferte Kontext machte ein A sehr wahrscheinlich und ein H unwahrscheinlich, während das Gegenteil für den Kontext O_R gilt (Selfridge, 1955). Die Forscher haben die Effekte von Kontext und Erwartungen auf die Wahrnehmung (und die Reaktionen) oftmals am Beispiel von Setbildungen untersucht. Ein Set ist eine Voreinstellung, eine vorübergehende erhöhte Bereitschaft, Reize in einer bestimmten Art und Weise wahrzunehmen oder auf sie zu reagieren. Es werden drei Formen von Sets unterschieden: motorische, mentale und perzeptuelle Sets. Ein motorisches Set ist die erhöhte Bereitschaft, eine schnelle und vorbereitete Reaktion auszuführen. Ein Sprinter trainiert beispielsweise, um sein motorisches Set zu perfektionieren, auf den Startschuss hin möglichst schnell aus den Startblöcken zu kommen. Ein mentales Set ist die erhöhte Bereitschaft, mit einer Situation wie etwa einer Problemlöseaufgabe oder einem Spiel so umzugehen, wie gelernte Regeln, Instruktionen, Erwartungen oder Gewohnheiten es nahe legen. Ein mentales Set kann Sie allerdings auch von der Lösung eines Problems abhalten, wenn die alten Regeln auf die neue Situation nicht zu passen scheinen, wie wir in Kapitel 9 im Zusammenhang mit dem Problemlösen sehen werden. Ein perzeptuelles Set ist die erhöhte Bereitschaft, einen bestimmten Reiz in einem gegebenen Kontext zu entdecken. Eine junge Mutter beispielsweise kann ein perzeptuelles Set ausbilden, das Schreien ihres Kindes wahrzunehmen.
Oftmals führt ein Set zu einer Veränderung der Interpretation eines mehrdeutigen Reizes. Lesen Sie diese beiden Wortfolgen: KATZE; MAUS; VOGEL; FISCH; HAMSTER; H?ND BEIN; KOPF; ARM; KNIE; SCHULTER; H?ND Welches Wort kam Ihnen für H?ND jeweils in den Sinn? Wenn Sie an HUND und HAND gedacht haben, dann ist dies daher geschehen, weil die Wortlisten ein Set erzeugt haben, das die Suche in Ihrem Gedächtnis in eine ganz bestimmte Richtung lenkte. Alle Effekte des Kontextes auf die Wahrnehmung erfordern zweifelsohne eine Organisation des Gedächtnisses auf eine solche Art und Weise, dass die in einer bestimmten Situation relevanten Informationen zur richtigen Zeit verfügbar werden. Mit anderen Worten: Um eine angemessene (oder unangemessene) Erwartung zu generieren, müssen wir unser im Gedächtnis gespeichertes Vorwissen nutzen. Manchmal „sehen“ wir mit dem Gedächtnis ebenso viel wie mit den Augen. In Kapitel 7 werden wir die Eigenschaften des Gedächtnisses diskutieren, die Kontexteffekte bei der Wahrnehmung ermöglichen.
4.7.3 Abschließende Bemerkungen Um alles, was Sie in diesem Kapitel gelernt haben, zu festigen, sollten Sie zu Abbildung 4.2 zurückzukehren – Sie besitzen nun das benötigte Wissen, um die gesamte Abbildung zu verstehen. Die Inspektion von Abbildung 4.2 wird auch die wichtige Lektion, die es bei der Beschäftigung mit der Wahrnehmung zu lernen gilt, unterstreichen: Eine Wahrnehmungserfahrung als Reaktion auf ein Reizereignis ist eine Reaktion der ganzen Person. Zusätzlich zu den gelieferten Informationen, die durch Stimulation der sensorischen Rezeptoren entstehen, hängt unsere letztliche Wahrnehmung davon ab, wer wir sind, wer um uns ist und was wir erwarten, wollen und wertschätzen. Ein Wahrnehmender findet sich oftmals in zwei Rollen wieder, die wir mit einem Glücksspieler und einem Innendesigner vergleichen können. Als Glücksspieler möchte der Wahrnehmende darauf wetten, dass der momentane Input im Rahmen des Vorwissens und der persönlichen Theorien erklärt werden kann. Als ein rastloser Innendekorateur arrangiert der Wahrnehmende die Reize ständig um, so dass sie besser zueinander passen und kohärenter sind. Inkongruente und ungeordnete Wahrnehmungen werden zugunsten von solchen mit
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klaren, sauberen und konsistenten Linien zurückgewiesen. Wäre die Wahrnehmung vollständig durch Bottomup-Prozesse bestimmt, dann wären wir an die irdische, konkrete Realität des Hier und Jetzt gebunden. Wir könnten zwar Erfahrungen sammeln, allerdings bei späteren Gelegenheiten keinen Gebrauch von ihnen machen, noch könnten wir die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Wäre die Wahrnehmung vollständig durch Top-down-Prozesse bestimmt, dann könnten wir uns verlieren in unserer eigenen Fantasiewelt der Erwartungen und Hoffnungen darüber, was wir wahrnehmen wollen. Eine gute Balance zwischen beiden Extremen bringt uns dem grundlegenden Ziel der Wahrnehmung am nächsten – dem
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Erleben dessen, was draußen ist, auf eine Art und Weise, die unseren Bedürfnissen als biologische und soziale Wesen, die sich umher bewegen und sich an ihre physikalische und soziale Umwelt anpassen, am besten entspricht. Akkommodation S. 118
ZWISCHENBILANZ 1 Warum ist Phonemergänzung ein Beispiel für Top-
down-Verarbeitung? 2 Welches Verhältnis besteht zwischen Kontext und
Erwartungen? 3 Was ist ein Set?
Schlüsselbegriffe
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Sensorische Prozesse, Organisation, Identifikation und Wiedererkennen Wahrnehmung ist ein dreistufiger Prozess, der aus der sensorischen Stufe, der Stufe der perzeptuellen Organisation und der Stufe der Identifikation und des Wiedererkennens besteht. Auf der sensorischen Ebene der Verarbeitung wird physikalische Energie bemerkt und in neuronale Energie und sensorische Erfahrungen umgewandelt. Auf der Ebene der Wahrnehmungsorganisation organisieren perzeptuelle Prozesse die Empfindungen zu einem kohärenten Ganzen und liefern uns die Wahrnehmung von Objekten und Mustern. Auf der Ebene der Identifikation und des Wiedererkennens werden Perzepte der Objekte mit Gedächtnisrepräsentationen verglichen, um als vertraute und bedeutungsvolle Objekte erkannt zu werden. Die Aufgabe der Wahrnehmung besteht darin, aus den Informationen des proximalen (sensorischen) Reizes den distalen (externen) Reiz zu bestimmen. Mehrdeutigkeit kann entstehen, wenn dieselbe sensorische Information zu unterschiedlichen Perzepten reorganisiert werden kann. Wissen über Wahrnehmungstäuschungen kann Aufschlüsse über normale Wahrnehmungsprozesse geben.
Sensorisches Wissen über die Welt Die Psychophysik erforscht die psychischen Reaktionen auf physikalische Stimuli. Es werden Absolutschwellen und eben merkliche Unterschiede zwischen Stimuli gemessen. Die Signalentdeckungstheorie erlaubt die Unterscheidung zwischen Reizempfindlichkeit (Sensitivität) und Entscheidungsverhalten. Die Psychophysik erfasst die Beziehung zwischen physikalischer Intensität und psychischem Effekt mithilfe mathematischer Funktionen. Sensorische Prozesse übersetzen durch Transduktion die physikalische Energie eines Reizes in einen neuronalen Code.
Das visuelle System Photorezeptoren in der Retina, die Stäbchen und Zapfen, übertragen Lichtenergie in neuronale Impulse.
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Die Ganglienzellen in der Retina integrieren Input von Rezeptoren und Bipolarzellen. Ihre Axone bilden die Sehnerven, die sich im optischen Chiasma kreuzen. Die visuellen Informationen werden an unterschiedliche Areale des Gehirns geleitet, die unterschiedliche Aspekte der visuellen Umgebung verarbeiten (beispielsweise wie Dinge aussehen und wo sie sich im Raum befinden). Die Wellenlänge des Lichts dient als Reiz zur Farbwahrnehmung. Farbempfindungen unterscheiden sich in Farbwert, Sättigung und Helligkeit. Die theoretische Beschreibung des Farbensehens verbindet die trichromatische Theorie der drei Farbrezeptoren mit der Gegenfarbentheorie, nach der das Farbsystem aus jeweils entgegengesetzten Elementen besteht.
Hören Das Hören entsteht durch Schallwellen unterschiedlicher Frequenz, Amplitude und Komplexität. In der Cochlea werden Schallwellen in ein flüssiges Medium übertragen, das die Basilarmembran schwingen lässt. Haare auf der Basilarmembran erzeugen neuronale Impulse, die an den auditiven Cortex gesendet werden. Die Ortstheorie erklärt am besten die Codierung hoher Frequenzen, die Zeittheorie (Frequenztheorie) am besten die Codierung tiefer Frequenzen. Um die Richtung, aus der ein Schall eintrifft, zu bestimmen, berechnen zwei neuronale Mechanismen die relative Intensität und die Zeitdifferenz, mit welcher der Schall auf jedes Ohr auftrifft.
Die weiteren Sinne Geruchs- und Geschmackssinn reagieren auf chemische Eigenschaften von Substanzen und arbeiten zusammen, wenn Menschen Nahrung suchen und Speisen kosten. Die Geruchsempfindung nimmt ihren Ursprung in geruchsempfindlichen Zellen tief in den Nasengängen. Die Geschmacksrezeptoren sind Geschmacksknospen, welche sich in Papillen, überwiegend auf der Zunge, befinden. Die Hautsinne erzeugen Empfindungen von Druck und Temperatur.
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Der Gleichgewichtssinn liefert Informationen über die Richtung und Geschwindigkeit von Körperbewegungen.
Perzeptuelle Prozesse integrieren sowohl über die Zeit als auch über den Raum, um Interpretationen der Umgebung zu liefern.
Der kinästhetische Sinn liefert Informationen über die Lage von Körperteilen und hilft, Bewegungen zu koordinieren. Schmerz ist die Reaktion des Körpers auf potenziell schädigende Reize.
Binokulare, Bewegungs- und monokulare Hinweisreize dienen der Tiefenwahrnehmung. Wir neigen dazu, Objekten eine stabile Größe, Form und Helligkeit zuzuschreiben.
Prozesse der Identifikation und des Wiedererkennens
Die physiologische Reaktion auf Schmerz besteht aus sensorischen Reaktionen an der Kontaktstelle mit dem Schmerz auslösenden Reiz und Nervenimpulsen zwischen Gehirn und Rückenmark.
Auf der letzten Stufe der perzeptuellen Verarbeitung – Identifikation und Wiedererkennen von Objekten – wird Perzepten durch Prozesse, die Bottom-up- und Top-down-Einflüsse kombinieren, Bedeutung zugeschrieben.
Prozesse der perzeptuellen Organisation Sowohl eigene Ziele als auch Eigenschaften der Objekte in der Umwelt bestimmen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren.
Kontext, Erwartungen und perzeptuelle Sets können das Erkennen unvollständiger oder mehrdeutiger Daten bei ansonsten gleichwertigen Alternativen in die eine oder andere Richtung lenken.
Die Gestaltpsychologen steuerten mehrere Gesetze der perzeptuellen Gruppierung bei. Diese umfassen das Gesetz der Nähe, der Ähnlichkeit, der guten Fortsetzung, der Geschlossenheit und des gemeinsamen Schicksals.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Amakrinzellen (S. 122) Auditiver Cortex (S. 132) Aufmerksamkeit (S. 141) Basilarmembran (S. 132) Bipolarzellen (S. 121) Bottom-up-Verarbeitung (S. 152) Bulbus olfactorius (S. 135) Cochlea (S. 132) Dichotisches Hören (S. 143) Distaler Reiz (S. 110) Dunkeladaptation (S. 121) Eben merklicher Unterschied (EMU) (S. 117) Empfindung (S. 108) Erogene Zonen (S. 137) Farbwert (S. 126) Figur (S. 143) Filter-Kontrolltheorie (S. 139) Formkonstanz (S. 151) Fovea (S. 121) Ganglienzellen (S. 121) Gegenfarbentheorie (S. 128) Gestaltpsychologie (S. 143) Gleichgewichtssinn (S. 138) Größenkonstanz (S. 150) Grund (S. 143) Hautsinne (S. 137) Helligkeit (S. 126) Helligkeitskonstanz (S. 151) Horizontalzellen (S. 122) Hörnerv (S. 132) Identifikation und Wiedererkennen (S. 108) Kinästhetischer Sinn (S. 138) Klangfarbe (S. 131) Komplementärfarben (S. 127) Konvergenz (S. 147) Lautheit (S. 130) Mehrdeutigkeit (S. 111) Ortstheorie (S. 133) Perzeptuelle Organisation (S. 108) Phasenkopplung (S. 133) Pheromone (S. 135)
Phi-Phänomen (S. 146) Photorezeptoren (S. 121) Proximaler Reiz (S. 110) Psychometrische Funktion (S. 115) Psychophysik (S. 114) Reizinduzierte Vereinnahmung (S. 141) Relative Bewegungsparallaxe (S. 148) Response Bias (S. 116) Retina (Netzhaut) (S. 121) Retinale Querdisparation (S. 147) Rezeptives Feld (S. 123) Sättigung (S. 126) Schalllokalisierung (S. 134) Schmerz (S. 139) Sehnerv (S. 122) Sensorische Adaptation (S. 116) Set (S. 155) Signalentdeckungstheorie (SET) (S. 116) Sinnesrezeptoren (S. 119) Stäbchen (S. 121) Tonhöhe (S. 130) Top-down-Verarbeitung (S. 152) Transduktion (S. 119) Trichromatische Theorie (Dreifarbentheorie) (S. 128) Unterschiedsschwelle (S. 117) Visueller Cortex (S. 122) Wahrnehmung (S. 108) Wahrnehmungskonstanz (S. 150) Wahrnehmungstäuschung (S. 112) Weber’sches Gesetz (S. 117) Zapfen (S. 121) Zeittheorie (S. 133) Zielgesteuerte Wahl (S. 141)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Bewusstsein und Bewusstseinsveränderungen 5.1.1 „Gewahr“-Sein und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Erforschung der Bewusstseinsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Die Funktionen des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Der Nutzen des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Erforschung der Funktionen des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . .
5.3 Schlaf und Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.3.1 Zirkadianer Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Der Schlafzyklus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Warum schlafen wir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Träume: Kino im Kopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Bekommen Sie ausreichend Schlaf?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.4 Veränderte Bewusstseinszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Luzide Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Religiöse Ekstase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.5 Bewusstseinsverändernde Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5.5.1 Abhängigkeit und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Die Bandbreite psychoaktiver Substanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Ist Ecstasy schädlich für das Gehirn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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Ü B E R B L I C K
5.1 Die Inhalte des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B e wu sst sei n u n d Bewu sstsei n sve r ä nde r ung e n
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evor Sie dieses Kapitel lesen, halten Sie einen Moment inne und denken Sie an ein wichtiges Ereignis in Ihrer Vergangenheit; denken Sie nun daran, was Sie für morgen oder übermorgen geplant haben. Woher kommen diese Erinnerungen und Projektionen in die Zukunft, und wo kommen sie an? Obwohl wir offensichtlich eine ungeheure Menge an Informationen in unserem Gehirn gespeichert haben, ist es unwahrscheinlich, dass Sie diese Gedanken, zu denen wir Sie angeregt haben, im „Kopf“ hatten, als Sie dasaßen und diesen Text lasen. Es wird Ihnen reichen zu sagen, dass diese Gedanken Ihnen in den Sinn kamen – und dass sie aus einem Teil Ihres Gehirns kamen, der Ihnen in diesem Augenblick nicht bewusst war. Doch wie kamen Ihnen diese speziellen Gedanken in den Sinn? Dachten Sie gerade an verschiedene Erinnerungen oder Möglichkeiten in der Zukunft? War Ihnen bewusst, eine Wahl getroffen zu haben? Oder tauchten die Gedanken irgendwie auf – über irgendwelche unbewussten Vorgänge? Diese Fragen gewähren Ihnen einen Überblick über die Hauptthemen von Kapitel 5, in dem wir uns vor allem folgende Fragen stellen: Was ist Bewusstsein? Was sind die Inhalte unseres Bewusstseins? Warum brauchen wir das Bewusstsein? Können unbewusste mentale Ereignisse tatsächlich unsere Gedanken, Emotionen und unser Verhalten beeinflussen? Wie verändert sich das Bewusstsein im Laufe des TagNacht-Rhythmus, und wie kann man absichtlich den Bewusstseinszustand ändern? Die Psychologin oder der Psychologe in Ihnen sollte auch wissen wollen, wie die unterschiedlichen Aspekte der mentalen Vorgänge wissenschaftlich untersucht werden können. Wie kann man das Innere nach außen kehren, wie das Ureigene offen legen und wie subjektive Erfahrungen präzise messen? Unsere Analyse wird mit der Untersuchung von Inhalten und Funktionen des Bewusstseins beginnen. Dabei werden wir den menschlichen Geist näher beleuchten. Wir werden ein uraltes Problem für Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler verstehen lernen: In welcher Beziehung stehen Gehirn und Geist zueinander? Dann werden wir zu normalen mentalen Veränderungen wechseln, die wir alle erfahren, während wir unseren Tagträumen und Fantasien nachhängen, schlafen oder träumen. Schließlich sehen wir uns an, wie sich das Bewusstsein aufgrund von Hypnose, Meditation, religiösen Ritualen oder Drogen drastisch ändert.
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Die Inhalte des Bewusstseins
5.1
Wir müssen damit beginnen, dass der Begriff Bewusstsein zweideutig ist. Wir gebrauchen diesen Begriff für einen allgemeinen Geisteszustand oder für spezielle Inhalte des Geistes: Bisweilen verwenden wir „bei Bewusstsein“ im Gegensatz zu „bewusstlos“ (zum Beispiel während der Narkose oder des Schlafes); dann wieder sagen wir, uns seien bestimmte Informationen oder Ereignisse bewusst. Hierin liegt tatsächlich eine gewisse Konsistenz – um sich einer speziellen Information bewusst zu sein, muss man bei Bewusstsein sein. In diesem Kapitel sprechen wir über die Inhalte des Bewusstseins, also über die Menge an Informationen, derer wir uns bewusst sind.
5.1.1 „Gewahr“-Sein und Bewusstsein Einige der ersten Forschungen in der Psychologie befassten sich mit den Inhalten des Bewusstseins. Als sich die Psychologie im 19. Jahrhundert allmählich von der Philosophie löste, wurde sie zur Wissenschaft mentaler Vorgänge. Wundt und Titchener bedienten sich der Introspektion, um die Inhalte des bewussten Geistes zu untersuchen. William James beobachtete seine eigenen Bewusstseinsströme (siehe Kapitel 1). Tatsächlich definierte James auf der ersten Seite seines klassischen Textes Psychologie aus dem Jahre 1892 die Psychologie als „die Beschreibung und Erklärung des Bewusstseins als solches“. Normales Wachbewusstsein umfasst unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Wünsche zu einem gegebenen Zeitpunkt – all die mentalen Aktivitäten, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Uns ist bewusst, was wir tun, und auch, dass wir eben dieses tun. Zeitweise ist uns bewusst, dass andere Menschen das beobachten und werten, was wir tun, und darauf reagieren. Eine Idee vom Selbst erwächst aufgrund der Erfahrung der Selbstbeobachtung aus dieser privilegierten „Insider“-Position heraus. Alles in allem bilden diese unterschiedlichen mentalen Vorgänge die Inhalte des Bewusstseins – all die Erfahrungen, deren wir uns zu einer bestimmten Zeit bewusst sind (Natsoulas, 1998). Wir haben die allgemeinen Arten von Informationen definiert, die zu einer bestimmten Zeit und zu einem bestimmen Ort bewusst sein können, aber was bestimmt die Bewusstseinsinhalte in diesem Augenblick? Waren Sie sich beispielsweise gerade bewusst,
5.1 Die Inhalte des Bewusstseins
mung bewusst zu kontrollieren. Dennoch nimmt unser Nervensystem viele wichtige Funktionen wahr, ohne das Bewusstsein dafür in Anspruch zu nehmen. Vorbewusste Gedächtnisinhalte Gedächtnisinhalte, die dem Bewusstsein nur dann zugänglich sind, wenn unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, bezeichnet man als vorbewusste Gedächtnisinhalte. Der Gedächtnisspeicher ist mit einer unglaublichen Menge an Informationen gefüllt: unser allgemeines Wissen über Sprache, Sport, Geografie (um nur einige Beispiele zu nennen) sowie vielfältige Erinnerungen an persönliche Erlebnisse. Vorbewusste Gedächtnisinhalte laufen still im Hintergrund ab, bis es in einer Situation notwendig wird, dass sie einem bewusst werden (beispielsweise als wir Sie aufforderten, sich ein besonderes Erlebnis aus der Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen). Das Gedächtnis wird in Kapitel 7 detailliert behandelt werden. Warum ist das Bewusstsein seiner selbst ein so wichtiger Aspekt des Bewusstseins? dass Sie atmen? Wahrscheinlich nicht; solche Prozesse bedürfen keiner bewussten Kontrolle. Dachten Sie an Ihren letzten Urlaub oder an den Autor von Hamlet? Wahrscheinlich auch nicht; solche Gedanken sind Teil des vorbewussten Gedächtnisses. Haben Sie Hintergrundgeräusche wie das Ticken der Uhr, den Verkehr oder das Brummen von Neonröhren wahrgenommen? Es wäre schwierig, auf all dies zu achten und trotzdem die gesamte Aufmerksamkeit auf den Inhalt dieses Kapitels zu richten; diese Reize sind Teil der unbeachteten Information. Schließlich kann es Informationen geben, die unbewusst – und dem Bewusstsein auch kaum zugänglich – sind, wie die grammatischen Regeln, die Sie befähigen, diesen Satz zu verstehen. Betrachten wir diese Bewusstseinstypen nun der Reihe nach.
Unbeachtete Informationen Wir sind ständig von einer ungeheuren Menge an stimulierenden Reizen, potenziellen Informationen, umgeben. Wie wir in Kapitel 4 beschrieben haben, kann
Prozesse ohne bewusste Kontrolle Es gibt eine ganze Menge von körperlichen Aktivitäten, die einem selten, wenn überhaupt, bewusst werden. Ein Beispiel für solche nicht bewusste Prozesse ist die Regulierung des Blutdrucks. Unser Nervensystem überwacht kontinuierlich physiologische Informationen, um Veränderungen zu entdecken und darauf zu reagieren, ohne dass dafür bewusste Reflexion notwendig wäre. Einige gewöhnlich nicht bewusste Aktivitäten können unter bestimmten Umständen bewusst gemacht werden: Man kann beispielsweise üben, die At-
Bisweilen bleiben Gedanken an unsere Arbeit, unsere Eltern oder unser hungriges Haustier unterhalb der Bewusstseinsschwelle, bis etwas eintritt, das unsere Aufmerksamkeit auf einen dieser Bereiche richtet. Warum werden diese Gedächtnisinhalte als vorbewusst und nicht als unbewusst beschrieben?
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man seine Aufmerksamkeit nur auf einen kleinen Teil davon richten. Das Beachtete und die dadurch hervorgerufenen Gedächtnisinhalte legen größtenteils fest, was sich im Bewusstsein befindet. Dennoch haben wir manchmal eine unbewusste Repräsentation einer Information, die sich nicht im Fokus unserer Aufmerksamkeit befindet. Denken wir an die Szene aus Kapitel 4: Auf einer lauten Party versuchen Sie, sich auf Ihr attraktives Gegenüber zu konzentrieren und scheinen die Unterhaltung von Umstehenden nicht zu beachten – bis Sie Ihren Namen hören. Plötzlich wird Ihnen bewusst, dass Sie die Unterhaltung in gewisser Weise unbewusst wahrgenommen haben müssen, sonst hätten Sie dieses spezielle Signal nicht aus dem Lärm herausgehört (Wood & Cowan, 1995a). Das Unbewusste Die Existenz unbewusster Informationen findet typischerweise meistens dann unsere Anerkennung, wenn wir uns bestimmte Verhaltensweisen nicht mit den Prozessen erklären können, die uns während des Verhaltens bewusst waren. Eine erste Theorie unbewusster Prozesse wurde von Sigmund Freud entwickelt; er behauptete, dass gewisse Erfahrungen im Leben – traumatische Erinnerungen und tabuisierte Wünsche – so bedrohlich sind, dass spezielle mentale Prozesse (die wir in Kapitel 13 beschreiben) sie aus dem Bewusstsein verbannen. Freud nahm an, dass auch dann, wenn der Inhalt der ursprünglichen, unakzeptablen Gedanken und Motive verdrängt – also aus dem Bewusstsein entfernt – wird, die starken Gefühle, die mit diesen Gedanken in Verbindung stehen, bestehen bleiben und das Verhalten beeinflussen. Freuds „Entdeckung“ des Unbewussten stand im Widerspruch zu einer langen Tradition westlichen Denkens. Nachdem der englische Philosoph John Locke (1690/1975/deutsch 1988) seinen klassischen Text über den menschlichen Geist, An Essay Concerning Human Understanding (deutsch: Versuch über den menschlichen Verstand) verfasst hatte, glaubten viele Denker fest daran, dass vernunftbegabte Wesen Zugang zu allen Vorgängen in ihrem Kopf haben. Freuds Hypothese über die Existenz unbewusster mentaler Prozesse hielten seine Zeitgenossen für unerhört (Dennett, 1987). (Wir werden Freuds Ideen noch einmal begegnen, wenn wir den Ursprung unserer jeweils einzigartigen Persönlichkeit in Kapitel 13 besprechen.) Viele Psychologen gebrauchen den Begriff unbewusst für Informationen und Prozesse, die harmloser sind als die Arten von Gedanken, die nach Freud verdrängt werden müssen (Baars & McGovern, 1996; Wes-
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ten, 1998). Viele gewöhnliche Sprachverarbeitungsprozesse beispielsweise gründen auf unbewussten Prozessen. Betrachten wir diesen Satz (Vu et al., 2000): Mir gegenüber saß ein Mann mit einer Fahne. Wie verstehen Sie diesen Satz? Stellen Sie sich einen Mann vor, der nach Alkohol riecht, oder einen, der eine Fahne bei sich hat? Weil das Wort Fahne zweideutig ist – und der Satzkontext nur wenig weiterhilft –, kann man nur raten, was der Autor meint. Betrachten wir nun denselben Satz in einem etwas größeren Kontext: Im Zug saßen Mitglieder eines mittelalterlichen Traditionsvereins. Mir gegenüber saß ein Mann mit einer Fahne. War der Satz in diesem Zusammenhang besser zu verstehen? Wenn ja, dann weil unbewusste Sprachverstehensprozesse den zusätzlichen Kontext für eine sehr schnelle Wahl einer der beiden Bedeutungen von Fahne nutzten. Mit diesem Beispiel wird deutlich, dass Prozesse unterhalb der Bewusstseinsebene oft unser Verhalten beeinflussen – in diesem Fall die Leichtigkeit, mit der dieser Satz klar zu verstehen war. Unmerklich sind wir von den Inhalten zu den Funktionen des Bewusstseins übergegangen. Ehe wir diesen Punkt detailliert betrachten, beschreiben wir kurz zwei Wege, wie die Inhalte des Bewusstseins untersucht werden können.
5.1.2 Erforschung der Bewusstseinsinhalte Um das Bewusstsein untersuchen zu können, benötigen Forscher Methoden und Verfahren, die tief liegende persönliche Erfahrungen offen messbar machen. Eine Methode stellt eine neue Variante von Wundts und Titcheners Introspektionsverfahren dar: die Methode des lauten Denkens. Probanden werden instruiert, laut zu sprechen, während sie diverse komplexe Aufgaben bewältigen. Sie berichten so detailliert wie möglich die Abfolge der Gedanken, die ihnen während der Ausführung der Aufgaben in den Sinn kommen. Mit den Denkprotokollen der Probanden werden die mentalen Strategien und Wissensrepräsentationen dokumentiert, welche die Probanden bei der Aufgabenbewältigung einsetzen. Zudem können Forscher mithilfe dieser Protokolle die Diskrepanz zwischen der Aufgabenbewältigung und dem
5.1 Die Inhalte des Bewusstseins
Bewusstsein ihres Zustandekommens analysieren (Ericsson & Simon, 1993). Bei der Methode der Erlebnisstichprobe sind die Probanden mit Geräten ausgestattet, die signalisieren, wenn sie angeben sollen, was sie gerade fühlen und denken. Eine Methode ist zum Beispiel, dass Probanden elektronische Piepser tragen. Ein Sender aktiviert über Radiowellen den Piepser zufällig mehrmals am Tag während einer oder mehrerer Wochen. Ertönt der Piepser, sollen die Personen Fragen beantworten, zum Beispiel „Wie gut konnten Sie sich eben konzentrieren?“. Mit dieser Methode können Forscher eine kontinuierliche Aufzeichnung der Gedanken, des Bewusstseins und der Fokusse der Aufmerksamkeit aus dem Alltag erhalten (Hektner & Csikszentmihalyi, 2002). Beim folgenden Experiment wurden Handheld-Computer eingesetzt, um Erlebnisstichproben zu sammeln:
Wenn Sie sich einmal in dem Raum umschauen, in dem Sie gerade dieses Buch lesen, werden Sie ebenfalls feststellen, wie viele Dinge Ihnen in Ihrer Umgebung zur Verfügung stehen, die nicht Inhalt Ihres Bewusstseins waren, bevor Sie sich den Raum bewusst angesehen haben. Sie können auf dieselbe Weise Ihr Gedächtnis überprüfen, um zu zeigen, wie viel Sie hinter den Informationen gespeichert haben, auf die Sie gerade Ihre bewusste Aufmerksamkeit lenken. Techniken wie Lautes Denken und Erlebnisstichproben helfen Forschern – bei bestimmten Aufgaben zu bestimmten Zeiten – herauszufinden, welche Teile aller einem Menschen zur Verfügung stehenden Informationen gerade bewusst sind.
europäische Amerikaner Asiaten 90
5,0
85
4,8
80
4,6
75
4,4
70
4,2
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscher stattete 15 europäisch-amerikanische und 21 asiatische (japanische und koreanische) Studenten mit Handheld-Computern aus (Oishi, 2003), über die sie nach dem Zufallsprinzip fünfmal täglich aufgefordert wurden, Fragen zu ihrem emotionalen Wohlbefinden zu beantworten. Anhand dieser Stichproben konnte der Forscher berechnen, wie groß der Zeitanteil an positiver Stimmung pro Tag ist, in welcher sich jeder Proband in seinem Alltag mit all seinen Schwankungen befand. Nach diesem einwöchigen Experiment bewerteten die Probanden retrospektiv das Ausmaß des von ihnen erlebten Wohlgefühls für die gesamte Woche. Die Stimmungswerte wurden auf einer Skala von 1 bis 8 zusammengefasst, wobei positive Gefühle höhere Werte erhielten. 씰 Abbildung 5.1 zeigt, dass die Erlebnisstichproben und die retrospektiv angegebenen Werte unterschiedliche Ergebnisse erbrachten. Während die Asiaten aus ihrem täglichen Leben heraus von mehr positiven Stimmungen berichteten, gaben sie bei ihrem Rückblick auf die Woche sehr viel weniger positive Stimmungen an. Woran könnte das liegen? Der Forscher vermutet, dass europäische Amerikaner und Asiaten unterschiedliche kulturelle Erwartungen haben, wie zufrieden sie mit ihrem Leben sein sollten. Diese kulturellen Erwartungen beeinflussten die rückblickenden Beurteilungen.
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aktuell
4,0
retrospektiv
Abbildung 5.1: Interkulturelle Maßstäbe des Wohlbefindens. Europäische Amerikaner und Asiaten lieferten Einschätzungen ihres aktuellen Erlebens positiver Stimmungen. Diese Einschätzungen basieren auf Zufallsstichproben während des Erlebens und auf retrospektiven Angaben über die zurückliegende Woche. Die Asiaten lagen beim aktuellen Erleben positiver Stimmungen vorn, berichteten aber rückblickend von weniger positiven Erfahrungen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was sind vorbewusste Gedächtnisinhalte? 2 Auf welche Weise werden laut Freud Informationen ins
Dieses Beispiel macht deutlich, wie wichtig die Auswertung der Erlebnisstichproben war. Hätte man nur die retrospektiven Angaben ausgewertet, hätte man zu dem Schluss kommen können, dass Asiaten ein weniger glückliches Leben haben. Die täglich erhobenen Angaben sprechen jedoch eindeutig gegen diese Schlussfolgerung.
Unbewusste verdrängt? 3 Wie erhalten Forscher Denkprotokolle nach der Me-
thode des Lauten Denkens? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an das Experiment zum Wohlbefinden. Warum ist es wichtig, Erlebnisstichproben nach dem Zufallsprinzip zu erheben?
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5
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Die Funktionen des Bewusstseins
5.2
Wenn wir die Frage nach den Funktionen des Bewusstseins stellen, versuchen wir zu verstehen, warum wir Bewusstsein brauchen – was fügt es unserer menschlichen Erfahrung hinzu? In diesem Abschnitt erlangen wir eine genauere Vorstellung von der Bedeutung des Bewusstseins für das Überleben der menschlichen Rasse und von seiner sozialen Funktion.
5.2.1 Der Nutzen des Bewusstseins Das menschliche Bewusstsein entwickelte sich im Wettstreit mit der feindlichsten Macht seiner Umwelt – anderen Menschen. Der menschliche Geist dürfte sich wahrscheinlich als Folge einer extremen Soziabilität, also Geselligkeit, der Urmenschen entwickelt haben, die sich wahrscheinlich ursprünglich zu einer Gruppe formiert haben, um sich zusammen gegen Raubtiere zu verteidigen oder um Ressourcen effizienter ausbeuten zu können. Wie dem auch sei, aus dem engen Zusammenleben in Gruppen erwuchsen neue Anforderungen an kooperative und kompetitive Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Die natürliche Selektion begünstigte diejenigen, die denken, planen und sich Alternativen vorstellen konnten, die sowohl die Bindung an die eigene Sippe als auch den Sieg über Gegner wahrscheinlicher machen. Diejenigen, die Sprache und Werkzeuge entwickelten, zogen das große Los, was das Überleben der Besten („the survival of the fittest“), zumindest in geistiger Hinsicht, betrifft – und gaben es glücklicherweise an uns weiter (Terrace & Metcalfe, 2005). Da das Bewusstsein aus der Evolution hervorging, sollte es uns nicht wundern, dass es eine Reihe von Funktionen umfasst, die dem Überleben unserer Spezies zugute kommen (Baars, 1997; Baars & McGovern, 1994; Cheney & Seyfarth, 1990; Ornstein, 1991). Auch spielt das Bewusstsein bei der Konstruktion der persönlichen wie auch der gemeinsamen kulturellen Realität eine entscheidende Rolle. Begünstigung des Überlebens Aus biologischer Perspektive betrachtet entstand das Bewusstsein möglicherweise, weil die Menschen dadurch Informationen aus der Umwelt besser verstanden und aufgrund dieser Informationen die am besten
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geeigneten und effektivsten Handlungen planen konnten. Gewöhnlich überfluten uns sensorische Informationen. William James beschrieb die enorme Menge an Informationen, die unsere Rezeptoren beschießen, als „dröhnendes Wirrwarr“, das von allen Seiten auf uns einstürmt. Mithilfe des Bewusstseins können wir auf dreierlei Weise diese Überfülle und dieses Gewirr verstehen und uns an die Umwelt anpassen. Zum einen reduziert das Bewusstsein den Fluss an Reizen, indem es einschränkt, was wir wahrnehmen und worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Diese restriktive Funktion des Bewusstseins verdeutlicht auch die Behandlung des Themas Aufmerksamkeit in Kapitel 4. Unser Bewusstsein hilft uns, einen Großteil der Informationen auszublenden, die für unsere unmittelbaren Ziele und Absichten irrelevant sind. Angenommen, Sie machen einen Spaziergang, um einen Frühlingstag zu genießen. Sie erfreuen sich an blühenden Bäumen, singenden Vögeln und spielenden Kindern. Wenn sich Ihnen plötzlich ein knurrender Hund in den Weg stellt, nutzen Sie Ihr Bewusstsein, um Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Hund zu lenken, und darauf, die Gefahr richtig einzuschätzen. Die restriktive Funktion des Bewusstseins ist es auch, mit der Sie Informationen aus Ihrem internen Speicher abrufen. Als wir Sie zu Beginn dieses Kapitels baten, sich an ein wichtiges Ereignis in Ihrer Vergangenheit zu erinnern, sollten Sie Ihr Bewusstsein einzusetzen, um Ihre mentale Aufmerksamkeit auf ein einziges Ereignis in Ihrer Erinnerung zu richten. Zweitens erfüllt das Bewusstsein eine selektive Speicherfunktion. Selbst innerhalb der Informationskategorie, mit der Sie sich gerade bewusst beschäftigen, sind nicht alle Teile ständig für Ihre aktuellen Belange relevant. Nach Ihrer Begegnung mit dem knurrenden Hund halten Sie vielleicht inne und sagen sich: „Ich möchte mich daran erinnern, dass ich an diesen Häusern nicht wieder entlanggehen möchte.“ Ihr Bewusstsein ermöglicht es Ihnen, Informationen selektiv zu speichern – sich einzuprägen –, die Sie analysieren und interpretieren und nach denen Sie sich in Zukunft richten wollen. Das Bewusstsein ermöglicht uns, Ereignisse und Erfahrungen als relevant oder irrelevant bezüglich der persönlichen Bedürfnisse einzuordnen, indem einige ausgewählt, andere wiederum ignoriert werden. In Kapitel 7 werden wir uns mit Speicherprozessen beschäftigen und lernen, dass nicht alle im Gedächtnis gespeicherten Informationen bewusst verarbeitet werden. Dennoch haben bewusste Erinnerungen andere Eigenschaften – und beanspruchen andere Bereiche des Gehirns – als andere Erinnerungsarten.
5.2 Die Funktionen des Bewusstseins
Eine dritte Funktion des Bewusstseins befähigt uns, Handlungen zu unterbrechen, nachzudenken und auf der Grundlage unseres Vorwissens Alternativen in Erwägung zu ziehen sowie uns verschiedene Konsequenzen auszumalen. Diese Planungsfunktion oder exekutive Kontrollfunktion ermöglicht uns, starke Wünsche und Begierden zu unterdrücken, wenn sie mit moralischen, ethischen oder praktischen Erwägungen nicht vereinbar sind. Mit dieser Funktion des Bewusstseins können Sie die Strecke für Ihren nächsten Spaziergang festlegen, so dass sie nicht an dem knurrenden Hund vorbeiführt. Da das Bewusstsein uns einen großen zeitlichen Rahmen für mögliche Aktionen bietet, können wir unsere Kenntnisse der Vergangenheit und unsere Erwartungen für die Zukunft abrufen, um aktuelle Entscheidungen zu treffen. Aus all diesen Gründen bietet uns das Bewusstsein ein großes Potenzial, um flexibel und angemessen auf die wechselnden Anforderungen in unserem Leben zu reagieren. Persönliche und kulturelle Konstruktion der Realität Keine zwei Menschen interpretieren eine Situation auf die genau gleiche Weise. Unsere persönliche Konstruktion der Realität ist unsere ureigene Interpretation einer gegebenen Situation und basiert auf unserem allgemeinen Wissen, unseren Erinnerungen an vergangene Erlebnisse, auf augenblicklichen Bedürfnissen, Werten, Einstellungen und künftige Zielen. Jeder Mensch beachtet gewisse Merkmale der Umgebung genau deshalb mehr als andere, weil sich seine persönliche Wirklichkeitskonstruktion aus einer Auswahl jeweils eigener Inputs herausgebildet hat. Wenn unsere persönliche Konstruktion der Realität relativ stabil bleibt, weist unser Selbstkonzept zeitliche Kontinuität auf. Die individuellen Unterschiede bei der persönlichen Konstruktion der Realität sind noch größer, wenn Menschen in unterschiedlichen Kulturen aufwuchsen, in unterschiedlichen Umwelten innerhalb einer Kultur lebten oder sich unterschiedlichen Anforderungen im Leben ausgesetzt sahen. Aber auch das Umgekehrte trifft zu: Weil die Menschen einer Kultur oft die gleichen Erfahrungen machen, ist ihre Konstruktion der Realität oft ähnlich. Kulturelle Konstruktionen der Realität sind Arten und Weisen, wie die meisten Mitglieder einer speziellen Gruppe von Menschen über die Welt denken. Wenn ein Mitglied einer Gesellschaft eine persönliche Konstruktion der Realität entwickelt, die mit der kulturellen Konstruktion im
Einklang steht, wird diese von der kulturellen bestärkt, und gleichzeitig stärkt sie die kulturelle. Wir haben bereits ein Beispiel für den Einfluss der Kultur auf die Konstruktion der Realität behandelt: Erinnern Sie sich daran, dass asiatische Studenten trotz ihrer positiveren täglichen Erfahrungen in der Retrospektive ihre Stimmungen weniger positiv beurteilten als ihre europäisch-amerikanischen Kommilitonen. In Kapitel 13 werden wir noch genauer auf die Beziehung zwischen persönlichem und kulturell bestimmtem Gefühl des Selbst eingehen.
5.2.2 Erforschung der Funktionen des Bewusstseins Viele Funktionen des Bewusstseins umfassen implizite Vergleiche mit dem, was unbewusst bleibt. Das bedeutet, dass bewusste Prozesse unbewusste Prozesse oft beeinflussen und umgekehrt. Um die Funktionen des Bewusstseins zu untersuchen, betrachten Forscher oft die Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Einflüssen auf das Verhalten. Sie haben eine Reihe von Möglichkeiten entwickelt, mit denen sich der Einfluss unbewusster Prozesse auf bewusstes Verhalten nachweisen lässt (Nelson, 1996; Westen, 1998). Forscher setzten zum Beispiel die SLIP-Technik ein (Spoonerisms of Laboratory-Induced Predisposition), um festzustellen, wie unbewusste Kräfte die Wahrscheinlichkeit von Versprechern beeinflussen (Baars et al., 1992). Der Ausdruck „Spoonerismus“ geht auf einen Geistlichen namens Spooner zurück, dem eine Neigung zu bestimmten Versprechern zugeschrieben wird, die man bei uns wohl als Freud’sche Fehlleistungen bezeichnen würde. Die SLIP-Methode ermöglicht es dem Experimentator, Versprecher im Experiment zu induzieren, also vorsätzlich herbeizuführen, indem Erwartungen für gewisse Klangmuster aufgebaut werden. Nachdem der Proband eine Reihe von Wortpaaren wie Buch-Duft, Ball-Dieb, Busch-Docht ausgesprochen hat, spricht er wahrscheinlich DachBank falsch als Bach-Dank aus. Forscher können die bewussten und unbewussten Einflüsse auf die Wahrscheinlichkeit solcher Klangvertauschungen bestimmen, wenn sie die Umstände verändern, die außerhalb der eigentlichen Aufgabe liegen. Versuchspersonen machen beispielsweise mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Fehler der Art Schock-Raum (statt RockSchaum), wenn sie glauben, dass sie irgendwann während des Experimentes einen schmerzhaften Elektroschock erhalten könnten (Motley & Baars, 1979). In der englischsprachigen Originaluntersuchung sagten
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A.
B.
Abbildung 5.2: Suche nach Farbkombinationen. (A) Finden Sie das gelb-blaue Element. (B) Finden Sie das gelbe Haus mit blauen Fenstern. (A) Die Suche ist sehr schwierig, wenn die Farbkombination zwei Teile des Zielreizes betrifft. (B) Die Suche ist viel leichter, wenn die Farbkombination das Zielelement als Ganzes und einen seiner Teile betrifft (nach Kuhl 1986, S. 116). männliche Probanden, die die SLIP-Aufgabe in Anwesenheit einer aufreizenden Experimentatorin durchführten, mit höherer Wahrscheinlichkeit irrtümlicherweise good legs (tolle Beine) statt lood gegs. Diese Ergebnisse lassen einen unbewussten Beitrag zur Produktion von Versprechern vermuten. Bei einer anderen Methode, die Funktionen des Bewusstseins zu erforschen, wird festgelegt, welche der vielen Aufgaben, die Sie tagtäglich erledigen, ein bewusstes Eingreifen erfordern. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, bitten wir Sie nun, Ihr Buch einen Augenblick beiseite zu legen und im Raum einen roten Gegenstand zu finden. Nehmen wir an, dass sich in Ihrem Raum tatsächlich ein roter Gegenstand befindet. Die meisten von Ihnen werden das Gefühl gehabt haben, dass ihre Aufmerksamkeit ohne bewusste Anstrengung auf diesen Gegenstand gelenkt wurde. Untersuchungen bestätigen, dass Menschen gewisse Grundmerkmale von Gegenständen wie Farbe, Form und Größe ohne oder mit nur geringer bewusster Anstrengung finden können (Wolfe, 2003). Nehmen wir jetzt an, dass Sie einen Gegenstand zu finden versuchen, der rot und blau ist. Wenn Sie sich einen Augenblick auf diese Aufgabe konzentrieren, werden Sie merken, wie viel mehr bewusste Anstrengung Sie aufbringen müssen. Höchstwahrscheinlich werden Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz bewusst lenken müssen, um einen Gegenstand zu finden, der beide Merkmale aufweist.
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Ein weiteres Beispiel bewusster Lenkung der Aufmerksamkeit finden Sie in 씰 Abbildung 5.2. Versuchen Sie, in Teil A das gelbe und das blaue Element zu finden. Versuchen Sie nun, in Teil B das gelbe Haus mit den blauen Fenstern zu finden. War die zweite Aufgabe nicht viel leichter? Die Ausführung der Aufgabe wird weitaus weniger durch die anderen Elemente im Bild beeinträchtigt, wenn die beiden Farben in Teilen eines Ganzen und im Ganzen selbst zu finden sind (Wolfe et al., 1994). Haben Sie gemerkt, dass Sie mehr bewusste Aufmerksamkeit aufbringen mussten, um das blaue und das gelbe Element zu finden? Aus Ergebnissen dieser Art gewinnen Forscher eine allgemeingültige Vorstellung von den Funktionsweisen unseres Bewusstseins. Wir haben gelernt, wie Inhalte und Funktionen unseres Bewusstseins definiert und erforscht werden. Jetzt wenden wir uns erst den gewöhnlichen und dann den außergewöhnlichen Bewusstseinsveränderungen zu.
ZWISCHENBILANZ 1 Worin besteht die selektive Speicherfunktion des Be-
wusstseins? 2 Was versteht man unter einer kulturellen Konstruktion
der Realität? 3 Warum liefert die SLIP-Methode Informationen über
die Funktionen des Bewusstseins?
5.3 Schlaf und Traum
Schlaf und Traum
5.3
Fast jeden Tag unseres Lebens erfahren wir eine ziemlich tiefe Veränderung im Bewusstsein: Wenn wir beschließen, dass es Zeit ist, ins Bett zu gehen, legen wir uns schlafen – und während wir schlafen, träumen wir zweifellos. Ein Drittel unseres Lebens verschlafen wir. Unsere Muskeln sind in einem Zustand „gutartiger Paralyse“ und unser Gehirn ist voller unterschiedlicher Aktivitäten. Wir beginnen diesen Abschnitt mit dem allgemeinen biologischen Rhythmus von Wachsein und Schlafen. Anschließend betrachten wir die Physiologie des Schlafens näher. Zum Schluss untersuchen wir die mentale Hauptaktivität, die den Schlaf begleitet – das Träumen – und erforschen die Rolle des Traumes in der menschlichen Psychologie.
5.3.1 Zirkadianer Rhythmus Alle Lebewesen werden vom Tag-Nacht-Rhythmus der Natur beeinflusst. Unser Körper ist an einen Zeitzyklus, den zirkadianen Rhythmus, gebunden: Aktivitätsniveau, Stoffwechsel, Herzrate, Körpertemperatur und hormonelle Aktivität nehmen gemäß unserer inneren Uhr zu oder ab (Moore-Ede et al., 1982). Zum größten Teil erreichen diese Aktivitäten ihren Höhepunkt während des Tages – für gewöhnlich während des Nachmittags – und sinken auf den tiefsten Stand, während wir nachts schlafen. Forscher vermuten, dass unsere innere Uhr nicht exakt mit der Uhr an der Wand synchronisiert ist: Ohne Korrekturen von externen Zeitmarkern erstellt der menschliche innere „Schrittmacher“ einen 24,18-Stunden-Zyklus (Czeisler et al., 1999). Das Sonnenlicht während des Tages hilft uns, die kleine Korrektur auf den 24-Stunden-Zyklus zu vollziehen. Informationen über das Sonnenlicht nehmen wir durch unsere Augen auf, doch die Rezeptoren zur Regulierung des zirkadianen Rhythmus sind nicht die gleichen Rezeptoren, mit denen wir die Welt sehen (Menaker, 2003): Auch Tiere ohne Stäbchen und Zapfen (siehe Kapitel 4) nehmen Licht in einer Weise wahr, die es ihnen ermöglicht, ihren zirkadianen Rhythmus aufrechtzuerhalten (Freedman et al., 1999). Veränderungen, die eine Abweichung unserer biologischen Uhr von der äußeren Uhr hervorrufen, beeinflussen unser Fühlen und Handeln (Moore-Ede, 1993). Das vielleicht drastischste Beispiel einer solchen Abweichung rührt von sehr langen Flügen her. Wenn Menschen über mehrere Zeitzonen fliegen, erleben sie vielleicht einen Jetlag, einen Zustand mit den
Symptomen Ermüdung, unwiderstehliche Schläfrigkeit und in der Folge unübliche Schlaf-Wach-Zeiten. Ein Jetlag entsteht, weil der innere zirkadiane Rhythmus nicht mehr mit der normalen zeitlichen Umwelt übereinstimmt (Redfern et al., 1994). Unser Körper sagt zum Beispiel, es ist 2 Uhr nachts – ein Tiefpunkt für viele physiologische Maße –, während wir uns nach Ortszeit wie am Mittag verhalten sollen. Welche Variablen beeinflussen den Jetlag? Die Richtung des Fluges und die Anzahl der Zeitzonen, die passiert werden, sind die wichtigsten. Flüge nach Osten verursachen einen größeren Jetlag als Flüge nach Westen, weil unsere biologische Uhr leichter gedehnt als gestaucht werden kann, wie es bei Flügen in den Osten der Fall ist. (Es ist leichter, länger wach zu bleiben, als schneller einzuschlafen.) Gesunde Freiwillige, die zwischen Europa und den Vereinigten Staaten hin- und hergeflogen wurden, erreichten ihre Höchstleistung bei Standardaufgaben nach zwei bis vier Tagen wieder, wenn der Flug Richtung Westen ging, bei Flügen in östliche Richtung jedoch erst nach neun Tagen (Klein & Wegmann, 1974).
5.3.2 Der Schlafzyklus Ungefähr ein Drittel unseres zirkadianen Rhythmus verbringen wir im Schlaf. Das meiste, was wir über den Schlaf wissen, betrifft die elektrische Aktivität des Gehirns. Der methodische Durchbruch zur Erforschung des Schlafes gelang 1937. Einem Schlafenden wurde ein Gerät appliziert, das die Gehirnaktivität in Form eines Elektroenzephalogramms (EEG) aufzeichnete. Das EEG lieferte eine objektive und kontinuierliche Messung der Gehirnaktivität während des Wachzustandes oder Schlafes. Forscher entdeckten, dass die Hirnwellen beim Einschlafen ihre Form änderten und sich dann während des gesamten Schlafes systematisch und vorhersagbar veränderten (Loomis et al., 1937). Die nächste wichtige Entdeckung in der Schlafforschung waren die schnellen Augenbewegungen, englisch rapid eye movements (REM), die zu periodischen Intervallen im Schlaf auftreten (Aserinsky & Kleitman, 1953). Die Phase, in welcher der Schlafende kein REM zeigt, wird non-REM- (NREM) Schlaf genannt. In einem späteren Abschnitt werden wir sehen, dass REM und NREM für eine der wichtigsten Aktivitäten während der Nacht von großer Bedeutung sind – das Träumen. Verfolgen wir unsere Hirnwellen die Nacht hindurch. Wenn wir uns hinlegen, bewegen sich laut EEG unsere Hirnwellen mit etwa 14 Hz (1 Hz entspricht
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Abbildung 5.3: Die EEG-Muster der Phasen eines normalen Nachtschlafes. Jede Schlafphase ist durch charakteristische Muster von Hirnaktivität definiert. einer Welle pro Sekunde). Sobald wir entspannt im Bett liegen, fallen unsere Hirnwellen auf eine Rate von etwa 8 bis 12 Hz ab. Sind wir eingeschlafen, befinden wir uns im Schlafzyklus, und jedes dieser Stadien
zeichnet sich durch ein eigenes EEG-Muster aus. In Stufe 1 weist das EEG Wellen von etwa 3 bis 7 Hz auf. Stufe 2 zeichnet sich durch Schlaf-Spindeln aus, kurze Salven elektrischer Aktivität mit 12 bis 16 Hz. In Stufe 3 und 4 schlafen wir sehr tief und entspannt. Das EEG zeigt nur noch 1 oder 2 Hz an; Atmung und Herzrate verlangsamen sich. Gegen Ende des Schlafes steigt die elektrische Aktivität unseres Gehirns an; das EEG ähnelt wieder dem der Stufen 1 und 2. Genau in dieser Phase erleben wir den REM-Schlaf. Wir träumen (씰 Abbildung 5.3). (Weil das EEG-Muster während des REM-Schlafes fast wie das eines wachen Menschen aussieht, wurde der REM-Schlaf ursprünglich als paradoxer Schlaf bezeichnet.) Das Durchlaufen der ersten vier Schlafphasen, des NREM-Schlafes, dauert ungefähr 90 Minuten. Der REM-Schlaf hält nur 10 Minuten an. In einer Nacht durchlaufen wir diesen 100-Minuten-Zyklus vier- bis sechsmal (씰 Abbildung 5.4). Mit jedem Zyklus wird der Anteil des Tiefschlafes (Stufen 3 und 4) kleiner, der des REM-Schlafes jedoch größer. Im letzten Zyklus dauert der REM-Schlaf annähernd eine Stunde. Alles in allem macht der NREM-Schlaf 75 bis 80 Prozent und der REM-Schlaf 20 bis 25 Prozent des gesamten Schlafes aus. Nicht alle Menschen schlafen gleich lang. Obgleich das Schlafbedürfnis genetisch bedingt ist, hängt die individuelle Schlafmenge von bewussten Aktionen ab. Wir kontrollieren die Dauer unseres Schlafes auf vielerlei Weisen: Wir bleiben lange auf oder stellen einen Wecker. Wie lange wir schlafen, liegt auch am zirkadianen Rhythmus; das heißt, wann wir schlafen gehen, beeinflusst die Dauer. Eine große Wahrschein-
Wach Stufe 1 Abbildung 5.4: Schlafphasen. Ein typisches Muster von Schlafphasen während einer Nacht weist tieferen Schlaf in frühen Zyklen, aber mehr REM-Schlaf in späteren Zyklen auf (nach Hobson 1989).
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Stufe 2 Stufe 3
REM
Stufe 4 1
2
3
4 5 Stunden Schlaf
6
7
8
5.3 Schlaf und Traum
Legende Wach REM-Schlaf NREM-Schlaf
24
Gesamtschlaf täglich (Stunden)
16 14 12 10 8 6 4 2 0
1–15 3–5 6–23 2–3 3–5 5–9 10–13 14–18 29–30 Tage Mon. Mon. Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre
33–45 Jahre
50 Jahre
90 Jahre
Alter Säuglinge
Kinder
Jugendliche
Erwachsene
lichkeit, genau die richtige Menge an NREM- und REM-Schlaf zu bekommen, besteht nur dann, wenn wir immer zur gleichen Zeit ins Bett gehen und aufstehen, auch am Wochenende. So gesehen steht die Dauer, die wir im Bett verbringen, in engem Zusammenhang mit den Schlafphasen unseres zirkadianen Rhythmus. Interessant ist auch die drastische Änderung der Schlafmuster im Laufe des Lebens, wie 씰 Abbildung 5.5 zeigt. Neugeborene schlafen 16 Stunden täglich; knapp die Hälfte davon ist REM-Schlaf. Mit 50 Jahren schläft man nur noch 6 Stunden, und der REM-Schlaf beträgt gerade einmal 20 Prozent. Junge Erwachsene schlafen üblicherweise 7 bis 8 Stunden; etwa 20 Prozent davon sind REM-Schlaf. Die altersbedingte Veränderung der Schlafmuster bedeutet nicht, dass der Schlaf mit fortschreitendem Alter an Bedeutung verliert. Eine Studie mit gesunden älteren Erwachsenen im Alter von 60 bis 90 Jahren beschäftigte sich mit ihren Schlafmustern und deren Zusammenhang mit der Lebenserwartung der Probanden (Dew et al., 2003). Die Forscher fanden heraus, dass Menschen mit größerer Schlafeffizienz (Schlafzeit geteilt durch die im Bett verbrachte Zeit) eine voraussichtlich höhere Lebenserwartung haben. Dieses Ergebnis führt uns direkt zu unserer nächsten Frage: Warum brauchen Menschen Schlaf?
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Abbildung 5.5:Schlafmuster im Verlauf der Lebensspanne. Der Graph zeigt die Veränderungen der gesamten Menge des täglichen REMund NREM-Schlafes und den Anteil des REM-Schlafes im Laufe des Lebens. Man beachte, dass die Menge des REMSchlafes über die Jahre stark, die des NREM -Schlafes schwächer abnimmt (nach Roffwarg et al., 1966).
5.3.3 Warum schlafen wir? Der systematische Verlauf der Schlafphasen bei Mensch und Tier lässt vermuten, dass es eine evolutionäre Grundlage und ein biologisches Bedürfnis für den Schlaf gibt. Wir Menschen fühlen uns wohl, wenn wir 7 bis 8 Stunden lang geschlafen haben (Harrison & Horne, 1996). Warum schlafen wir nur so viel? Und welche Funktionen erfüllen NREM- und REM-Schlaf? Die beiden wichtigsten Funktionen des NREMSchlafes sind wohl Konservierung und Regenerierung (Siegel, 2005). Vielleicht hat sich der Schlaf entwickelt, weil Tiere dadurch Energie sparen, also konservieren, konnten, wenn sie nicht auf Futtersuche oder Partnersuche sein mussten oder andere Tätigkeiten zu verrichten hatten. Andererseits laufen Tiere während des Schlafs Gefahr, von ihren natürlichen Feinden angegriffen zu werden; die Forscher vermuten, dass sie während einer Schlafphase Gehirnaktivitätszyklen entwickelt haben (siehe Abbildung 5.3), die dieses Risiko minimieren. Einige Gehirnaktivitätsmuster könnten es Tieren sogar ermöglichen, sich der Aktivitäten in ihrer Umgebung während des Schlafs noch besser bewusst zu werden (Lima et al., 2005). Warum sollten sich Tiere überhaupt einem Risiko aussetzen? Die Antwort liegt wahrscheinlich in den Regenerierungseigenschaften des NREM-Schlafs. Wenn das Gehirn während der Wachphase hart arbeitet, produziert der Sauerstoff-Stoffwechsel Nebenprodukte, die schließlich die Neuronen in manchen Teilen des Ge-
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hirns schädigen. Dies gilt für den Hirnstamm, den Hippocampus und den Hypothalamus (siehe Kapitel 3). In der NREM-Schlafphase hat das Gehirn Gelegenheit, dieser Schädigung entgegenzuwirken und Hirnzellen zu reparieren (Siegel, 2005). Werden wir eine Nacht lang vom REM-Schlaf abgehalten, ist unser REM-Schlaf in der folgenden Nacht länger als sonst. Dies lässt vermuten, dass auch der REM-Schlaf einige notwendige Funktionen erfüllt. Es scheint, als seien die Gehirnaktivitäten des REMSchlafs in der frühen Kindheit nötig, damit sich die Funktionen des visuellen Systems entwickeln können und wahrscheinlich auch die des sensorischen und motorischen Systems (Siegel, 2005). Bei Erwachsenen konzentriert sich die Forschung auf die Rolle, die der REM-Schlaf in Bezug auf Lernprozesse und das Speichern von Gedächtnisinhalten spielt (Paller & Voss, 2004; Walker & Stickgold, 2006). Betrachten wir ein Experiment, bei dem die Probanden eine neue Aufgabe zu lernen hatten:
AUS DER FORSCHUNG Zu Beginn des Experiments verbrachten die 24 Probanden eine Nacht im Schlaflabor, damit die Forscher Basisdaten über die REM-Schlafmenge pro Nacht eines jeden ermitteln konnten (Smith et al., 2004). Am nächsten Abend wurden 6 Probanden einer Kontrollgruppe zugewiesen. Sie verbrachten den Abend ohne jegliche Auflagen im Labor. Die anderen 18 Probanden mussten eine neue Aufgabe erlernen, und zwar die Problemlöseaufgabe „Der Turm von Hanoi“. Danach wurde ihr REM-Schlaf erneut aufgezeichnet. In dieser zweiten Nacht hatten die Teilnehmer der Experimentalgruppe verglichen mit den Basisdaten der ersten Nacht einen viel intensiveren REM-Schlaf – sie zeigten in dieser Phase mehr schnelle Augenbewegungen. Bei der Kontrollgruppe zeigten sich keine vergleichbaren Veränderungen des REM-Schlafs. Nach einer Woche versuchten die Teilnehmer der Experimentalgruppe erneut, die Turm-vonHanoi-Aufgabe zu lösen, und machten deutliche Fortschritte im Vergleich zu ihrem Eingangstest. Bemerkenswert war, dass die Teilnehmer, bei denen nach jeder Übung der intensivste REM-Schlaf gemessen worden war, beim „Turm von Hanoi“ die größten Fortschritte erzielt hatten.
Dieses Experiment zeigt, dass der REM-Schlaf Bedingungen schafft, unter denen das Gehirn neu errungene Fähigkeiten festigt. Auch der NREM-Schlaf spielt eine wichtige Rolle bei der Konsolidierung von Lern- und Gedächtnisinhalten. Es konnte gezeigt werden, dass die Erfüllung mancher Aufgaben eine Verlängerung der Phasen 3 und 4 zu Beginn der Nacht und des REM-Schlafs spät in der Nacht zur Folge hat (Walker & Stickgold, 2006).
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5.3.4 Schlafstörungen Es wäre schön, wenn wir immer gut schlafen könnten. Leider leiden viele Menschen an Schlafstörungen, die ihr privates und berufliches Leben schwer belasten. Schlafstörungen können auch gesellschaftliche Folgen haben. Die Hälfte der Menschen, die in Nachtschichten arbeiten, nicken mindestens einmal pro Woche bei der Arbeit ein. Einige der schwerwiegendsten Industrieunfälle – Three Mile Island, Tschernobyl, Bhopal und die Exxon-Valdez-Katastrophe – ereigneten sich am späten Abend. Man vermutet, dass es zu diesen Unfällen kam, weil die entscheidenden Leute infolge von Schlafmangel nicht optimal arbeiten konnten. Weil Schlafstörungen auch viele Studierende quälen, werden wir uns nun damit beschäftigen. Denken Sie daran, dass es unterschiedliche Schweregrade von Schlafstörungen gibt, die umweltbedingt, biologisch oder psychologisch begründet sein können. Schlaflosigkeit Schlafen Menschen nicht ausreichend lange oder gut genug, leiden sie an Schlaflosigkeit. Kennzeichen chronischen Schlafmangels sind die Unfähigkeit, schnell einzuschlafen, häufiges Aufwachen während der Nacht oder sehr frühes Aufwachen am Morgen. Einer neueren Umfrage zufolge berichteten 58 Prozent der über 18-Jährigen über Schlaflosigkeit in einigen Nächten bis hin zu mehreren Wochen (National Sleep Foundation, 2005). Schlaflosigkeit ist eine komplexe Störung, die von einer Vielzahl psychologischer, umweltbedingter und biologischer Faktoren verursacht wird (Spielman & Glovinsky, 1997). Untersuchungen in Schlaflaboratorien zeigen jedoch, dass die objektive Quantität und Qualität des tatsächlichen Schlafes von Betroffenen beträchtlich variiert, vom gestörten bis zum normalen Schlaf. Forschungen ergaben, dass viele an Schlaflosigkeit Leidende ein völlig normales physiologisches Schlafmuster zeigen – ein Zustand, der als subjektive Schlaflosigkeit bezeichnet wird. In einer Studie klagten zum Beispiel 38 Prozent der Probanden über Schlaflosigkeit, obwohl ihre Schlafmuster völlig normal waren (Edinger et al., 2000). Gleichermaßen interessant war, dass in derselben Studie 43 Prozent der Probanden nachweisbare Schlafstörungen hatten und dennoch nicht darüber klagten. Diese Diskrepanz kann das Ergebnis unterschiedlich wahrgenommener Begleitumstände und Empfindungen sein (Espie, 2002). Menschen mit Schlafstörungen – oder auch solche, die nur glauben,
5.3 Schlaf und Traum
In welcher Beziehung stehen tatsächliche Schlafmuster und die Wahrnehmung von Schlaflosigkeit? darunter zu leiden – sind wahrscheinlich weniger in der Lage, beim Einschlafen störende Gedanken und Gefühle bewusst abzuschalten. Narkolepsie Narkolepsie ist eine Schlafstörung, die sich durch immer wiederkehrenden Schlaf während des Tages auszeichnet. Diese Störung tritt oft in Verbindung mit Kataplexie, Muskelschwäche oder Verlust an Muskelkontrolle, auf, wenn die Betroffenen emotional erregt sind (wie zum Beispiel Lachen, Ärger, Angst, Überraschung oder Hunger), so dass die entsprechende Person plötzlich umfällt. Wenn Narkoleptiker einschlafen, tritt fast sofort der REM-Schlaf ein. Dieser plötzliche REM-Schlaf bringt mit sich, dass diese Menschen lebhafte Traumbilder oder manchmal schreckliche Halluzinationen erleben und sogar bewusst wahrnehmen. Etwa einer von 2000 Menschen ist von Narkolepsie betroffen. Weil Narkolepsie in der Familie liegt, glaubt die Wissenschaft, dass diese Krankheit genetisch bedingt ist (Mahowald & Schenck, 2005). Narkolepsie wirkt sich oft sozial und psychisch negativ auf die Betroffenen aus, denn sie wollen um jeden Preis die Peinlichkeit vermeiden, plötzlich in Schlaf zu fallen (Broughton & Broughton, 1994). Schlafapnoe Schlafapnoe ist eine Schlafstörung, welche die oberen Atemwege betrifft. Menschen hören im Schlaf plötzlich auf zu atmen. Dabei sinkt der Sauerstoffgehalt im Blut und Notfall-Hormone werden ausgeschüttet, die
den Schlafenden aufwachen und wieder atmen lassen. Die meisten Menschen haben jede Nacht einige solcher ‚Aussetzer‘, Menschen mit Schlafapnoe hingegen können Hunderte solcher Zyklen in einer Nacht durchlaufen. Manchmal erzeugen Schlafapnoe-Episoden Angst, doch meist sind sie so kurz, dass man die vermehrte Schläfrigkeit gar nicht darauf bezieht (Orr, 1997). Etwa zwei Prozent aller Erwachsenen leiden unter Schlafapnoe (Sonnad et al., 2003). Schlafapnoe tritt auch häufig bei frühgeborenen Säuglingen auf, die manchmal sogar physisch stimuliert werden müssen, damit sie wieder atmen. Da diese Frühchen meist auch ein unterentwickeltes Atmungssystem haben, müssen sie auf Intensivstationen so lange an Monitore angeschlossen bleiben, wie dieses Problem besteht. Somnambulismus Menschen, die unter Somnambulismus bzw. Schlafwandeln leiden, verlassen ihr Bett und wandern umher, ohne aufzuwachen. Schlafwandeln tritt häufiger bei Kindern als bei Erwachsenen auf. Studien haben zum Beispiel ergeben, dass rund 7 Prozent aller Kinder schlafwandeln (Nevéus et al., 2001), aber nur etwa 2 Prozent aller Erwachsenen (Ohayon et al., 1999). Schlafwandeln gehört zum NREM-Schlaf. Bei Aufzeichnungen im Schlaflabor zeigten erwachsene Schlafwandler in den Schlafphasen 3 und 4 (siehe Abbildung 5.3) im ersten Drittel ihres Nachtschlafs eine plötzliche Erregung, die sich in Bewegungen oder auch Lauten äußerte (Guilleminault et al., 2001). Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist es nicht ge-
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fährlich, Schlafwandler zu wecken – sie sind dann durch das plötzliche Wachwerden einfach nur leicht verwirrt. Dennoch kann Schlafwandeln an sich gefährlich sein, weil diese Menschen sich in ihrer Umgebung ohne bewusste Aufmerksamkeit bewegen.
5.3.5 Träume: Kino im Kopf In jeder Nacht betreten wir eine komplexe Welt aus Träumen. Einst waren Träume nur etwas für Propheten, Hellseher oder Psychoanalytiker; heute hingegen haben sie Einzug in die wissenschaftliche Forschung gehalten. Ein Großteil der Traumforschung beginnt in Schlaflaboratorien, wo man den REM- und NREMSchlaf von Schlafenden überwacht. Obwohl Menschen mehr von Träumen erzählen, wenn sie aus REMPerioden aufgeweckt werden – etwa 8,2 von 10 Mal –, träumt man auch während der NREM-Perioden – etwa 4,5 von 10 Mal (Foulkes, 1962). Träume in NREM-Phasen haben seltener emotionale Inhalte. Sie ähneln mehr den Gedanken am Tag, sind allerdings weniger bildhaft. Weil Träume eine solche Wichtigkeit im mentalen Leben der Menschen haben, trat in nahezu jeder Kultur dieselbe Frage in Erscheinung: Haben Träume eine Bedeutung? Die Antwort war fast immer positiv. Das heißt, in den meisten Kulturen glaubt man, dass Träume auf die eine oder andere Art eine wichtige persönliche und kulturelle Bedeutung besitzen. Befassen wir uns nun damit, auf welche Weise man in verschiedenen Kulturen Träumen eine Bedeutung zuschreibt. Die Freud´sche Traumanalyse Die bekannteste Theorie der modernen westlichen Kultur wurde von Sigmund Freud begründet. Freud bezeichnete Träume als „transitorische Psychosen“, als Arten von „allnächtlicher Verrücktheit“, aber auch als den „Königsweg zum Unbewussten“. Mit seinem klassischen Werk Die Traumdeutung (1900/1972) machte er die Traumanalyse zum Eckpfeiler der Psychoanalyse. Freud sah in den Traumbildern den symbolischen Ausdruck von mächtigen, unbewussten, unterdrückten Wünschen. Diese Wünsche erscheinen in maskierter Form, denn sie bergen verbotene Sehnsüchte, wie das sexuelle Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils. Die beiden dynamischen Kräfte in Träumen sind also der Wunsch und die Zensur, die Abwehr des Wunsches. Die Zensur verwandelt die verborgene Bedeutung der Träume, ihren latenten Inhalt, in einen manifesten Inhalt, der dem
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Träumenden nach einem Verzerrungsprozess erscheint, den Freud Traumarbeit nennt. Der manifeste Inhalt stellt die akzeptable Version, der latente die sozial und persönlich inakzeptable, aber wahre und unbeschnittene Version dar. Nach Freud erfordert die Interpretation des Traumes, dass man sich von den manifesten zu den latenten Inhalten zurückarbeitet. Für den Psychoanalytiker, der mit der Traumanalyse die Probleme seines Patienten verstehen und behandeln will, enthüllen Träume die unbewussten Wünsche des Patienten, die Ängste, die mit diesen Wünschen verbunden sind, und die charakteristischen Abwehrstrategien, die der Patient einsetzt, um mit dem resultierenden psychischen Konflikt zwischen Wünschen und Ängsten umzugehen. Freud glaubte, dass die Symbole und Metaphern in Träumen sowohl idiosynkratische – speziell auf ein Individuum bezogene – als auch universelle Bedeutungen – oft sexueller Natur – haben können: Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen dem Frauenleib, aber auch Höhlen, Schiffe und alle Art von Gefäßen. Zimmer im Traume sind zumeist Frauenzimmer, die Schilderung ihrer verschiedensten Eingänge und Ausgänge macht an dieser Auslegung gerade nicht irre ... Der Traum, durch eine Flucht von Zimmern zu gehen, ist ein Bordell- oder Haremstraum ... Alle komplizierten Maschinerien und Apparate der Träume sind mit großer Wahrscheinlichkeit Genitalien – in der Regel männliche … (Freud, 1972, S. 348 – 350) Freuds Theorie der Trauminterpretation bezog Traumsymbole auf seine explizite Theorie der menschlichen Psychologie. Man fand zwar keine Beweise für Freuds Theorie eines latenten und manifesten Inhalts, doch ebnete seine Betonung der psychischen Wichtigkeit von Träumen der gegenwärtigen Erforschung der Trauminhalte den Weg (Domhoff, 1996; Fisher & Greenberg, 1996). Nichtwestliche Ansätze zur Trauminterpretation Viele Menschen in westlichen Gesellschaften denken nicht ernsthaft über ihre Träume nach, bis sie Psychologie studieren oder sich einer Therapie unterziehen. Im Gegensatz dazu gehört in vielen nichtwestlichen Kulturen die Traumdeutung einfach dazu (Wax, 2004). Man betrachte die tägliche Praxis der AchuarIndianer (auch als Archur-Indianer bezeichnet) Ecuadors (Schlitz, 1997, S. 2):
5.3 Schlaf und Traum
Wie jeden Morgen sitzen die Männer [des Dorfes] in einem kleinen Kreis zusammen … Sie erzählen sich ihre Träume der vergangenen Nacht. Dieses tägliche Ritual des Erzählens von Träumen ist für die Archur lebenswichtig. Ihrem Glauben nach träumt jedes Individuum nicht für sich selbst, sondern für die Gemeinschaft als Ganze. Die individuelle Erfahrung dient dem kollektiven Handeln. Bei diesen morgendlichen Treffen erzählt jeder seine Traumgeschichte und die anderen geben ihre Interpretationen zum Besten, in der Hoffnung, ein überein-
stimmendes Verständnis der Bedeutung jedes Traumes zu erlangen. Der Glaube, dass ein Individuum „für die Gemeinschaft als Ganze“ träumt, steht im Kontrast zu Freuds Sicht, dass Träume der „Königsweg“ zum individuellen Unbewussten sind. In vielen Kulturen wird speziellen Gruppen von Menschen die besondere Fähigkeit zur Traumdeutung zugeschrieben. Betrachten wir die Praktiken der Mayas, die in verschiedenen Teilen Mexikos, Guatemalas, Belizes und Honduras’ leben. In der Kultur der Maya fungieren Schamanen als Traumdeuter. Tatsächlich werden von einigen Untergruppen der Mayas Menschen als Schamanen ausgewählt, wenn sie träu-
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Bekommen Sie ausreichend Schlaf?
Vor 10 oder 20 Jahren gab es nach Mitternacht nicht mehr viel zu tun. Nach den Hausaufgaben konnten Schüler zwischen dem Zu-Bett-Gehen und dem Spätprogramm im Fernsehen wählen. Im Gegensatz dazu entstand in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts das Internet und mit ihm ein Angebot an Stimulation rund um die Uhr: 24 Stunden an 7 Tagen der Woche. Zu jeder Tages- und Nachtzeit können wir im Internet surfen oder einen Chatroom besuchen. Man kann bei einem Mitternachtssnack in Berlin, Connecticut, mit jemandem chatten, der gerade in Berlin, Deutschland, frühstückt. Die Ausbreitung des Internets hat verstärkt, was man als Hassliebe vieler Menschen gegenüber dem Schlaf bezeichnen kann. Die Leute schlafen gerne, weil man sich gut fühlt, wenn man ausgeruht ist (und es einem schlecht geht, wenn man müde ist). Wie wir in diesem Kapitel sahen, braucht unser Körper Schlaf, um effektiv zu funktionieren. Andererseits schlafen Leute nicht gern, weil es so viele schöne Dinge zu tun gibt. Das WWW steigert die Zahl der angenehmen Dinge beträchtlich. Die Autoren dieses Buches geben zu, dass sie schon vorsätzlich weniger geschlafen haben, nur um das Surfen nicht unterbrechen zu müssen. Aus der Sicht vieler Forscher hat diese Verfügbarkeit des Internet rund um die Uhr eine schlechte Situation nur noch schlechter gemacht. Sie sorgen sich schon seit einigen Jahren um den Schlaf von Jugendlichen und Studierenden (Dement & Vaughan, 1999; Wolfson & Carskadon, 1998). Obwohl Experten acht Stunden Schlaf empfehlen, stellte sich bei einer Umfrage der National Sleep Foundation (2005) aus dem Jahr 2004 heraus, dass der Durchschnitt der 18- bis 29-Jährigen dem nie gerecht wird. Unter der Woche schlafen diese Menschen im Schnitt 6,8 Stunden. In
dieser Altersgruppe gaben 55 Prozent der Befragten an, dass sie mindestens an einem Tag der Woche unter Müdigkeit litten; 44 Prozent berichteten, dass sie wegen Schlafmangel nicht zur Arbeit gegangen oder Veranstaltungen hätten ausfallen lassen müssen. Darüber hinaus gaben 46 Prozent der Befragten an, dass sie im zurückliegenden Jahr mindestens einmal monatlich schläfrig Auto gefahren sind. Wie wichtig ist es Ihnen, wie viel Schlaf Sie bekommen? Die Forschung geht davon aus, dass College-Studenten die negativen Auswirkungen von Schlafmangel auf ihre kognitiven Leistungen unterschätzen (Pilcher & Walters, 1997). Denken Sie einen Moment lang an die Tatsache, dass chronischer Schlafmangel sich sehr ungünstig auf Ihre Studienleistungen auswirkt (Buboltz et al., 2002). Zweifelsohne bekommen viele Studierende aufgrund des mit Prüfungen und Referaten verbundenen Stresses wenig Schlaf. (Murphy & Archer, 1996). Dennoch stimmten 55 Prozent der Teilnehmer der Umfrage in dieser Altersgruppe der Aussage zu, dass sie „oft länger aufbleiben, als sie sollten, weil sie fernsehen oder im Internet sind“ (National Sleep Foundation, 2000). Ist das auch bei Ihnen so? Wir wollen Sie nicht von einem spannenden und abwechslungsreichen Leben abbringen. Wir weisen nur auf die Beobachtung hin, dass technologischer Fortschritt oft neue Gründe für Schlafmangel mit sich bringen. Müdigkeit zieht viele schwerwiegende Probleme nach sich: Schlechtere Noten, Schwierigkeiten zu arbeiten und Verkehrsunfälle sind nur einige davon. Man erfand Pillen, die uns am Einschlafen hindern – aber keine, die das Schlafbedürfnis aufheben. Forschungsergebnisse legen nahe, bei der Verplanung aller 24 Stunden eines Tages 8 Stunden für das Schlafen zu reservieren.
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men, sie würden von Göttern aufgesucht, die ihnen die Berufung zum Schamanen verkünden. Formelle Instruktionen für religiöse Riten werden diesen neu gewählten Schamanen ebenfalls im Traum offenbart. Obgleich Schamanen und andere Personen des religiösen Lebens besonders viel über die Traumdeutung wissen, berichten und diskutieren auch gewöhnliche Leute ihre Träume. Träumende wecken für gewöhnlich ihre Partner mitten in der Nacht, um von ihren Träumen zu erzählen; in einigen Gegenden fragen Mütter jeden Morgen ihre Kinder, was sie geträumt haben. In jüngerer Zeit wurden viele Mayas in ihrer Heimat Opfer von Bürgerkriegen; viele wurden getötet oder vertrieben. Eine wichtige Reaktion darauf ist laut der Anthropologin Barbara Tedlock „eine stärkere Betonung von Träumen und Visionen, über die sie mit ihren Vorfahren und der heiligen Erde, auf der sie leben, in Verbindung bleiben“ (Tedlock, 1992, S. 471). Die kulturelle Praxis vieler nichtwestlicher Gruppen spiegelt hinsichtlich der Träume auch eine völlig unterschiedliche Zeitperspektive wider. Freud schaute in der Zeit zurück, zu kindlichen Erlebnissen und unterdrückten Wünschen. In vielen anderen Kulturen sind Träume ein Blick in die Zukunft (Basso, 1987). Bei den Menschen der Ingessana-Berge beispielsweise, einer Region an der Grenze von Äthiopien und dem Sudan, wird der Zeitpunkt von Festen nach Traumvisionen festgelegt (Jedrej, 1995). Die Hüter religiöser Schreine werden im Traum von ihren Vätern und anderen Vorfahren aufgesucht, die sie anweisen, „das Fest anzukündigen“. Andere Volksgruppen kennen kulturell gegebene Beziehungen zwischen Traumsymbolen und Bedeutungen, wie diese Interpretationen der Kapolo-Indianer aus Zentralbrasilien (Basso, 1987, S. 104): Wenn wir träumen, dass das Feuer uns verbrennt, werden wir später von einem wilden Tier gebissen, von einer Spinne oder einer Feuerameise zum Beispiel. Wenn wir träumen, mit einer Frau zu schlafen, werden wir sehr erfolgreich sein, wenn wir fischen gehen. Wenn sich ein junger Mann zurückzieht und träumt, er klettere auf einen hohen Baum, oder ein anderer träumt, er sähe einen langen Weg, werden sie lange leben. Das wäre auch der Fall, wenn wir davon träumten, einen breiten Strom in einem Wald zu überqueren. Jede dieser Interpretationen ist auf die Zukunft gerichtet. Die zukunftsbezogene Orientierung der Traum-
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interpretation stellt eine wichtige Komponente einer reichen kulturellen Tradition dar. Physiologische Theorien der Trauminhalte Der Eckpfeiler westlicher und nichtwestlicher Traumdeutung ist, dass Träume Informationen enthalten, die für den Einzelnen oder die Gemeinschaft von genuinem Wert sind. Diese Sichtweise wird von biologisch basierten Theorien angegriffen. Betrachten wir das Modell der Aktivationssynthese, dem zufolge neurale Signale im Hirnstamm entstehen und dann Areale des Cortex stimulieren; an diesem Punkt lösen sie Erinnerungen und Verbindungen mit vergangenen Erfahrungen der Träumenden aus (Hobson & McCarley, 1977). Aus dieser Sicht gibt es keine logischen Verbindungen, keine intrinsische Bedeutung, kein kohärentes Muster dieser zufälligen Salven elektrischer „Signale“. Die heutige Traumforschung widerspricht jedoch der Theorie, dass Trauminhalte aufgrund zufälliger Signale entstehen. Moderne neurowissenschaftliche Untersuchungsmethoden des „Brain Imaging“ gehen davon aus, dass der Hippocampus – ein Teil des Großhirns, der eminent wichtig ist für die Abspeicherung bestimmter Gedächtnisinhalte (siehe Kapitel 7) – während des REM-Schlafs aktiv ist (Nielsen & Stenstrom, 2005). Ein anderer Teil des Gehirns, der eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung emotionaler Erinnerung spielt, ist die Amygdala, auch Mandelkern genannt. Auch sie ist während des REM-Schlafs sehr aktiv. Dieses tiefere Verständnis der physiologischen Aspekte des Träumens unterstützt die Annahme, dass der Schlaf unter anderem die Funktion hat, „die Erfahrungen der letzten Tage mit den Zielen, Wünschen und Problemen des Träumers in Einklang zu bringen.“ (Paller & Voss, 2004, S. 667). Demnach spiegelt die Traumgeschichte den Versuch des Gehirns wider, eine Geschichte um jene neuen Fragmente im Leben des Träumers zu spinnen, die während des REM-Schlafs in den Vordergrund treten. Die Traumforschung bestätigt, dass es eine enge Verbindung zwischen den Trauminhalten und unseren Gedanken im Wachzustand gibt. (Domhoff, 2005). Eine Studie kam mithilfe von Erlebnisstichproben zu dem Ergebnis, dass Mädchen eher als Jungen bei dem Gedanken an Freunde an beide Geschlechter denken und nicht nur an das eigene (Richards et al., 1998). Traumstudien mit 9- bis 15-Jährigen zeigen, dass die Trauminhalte, bei denen es um Gleichaltrige geht, ähnliche Geschlechtsunterschiede aufweisen (Strauch, 2005; Strauch & Lederbogen, 1999). Außerdem bleiben
5.4 Veränderte Bewusstseinszustände
die Trauminhalte von Erwachsenen über Jahre oder sogar Jahrzehnte hinweg im Großen und Ganzen dieselben (Domhoff, 1999). Vielleicht wollen Sie Ihr eigenes Traumtagebuch führen – versuchen Sie jeden Morgen, sofort nach dem Aufwachen Ihre Träume aufzuschreiben –, um herauszufinden, wie Ihre Träume Tagesreste verarbeiten und wie Ihre Trauminhalte sich verändern oder über einen bestimmten Zeitraum dieselben bleiben. Eines sollten Sie jedoch wissen: Manchen Menschen fällt es schwerer als anderen, sich an ihre Träume zu erinnern (Wolcott und Strapp, 2002). Es ist zum Beispiel leichter, sich an einen Traum zu erinnern, wenn man während einer REM-Phase oder kurz danach aufwacht. Daher kann es hilfreich sein, den Wecker mal auf eine andere Zeit zu stellen. Auch scheinen Menschen mit einer positiven Einstellung zu Träumen sich leichter an sie zu erinnern. Ihr Interesse an Ihren Träumen erleichtert also möglicherweise deren Erinnerung und Sie können Sie leichter in Ihr Traumtagebuch schreiben. Albträume Vermittelt ein Traum uns das schreckliche Gefühl, hilflos zu sein oder die Kontrolle zu verlieren, dann haben wir einen Albtraum. Die meisten Menschen haben relativ selten Albträume. In einer Studie mit 89 Studenten vor ihrem Abschluss, die einen Monat lang ein Traumtagebuch führten, betrug die durchschnittliche Anzahl von Albträumen 0,48. Dieser Monatsdurchschnitt entspricht einem Jahresdurchschnitt von 5,76 Albträumen (Zadra & Donderi, 2000). Es gibt jedoch Menschen, die öfter Albträume haben, zum Teil jede Nacht. Kinder haben in der Regel mehr Albträume als Erwachsene (Mindell, 1997). Auch Menschen, denen traumatische Erfahrungen wie Vergewaltigung oder Krieg widerfuhren, haben oft wiederkehrende Albträume, die sie einige Aspekte ihres Traumas immer wieder durchleben lassen. Studierende, die ein starkes Erdbeben in der San Francisco Bay miterlebt hatten, bekamen mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit Albträume wie Studierende ohne eine solche Erfahrung – und wie man sich vorstellen kann, handelten viele Albträume von den verheerenden Folgen von Erdbeben (Wood et al., 1992). Man kann Albträume als äußere Grenze des Schlafes – der täglichen Veränderung des Bewusstseinszustandes – ansehen. Wenden wir uns nun Umständen zu, bei denen Menschen vorsätzlich hinter die beschriebenen alltäglichen Erfahrungen dringen wollen.
ZWISCHENBILANZ 1 Warum haben wir Jetlags? 2 Wie verändert sich das Gleichgewicht von NREM- und
REM-Schlafphasen während der Nacht? 3 Welche beiden Funktionen kann der NREM-Schlaf er-
füllen? 4 Was passiert mit einem Menschen, der unter Schlaf-
apnoe leidet? 5 Was verstand Freud unter latenten Trauminhalten?
KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie, die den Einfluss neuer Lernaufgaben auf den REM-Schlaf dokumentierte. Warum war es wichtig, eine Kontrollgruppe zu haben?
Veränderte Bewusstseinszustände
5.4
In jeder Kultur wollten Menschen mehr als nur die normalen Veränderungen ihres Wachbewusstseins erzielen. Man entwickelte Praktiken, mit deren Hilfe man hinter die vertrauten Formen des Bewusstseins gelangen und andere Bewusstseinszustände erleben kann. Eine individuelle Praxis ist das Konsumieren von Freizeitdrogen. Gewisse religiöse Praktiken und dergleichen stellen gemeinschaftliche Versuche dar, die normalen Grenzen des bewussten Erlebens zu überschreiten. Es folgt ein Überblick über etliche solcher Praktiken, bei denen veränderte Bewusstseinszustände auf unterschiedliche Weise herbeigeführt werden.
5.4.1 Luzide Träume Kann man sich dessen bewusst sein, dass man träumt, während man träumt? Vertreter der Theorie von luziden Träumen haben demonstriert, dass man lernen kann, sich des Träumens bewusst zu sein. Mit regelmäßiger Übung können die Träumenden die Richtung ihrer Träume bestimmen (Gackenbach & LaBerge, 1988; LaBerge & DeGarcia, 2000).
AUS DER FORSCHUNG Stephen LaBerge und seine Mitarbeiter fanden eine Methode, die ihnen ermöglicht, den Wahrheitsgehalt von Berichten über luzide Träume zu testen. Der Nachweis lehnte sich an frühere Forschungen an, die zeigten, dass einige
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der Augenbewegungen im REM-Schlaf der berichteten Blickrichtung der Träumenden entsprachen. Die Forscher forderten deshalb erfahrene luzide Träumer auf, bestimmte Muster willkürlicher Augenbewegungen auszuführen, wenn sie merkten, dass sie träumen. Die vorher vereinbarten Augenbewegungssignale erschienen auf einem Polygrafen während des REM-Schlafes, und man konnte zeigen, dass die Probanden während des REM-Schlafes tatsächlich in einem luziden Zustand gewesen waren (LaBerge et al., 1981).
Luzide Träume wurden mit einer Vielzahl von Methoden induziert. In manchen Experimenten tragen Schlafende speziell entwickelte Brillen, die rote Lichtblitze aussenden, wenn sie einen REM-Schlaf entdecken. Im Vorfeld haben die Probanden gelernt, dass das rote Licht ein Hinweis darauf ist, sich bewusst zu werden, dass man träumt (LaBerge & Levitan, 1995). Wenn sie sich des Träumens bewusst, aber nicht aufgewacht sind, erleben die Schlafenden luzide Träume. Sie können ihre Träume kontrollieren, sie gemäß ihren persönlichen Zielen und Vorlieben lenken und das Ende der Träume an ihre derzeitigen Bedürfnisse anpassen. Wenn man fest daran glaubt, dass solche Träume möglich sind, und die Techniken hierfür regelmäßig übt, wächst erwiesenermaßen die Fähigkeit, solche Träume zu haben (LaBerge & Rheingold, 1990). Forscher wie Stephen LaBerge sind der Meinung, dass es dem Menschen durchaus gut tut, die Kontrolle über die eigentlich „unkontrollierbaren“ Ereignisse in Träumen zu erlangen, denn diese Fähigkeit erhöht das Selbstvertrauen und lässt beim Individuum positive Erfahrungen entstehen. Einige Therapeuten hingegen, welche die Probleme ihrer Patienten zum Teil mithilfe der Traumanalyse verstehen wollen, sprechen sich gegen derartige Vorgehensweisen aus, die ihrer Ansicht nach den natürlichen Prozess des Träumens stören.
schlafen, könnten sie nicht auf Hypnose reagieren.) Eine weite Definition des Begriffes ist folgende: Hypnose ist ein veränderter Bewusstseinszustand, der durch die spezielle Fähigkeit charakterisiert ist, die einige Menschen auf Suggestionen hin mit Veränderungen in Wahrnehmung, Gedächtnis, Motivation und Selbstkontrolle reagieren lässt. Im Zustand der Hypnose sprechen Menschen auf Suggestionen des Hypnotiseurs sehr stark an – sie glauben oft, dass ihr Verhalten ohne Absicht oder bewusste Anstrengung vonstatten geht. Forscher sind sich bezüglich der psychologischen Mechanismen bei der Hypnose uneins (Lynn & Kirsch, 2006). Einige der ersten Theoretiker auf diesem Gebiet glaubten, dass sich hypnotisierte Menschen in einer Art Trance befänden, die mit dem wachen Bewusstsein kaum etwas gemein hat. Andere waren der An-
5.4.2 Hypnose Es herrscht landläufig die Meinung vor, dass Hypnotiseure eine ungeheure Macht auf willige und unwillige Menschen ausüben. Trifft dieses Bild wirklich auf die Hypnotiseure zu? Was ist Hypnose, was sind ihre bedeutendsten Merkmale und was ist ihr valider psychologischer Nutzen? Der Name Hypnose leitet sich von Hypnos ab, dem griechischen Gott des Schlafes. Schlaf jedoch spielt bei der Hypnose keine Rolle, außer, dass Menschen in einigen Fällen so erscheinen, als befänden sie sich in einem tief entspannten, schlafähnlichen Zustand. (Würden diese Menschen wirklich
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Der Forscher Stephen LaBerge passt eine spezielle Brille an, die die schlafende Probandin darauf aufmerksam machen soll, wenn REM-Schlaf eintritt. Die Probandin wird trainiert, in einen Zustand des luziden Träumens einzutreten, sich also des Prozesses und Inhalts von Träumen bewusst zu sein. Wie würden Sie Ihre Träume formen, wenn Sie die Fähigkeit zum luziden Träumen besäßen?
sicht, dass Hypnose nichts anderes als erhöhte Motivation sei. Für wieder andere war Hypnose eine Art soziales Rollenspiel, eine Art Placebo-Reaktion mit dem Versuch, dem Hypnotiseur einen Gefallen zu tun (siehe Kapitel 2). Tatsächlich konnten Wissenschaftler weitgehend ausschließen, dass Hypnose eine spezielle, tranceähnliche Veränderung im Bewusstsein mit sich bringt. Auch wenn nichthypnotisierte Menschen zum Teil die gleichen Verhaltensmuster zeigen können wie hypnotisierte, gibt es doch einige zusätzliche Effekte der Hypnose – jenseits motivationaler oder placeboartiger Prozesse. Wir erläutern zunächst die Induktion von Hypnose und die Hypnotisierbarkeit und beschreiben dann einige dieser Effekte. Induktion von Hypnose und Hypnotisierbarkeit Hypnose beginnt mit einer Induktion, das sind vorbereitende Aktivitäten, welche die äußeren Ablenkungsfaktoren auf ein Minimum reduzieren und die Teilnehmer ermuntern, sich ausschließlich auf die suggerierten Reize zu konzentrieren und zu glauben, dass sie im Begriff sind, ein besonderes Stadium des Bewusstseins zu betreten. Aktivitäten zur Induktion sind Anregungen, sich gewisse Erlebnisse vorzustellen oder Ereignisse und Reaktionen zu visualisieren. Bei wiederholter Ausübung funktionieren diese Induktionsprozeduren wie ein gelerntes Signal, so dass die Teilnehmer den Zustand der Hypnose schnell erreichen können. Die typische Induktionsprozedur setzt auf die Suggestion zur tiefen Entspannung, manche Menschen hingegen können mit einer aktiven, wachen Induktion hypnotisiert werden – beispielsweise durch die Vorstellung, dass sie joggen oder Rad fahren (Banyai & Hilgard, 1976). Hypnotisierbarkeit gibt den Grad an, in dem ein Individuum auf standardisierte Suggestionen anspricht, um hypnotische Reaktionen zu zeigen. Die Hypnotisierbarkeit von Menschen variiert sehr stark; manche reagieren überhaupt nicht auf hypnotische Induktionen, andere reagieren auf alles, was ihnen suggeriert wird. 씰 Abbildung 5.6 zeigt, wie viel Prozent von Studierenden wie stark hypnotisierbar sind, wenn sie sich zum ersten Mal einem hypnotischen Induktionstest aussetzen. Was bedeutet „hoch“ oder „sehr hoch“ auf dieser Skala? Beim Test machte der Hypnotiseur eine Reihe posthypnotischer Suggestionen, mit denen die Erlebnisse vorgegeben wurden, die jede Person haben sollte. Wenn der Hypnotiseur suggerierte, dass sich ihre ausgestreckten Arme in Eisenstangen verwandelt hätten, können stark hypnotisierbare Menschen ihre Arme nicht mehr beugen. Mit
Hypnotisierbarkeitswert
5.4 Veränderte Bewusstseinszustände
Abbildung 5.6: Grad der Hypnose bei der ersten Induktion. Der Graph zeigt die Ergebnisse von 533 Individuen, die zum ersten Mal hypnotisiert wurden. Die Hypnotisierbarkeit wurde mit der Stanford Hypnotic Susceptibility Scale anhand von 12 Fragen erfasst. einer geeigneten Suggestion bringt man sie dazu, eine nicht existierende Fliege zu verscheuchen. Oder solche Menschen können ihren Kopf nicht mehr als Zeichen der Verneinung schütteln, wenn ihnen der Hypnotiseur suggeriert, dass sie diese Fähigkeit verloren hätten. Studierende mit „geringer“ Hypnotisierbarkeit machten, wenn überhaupt, nur wenige solcher Erfahrungen. Hypnotisierbarkeit ist ein relativ stabiles Persönlichkeitsmerkmal. Als 50 Männer und Frauen 25 Jahre nach dem Test ihrer Hypnotisierbarkeit während des Studiums abermals getestet wurden, ergab sich mit .71 ein erstaunlich hoher Korrelationskoeffizient (Piccione et al., 1989). Kinder sprechen auf Suggestion im Allgemeinen stärker an als Erwachsene; die Hypnotisierbarkeit erreicht kurz vor dem Jugendalter einen Höhepunkt und fällt dann wieder ab. Obwohl die Hypnotisierbarkeit relativ stabil ist, korreliert sie nicht mit Traits, also stabilen Persönlichkeitsmerkmalen, wie Leichtgläubigkeit oder Konformität (Fromm & Shor, 1979; Kirsch & Lynn, 1995). Tatsächlich ist das Persönlichkeitsmerkmal, das die höchste positive Korrelation mit der Hypnotisierbarkeit aufweist, die Absorption, also die „Prädisposition eines Menschen, sich in imaginären oder sensorischen Erfahrungen zu verlieren“ (Council & Green, 2004, S. 364). Wenn Sie zum Beispiel die „reale“ Welt völlig vergessen, während Sie sich einen Film ansehen, dann sind Sie womöglich auch leicht hypnotisierbar. Es gibt einige Hinweise auf genetische Determinanten der Hypnotisierbarkeit, denn die Ausprägungen eineiiger Zwillinge sind ähnlicher als die von zweieiigen Zwillingen (Morgan et al., 1970). In letzter Zeit konzentrieren sich die Studien auf die spezifischen Gene, die individuellen Unterschieden zugrunde lie-
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gen. So haben Forscher etwa ein Gen namens COMT identifiziert, das die Verwendung des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn beeinflusst. Variationen in diesem Gen stehen mit individuellen Unterschieden in der Hypnotisierbarkeit in Zusammenhang (Raz, 2005). Wirkungen von Hypnose Bei der Beschreibung, wie Hypnotisierbarkeit gemessen wird, erwähnten wir schon einige Standardeffekte der Hypnose: Unter Hypnose reagieren Menschen auf Suggestionen hinsichtlich motorischer Fähigkeiten (beispielsweise seine Arme nicht mehr beugen zu können) und wahrgenommener Erfahrungen (wie das Vorstellen einer Fliege). Wie können wir sicher sein, dass diese Verhaltensweisen aus speziellen Eigenschaften der Hypnose entstehen und nicht eine große Bereitschaft der Teilnehmer darstellen, den Hypnotiseur zufrieden zu stellen? Um dieser Frage nachzugehen, haben Forscher oft Experimente durchgeführt, die das Verhalten wirklich hypnotisierter Personen mit dem von Simulanten vergleichen.
AUS DER FORSCHUNG Zwei Gruppen von Studierenden nahmen an einem Experiment teil. Die eine Gruppe wurde wirklich hypnotisiert. Die andere wurde instruiert, Hypnose zu simulieren: Die Probanden wurden von einem ersten Experimentator angewiesen, einen zweiten glauben zu machen, dass sie hypnotisiert wären. Beide Gruppen hörten dann Töne, die sie hinsichtlich ihrer Lautstärke beurteilen sollten. Ein wichtiger Teil des Experiments war eine Instruktion, die den Probanden vorschrieb, was sie erleben sollten (Reed et al., 1996, S. 143):
Menschen, die den Ton mehr als einmal hören, neigen dazu, in die Hypnose zurückzukehren, was die Intensität des Tones, den sie hören, deutlich reduziert. Sie fielen in diesem letzten Durchgang wahrscheinlich in die Hypnose zurück und hörten daher sehr wenig von diesem Ton. Vielleicht haben Sie ihn auch überhaupt nicht gehört. Wenn alle Effekte der Hypnose auf den Wunsch der Probanden zurückgeführt werden könnten, den Forderungen des Experimentators zu entsprechen, würden hypnotisierte und simulierende Menschen auf die gleiche Weise reagieren. Das ist aber nicht der Fall. Die Berichte von wirklich hypnotisierten Menschen variierten stärker: Sie blieben näher an ihren wahren Erfahrungen, als etwas zu erfinden, das der Experimentator ihrer Meinung nach hören wollte (Reed et al., 1996).
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In diesem Fall raten Simulanten vermutlich falsch, was sie erlebt hätten, wären sie tatsächlich hypnotisiert worden wären. Aus Experimenten dieser Art erfahren wir genau, welchen unabhängigen Beitrag die Hypnose zum Erleben der Menschen leistet. Von unbestrittenem Wert ist die Fähigkeit der Hypnose, Schmerzen zu lindern (hypnotische Analgesie). Unser Gehirn kann Schmerzreize durch Antizipation und Angst verstärken; diesen psychologischen Effekt können wir mittels Hypnose mindern (Chaves, 1999). Schmerzkontrolle kann durch eine Vielzahl hypnotischer Suggestionen erfolgen: Man kann sich vorstellen, dass das schmerzende Körperteil nicht organisch (sondern zum Beispiel aus Metall oder Plastik) ist oder vom Rest des Körpers getrennt ist (der Kopf ist auf Urlaub und kann deshalb nicht vom Körper geplagt werden), oder man kann das Zeiterleben auf unterschiedliche Weise modifizieren. Menschen können Schmerzen durch Hypnose kontrollieren, auch wenn sie alle Gedanken und Vorstellungen aus dem Bewusstsein verbannen (Hargadon et al., 1995). Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, dass hoch hypnotisierbare Menschen durch Hypnose größere Schmerzerleichterung gewinnen können. Die Forschung bemüht sich, die Grundlagen dieser Differenz im Gehirn zu verstehen. So zeigte etwa eine Gehirnfunktionsstudie mit bildgebenden Verfahren, dass Menschen mit besserer Hypnotisierbarkeit auch größere Areale vorne am Corpus callosum besaßen (siehe Kapitel 3) (Horton et al., 2004). Diese Region des Corpus callosum spielt eine Rolle bei der Zuwendung von Aufmerksamkeit und der Hemmung störender Reize, was darauf hindeutet, dass Menschen, die sich leichter hypnotisieren lassen, möglicherweise mehr Hirngewebe haben, das ihnen die Verwendung von Hypnose zur Schmerzunterdrückung ermöglicht. EEG-Studien zeigen ebenfalls – im Kontext hypnoseinduzierter Schmerzreduktion – Unterschiede in den Reaktionen des Gehirns bei gut und schlecht hypnotisierbaren Menschen (Ray et al., 2002). Noch etwas zur Hypnose: Die Kraft der Hypnose liegt nicht in einer besonderen Fähigkeit des Hypnotiseurs begründet, sondern vielmehr in der relativen Hypnotisierbarkeit der Personen, die hypnotisiert werden sollen. Hypnotisiert zu sein heißt nicht, die persönliche Kontrolle zu verlieren; stattdessen erlaubt die Erfahrung der Hypnose, dass ein Individuum neue Möglichkeiten erlernt, Kontrolle auszuüben. Der Hypnotiseur kann (als Coach) eine Person (als Ausführenden) trainieren zu agieren. An all dies sollten Sie denken, wenn Sie eine Bühnenshow sehen, in der sich Leute unter Hypnose befremdlich verhalten: Bühnen-
5.4 Veränderte Bewusstseinszustände
Hypnotiseure leben davon, ihre Zuschauer zu unterhalten, indem sie höchst exhibitionistische Menschen in der Öffentlichkeit Dinge tun lassen, die die meisten anderen Menschen niemals tun würden. Für Forscher und Therapeuten hingegen ist die Hypnose eine Technik, die das Potenzial besitzt, unser Bewusstsein zu erforschen und zu verändern.
5.4.3 Meditation Viele Religionen und traditionelle Psychologien des Ostens arbeiten darauf hin, das Bewusstsein von den unmittelbaren weltlichen Belangen wegzulenken. Sie versuchen, einen inneren Fokus auf das mentale und spirituelle Selbst zu erreichen. Meditation ist eine Form der Bewusstseinsveränderung, um die Selbsterkenntnis und das Wohlbefinden durch ein Stadium tiefer Ruhe zu steigern. Während der konzentrativen Meditation kann sich die Person auf ihre Atmung konzentrieren und diese regulieren, bestimmte Körperhaltungen einnehmen (Yoga-Stellungen), äußere Reize minimieren, bestimmte mentale Bilder erzeugen oder den Geist von allen Gedanken befreien. Im Gegensatz dazu lernen Menschen bei der achtsamen Meditation (mindfulness meditation), Gedanken und Erinne-
rungen kommen und gehen zu lassen, ohne auf sie zu reagieren. Die Forschung konzentriert sich oft auf das Potenzial der Meditation, Ängste bei jenen Menschen abzubauen, die in stressgeprägten Umgebungen arbeiten müssen (Anderson et al., 1999; Shapiro et al., 1998). So dient zum Beispiel mindfulness meditation als Grundlage für mindfulness-basierten Stressabbau (Kabat-Zinn, 1990). In einer Studie erhielten Frauen mit Herzerkrankungen eine achtwöchige Ausbildung in mindfulness meditation; am Ende dieser Therapie gaben sie durchgängig an, dass sich ihre Angstgefühle im Vergleich zu Beginn der Studie verringert hätten (Tacon et al., 2003). Die Frauen in der Kontrollgruppe berichteten von keiner entsprechenden Verringerung. Da Angstgefühle ein Faktor bei der Entstehung von Herzerkrankungen sind, belegt dieses Resultat, dass der Geist dabei helfen kann, den Körper zu heilen. (Wir werden auf dieses Thema zurückkommen, wenn wir in Kapitel 12 die Gesundheitspsychologie darstellen.) Bildgebende Verfahren in der Hirnforschung haben inzwischen erste Einblicke geliefert, wie die meditative Praxis die Muster der Hirnaktivität beeinflusst (Cahn & Polich, 2006). Neue Ergebnisse deuten sogar darauf hin, dass Meditieren einen positiven Effekt auf das Gehirn selbst haben kann.
Wie erzeugt Meditation einen veränderten Bewusstseinszustand?
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AUS DER FORSCHUNG Die Forscher argumentierten, dass die mit dem Meditieren verbundenen Aktivitäten – die Konzentration der Aufmerksamkeit auf durch innere oder äußere Ereignisse ausgelöste Empfindungen – positive Veränderungen in den mit diesen Aktivitäten assoziierten Hirnarealen bewirken würden (Lazar et al., 2005). Um diese Hypothese zu testen, rekrutierten die Forscher zwei Gruppen von Probanden: 20 Menschen mit langer Meditationserfahrung und 15 andere als Kontrollgruppe ohne meditative Erfahrungen. Bei allen Teilnehmern wurde mit MRT-Scans die Dicke der relevanten Cortexareale gemessen. Wie die Forscher vorhergesagt hatten, ergaben diese Scans, dass die Meditationserfahrenen im Bereich des auditorischen und somatosensorischen Cortex eine dickere Hirnrinde aufwiesen (siehe Kapitel 3). In den Hirnarealen, die für die Meditation keine unmittelbare Bedeutung besitzen, differierte bei den Gruppen die Dicke der Hirnrinde dagegen nicht. Weitere Analysen ergaben, dass die Menschen mit der größten Meditationserfahrung auch die größte zusätzliche Dicke in den diesbezüglichen Cortexarealen aufwiesen.
Mit zunehmendem Alter verliert die Hirnrinde normalerweise an Dicke. Aufgrund ihrer Ergebnisse spekulierten die Forscher, dass Meditation diesen natürlichen Neuronenverlust möglicherweise verlangsamen könnte. Anhänger der Meditation behaupten, dass einige ihrer Formen bei regelmäßiger Ausübung das Bewusstsein erweitern und beim Erreichen der Erleuchtung helfen, indem sie den Meditierenden bekannte Dinge auf neue Arten sehen lassen. Diese neuen Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Meditation außerdem in der Tat gut für das Gehirn selbst ist.
tödlich giftige Schlangen in der Hand, trinken das Gift Strychnin und fassen ins Feuer. Um sich auf diese Erlebnisse vorzubereiten, hören sie lange Predigten und nehmen an lauten, anhaltenden Gesängen, wildem Tanzen und Herumwirbeln teil: Der Enthusiasmus kann sich am Rande der Gewalt bewegen … Die Teilnehmer heulen und schütteln sich und stoßen unverständliche, ekstatische Laute einer Glossolalie [einer künstlichen Sprache ohne linguistischem Inhalt] hervor … Diese Ekstase breitet sich aus, als wäre sie ansteckend … Ihre Hände sind kalt, auch nach dem Umgang mit Feuer. Dies stimmt mit der Erforschung von Trancezuständen in anderen religiösen Kulturen überein. Es würde auch die verschwommene Erinnerung, ja fast sensorische Amnesie erklären, die Forscher von Menschen berichten, die mit Schlangen oder Feuer umgehen. (Watterlond, 1983, S. 53, 55) Die psychologische Forschung an Mitgliedern religiöser Gruppen, die mit Schlangen umgehen, befand sie als generell gut angepasste Menschen, die starke soziale und psychologische Unterstützung dadurch erfahren, dass sie Teil der Gemeinschaft sind. An den „Zeichen der Geister“ teilzuhaben, ist eine „persönliche Belohnung, die sie in keinem anderen Aspekt ihres Lebens erlangen“ (Watterlond, 1983). In diesem Abschnitt haben wir mehrere Wege betrachtet, auf denen Menschen im Traum wie in der Realität veränderte Bewusstseinszustände erreichen.
5.4.4 Religiöse Ekstase Meditation, Gebet, Fasten und spirituelle Kommunikation tragen zu intensiven religiösen Erfahrungen bei. Für William James (1902) sind religiöse Erfahrungen einzigartige psychologische Erfahrungen der Einheit und Verbundenheit von Ereignissen, der Wahrheit und Lebendigkeit von Erlebnissen und der Unfähigkeit, das Wesen dieser Erfahrung in Worte zu fassen. Religiöse Erfahrungen sind für viele Menschen sicherlich nicht Teil ihres normalen Bewusstseins. Es gibt kaum intensivere religiöse Erfahrungen als die der „Holy Ghost People“ in den Appalachen. Ihr Glaube und ihre Praktiken schaffen eine einzigartige Form von Bewusstsein, die ihnen ermöglicht, bemerkenswerte Dinge zu tun. Beim Gottesdienst halten sie
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Die Holy Ghost People aus den Appalachen und andere religiöse Sekten üben sich in Praktiken wie dem Umgang mit Schlangen, um ihren Glauben zu prüfen und Veränderungen im Bewusstsein zu erlangen. Rayford Dunn wurde kurz nach der Aufnahme dieses Fotos (in Kingston, Georgia) von seiner Wassermokassinschlange (Agkistrodon piscivorus) in die Hand gebissen. Er verhielt sich zwar danach normal – er ging zum Essen und kam am nächsten Tag wieder in die Kirche, um mit Schlangen umzugehen –, doch sind einige Gläubige am Schlangengift gestorben. Befanden Sie sich jemals in einer Situation, in der Sie durch die Stärke Ihres Glaubens einen anderen Bewusstseinszustand erlangten?
5.5 Bewusstseinsverändernde Drogen
Wir beschließen dieses Kapitel mit einem Überblick über das meistverwendete Mittel zur Beeinflussung des Bewusstseins: bewusstseinsverändernde Drogen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist das Hauptziel des luziden Träumens? 2 Was sagt die Forschung über die genetischen Faktoren
der Hypnotisierbarkeit aus? 3 Welche zwei Arten von Meditation gibt es? 4 Warum nahm William James an, dass einige religiöse
Erfahrungen sich vom normalen Bewusstsein unterscheiden? KRITISCHES DENKEN: Warum war es in der Studie zur Dicke des Cortex bei Meditierenden und Nichtmeditierenden wichtig zu zeigen, dass der Cortex im Vergleich beider Gruppen nicht jeweils in allen Hirnarealen unterschiedlich dick war?
Bewusstseinsverändernde Drogen
5.5
Seit jeher haben Menschen Drogen genommen, um ihre Wahrnehmung der Realität zu verändern. Es ist archäologisch belegt, dass Sophora-Samen (MeskalinBohnen) im Südwesten der USA und in Mexiko 10.000 Jahre lang ohne Unterbrechung konsumiert wurden. Die alten Azteken machten aus den Meskalin-Bohnen Bier. Seit jeher nahmen Menschen in Nord- und Südamerika zudem teonanacatl als Teil ihrer Rituale zu sich, den psylocibinhaltigen Pilz, auch bekannt als „Fleisch der Götter“. Kleine Dosen dieses Pilzes erzeugen lebhafte Halluzinationen. In westlichen Kulturen werden Drogen weniger mit heiligen Riten als mit Freizeit und Erholung in Zusammenhang gebracht. Menschen auf der ganzen Welt nehmen unterschiedliche Drogen, um sich zu entspannen, mit ihrem Stress zurechtzukommen, sich nicht mit den Unannehmlichkeiten der Realität auseinander setzen zu müssen, sich in sozialen Situationen wohl zu fühlen oder einen anderen Bewusstseinszustand zu erlangen. Vor über 100 Jahren berichtete William James – dem wir schon einige Male als Begründer der Psychologie in den Vereinigten Staaten begegneten – von einem Experiment mit einer bewusstseinsverändernden Droge. Nach der Inhalation von StickstoffMonoxid N20 schrieb James, dass „der Grundton der Erfahrung die ungeheuer aufregende Empfindung von intensiver metaphysischer Erleuchtung ist. Wahrheit
liegt offen vor Augen, in immer tiefer und tiefer gehenden Schichten der Erkenntnis, die das Auge blendet. Der Geist sieht alle logischen Beziehungen des Seins mit einer offensichtlichen Scharfsinnigkeit und Schnelligkeit, die das normale Bewusstsein nicht bieten kann“ (James, 1882, S. 186). So erstreckte sich das Interesse von James an der Erforschung des Bewusstseins auf Studien zu selbst induzierten veränderten Bewusstseinszuständen. Wie in Kapitel 15 erklärt wird, sind Drogen, die den psychischen Zustand eines Menschen beeinflussen, oft ein wesentlicher Aspekt der Behandlung psychischer Erkrankungen. Wie aus 씰 Tabelle 5.1 zu entnehmen ist, stellen manche Drogen sogar wichtige Medikamente dar. Allerdings konsumieren viele Menschen Drogen, die nicht zur Förderung der physischen oder psychischen Gesundheit verschrieben werden. In einer Umfrage unter US-Bürgern von 2004, bei der nahezu 70.000 Antworten von Teilnehmern über 12 Jahren ausgewertet wurden, gaben 7,9 Prozent an, im vorangegangenen Monat eine oder mehrere ungesetzliche Droge(n) konsumiert zu haben (Substance Abuse and Mental Health Services Administration [SAMHSA], 2005). Der Prozentsatz lag bei Befragten im späten Teenageralter noch höher: 17,3 Prozent der 16- und 17-Jährigen und 21,7 Prozent der 18- bis 20Jährigen gaben den Gebrauch verbotener Drogen zu. Darüber hinaus konsumierten 50,3 Prozent der Befragten im betreffenden Monat Alkohol und 24,9 Prozent rauchten Zigaretten. Diese Zahlen verdeutlichen, wie wichtig es ist, die physiologischen und psychischen Folgen des Drogenkonsums zu verstehen.
5.5.1 Abhängigkeit und Sucht Psychoaktive Substanzen sind Chemikalien, die mentale Prozesse und Verhalten beeinflussen, indem sie das Bewusstsein vorübergehend verändern. Einmal im Gehirn, binden sie sich an synaptische Rezeptoren und blockieren oder stimulieren gewisse Reaktionen. Auf diese Weise verändern sie das Kommunikationssystem des Gehirns, beeinflussen Wahrnehmung, Gedächtnis, Stimmung und Verhalten. Ein kontinuierlicher Konsum einer Droge führt zu Toleranz – größere Dosen werden benötigt, um den gleichen Effekt zu erzielen. (Wir beschreiben einige psychologische Wurzeln der Toleranz in Kapitel 6.) Hand in Hand mit der Toleranz geht die physiologische (körperliche) Abhängigkeit, ein Prozess, bei dem sich der Körper an die entsprechende Substanz gewöhnt und von ihr abhängig wird – teilweise, weil
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Tabelle 5.1
Medizinischer Einsatz psychoaktiver Substanzen Droge
Medizinische Einsatzgebiete
Halluzinogene LSD
Keine
PCP (Phenyl-Cyclidin-Piperidin)
Anästhetikum in der Tiermedizin
Cannabis (Marihuana)
Bei Brechreiz, verbunden mit Chemotherapie
Opiate (Narkotika) Morphium
Schmerzmittel
Heroin
Keine
Beruhigungsmittel Barbiturate
Beruhigungsmittel, Schlaftabletten, Narkosemittel, Krampflöser
Benzodiazepine (z. B. Valium)
Angstlöser, Beruhigung, Schlaftabletten, Krampflöser
Flunitrazepame (z. B. Rohypnol)
Schlafmittel
GHB (Gamma-Hydroxybuttersäure)
Mittel gegen Narkolepsie
Alkohol
Desinfektion
Stimulanzien Amphetamine
Hyperkinese, Narkolepsie, Gewichtskontrolle
Methamphetamine
Keine
MDMA (Ecstasy)
Mögliche Anwendungen in der Psychotherapie
Kokain
Lokale Betäubung
Nikotin
Nikotinkaugummi zum Abgewöhnen des Rauchens
Koffein
Gewichtskontrolle, Stimulation bei akuter Atemnot, Analgesie
Neurotransmitter vom häufigen Vorhandensein der Drogen geschwächt sind. Das tragische Ergebnis von Toleranz und Abhängigkeit ist Sucht. Eine Person, die süchtig ist, braucht die Droge im Körper und leidet unter schmerzhaften Entzugserscheinungen (Schüttelfrost, Schwitzen, Erbrechen und bei Alkoholentzug sogar Tod), wenn sie nicht unter Drogen steht. Empfindet ein Individuum den Gebrauch von Drogen als so wünschenswert und angenehm, dass sich eine Art Drogenverlangen (Craving) entwickelt, mit oder ohne Sucht, besteht psychische Abhängigkeit. Psychische Abhängigkeit kann bei jeder Droge auftreten. Die Folge dieser Abhängigkeit ist, dass sich das Leben eines Menschen so sehr um die Droge dreht, dass seine Funktionstüchtigkeit eingeschränkt oder gestört ist. Zudem führen die hohen Kosten, die aus dem täglichen – und ständig steigenden – Konsum entstehen, oft zu Raubüberfällen, Angriffen, Prostitution oder Drogenhandel.
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5.5.2 Die Bandbreite psychoaktiver Substanzen Die gebräuchlichsten psychoaktiven Substanzen sind in Tabelle 5.1 aufgeführt. (In Kapitel 15 werden wir andere Arten psychoaktiver Substanzen diskutieren, die eingesetzt werden, um Geisteskrankheiten zu lindern.) Wir beschreiben kurz die physiologische und psychische Wirkung jeder Klasse von Drogen sowie die persönlichen und gesellschaftlichen Folgen des Drogenkonsums. Halluzinogene Die dramatischsten Veränderungen im Bewusstsein werden von Halluzinogenen oder psychedelischen Drogen hervorgerufen; diese Drogen verändern die Wahrnehmung der externen Welt und auch die innere Wahrnehmung. Wie der Name schon sagt, erzeugen sie Halluzinationen – lebhafte Wahrnehmung in Abwe-
5.5 Bewusstseinsverändernde Drogen
senheit eines objektiven Reizes. Halluzinationen können auch zu einem Verlust der Grenze zwischen Selbst und Nichtselbst führen. LSD und PCP sind zwei bekannte Halluzinogene, die synthetisch erzeugt werden. Halluzinogene Drogen wirken im Gehirn an spezifischen Rezeptorstellen für den chemischen Neurotransmitter Serotonin (Aghajanian & Marek, 1999). So lagert sich beispielsweise LSD sehr eng an die Serotoninrezeptoren an, so dass die Neuronen verlängerte Aktivität zeigen. Cannabis ist eine Pflanze mit psychoaktiven Effekten. Der aktivierende Bestandteil ist THC (Tetrahydrocannabiol), das in Haschisch (das verfestigte Harz der Pflanze) und Marihuana (die getrockneten Blätter und Blüten der Pflanze) vorkommt. Das Erleben nach der Inhalation von THC hängt von der Dosis ab – kleine Dosen führen zu milden, angenehmen Hochgefühlen, große Dosen hingegen zu lang anhaltenden halluzinogenen Reaktionen. Menschen, die THC regelmäßig konsumieren, berichten von Euphorie, Wohlgefühl, Verzerrung von Raum und Zeit und gelegentlich vom Gefühl, außerhalb des eigenen Körpers zu sein. Abhängig vom Kontext können jedoch negative Effekte auftreten – Angst, Furcht und Verwirrung. Forscher wissen seit Jahren, dass Cannabinoide, die aktiven Chemikalien in Marihuana, an spezifische Rezeptoren im Gehirn binden – diese cannabinoiden Rezeptoren kommen speziell im Hippocampus vor, der Hirnregion für das Gedächtnis. Erst im letzten Jahrzehnt hat man Anandamid entdeckt, einen Neurotransmitter, der an die gleichen Rezeptoren andockt (Di Marzo et al., 1994; Stahl, 1998). Das heißt, Cannabinoide erzielen ihre bewusstseinsverändernden Effekte in Hirnarealen, die für Anandamid, eine natürlich vorkommenden Substanz im Gehirn, empfänglich sind. Diese natürlichen Cannabinoide funktionieren als Neuromodulatoren. Sie unterdrücken beispielsweise die Freisetzung des Neurotransmitters GABA (Wilson &
Opiate wie Heroin und Morphium unterdrücken die körperliche Wahrnehmung und die Reaktion auf Stimulation. In Kapitel 3 erwähnten wir, dass das Hirn Endorphine (kurz für endogene Morphine) enthält, die starke Effekte auf Stimmung, Schmerz und Freude hervorrufen. Diese endogenen Opiate spielen eine entscheidende Rolle bei der Reaktion des Gehirns auf physische und psychische Stressfaktoren (Ribeiro et al., 2005). Drogen wie Opium und Morphium binden an dieselben Rezeptorstellen im Gehirn (Harrison et al., 1998). So erzielen Opiate und, wie wir im vorigen Abschnitt beschrieben haben, Marihuana ihre Wirkung, weil sie aktive Komponenten mit den gleichen chemischen Eigenschaften besitzen wie Substanzen, die natürlicherweise im Gehirn vorkommen. Der anfängliche Effekt einer intravenösen Heroininjektion besteht in einem Schub starken Wohlbefindens. Ein Gefühl der Euphorie überlagert alle Sorgen und körperlichen Bedürfnisse. Heroinkonsum führt allerdings oft zur Sucht. Wenn die neuronalen Rezeptoren im endogenen Opiatsystem künstlich stimuliert werden, gerät das Gehirn aus seinem empfindlichen Gleichgewicht. Menschen, die sich den Opiatgebrauch abgewöhnen wollen, leiden oft unter starken körperlichen Symptomen (Erbrechen, Schmerzen, Schlaflosigkeit) wie auch unter intensivem Verlangen nach der Droge. Wenn Menschen für den Entzug medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, werden sie oft mit Mitteln behandelt, die der Droge die Möglichkeit nehmen, im Gehirn Wohlbefindensreaktionen auszulösen (Grüsser et al., 2006).
Wie wirkt sich Marihuana auf das Gehirn aus?
Warum führt der Gebrauch von Heroin häufig zur Sucht?
Nicoll, 2002). Diese hirneigenen Cannabinoide scheinen eine wichtige Rolle in der Appetitregulierung und beim Essverhalten zu spielen (Kirkham, 2005). Diese normale Funktion könnte erklären helfen, warum Marihuanaraucher sich oft sehr hungrig fühlen. Opiate
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Beruhigungsmittel Zu den Beruhigungsmitteln gehören Barbiturate und, allen voran, Alkohol. Diese Substanzen senken (verlangsamen) die geistige und körperliche Aktivität, indem sie die Übertragung von Nervenimpulsen im zentralen Nervensystem hemmen beziehungsweise senken. Beruhigungsmittel erreichen diesen Effekt teilweise durch die Erleichterung neuronaler Kommunikation an Synapsen des Neurotransmitters GABA (Delaney & Sah, 1999; Malizia & Nutt, 1995). GABA inhibiert oft die neuronale Übertragung, was die hemmenden Resultate der Beruhigungsmittel erklärt. In den letzten Jahren haben zwei Beruhigungsmittel, Rohypnol (in den USA bekannter unter der Bezeichnung roofies) und GHB, einen Ruf als „Vergewaltigungsdrogen“ (date-rape drugs) erlangt. Beide Substanzen können als farblose Flüssigkeit hergestellt werden, so dass man sie unentdeckt Alkohol oder anderen Getränken beimischen kann. Auf diese Weise können potenzielle Opfer ruhig gestellt und vergewaltigt werden. Rohypnol verursacht außerdem Amnesie, so dass sich die Opfer vielleicht nicht einmal daran erinnern, was ihnen geschah, während sie unter dem Einfluss der Droge standen. Alkohol war wohl eine der ersten psychoaktiven Substanzen, die die Menschen der Frühzeit ausgiebig zu sich nahmen. Unter seinem Einfluss werden manche Menschen albern, impulsiv, leutselig und gesprächig; andere werden beleidigend und gewalttätig; wieder andere werden ziemlich deprimiert. Alkohol stimuliert offenbar die Freisetzung von Dopamin, das das Glücksgefühl verstärkt. Ferner wirkt sich Alkohol, wie andere Beruhigungsmittel, offensichtlich auf die GABA-Aktivität aus (Pierucci-Lagha et al., 2005). Geringe Dosen von Alkohol können Entspannung und bei Erwachsenen eine leichte Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit herbeiführen. Der Körper kann jedoch Alkohol nur sehr langsam abbauen, und große Mengen in kurzer Zeit überfordern das zentrale Nervensystem. Verkehrsunfälle und andere tödliche Unfälle ereignen sich sechsmal öfter bei Menschen mit 1,0 Promille Alkohol im Blut als bei Menschen mit nur der halben Menge. Alkohol führt auch deshalb zu Unfällen, weil dieses Gift die Pupillen weit stellt und so Nachtsichtprobleme verursacht. Eine Alkoholkonzentration von 1,5 Promille im Blut hat gravierende negative Auswirkungen auf Denken, Gedächtnis und Urteilsvermögen, gepaart mit emotionaler Instabilität und dem Verlust der motorischen Koordinationsfähigkeit. Exzessiver Alkoholkonsum ist in vielen Gesellschaften ein großes Problem. Autounfälle unter Alkoholeinfluss sind in den USA die Hauptursache aller
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Warum ist Alkohol nach wie vor die beliebteste Art für Studierende, ihr Bewusstsein zu verändern? Todesfälle bei 15- bis 25-Jährigen. Wenn die Menge und Häufigkeit des Alkoholkonsums die Leistung im Beruf verschlechtert, soziale und familiäre Bindungen stört und ernste gesundheitliche Probleme hervorruft, lautet die Diagnose Alkoholismus. Körperliche Abhängigkeit, Toleranz und Sucht entwickeln sich durch langjähriges, starkes Trinken. Mancher verbindet Alkoholismus mit der Unfähigkeit, sich des Trinkens zu enthalten. Für andere ist Alkoholismus die Unfähigkeit, nach ein paar Gläsern mit dem Trinken aufzuhören. In einer Umfrage von 2004 gaben 15,1 Prozent der 18- bis 25-Jährigen an, viel zu trinken – was als fünf oder mehr Drinks beim selben Anlass jeweils an fünf oder mehr Tagen innerhalb eines Monats definiert war (SAMSHA, 2005). Der Höhepunkt des schweren Alkoholkonsums liegt beim Alter von 21 Jahren – 19,2 Prozent der 21-Jährigen gaben an, viel zu trinken. Das in Europa zunehmend beobachtete Phänomen des „Koma-Saufens“ verdeutlicht zudem die angesprochene Sachlage: Häufig durch „Flatrates“ induziert, trinken Jugendliche und junge Erwachsene bei Diskobesuchen regelmäßig am Wochenende bis zum Verlust des Bewusstseins. Stimulanzien Stimulanzien wie Amphetamine, Methamphetamine und Kokain halten den Konsumenten wach und erzeugen einen Zustand der Euphorie. Stimulanzien erzielen ihre Wirkung durch die Erhöhung der Konzentra-
5.5 Bewusstseinsverändernde Drogen
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Ist Ecstasy schädlich für das Gehirn?
In den letzten Jahren ist Ecstasy (MDMA) zur beliebtesten Partydroge geworden. Die stimulierenden Eigenschaften der Droge verleihen den Konsumenten ein Gefühl grenzenloser Energie; die halluzinogenen Eigenschaften intensivieren die Wahrnehmung von Sounds, Farben und Emotionen. Wie im Text geschildert, gehen diese Effekte darauf zurück, dass Ecstasy die Funktion von Neurotransmittern wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin verändert. Eine wichtige Frage ist, ob Ecstasy wegen dieser starken Auswirkungen auf die Neurotransmitter einen Langzeiteffekt im Gehirn verursacht. Wir möchten, dass Sie sich kritisch mit den von der Forschung beigebrachten Ergebnissen beschäftigen, die für diese Frage relevant sind. Es könnte zunächst vergleichsweise einfach erscheinen, die Wirkung von Ecstasy auf das Gehirn zu untersuchen: Als Wissenschaftler verabreichen Sie eine angemessene Menge der Droge und messen den Effekt. Welche Probleme birgt dieses einfache Vorgehen? Die Hauptschwierigkeit dabei ist, dass man davon ausgeht, Ecstasy sei schädlich für das Gehirn. Aus diesem Grund scheiden Menschenversuche mit Ecstasy aus. Stattdessen werden Tierversuche durchgeführt, normalerweise mit Ratten und Mäusen. Viele dieser Versuche haben ergeben, dass Ecstasy die neuronalen Funktionen beeinträchtigt. Allerdings ist die Art der Schädigung bei einer Spezies nicht immer konstant (Colado et al., 2004). Dies impliziert, dass die Einnahme von Ecstasy fast sicher schädlich für das menschliche Gehirn ist – aber aufgrund an anderen Spezies durchgeführter Experimente, kann man nicht sicher sein, was die negativen Auswirkungen genau sein werden. Eine andere wesentliche Fragestellung ist, inwieweit die Studien die menschlichen Gewohnheiten beim Drogengebrauch wiedergeben. Bei bestimmten Studien ist es wichtig zu wissen, in welchem Verhältnis die Dosen und Intervalle der MDMA-Verabreichung zu den Mengen stehen, die ein Mensch im Laufe der Zeit konsumieren würde. So geben die Experimentatoren beispielsweise an, ob sie die Folgen einer einzigen Dosis, gelegentlichen Gebrauchs oder häufigen Gebrauchs untersuchen. Es gilt beim Konsum von MDMA durch Menschen aber noch weitere
tion von Neurotransmittern wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin im Gehirn. Aufputschmittel behindern beispielsweise die Aktivität von Molekülen, die normalerweise das Dopamin von den Syn-
Faktoren zu berücksichtigen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass Ecstasy oft zum selben Zeitpunkt wie Alkohol konsumiert wird. Das führt zu der Frage, wie Alkohol und Ecstasy gemeinsam das Gehirn beeinflussen. Die neueste Forschung legt nahe, dass die Kombination aus Alkohol und Ecstasy im Gehirn von Ratten negative Auswirkungen hat, die mit Ecstasy allein nicht auftreten (Cassel et al., 2005). Die Forschung berücksichtigt auch, dass Ecstasy oft in heißen, überfüllten Räumen eingenommen wird. Das ist besonders bedenklich, weil einer der Effekte von Ecstasy Hyperthermie – die Überhitzung des Körpers – ist. Hyperthermie kann im schlimmsten Fall tödlich sein. Eine Studie verglich die Wirkung von Ecstasy auf Ratten, die entweder bei normalen Temperaturen (ca. 19 °C) oder in ziemlich warmer Umgebung (ca. 30 °C) gehalten wurden. Bei den letzteren stieg die Spitzentemperatur des Körpers nach der Ecstasygabe stark an (Green et al., 2004). Ratten, denen mehrfach Ecstasy verabreicht wurde, hatten dabei größere Schwierigkeiten, ihre Körpertemperatur zu regulieren, als diejenigen, die nur eine Dosis bekamen. Die Forscher vermuteten, dass wiederholte Einnahme von Ecstasy die Neuronen schädigt, die normalerweise bei der Temperaturregulierung helfen. Sie sehen, dass die Forschungsergebnisse negative Auswirkungen von Ecstasy auf das menschliche Gehirn vermuten lassen. Diese Schlussfolgerung wird Sie wohl nicht überraschen. Trotzdem ist es wichtig zu verstehen, auf welche Weise Wissenschaftler bei Forschungsvorhaben vorgehen, die von unmittelbarer Bedeutung für den Menschen sind. In den letzten Jahren hat die Ecstasy-Forschung vernünftigerweise die Umstände berücksichtigt, unter denen Menschen die Droge wahrscheinlich einnehmen.
Wie könnten Sie bestimmen, welchem Muster der Ecstasygebrauch bei Menschen typischerweise folgt? Warum ist es wichtig, die Wirkung von Ecstasy sowohl bei normaler als auch bei überhöhter Raumtemperatur zu untersuchen?
apsen entfernen (Martin-Fardon et al., 2005). Die schwere Sucht, die oft ein Symptom des Gebrauchs von Stimulanzien ist, geht möglicherweise auf langfristige Veränderungen in den Neurotransmittersyste-
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B e wu sst sei n u n d Bewu sstsei n sve r ä nde r ung e n
men zurück (Ahmed & Koob, 2004). MDMA – bekannter unter dem Namen Ecstasy – ist ein Stimulans, verursacht aber zudem halluzinogenartige Verzerrungen von Zeitgefühl und Wahrnehmung. Wie andere Stimulanzien auch, veranlasst Ecstasy die Nervenzellen, größere Mengen an Noradrenalin, Serotonin und Dopamin auszuschütten. Im Kasten Kritisches Denken im Alltag gehen wir der Frage nach, ob Ecstasykonsum zu Dauerschäden am Gehirn führt. Stimulanzien bringen drei Haupteffekte mit sich, welche die Konsumenten anstreben: vermehrtes Selbstvertrauen, mehr Energie und gesteigerte Wachheit und darüber hinaus Stimmungsveränderungen bis hin zur Euphorie. Starke Konsumenten erleben Angst erregende Halluzinationen und glauben, dass andere ihnen schaden wollen. Diese Befürchtungen sind als paranoide Wahnvorstellungen bekannt. Eine besondere Gefahr beim Kokainmissbrauch ist der Kontrast zwischen euphorischem Hochgefühl und sehr tiefen depressiven Verstimmungen. Dies führt dazu, dass Konsumenten die Häufigkeit des Drogenkonsums und auch die Dosen unkontrolliert steigern. Eine sehr reine Form von Kokain ist Crack, eine besonders destruktive Straßendroge. Crack produziert ein schnelles Hoch, das schnell wieder vergeht. Zwei Stimulanzien, die man leicht als psychoaktive Substanzen übersieht, sind Koffein und Nikotin. Sie wissen wahrscheinlich aus eigener Erfahrung, dass zwei Tassen starken Kaffees oder Tees genug Koffein enthalten, um eine tief greifende Wirkung auf Herz, Blutdruck und Kreislauf auszuüben und das Einschlafen zu erschweren. Nikotin, eine Chemikalie im Tabak, ist ein so starkes Stimulans, dass es in hoher Konzentration von Schamanen der amerikanischen Ureinwohner zum Eintritt in mystische Zustände oder Trance benutzt wurde. Anders als einige der heutigen Konsumenten wussten die Schamanen jedoch, dass Nikotin süchtig macht. Sie wählten sorgsam aus, wann sie sich unter seinem Einfluss begaben. Wie andere süchtig machende Drogen ahmt Nikotin natürliche chemische Stoffe nach, die vom Gehirn freigesetzt werden. So haben Forscher die Aktivierung gemeinsamer Hirnregionen bei der Abhängigkeit von Nikotin und Kokain entdeckt (Pich et al., 1997). Chemische Stoffe im Nikotin stimulieren Rezeptoren, die es uns gut gehen lassen, sobald wir etwas richtig gemacht haben – ein Phänomen, das zum Überleben beiträgt. Leider lässt Nikotin diese Hirnrezeptoren so reagieren, als ob es gut für uns wäre zu rauchen. Das ist es nicht. Wie Sie wissen, ist Rauchen alles andere als gut für Ihre Gesundheit. Am Anfang dieses Kapitels haben wir Sie aufgefordert, sich an Ihre Vergangenheit zu erinnern und Ihre
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Zukunft zu planen. Das sind zwar völlig normale Aktivitäten, aber sie ergaben trotzdem interessante Fragestellungen zum Bewusstsein: Woher kommen unsere Gedanken? Wie kommen sie zum Vorschein? Wann entstehen sie? Wir haben einige Theorien kennen gelernt, die sich mit diesen Fragen befassen, und haben erfahren, wie diese Theorien geprüft werden konnten. Wir haben gesehen, dass letztlich das Bewusstsein die Fülle von Erfahrungen ermöglicht, die uns als Menschen ausmacht. Sie sollten sich außerdem mit einigen zunehmend weniger üblichen Bewusstseinszuständen befassen. Warum sind Menschen mit ihrem alltäglichen mentalen Erleben unzufrieden und versuchen, ihr Bewusstsein auf vielerlei Art und Weise zu verändern? Gewöhnlich richten wir unseren Fokus auf die unmittelbaren Anforderungen und Situationen, denen wir begegnen. Doch wir sind uns über die realitätsbedingten Einschränkungen unseres Bewusstseins im Klaren. Wir merken, dass die Einschränkungen die Bandbreite und Tiefe unseres Erlebens begrenzen und uns unser Potenzial nicht ausschöpfen lassen. Vielleicht sehnen wir uns manchmal danach, die Grenzen der gewöhnlichen Realität zu durchbrechen. Wir suchen die Ungewissheit der Freiheit, anstatt auf die Sicherheit des Alltäglichen zu setzen.
ZWISCHENBILANZ 1 Wie definiert man Drogentoleranz? 2 Wie wirken sich Drogen wie Heroin im Gehirn aus? 3 Zu welcher Kategorie von Drogen gehört Nikotin?
SCHLÜSSELBEGRIFFE Bewusstsein (S. 162) Halluzinationen (S. 184) Hypnose (S. 178) Hypnotisierbarkeit (S. 179) Latenter Inhalt (S. 174) Luzides Träumen (S. 177) Manifester Inhalt (S. 174) Meditation (S. 181) Methode der Erlebnisstichprobe (S. 165) Methode des lauten Denkens (S. 164) Narkolepsie (S. 173) Nicht bewusste Prozesse (S. 163) Non-REM- (NREM) Schlaf (S. 169) Physiologische (körperliche) Abhängigkeit (S. 183)
Zusammenfassung
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Die Inhalte der Bewusstseins Bewusstsein ist das Wahrnehmen der Gedankeninhalte.
Nach Freud ist der Inhalt von Träumen unbewusstes Material, das von einer Traumzensur verdrängt wird.
Die Inhalte des wachen Bewusstseins unterscheiden sich von nicht bewussten Prozessen, vorbewussten Gedächtnisinhalten, unbeachteter Information, dem Unbewussten und der bewussten Aufmerksamkeit.
In anderen Kulturen werden Träume regelmäßig gedeutet, oftmals von Personen in speziellen kulturellen Rollen. Einige Traumtheorien konzentrierten sich auf biologische Erklärungen für die Ursprünge von Träumen.
Forschungsmethoden wie das laute Denken und die Erlebnisstichprobe werden eingesetzt, um die Inhalte des Bewusstseins zu untersuchen.
Veränderte Bewusstseinszustände Luzides Träumen ist das Bewusstsein, dass man gerade träumt, mit dem Versuch, den Traum zu kontrollieren.
Die Funktionen des Bewusstseins Bewusstsein begünstigt das Überleben und befähigt uns, persönliche und kulturell geteilte Realitäten zu konstruieren.
Hypnose ist ein veränderter Bewusstseinszustand, der von der Fähigkeit hypnotisierbarer Menschen abhängt, ihre Wahrnehmung, Motivation, Erinnerung und Selbstkontrolle als Reaktion auf Suggestionen zu verändern.
Forscher haben die Beziehung zwischen bewussten und unbewussten Prozessen untersucht. Schlaf und Traum Zirkadiane Rhythmen spiegeln die Funktionen einer inneren Uhr wider.
Meditation verändert die bewussten Funktionen durch rituelle Praktiken, welche die Aufmerksamkeit weg von äußeren Belangen hin zu inneren Erfahrungen lenken.
Die Muster der Gehirnaktivität ändern sich im Verlauf des Nachtschlafs. REM-Schlaf zeichnet sich durch schnelle Augenbewegungen aus.
In einigen kulturellen Gruppen erleben Menschen intensive religiöse Erfahrungen.
Die Menge des Schlafes und der relative Anteil des REM-Schlafes im Vergleich zum NREMSchlaf ändern sich mit dem Alter.
Bewusstseinsverändernde Drogen Psychoaktive Substanzen beeinflussen mentale Prozesse, indem sie zeitweise das Bewusstsein verändern und dabei die Aktivität des Nervensystems modifizieren.
REM- und NREM-Schlaf dienen verschiedenen Funktionen, darunter Konservierung und Regenerierung.
Zu den psychoaktiven Substanzen, die das Bewusstsein verändern, zählen Halluzinogene, Opiate, Beruhigungsmittel und Stimulanzien.
Schlafstörungen wie Schlaflosigkeit, Narkolepsie und Schlafapnoe wirken sich negativ auf die Fähigkeit der Betroffenen aus, ihren Tagesgeschäften nachzugehen.
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Psychische Abhängigkeit (S. 184) Psychoaktive Substanzen (S. 183) Rapid Eye Movement (REM) (S. 169) Schlafapnoe (S. 173) Schlaflosigkeit (S. 172) Sonnambulismus (S. 173) Sucht (S. 184) Toleranz (Gewöhnung) (S. 183) Traumarbeit (S. 174) Vorbewusste Gedächtnisinhalte (S. 163) Zirkadianer Rhythmus (S. 169)
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Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Lernen und Verhaltensanalyse ............................... 6.1.1 Was ist Lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Behaviorismus und Verhaltensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 192 193
6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale. . . . . Pavlovs überraschende Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prozess des Konditionierens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwerb: Genauer betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassisches Konditionieren: Anwendungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .
194 195 197 200 202
Psychologie im Alltag: Wie beeinflusst klassische Konditionierung die Krebstherapie?. . . . . . . . . . . .
205
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen . . . . . . . . Das Gesetz des Effekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Experimentelle Verhaltensanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontingenzen bei der Verstärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutzung von Kontingenzen bei der Verstärkung . . . . . . . . . . . . . . Verstärkereigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstärkerpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet? . . . . . . . . . . . . . .
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6.3.7 Shaping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.4 Biologie und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6
6.4.1 Instinktverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Lernen von Geschmacksaversionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.5 Lernen und Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Kognitionen im Tierreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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Ü B E R B L I C K
6.1 Die Erforschung des Lernens
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tellen Sie sich vor, Sie sehen sich im Kino einen Horrorfilm an. Als der Held sich einer geschlossenen Tür nähert, wird die Filmmusik düster und bedrohlich. Plötzlich fühlen Sie den Drang zu rufen: „Geh nicht durch diese Tür!“ Dabei fühlen Sie, wie Ihr Herz rast. Warum eigentlich? Wenn Sie diese Frage methodisch durchdenken, lautet die Antwort vielleicht: „Ich habe eine Assoziation zwischen Filmmusik und Filmhandlung gelernt – und das ist es, was mich nervös macht!“ Aber hatten Sie über diese Beziehung vorher schon nachgedacht? Wahrscheinlich nicht. Irgendwie, durch genügend Kinobesuche, haben Sie diese Assoziation ohne besonderen Gedankenaufwand gelernt. Das Hauptthema von Kapitel 6 sind die Arten von Assoziationen, die wir uns im Alltag ohne Mühe aneignen. Die Psychologie interessiert sich schon lange für das Lernen, die Methoden, mit denen der Organismus von seinen Erfahrungen in der Umwelt lernt. Wir bieten Ihnen gleich noch eine präzisere Definition des Lernens. Darauf betrachten wir verschiedene Arten des Lernens: das klassische Konditionieren und das operante Konditionieren. Sie werden sehen, dass jede dieser Formen der Konditionierung für eine bestimmte Art und Weise steht, wie sich Organismen Informationen über die Struktur ihrer Umwelt aneignen und diese Informationen nutzen. Wir werden für beide Arten der Konditionierung die Basismechanismen, wie sie in Laboruntersuchungen gefunden werden, beschreiben, sowie Anwendungen in Alltagssituationen aufzeigen. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns außerdem mit Ähnlichkeiten und Unterschieden des Lernens in den verschiedenen Spezies. Sie werden sehen, dass die grundlegenden Konditionierungsprozesse bei vielen Arten dieselben sind. Andererseits sind manche Aspekte des Lernens, wie wir zeigen werden, durch die spezifische genetische Ausstattung bestimmter Spezies vorgegeben. Insbesondere werden wir sehen, wie die Kognition, also die höheren geistigen Prozesse, sich auf Lernvorgänge sowohl beim Menschen als auch bei anderen Arten auswirkt.
Die Erforschung des Lernens
6.1
Wir werden unsere Erforschung des Lernens damit beginnen, den Begriff des Lernens zu definieren, um anschließend einen kurzen Abriss der Geschichte psychologischer Forschung zu diesem Thema zu geben.
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6.1.1 Was ist Lernen? Lernen ist ein Prozess, der in einer relativ konsistenten Änderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials resultiert, und basiert auf Erfahrung. Lassen Sie uns genauer die drei wesentlichen Bestimmungsaspekte dieser Definition untersuchen. Eine Veränderung im Verhalten oder Verhaltenspotenzial Offensichtlich hat Lernen stattgefunden, wenn Sie in der Lage sind, die Ergebnisse vorzuweisen: zum Beispiel, dass Sie Auto fahren oder eine Mikrowelle bedienen können. Man kann das Lernen selbst nicht beobachten – man kann die Veränderungen im Gehirn nicht einfach sehen –, vielmehr zeigt sich das Lernen in der Leistung. Oftmals zeigt sich aber nicht alles, was Sie gelernt haben, in Leistung. Manchmal haben Sie auch allgemeine Haltungen wie etwa die Wertschätzung moderner Kunst oder das Verständnis östlicher Philosophie erworben, was sich nicht unmittelbar in Ihrem messbaren Verhalten zeigen mag. In diesen Fällen haben Sie ein Verhaltenspotenzial erworben, da Sie Haltungen und Werte gelernt haben, welche die Art der Bücher, die Sie lesen, oder die Art und Weise, wie Sie ihre Freizeit verbringen, beeinflussen können. Dies ist ein Beispiel für die Unterscheidung von Lernen und Leistung – der Unterschied zwischen dem, was gelernt wurde, und jenem, was im beobachtbaren Verhalten zum Ausdruck kommt. Eine relativ nachhaltige Veränderung Um als gelernt zu gelten, muss eine Änderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials über verschiedene Gelegenheiten hinweg relativ nachhaltig und konsistent auftreten. Wenn Sie folglich einmal Schwimmen gelernt haben, werden Sie möglicherweise immer in der Lage sein, dies zu tun. Beachten Sie bitte, dass nachhaltige Veränderungen nicht in allen Fällen eine permanente Veränderung bedeuten. Sie können beispielsweise durch tägliche Übung eine relativ nachhaltig gute Dartspielerin geworden sein; sollten Sie den Sport jedoch wieder aufgegeben haben, könnten Ihre Fähigkeiten wieder auf das Ausgangsniveau zurücksinken. Wenn Sie es aber einmal gelernt haben, ein Dartwerfer auf Wettkampfniveau zu sein, sollte es Ihnen leichter fallen, dies ein zweites Mal zu lernen. Ein Teil Ihrer früheren Erfahrungen wurde „gerettet“. In diesem Sinne kann man auch hier von einer permanenten Veränderung sprechen.
6.1 Die Erforschung des Lernens
Ein erfahrungsbasierter Prozess Lernen findet ausschließlich durch Erfahrung statt. Erfahrung bedeutet in diesem Zusammenhang, Informationen aufzunehmen (und diese zu bewerten und zu transformieren) sowie Reaktionen zu zeigen, welche die Umwelt beeinflussen. Lernen besteht darin, dass die Reaktionen durch Erfahrungen, die im Gedächtnis abgespeichert sind, beeinflusst werden. Gelerntes Verhalten umfasst nicht Veränderungen auf der Grundlage physischer Reifungsprozesse, Entwicklungen des Gehirns im Zuge von Alterungsprozessen, Erkrankungen oder Gehirnschädigungen. Einige überdauernde Verhaltensänderungen erfordern eine Kombination aus Erfahrung und reifungsbedingter Bereitschaft. Denken Sie beispielsweise an den Zeitplan, der festlegt, wann ein Kind bereit ist zu krabbeln, zu stehen und zu laufen. Auch noch so viel Training oder Übung wird diese Verhaltensweisen nicht hervorrufen, bevor das Kind eine hinreichende Reife erlangt hat. Psychologen und Psychologinnen sind besonders daran interessiert, welche Verhaltensaspekte durch Erfahrung verändert werden können und wie diese Veränderungen vonstattengehen.
Raum voller Menschen ein Mobiltelefon in Ihrer Nähe klingeln. Wenn es zum ersten Mal klingelt, werden Sie vielleicht nachsehen, ob es Ihr eigenes ist. Wenn das Mobiltelefon allerdings mehrmals klingelt, werden Sie schnell damit aufhören, jedes Mal nach Ihrem Telefon zu greifen. Das ist ein Beispiel für Habituation: Ihre Verhaltensreaktion lässt nach, wenn ein Stimulus wiederholt wird. Habituation trägt dazu bei, Ihre Aufmerksamkeit auf neuartige Ereignisse in Ihrer Umgebung zu konzentrieren – man macht sich nicht mehr die Mühe, immer wieder auf bekannte Stimuli zu reagieren. Beachten Sie, wie das Konzept der Habituation in die Definition des Lernens passt. Es gibt eine Verhaltensänderung (Sie hören auf, Ihr Telefon zu überprüfen), die auf Erfahrung basiert (Sie haben festgestellt, dass das klingelnde Mobiltelefon nicht Ihres ist), und diese Verhaltensänderung ist nachhaltig (Sie reagieren eine ganze Weile lang nicht mehr auf das Klingeln). Angenommen, Sie begeben sich in einen anderen Raum mit ebenfalls einem klingelnden Mobiltelefon in Ihrer Nähe. Ein- oder zweimal werden Sie wahrscheinlich auf dieses neue Klingeln reagieren. Wir sehen also, dass Habituation nachhaltige Verhaltensänderungen hervorruft, die allerdings nicht permanent sind: Weitere Erfahrungen in der Umgebung verändern das Verhalten erneut.
6.1.2 Behaviorismus und Verhaltensanalyse
Inwiefern entspricht die konsistente Ausdrucksweise bei Balletttänzerinnen der Definition von Lernen? Habituation Bevor wir zum nächsten Abschnitt kommen, möchten wir Ihnen helfen, diese Definition des Lernens gründlich zu verstehen. Zu diesem Zweck schildern wir eine grundlegende Form des Lernens: die Habituation oder Gewöhnung. Angenommen, Sie hören in einem
Die Grundlage des Blickwinkels moderner Psychologie auf das Lernen ist maßgeblich in den Arbeiten von John Watson (1878 – 1958) zu finden. Watson gründete eine psychologische Schule, die als Behaviorismus bekannt wurde. Die amerikanische Psychologie wurde nahezu 50 Jahre lang durch die behavioristische Tradition dominiert, wie sie in Watsons Buch Psychology from the Standpoint of a Behaviorist aus dem Jahre 1919 dargelegt wurde. Watson behauptete, dass die Introspektion – Selbstberichte über Empfindungen, bildhafte Eindrücke und Gefühle – kein akzeptables Mittel zur Untersuchung von Verhalten sei, da sie zu subjektiv ist. Wie könnten Wissenschaftler die Genauigkeit derart privater Erfahrungen verifizieren? Doch wenn man die Introspektion zurückweist, was soll dann der Gegenstand der Psychologie sein? Die Antwort von Watson lautete beobachtbares Verhalten. Mit den Worten Watsons: „Bewusstseinszustände, wie die so genannten Phänomene des Geistes, sind nicht objektiv verifizierbar und können daher niemals als wis-
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senschaftliche Daten herangezogen werden“ (Watson, 1919, S. 1). Watson definierte zudem das Hauptziel der Psychologie als „die Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens“ (Watson, 1913/1968, S. 14). B. F. Skinner (1904 – 1990) griff die Grundlegung Watsons auf und erweiterte die Agenda. Skinner begann seine Forschungen, die ihn zur Formulierung dieser Position führen sollten, nachdem er Watsons Buch Behaviorism (1924) gelesen hatte und er sein Doktorandenstudium in Harvard aufnahm. Im Laufe der Zeit formulierte Skinner eine Position, die als radikaler Behaviorismus bekannt wurde. Skinner begrüßte die Kritik Watsons an inneren Zuständen und mentalen Ereignissen. Allerdings konzentrierte sich Skinner weniger darauf, die Legitimität geistiger Zustände als wissenschaftliche Daten zu kritisieren; vielmehr richtete er sein Augenmerk auf die Kritik, sie als Ursache von Verhalten anzusehen (Skinner, 1990). Nach Skinner verursachen geistige Ereignisse wie Denken oder Vorstellungen nicht das Verhalten. Vielmehr seien sie als Beispiele von Verhalten zu verstehen, die durch Stimuli in der Umwelt hervorgerufen werden. Stellen Sie sich vor, einer Taube wird 24 Stunden lang die Nahrung entzogen, dann wird sie in eine Vorrichtung gesetzt, wo sie Futter durch Picken auf eine kleine Scheibe erhalten kann, und sie tut dies auch bald. Skinner würde argumentieren, dass das Verhalten des Tieres vollständig durch Umweltreize erklärt werden könne – Deprivation (Nahrungsentzug) und die Verwendung von Futter als Verstärker. Das subjektive Gefühl des Hungers, das nicht unmittelbar beobachtet oder gemessen werden kann, ist nicht Ursache des Verhaltens, sondern Ergebnis der Deprivation. Es
bringt uns keine neue Erkenntnis zu sagen, der Vogel habe auf die Scheibe gepickt, weil er hungrig war oder weil er das Futter erhalten wollte. Um zu erklären, was der Vogel tut, braucht man nichts von seinen inneren psychischen Zuständen zu verstehen – es genügt, die einfachen Lernprinzipien zu verstehen, die es dem Vogel erlauben, die Assoziation zwischen Verhalten und Belohnung herzustellen. Dies ist die Quintessenz von Skinners Variante des Behaviorismus (Delprato & Midgley, 1992). Die gleiche Variante des Behaviorismus diente als philosophische Grundlage der Verhaltensanalyse, jener Richtung in der Psychologie, die sich vorwiegend mit der Entdeckung von Umweltdeterminanten für das Lernen und das Verhalten befasst (Grant & Evans, 1994). Im Großen und Ganzen sehen Verhaltensanalytiker ihre Aufgabe darin, universelle Regularitäten im Lernen zu entdecken, die in vergleichbaren Situationen bei allen tierischen Spezies, einschließlich des Menschen, vorkommen. Dies ist der Grund, warum Untersuchungen mit Tieren für den Fortschritt in diesem Forschungsfeld so entscheidend wurden. Komplexe Formen des Lernens stellen Kombinationen und Elaborationen einfacher Prozesse dar und sind nicht qualitativ andersartige Phänomene. In den folgenden Abschnitten beschreiben wir die klassische und die operante Konditionierung – zwei einfache Formen des Lernens, die recht komplexe Verhaltensmuster hervorrufen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist mit der Unterscheidung von Lernen und Leis-
tung gemeint? 2 Warum betonte Watson das Studium beobachtbaren
Verhaltens? 3 Was ist eines der Hauptziele der Verhaltensanalyse? 4 Wie definiert man „Habituation“?
Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
B. F. Skinner erweiterte die Ideen von Watson und wendete sie auf ein breites Spektrum von Verhaltensweisen an. Warum konzentrierte sich Skinners Psychologie auf Umweltereignisse und nicht auf innere Zustände?
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6.2
Stellen Sie sich wieder vor, wie Sie sich den Horrorfilm ansehen. Warum rast Ihr Puls, wenn die Filmmusik anzeigt, dass der Held in Schwierigkeiten gerät? Irgendwie hat Ihr Körper gelernt, eine physiologische Reaktion (rasender Puls) zu produzieren, wenn ein Umweltereignis (beispielsweise angsterregende Mu-
6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
sik) mit einem weiteren (unheimliches visuelles Ereignis) assoziiert ist. Diese Art des Lernens wird als klassisches Konditionieren bezeichnet. Es handelt sich um eine Grundform des Lernens, wobei ein Stimulus oder Ereignis das Auftreten eines anderen Stimulus oder Ereignisses vorhersagt. Der Organismus lernt eine neue Assoziation zwischen zwei Stimuli – einem Stimulus, der zuvor die Reaktion nicht hervorrief, und einem Stimulus, der die Reaktion natürlicherweise hervorrief. [Anm. d. Übers.: Im Deutschen wird neben dem Begriff „Stimulus“ gleichbedeutend auch „Reiz“ verwendet. Aus Kohärenzgründen mit der englischen Abkürzungsterminologie verwenden wir im vorliegenden Text in eher technischem Zusammenhang „Stimulus“. So führt Stimulus-Reaktion zur im Deutschen gebräuchlichen Abkürzung S-R (wie auch im Englischen aus stimulus-response entstehend) und nicht zu dem im Deutschen ungebräuchlichen R-R (Reiz-Reaktion)]. Wie Sie noch sehen werden, hat die angeborene Fähigkeit, Paare von Ereignissen in Ihrer Umwelt schnell zu assoziieren, gravierende Folgen für das Verhalten.
6.2.1 Pavlovs überraschende Beobachtung Die erste sorgfältige Untersuchung des klassischen Konditionierens war ein Ergebnis des wohl berühmtesten Zufalls in der Psychologie. Der russische Physiologe Ivan Pavlov (1849–1936) wollte eigentlich weder klassisches Konditionieren noch ein anderes psychologisches Phänomen untersuchen. Er stieß auf das klassische Konditionieren, während er Forschungen zur Verdauung durchführte, für welche er 1904 den Nobelpreis erhielt. Pavlov hatte eine Methode entwickelt, die es erlaubte, Verdauungsprozesse bei Hunden zu untersuchen. Er implantierte Schläuche in ihre Drüsen und Verdauungsorgane, um die Körpersekrete in Behälter außerhalb ihres Körpers zu leiten und somit diese Sekrete messbar und analysierbar zu machen. Damit diese Sekrete produziert werden, applizierte der Assistent Pavlovs Fleischpulver in den Mund der Hunde. Nachdem diese Prozedur mehrfach angewendet wurde, beobachtete Pavlov ein unerwartetes Verhalten bei seinen Hunden – sie speichelten, bevor ihnen das Pulver in den Mund gegeben wurde! In der Tat begannen sie zu speicheln, wenn sie nur das Futter sahen, und später, wenn sie den Assistenten sahen, der das Futter brachte, und sogar bereits, wenn sie die Schritte des Assistenten hörten. Jeder Stimulus, der regelhaft der
Der Physiologe Ivan Pavlov (hier abgebildet mit seinem Forschungsteam) beobachtete klassisches Konditionieren während der Durchführung von Experimenten zur Verdauung. Worin bestanden die wichtigsten Beiträge Pavlovs zur Untersuchung dieser Form des Lernens? Gabe von Futter vorausging, konnte den Speichelfluss in Gang bringen. Pavlov hatte also mehr oder minder durch Zufall beobachtet, dass Lernen aus der Assoziation zweier Stimuli entstehen kann. Glücklicherweise verfügte Pavlov über die wissenschaftlichen Fähigkeiten und den Wissensdrang, dieses überraschende Phänomen gezielt zu untersuchen. Er ignorierte den Rat des zur damaligen Zeit maßgeblichen Physiologen Sir Charles Sherrington, dass er die nutzlose Forschung „psychischer“ Sekretionen aufgeben solle. Stattdessen verließ Pavlov seine Arbeiten zur Verdauung, und indem er dies tat, veränderte er den Weg der Psychologie für immer (Pavlov, 1928). Den Rest seines Lebens widmete er der Suche nach den Variablen, die klassisch konditionierte Verhaltensweisen beeinflussen. Klassisches Konditionieren wird auch als Pavlov’sche Konditionierung bezeichnet, da er die wichtigsten Phänomene des Konditionierens entdeckte und sich ganz der Aufgabe hingab, die beeinflussenden Variablen herauszukristallisieren. Pavlovs beachtliche Forschungserfahrung ermöglichte ihm die Anwendung einer einfachen und eleganten Strategie, um die Bedingungen für die Speichelflusskonditionierung seiner Hunde zu erforschen. Wie 씰 Abbildung 6.1 zu entnehmen ist, wurden in seinen Experimenten Hunde in einem Geschirr festgeschnallt. In regelmäßigen Abständen wurde ein Stimulus, beispielsweise ein Ton, präsentiert und dem Hund wurde etwas Futter gegeben. Wichtig ist dabei, dass der Ton zuvor keine Bedeutung für den Hund im Hinblick auf Futter oder Speicheln besaß. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, war die erste Reaktion des Hundes auf den Ton eine Orientierungsreaktion – der Hund stellte seine Ohren auf und drehte seinen Kopf, um die Quelle des Tons zu lokalisieren. Wurden jedoch wie-
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Abbildung 6.1: Pavlovs ursprünglicher Versuchsaufbau. In seinen ursprünglichen Experimenten verwendete Pavlov unterschiedliche neutrale Stimuli wie beispielsweise Töne, Glocken, Lichtsignale und Metronome. Der Versuchsleiter präsentierte zunächst einen dieser neutralen Stimuli und anschließend wurde das Futterpulver gegeben. Der Speichel des Hundes wurde durch einen Schlauch abgeleitet.
Vor der Konditionierung
Speichelfluss
Futter lst automatisch aus
Unkonditionierte Reaktion (UCR)
Unkonditionierter Stimulus (UCS)
Kein Speichelfluss
Ton
Neutraler Stimulus (NS)
Keine Reaktion oder irrevelante Reaktion
Whrend der Konditionierung
Speichelfluss Futter
Ton gefolgt von
Konditionierter Stimulus (CS)
lst aus
Unkonditionierter Stimulus (UCS)
Nach der Konditionierung Ton
Konditionierter Stimulus (CS)
Unkonditionierte Reaktion (UCR) Speichelfluss
lst aus
Konditionierte Reaktion (CR)
Abbildung 6.2: Grundlegende Merkmale des klassischen Konditionierens. Vor dem Konditionieren löst der unkonditionierte Stimulus (UCS) natürlicherweise die unkonditionierte Reaktion (UCR) aus. Ein neutraler Stimulus (NS), beispielsweise ein Ton, besitzt keine auslösende Funktion. Während des Konditionierens wird der neutrale Stimulus mit dem UCS gepaart. Durch die Assoziation mit dem UCS wird der neutrale Stimulus zu einem konditionierten Stimulus (CS) und löst eine konditionierte Reaktion (CR) aus, die der UCR ähnlich ist.
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6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
derholt Paarungen zwischen Ton und Futter präsentiert, nahm die Orientierungsreaktion ab und Speichelfluss trat an ihre Stelle. Was Pavlov in seinen früheren Untersuchungen beobachtet hatte, war kein Zufall gewesen: Das gefundene Phänomen konnte unter kontrollierten Bedingungen repliziert werden. Pavlov zeigte die Generalisierbarkeit dieses Effekts auf, indem er eine ganze Reihe anderer Reize (Lichtsignale, tickendes Metronom usw.) verwendete, die ursprünglich neutral im Hinblick auf Speichelfluss waren. Die Hauptmerkmale des klassischen Konditionierens nach Pavlov sind in 씰 Abbildung 6.2 dargestellt. Den Kern des klassischen Konditionierens bilden Reflexe. Ein Reflex ist eine ungelernte Reaktion – wie etwa Speichelfluss, Pupillenkontraktion, Kniesehnenreflex oder Lidschlagreflex –, die in natürlicher Weise durch spezifische Stimuli hervorgerufen wird, die für den Organismus biologisch relevant sind. Jeder Stimulus, beispielsweise das in Pavlovs Experimenten verwendete Futterpulver, das natürlicherweise ein Reflexverhalten hervorruft, wird als unkonditionierter Stimulus (UCS; von englisch uncoditioned stimulus) bezeichnet, da der Stimulus ohne Lernen Kontrolle über das Verhalten besitzt. Das auf den unkonditionierten Stimulus hin gezeigte Verhalten wird als unkonditionierte Reaktion (UCR; von englisch unconditioned response) bezeichnet. In Pavlovs Experimenten erzeugte der Stimulus (beispielsweise ein Lichtsignal oder ein Ton) ursprünglich keinen Speichelreflex. Im Verlauf der Experimente wurde der neutrale Stimulus (NS) jedoch wiederholt mit dem unkonditionierten Stimulus gepaart. Ein solcher ehemals neutraler Stimulus wird im Zuge des Konditionierungsprozesses zum konditionierten Stimulus (CS). Er besitzt nun die Möglichkeit, ähnliches
Verhalten wie die UCR auszulösen und ist konditioniert auf seine Assoziation mit dem UCS. Nach mehreren Durchgängen wird der CS eine Reaktion auslösen, die als konditionierte Reaktion (CR) bezeichnet wird. Als konditionierte Reaktion gilt jede Reaktion, die der konditionierte Stimulus als Ergebnis des Lernens hervorruft – wir werden im Verlauf dieses Abschnitts noch mehrere Beispiele dafür anführen. Wir wollen das Beschriebene nochmals zusammenfassen: Die Natur gibt uns eine Assoziation UCS-UCR vor, Lernen nach dem klassischen Konditionieren hingegen produziert eine Assoziation CS-CR. Der konditionierte Stimulus erlangt einen Teil des Einflusses auf das Verhalten, der ursprünglich auf den UCS beschränkt war. Wir wollen nun die grundlegenden Prozesse des klassischen Konditionierens genauer betrachten.
6.2.2 Der Prozess des Konditionierens Pavlovs ursprüngliche Experimente zogen ausführliche Studien über das Entstehen und Verschwinden klassisch konditionierter Reaktionen nach sich. In diesem Abschnitt beschreiben wir mehrere wichtige Schlussfolgerungen aus den grundlegenden Prozessen der klassischen Konditionierung. Diese Schlussfolgerungen sind das Ergebnis Hunderter verschiedener Studien mit einer Vielzahl von Tierarten. Erwerb und Löschung Die 씰 Abbildung 6.3 zeigt ein hypothetisches Experiment zum klassischen Konditionieren. Auf der linken Seite (1) ist der Erwerb dargestellt, jener Prozess, in dem die CR erstmalig auftaucht und in ihrer Häufig-
Abbildung 6.3: Erwerb, Löschung und Spontanremission beim klassischen Konditionieren. Während des Erwerbs (CS + UCS) steigt die Stärke der CR schnell an. Während der Löschung (alleinige Darbietung des CS ohne UCS) fällt die Stärke der CR auf null. Die CR kann nach einer kurzen Pause wieder auftreten, auch wenn weiterhin kein UCS präsentiert wird. Das Wiederauftreten der CR wird als Spontanremission bezeichnet.
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keit allmählich mit zunehmenden wiederholten Paarungen zunimmt. Im Allgemeinen müssen CS und UCS mehrfach gepaart werden, bevor der CS zuverlässig eine CR auslöst. Wird der CS mit dem UCS systematisch gepaart, dann wird die CR mit steigender Häufigkeit ausgelöst, und man kann sagen, dass der Organismus eine konditionierte Reaktion erlernt hat. Beim klassischen Konditionieren ist, ebenso wie beim Erzählen eines Witzes, das Timing das Entscheidende. CS und UCS müssen zeitlich eng beieinander liegen, damit der Organismus sie als zeitlich verbunden wahrnimmt. (Wir werden eine Ausnahme dieser Regel in einem späteren Abschnitt vorstellen, wo das Lernen von Geschmacksaversionen behandelt wird.) Die Forschung hat vier zeitliche Strukturen zwischen der Präsentation der beiden Stimuli untersucht; diese sind in 씰 Abbildung 6.4 (Hearst, 1988) dargestellt. Die verbreitetste Art der Konditionierung wird als verzögerte Konditionierung bezeichnet. Hierbei wird der CS vor dem UCS präsentiert und hält mindestens so lange an, bis der UCS einsetzt. Bei der Spurenkonditionierung wird der CS unterbrochen oder entfernt, bevor der UCS präsentiert wird. Der Begriff „Spur“ bezieht sich hier auf das Gedächtnis oder die Erinnerung an den CS, die den Organismen zugeschrieben wird, da der CS nicht mehr vorhanden ist, wenn der UCS erscheint. Bei der simultanen Konditionierung werden CS und UCS gleichzeitig dargeboten. Bei der Rückwärtskonditionierung wird der CS nach dem UCS präsentiert. Im Allgemeinen ist die Konditionierung am effektivsten im Paradigma der verzögerten Konditionierung mit einem kurzen Intervall zwischen dem Start des CS und dem Start des UCS. Allerdings hängt für eine optimale Konditionierung das genaue Zeitintervall zwischen CS und UCS von mehreren Faktoren ab, beispielsweise von der Intensität des CS und der Reaktion, Verzögerte Konditionierung Der Start des CS (Ton) geht dem Start des UCS (Futterpulver) voraus.
die konditioniert werden soll. Wir wollen unser Augenmerk auf die zu konditionierende Reaktion richten. Für muskuläre Reaktionen wie den Lidschlag sind kurze Intervalle von einer Sekunde oder weniger am besten. Für viszerale Reaktionen wie Pulsschlag und Speichelfluss erzielt man jedoch die besten Ergebnisse mit längeren Intervallen von etwa 5 bis 15 Sekunden. Konditionierung funktioniert im Großen und Ganzen eher schlecht bei der simultanen Konditionierung und besonders schlecht bei der Rückwärtskonditionierung. Die Belege für eine erfolgreiche Rückwärtskonditionierung zeigen sich nach einigen Paarungen zwischen UCS und CS, sie verschwinden jedoch bei ausgiebigem Training, wenn die Tiere lernen, dass auf den CS ein Intervall folgt, in dem kein UCS auftritt. In beiden genannten Fällen ist die Konditionierung schwach, da der CS nicht wirklich den Beginn eines UCS vorhersagt. (Wir werden auf die Wichtigkeit der Vorhersagbarkeit, diese wird auch als Kontingenz bezeichnet, im nächsten Abschnitt eingehen.) Was geschieht aber, wenn der CS (beispielsweise der Ton) nicht länger den UCS (das Futterpulver) ankündigt? Unter diesen Umständen wird die CR (beispielsweise der Speichelfluss) mit der Zeit immer schwächer und tritt schließlich überhaupt nicht mehr auf. Tritt die CR in Anwesenheit des CS und Abwesenheit des UCS nicht mehr auf, so spricht man von Löschung (Extinktion) (siehe Abbildung 6.3, mittlerer Abschnitt). Konditionierte Reaktionen sind also nicht notwendigerweise ein überdauernder Teil des Verhaltensrepertoires. Allerdings kann die CR in schwacher Ausprägung wieder auftreten, wenn der CS wieder alleine präsentiert wird (siehe Abbildung 6.3, rechte Seite). Pavlov nannte dieses plötzliche Wiederauftreten der CR nach einer Pause, in welcher der UCS nicht dargeboten wurde, Spontanremission.
Spurenkonditionierung Der Start des CS (Ton) geht dem Start des UCS (Futterpulver) voraus und der Ton wird ausgeschaltet, bevor das Futterpulver gegeben wird.
Simultane Konditionierung Der CS (Ton) und der UCS (Futterpulver) treten gleichzeitig auf.
Rückwärtskonditionierung Der Start des UCS (Futterpulver) geht dem Start des CS (Ton) voraus.
CS
CS
CS
CS
UCS
UCS
UCS
UCS
Zeit
Zeit
Zeit
Zeit
= Ton
= Futternapf/Futterpulver
Abbildung 6.4: Vier Varianten der zeitlichen Anordnung von CS und UCS beim klassischen Konditionieren. Vier mögliche zeitliche Anordnungen von CS und UCS wurden untersucht. Im Allgemeinen ist die Konditionierung am effektivsten im Paradigma der verzögerten Konditionierung mit einem kurzen Intervall zwischen dem Start des CS und dem Start des UCS.
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6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
Wird nach der Löschung die ursprüngliche Paarung wieder erneuert, so wird die CR sehr schnell stärker. Dieses schnelle Wiederlernen ist ein Beispiel für Ersparnis: Es wird weniger Zeit benötigt, eine Reaktion wiederzulernen, als diese ursprünglich zu lernen. Daher muss beim Organismus etwas der ursprünglichen Konditionierung behalten worden sein, obwohl experimentelle Löschung die CR aufgehoben zu haben scheint. Löschung hat somit lediglich die Leistung gemindert, nicht aber das ursprünglich Gelernte völlig aufgehoben – dies ist der Grund, warum wir bei unserer ursprünglichen Definition des Lernens Lernen und Leistung unterscheiden haben. Reizgeneralisierung Angenommen, ein Hund hat gelernt, dass die Darbietung eines Tones einer bestimmten Frequenz Futterpulver ankündigt. Tritt die Reaktion des Hundes nur bei genau diesem Reiz auf? Wenn Sie einen Moment über diese Frage nachdenken, sind Sie vielleicht nicht überrascht, dass die Antwort „nein“ lautet. Wenn eine CR auf einen spezifischen CS hin konditioniert wurde, dann ist es im Allgemeinen so, dass auch ähnliche Stimuli die Reaktion auslösen können. Wenn beispielsweise auf einen Ton hoher Frequenz konditioniert wurde, wird ein etwas tieferer Ton ebenfalls die Reaktion auslösen. (Ein Kind, das von
Warum könnte ein Kind, das von einem Hund erschreckt wurde, eine Angstreaktion auf alle Hunde entwickeln? einem großen Hund gebissen wurde, wird auch bei einem kleineren Hund mit Angst reagieren.) Diese automatische Erweiterung der Reaktion auf Stimuli, die nie mit dem ursprünglichen UCS gepaart wurden, wird als Reizgeneralisierung bezeichnet. Je ähnlicher der neue Reiz dem ursprünglichen CS ist, desto stärker wird die Reaktion ausfallen. Werden die Reaktionsstärken für Serien von Reizen bestimmt, die entlang einer Dimension zunehmend unähnlicher werden (씰 Abbildung 6.5), so erhält man Generalisierungsgradienten.
Abbildung 6.5: Reizgeneralisierungsgradienten. Wird zunächst auf einen mittelgrünen Stimulus konditioniert, so reagieren die Probanden nahezu genauso stark auf Stimuli ähnlicher Farbstufe. Dies zeigt der flache Generalisierungsgradient in Teil A der Abbildung. Wird den Probanden eine breitere Palette farbiger Stimuli präsentiert, so werden die Reaktionen mit abnehmender Ähnlichkeit zwischen Trainings- und Teststimulus schwächer. Der Generalisierungsgradient wird sehr steil, was Teil B der Abbildung zeigt. Der Versuchsleiter kann den Generalisierungsgradienten aus Teil A der Abbildung in jenen von Teil C überführen, wenn die Probanden ein Diskriminationstraining durchlaufen. In diesem Fall würde nur der mittelgrüne Stimulus immer mit dem UCS gepaart werden, nicht aber die Stimuli aller anderen Farbstufen.
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Am Beispiel von Generalisierungsgradienten können Sie die Bedeutung des klassischen Konditionierens im Alltag abschätzen. Da wichtige Stimuli in der Natur selten in exakt der gleichen Form auftreten, baut die Stimulusgeneralisierung einen Sicherungsfaktor für Ähnliches ein, indem hierdurch der Bereich des Lernens über die ursprüngliche spezifische Erfahrung hinaus ausgedehnt wird. Durch diese Eigenschaft können neue, jedoch vergleichbare Ereignisse als bedeutungsgleich erkannt werden, als gleich in ihrer Wichtigkeit für das Verhalten, obwohl augenscheinlich Unterschiede bestehen. Wenn beispielsweise ein Raubtier einen etwas anderen Laut von sich gibt oder vom Beutetier aus einem etwas anderen Winkel gesehen wird, kann dieses das Raubtier immer noch erkennen und schnell reagieren.
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6.2.3 Erwerb: Genauer betrachtet In diesem Abschnitt wollen wir genauer die Bedingungen untersuchen, die klassisches Konditionieren ermöglichen. Bislang haben wir den Erwerb klassisch konditionierter Reaktionen beschrieben, wir haben ihn allerdings noch nicht erklärt. Pavlov war der Ansicht, dass klassisches Konditionieren ein Ergebnis ausschließlich der Paarung von CS und UCS sei. Seiner Auffassung nach müssen CS und UCS in enger zeitlicher Beziehung miteinander stehen, wenn eine Reaktion klassisch konditioniert werden soll. Diese zeitliche Beziehung wird auch als zeitliche Kontiguität bezeichnet. Wie wir weiter unten sehen werden, hat die neuere Forschung diese Auffassung modifiziert.
Reizdiskrimination
Kontingenz
Unter manchen Umständen ist es jedoch wichtig, dass eine Reaktion ausschließlich auf eine kleine Bandbreite von Reizen erfolgt. Beispielsweise sollte ein Organismus sich nicht dadurch erschöpfen, dass er ständig vor Tieren flieht, die seinem natürlichen Jäger lediglich oberflächlich ähnlich sind. Lernt ein Organismus, auf verschiedene Reize, die sich von dem CS entlang einer Dimension unterscheiden (beispielsweise Unterschiede in der Farbstufe oder Tonhöhe), unterschiedlich zu reagieren, so bezeichnet man diesen Prozess als Reizdiskrimination. Die Diskrimination eines Organismus zwischen ähnlichen Reizen (beispielsweise Töne von 1000, 1200 und 1500 Hz) wird durch Diskriminationstraining geschärft, indem nur einer der Töne (beispielsweise 1200 Hz) den UCS ankündigt; all die anderen Töne werden nie mit dem UCS gepaart. In einem frühen Stadium der Konditionierung werden Reize, die dem CS ähnlich sind, eine ähnliche Reaktion hervorrufen, wenn auch nicht ganz so stark. Schreitet das Diskriminationstraining voran, so werden die Reaktionen auf die anderen, unähnlichen Reize schwächer: Der Organismus lernt allmählich, welche Ereignissignale das Auftreten des UCS vorhersagen und welche nicht. Damit ein Organismus optimal in seiner Umwelt funktioniert, müssen die Prozesse der Generalisierung und der Diskrimination sehr gut ausbalanciert sein. Der Organismus sollte nicht überselektiv sein – es kann eine ganze Menge kosten, das Vorhandensein eines Raubtieres zu missachten –, noch sollte er überreaktiv sein – es wäre auch ungünstig, vor jedem Schatten wegzulaufen. Klassisches Konditionieren stellt einen Mechanismus dar, effizient auf die Strukturen der Umwelt zu reagieren (Garcia, 1990).
Pavlovs Theorie dominierte das klassische Konditionieren bis Mitte 1960, als Robert Rescorla ein sehr aufschlussreiches Experiment an Hunden durchführte. Rescorla verwendete ein Experimentaldesign, das zwei Bedingungen gegenüberstellte: Zum einen waren ein Ton (CS) und ein elektrischer Schock (UCS) lediglich durch Kontiguität verbunden – dies sollte nach Pavlov ausreichen, eine klassische Konditionierung zu produzieren –, zum anderen sagte der Ton zuverlässig das Auftreten des Schocks voraus.
AUS DER FORSCHUNG In der ersten Phase des Experiments trainierte Rescorla Hunde, über eine Barriere von einer Seite einer Shuttlebox (einem Behältnis, das den schnellen Wechsel zwischen zwei Kammern erlaubt) auf die andere Seite zu springen, um dadurch einen elektrischen Schock zu vermeiden, der über ein Bodengitter appliziert wurde 씰 Abbildung 6.6. Wenn die Hunde nicht gesprungen sind, dann erhielten sie einen Schock; sind sie gesprungen, wurde der Schock aufgeschoben. Rescorla nutzte die Häufigkeit, mit der die Hunde über die Barriere sprangen, als ein Maß für die Konditionierung einer Furchtreaktion. Als die Hunde zuverlässig gelernt hatten, über die Barriere zu springen, teilte Rescorla sie in zwei Gruppen und unterzog sie jeweils einem unterschiedlichen Trainingsprogramm. Der Zufallsgruppe wurde der UCS (Schock) zufällig und unabhängig vom CS (Ton) verabreicht 씰 Abbildung 6.7. Obwohl der CS und der UCS oftmals zeitlich zusammen auftraten – sie standen zufällig in zeitlicher Kontiguität –, war es gleich wahrscheinlich, ob der UCS bei Abwesenheit oder in Anwesenheit des CS verabreicht wurde. Der CS besaß daher keinerlei Vorhersagequalität für den UCS. In der Kontingenzgruppe folgte jedoch immer der UCS auf den
6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
CS. Für diese Gruppe war somit der Ton ein zuverlässiger Prädiktor für die Verabreichung des Schocks. War dieses Training absolviert, so wurden die Hunde wieder in die Shuttlebox gesetzt, allerdings mit einer Veränderung. Jetzt erklang gelegentlich der Ton aus der zweiten Trainingsphase und signalisierte den Schock. Was geschah? 씰 Abbildung 6.8 zeigt, dass die Hunde, die zuvor einer kontingenten (vorhersagbaren) Beziehung zwischen CS und UCS ausgesetzt waren (Kontingenzbedingung), bei Darbietung des Tons öfter über die Barriere sprangen als die Hunde, die lediglich einer zeitlichen Kontiguität (Assoziation) von CS und UCS ausgesetzt waren. Kontingenz war entscheidend, damit den Hunden das Signal erfolgreich als Schlüsselreiz für den Schock dienen konnte.
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Abbildung 6.6: Eine Shuttlebox. Rescorla nutzte die Häufigkeit, mit der Hunde über eine Barriere sprangen, als ein Maß für die Konditionierung einer Furchtreaktion.
Abbildung 6.8: Die Rolle der Kontingenz beim klassischen Konditionieren. Rescorla zeigte, dass Hunde, die unter der Kontingenzbedingung konditioniert wurden, häufiger über die Barriere sprangen (somit mehr konditionierte Furcht zeigten) als Hunde, die unter der Bedingung zeitlicher Kontiguität, aber nicht kontingent konditioniert wurden. Die Pfeile zeigen Beginn und Ende des CS (Ton) an.
A. Zufallsgruppe U C C S S
U C C S S
U C S
C C S S
U U C C C C C S S S S S
U C S
U C S
U C C S S
U C C C S S S
U C S
Zeit
B. Kontingenzgruppe U C C S S
U C C S S
U U C C C C S S S S
U C C S S
Zeit
Abbildung 6.7: Rescorlas Versuchsablauf, um die Bedeutung der Kontingenz nachzuweisen. In der Zufallsgruppe waren Töne (CS) von 5 Sekunden Dauer und elektrische Schocks (UCS) von 5 Sekunden Dauer zufällig über die Experimentalphase verteilt. In der Kontingenzgruppe wurde den Hunden nur jene Teilmenge der Töne und Schocks dargeboten, in der die Töne (CS) eine zuverlässige Vorhersage auf die Schocks (UCS) erlaubten (der CS setzte 30 Sekunden oder weniger vor dem UCS ein). Ausschließlich die Hunde aus der Kontingenzgruppe lernten, CS und UCS zu assoziieren.
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Es reicht also nicht aus, dass CS und UCS eine zeitliche Kontiguität aufweisen, der CS muss zusätzlich eine zuverlässige Vorhersage (Kontingenz) für das Auftreten des UCS erlauben, damit klassisches Konditionieren stattfindet (Rescorla, 1988). Dieses Ergebnis ist durchaus sinnvoll. In natürlichen Situationen, in denen das Lernen die Organismen zur Adaption an Veränderungen ihrer Umwelt befähigt, treten Reize in Clustern auf und nicht in klar abgegrenzten, einfachen Einheiten wie in Laborexperimenten. Es gibt eine letzte Bedingung, die ein Reiz erfüllen muss, um als Grundlage für eine klassische Konditionierung zu dienen: Er muss in der Umwelt informativ sein. Stellen Sie sich ein Experiment vor, in dem Ratten gelernt haben, dass ein Tonsignal einen Elektroschock ankündigt. Als Nächstes wird dem Versuchsaufbau ein Licht hinzugefügt, so dass Licht und Ton den Schock ankündigen. Wenn dann allerdings das Licht in der Folge allein erscheint, haben die Ratten nicht gelernt, dass es dem Elektroschock vorausgeht (Kamin, 1969). Bei diesen Ratten hatte die vorausgehende Konditionierung auf das Tonsignal eine weitere mögliche Konditionierung auf das Licht blockiert. Vom Standpunkt der Ratte aus hätte das Licht ebenso gut nicht existieren können; es lieferte keine über den Ton hinausgehende Information. Das Erfordernis der Informativität erklärt, warum Konditionierung dann am schnellsten erfolgt, wenn der CS sich deutlich von all den anderen Reizen abhebt, die in der Umgebung vorhanden sind. Ein Stimulus wird eher bemerkt, wenn er intensiver ist und sich mehr von anderen Stimuli abhebt. Wenn Sie eine starke Konditionierung herstellen wollen, sollten Sie entweder einen intensiven neuen Stimulus in einer ungewöhnlichen Umgebung darbieten oder einen intensiven vertrauten Stimulus in einem neuen Kontext. Es wurde deutlich, dass klassisches Konditionieren komplexer ist, als sogar Pavlov ursprünglich angenommen hatte. Ein neutraler Stimulus wird nur dann ein effektiver CS, wenn er sowohl angemessen kontingent wie auch informativ ist. Lassen Sie uns unsere Aufmerksamkeit jetzt auf einen weiteren Aspekt lenken: Wir betrachten Alltagssituationen, in denen klassisches Konditionieren eine Rolle spielt.
6.2.4 Klassisches Konditionieren: Anwendungen Ihr Wissen über klassisches Konditionieren kann Ihnen helfen, einiges an Alltagsverhalten zu verstehen. Wir werden in diesem Abschnitt Hilfestellungen ge-
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ben, damit Sie einige Beispiele aus der Alltagswelt besser als Produkt dieser Form des Lernens erkennen. Wir werden dies am Beispiel von Emotionen und Vorlieben verdeutlichen sowie die Rolle des klassischen Konditionierens bei der Entwicklung von Drogenabhängigkeit untersuchen. Abschließend werden wir beschreiben, wie das Potenzial des klassischen Konditionierens genutzt werden kann, um die Immunfunktionen des Körpers zu stärken. Emotionen und Vorlieben Weiter oben baten wir Sie, über Ihre Erfahrungen beim Sehen eines Horrorfilms nachzudenken. In diesem Fall haben Sie (unbewusst) eine Assoziation zwischen angsterregender Musik (CS) und bestimmten wahrscheinlichen Ereignissen (UCS – die Art von Dingen, die in Horrorfilmen geschehen und die reflexartig Grauen auslösen) gelernt. Wenn Sie einmal genau auf Ereignisse in Ihrem Leben achten, werden Sie feststellen, dass es häufiger vorkommt, dass Sie nicht genau sagen können, warum Sie eine so starke emotionale Reaktion auf etwas oder eine so starke Vorliebe für etwas haben. Man kann in diesem Fall einen Schritt zurückgehen und sich fragen: „Ist dies ein Ergebnis klassischer Konditionierung?“ Betrachten Sie folgende Situationen (Rozin & Fallon, 1987; Rozin et al., 1986): Glauben Sie, Sie wären bereit, Bonbons zu essen, welche die Form eines Hundehaufens haben? Glauben Sie, Sie wären bereit, eine Zuckerlösung zu trinken, wenn der Zucker aus einem Behältnis stammen würde, von dem Sie wissen, dass es fälschlicherweise mit „Gift“ beschriftet ist? Glauben Sie, Sie wären bereit, Apfelsaft zu trinken, in den eine sterile Kakerlake eingetaucht wurde? Sollten Sie zu jeder dieser Situationen „Nie im Leben!“ sagen, dann stehen Sie damit nicht alleine da. Die klassisch konditionierte Reaktion – „Das ist eklig“ oder „Das ist gefährlich“ – gewinnt über das Wissen, dass der Stimulus wirklich in Ordnung ist. Da klassisch konditionierte Reaktionen nicht durch bewusstes Denken aufgebaut werden, sind sie auch sehr schwer durch bewusstes Denken zu eliminieren! Eines der am besten untersuchten Alltagsergebnisse des klassischen Konditionierens ist die Furchtkonditionierung. In den frühesten Tagen des Behaviorismus versuchten John Watson und seine Kollegin Rosalie Rayner nachzuweisen, dass viele Furchtreaktionen als
6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
Wie tragen klassische Konditionierungsprozesse zur Erklärung der Angstreaktionen bei Zuschauern von Horrorfilmen bei?
Wie konditionierten John Watson und Rosalie Rayner den kleinen Albert, so dass er Furcht vor kleinen, pelzigen Objekten entwickelte?
eine Paarung eines neutralen Stimulus mit etwas natürlicherweise Furchtauslösendem verstanden werden können. Um ihre Idee zu überprüfen, experimentierten sie mit einem Kind, das als der „kleine Albert“ bekannt wurde.
wiederholen. Die Bedenken hinsichtlich dieses Versuchs werden noch durch das Wissen um die starke Resistenz konditionierter Furcht gegen Löschung verstärkt. Ein einziges traumatisches Ereignis kann Sie dazu bringen, dass Sie stark körperlich, emotional und kognitiv reagieren – vielleicht ein Leben lang. Beispielsweise war einer unserer Freunde in einen schweren Autounfall während eines heftigen Regens verwickelt. Wenn es jetzt zu regnen beginnt, während er Auto fährt, verfällt er in Panik, manchmal so schlimm, dass er rechts ranfahren und warten muss, bis das Schlimmste vorbei ist. Einmal kroch dieser vernünftige und einsichtige Mensch in den Fond des Wagens, legte sich auf den Boden, Gesicht nach unten, bis der Regen nachließ. Wir werden in Kapitel 15 sehen, dass Therapeuten Behandlungsmethoden für diese Art von Angstreaktionen entwickelt haben, um den Effekten des klassischen Konditionierens entgegenzuwirken. Wir wollen nicht den Eindruck hinterlassen, dass ausschließlich negative Reaktionen klassisch konditioniert sind. In der Tat vermuten wir, dass Sie auch Reaktionen der Freude oder freudigen Erregung als Beispiel klassischen Konditionierens interpretieren können. Sicherlich hoffen Beschäftigte in der Werbebranche, dass klassisches Konditionieren als positive Kraft wirkt. Sie sind bestrebt, beispielsweise im Denken potenzieller Käufer Assoziationen zwischen ihren Produkten (beispielsweise Jeans, Sportwagen, Powerdrinks) und Leidenschaft herzustellen. Sie erwarten, dass Elemente ihrer Werbeplakate – „sexy“ Menschen oder Situationen – als UCS dienen, um die UCR auszulösen – Gefühle sexueller Erregung. Die Hoffnung besteht nun darin, dass das Produkt zum CS wird, so dass die Erregungsgefühle mit ihm assoziiert werden. Wenn Sie weitere Beispiele des klassischen Konditionierens positiver Emotionen finden wollen, gehen Sie
AUS DER FORSCHUNG Watson und Rayner (1920) trainierten Albert, Furcht vor einer weißen Ratte zu haben, die er ursprünglich gerne mochte, indem sie das Erscheinen der Ratte mit einem aversiven UCS paarten – ein lautes Geräusch direkt hinter ihm, das durch Schlagen mit einem Hammer auf einen Stahlstab erzeugt wurde. Die unkonditionierte Schreckreaktion und der emotionale Stress auf das unangenehme Geräusch hin bildeten die Basis für das Lernen der Furchtreaktion beim Erscheinen der weißen Ratte. Alberts Furcht entwickelte sich in nur sieben Konditionierungsdurchgängen. Als Albert lernte, vor dem gefürchteten Stimulus zu fliehen, erweiterte sich die emotionale Konditionierung zu einer Verhaltenskonditionierung. Die Furcht des Kindes generalisierte dann auf andere pelzige Objekte, wie beispielsweise einen Hasen, einen Hund und auch auf eine Nikolausmaske! (Alberts Mutter, eine Amme in dem Hospital, in dem die Untersuchung durchgeführt wurde, hat Albert weggebracht, bevor die Forscher die experimentell konditionierte Furcht wieder löschen konnten. Daher wissen wir nicht, was mit dem kleinen Albert weiter geschah [Harris, 1979].)
Wie Sie aus Kapitel 2 wissen, unterliegt psychologische Forschung wichtigen ethischen Grundsätzen. Diese Grundsätze lassen die Forscher heute mit großem Unbehagen auf Watsons und Rayners Experiment zurückblicken: Kein ethisch verantwortungsbewusster Wissenschaftler würde jemals ein solches Experiment
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Wie benutzen Werbemacher das klassische Konditionieren, um in Ihnen das Gefühl der „Leidenschaft“ gegenüber ihrem Produkt zu erzeugen? doch einmal Situationen durch, in denen Sie eine Welle richtig angenehmer Gefühle verspüren, beispielsweise wenn Sie zu einem sehr vertrauten Platz zurückkehren. Drogenabhängigkeit und Lernen Stellen Sie sich folgende Szenerie vor: Ein menschlicher Körper liegt in einer Straße Manhattans, eine halbleere Spritze steckt in seinem Arm. Todesursache? Der Gerichtsmediziner nennt es eine Überdosis, der Mann hat jedoch sonst stets eine viel größere Dosis gespritzt als jene, die ihn mutmaßlich das Leben kostete. Dieser Vorfall verwirrte die zuständigen Beamten. Wie kann ein Drogenabhängiger mit hoher Drogentoleranz an einer Überdosis sterben, wenn er sich noch nicht einmal den ganzen Schuss gesetzt hat? Vor längerer Zeit hat Pavlov (1927) und später sein Kollege Bykov (1957) darauf hingewiesen, dass sich eine Toleranz gegenüber Opiaten herausbilden kann, wenn ein Konsument die pharmakologische Wirkung antizipiert. In jüngerer Zeit hat der Forscher Shepard Siegel diese Idee weiter ausgearbeitet. Siegel nahm an, dass das Setting, in dem der Drogenkonsum stattfindet, als konditionierter Stimulus für eine Situation dient, in welcher der Körper sich zu schützen lernt, indem er verhindert, dass die Droge ihre übliche Wirkung ent-
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wickelt. Wenn Menschen Drogen nehmen, dann erzeugt die Droge (UCS) bestimmte physiologische Reaktionen, auf die der Körper mit Gegenmaßnahmen reagiert, um wieder Homöostase (siehe Kapitel 3) herzustellen. Die Gegenmaßnahmen des Körpers auf die Droge bilden die unkonditionierte Reaktion (UCR). Mit der Zeit wird diese kompensatorische Reaktion auch zu einer konditionierten Reaktion. Dies bedeutet, dass sich der Körper in Settings, die gewohnheitsmäßig mit Drogenkonsum (CS) assoziiert sind, physiologisch auf die erwarteten Effekte der Droge vorbereitet (CR). Toleranz entsteht nun dadurch, dass der Drogenkonsument in diesem Setting jene Menge Drogen zu sich nehmen muss, die die kompensatorische Reaktion übersteigt. Nur so kann ein „positiver“ Drogeneffekt erzielt werden. Die Drogendosis muss immer mehr gesteigert werden, da die konditionierte kompensatorische Reaktion selbst anwächst. Siegel überprüfte diese Ideen im Labor, indem er bei Ratten Toleranz gegenüber Heroin herstellte.
AUS DER FORSCHUNG In einer ihrer Untersuchungen verwendeten Siegel und seine Kollegen das Paradigma der klassischen Konditionierung bei Ratten. Die Konditionierung erfolgte so, dass die Ratten in einem Setting (CS) eine Heroininjektion (UCS) erwarteten, im anderen Setting (CS) eine Injektion
6.2 Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Wie beeinflusst klassische Konditionierung die Krebstherapie?
Die medizinische Forschung hat in der Entwicklung effektiverer Therapien zur Krebsbekämpfung große Fortschritte gemacht. Viele dieser Methoden erfordern Chemotherapie, also medikamentöse Behandlungen, die Krebszellen abtöten oder stark schwächen. Patienten, die sich einer Chemotherapie unterziehen, leiden oft unter Nebenwirkungen wie Erschöpfung und Übelkeit. Man könnte nun annehmen, dass diese Nebenwirkungen direkt auf die Medikamente der Chemotherapie zurückgehen. Obwohl das teilweise der Fall ist, zeigen Forschungsergebnisse, dass klassische Konditionierungsprozesse in großem Maße zur Fortdauer der Nebenwirkungen über längere Zeit beitragen. Nehmen wir als Beispiel eine Studie über die Erfahrungen von Krebspatienten mit Erschöpfung. Chemotherapiepatienten leiden oft unter Erschöpfungszuständen und berichten, dass diese Erschöpfung sie daran hindere, ein „normales Leben“ zu führen (Curt et al., 2000). Um den Ursprung eines Teils dieser Erschöpfungszustände zu erklären, testeten die Forscher ein Modell, das auf der klassischen Konditionierung beruhte (Bovbjerg et al., 2005). Die 82 Frauen in der Studie besuchten wegen ihrer Brustkrebsbehandlung wiederholt dieselbe Tagesklinik. Bei jeder Therapiesitzung erhielten die Frauen Chemotherapieinfusionen. Bewerten wir diese Situation in den Begriffen der klassischen Konditionierung. Die chemotherapeutischen Medikamente wirken als unkonditionierter Stimulus (UCS) und bewirken Erschöpfung nach der Behandlung als unkonditionierte Reaktion (UCR). Die Forscher postulierten dann, dass die Klinikumgebung als konditionierter Stimulus (CS) wirkte. Durch die wiederholten Besuche in der Klink – wodurch der CS mit dem UCS kombiniert wurde – würden die Frauen laut dem vorgeschlagenen Modell bereits bei der Ankunft in der Klinik antizipatorische Erschöpfung verspüren, und zwar als konditionierte Reaktion (CR). Um diese Hypothese zu überprüfen, maßen die Forscher, wie sich die Erschöpfungszustände der Frauen im Laufe der Zeit veränderten. Sie bestimmten sowohl, wie sich die Frauen vor jedem Therapietermin fühlten – also das Ausmaß an antizipatorischer Erschöpfung – als auch, wie sich nach der Chemotherapiesitzung fühlten – also den Grad der Erschöpfung nach der medikamentösen Infusion. Die Daten ergaben ein klares Muster: Mit jedem Termin in der Klinik stieg das Ausmaß an antizipatorischer Erschöpfung an. Man könnte jetzt denken, dass die Erschöpfung
sich infolge des kumulativen Effekts der Chemotherapie verschlimmere. Allerdings berichteten die Frauen nicht von stärkerer Erschöpfung nach den Therapiesitzungen. In Übereinstimmung mit dem auf klassischer Konditionierung basierenden Modell schien die verstärkte antizipatorische Erschöpfung als eine der Hauptursachen konditionierte Assoziationen mit der Klinikumgebung aufzuweisen. Die Forscher haben sogar Belege für eine klassische Konditionierungsanalyse auch anderer Aspekte der Chemotherapie gefunden. So fangen beispielsweise viele Patienten schon vor Beginn der Chemotherapiesitzungen an, Übelkeit zu empfinden – die Klinikumgebung, in der die Behandlung stattfindet, beginnt, als konditionierter Reiz zu wirken (Tomoyasu et al., 1996). Dieses klassische Konditionierungsmodell könnte helfen, zu erklären, warum einige der Nachwirkungen einer Chemotherapie noch lange nach dem Ende der Behandlung andauern. Forscher beobachteten eine Gruppe von 273 Überlebenden der Hodgkin'schen Krankheit, einer Krebserkrankungsvariante der Lymphknoten, deren Behandlung zwischen einem und 20 Jahren zurücklag (Cameron et al., 2001). Die Teilnehmer an der Studie wurden gebeten, sich die letzten 6 Monate ins Gedächtnis zurückzurufen und anzugeben, ob ihnen etwas aufgefallen war (ein Geruch oder Geschmack; etwas, das sie gesehen hatten; Orte, an denen sie gewesen waren; Essen oder Getränke aller Art), das sie an die Therapie erinnert und „körperliches oder emotionales Wohlbefinden oder Unbehagen“ (S. 72) ausgelöst hatte. Über die Hälfte der Teilnehmer – 55 Prozent – berichtete von latentem Unbehagen, das von Stimuli ausgelöst wurde, die mit der Chemotherapie verbunden waren. Die Forscher gehen davon aus, dass diese andauernden Reaktionen das Ergebnis klassisch konditionierter Assoziationen zwischen verschiedenen Aspekten des Erlebnisses Chemotherapie (CS) und den Medikamenteninfusionen ( UCS) waren. Diese Studien bieten starke Belege für die These, dass klassische Konditionierung die negativen Auswirkungen einer Chemotherapie verstärkt. Sie stellen auch einen Kontext zur Verfügung, innerhalb dessen die Forschung mit der Entwicklung von Gegenmaßnahmen beginnen kann. So könnten Forscher zum Beispiel den Umgebungszusammenhang verändern, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass eine Klinikumgebung zum konditionierten Stimulus wird. Interventionen dieser Art können zwar die negativen Effekte der Chemotherapie selbst nicht ausschalten, könnten aber dazu beitragen, dass diese Effekte nicht unnötig lange andauern.
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aus Zuckerlösung (Siegel et al., 1982). In der ersten Phase des Experiments entwickelten alle Ratten eine Toleranz gegenüber Heroin. Zum Zeitpunkt des Tests erhielten alle Ratten eine größere Dosis Heroin als üblich – nahezu die doppelte Dosis wie sonst. Die eine Hälfte der Ratten erhielt diese Dosis in dem Setting, in dem üblicherweise Heroin verabreicht wurde; die andere Hälfte erhielt das Heroin nun in jenem Setting, wo zuvor auf die Zuckerlösung konditioniert wurde. In der Bedingung, in der zuvor Zuckerlösung verabreicht wurde, starben doppelt so viele Ratten wie in dem Setting, in dem zuvor Heroin gegeben wurde – 64 Prozent gegenüber 32 Prozent!
Vermutlich waren jene Ratten im üblichen Setting besser auf diese potenziell gefährliche Situation vorbereitet, da der Kontext (CS) eine physiologische Reaktion (CR) hervorrief, die der typischen Wirkung der Droge entgegen gerichtet war (Poulos & Cappell, 1991). Um herauszufinden, ob ähnliche Prozesse auch beim Menschen stattfinden, befragten Siegel und Kollegen Heroinabhängige, die schon einmal kurz vor dem Tode durch eine Überdosis standen. In sieben von zehn Fällen hatte sich die Befragten diesen kritischen Schuss in einer neuen, nicht vertrauten Umgebung gesetzt (Siegel, 1984). Obwohl dieser Befund keine weit reichenden Schlussfolgerungen zulässt, lässt sich festhalten, dass eine Dosis, für die ein Abhängiger in einem bestimmten Setting eine Toleranz entwickelt hat, zu einer Überdosis in einem nicht vertrauten Setting werden kann. Dieser Gedankengang erlaubt uns anzunehmen, dass der oben erwähnte Drogenabhängige starb, weil er sich in der betreffenden Straße noch nie zuvor einen Schuss gesetzt hatte. Obwohl wir hier Forschungsergebnisse zu Heroin anführten, gilt das klassische Konditionieren als wich-
tige Komponente für viele psychoaktive Substanzen (Siegel, 2005). Daher helfen die gleichen Mechanismen, die Pavlov bei Hunden, Glocken und Speichelfluss beobachtete, die Mechanismen von Drogenabhängigkeit beim Menschen zu erklären.
Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
6.3
Lassen Sie uns zum Kino zurückkommen. Der Horrorfilm ist nun vorüber und Sie schälen sich aus dem Kinosessel. Ihr Freund, mit dem Sie den Film gesehen haben, fragt Sie, ob Sie sich eine Fortsetzung wünschen. Sie antworten: „Ich habe gelernt, dass ich nicht in Horrorfilme gehen sollte.“ Sie haben wahrscheinlich Recht, aber um welche Art von Lernen handelt es sich hierbei? Einmal mehr liegt der Ursprung unserer Antwort an der Wende zum 20. Jahrhundert.
6.3.1 Das Gesetz des Effekts Etwa zur gleichen Zeit, als Pavlov mithilfe des klassischen Konditionierens russische Hunde konditionierte, beobachtete Edward L. Thorndike (1989) amerikanische Katzen, wie sie versuchten, aus sogennanten Puzzleboxen (Rätselkisten) zu entkommen (씰 Abbildung 6.9). Thorndike berichtete seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen über die Art des Lernens, die seiner Auffassung nach bei den Versuchstieren stattfand. Die Katzen kämpften zunächst lediglich gegen ihr Eingesperrtsein an, als sie jedoch durch eine „im-
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Rolle spielen Reflexe in der klassischen Kon-
ditionierung? 2 Welcher Unterschied besteht zwischen UCS und CS? 3 Was bedeutet Reizdiskrimination? 4 Warum ist Kontingenz in der klassischen Konditionie-
rung so wichtig? 5 Worin besteht die konditionierte Reaktion, wenn klas-
sische Konditionierung eine Rolle in der Drogenabhängigkeit spielt? KRITISCHES DENKEN: Warum erhielten in dem Experiment, das konditionierte Herointoleranz bei Ratten untersuchte, die Ratten am Testtag die doppelte Normaldosis Heroin?
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Abbildung 6.9: Eine Thorndike Puzzlebox. Thorndikes Katzen mussten einen Mechanismus bedienen, der ein Gewicht entfernte und dadurch die Tür öffnete. So konnten die Tiere aus der Puzzlebox gelangen und Futter erhalten.
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
pulsive“ Handlung die Tür öffnen konnten, „wurden alle anderen nicht erfolgreichen Impulse in den Hintergrund gedrängt und exakt der erfolgreiche Impuls wurde durch die resultierende Freude hervorgehoben“ (Thorndike, 1898, S. 13). Was hatten Thorndikes Katzen gelernt? Nach Thorndikes Analyse war Lernen eine Verbindung zwischen Reizen der Situation und Reaktionen, die die Tiere erlernt hatten: eine Reiz-Reaktions-Verbindung (S-RVerbindung; englisch: stimulus-response connection). Die Katzen lernten somit eine angemessene Reaktion (beispielsweise einen Knopf zu drücken oder an einer Schlinge zu ziehen), die in dieser Stimulusumgebung (Eingesperrtsein in einer Puzzlebox) zu dem gewünschten Ergebnis (momentane Freiheit) führte. Beachten Sie bitte, dass das Lernen der S-R-Verbindung allmählich und automatisch auf mechanistische Art und Weise erfolgte; dies dadurch, dass das Tier die Konsequenzen seiner Handlung ausschließlich auf der Grundlage von Versuch und Irrtum erfuhr. Allmählich nahm die Häufigkeit jener Verhaltensweisen zu, die befriedigende Konsequenzen zeigten; und diese Verhaltensweisen wurden schließlich zu dominanten Verhaltensweisen, wenn das Tier in die Puzzlebox gesetzt wurde. Thorndike bezeichnete dieses Verhältnis von Verhalten und Konsequenzen als Gesetz des Effekts (englisch: law of effect). Folgt auf eine Reaktion eine befriedigende Konsequenz, so erhöht sich die Auftretenswahrscheinlichkeit dieser Reaktion. Folgt auf eine Reaktion eine nicht zufriedenstellende Konsequenz, so vermindert sich die Auftretenswahrscheinlichkeit dieser Reaktion.
6.3.2 Experimentelle Verhaltensanalyse B. F. Skinner begrüßte die Ansicht Thorndikes, dass Konsequenzen aus der Umgebung einen starken Effekt auf das Verhalten zeigen. Skinner stellte ein Forschungsprogramm vor, dessen Zielsetzung darin bestand, durch systematische Variation der Reizbedingungen den Einfluss von Umweltbedingungen auf die Auftretenswahrscheinlichkeit von Reaktionen zu untersuchen: Eine natürliche Größe in der Verhaltenswissenschaft ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Teil des Verhaltens zu einem bestimmten Zeitpunkt auftritt. Eine experimentelle Analyse versteht diese Wahrscheinlichkeit als Frequenz des Verhaltens oder als Verhaltenshäufigkeit … Die Aufgabe der expe-
rimentellen Analyse besteht in der Entdeckung all jener Variablen, die auf die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion einwirken. (Skinner, 1966, S. 213 – 214) Die Analyse von Skinner war eher experimentell denn theoretisch – Theoretiker sind im Hinblick auf Verhalten durch Ableitungen und Vorhersagen aus ihren Theorien geleitet, Empiriker wie Skinner hingegen bevorzugen den Bottom-up-Ansatz. Empiriker beginnen mit der Sammlung von Daten, beurteilen diese im Kontext eines Experiments und werden nicht durch Theorien geleitet.
Welche Kontingenzen im Umfeld lassen ein Baby öfter lächeln? Um Verhalten experimentell zu untersuchen, entwickelte Skinner Methoden zum operanten Konditionieren (oft auch als instrumentelles Konditionieren bezeichnet). Hierbei manipulierte er die Konsequenzen des Verhaltens, um den Effekt der Konsequenzen auf das Folgeverhalten abzuschätzen. Als operant gilt jedes Verhalten, das von einem Organismus gezeigt wird und das anhand seiner beobachtbaren Effekte auf die Umwelt des Organismus beschrieben werden kann. Wörtlich bezeichnet „operant“ die Beeinflussung der Umwelt, das heißt die Ausführung von Operationen an der Umwelt (Skinner, 1938). Operante Reaktionen werden nicht durch spezifische Reize ausgelöst, wie dies beim klassisch konditionierten Verhalten der Fall ist. Tauben picken, Ratten suchen nach Futter, Babys schreien und plappern, einige Menschen gestikulieren, während sie reden, und andere stottern. Die Auftretenswahrscheinlichkeit dieser Verhaltensweisen in der Zukunft kann durch eine Manipulation der Ef-
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fekte, die sie auf die Umwelt haben, erhöht oder gesenkt werden. Wenn beispielsweise ein Baby plappert und dies den gewünschten Kontakt zu den Eltern zur Folge hat, wird dieses Baby in Zukunft mehr plappern. Operantes Konditionieren verändert somit die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Arten operanten Verhaltens als Funktion der Umweltkonsequenzen, die das jeweilige Verhalten produziert. Um diese neue Art der experimentellen Analyse durchzuführen, erfand Skinner eine Vorrichtung, die es ihm erlaubte, die Konsequenzen von Verhalten zu manipulieren: die so genannte Skinnerbox. 씰 Abbildung 6.10 zeigt, wie die Skinnerbox funktioniert. Wenn die Ratte ein Verhalten zeigt, das vom Experimentator als adäquat (zum Beispiel erwünscht) definiert wurde, und sie dann einen Hebel drückt, dann gibt die Vorrichtung eine Futterpille aus. Diese Vorrichtung erlaubt den Experimentatoren, die Variablen zu untersuchen, von denen es abhängt, ob Ratten das Verhalten, das die Experimentatoren definieren, lernen – oder auch nicht lernen. Wenn beispielsweise ein Hebeldruck nur dann eine Futterpille freigibt, wenn die Ratte zuvor in dem Kasten einen Kreis gelaufen ist, wird die Ratte schnell lernen (durch einen Prozess, der Shaping genannt wird und den wir weiter unten betrachten werden), zuerst einen Kreis zu laufen und dann den Hebel zu drücken. In vielen Experimenten zum operanten Konditionieren besteht die interessierende Messgröße darin, wieviel dieses speziellen Verhaltens ein Tier in einer bestimmten Zeitspanne zeigt. Die Forscher zeichnen
Hebel
Futtertrog
Futterpillenspender
Scheibe
Abbildung 6.10: Skinnerbox. In dieser typischerweise für Ratten speziell hergestellten Vorrichtung kann auf einen Hebeldruck die Freigabe einer Futterpille folgen.
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hierbei das Muster und die Gesamtmenge des Verhaltens auf, das im Verlauf des Experiments gezeigt wurde. Durch diese Methode konnte Skinner den Effekt von Kontingenzen bei der Verstärkung auf das Verhalten von Tieren untersuchen.
6.3.3 Kontingenzen bei der Verstärkung Unter Kontingenz bei der Verstärkung versteht man eine zuverlässige Beziehung zwischen einer Reaktion und den dadurch hervorgerufenen Änderungen in der Umwelt. Stellen Sie sich beispielsweise ein Experiment vor, in dem auf das Picken einer Taube auf eine Scheibe (die Reaktion) generell die Gabe von Körnern (die entsprechende Veränderung in der Umwelt) folgt. Diese zuverlässige Beziehung, oder auch Kontingenz bei der Verstärkung, wird üblicherweise von einem Zuwachs der Pickrate begleitet. Damit die Körnergabe ausschließlich die Wahrscheinlichkeit des Pickens erhöht, muss diese ausschließlich kontingent zur Pickreaktion sein – die Körnergabe muss regelmäßig nach dieser Reaktion erfolgen, nicht aber nach anderen Reaktionen wie beispielsweise Drehen oder Bücken der Taube. Auf den Arbeiten von Skinner aufbauend versuchen moderne Verhaltensanalytiker, Verhalten im Rahmen von Verstärkerkontingenzen zu verstehen. Lassen Sie uns einen genaueren Blick darauf werfen, was über diese Kontingenzen herausgefunden wurde. Positive und negative Verstärker Stellen Sie sich vor, Sie wollten unbedingt Ihr Haustier, eine Ratte, dazu bringen, in ihrem Käfig einen Kreis zu laufen. Um die Wahrscheinlichkeit des ImKreis-Laufens zu erhöhen, sollten Sie einen Verstärker einsetzen. Ein Verstärker ist jeder Stimulus, der – wird er kontingent zum Verhalten dargeboten – die Wahrscheinlichkeit dieses Verhaltens im Laufe der Zeit erhöht. Als Verstärkung wird die Gabe von Verstärkern in der Folge von Reaktionen bezeichnet. Verstärker sind immer empirisch definiert – und zwar durch den Effekt, den sie auf die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion zeigen. Wenn Sie sich im Alltag umschauen, werden Sie möglicherweise drei Klassen von Reizen erkennen: jene, denen Sie neutral gegenüberstehen, jene, die Sie als angenehm erleben, und jene, die Sie als aversiv erleben (Sie wollen sie vermeiden). Es ist klar, dass die Zusammenstellung dieser Klassen von Reizen von Individuum zu Individuum unterschiedlich ist: Was angenehm oder aversiv ist, ist durch das Verhalten jedes individuellen Orga-
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
nismus definiert. Betrachten wir die Erdbeere. Obwohl viele Menschen Erdbeeren sehr schmackhaft finden, findet sie einer der Autoren dieses Buches nahezu ungenießbar. Wenn Sie also das Verhalten dieses Autors mithilfe von Erdbeeren verändern möchten, müssen Sie berücksichtigen, dass diese – zumindest für ihn – aversiv statt appetitiv sind. Wenn auf ein Verhalten ein angenehmer Reiz folgt, spricht man von positiver Verstärkung. Ihr Haustier, die Ratte, wird sich dann im Kreis bewegen, wenn dies als eine Konsequenz die Futtergabe nach sich zieht. Menschen werden Witze erzählen, wenn eine Konsequenz des Witzeerzählens in der Art von Lachen besteht, das der Erzähler als angenehm empfindet. Wenn auf ein Verhalten die Entfernung eines aversiven Reizes folgt, dann spricht man von negativer Verstärkung. Beispielsweise wäre es wahrscheinlicher, dass der Autor dieses Kapitels ein spezifisches Verhalten zeigt, wenn er dadurch das Essen von Erdbeeren vermeiden könnte. Es gibt zwei allgemeine Arten von Lernumständen, in denen negative Verstärkung wirkt. Bei der Fluchtkonditionierung lernen Tiere, dass eine Reaktion ihnen ermöglicht, einem aversiven Stimulus zu entkommen. Während eines Wolkenbruchs einen Regenschirm aufzuspannen ist ein verbreitetes Beispiel für Fluchtkonditionierung. Man lernt, einen Regenschirm zu benutzen, um dem aversiven Stimulus des Nasswerdens zu entkommen. Bei der Vermeidungskonditionierung lernen Tiere Reaktionen, die ihnen ermöglichen, aversiven Stimuli zu entkommen, bevor diese einsetzen. Angenommen, Ihr Wagen habe einen Summer, der ertönt, wenn Sie sich nicht anschnallen. Sie werden lernen, sich anzugurten, um den aversiven Lärm zu vermeiden. Um klar zwischen positiver und negativer Verstärkung zu unterscheiden, versuchen Sie, sich Folgendes zu merken: Sowohl positive wie negative Verstärkung erhöht die Wahrscheinlichkeit der Reaktion, die zuvor erfolgte. Positive Verstärkung erhöht die Reaktionswahrscheinlichkeit durch das Auftreten eines angenehmen Reizes in der Folge einer Reaktion; negative Verstärkung erzielt das Gleiche, allerdings auf umgekehrtem Weg. Bei negativer Verstärkung wird ein aversiver Stimulus in der Folge einer Reaktion entfernt, reduziert oder verhindert. Erinnern Sie sich an das klassische Konditionieren: Wenn der unkonditionierte Reiz nicht länger dargeboten wurde, wird die konditionierte Reaktion gelöscht. Das Gleiche gilt für das operante Konditionieren – wenn die Verstärkung ausbleibt, tritt operante Löschung ein. Wenn demzufolge ein Verhalten keine vorhersagbaren Konsequenzen mehr zeigt, geht es auf
das Niveau zurück, das es vor dem operanten Konditionieren hatte – es wird gelöscht. Vielleicht fallen Ihnen eigene Verhaltensweisen ein, die zuvor verstärkt, dann gelöscht wurden. Ist es schon einmal vorgekommen, dass Sie einige Münzen in einen Getränkeautomaten warfen und dann nichts bekamen? Sollten Sie den Automaten ordentlich gerüttelt haben und es ist dann das Gewünschte herausgekommen, so wäre das Rütteln verstärkt. Sollte aber die nächsten paar Male das Rütteln nicht zum Erfolg führen, dann wäre es schnell gelöscht. Wie bei der klassischen Konditionierung ist Spontanremission auch ein Merkmal der operanten Konditionierung. Angenommen, Sie hätten eine Taube durch die Gabe von Futtertabletten darin verstärkt, beim Aufleuchten eines grünen Lichts auf eine Taste zu picken. Wenn Sie mit der Verstärkung aufhören, würde das Pickverhalten gelöscht. Wenn man allerdings die Taube beim nächsten Mal in den Versuchsaufbau setzt und das grüne Licht leuchtet, wird die Taube wahrscheinlich spontan wieder picken. Das ist Spontanremission. In Bezug auf den Menschen heißt das, Sie würden vielleicht, wenn eine gewisse Zeit nach Ihrer anfänglichen Verhaltenslöschung vergangen ist, wieder gegen den Getränkeautomaten treten. Zwei Arten der Bestrafung Sie sind möglicherweise mit einer weiteren Technik vertraut, welche die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion senkt – der Bestrafung. Ein Bestrafungsreiz ist jeder Stimulus, der – wird er kontingent zu einer Reaktion dargeboten – die Wahrscheinlichkeit dieser Reaktion im Laufe der Zeit senkt. Bestrafung ist die Gabe eines Bestrafungsreizes in der Folge einer Reaktion. Ebenso wie wir positive und negative Verstärkung unterscheiden konnten, können wir auch positive und negative Bestrafung unterscheiden (im Deutschen wird dies auch oft als Bestrafung 1. und 2. Art bezeichnet). Wenn auf ein Verhalten die Verabreichung eines aversiven Reizes folgt, nennt man dies Bestrafung 1. Art (positive Bestrafung). (Sie können sich den Begriff „positiv“ in diesem Zusammenhang insofern merken, als dass etwas der Situation hinzugefügt wird.) Wenn Sie beispielsweise eine heiße Herdplatte berühren, dann verursacht dies Schmerz, der die vorangegangene Reaktion bestraft, so dass Sie das nächste Mal mit geringerer Wahrscheinlichkeit die Herdplatte berühren werden. Wenn auf ein Verhalten der Wegfall eines angenehmen Reizes folgt, so nennt man dies Bestrafung 2. Art (negative Bestrafung). (Sie können sich den Begriff „negativ“ in diesem Zusammenhang anhand der
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Tatsache merken, dass aus der Situation etwas entfernt wird.) Wenn beispielsweise die Eltern einem Kind das Taschengeld entziehen, nachdem es seinen kleinen Bruder geschlagen hat, wird das Kind lernen, den kleinen Bruder in Zukunft nicht mehr zu schlagen. Welche Art der Bestrafung könnte erklären, warum Sie möglicherweise Horrorfilmen fern bleiben? Obwohl Bestrafung und Verstärkung eng verwandte Vorgänge sind, unterscheiden sie sich doch in wichtigen Punkten. Man kann sich dies dadurch deutlich machen, dass man über die Effekte auf das Verhalten nachdenkt. Per definitionem senkt Bestrafung immer die Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens einer Reaktion, während Verstärkung definitionsgemäß die Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens einer Reaktion erhöht. Beispielsweise leiden einige Menschen an Kopfschmerzen, wenn sie koffeinhaltige Getränke zu sich nehmen. Die Kopfschmerzen sind der Reiz, der positiv bestraft und das Verhalten, Kaffee zu trinken, reduziert. Sind die Kopfschmerzen allerdings erst einmal da, dann nehmen Menschen oftmals Aspirin oder ein anderes Schmerzmittel ein, um die Kopfschmerzen zu beseitigen. Der schmerzstillende Effekt von Aspirin ist jener Reiz, der das Einnahmeverhalten von Aspirin negativ verstärkt (der Schmerz verschwindet).
Diskriminative Reize und Generalisierung Möglicherweise wollen Sie die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion nicht für alle Umstände ändern, vielmehr wollen Sie die Wahrscheinlichkeit der Reaktion nur in einem bestimmten Kontext ändern. Beispielsweise könnten Sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen wollen, dass ein Kind im Schulunterricht ruhig sitzt, ohne dabei die Wahrscheinlichkeit zu verändern, dass es sich in den Pausen rege und laut verhält. Im Zuge ihrer Assoziation mit Verstärkung oder Bestrafung erlangen bestimmte Reize, die einer spezifischen Reaktion vorausgehen, die Eigenschaft, den Kontext des Verhaltens festzulegen. Diese Stimuli werden als diskriminative Hinweisreize bezeichnet. Organismen lernen, dass ihr Verhalten in Anwesenheit bestimmter Reize, nicht aber in Anwesenheit anderer, mit großer Wahrscheinlichkeit einen bestimmten Effekt auf die Umwelt zeigt. Beispielsweise wird in Gegenwart einer grünen Ampel das Verhalten verstärkt, eine Kreuzung mit einem Auto zu passieren. Ist die Ampel allerdings rot, wird dieses Verhalten bestraft – es kann mit einem Strafzettel oder in einem Unfall enden. Skinner bezeichnete die Folge von diskriminativem Reiz, Verhalten und Konsequenz als Dreifachkontingenz und glaubte, dass diese die meisten menschlichen Verhaltensweisen erklären kann (Skinner, 1953). 씰 Tabel-
Tabelle 6.1
Die Dreifachkontingenz: Beziehungen zwischen diskriminativen Reizen, Verhalten und Konsequenzen Diskriminativer Reiz
Reaktion
Konsequenz
Getränkeautomat
Münze einwerfen
Getränk erhalten
2. Negative Verstärkung (Flucht): Hitze Einer aversiven Situation wird durch eine operante Reaktion entkommen. Die Rate des Fluchtverhaltens steigt.
Fächern
Der Hitze entkommen
3. Bestrafung 1. Art. Auf eine Reaktion folgt ein aversiver Reiz. Die Reaktion wird eliminiert oder unterdrückt.
Attraktive Streichholzschachtel
Spielen mit Streichhölzern
Sich verbrennen oder erwischt und versohlt werden
4. Bestrafung 2. Art: Auf eine Reaktion folgt die Entfernung eines angenehmen Reizes. Die Reaktion wird eliminiert oder unterdrückt.
Rosenkohl
Weigerung, ihn zu essen
Kein Nachtisch
1. Positive Verstärkung: Eine Reaktion in Anwesenheit eines wirksamen Signals erzielt die gewünschte Konsequenz. Die Reaktionsrate steigt.
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6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
le 6.1 beschreibt, wie die Dreifachkontingenz verschiedene menschliche Verhaltensweisen erklären könnte. Unter Laborbedingungen kann die Manipulation der Verhaltenskonsequenzen in Anwesenheit diskriminativer Stimuli eine wirksame Kontrolle über das Verhalten ausüben. Beispielsweise können einer Taube Körner nach dem Picken auf eine Scheibe nur dann gegeben werden, wenn ein grünes Licht vorhanden ist, nicht aber bei einem roten Licht. Das grüne Licht stellt einen diskriminativen Hinweisreiz dar, der die Gelegenheit zum erfolgreichen Picken anzeigt. Organismen lernen schnell, zwischen diesen Bedingungen zu unterscheiden, und reagieren regelmäßig bei Vorliegen des einen Stimulus, jedoch nicht bei Anwesenheit des anderen. Durch Manipulation der drei Komponenten der Dreifachkontingenz kann man das Verhalten auf einen bestimmten Kontext festlegen. Organismen generalisieren jedoch auch ihre Reaktionen auf andere Reize, die dem diskriminativen Stimulus ähnlich sind. Wurde erst einmal eine Reaktion bei Vorliegen eines diskriminativen Reizes verstärkt, dann kann ein ähnlicher Reiz zu einem diskriminativen Hinweis für die gleiche Reaktion werden. Werden beispielsweise Tauben darauf trainiert, bei grünem Licht auf eine Scheibe zu picken, dann werden sie ebenfalls auf diese Scheibe picken, wenn ein im Vergleich zum ursprünglichen Hinweisreiz etwas helleres oder dunkleres grünes Licht dargeboten wird. In ähnlicher Weise generalisieren Sie auf unterschiedliche Grünabstufungen bei Ampeln als diskriminativem Stimulus für ihr „Weiterfahr“-Verhalten.
mehr werden aufgrund der positiven Verstärkung wahrscheinlich andere Verhaltensweisen zunehmen. (Welche könnten dies sein?) Wie kann man den Kontext definieren, in dem ein Verhalten angemessen oder unangemessen ist? Erinnern Sie sich daran, dass Sie wohl selten eine Ausprägung von Verhalten komplett erlauben oder verbieten wollen. In unserem vorherigen Beispiel zeigten wir auf, dass Sie vielleicht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind im Schulunterricht ruhig sitzt, erhöhen wollen, ohne dabei die Wahrscheinlichkeit zu ändern, dass es in den Pausen laut und aktiv ist. Sie müssen die diskriminativen Reize definieren und herausfinden, inwiefern sich die gewünschte Reaktion auf ähnliche Reize überträgt. Wenn das Kind beispielsweise gelernt hat, im Schulunterricht ruhig zu sitzen, wird dieses Verhalten dann auch auf andere „ernste“ Situationen übergreifen?
Sind Sie bereit, Ihr neues Wissen über Kontingenzen bei der Verstärkung zum Einsatz zu bringen? Hier folgen einige Überlegungen, die Ihnen vielleicht einfallen:
Haben Sie schon einmal unbeabsichtigt einige Verhaltensweisen verstärkt? Nehmen wir an, Sie wollen ein bestimmtes Verhalten löschen. Bevor Sie zur Bestrafung als Mittel zur Reduktion übergehen (mehr dazu in dem Kasten Kritisches Denken im Alltag), sollten Sie versuchen, ob Sie Verstärker für dieses Verhalten ausmachen können. Sollte dem so sein, so können Sie versuchen, das Verhalten zu reduzieren, indem Sie diese Verstärker entfernen. Stellen Sie sich beispielsweise vor, dass ein Junge häufig Wutanfälle bekommt. Sie könnten sich fragen „Habe ich diese Wutanfälle dadurch verstärkt, dass ich dem Jungen besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ, wenn er geschrien hat?“ Sollten Sie zu diesem Schluss gelangen, so können Sie versuchen, die Wutanfälle dadurch zu eliminieren, dass Sie die Verstärker entziehen. Besser noch wäre es, wenn Sie die Löschung mit einer positiven Verstärkung sozial erwünschter Verhaltensweisen kombinieren.
Wie kann man das Verhalten definieren, das man verstärken oder löschen will? Sie müssen das Zielverhalten, dessen Wahrscheinlichkeit Sie ändern wollen, immer sehr genau kennen. Verstärkung sollte genau zu diesem Verhalten kontingent sein. Werden Verstärker nichtkontingent gegeben, dann haben sie nur einen geringen Einfluss auf das Verhalten. Wenn beispielsweise Eltern schlechte Leistungen ebenso loben wie gute Leistungen, wird ein Kind nicht lernen, sich in der Schule mehr anzustrengen – viel-
Eltern müssen sich bewusst sein, dass die gegebenen Verstärker Verhaltensprobleme von Kindern, wie etwa Wutanfälle, wahrscheinlicher machen können. In der Tat hat die Elternforschung unwissentliche Verstärkung als eine Ursache ernsthafter Verhaltensprobleme bei Kindern ausgemacht. So haben beispielsweise Gerald Patterson und seine Kollegen (Patterson, 2002; Reid et al., 2002) ein Modell der Nötigung (coercion model) für antisoziales Verhalten skizziert. Beobachtungen an Familien legen nahe, dass Kinder gefährdet sind, wenn Eltern als Reaktion auf kleinere Fehlver-
6.3.4 Nutzung von Kontingenzen bei der Verstärkung
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halten (etwa Jammern, Quengeln oder Schreien) Drohungen aussprechen, ohne diese wahr zu machen. Bei manchen Gelegenheiten bestraften diese Eltern ihre Kinder dann allerdings plötzlich oder hart für das in Frage stehende Fehlverhalten. Die Kinder scheinen daraus zu lernen, dass relativ starkes aggressives und nötigendes Verhalten notwendig und angemessen ist, um ein Ziel zu erreichen – was in einen Zyklus steigender Intensität des antisozialen Verhaltens der Kinder mündet. Verhaltensanalytiker sind der Ansicht, dass jedes überdauernde Verhalten deshalb Bestand hat, weil es Verstärkung zur Folge hat. Sie behaupten, dass jegliches Verhalten – auch irrationales oder bizarres Verhalten – dadurch verstanden werden kann, dass man seine Verstärker und angenehmen Begleiterscheinungen herausfindet. Beispielsweise werden Symptome psychischer oder körperlicher Störungen manchmal dadurch aufrechterhalten, dass der Person Aufmerksamkeit und Sympathie zukommt und sie von normalen Verantwortlichkeiten befreit wird. Dieser sekundäre Gewinn verstärkt irrationales und manchmal selbstschädigendes Verhalten. Können Sie sich vorstellen, wie schüchternes Verhalten durch Verstärkung aufrechterhalten werden kann, obwohl die schüchterne Person lieber weniger schüchtern wäre? Natürlich ist es nicht in allen Fällen möglich, die wirksamen Verstärker in einer Umgebung zu kennen. Sollte allerdings die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens variieren, dann könnten Sie ein wenig Verhaltensanalyse betreiben. Ein Gedanke zum Schluss: Es kommt oft vor, dass Situationen des täglichen Lebens aus verwickelten Kombinationen von Verstärkung und Bestrafung bestehen. Nehmen wir als Beispiel an, dass Eltern Bestrafung zweiter Art anwenden, indem sie einem Teenager, der abends über die festgelegte Zeit hinaus ausgegangen ist, zwei Wochen Hausarrest erteilen. Um seine Eltern milde zu stimmen, hilft der Teenager danach mehr als sonst im Haushalt. Unter der Annahme, dass sein hilfsbereites Verhalten den Eltern gefällt, versucht der Teenager, das „Strafabmilderungsverhalten“ bei seinen Eltern zu verstärken. Wenn diese Strategie Erfolg hat und der Hausarrest auf eine Woche reduziert wird, wurde dadurch das hilfsbereite Verhalten des Teenagers negativ verstärkt – weil die Hilfe zur Entfernung des aversiven Stimulus „Hausarrest“ geführt hat. Wenn der Teenager erneut Hausarrest erhält (ein diskriminativer Stimulus), wird das hilfsbereite Verhalten wahrscheinlicher einsetzen. Erkennen Sie, wie alle diese Kontingenzen zusammenwirken, um das Verhalten sowohl des Teenagers als auch der Eltern zu ändern?
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Wie können Eltern Kontingenzen bei der Verstärkung nutzen, um das Verhalten ihrer Kinder zu beeinflussen? Lassen Sie uns nun einen Blick darauf werfen, wie verschiedene Objekte und Aktivitäten als Verstärker dienen können.
6.3.5 Verstärkereigenschaften Verstärker sind die Arbeitspferde des operanten Konditionierens – sie verändern Verhalten oder erhalten es aufrecht. Verstärker besitzen viele interessante und komplexe Eigenschaften. Sie können durch Erfahrung gelernt werden, statt biologisch determiniert zu sein, und sie können aus Aktivitäten statt aus Objekten bestehen. In einigen Situationen reichen selbst die normalerweise wirksamen Verstärker nicht aus, um ein dominantes Verhaltensmuster zu verändern (in diesem Falle würden wir sagen, dass die Konsequenzen nicht tatsächlich Verstärker sind). Konditionierte Verstärker Als Sie geboren wurden, gab es für Sie eine Handvoll primäre Verstärker, wie beispielsweise Nahrung und Wasser, deren Verstärkereigenschaften biologisch de-
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
terminiert waren. Mit der Zeit wurden jedoch aus zuvor neutralen Stimuli durch Assoziation mit primären Verstärkern konditionierte Verstärker (des Öfteren auch als sekundäre Verstärker bezeichnet), die nun für die Verstärkung operanter Reaktionen zur Verfügung stehen. Konditionierte Verstärker können zum Selbstzweck werden. In der Tat ist ein großer Teil des menschlichen Verhaltens weniger durch biologisch bedeutsame primäre Verstärker, sondern vielmehr durch eine Vielzahl konditionierter Verstärker bestimmt. Zu diesen vielen wirksamen konditionierten Verstärkern, die einen Großteil unseres menschlichen Verhaltens beeinflussen, zählen beispielsweise Geld, Noten, zustimmendes Lächeln, Siegerpokale und allerlei Statussymbole. Nahezu jeder Reiz kann durch Assoziation mit einem primären Verstärker zu einem konditionierten Verstärker werden. In einem Experiment wurden hierfür einfache Tokens (oftmals sind dies kleine Plastikchips) für das Lernen bei Tieren verwendet.
AUS DER FORSCHUNG Schimpansen wurden mithilfe von Rosinen als primäre Verstärker trainiert, Probleme zu lösen. Anschließend wurden Tokens zusammen mit den Rosinen gegeben. Als dann ausschließlich die Tokens gegeben wurden, fuhren die Schimpansen fort, für ihr „Geld“ zu arbeiten, da sie dieses später in einem „Schimp-O-Mat“ gegen die Rosinen umtauschen konnten (Cowles, 1937).
Lehrer und Experimentatoren stellen oft fest, dass konditionierte Verstärker wirksamer und leichter in der Handhabung sind als primäre Verstärker. Dies aus verschiedenen Gründen: (1) Nur wenige primäre Verstärker sind im Schulunterricht verfügbar, während nahezu jeder Stimulus, der sich unter der Kontrolle des Lehrers befindet, als konditionierter Verstärker dienen kann; (2) man kann sie schnell geben; (3) sie sind transportabel; und (4) ihr Verstärkereffekt kann schneller zum Tragen kommen, da die Wirkung nur von der Wahrnehmung abhängt, den Verstärker bekommen zu haben, und nicht von biologischen Prozessen wie bei primären Verstärkern. In einigen Institutionen wie beispielsweise psychiatrischen Kliniken oder Entzugseinrichtungen wurden Tokensysteme auf der Grundlage der genannten Prinzipien aufgebaut. Es wird explizit erwünschtes Verhalten (beispielsweise Körperpflege, die Medikamente einzunehmen) definiert und das Personal gibt Tokens aus, wenn dieses Verhalten gezeigt wird. Diese Tokens können später von dem Patienten gegen eine Vielzahl von Belohnungen und Privilegien eingetauscht werden (Kazdin, 1994; Martin & Pear, 1999). Diese Verstärkersysteme sind ganz besonders effektiv, um Verhaltensweisen von Patienten wie etwa sich zu pflegen, ihre Umgebung sauber zu halten und – am wichtigsten – die Häufigkeit positiver sozialer Interaktionen zu erhöhen. Reaktionsentzug und positive Verstärker
Nicht essbare Tokens können als konditionierte Verstärker dienen. In einer Studie warfen Schimpansen die Tokens in einen „SchimpO-Mat“, um sie gegen Rosinen umzutauschen. Welche Arten konditionierter Verstärker sind in Ihrem Leben wirksam?
Angenommen, Sie wollen ein Kind dazu bringen, etwas Bestimmtes zu tun. Sie wollen ihm weder Geld noch einen anderen sekundären Verstärker geben, vielmehr kommen Sie zu folgender Abmachung: „Wenn du deine Hausaufgaben gemacht hast, dann darfst du deine Videospiele spielen.“ Warum könnte diese Taktik funktionieren? Laut der Theorie des Reaktionsentzugs (response deprivation theory) werden Verhaltensweisen dann bevorzugt und wirken daher verstärkend, wenn ein Organismus daran gehindert wird, sie auszuüben (Timberlake & Allison, 1974). Rat-
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ten unter Wasserentzug etwa lernten, länger im Laufrad zu laufen, wenn dem Laufen die Möglichkeit zu trinken folgte. Umgekehrt lernten Ratten, denen das Laufrad entzogen wurde, mehr zu trinken, wenn diese Reaktion eine vermehrte Gelegenheit zu körperlicher Betätigung nach sich zog (Premack, 1965). Erkennen Sie, wie das Versprechen von Videospiel nach Hausaufgaben demselben Muster folgt? Für eine bestimmte Zeit wird dem Kind das Videospiel entzogen – die Häufigkeit, mit der das Kind normalerweise das Videospiel spielen würde, wird unter das Normalmaß gedrückt. Um diese Deprivation zu überwinden, wird das Kind lernen, die Hausaufgaben zu machen. Diese Analyse führt zu zwei wichtigen Ergebnissen. Erstens erinnern uns diese Beispiele, warum dieselbe Aktivität für einen Organismus nicht immer als Verstärker funktioniert. Wir müssen zum Beispiel wissen, ob dem Organismus die Nahrung entzogen wurde, bevor wir versuchen, Futter als Verstärker einzusetzen. Zweitens zeigen diese Beispiele, warum praktisch jede Aktivität als Verstärker wirken kann. Deprivation kann man praktisch bei allem erfahren. Wenn man einem Kind eine Zeit lang die Möglichkeit nähme, Hausaufgaben zu machen, würde es sogar lernen, diese Deprivation mit dem Erlernen anderer Verhaltensweisen zu überwinden.
6.3.6 Verstärkerpläne Was passiert, wenn Sie Ihr Haustier nicht immer verstärken können oder wollen, wenn es ein bestimmtes Verhalten ausführt? Hier ist eine Geschichte des jungen B. F. Skinner: Er fand sich abgeschieden an einem Wochenende in seinem Labor wieder, ohne genügend Belohnungsfutter für seine hart arbeitenden Ratten zur Verfügung zu haben. Er sparte Futter dadurch, dass er den Ratten nur nach einem bestimmten Zeitintervall Futterpillen gab – ganz egal, wie oft sie innerhalb des Intervalls den Hebel drückten, sie konnten nicht mehr Futterpillen erlangen. Trotz dieses Verfahrens reagierten die Ratten unter diesem Plan partieller Verstärkung genauso wie unter kontinuierlicher Verstärkung. Was, glauben Sie, geschah nun, als diese Tiere in eine Extinktionsphase geführt wurden und überhaupt keine Futterpillen mehr erhielten? Ratten mit partieller Verstärkung für das Hebeldrücken reagierten länger und stärker als Ratten, die für jedes Hebeldrücken belohnt wurden. Skinner war auf der Spur von etwas sehr Wichtigem! Die Entdeckung der Wirksamkeit partieller Verstärkung führte zu einer intensiven Untersuchung der Effekte verschiedener Verstärkerpläne auf das Ver-
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Ein Klaps auf den Hintern hat noch niemandem geschadet?
Wenn Sie Kinder bekommen wollen (oder vielleicht schon Kinder haben), dann haben Sie sich bestimmt auch schon mit der Frage beschäftigt, ob es Kindern schadet, wenn sie ab und an einen Klaps auf den Hintern erhalten. In den USA beantworten die meisten Eltern diese Frage mit „Nein“. Von einer Stichprobe von 991 Eltern in den USA berichteten 35 Prozent, dass sie irgendeine Art der körperlichen Bestrafung (den Hintern versohlen, Ohrfeigen) bei 1- bis 2-jährigen Kindern angewendet hätten, 94 Prozent hatten körperliche Bestrafung bei 3- bis 4-Jährigen eingesetzt (Straus & Stewart, 1999). Sie sehen, dass den Hintern versohlen eher üblich ist und dass die meisten Menschen es als Bestrafungsform akzeptieren. Was aber sind die Konsequenzen für ein Kind, wenn es einen Klaps (oder mehrere) auf den Hintern erhält? Warum ist diese Frage schwierig zu beantworten? Zuerst, weil natürlich kein Forscher ein Experiment durchführen könnte, in dem Kinder körperlicher Bestrafung ausgesetzt werden. Aus diesem Grund beruhen alle Bestrafungsstudien auf Korre lationsana lysen: Die Forscher versuchen festzustel-
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len, ob zwischen der Menge an körperlicher Bestrafung, die ein Kind erfährt, und negativen Aspekten seines Verhaltens ein Zusammenhang besteht. Das führt zu einem zweiten Problem: Die Eltern sind womöglich nicht gewillt oder nicht in der Lage, akkurate Informationen darüber zu liefern, wie oft sie ihre Kinder geschlagen haben. Die Forscher können zwar die Kinder fragen, aber die wiederum könnten sich falsch erinnern oder falsche Angaben machen. Ein drittes Problem ist, genaue Daten über die Verhaltensweisen des Kindes zu bekommen, die die Eltern dazu gebracht haben, es zu schlagen: Wie „ungezogen“ waren die Kinder, bevor sie geschlagen wurden? Schließlich stellt sich auch noch die Frage, wie man die Auswirkungen körperlicher Bestrafung als Teil einer umfassenderen Umgebung bewertet (Kazdin & Benjet, 2003). Die Familien, in denen Eltern ihre Kinder am meisten schlagen, sind tendenziell auch solche mit mehr Ehestreitigkeiten. Vielleicht führen andere Faktoren dieser Art dazu, dass Menschen, die als Kinder geschlagen wurden, später im Leben Probleme haben. Das Schlagen
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
selbst war dann vielleicht gar nicht ursächlich hierfür. Trotz aller dieser Hindernisse ist die Forschung zu wichtigen Schlussfolgerungen gelangt. So wissen wir beispielsweise, dass körperliche Bestrafung, die über einen Klaps auf den Hintern hinausgeht, zu negativen Folgen beim Kind führt (Benjet & Kazdin, 2003; Gershoff, 2002). Betrachten wir eine Studie mit 273 Kindergartenkindern in Indiana und Tennessee. Die Mütter füllten Fragebögen aus, in denen sie die Arten körperlicher Bestrafung angaben, die sie bei ihren Kindern anwandten (Strassberg et al., 1994). Etwa 6 Prozent der Kinder hatten Mütter, die keinerlei körperliche Strafen anwendeten. 68 Prozent hatten von ihren Müttern schon mal einen Klaps erhalten. Die verbleibenden 26 Prozent waren stärkeren Formen körperlicher Bestrafung ausgesetzt: Ihre Mütter schlugen sie mit der Faust oder der geschlossenen Hand oder verprügelten sie. Etwa sechs Monate, nachdem die Mütter über die körperlichen Strafen berichtet hatten, wurden die Kinder in ihrer Interaktion mit Gleichaltrigen in der Schule beobachtet. Die Forscher erfassten aggressive Handlungen der Kinder gegenüber den anderen Kindern – beispielsweise wenn sie die anderen rumkommandierten oder zornig wurden und ein anderes Kind schlugen. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen erhielt jedes Kind einen Wert für aggressive Handlungen pro Stunde. Die Abbildung unten zeigt die Ergebnisse. Wie Sie der Abbildung entnehmen können, steigt die Aggression des Kindes mit zunehmendem Schweregrad der körperlichen Bestrafung durch die Mutter. Aber was können wir über einen leichten Klaps sagen? In Anbetracht der Schwierigkeiten, zu ein-
deutigen Forschungsergebnissen zu gelangen, sollte man die Frage „Klaps oder nicht Klaps“ im Hinblick auf die eigenen Ziele bei der Erzielung beurteilen (Benjet & Kazdin, 2003). Körperliche Bestrafung wird normalerweise angewandt, um Kinder von unerwünschtem Verhalten abzubringen. Experten raten aber, stattdessen positive Verstärkung einzusetzen: „Viele unerwünschte Verhaltensweisen können durch positive Verstärkung alternativer und damit unvereinbarer Verhaltensweisen völlig unterdrückt werden“ (Benjet & Kazdin, S. 215). Man kann ein Kind beispielsweise für Stillsitzen loben, anstatt es für Herumtoben körperlich zu bestrafen. Das Wohlverhalten des Kindes zu verstärken ist oft eine bessere Langzeitstrategie, als es für Ungezogenheit zu bestrafen. Aus den dargestellten Gründen wird die Forschung vielleicht nie belegen können, dass mäßige körperliche Bestrafung negative Folgen für Kinder hat. Wie Sie allerdings in der Grafik erkennen, sind zumindest bestimmte Arten körperlicher Bestrafung stark mit solchen negativen Folgen assoziiert. Als Elternteil möchten Sie Ihre Kinder bestimmt keinem Risiko aussetzen. Um das zu erreichen, denken Sie über andere Methoden als körperliche Bestrafung nach, um das Verhalten Ihres Kindes zu ändern.
Warum sind Eltern oft „nicht gewillt oder in der Lage“, genaue Informationen über ihre körperlichen Bestrafungsmethoden zu geben? Warum beobachteten die Forscher die Kinder in der Schule, um die Auswirkungen körperlicher Bestrafung zu dokumentieren?
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halten (씰 Abbildung 6.11). Auch Sie haben verschiedene Verstärkerpläne im Alltag erlebt. Wenn Sie Ihre Hand im Klassenzimmer oder Seminarraum erhoben, hat Ihr Lehrer oder Ihre Lehrerin Sie manchmal aufgerufen, manchmal nicht; manche Menschen werfen weiterhin Münzen in Spielautomaten, obwohl die Verstärker nur ab und an gegeben werden. Im Alltag oder im Labor können Verstärker entweder nach einem Quotenplan (englisch: ratio schedule) oder nach einem Intervallplan (englisch: interval schedule) gegeben werden. Beim Quotenplan erfolgt die Verstärkung nach einer bestimmten Anzahl von Reaktionen, bei einem Intervallplan erfolgt die Verstärkergabe nach einem bestimmten Zeitintervall auf die erste Reaktion hin. In beiden Fällen kann das Muster der Verstärkung entweder konstant und somit fixiert oder unregelmäßig und somit variabel sein. Hierdurch ergeben sich insgesamt vier Haupttypen von Verstärkerplänen. Sie haben bislang über den Effekt partieller
Verstärkung Folgendes erfahren: Reaktionen, die unter Plänen partieller Verstärkung erworben wurden, sind löschungsresistenter als Reaktionen, die unter kontinuierlichen Verstärkerplänen erworben wurden. Lassen Sie uns nun betrachten, was die Forschung noch über verschiedene Verstärkerpläne herausgefunden hat. Fixierte Quotenpläne (FR) In fixierten Quotenplänen (FR von englisch: fixedratio schedules) erfolgt die Verstärkung, nachdem der Organismus eine festgelegte Zahl von Reaktionen zeigte. Folgt auf jede Reaktion eine Verstärkung, dann wird dieser Plan als FR-1-Plan (dies ist der ursprüngliche Plan kontinuierlicher Verstärkung) bezeichnet. Folgt nur auf jede 25. Reaktion eine Verstärkung, so wird dieser Plan als FR-25-Plan bezeichnet. FR-Pläne produzieren hohe Auftretenswahrscheinlichkeiten von Reaktionen, da eine unmittelbare Korrelation zwischen Reaktionen und Verstärkung besteht – eine Taube kann in einer bestimmten Zeitspanne so viel Futter erhalten, wie sie will, sie muss nur oft genug picken. Abbildung 6.11 zeigt, dass in FR-Plänen auf jeden Verstärker eine Pause folgt. Je größer der Quotient ist (beispielsweise bei FR-25 vs. FR-10), desto länger ist die Pause nach jeder Verstärkung. Wenn man das Verhältnis der Verstärkung allerdings zu mager gestaltet, ohne dass das Tier zunächst darauf trainiert wurde, so viele Reaktionen zu produzieren, dann kann dies in Löschung münden. Viele Vertreter unterliegen FR-Plänen. Sie erhalten Bezahlung erst dann, wenn sie eine bestimmte Zahl an Abschlüssen vorweisen können. Variable Quotenpläne (VR)
Abbildung 6.11: Verstärkerpläne. Diese vier Verhaltensmuster werden durch vier einfache Verstärkerpläne erzeugt. Die Striche zeigen an, wann Verstärkung gegeben wurde.
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In einem variablen Quotenplan (VR von englisch: variable-ratio schedule) ist die mittlere Anzahl von Reaktionen zwischen den Verstärkern im Vorhinein festgelegt. Ein VR-10-Plan bedeutet, dass im Mittelwert eine Verstärkung auf jede 10. Reaktion erfolgt, sie kann daher auch manchmal auf die erste Reaktion oder auch erst auf die 20. Reaktion erfolgen. Variable Quotenpläne produzieren die höchste Reaktionsrate und den größten Löschungswiderstand, insbesondere wenn der VR-Wert groß ist. Stellen Sie sich vor, Sie starten beim Training einer Taube mit einem geringen VR-Wert (beispielsweise VR-5) und wechseln dann zu einem höheren Wert. Eine Taube, die sich in einem VR-110-Plan befindet, würde etwa bis zu 12.000-mal in der Stunde picken und würde dies stundenlang
6.3 Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequenzen
weiter tun, sogar ohne Verstärkung. Glücksspiel scheint unter der Kontrolle von VR-Plänen zu stehen. Die Reaktion, Münzen in Automaten zu werfen, wird auf einem hohen konstanten Niveau durch die Gewinnauszahlungen aufrechterhalten, die nur nach einer unvorhersagbaren, variablen Anzahl von Münzeinwürfen erfolgen. VR-Pläne lassen Sie im Unklaren, wann die Belohnung gegeben wird – beim Glücksspiel setzen Sie darauf, dass sie nach der nächsten Reaktion und nicht erst viele Reaktionen später erfolgen wird (Rachlin, 1990). Fixierte Intervallpläne (FI) Bei einem fixierten Intervallplan (FI von englisch: fixed-interval schedule) erfolgt die Verstärkung auf die erste Reaktion nach einem bestimmten Zeitintervall. Unter einem FI-10-Plan muss der Proband nach einer Verstärkung 10 Sekunden warten, bevor eine weitere Reaktion verstärkt werden kann – unabhängig von der Anzahl dazwischen liegender Reaktionen. Die Reaktionsraten unter FI-Plänen formen ein Bogenmuster. Unmittelbar nach einer Verstärkung zeigt das Tier, wenn überhaupt, nur wenige Reaktionen. Wenn die Zeit der Belohnung näher rückt, nimmt die Reaktionsrate immer mehr zu. Ihnen begegnet ein FI-Plan, wenn Sie ein Stück Pizza aufwärmen. Angenommen, Sie stellen die Zeitschaltuhr auf 2 Minuten. In den ersten 90 Sekunden werden Sie wahrscheinlich nicht sehr oft nachsehen, aber in den letzten 30 Sekunden umso öfter.
6.3.7 Shaping Wir haben Experimente vorgestellt, in denen Ratten einen Hebel drücken sollten, um Futter zu erhalten. Allerdings ist auch das Drücken eines Hebels gelerntes Verhalten. Wenn eine Ratte erstmalig in eine Skinnerbox gesetzt wird, ist es recht unwahrscheinlich, dass sie diesen Hebel je spontan drücken wird; die Ratte hat gelernt, ihre Pfoten in vielfacher Weise zu benutzen, aber wahrscheinlich hat sie nie zuvor einen Hebel gedrückt. Wie kann man eine Ratte trainieren, ein Verhalten auszuführen, das sie selten oder nie von sich aus zeigen würde? Sie haben sich auf einen Verstärker, Futter, und einen Verstärkerplan, FR-1, festgelegt, und wie geht es nun weiter? Um neues oder komplexes Verhalten zu trainieren, könnten Sie eine Methode anwenden, die als Shaping durch schrittweise Annäherung bezeichnet wird. Hierbei werden alle Reaktionen verstärkt, die sich der gewünschten Reaktion schrittweise annähern und schließlich mit ihr übereinstimmen.
Variable Intervallpläne (VI) Bei einem variablen Intervallplan (VI von englisch: variable-interval schedule) wird das Zeitintervall im Durchschnitt festgelegt. In einem VI-20-Plan beispielsweise wird im Durchschnitt ein Verstärker pro 20 Sekunden gegeben. Dieser Plan produziert eine mäßige, aber sehr stabile Verhaltensrate. Löschung unter einem VI-Plan erfolgt allmählich und langsamer als unter fixierten Intervallplänen. In einem Fall pickte eine Taube 18.000 Mal während der ersten 4 Stunden nach Aussetzen des Verstärkers und sie benötigte 168 Stunden, bevor die Reaktion komplett gelöscht war (Ferster & Skinner, 1957). Wenn Sie einmal an einem Seminar teilgenommen haben, in dem der Professor gelegentlich und in unregelmäßigen Abständen eine Probeklausur geschrieben hat, dann haben Sie einen VI-Plan erlebt. Sind Sie Ihre Aufzeichnungen jedes Mal vor den Seminarterminen durchgegangen?
Diese Frau namens Sue Strong wird durch einen Affen unterstützt. Dieser wurde mithilfe von operantem Shaping trainiert, ihr die Haare zu kämmen, sie zu füttern, Buchseiten umzudrehen und andere Reaktionen auszuführen, die sie aufgrund einer Lähmung nicht selbst ausführen kann. Können Sie für jede dieser Verhaltensweisen die schrittweisen Annäherungen angeben, die Sie verstärken würden, um schlussendlich zum Zielverhalten zu gelangen? Und so wird es gemacht: Zunächst entziehen Sie der Ratte einen Tag lang das Futter. (Ohne Deprivation dient Futter kaum als Verstärker.) Dann stellen Sie systematisch Futterpillen in dem Futterspender in der Skinnerbox zur Verfügung, so dass die Ratte lernt, dort nach Futter zu suchen. Jetzt können Sie mit dem eigentlichen Shapingprozess beginnen, indem Sie die Futtergabe kontingent auf bestimmte Aspekte des Verhaltens festlegen, beispielsweise wenn die Ratte sich in Richtung des Hebels ausrichtet. Dann wird nur Futter gegeben, wenn sich die Ratte immer näher in Rich-
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tung Hebel bewegt. Bald muss sie zur Erlangung eines Verstärkers den Hebel berühren. Schließlich muss sie den Hebel drücken, um Futter zu erhalten. In kleinen Schritten hat die Ratte gelernt, dass ein Hebeldruck Futter produziert. Um Shaping erfolgreich anzuwenden, müssen Sie daher definieren, welches Verhalten als Fortschritt in Richtung Zielverhalten gilt, und Sie müssen differentielle Verstärkung einsetzen, um jeden Schritt auf diesem Weg zu verbessern. Betrachten wir ein anderes Beispiel, in dem Shaping benutzt wurde, um die Leistung eines kanadischen Stabhochspringers zu verbessern, der an internationalen Wettkämpfen teilnahm.
Die beiden Lernformen, die wir bislang besprochen haben – das klassische Konditionieren und das operante Konditionieren – wurden meistens unter der Annahme untersucht, dass die Lernprozesse bei allen Tieren übereinstimmend sind. Tatsächlich haben wir Beispiele von Hunden, Katzen, Ratten, Mäusen, Tauben und Menschen angeführt, um genau diese Übereinstimmung zu belegen. Allerdings ist die Forschung dahin gekommen, Lernen als etwas zu betrachten, das oftmals durch die biologischen und kognitiven Fähigkeiten individueller Spezies modifiziert wird. Wir kommen nun zu den Prozessen, die den Allgemeinheitsgrad der Lerngesetze beschränken.
ZWISCHENBILANZ
AUS DER FORSCHUNG Ein 21-jähriger studentischer Stabhochspringer wandte sich an ein Forschungsteam, um ein technisches Problem seiner Sprungtechnik korrigieren zu lassen (Scott et al., 1997). Das spezifische Problem dieses Hochspringers war, dass er seine Arme, die den Stab hielten, nicht hoch genug über seinen Kopf reckte, bevor er den Stab zum Absprung ansetzte. Am Anfang der Korrektur betrug die durchschnittliche Höhe der Hände beim Absprung 2,25 m. Angestrebt wurde, dass er sein physisches Potenzial von 2,54 m erreichte. Das Team installierte eine Lichtschranke, die unterbrochen wurde, wenn der Stabhochspringer eine erwünschte Handhöhe erreichte, und einen Signalton emittierte. Dieser Signalton diente als konditionierter positiver Verstärker. Zu Anfang wurde die Lichtschranke auf 2,30 m eingestellt; als diese Höhe mit 90% Erfolg erreicht wurde, auf 2,35 m. Weiterer Erfolg brachte weitere Erhöhung auf 2,40, 2,45, 2,50 und schließlich 2,52 m. Auf diese Weise wurde das Verhalten des Stabhochspringers bis hin zum erstrebten Ziel geformt.
Sie können sich denken, wie schwer es dem Stabhochspringer gefallen wäre, sich auf einmal um 27 cm zu verbessern. Mit der Shaping-Prozedur konnte er dieses Ziel durch allmähliche Annäherung an das erwünschte Verhalten erreichen. Kommen wir auf die Ratte zurück. Erinnern Sie sich daran, dass wir die Ratte dazu bringen wollten, Kreise im Käfig zu laufen. Können Sie einen Plan entwerfen, der Shaping benutzt, um dieses Verhalten hervorzubringen? Sie sollten einfach darüber nachdenken, aus was eine schrittweise Annäherung bestehen könnte. Zu Beginn könnten Sie beispielsweise die Ratte verstärken, wenn sie nur den Kopf in eine bestimmte Richtung dreht. Daraufhin würden Sie der Ratte nur dann eine Futterpille geben, wenn sie ihren ganzen Körper in die richtige Richtung dreht. Wie würden Sie weiter verfahren?
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1 Was versteht man unter dem Gesetz des Effekts? 2 Wie beeinflussen Verstärkung und Bestrafung die Wahr-
scheinlichkeit von Verhaltensweisen? 3 Welche Rolle spielen diskriminative Reize in der operan-
ten Konditionierung? 4 Welcher Unterschied besteht zwischen fixierten Quo-
tenplänen und fixierten Intervallplänen bei der Verstärkung? 5 Was bedeutet „Shaping“?
KRITISCHES DENKEN: Warum begann im Schimpansenexperiment der Experimentator das Training mit Rosinen, bevor er zu Tokens überging?
Biologie und Lernen
6.4
Die heutige Ansicht, dass die Assoziationsprinzipien des Lernens für Menschen und alle Tiere gleichermaßen Gültigkeit besitzen, wurde erstmalig von dem englischen Philosophen David Hume im Jahre 1748 vertreten. Hume argumentierte „eine jede Theorie, mit der wir die Verstandestätigkeit oder den Ursprung und die Verknüpfung der menschlichen Affekte erklären, wird umso mehr Ansehen erlangen, wenn sich zeigt, dass nur die nämliche Theorie die gleichen Erscheinungen bei allen anderen Lebewesen erklärt“ (Hume, 1748/1951, S. 104; deutsch: Kulenkampff 1984, S. 122). Die ansprechende Einfachheit einer solchen Ansicht wurde seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einer genauen Überprüfung unterzogen. Psychologen entdeckten zu dieser Zeit bestimmte Beschränkungen und Einschränkungen der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse im Hinblick auf das Konditionieren (Bailey & Bai-
6.4 Biologie und Lernen
ley, 1993; Garcia, 1993; Todd & Morris, 1992, 1993). In Kapitel 3 haben wir Sie mit der Idee bekannt gemacht, dass sich Tierspezies als Reaktion auf einen Überlebenstrieb entwickeln: Wir können viele Unterschiede zwischen den Spezies als Adaptionen an die Anforderungen ihrer spezifischen Umweltnischen erklären. Die gleiche evolutionäre Perspektive gilt in Bezug auf das Lernpotenzial einer Spezies (Leger, 1992). Biologische Beschränkungen des Lernens sind all jene Einschränkungen des Lernens, die einer Spezies kraft ihrer genetischen Ausstattung entstehen. Diese Beschränkungen können sich auf das Potenzial der Wahrnehmung, des Verhaltens und der Kognition von Tieren auswirken. Wir werden zwei Forschungsbereiche anführen, die zeigen, wie Verhalten-Umwelt-Beziehungen durch die genetische Ausstattung eines Organismus systematisch beeinflusst werden: Instinktverschiebung und das Lernen von Geschmacksaversionen.
6.4.1 Instinktverschiebung Ganz ohne Zweifel haben Sie schon einmal Tiere im Fernsehen oder im Zirkus gesehen, die Kunststücke ausführten. Einige Tiere spielen Baseball oder Pingpong, andere fahren mit kleinen Rennwägelchen. Jahrelang trainierten Keller Breland und Marion Breland mithilfe der Techniken des operanten Konditionierens Tausende von Tiere, die unterschiedlichen Spezies entstammten, eine sehr beachtliche Bandbreite an Verhaltensweisen auszuführen. Die Brelands glaubten, dass in der Laborforschung entwickelte allgemeine Lernprinzipien im Hinblick auf nahezu jede Art von Reaktion und jede Art von Belohnung direkt auch zur Kontrolle von Verhalten bei Tieren außerhalb des Labors angewendet werden können. Zu einem bestimmten Zeitpunkt nach dem Training begannen allerdings manche Tiere, sich „schlecht zu benehmen“. Beispielsweise wurde ein Waschbär trainiert, eine Münze aufzuheben und diese in eine Spielzeugbank zu stecken, um einen essbaren Verstärker zu erhalten. Der Waschbär warf die Münze aber nicht sofort ein. Was noch schlimmer war, wenn zwei Münzen eingeworfen werden sollten, brach die Konditionierung vollständig zusammen – der Waschbär wollte die Münzen behalten. Stattdessen rieb er die Münzen aneinander, steckte sie nur ein kleines Stück in die Spielzeugbank und zog sie wieder heraus. Aber ist dies wirklich so merkwürdig? Waschbären zeigen oftmals Rubbelund Waschverhalten, wenn sie die Schale ihres Lieblingsfutters (Flusskrebse) entfernen. In vergleichbarer Weise verhalten sich Schweine, die ihre hart erarbeite-
ten Tokens in eine große „Schweinebank“ legen sollen. Stattdessen werfen sie die Münzen auf den Boden, scharren und schubsen sie mit ihren Schnauzen umher und schleudern sie in die Luft. Auch hier: Sollte man dies wirklich als so merkwürdig ansehen? Das Scharren und Buddeln nach Futter und das Emporschleudern desselben gehört bei Schweinen als natürlicher Bestandteil zu ihrem vererbten Futtersuchverhalten. Diese Beobachtungen brachten die Brelands zu der Überzeugung, dass Tiere, auch wenn sie gelernt hatten, operante Reaktionen perfekt auszuführen, mit der Zeit „das gelernte Verhalten in Richtung instinktives Verhalten verschieben“. Sie bezeichneten diese Tendenz als Instinktverschiebung (Breland & Breland, 1951, 1961). Das Verhalten ihrer Tiere ist nicht durch einfache operante Prinzipien zu erklären, es ist aber nachvollziehbar, wenn man die spezifischen Tendenzen einer Spezies in Betracht zieht, die durch die genetische Ausstattung entstehen. Diese Tendenzen überschreiben die Verhaltensänderungen, die durch operantes Konditionieren erzielt wurden. Der Großteil traditioneller Forschung zum Lernen bei Tieren betrachtete beliebig ausgewählte Reakti-
Wie können Sie durch Techniken des operanten Konditionierens Ihren Freunden aus dem Tierreich Wasserski beibringen?
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Wie beeinflusst Instinktverschiebung die Verhaltensweisen, die Waschbären erlernen können? onen auf leicht verfügbare Stimuli. Die Theorie der Brelands und der Nachweis der Instinktverschiebung belegen, dass sich nicht alle Aspekte des Lernens unter der Kontrolle von Verstärkern des Experimentators befinden. Verhaltensweisen können in Abhängigkeit von den normalen, genetisch programmierten Reaktionen des Tieres in seiner Umwelt mehr oder weniger leicht verändert werden. Konditionierung ist dann besonders effektiv, wenn man das Zielverhalten als biologisch relevant einbetten kann. Was würden Sie beispielsweise verändern, damit die Schweine ihre Tokens in die Bank legen? Wenn das Token mit einer Wasserbelohnung für ein durstiges Schwein gepaart wäre, dann würde nicht daran gescharrt wie bei Futter, sondern es würde als wertvolle Handelsware zur Bank gebracht – sozusagen als flüssiges Vermögen.
6.4.2 Lernen von Geschmacksaversionen Ihre Autoren haben einige Bekenntnisse abzugeben: Einem von uns wird immer etwas übel bei dem Gedanken, Schweinefleisch mit Bohnen zu essen; der andere zeigt die gleiche Reaktion auf Popcorn. Warum? In beiden Fällen sind wir früher einmal schlimm erkrankt, nachdem wir diese Speisen gegessen hatten. Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass uns die Speisen selbst krank werden ließen – und wir haben uns mutig, speziell im Falle des Popcorns, davon überzeugen wollen –, zeigen wir trotzdem diese Übelkeitsreaktion. Lassen Sie uns in den Tierbereich außerhalb des Menschen schauen, um Hinweise darauf zu erhalten, warum das so ist. Angenommen, Sie sollten eine Strategie planen, um eine Vielzahl unbekannter Substanzen zu kosten. Hätten Sie die genetische Ausstattung einer Ratte, dann wären Sie damit sehr vorsichtig. Wenn Ratten ein neu-
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es Futter oder ein neuer Geschmack dargeboten wird, dann probieren sie nur ein ganz klein wenig. Nur wenn sie dadurch nicht krank werden, kehren sie zurück, um sich mehr zu holen. Um das Ganze umzudrehen, stellen Sie sich vor, wir mischen mit dem neuen Geschmack eine Substanz bei, die die Ratte erkranken lässt – sie wird Futter mit diesem Geschmack niemals wieder anrühren. Dieses Phänomen wird als Lernen von Geschmacksaversionen bezeichnet. Sie können sehen, warum diese genetische Möglichkeit, Nahrung nur zu probieren und zu lernen, welche Nahrung sicher und welche giftig ist, großen Nutzen für das Überleben erbringen kann. Das Lernen von Geschmacksaversionen ist ein sehr wirksamer Mechanismus. Im Gegensatz zu vielen anderen Beispielen des klassischen Konditionierens wird die Geschmacksaversion durch nur eine einzige Paarung eines CS (der neue Geschmack) und seiner Konsequenzen (das Ergebnis des zugrunde liegenden UCS – das Element, das tatsächlich die Erkrankung auslöst) gelernt. Dies gilt sogar für große Intervalle, etwa 12 Stunden und mehr, zwischen der Substanzaufnahme durch die Ratte und ihrem Erkranken. Und schließlich bleibt diese Assoziation schon nach einer einzigen Erfahrung erhalten, im Gegensatz zu vielen klassisch konditionierten Assoziationen, die sehr löschungsanfällig sind. Um diese Verletzungen der Normen des klassischen Konditionierens zu verstehen, sollte man in Betracht ziehen, wie sehr dieser Mechanismus zum Überleben beiträgt. John Garcia, jener Psychologe, der als Erster in Laborversuchen das Lernen von Geschmacksaversionen nachwies, und sein Kollege, Robert Koelling, nutzten dieses Phänomen, um zu zeigen, dass Tiere im Allgemeinen eine biologische Prädisposition zum Lernen bestimmter Assoziation besitzen. Die Forscher entdeckten, dass einige CS-UCS-Kombinationen bei bestimmten Tierspezies klassisch konditioniert werden können, andere Kombinationen jedoch nicht.
AUS DER FORSCHUNG In Phase 1 im Experiment von Garcia und Koelling wurden durstige Ratten zunächst mit der Experimentalsituation vertraut gemacht. Diese bestand darin, dass Lecken an einem Röhrchen drei CS hervorrief: Wasser mit einem Zuckergeschmack, Lärm sowie helles Licht. Wenn die Ratten in Phase 2 des Experiments an dem Röhrchen saugten, dann erhielt die Hälfte von ihnen ausschließlich das süße Wasser, die andere Hälfte erhielt Lärm, Licht und normales Wasser. Jede der beiden Gruppen wurde erneut aufgeteilt: Die jeweils eine Hälfte erhielt einen schmerzhaften elektrischen Schock, und
6.4 Biologie und Lernen
die jeweils andere Hälfte wurde einer Röntgenbestrahlung unterzogen, die Übelkeit und Krankheit verursachte. Die Menge des konsumierten Wassers aus Phase 1 wurde mit der Menge aus Phase 2 verglichen, als Schmerz und Krankheit hinzugefügt wurden (씰 Abbildung 6.12). Es wurde eine starke Reduktion des Trinkens festgestellt, wenn der Geschmack mit Krankheit (Geschmacksaversion) und wenn Lärm und Licht mit Schmerzen assoziiert wurden. Unter den anderen beiden Bedingungen war jedoch nur wenig Veränderung im Verhalten zu beobachten – als der Geschmack Schmerz und als das „helle lärmende Wasser“ Krankheit vorhersagte.
Das Ergebnismuster legt nahe, dass Ratten eine angeborene Tendenz besitzen, bestimmte Stimuli mit bestimmten Konsequenzen zu assoziieren (Garcia & Koelling, 1966). In einigen Fällen hängt somit das Konditionieren nicht ausschließlich von der Beziehung zwischen Stimuli und Verhalten ab, sondern auch von der Art, wie der Organismus im Hinblick auf Umgebungsreize genetisch prädisponiert ist (Barker et al., 1978). Tiere scheinen in ihren Genen Formen sensorischer Schlüsselreize – Geschmack, Geruch, Aussehen – enkodiert zu haben, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Dimensionen von Belohnung oder Gefahr signalisieren. Geschmacksabneigungen zu lernen ist ein Beispiel dafür, was die Psychologie biologische Vorbereitung nennt: Eine Spezies hat sich so entwickelt, dass ihre Angehörigen weniger Lernerfahrung als üblich benötigen, um eine konditionierte Reaktion zu entwickeln. Wenn Experimentatoren versuchen, diese genetischen Bindungen in beliebiger Weise zu durchbrechen, dann wird dies wenig von
Abbildung 6.12: Angeborene Tendenzen. Die Ergebnisse der Untersuchung von Garcia und Koelling (1966) zeigen, dass Ratten eine angeborene Tendenz besitzen, bestimmte Schlüsselreize mit bestimmten Konsequenzen zu assoziieren. Die Ratten vermieden eine Zuckerwasserlösung, wenn diese Krankheit, nicht aber, wenn sie einen elektrischen Schock vorhersagte. Umgekehrt vermieden Ratten „helles lärmendes Wasser“, wenn dieses einen Schock, nicht aber, wenn es Krankheit vorhersagte.
Erfolg beschieden sein. In Kapitel 14 werden wir sehen, dass Menschen biologisch darauf vorbereitet sind, intensive Angstgefühle – als Phobien bekannt – gegenüber Stimuli wie Schlangen und Spinnen zu entwickeln, die im Laufe der menschlichen Evolution eine Gefahr dargestellt haben. Die Forschung hat das Wissen um das Lernen von Geschmacksaversionen in der Praxis zur Anwendung gebracht. Um Kojoten dazu zu bringen, Schafe nicht länger zu reißen (und Schäfer davon abzuhalten, Kojoten zu erschießen), haben John Garcia und seine Kollegen vergiftete, in Schafsfell gepackte Lammstücke außen am Zaun von Schafsfarmen ausgebracht. Die Kojoten, welche die Lammstücke fressen, werden krank, erbrechen und entwickeln eine sofortige Abneigung gegen Lammfleisch. Ihr darauf folgender Ekel beim alleinigen Anblick von Schafen lässt sie von den Tieren zurückweichen, anstatt sie anzugreifen. Im Kasten Psychologie im Alltag dieses Kapitels haben wir die Rolle klassischer Konditionierung dabei geschildert, wie Menschen eine Chemotherapie erleben. Klassische Konditionierung erklärt auch, warum Krebspatienten plötzlich normales Essen in ihrem Speiseplan nicht mehr vertragen. Ihre Aversionen sind zum Teil eine Folge ihrer Chemotherapiebehandlungen, die häufig nach Mahlzeiten erfolgen und Übelkeit verursachen.
AUS DER FORSCHUNG Eine Gruppe von 22 Frauen, die sich einer Brustkrebsbehandlung unterzogen, berichtete über ihre Vorlieben für Speisen im Zuge von acht Chemotherapiesitzungen, die jeweils durch drei Wochen unterbrochen waren. Die Frauen berichteten alles, was sie 24 Stunden vor und nach der Chemotherapie gegessen hatten. Sie beurteilten jede Speise und jedes Getränk auf einer Skala von 1 (mochte ich gar nicht) bis 9 (mochte ich sehr). Die Forscher betrachteten eine Aversion dann als ausgebildet, wenn das Urteil der Probandin um 4 Punkte während der Chemotherapie sank. Insgesamt entwickelten 46 Prozent der Frauen eine Aversion gegen zumindest ein Nahrungsmittel. Allerdings waren jene Aversionen, die in den ersten beiden Therapiesitzungen entwickelt wurden, nur kurzlebig. Die Forscher spekulierten, dass, im Gegensatz zum Erwerb von Geschmacksaversionen bei Ratten und anderen Tieren, die Frauen zu der Schlussfolgerung in der Lage waren, dass „die Chemotherapie die Übelkeit hervorgerufen hat und nicht die Speisen“. Wenn sie die Speisen später wieder probierten, praktizierten die Frauen an sich selbst Löschungsdurchgänge, welche die konditionierte Aversion verschwinden ließen (Jacobsen et al., 1993).
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Kunststücke beibringen wollen, dann funktioniert dies am besten, wenn Sie die Kunststücke in das genetische Verhaltensrepertoire einbringen! Unser Überblick über das Lernen ist allerdings noch nicht vollständig, da wir Lernformen, die komplexere kognitive Prozesse erfordern, noch nicht behandelt haben. Wir kommen nun zu diesen Lernformen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist Instinktverschiebung? 2 Warum ist erlernte Geschmacksaversion als konditio-
nierte Reaktion ungewöhnlich? KRITISCHES DENKEN: Welche Daten hätten die Autoren der Geschmacksaversionsstudie bei Krebspatientinnen erheben können, um ihre Vermutung bezüglich der Löschung zu testen?
Lernen und Kognition
Wie haben Forscher das Konditionieren von Geschmacksaversionen genutzt, damit Kojoten keine Schafe reißen? Indem die Forschung aufzeigt, dass Aversionen durch die Mechanismen des klassischen Konditionierens erworben werden, kann sie dadurch auch Mittel bereitstellen, den Aversionen entgegenzuwirken (Bernstein, 1991). So haben es die Forscher erreicht, dass beispielsweise krebskranke Kinder unmittelbar vor der Chemotherapie keine Mahlzeiten erhalten. Und sie haben „Sündenbock“-Aversionen entwickelt. Den Kindern werden Süßigkeiten oder Eiscreme mit sehr ungewöhnlichem Geschmack gegeben, die sie vor den Behandlungen essen sollen. So wurde die Geschmacksaversion nur auf diese speziellen Geschmacksrichtungen und nicht auf die sonst bevorzugten konditioniert. Sie haben nun gesehen, warum moderne Verhaltensanalytiker sehr aufmerksam die Arten von Reaktionen verfolgen, die jede Spezies am besten lernt (Todd & Morris, 1992). Wenn Sie einem alten Hund neue
222
6.5
Unsere Betrachtungen des klassischen und operanten Konditionierens haben gezeigt, dass eine große Bandbreite von Verhalten als Produkt einfacher Lernprozesse verstanden werden kann. Sie werden sich jedoch vielleicht fragen, ob es nicht auch bestimmte Formen des Lernens gibt, die komplexere, stärker kognitive Arten von Prozessen erfordern. Kognition ist jede mentale Aktivität, die zur Repräsentation und Verarbeitung von Wissen eingesetzt wird, wie beispielsweise Denken, Erinnern, Wahrnehmen und die Verwendung von Sprache. In diesem Abschnitt betrachten wir Formen des Lernens bei Tieren und beim Menschen, die nicht ausschließlich durch Prinzipien des klassischen oder operanten Konditionierens erklärt werden können. Wir gehen daher davon aus, dass diese Verhaltensweisen zum Teil Produkt kognitiver Prozesse sind.
6.5.1 Kognitionen im Tierreich In diesem Kapitel haben wir betont – lassen wir die spezifischen Beschränkungen einer Spezies einmal beiseite –, dass Lernregeln, die durch Forschung an Ratten und Tauben entdeckt wurden, genauso auch für Hunde, Affen und Menschen gelten. In der Forschung zu Kognitionen im Tierreich konnte gezeigt werden, dass nicht nur das klassische und das operante Konditionieren über verschiedene Spezies hinweg generali-
6.5 Lernen und Kognition
siert (Wasserman, 1993, 1994). In seiner ursprünglichen Formulierung der Evolutionstheorie schlug Charles Darwin vor, dass sich die kognitiven Fähigkeiten zusammen mit den physischen Formen von Tieren entwickeln. In diesem Abschnitt werden wir zwei eindrucksvolle Leistungen von Tieren beschreiben, die als weiterer Beleg für ein Kontinuum der kognitiven Fähigkeiten vom Tier zum Menschen gelten können. Kognitive Landkarten Edward C. Tolman (1886-1959) untersuchte erstmalig kognitive Prozesse beim Lernen. Er schuf Experimentalumgebungen, in denen das beobachtete Verhalten von Tieren nicht durch eine mechanische Eins-zuEins-Verbindung zwischen spezifischen Stimuli und Reaktionen erklärt werden konnte. Betrachten Sie das Labyrinth in 씰 Abbildung 6.13. Tolman und seine Studierenden konnten zeigen, dass, wenn ein ursprünglicher Pfad zum Ziel blockiert wurde, eine Ratte mit Vorerfahrung im Labyrinth den kürzesten Umweg um das Hindernis nimmt, obwohl diese spezifische Reaktion zuvor nie verstärkt wurde (Tolman & Honzik, 1930). Die Ratten verhielten sich somit, als ob sie über eine innere kognitive Landkarte – eine Repräsentation des Gesamtaufbaus des Labyrinths – verfügten, und weniger, als erkundeten sie die verschiedenen Teile des Labyrinths durch Versuch und Irrtum (Tolman, 1948). Tolmans Ergebnisse zeigten, dass Konditionieren mehr als den einfachen Aufbau von Assoziationen zwischen Klassen von Reizen oder zwischen Reaktionen und Verstärkern umfasst. Es beinhaltet Lernen und Repräsentieren anderer Aspekte des Gesamtkontextes von Verhalten. Die Forschung in der Tradition von Tolman hat übereinstimmend gezeigt, dass eine erstaunliche Fähigkeit für das räumliche Gedächtnis besteht bei Vögeln, Bienen, Ratten, Menschen und anderen Tieren (Benhamou & Poucet, 1996; Olton, 1992). Um die Effizienz räumlicher kognitiver Landkarten zu verstehen, braucht man sich nur die Funktionen zu betrachten, die sie erfüllen (Poucet, 1993): Tiere nutzen das räumliche Gedächtnis, um Merkmale ihrer Umgebung wiederzuerkennen und zu identifizieren. Tiere nutzen das räumliche Gedächtnis, um in ihrer Umgebung wichtige Zielobjekte zu finden. Tiere nutzen das räumliche Gedächtnis, um ihren Weg durch eine Umgebung zu planen.
Man kann diese unterschiedlichen Funktionen kognitiver Landkarten in Aktion sehen, wenn es darum geht, wie Vogelspezies, die ihr Futter über ein großes Gelände hin verstecken, dieses mit ungeheurer Präzision wiederfinden können, wenn sie es brauchen: Clark‘s nutcracker, eine amerikanische Vogelart aus der Gattung der Tannenhäher, ist der Champion unter den Futterversteckern, die untersucht wurden. Im späten Sommer legen sie bis zu 6.000 Verstecke für Pinienkörner im Bergland des amerikanischen Südwestens an. Sie finden die Körner im nächsten Frühling wieder, wenn das versteckte Futter das außergewöhnlich frühe Brüten dieser Tiere unterstützt. (Shettleworth, 1993, S. 180) Die Vögel fliegen in ihrer Umgebung nicht einfach ziellos umher und finden die Körner durch glücklichen Zufall. Sie kehren mit bis zu 84 Prozent Trefferquote zu den Tausenden von Orten zurück, wo sie ihre Körner versteckt haben (Kamil & Balda, 1990). Sie
Futterbox
B Pfad 1
A Pfad 2 Pfad 3
Start
Abbildung 6.13: Nutzung kognitiver Landkarten beim Lernen in Labyrinthen. Die Versuchstiere bevorzugten den direkten Pfad (Pfad 1), wenn er offen war. Wenn dieser am Punkt A blockiert wurde, bevorzugten sie Pfad 2. Befand sich ein Block am Punkt B, nahmen die Ratten üblicherweise Pfad 3. Ihr Verhalten scheint einen Hinweis darauf zu geben, dass sie über eine kognitive Landkarte mit dem besten Weg zum Futter verfügen.
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„Reiz, Reaktion. Reiz, Reaktion! Denkst du denn niemals?“ können auch Orte, an denen sich noch Körner befinden, von Orten unterscheiden, die bereits geleert sind (Kamil et al., 1993). Wenn im Labor Aufgaben zum räumlichen Gedächtnis durchgeführt werden, dann schneiden Spezies, die für ihre Nahrungssicherung sehr stark vom Futterverstecken abhängen, besser ab als andere, sogar eng verwandte Spezies (Balda et al., 1997; Olson et al., 1995). Dies gilt jedoch nur für räumliche Aufgaben. Für Aufgaben, die kein räumliches Gedächtnis erfordern, wurden zwischen den Spezies keine Unterschiede gefunden, die mit dem unterschiedlichen Verhalten des Futterversteckens zusammenhingen. Beachten Sie bitte, dass bei diesen Vögeln das Verhalten des Futterversteckens beim ursprünglichen Vergraben der Körner nicht verstärkt wird. Nur wenn ihre kognitiven Landkarten den Winter über präzise bleiben, können sie die Körner wiederfinden und überleben, um sich zu reproduzieren. Konzeptuelles Verhalten Wir haben gesehen, dass bei Tieren kognitive Landkarten zum Teil mithelfen, Details der Platzierung von Objekten in ihrer Umgebung zu bewahren. Aber welche anderen kognitiven Prozesse können Tiere ausführen, um Strukturen und Kategorien von Erlebtem den diversen Reizen zuzuordnen, denen sie in ihrer Umgebung begegnen? In Kapitel 10 werden wir anführen,
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dass eine der Herausforderungen für Kinder beim Spracherwerb darin besteht, Generalisierungen von neuen Konzepten und Kategorien zu lernen, wie beispielsweise bei den Wörtern Hund und Baum. Menschenkinder sind allerdings nicht die einzige Spezies, die sich dieser Herausforderung gegenübersehen. Die Forschung hat gezeigt, dass auch Tauben die kognitive Fähigkeit besitzen, konzeptuelle Unterscheidungen zu treffen. Wir haben gesehen, dass kognitive Landkarten Tieren zum Teil helfen können, Einzelheiten der räumlichen Lage von Objekten ihrer Umgebung zu bewahren. Aber welche anderen kognitiven Prozesse können Tiere einsetzen, um Struktur oder Erfahrungskategorien in den verschiedenen Reizen zu finden, denen sie in ihrer Umgebung begegnen? In Kapitel 7 werden wir einige der Arten beschreiben, wie Menschen ihre Welt einteilen. So können Menschen an Gegenstände wie Stühle und Autos sowohl als eigene Basiskategorien denken als auch verstehen, dass sowohl Stühle als auch Autos in die höhere Kategorie künstlicher, von Menschen hergestellter Stimuli gehören, während Blumen und Menschen zur höheren Kategorie natürlicher Stimuli gehören. Menschen sind allerdings nicht die einzigen Organismen, die Flexibilität in ihrer Welteinteilung zeigen. Die Forschung hat gezeigt, dass Tauben ebenfalls die Fähigkeit besitzen, Objekte auf mehrere Arten zu kategorisieren.
AUS DER FORSCHUNG Tauben betrachteten Farbfotografien von Menschen, Blumen, Autos und Stühlen (씰 Abbildung 6.14). Bei jeder Fotografie müssen die Tauben eine von zwei korrekten Reaktionen zeigen, um Futter zu erhalten. Bei der Hälfte der Versuche pickten die Tauben auf eine von vier Tasten, die die vier Basiskategorien Menschen, Blumen, Autos und Stühle darstellten. Bei der anderen Hälfte der Versuche pickten die Tauben auf eine von zwei Tasten, die für die höheren Kategorien natürlicher Reize (Menschen und Blumen) bzw. künstlicher Reize (Autos und Stühle) standen. Die beiden Versuchsabläufe waren zufällig gemischt: Die Tauben sahen vielleicht zweimal hintereinander dasselbe Foto und mussten es erst als „Blume“ und dann als „natürlichen Reiz“ einordnen. Die Tauben konnten tatsächlich leicht lernen, auf beide Kategorieabfragen richtig zu antworten. Am Schluss des Experiments testeten die Forscher einige neue Fotografien – solche aus denselben Kategorien, die aber nicht Teil des ursprünglichen Trainings gewesen waren. Die Tauben waren im Stande, diese neuen Fotos überdurchschnittlich oft korrekt einzuordnen. Dieser Test mit unbekannten Fotos legt nahe, dass die Tauben tatsächlich allgemeine Kategorien statt individueller Reaktionen auf spezifische Stimuli erlernt hatten (Lazareva et al., 2004).
6.5 Lernen und Kognition
Abbildung 6.14: Kategorisierung bei Tauben. Tauben betrachteten Fotografien, die sich in vier Basiskategorien (Autos, Stühle, Blumen und Menschen) und in zwei höhere Kategorien (künstliche und natürliche Stimuli) einteilen ließen. Wir werden die Kapitel 7 und 8 der Besprechung kognitiver Prozesse beim Menschen widmen. Das obige Experiment, das die flexible Kategorisierung bei Tauben demonstriert, sollte Sie aber davon überzeugen, dass Menschen nicht die einzige Spezies mit eindrucksvollen und nützlichen kognitiven Fähigkeiten sind. Bevor wir dieses Kapitel abschließen, kommen wir noch zu einer anderen Form des Lernens, die eine kognitive Verarbeitung erfordert.
6.5.2 Beobachtungslernen Um diese weitere Form des Lernens vorzustellen, kommen wir kurz auf den Vergleich zwischen Ratten und Menschen im Hinblick auf das Kosten neuer Speisen zurück. Die Ratten sind mit ziemlicher Sicherheit vorsichtiger, als wir es sind, dies aber zum großen Teil deshalb, weil ihnen eine unbezahlbare Informationsquelle fehlt – das Wissen von anderen Ratten. Wenn wir eine neue Speise probieren, geschieht dies nahezu immer in einem Kontext, in dem wir mit Fug und Recht annehmen können, dass andere Menschen diese Speise gegessen und genossen haben. Die Wahrscheinlichkeit unseres „Essverhaltens“ wird somit durch das Wissen über Verstärkermuster bei anderen Individuen beeinflusst. Dieses Beispiel veranschaulicht unsere Fähigkeit zu Lernen durch mittelbare Verstärkung und mittelbare Bestrafung. Wir können unsere kognitiven Fähigkeiten des Erinnerns und Schlussfolgerns nut-
zen, um unser Verhalten im Lichte der Erfahrung anderer zu ändern. In der Tat findet viel soziales Lernen in Situationen statt, in denen Lernen im Rahmen traditioneller Konditionierungstheorien nicht vorhergesagt werden würde, da die Lernende weder eine aktive Reaktion gezeigt noch einen greifbaren Verstärker erhalten hat. Nach dem bloßen Beobachten des Verhaltens einer Person, das verstärkt oder bestraft wurde, verhält sich die Beobachterin später in ähnlicher Art und Weise, oder sie nimmt von diesem Verhalten Abstand. Dies wird als Beobachtungslernen bezeichnet. Die Kognitionen kommen beim Beobachtungslernen oftmals in der Form von Erwartungen zum Tragen. Im Wesentlichen kann man dies so verdeutlichen: Nachdem Sie ein Modell beobachtet haben, könnten Sie denken: „Wenn ich genau das tue, was sie tut, werde ich den gleichen Verstärker erhalten oder die gleiche Bestrafung vermeiden.“ Ein jüngeres Geschwister kann sich vielleicht besser benehmen als sein älteres Geschwister, da es aus den Fehlern des älteren gelernt hat. Diese Fähigkeit, durch Beobachtung ebenso wie durch Tun zu lernen, ist äußerst hilfreich. Sie können dadurch große, integrierte Verhaltensmuster erwerben, ohne die langwierigen Versuch-und-Irrtum-Prozesse zu durchlaufen, die allmählich die falschen Reaktionen eliminieren und die richtigen erwerben lassen. Sie können sofort von den Fehlern und Erfolgen anderer lernen. Die Forschung zeigte, dass Beobachtungslernen nicht spezifisch für Menschen ist. Neben noch weiteren Spezies sind Tauben (Zentall et al., 1996), Zebrafische (Hall & Suboski, 1995) und sogar Tintenfische (Fiorito & Scotto, 1992) dazu fähig, ihr Verhalten infolge der Leistung anderer Mitglieder ihrer Spezies zu ändern. Eine klassische Demonstration menschlichen Beobachtungslernens trat im Labor von Albert Bandura auf. Nachdem Kinder erwachsene Modelle beobachtet hatten, die eine große Clownpuppe aus Plastik namens Bobo gestoßen, geschlagen und getreten haben, zeigten die Kinder in dem Experiment später eine größere Häufigkeit dieses Verhaltens als Kinder einer Kontrollbedingung, welche die aggressiven Modelle nicht gesehen hatten (Bandura, et al., 1963). Spätere Studien zeigten, dass Kinder solcherlei Verhalten alleine durch das Betrachten von Sequenzen gefilmter Modelle imitieren, sogar wenn diese Cartoonfiguren waren. Es besteht kaum die Frage, dass wir viel – sowohl prosoziales Verhalten (Hilfeverhalten) als auch antisoziales Verhalten (Verletzungsverhalten) – durch Beobachtung von Modellen lernen, es gibt jedoch viele mögliche Modelle in der Welt. Welche Variablen be-
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stimmen nun, welche Modelle Sie am wahrscheinlichsten beeinflussen werden? Die Forschung förderte die folgenden allgemeinen Schlussfolgerungen zutage (Baldwin & Baldwin, 1973; Bandura, 1977). Das Verhalten eines Modells wird dann besonders einflussreich sein, wenn: wahrgenommen wird, dass das Verhalten verstärkende Konsequenzen erbringt; das Modell als positiv, beliebt und respektiert wahrgenommen wird; wahrgenommen wird, dass eine Ähnlichkeit im Hinblick auf Merkmale und Eigenschaften des Modells mit dem Beobachter besteht; der Beobachter dafür belohnt wird, seine Aufmerksamkeit auf das Verhalten des Modells zu lenken; das Verhalten des Modells gut sichtbar und salient ist – es als klares Bild gegen den Hintergrund konkurrierender Modelle hervorsticht; es für den Beobachter im Rahmen seines Möglichen ist, das Verhalten zu imitieren.
Um diese Liste von Befunden zu verstehen, sollten Sie sich in Situationen hineinversetzen, wo ein Modell vorhanden ist, und einmal überprüfen, inwiefern jeder angeführte Sachverhalt zutrifft. Stellen Sie sich einmal vor, Sie beobachten jemanden, der gerade das Fallschirmspringen lernt. Oder stellen Sie sich vor, jemand lernt gerade, ein „gutes“ Mitglied einer Gang zu werden, indem er das Verhalten seiner Freunde beobachtet. Da Menschen derart effizient von Modellen lernen, kann man nachvollziehen, warum eine beträchtliche Menge psychologischer Forschung sich darauf bezieht, inwieweit das Fernsehen Einfluss auf das Ver-
halten besitzt: Werden Fernsehzuschauer dadurch beeinflusst, ob das Gesehene belohnt oder bestraft wurde? Das Forschungsinteresse konzentrierte sich auf die Verbindung zwischen im Fernsehen dargestellten Gewaltszenen – Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung, Raub, terroristische Akte und Suizid – und dem späteren Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Regt die Darbietung von Gewaltszenen zur Imitation an? Die Schlussfolgerung aus der psychologischen Forschung lautet „Ja“ – sie tut es bei einigen Menschen, speziell in den USA (Comstock & Scharrer, 1999).
AUS DER FORSCHUNG Das Projekt startete 1977, als ein Forscherteam zwei Jahre lang den Fernsehkonsum von 577 Kindern der ersten und der dritten Klasse maß. Die Forscher zeichneten dabei besonders den Anteil von Fernsehsendungen gewalttätigen Inhalts auf. Fünfzehn Jahre danach konnten sie 329 dieser Kinder befragen, die inzwischen 20 bis 22 Jahre alt waren (Huesmann et al., 2003). Die Forscher versuchten festzustellen, ob es eine Beziehung zwischen der Menge der in der Kindheit konsumierten TV-Gewalt und dem Aggressionsniveau als junge Erwachsene gab. Dieses Aggressionsniveau wurde sowohl durch Selbsteinschätzung als auch durch Befragung anderer, etwa der Ehegatten, gemessen. Wie in 씰 Abbildung 6.15 dargestellt, zeigten die Männer und Frauen, welchen in der Kindheit der höchste Gewaltanteil am Fernsehkonsum zukam, auch als junge Erwachsene das aggressivste Verhalten. Diese Daten legen nahe, dass früher TV-Gewaltkonsum im späteren Leben aggressives Verhalten verursacht. Man könnte sich natürlich auch fragen, ob die Kausalität nicht umgekehrt verläuft: Vielleicht waren die von Natur aus aggressiveren Kinder schon früh mehr an Gewalt interessiert? Glücklicherweise hatten die Forscher Daten gesammelt, mit denen sie diesem Argument entgegentreten konnten. So ergab sich beispielsweise nur ein schwacher Zusammenhang zwischen kindlichem Aggressionsverhalten und dem TV-Gewaltkonsum als Erwachsene.
Von links nach rechts: Aggression eines erwachsenen Modells; der Junge imitiert die Aggression; das Mädchen imitiert die Aggression. Was zeigt sich durch dieses Experiment über die Rolle von Modellen beim Lernen?
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6.5 Lernen und Kognition
Agressionsniveau Erwachsener
Laut dieser Studie laufen Kinder, die Gewalt im Fernsehen konsumieren, Gefahr, als Erwachsene übermäßig aggressiv zu werden. Mehrere Jahrzehnte der Forschung haben übereinstimmend drei Arten aufgezeigt, wie Gewalt im Fernsehen sich negativ auf das Leben von Fernsehzuschauern auswirkt (Smith & Donnerstein, 1998). Erstens ruft die Betrachtung von Gewaltszenen im Fernsehen, über die Mechanismen des Beobachtungslernens, einen Zuwachs an aggressivem Verhalten hervor. Dieser ursächliche Zusammenhang hat besonders für Kinder wichtige Folgen: Aggressive Gewohnheiten, die ihren Ursprung in starkem Fernsehkonsum im frühen Alter haben, können als Basis von antisozialem Verhalten später im Leben dienen. Zweitens führt das Betrachten von Gewaltszenen im Fernsehen dazu, dass die Betrachter das Auftreten von Gewalt im Alltag überschätzen. Fernsehzuschauer können übermäßige Ängste entwickeln, Opfer von Gewalt im wahren Leben zu werden. Drittens kann das Betrachten von Gewaltszenen im Fernsehen zu einer Desensibilisierung führen, einer Verminderung sowohl von emotionaler Erregbarkeit als auch von Stressempfinden beim Betrachten gewalttätigen Verhaltens. Beachten Sie bitte auch, dass die Forschung ebenfalls zeigte, dass Kinder prosoziales, helfendes Verhalten durch Fernsehschauen lernen können, wenn prosoziale Verhaltensmodelle gezeigt werden (Rosenkoetter, 1999; Singer & Singer, 1990). Man sollte die Idee sehr ernst nehmen, dass Kinder durch das, was sie im Fernsehen betrachten, lernen. Als Eltern oder Fürsorgende sollten Sie vielleicht den Kindern helfen, angemessene Modelle im Fernsehen auszuwählen. Die Analyse von Beobachtungslernen gesteht zu, dass sowohl Verstärkungsprinzipien verhaltenswirksam sind als auch, dass Menschen die Fähigkeit zukommt, ihre kognitiven Prozesse zu nutzen für VerTV-Gewaltkonsum als Kind niedrig mittel hoch
, 0.8 , 0.6 , 0.4
haltensänderungen unter mittelbarer Belohnung und Bestrafung. Diese Auffassung vom Lernen beim Menschen hat sich als sehr ertragreich herausgestellt. In Kapitel 15 werden wir erfolgreiche Therapieprogramme vorstellen, die auf der Idee der kognitiven Modifikation mangelhaft angepasster Verhaltensmuster beruhen. Lassen Sie uns dieses Kapitel abschließen, indem wir uns nochmals das Betrachten eines Horrorfilms vom Anfang in Erinnerung rufen. Wie kann Verhaltensanalyse Ihre Erfahrungen erklären? Wenn Sie auf Empfehlung eines Freundes hin ins Kino gegangen sind, dann sind Sie der mittelbaren Verstärkung erlegen. Wenn Sie ins Kino gelangt sind, obwohl Sie vom üblichen Weg abweichen mussten, dann haben Sie einen Beleg für eine kognitive Landkarte erbracht. Wenn Sie der Klang angsterregender Musik dazu brachte, um das Wohlergehen des Helden zu bangen, dann verspürten Sie den Effekt des klassischen Konditionierens. Wenn Sie den Film so schrecklich fanden, dass Sie sich schwören, nie mehr einen Horrorfilm anzusehen, dann haben Sie den Effekt von Bestrafung auf Ihr folgendes Verhalten verspürt. Sind Sie jetzt dafür gerüstet, wieder ins Kino zu gehen?
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Folgerungen zog Tolman aus seiner grundle-
genden Arbeit? 2 Welche Belege zeigen, dass Tauben Reize flexibel in
Kategorien einordnen können? 3 Was bedeutet mittelbare Verstärkung? 4 Warum sollte man den Fernsehkonsum von Kindern im
Kontext von Beobachtungslernen betrachten? KRITISCHES DENKEN: Durch welche Schritte konnten die Forscher in der Fernsehkonsumstudie sichergehen, dass sie die richtige kausale Erklärung für die in den Daten sichtbare Korrelation gaben?
0.2 0 , –0.2 , –0.4
Frauen
Männer
Abbildung 6.15: TV-Gewaltkonsum und aggressives Verhalten. Frauen und Männer, die in der Kindheit den höchsten Gewaltanteil am Fernsehkonsum hatten, zeigten auch als Erwachsene das aggressivste Verhalten. Das Aggressionsniveau wurde sowohl durch Selbsteinschätzung als auch durch Befragung anderer gemessen. Höhere Werte stehen für ein höheres Aggressionsniveau.
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Die Erforschung des Lernens Lernen zieht eine relativ nachhaltige und konsistente Änderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials auf der Grundlage von Erfahrung nach sich.
Biologie und Lernen Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Lernen durch das spezifische Repertoire einer Spezies bei unterschiedlichen Organismen beschränkt wird. Instinktverschiebung kann stärker sein als manches Reaktions-Verstärkungs-Lernen. Das Lernen von Geschmacksaversionen legt nahe, dass die Spezies für einige Formen von Assoziationen genetisch prädisponiert sind.
Um klassisch zu konditionieren, muss eine kontingente und informative Beziehung zwischen CS und UCS bestehen.
Lernen und Kognition Einige Formen des Lernens spiegeln komplexere Prozesse wider als jene des klassischen und operanten Konditionierens.
Klassisches Konditionieren erklärt viele emotionale Reaktionen und Toleranz gegenüber Substanzen.
Tiere bauen kognitive Landkarten auf, damit sie sich in einer komplexen Umgebung zurechtfinden.
Operantes Konditionieren: Lernen von Konsequen zen Thorndike zeigte, dass Verhaltensweisen mit befriedigenden Ergebnissen in der Regel wiederholt werden.
Konzeptuelles Verhalten ermöglicht es Tieren, Generalisierungen über die Struktur der Umgebung durchzuführen.
Skinners verhaltensanalytischer Ansatz konzentriert sich auf die Veränderung von Verstärkerkontingenzen, um deren Effekte auf das Verhalten zu erfassen.
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Komplexe Reaktionen können durch Shaping gelernt werden.
Diskriminationslernen verkleinert den Bereich von CS, auf die ein Organismus reagiert.
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Verhalten wird durch Verstärkerpläne beeinflusst. Es werden fixierte Pläne von variablen Plänen und Intervallpläne von Quotenplänen unterschieden.
Als Reizgeneralisierung wird das Phänomen bezeichnet, dass dem ursprünglichen Stimulus (CS) ähnliche Reize eine CR auslösen.
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Wahrscheinliche Aktivitäten dienen als positive Verstärker.
Folgt auf den CS kein UCS mehr, dann tritt Löschung ein.
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Primäre Verstärker sind Stimuli, die auch dann als Verstärker dienen, wenn der Organismus keine Vorerfahrungen mit ihnen besitzt. Konditionierte Verstärker werden durch Assoziation mit primären Verstärkern hergestellt.
Klassisches Konditionieren: Lernen vorhersagbarer Signale Beim klassischen Konditionieren, das erstmalig von Pavlov untersucht wurde, löst ein unkonditionierter Stimulus (UCS) eine unkonditionierte Reaktion (UCR) aus. Wird ein neutraler Stimulus mit dem UCS gepaart, so wird der neutrale Stimulus zum konditionierten Stimulus (CS). Der konditionierte Stimulus (CS) ruft eine Reaktion hervor, die als konditionierte Reaktion (CR) bezeichnet wird.
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Im Kontext angemessenes Verhalten wird durch die Dreifachkontingenz von diskriminativem Stimulus – Verhalten – Konsequenz erklärt.
Sie glauben ebenfalls, dass viele dieser Lernprinzipien auf alle Organismen anwendbar sind.
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Verhalten wird wahrscheinlicher durch positive und negative Verstärkung. Es wird unwahrscheinlicher durch Bestrafung 1. und 2. Art.
Behavioristen glauben, dass ein Großteil des Verhaltens durch einfache Lernprozesse erklärt werden kann.
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Verhalten kann mittelbar verstärkt oder bestraft werden. Menschen und Tiere können durch Beobachtung lernen.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Beobachtungslernen (S. 225) Bestrafung 1. Art (positive Bestrafung) (S. 209) Bestrafung 2. Art (negative Bestrafung) (S. 209) Bestrafungsreiz (S. 209) Biologische Beschränkungen des Lernens (S. 219) Diskriminativer Hinweisreiz (S. 210) Dreifachkontingenz (S. 210) Effekt partieller Verstärkung (S. 216) Erwerb (S. 197) Fixierter Intervallplan (S. 217) Fixierter Quotenplan (S. 216) Gesetz des Effekts (law of effect) (S. 207) Habituation (S. 193) Instinktverschiebung (S. 219) Klassisches Konditionieren (S. 195) Kognitionen im Tierreich (S. 222) Kognitive Landkarte (S. 223) Konditionierte Reaktion (CR) (S. 197)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Konditionierte Verstärker (S. 213) Konditionierter Stimulus (CS) (S. 197) Kontingenz bei der Verstärkung (S. 208) Lernen (S. 192) Lernen von Geschmacksaversionen (S. 220) Löschung (Extinktion) (S. 198) Negative Verstärkung (S. 209) Operant (S. 207) Operante Löschung (S. 209) Operantes Konditionieren (S. 207) Positive Verstärkung (S. 209) Primäre Verstärker (S. 212) Reflex (S. 197) Reizdiskrimination (S. 200) Reizgeneralisierung (S. 199) Shaping durch schrittweise Annäherung (S. 217) Spontanremission (S. 198) Unkonditionierte Reaktion (UCR) (S. 197) Unkonditionierter Stimulus (UCS) (S. 197) Unterscheidung von Lernen und Leistung (S. 192) Variabler Intervallplan (S. 217) Variabler Quotenplan (S. 216) Verhaltensanalyse (S. 194) Verstärker (S. 208) Verstärkerpläne (S. 214)
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Gedächtnis 7.1 Was ist Gedächtnis?
....................................... 7.1.1 Gedächtnisformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Überblick über Gedächtnisprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
232 233 235
7.2 Sensorisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
236 237 238 241
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
................ Hinweisreize beim Abruf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext und Enkodieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Prozesse des Enkodierens und des Abrufs . . . . . . . . . . . . . . . . Warum wir vergessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserung der Gedächtnisleistung bei unstrukturierten Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243 244 246 249 251 254
Kritisches Denken im Alltag: Wie kann Ihnen die Gedächtnisforschung bei der Prüfungsvorbereitung helfen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
256
7.3.6 Metagedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
7.4 Strukturen im Langzeitgedächtnis
.......................... 7.4.1 Gedächtnisstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Erinnern als rekonstruktiver Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
258 258 263
7.5 Biologische Aspekte des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Suche nach dem Engramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
266 266
Psychologie im Alltag: Warum greift die Alzheimer‘sche Krankheit das Gedächtnis an? . . . . . . . . . . .
267
7.5.2 Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Bildgebende Verfahren in der Hirnforschung. . . . . . . . . . . . . . . . .
268 269
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
............................................
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.............................................
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Ü B E R B L I C K
7.2.1 Ikonisches Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Kurzzeitgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Arbeitsgedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ged äc h tn i s
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m Anfang dieses Kapitels sollten Sie sich etwas Zeit nehmen und den eigenen frühesten Erinnerungen nachspüren. Wie weit reichen diese zurück? Wie deutlich und lebhaft ist die erinnerte Situation? Wurde die Erinnerung dadurch beeinflusst, dass und wie sich andere an die Situation erinnern? Nun eine etwas veränderte Aufgabe. Stellen Sie sich bitte vor, wie es wäre, wenn Sie plötzlich keinerlei Erinnerung mehr an Ihre Vergangenheit hätten – weder an die Menschen, die Sie kannten, noch an die Geschehnisse, die Ihnen passiert sind. Sie würden sich weder an das Gesicht Ihrer Mutter erinnern noch an Ihren zehnten Geburtstag, noch an Ihre Abiturfeier. Wie würden Sie ohne solche Zeitanker das Gefühl dafür aufrechterhalten, wer Sie sind – das Gefühl der Selbstidentität? Oder stellen Sie sich vor, Sie hätten die Fähigkeit verloren, neue Gedächtnisinhalte zu bilden. Was würde mit Ihren gerade zurückliegenden Erfahrungen passieren? Könnten Sie einem Gespräch oder der Handlung eines Films folgen? Alles würde vergehen, als ob Geschehenes nie geschehen wäre, als ob Sie niemals irgendwelche Gedanken im Kopf gehabt hätten. Können Sie sich irgendeine Tätigkeit vorstellen, die nicht durch das Gedächtnis beeinflusst wird? Wenn Sie nie intensiver über Ihr Gedächtnis nachgedacht haben, dann wahrscheinlich deshalb, weil es üblicherweise recht gut funktioniert – Sie nehmen es als selbstverständlich hin, ebenso wie andere körperliche Prozesse wie etwa Verdauen oder Atmen. Aber genau wie bei Magenschmerzen oder Allergien bemerkt man sein Gedächtnis hauptsächlich dann, wenn etwas schief läuft: Sie vergessen Ihren Autoschlüssel, einen wichtigen Termin, den Text in einem Theaterstück oder die Antwort auf eine Prüfungsfrage, von der Sie wissen, dass Sie sie „kennen“. Es gibt keinen Grund, derartige Vorkommnisse beunruhigend zu finden, aber Sie sollten einen Moment darüber nachdenken, dass das durchschnittliche menschliche Gehirn schätzungsweise etwa 100 Billionen (100.000.000.000.000) Informationsbestandteile speichern kann. Es ist eine unglaubliche Aufgabe, so viele Informationen zu verwalten. Vielleicht sollten Sie nicht allzu überrascht sein, wenn manchmal eine Antwort nicht verfügbar ist, wenn man sie braucht! Dieses Kapitel soll erklären, wie wir uns normalerweise an so viel erinnern und warum wir manches auch wieder vergessen. Wir werden darauf eingehen, wie die Alltagserfahrungen ins Gedächtnis gelangen und wie sie daraus wieder verschwinden. Wir werden erfahren, welche verschiedenen Arten von Gedächtnissystemen die Psychologie entdeckt hat und wie sie funktionieren. Hoffentlich lernen Sie neben den vie-
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Wie können sich Schauspielerinnen und Schauspieler all die verschiedenen Aspekte ihrer Rolle – Bewegungen, Ausdruck und Text – merken? len Fakten auch zu schätzen, was für eine wunderbare Sache das Gedächtnis ist. Und noch etwas: Da dies ein Kapitel über Gedächtnis ist, werden wir Ihr Gedächtnis gleich beanspruchen. Merken Sie sich die Zahl 46! Tun Sie was auch immer nötig ist, um sich die Zahl 46 zu merken. Und wir werden das überprüfen!
Was ist Gedächtnis?
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Zum Einstieg definieren wir das Gedächtnis als die Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen. Wir werden in diesem Kapitel Gedächtnis als eine Form der Informationsverarbeitung darstellen; daher gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem dem Informationsfluss in die Gedächtnissysteme hinein und wieder heraus. Im Laufe der Untersuchung der Prozesse, welche die Aneignung und den Abruf von Informationen steuern, werden Sie sich eine genauere Vorstellung davon bilden können, was Gedächtnis bedeutet.
7.1 Was ist Gedächtnis?
7.1.1 Gedächtnisformen Wenn Sie an Gedächtnis denken, werden Ihnen wahrscheinlich am ehesten Situationen einfallen, in denen Sie Ihr Gedächtnis benutzen, um sich an spezifische Ereignisse oder Informationen zu erinnern (oder den Versuch unternehmen, sich an sie zu erinnern): Ihren Lieblingsfilm, die Jahreszahlen des Zweiten Weltkrieges oder vielleicht auch Ihre Matrikelnummer. In der Tat besteht eine der wichtigen Funktionen des Gedächtnisses darin, einen bewussten Zugang zur eigenen und zur kollektiven Vergangenheit zu ermöglichen. Das Gedächtnis leistet jedoch darüber hinaus noch eine ganze Menge mehr für Sie. Es erlaubt, mühelos Kontinuität der Erfahrungen von einem Tag zum nächsten herzustellen. Wenn Sie beispielsweise Auto fahren, so ist es diese zweite Gedächtnisfunktion, die Ihnen die Geschäfte am Straßenrand bekannt erscheinen lässt. Wir definieren verschiedene Formen von Gedächtnis, um verständlich zu machen, wie hart unser Gedächtnis arbeitet, um diese Funktionen zu erfüllen; dies geschieht oftmals außerhalb der bewussten Wahrnehmung.
Implizites und explizites Gedächtnis Betrachten Sie 씰 Abbildung 7.1 Was stimmt nicht in diesem Bild? Vielleicht kommt es Ihnen ungewöhnlich vor, dass sich ein Hase in der Küche befindet. Aber woher rührt dieses Gefühl? Wahrscheinlich sind
Sie nicht ein Objekt nach dem anderen in dem Bild durchgegangen und haben sich gefragt: „Gehört der Kühlschrank hinein?“; „Gehören die Schränke hinein?“ Vielmehr springt der Hase förmlich als nicht dazugehörig ins Auge. Dieses einfache Beispiel ermöglicht, den Unterschied zwischen implizitem und explizitem Gebrauch des Gedächtnisses zu verstehen. Die Entdeckung des Hasen geschah implizit, denn die Gedächtnisprozesse brachten Vorwissen über Küchen in die Interpretation des Bildes ein, ohne dass das irgendwelche Anstrengung gekostet hätte. Stellen Sie sich jetzt vor, wir würden Sie fragen: „Was fehlt in diesem Bild?“ Um diese zweite Frage zu beantworten, müssen Sie wahrscheinlich das explizite Gedächtnis ins Spiel bringen. Was sieht man normalerweise in einer typischen Küche? Was fehlt? (Haben Sie an die Spüle oder den Herd gedacht?) Wenn es also um die Nutzung von im Gedächtnis gespeichertem Wissen geht, ist diese Nutzung manchmal implizit (die Information wird verfügbar ohne bewusste Anstrengung) und manchmal explizit (es bedarf einer bewussten Anstrengung, um die Information wiederherzustellen). Wir können die gleiche Unterscheidung treffen, wenn es um die erstmalige Aneignung von Gedächtnisinhalten geht. Woher weiß man, was sich in einer Küche befinden sollte? Prägt man sich irgendwann einmal eine Liste all der Dinge ein, die sich in einer Küche befinden und wie die korrekte Anordnung sein sollte? Wahrscheinlich nicht. Viel wahrscheinlicher ist es,
Abbildung 7.1: Was stimmt nicht in diesem Bild? Haben Sie gerade gedacht: „Was macht ein Hase in der Küche?“ Wenn Ihnen der Hase sofort förmlich ins Auge gesprungen ist, dann deshalb, weil Ihre Gedächtnisprozesse eine Analyse der Szene durchgeführt haben. Diese Analyse erfolgte außerhalb Ihres Bewusstseins und lieferte den Hasen als das nicht stimmige Element.
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dass man den Großteil dieses Wissens ohne bewusste Anstrengung erworben hat. Im Gegensatz dazu werden wahrscheinlich die Bezeichnungen der Objekte im Raum explizit gelernt. Wie wir in Kapitel 10 sehen werden, musste Ihr jüngeres Selbst explizite Gedächtnisprozesse durchführen, um die Verknüpfung zwischen Wörtern und Erfahrungen herzustellen. Sie haben das Wort „Kühlschrank“ gelernt, weil jemand Ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die Bezeichnung dieses Objekts lenkte. Die Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis erweitert den Umfang an Fragestellungen enorm, den die Forscherinnen und Forscher im Hinblick auf Gedächtnisprozesse zu untersuchen haben (Bowers & Marsolek, 2003; Buchner & Wippich, 2000). Die meiste frühe Gedächtnisforschung bezog sich auf die explizite Aneignung von Informationen. Zum Großteil gaben die Experimentatoren den Probanden neue Informationen zum Behalten und die Theorien zum Gedächtnis wurden darauf abgestimmt zu erklären, was die Probanden unter diesen Randbedingungen behalten oder auch nicht behalten konnten. Wie Sie in diesem Kapitel sehen werden, haben die Forscherinnen und Forscher jetzt allerdings Methoden entwickelt, das implizite Gedächtnis ebenfalls zu untersuchen. Daher können wir Ihnen einen vollständigeren Überblick über die Bandbreite der Nutzungsweisen Ihres Gedächtnisses aufzeigen. Wir müssen wohl zugeben, dass die meisten Umstände, unter denen Sie Informationen enkodieren oder abrufen, eine Mischung aus implizitem und explizitem Gebrauch des Gedächtnisses darstellen. Lassen Sie uns jedoch nun zu einer zweiten Dimension übergehen, entlang derer sich Gedächtnis anordnen lässt.
ment der Betrachtung widmen, wie Sie die Fähigkeit erlangen, Dinge zu tun. Prozedurales Gedächtnis bezieht sich auf die Art und Weise, wie Sie behalten, wie Dinge getan werden. Es wird genutzt, um sich perzeptuelle, kognitive und motorische Fertigkeiten anzueignen, sie aufrechtzuerhalten und sie anzuwenden. Theorien zum prozeduralen Gedächtnis beschäftigen sich in aller Regel mit dem Zeitverlauf des Lernens (Anderson, 1996; Anderson et al., 1999): Wie gelangt man von einer bewussten Liste von Fakten über eine Tätigkeit zu einer unbewussten, automatischen Ausführung eben dieser Tätigkeit? Und warum ist es oftmals so schwierig, nachdem man eine Fertigkeit erlernt hat, zurückzugehen und über die beteiligten deklarativen Fakten zu sprechen? Wir können dieses Phänomen in einer ganz einfachen Aufgabe beobachten, dem Wählen einer Telefonnummer, die uns mit der Zeit sehr vertraut wurde. Zunächst mussten Sie vielleicht die Telefonnummer Ziffer für Ziffer gedanklich durchgehen. Sie mussten sich durch eine Liste deklarativer Fakten hindurcharbeiten: Zuerst muss ich die 2 wählen, dann die 0, dann die 7, und so weiter.
Deklaratives und prozedurales Gedächtnis Können Sie pfeifen? Oder falls Sie nicht pfeifen können, versuchen Sie mit den Fingern zu schnippen. Welche Form des Gedächtnisses ermöglicht solche Dinge? Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass Sie das lernen mussten, aber jetzt scheint es ohne Mühe zu gehen. Die Beispiele zu implizitem und explizitem Gedächtnis, die wir Ihnen zuvor gegeben haben, bestanden alle aus dem Sicherinnern an Fakten und Ereignisse. Dies wird als deklaratives Gedächtnis bezeichnet. Jetzt sehen wir, dass Sie auch ein Gedächtnis dafür haben, wie Dinge getan werden. Dies wird als prozedurales Gedächtnis bezeichnet. Da der Großteil dieses Kapitels darauf abzielt, wie Sie Fakten erwerben und diese nutzen, wollen wir uns jetzt einen Mo-
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Warum hilft es Ihnen, beim Erinnern so zu tun, als wählten Sie die Telefonnummer?
7.1 Was ist Gedächtnis?
Als Sie allerdings angefangen haben, die Nummer häufig genug zu wählen, konnten Sie sie als eine Einheit ausführen – als schnelle Folge von Handlungen auf dem Nummernblock des Telefons. Dieser Prozess wird Wissenszusammenfügung (englisch: knowledge compilation) genannt (Anderson, 1987). Als Folge von Übung können Sie längere Handlungssequenzen ausführen, ohne dass das Bewusstsein eingreift. Allerdings haben Sie auch keinen bewussten Zugang zum Inhalt dieser zusammengefügten Einheiten: Für das Telefonbeispiel gilt, dass es manchmal vorkommen kann, dass man sich an die richtige Nummer nur dann erinnert, wenn man so tut, als ob man wählen würde. Im Allgemeinen macht es die Wissenszusammenfügung schwierig, das prozedurale Wissen mit anderen zu teilen. Vielleicht haben Sie dies bemerkt, falls Ihre Eltern versucht haben, Ihnen das Autofahren beizubringen. Die Eltern können prima kuppeln und schalten, aber sie können schlecht angeben, was man tun muss, um von einem Gang in den nächsten zu wechseln, ohne zu ruckeln. Sie haben eventuell auch bemerkt, dass die Wissenszusammenfügung zu Fehlern führen kann. Wenn Sie sehr geübt sind im Schreiben auf der Tastatur einer Schreibmaschine oder eines Computers, kennen Sie vielleicht das sch-Problem: Sobald Sie das s und das c getippt haben, wollen Ihre Finger zu dem h, auch wenn Sie eigentlich Eiscreme oder crescendo tippen wollen. Wenn Sie Ihr prozedurales Gedächtnis erst einmal auf die Ausführung von sch verpflichtet haben, so können Sie wenig anderes tun, als diese Sequenz zu Ende zu bringen. Ohne prozedurales Gedächtnis wäre Ihr Leben extrem anstrengend – Sie wären dazu verurteilt, jede Tätigkeit Schritt für Schritt durchzugehen. Wenn Sie das nächste Mal versehentlich sch tippen, können Sie dies als Anlass nutzen, einmal über den Trade-Off zwischen Effizienz und potenziellen Fehlern nachzudenken. Lassen Sie uns nun zu einem Überblick über die grundlegenden Prozesse kommen, die in all diesen unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses Anwendung finden.
7.1.2 Überblick über Gedächtnisprozesse Unabhängig von der Form des Gedächtnisses sind drei mentale Prozesse vonnöten, um Wissen zu einem späteren Zeitpunkt nutzen zu können: Enkodierung, Speicherung und Abruf. Enkodierung ist der erste Informationsverarbeitungsprozess und führt zu einer Repräsentation im Gedächtnis. Speicherung ist das Aufrechterhalten von enkodierter Information über
eine gewisse Zeitspanne hinweg. Abruf ist die Wiedergewinnung gespeicherter Information zu einem späteren Zeitpunkt. Etwas vereinfacht dargestellt überführt Enkodierung Informationen in das Gedächtnis, Speicherung erhält sie aufrecht, bis sie gebraucht wird, und Abruf liest sie wieder aus. Wir wollen nun diese Vorstellungen genauer betrachten. Enkodierung erfordert die Bildung mentaler Repräsentation der Information aus der externen Welt. Sie können die Vorstellung mentaler Repräsentationen verstehen, wenn wir eine Analogie zu Repräsentationen außerhalb des Kopfes herstellen. Stellen Sie sich vor, wir wollten etwas erfahren über das schönste Geschenk, das Sie zu Ihrer letzten Geburtstagsparty erhalten haben. (Gehen wir davon aus, Sie tragen es nicht bei sich.) Was könnten Sie tun, um uns über das Geschenk zu informieren? Sie würden vielleicht die Eigenschaften des Objekts beschreiben. Oder Sie würden uns vielleicht ein Bild davon malen. Oder Sie würden uns vielleicht demonstrieren, wie Sie das Objekt benutzen. In jedem der Fälle handelt es sich um eine Repräsentation des Originalobjekts. Obwohl wahrscheinlich keine der Repräsentationen so gut ist, wie das richtige Objekt vor sich zu haben, sollten uns die Repräsentationen erlauben, uns Wissen über die wichtigsten Aspekte des Geschenks anzueignen. Mentale Repräsentationen funktionieren ganz ähnlich. Sie bewahren die wichtigsten Eigenschaften vergangener Erfahrungen, um es möglich zu machen, diese sich selbst zu repräsentieren. Wenn Informationen korrekt enkodiert wurden, werden sie im Speicher über eine gewisse Zeitspanne hinweg aufrechterhalten. Speicherung erfordert sowohl kurzzeitige wie auch langzeitige Veränderungen in Gehirnstrukturen. Am Ende dieses Kapitels werden wir sehen, wie Forscherinnen und Forscher versuchen, jene Gehirnstrukturen zu lokalisieren, die für die Speicherung neuer und alter Informationen verantwortlich sind. Wir werden auch sehen, was in Fällen extremer Amnesie (Gedächtnisverlust) geschieht, wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, neue Informationen zu speichern. Abruf ist der Lohn aller früheren Anstrengung. Gelingt der Abruf, so hat man – oftmals im Bruchteil einer Sekunde – Zugang zu Informationen, die zuvor gespeichert waren. Können Sie sich erinnern, was vor der Speicherung kommt: Dekodierung oder Enkodierung? Die Antwort ist jetzt leicht abzurufen, aber werden Sie noch in der Lage sein, das Konzept der Enkodierung genauso schnell und mit gleicher Sicherheit abzurufen, wenn Sie über den Inhalt dieses Kapitels Tage oder Wochen später befragt werden? Die For-
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schung, die sich damit beschäftigt, wie das Gedächtnis funktioniert und wie es verbessert werden kann, steht vor einer großen Herausforderung. Es gilt zu entschlüsseln, wie Sie in der Lage sind, aus der riesigen Informationsmenge im weit verzweigten Gebäude Ihrer Erinnerungen eine ganz spezielle Informationseinheit abzurufen. Obwohl es einfach ist, Enkodierung, Speicherung und Abruf als getrennte Gedächtnisprozesse zu definieren, ist die Interaktion dieser drei Prozesse sehr komplex. Um beispielsweise die Information zu enkodieren, dass Sie einen Tiger gesehen haben, müssen Sie zunächst Informationen über das Konzept Tiger aus dem Gedächtnis abrufen. Ähnliches gilt für das Enkodieren der Bedeutung eines Satzes wie etwa: „Sie ist so mutig wie Jeanne d’Arc“. Sie müssen die Bedeutungen jedes einzelnen Wortes abrufen, Sie müssen grammatische Regeln abrufen, die Ihnen angeben, wie Wortbedeutungen im Deutschen kombiniert werden, und Sie müssen Informationen zur Kultur abrufen, die Ihnen angeben, wie mutig denn Jeanne d’Arc war. Wir haben jetzt die Grundlage, Enkodierung, Speicherung und Abruf von Informationen genauer zu betrachten. Unsere Darstellung beginnt mit kurzlebigen Formen von Gedächtnis, zunächst mit dem sensorischen Gedächtnis. Wir werden dann zu den länger überdauernden Formen des Langzeitgedächtnisses übergehen (씰 Abbildung 7.2). Wir werden Ihnen Anhaltspunkte dafür geben, wie Sie sich erinnern und warum Sie vergessen. Unser Plan ist es, Sie für all die Varianten zu sensibilisieren, in denen Sie Ihre Gedächtnisfähigkeiten nutzen. Wir hoffen, dass Ihnen dadurch auch ermöglicht wird, einige Aspekte Ihrer Gedächtnisfertigkeiten zu verbessern.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist der Unterschied zwischen explizitem und im-
plizitem Gebrauch des Gedächtnisses? 2 Angenommen, Sie sind geübt im Jonglieren. Beruht
Ihre Fertigkeit mehr auf dem deklarativem oder auf dem prozeduralen Gedächtnis? 3 Sie können sich plötzlich nicht mehr an das Passwort
für Ihren E-Mail-Zugang erinnern. Welcher Gedächtnisprozess ist verantwortlich?
Sensorisches Gedächtnis
7.2
Lassen Sie uns mit einem Beispiel beginnen, das die Vergänglichkeit von Gedächtnisinhalten aufzeigt. In 씰 Abbildung 7.3 sehen Sie eine Szene, in der eine ganze Menge los ist. Betrachten Sie die Szene etwa zehn Sekunden lang und decken Sie sie dann ab. Lesen Sie erst weiter, wenn Sie die Abbildung 7.3 betrachtet haben! Angenommen, wir stellen Ihnen anschließend einige Fragen zu der Szene: 1. Welches Werkzeug hält der Junge am Boden? 2. Was tut der mittlere Mann oben? 3. In der rechten unteren Ecke hält eine Frau einen Regenschirm. Zeigt der Knauf des Regenschirms nach links oder rechts? Wenn Sie die Fragen beantworten, wäre es da nicht angenehmer für Sie, wenn Sie zurückgehen und einen extra Blick auf das Bild werfen könnten? Dies zeigt Ihnen, dass ein großer Teil der von uns wahrgenommenen Information sich nie fest in unserem Gedächtnis verankert. Stattdessen verfügen wir nur für eine kurze Zeit darüber. In diesem Abschnitt untersuchen wir die Eigenschaften dreier wenig dauerhafter Gedächtnisarten: ikonisches Gedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und Arbeitsgedächtnis.
Abbildung 7.2: Der Informationsfluss in das und aus dem Langzeitgedächtnis. Gedächtnistheorien beschreiben den Informationsfluss zum und vom Langzeitgedächtnis. Die Theorien beziehen sich auf das anfängliche Enkodieren von Informationen im sensorischen Gedächtnis und im Arbeitsgedächtnis, die Übertragung von Informationen in das Langzeitgedächtnis zum Zwecke der Speicherung und die Übertragung von Informationen vom Langzeitgedächtnis in das Arbeitsgedächtnis beim Abruf.
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7.2 Sensorisches Gedächtnis
Abbildung 7.3: An wieviel können Sie sich von dieser Szene erinnern? Betrachten Sie diese Szene etwa zehn Sekunden lang, decken Sie sie dann ab und versuchen Sie, die Fragen im Text zu beantworten. Unter normalen Umständen bewahrt das ikonische Gedächtnis für kurze Zeit einen Eindruck der visuellen Welt, nachdem das Gesehene entfernt wurde.
7.2.1 Ikonisches Gedächtnis
7 1 V F
Als Sie Abbildung 7.3 zum ersten Mal abgedeckt haben, hatten Sie da den Eindruck, das ganze Bild noch kurz „sehen“ zu können? Dieser Extrablick auf das Bild wird vom ikonischen Gedächtnis ermöglicht – einem Gedächtnissystem im visuellen Bereich, das große Informationsmengen für sehr kurze Zeiträume speichern kann (Neisser, 1967). Ein visueller Gedächtnisinhalt besitzt eine Lebensdauer von etwa einer halben Sekunde. Das ikonische Gedächtnis wurde in Experimenten entdeckt, in denen die Probanden Informationen aus visuellen Displays abrufen sollten, die nur eine zwanzigstel Sekunde gezeigt wurden.
B 4 W 7
X L 5 3
AUS DER FORSCHUNG Sperling (1960, 1963) zeigte den Probanden Anordnungen aus 3 Zeilen mit Buchstaben und Ziffern.
Die Probanden sollten zwei unterschiedliche Aufgaben ausführen. In der Methode des Ganzberichts versuchten Sie, sich aus der Anordnung an so viele Items wie möglich zu erinnern. Typischerweise konnten Sie nur etwa vier Items berichten. Andere Probanden durchliefen die Methode des Teilberichts. Hier sollten sie lediglich eine Zeile und nicht das ganze Muster berichten. Unmittelbar nach der Präsentation der Anordnung erklang ein hoher, mittlerer oder tiefer Ton, um den Probanden anzuzeigen, welche Zeile sie berichten sollten. Sperling fand heraus, dass die Erinnerungsleistung der Probanden, unabhängig von der verlangten Zeile, sehr hoch war.
Da die Probanden auf den Ton hin jede der drei Zeilen korrekt wiedergeben konnten, schloss Sperling, dass alle Informationen aus der Anordnung in das ikonische Gedächtnis gelangt sein mussten. Dies ist ein
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Beleg für die große Kapazität des ikonischen Gedächtnisses. Gleichzeitig legt der große Unterschied in der Erinnerungsleistung zwischen der Ganzberichtsmethode und der Teilberichtsmethode nahe, dass die Informationen rasch verblassen: Die Probanden der Ganzberichtsmethode konnten nicht alle Informationen der ikonischen Repräsentation abrufen. Dieser zweite Punkt wurde durch Experimente erhärtet, in denen das Identifikationssignal etwas verzögert dargeboten wurde. 씰 Abbildung 7.4 ist zu entnehmen, dass mit zunehmendem Verzögerungsintervall von null Sekunden zu einer Sekunde die Anzahl korrekt berichteter Items stetig abfällt. Forscher haben sehr genau den Zeitverlauf bestimmt, mit dem Informationen aus der verblassenden ikonischen Repräsentation übertragen werden müssen (Becker et al., 2000; Gegenfurtner & Sperling, 1993). Um von dem „extra Blick“ auf die visuelle Welt profitieren zu können, müssen Ihre Gedächtnisprozesse sehr schnell Informationen in haltbarere Speicher übertragen. Beachten Sie bitte, dass das ikonische Gedächtnis nicht das Gleiche ist wie das „fotografische Gedächtnis“, das manche Menschen zu haben angeben. Die technische Bezeichnung für „fotografisches Gedächtnis“ ist eidetische Vorstellungskraft: Menschen mit eidetischer Vorstellungskraft können sich an Details aus Bildern über eine sehr viel längere Zeitspanne hinweg erinnern, als es durch das ikonische Gedächtnis möglich wäre. Es ist, als ob sie immer noch auf eine Fotografie blicken würden. „Menschen“ bezeichnet in diesem Falle tatsächlich Kinder und Jugendliche: Die Forschung schätzt, dass unter ihnen etwa acht
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Abbildung 7.4: Erinnern mit der Teilberichtsmethode. Die durchgezogene Linie zeigt die durchschnittliche Zahl erinnerter Items bei der Teilberichtsmethode (hochgerechnet auf zwölf Items). Der Ton wurde entweder unmittelbar nach der Präsentation der visuellen Anordnung oder zu einem von vier späteren Zeitpunkten gegeben. Zum Vergleich zeigt die gepunktete Linie die Anzahl erinnerter Items bei der Ganzberichtsmethode (nach Sperling, 1960).
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Prozent Eidetiker sind, während Erwachsene diese Fähigkeit sehr selten besitzen (Neath & Suprenant, 2003). Bislang wurde noch keine zufriedenstellende Theorie vorgelegt, warum die eidetische Vorstellungskraft mit dem Lebensalter abnimmt (Crowder, 1992). Wenn Sie dieses Buch im Studierendenalter lesen, besitzen Sie mit größter Wahrscheinlichkeit ein ikonisches Gedächtnis, wenn auch keine eidetische Vorstellungskraft.
7.2.2 Kurzzeitgedächtnis Bevor Sie begonnen haben, dieses Kapitel zu lesen, waren Sie sich vielleicht nicht bewusst darüber, dass Sie über ein ikonisches und ein echoisches Gedächtnis verfügen. Wahrscheinlich waren Sie sich jedoch darüber bewusst, dass es Gedächtnisinhalte gibt, die Ihnen nur kurze Zeit zur Verfügung stehen. Betrachten Sie nur einmal die gewöhnliche Begebenheit, die Telefonnummer eines Freundes im Telefonbuch nachzuschlagen, und die Nummer dann so lange zu behalten, bis Sie sie gewählt haben. Wenn die Nummer besetzt ist, müssen Sie oftmals geradewegs wieder zurück zum Telefonbuch. Wenn Sie diese Erfahrung überdenken, verstehen Sie leicht, warum Forscher die Annahme eines speziellen Typs von Gedächtnis trafen, das als Kurzzeitgedächtnis (KZG; englisch: STM von short-term memory) bezeichnet wird. Sie sollten sich das Kurzzeitgedächtnis nicht als einen bestimmten Ort vorstellen, wohin die Gedächtnisinhalte abgelegt werden. Vielmehr hilft die Vorstellung eines eingebauten Mechanismus, der die kognitiven Ressourcen auf eine kleine Menge mentaler Repräsentationen hin bündelt (Shiffrin, 2003). Die Ressourcen des Kurzzeitgedächtnisses sind allerdings flüchtig. Wie auch die Erfahrung mit Telefonnummern zeigt, müssen Sie besondere Sorgfalt walten lassen, um sicherzustellen, dass die Gedächtnisinhalte in stärker überdauernder Form enkodiert werden. Wir werden in der Darstellung jene Formen von Ressourcen des Kurzzeitgedächtnisses stark gewichten, die zum Aufbau expliziter Gedächtnisinhalte führen. Diese Gewichtung ist erforderlich, da die Forschung gerade erst begonnen hat, die Repräsentationen impliziter Gedächtnisinhalte im Kurzzeitgedächtnis zu untersuchen (McKone & Trynes, 1999). Erste Ergebnisse legen nahe, dass auch implizite Gedächtnisinhalte ein Stadium durchlaufen, in dem sie zusätzliche Ressourcen des Kurzzeitgedächtnisses benötigen, bevor sie Inhalte des Langzeitgedächtnisses werden.
7.2 Sensorisches Gedächtnis
Kapazitätsbeschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses In Kapitel 4 haben wir beschrieben, wie Ihre Aufmerksamkeitsressourcen eine Auswahl an Objekten und Ereignissen der externen Welt treffen, für die Sie Ihre mentalen Ressourcen aufwenden. Ebenso wie es Beschränkungen gibt, seine Aufmerksamkeit mehr als einer kleinen Auswahl verfügbarer Informationen zuzuwenden, gibt es Beschränkungen der Fähigkeit, mehr als eine kleine Auswahl von Informationen im Kurzzeitgedächtnis aktiv zu halten. Die beschränkte Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses zwingt zu einer scharfen Bündelung der mentalen Aufmerksamkeit. Um die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses zu schätzen, haben sich die Forscherinnen und Forscher zunächst der Bestimmung der Gedächtnisspanne bedient. Vielleicht wurden Sie in Ihrem Leben schon einmal gebeten, eine Aufgabe wie die folgende auszuführen:
AUS DER FORSCHUNG Lesen Sie die folgende Zufallsliste von Ziffern, decken Sie sie ab, und schreiben Sie dann so viele Ziffern wie möglich in der richtigen Reihenfolge. 8 1 7 3 4 9 4 2 8 5 Wie viele haben Sie richtig? Lesen Sie nun die folgende Zufallsliste von Buchstaben und führen Sie die gleiche Gedächtnisaufgabe aus. J M R S O F L P T Z B Wie viele haben Sie richtig?
Wenn es Ihnen so wie den meisten Menschen geht, konnten Sie sich wahrscheinlich an zwischen fünf und neun Items erinnern. George Miller (1956) schlug die Zahl sieben (plus minus zwei) als die „magische Zahl“ vor, welche die Gedächtnisleistung von Menschen charakterisiert, wenn sie sich Zufallsfolgen merken sollen, die aus Buchstaben, Wörtern, Zahlen oder praktisch jedem bedeutungshaltigen und vertrauten Material bestehen. Diese Tests zur Gedächtnisspanne überschätzen jedoch die wahre Gedächtnisspanne, da die Probanden andere Informationsquellen nutzen können, um die Aufgabe auszuführen. Wenn andere Erinnerungsquellen herausgerechnet werden, trägt das Kurzzeitgedächtnis laut den Berechnungen der Forscher nicht mehr als drei bis fünf Items zu den etwa sieben Ihrer Gedächtnisspanne bei (Cowan, 2001). Wenn damit
Welche Rolle spielt das Kurzzeitgedächtnis, wenn Sie Ihren PINCode eintippen? aber unsere Kapazität erschöpft ist, um den Erwerb neuer Gedächtnisinhalte einzuleiten, warum fällt uns diese Begrenzung nicht öfter auf? Trotz der Kapazitätsgrenzen des KZG erinnern wir uns effizient, und zwar aus mindestens zwei Gründen: Wie wir in den nächsten beiden Abschnitten sehen werden, kann das Enkodieren von Information im KZG durch Rehearsal und Chunking verbessert werden.
Rehearsal Sie kennen das sicherlich: Eine gute Methode, sich die Telefonnummer eines Freundes zu merken, ist es, die Ziffern ständig im Kopf kreisen zu lassen. Diese Mnemotechnik wird als erhaltende Wiederholung (englisch: maintenance rehearsal) bezeichnet. Das Schicksal nicht wiederholter Informationen wurde in einem einfallsreichen Experiment demonstriert:
AUS DER FORSCHUNG Die Probanden hörten drei Konsonanten, beispielsweise F, C und V. Auf ein Signal hin, das nach einer variablen Zeitspanne zwischen 3 und 18 Sekunden gegeben wurde, sollten die Konsonanten wiedergegeben werden. Um er-
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haltendes Wiederholen zu verhindern, wurde eine Distraktoraufgabe zwischen dem Reizinput und dem Abrufsignal eingefügt – den Probanden wurde eine dreistellige Zahl präsentiert und sie sollten in Dreierschritten rückwärts zählen, bis das Abrufsignal dargeboten wurde. Viele verschiedene Konsonantenkombinationen wurden verwendet, viele verschiedene kurze Zeitspannen fanden Anwendung und es wurden viele Probanden getestet. Wie 씰 Abbildung 7.5 zu entnehmen ist, sank die Abrufleistung mit zunehmender Zeitspanne, für welche die Informationen behalten werden sollten. Bereits nach drei Sekunden sind viele Gedächtnisinhalte verloren, und nach 18 Sekunden sind nahezu alle verschwunden. Erhält man keine Gelegenheit, die Informationen erhaltend zu wiederholen, wird der Abruf aus dem Kurzzeitgedächtnis mit zunehmender Zeit immer stärker beeinträchtigt (Peterson & Peterson, 1959)
Die Abrufleistung ist gesunken, da die Informationen nicht wiederholt werden konnten. Die Interferenz durch konkurrierende Informationen aus der Distraktoraufgabe beeinträchtigt ebenfalls die Leistung. (Wir werden weiter unten in diesem Kapitel auf Interferenz als Ursache des Vergessens zurückkommen.) Ihnen ist vielleicht aufgefallen, dass Sie den Namen einer Person, die Sie gerade kennen gelernt haben, manchmal sofort, nachdem er Ihnen gesagt wurde, wieder vergessen. Üblicherweise liegt das daran, dass sie abgelenkt wurden und den Namen nicht wiederholen konnten, was aber notwendig gewesen wäre, um sich den neuen
Abbildung 7.5: Abruf aus dem Kurzzeitgedächtnis ohne Rehearsal. Wird in dem Intervall zwischen Reizgabe und Abruf eine Distraktoraufgabe gegeben, dann sinkt die Abrufleistung mit zunehmendem Intervall.
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Gedächtnisinhalt anzueignen. Es hilft, den neuen Namen zu enkodieren und zu wiederholen, bevor man mit der Konversation fortfährt. Unsere bisherige Schlussfolgerung ist, dass das Wiederholen hilft, die Informationen vor einem Verblassen im Kurzzeitgedächtnis zu bewahren. Stellen Sie sich jedoch vor, dass die anzueignenden Informationen zumindest zu Beginn zu sperrig sind, um sie zu wiederholen. Vielleicht gehen Sie dann zur Strategie des Chunking über.
Chunking Ein Chunk bezeichnet eine bedeutungsvolle Informationseinheit (Anderson, 1996). Ein Chunk kann ein einzelner Buchstabe sein oder eine Zahl, eine Buchstabenfolge oder Folge von Items oder sogar eine Folge von Wörtern oder gar ein ganzer Satz. Beispielsweise besteht die Folge 1-9-8-4 aus vier Ziffern, welche die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses aufbrauchen könnten. Wenn Sie aber die Ziffernfolge als Jahreszahl oder als den Titel des Buches von George Orwell ansehen, bilden sie lediglich einen Chunk, und somit bleibt viel mehr Kapazität für andere Chunks von Informationen übrig. Chunking ist ein Prozess der Rekonfiguration von Items, indem sie auf der Basis von Ähnlichkeit oder anderen Organisationsprinzipien gruppiert werden. Oder sie werden zu größeren Mustern kombiniert auf der Basis von Informationen, die im Langzeitgedächtnis gespeichert sind (Baddeley, 1994). Wie viele Chunks finden Sie in dieser Folge, die aus 20 Ziffern besteht: 16181870191419391989. Sie können „20“ antworten, wenn Sie die Folge als eine Liste unzusammenhängender Ziffern sehen, oder „5“, wenn Sie die Folge in die Jahreszahlen großer Ereignisse der deutschen Geschichte (Ausbruch des 30-jährigen Krieges, des deutsch-französischen Krieges, des ersten und zweiten Weltkrieges und die Wiedervereinigung Deutschlands) einteilen. Wenn Sie Letzteres tun, fällt es Ihnen bereits nach einem kurzen Blick auf die Zahlen leicht, sich an alle Ziffern in der richtigen Reihenfolge zu erinnern. Es wäre Ihnen nicht möglich, sich bei einer kurzen Darbietungszeit an alle Ziffern zu erinnern, wenn Sie diese als 20 unzusammenhängende Items verstünden. Ihre Gedächtnisspanne kann immer deutlich vergrößert werden, wenn Sie Wege finden, eine große Informationsmenge in Chunks geringerer Zahl zu organisieren. Eine berühmte Person, S. F., konnte sich 84 Ziffern merken, indem er sie gruppierte, als wären es Zeitergebnisse in Wettläufen (S. F. war ein begeisterter Marathonläufer):
7.2 Sensorisches Gedächtnis
AUS DER FORSCHUNG Die Gedächtnisprotokolle von S. F. bilden den Schlüssel für seine unglaubliche mentale Fertigkeit. Da er Marathonläufer war, stellte S. F. fest, dass viele der Zufallszahlen zu Laufzeiten für verschiedene Distanzen gruppiert werden konnten. Beispielsweise rekodierte er die Folge 3, 4, 9, 2, 5, 6, 1, 4, 9, 3, 5 als 3:49.2, nahe dem Laufrekord für eine Meile; 56:14, Zeit für zehn Meilen; 9:35, zwei Meilen langsam gelaufen. Später benutzte S. F. auch Altersangaben, Jahreszahlen wichtiger Ereignisse und spezielle Zahlenmuster, um die Zufallsziffern zu gruppieren. Auf diese Art und Weise konnte er sein Langzeitwissen nutzen, um lange Folgen von Zufallsinput in handhabbare und bedeutungsvolle Chunks zu konvertieren. Das Erinnerungsvermögen von S. F. für Buchstaben war jedoch trotzdem durchschnittlich, da er keine Chunkingstrategien entwickelt hatte, um Buchstabenfolgen wiederzugeben (Chase & Ericsson, 1981; Ericsson & Chase, 1982).
Wie können Sie Chunking gewinnbringend einsetzen, während Sie eine Vorlesung hören? Sie können ebenfalls wie S. F. eingehende Informationen strukturieren, indem Sie persönliche Bedeutungen zuordnen (beispielsweise können Sie sie mit dem Alter von Freunden oder Verwandten verbinden); oder Sie können neue Stimuli mit unterschiedlichen Kodes verbinden, die in Ihrem Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Aber auch wenn Sie neue Stimuli nicht mit Regeln, Bedeutungen oder Kodes im Langzeitgedächtnis verbinden können, können Sie trotzdem Chunking anwenden. Sie können die Items in ein rhythmisches Muster oder zeitlich gruppieren (aus 181379256460 könnte werden 181, Pause, 379, Pause, 256, Pause, 460). Sie kennen sicherlich aus Ihrer Alltagserfahrung, dass dieses Gruppierungsprinzip für das Behalten von Telefonnummern gut funktioniert.
7.2.3 Arbeitsgedächtnis Unsere Aufmerksamkeit lag bislang auf dem Kurzzeitgedächtnis, und speziell auf der Rolle, die es bei der expliziten Aneignung neuer Gedächtnisinhalte spielt. Allerdings hatten wir bereits zuvor angemerkt, dass mehr Gedächtnisressourcen zur Herstellung der Kontinuität von Augenblick zu Augenblick benötigt werden als jene, die uns die Aneignung von Fakten erlauben. Beispielsweise müssen Sie auch in der Lage sein, bereits bestehende Gedächtnisinhalte wiederzufinden. Am Anfang dieses Kapitels baten wir Sie, sich eine Zahl zu merken. Können Sie sich jetzt daran erinnern, wie sie lautete? Sollten Sie sich an die Zahl erinnern (falls nicht, schauen Sie noch einmal nach), dann haben Sie Ihre mentale Repräsentation dieses Gedächtnisinhalts wieder aktiviert – dies ist eine weitere Funktion des Gedächtnisses. Wenn wir Sie nun bitten würden, etwas Komplizierteres zu tun – sagen wir, Sie sollten einen Ball von Hand zu Hand hin- und herwerfen, während Sie in Dreierschritten von 132 rückwärts zählen –, dann würden Sie noch mehr Anforderungen an Ihre Gedächtnisressourcen stellen. Basierend auf einer Analyse der benötigten Gedächtnisfunktionen, um sich im Leben zurecht zu finden, haben Forscher Theorien des Arbeitsgedächtnisses formuliert – jener Gedächtnisressource, die wir für solche Aufgaben wie Schlussfolgern und Sprachverstehen nutzen. Angenommen, Sie möchten eine Telefonnummer behalten, während Sie nach Block und Bleistift suchen, um sie aufzuschreiben. Während Ihre Kurzzeitgedächtnisprozesse es Ihnen ermöglichen, die Nummer im Gedächtnis zu behalten, können Sie mit dem übergreifenden Arbeitsgedächtnis gleichzeitig die geistigen Prozesse durchführen, die zu einer
In welcher Hinsicht ist die Suche im Kurzzeitgedächtnis analog zur Suche in einer großen Forschungsbibliothek?
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effizienten Suche gehören. Das Arbeitsgedächtnis stellt eine Grundlage für den Fluss der Gedanken und Handlungen von Moment zu Moment bereit. Theorien des Arbeitsgedächtnisses betrachten oft das „klassische“ Kurzzeitgedächtnis als eine seiner Komponenten. Alan Baddeley und seine Kollegen (Baddeley, 1986, 1992; Baddeley & Andrade, 2000) haben Belege für drei Komponenten des Arbeitsgedächtnisses vorgelegt: Eine phonologische Schleife (englisch: phonological loop): Diese Ressource speichert und sie manipuliert sprachbasierte Informationen. Die phonologische Schleife weist große Überschneidungen mit dem Kurzzeitgedächtnis auf, so wie wir es in vorangegangenen Abschnitten beschrieben haben. Wenn Sie eine Telefonnummer dadurch wiederholen, dass Sie sie „hören“, während Sie sie im Kopf durchgehen, dann benutzen sie die phonologische Schleife. Einen visuell-räumlichen Notizblock (englisch: visuospatial sketchpad): Diese Ressource führt die gleichen Arten von Funktionen aus wie die phonologische Schleife, allerdings für visuelle und räumliche Informationen. Wenn Sie beispielsweise gefragt würden, wie viele Tische in Ihrem Lieblingscafé stehen, könnten Sie die Ressource des visuell-räumlichen Notizblocks benutzen, um sich ein mentales Bild des Cafés aufzubauen, und dann die Zahl der Tische anhand dieses Bildes schätzen. Die zentrale Exekutive (englisch: central executive): Diese Ressource ist für die Kontrolle der Aufmerksamkeit verantwortlich sowie für die Koordination von Informationen aus der phonologischen Schleife und dem visuell-räumlichen Notizblock. Immer wenn Sie eine Aufgabe ausführen, die eine Kombination mentaler Prozesse erfordert – stellen Sie sich vor, Sie werden beispielsweise gebeten, ein Bild aus dem Gedächtnis heraus zu beschreiben –, dann verlassen Sie sich auf die zentrale exekutive Funktion der Aufteilung Ihrer mentalen Ressourcen auf verschiedene Aspekte der Aufgabe. (Wir werden zu dieser Auffassung in Kapitel 8 zurückkehren.) Die Einbettung des Kurzzeitgedächtnisses in den größeren Kontext des Arbeitsgedächtnisses sollte helfen, das Kurzzeitgedächtnis nicht als Ort, sondern als Prozess zu verstehen. Um den Aufgaben der Kognition –
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kognitive Tätigkeiten wie Sprachverarbeitung oder Problemlösen – gerecht zu werden, müssen Sie eine Menge verschiedener Elemente in schneller Folge zusammenbringen. Man kann das Arbeitsgedächtnis als eine kurzfristige, spezifische Fokussierung auf die benötigten Elemente verstehen. Wenn Sie einen genaueren Blick auf ein physikalisches Objekt werfen wollen, dann können Sie ein helleres Licht darauf werfen; das Arbeitsgedächtnis wirft ein helleres mentales Licht auf Ihre mentalen Objekte – Ihre Gedächtnisrepräsentationen. Das Arbeitsgedächtnis koordiniert die notwendigen Aktivitäten, um mit diesen Objekten umzugehen. Die Forschung hat gezeigt, dass sich Menschen im Hinblick auf die Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses unterscheiden. Es wurden verschiedene Verfahren entwickelt, um diese Unterschiede zu messen (Conway et al., 2005). Ein Beispiel für diese Verfahren ist das verbreitete Maß der Arbeitsgedächtnisspanne. Um die Arbeitsgedächtnisspanne zu bestimmen, werden Probanden gebeten, eine Reihe von Sätzen laut zu lesen und anschließend die jeweils letzten Wörter der Sätze wiederzugeben. Wir haben für Sie einige Sätze in 씰 Tabelle 7.1 zusammengestellt. Es ist wirklich nicht einfach! Eine Spanne von etwa vier oder mehr erinnerten Wörtern wird als große Spanne betrachtet, 2,5 oder weniger als kleine Spanne – dies sind Durchschnittswerte für eine Vielzahl von Durchgängen und verschiedene Sätze, daher erhalten Sie durch die Bearbeitung von Tabelle 7.1 nur einen kleinen Ausschnitt an Informationen über sich selbst.
Tabelle 7.1
Ein Test der Arbeitsgedächtnisspanne Lesen Sie diese Sätze laut und versuchen Sie dann (ohne zu spicken), das jeweils letzte Wort jedes Satzes wiederzugeben. Er hat sie bevormundet, als sie ein Schulmädchen war, und sie gegängelt, als sie studierte. Er hatte einen länglichen Schädel, der auf seinen Schultern saß wie eine Birne auf einem Teller. Die Produkte digitaler Elektronik werden zukünftig eine entscheidende Rolle spielen. Das Taxi fuhr Richtung Michigan Avenue, wo sie einen klaren Blick auf den See hatten. Als sich zuletzt seine Augen öffneten, war kein Glanz von Triumph zu sehen, kein Schatten von Zorn. Quelle: Daneman & Carpenter, 1980.
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
Da die Arbeitsgedächtnisspanne ein Maß für die verfügbaren Ressourcen ist, kurzfristige kognitive Prozesse auszuführen, können die Forscher es zur Vorhersage von Leistungen in vielen Aufgaben heranziehen. Beispielsweise können Menschen mit dem Arbeitsgedächtnis Informationsbruchstücke zusammensetzen und sie zu komplexeren Gedächtnisinhalten kombinieren. Im Großen und Ganzen gilt, dass Menschen umso mehr Information integrieren können, je größer die Kapazität ihres Arbeitsgedächtnisses ist.
AUS DER FORSCHUNG Forscher haben Gruppen von Menschen mit niedriger und hoher Arbeitsgedächtniskapazität zusammengestellt (von Hecker & Dutke, 2004). Jeder Teilnehmer sollte die soziale Gesamtstruktur einer Gruppe herausfinden – sie versuchten beispielsweise zu bestimmen, wie viele Cliquen es innerhalb der Gruppe gab. Die zur Beurteilung der Sozialstruktur zur Verfügung stehenden Informationen waren Aussagen über paarweise Beziehungen wie etwa „Bob versteht sich gut mit Paul.“ Die Probanden hatten jeweils 7 Sekunden Zeit, um sich eine Beziehung zu merken. Nachdem sie alle Informationen verarbeitet hatten, versuchten sie eine Grafik zur Struktur der Gruppe zu erstellen, so wie sie sie verstanden hatten. Die Experimentatoren zählten, wie oft diese Grafiken korrekte Beziehungen darstellten – die höchste erreichbare Zahl war 60. Im Durchschnitt erinnerten sich Menschen mit großer Arbeitsgedächtniskapazität an 48 Paarungen richtig; solche mit geringer Kapazität an durchschnittlich 38 Paarungen.
Dieses Experiment bestätigte die Erwartung, dass eine größere Kapazität des Arbeitsgedächtnisses es einem Menschen ermöglicht, mehr separate Informationsinhalte zu speichern. Durch Experimente zur Kapazität des Arbeitsgedächtnisses kann herausgefunden werden, wie die verschiedenen Menschen ihre Gedächtnisressourcen einsetzen. Eine abschließende Bemerkung zum Arbeitsgedächtnis: Das Arbeitsgedächtnis hilft Ihnen, Ihre psychologische Gegenwart aufrechtzuerhalten. Es setzt Ihnen einen Kontext für neue Ereignisse und verbindet getrennte Episoden zu einer zusammenhängenden Geschichte. Es ermöglicht Ihnen, Repräsentationen einer wechselnden Situation aufrechtzuerhalten und ständig zu aktualisieren und ermöglicht Ihnen, dem Verlauf eines Gesprächs zu folgen. Dies ergibt sich daraus, dass das Arbeitsgedächtnis als Pipeline für Informationen von und zum Langzeitgedächtnis dient. Wir wollen nun unsere Aufmerksamkeit auf jene Formen von Gedächtnisinhalten lenken, die ein Leben lang anhalten können.
ZWISCHENBILANZ 1 Warum glauben Forscher, dass das ikonische Gedächt-
nis eine große Kapazität besitzt? 2 Wie groß wird gegenwärtig die Kapazität des Kurzzeit-
gedächtnisses geschätzt? 3 Was versteht man unter dem Begriff Chunking? 4 Aus welchen Komponenten besteht das Arbeitsge-
dächtnis? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie, in der die Wichtigkeit des Rehearsals für die Bewahrung von Information im Kurzzeitgedächtnis aufgezeigt wurde. Warum sollten die Probanden in Dreierschritten (zum Beispiel 167, 164, 161, …) statt in Einerschritten (zum Beispiel 167, 166, 165, …) rückwärts zählen?
Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
7.3
Wie lange können Gedächtnisinhalte bestehen? Betrachten Sie eine 70-jährige Frau, die sich lebhaft an die Bombardierung Dresdens im zweiten Weltkrieg erinnert. Sie erinnert sich genau daran, wie sie sich fühlte, als sie und die Nachbarskinder Schutz vor einem Bombenangriff suchten. Sie rannte zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Lieblingspuppe in den Keller, der mit Matratzen ausgelegt war. Auf dem Regal standen einige Dosen mit Konserven. Keine folgenden Gedächtnisinhalte haben den Schrecken und die Furcht verdrängt, die sie als junges Mädchen während des Bombenangriffs erlebt hat. Wenn Psychologen und Psychologinnen von Langzeitgedächtnis sprechen, dann bezeichnen sie Gedächtnisinhalte, die oftmals eine Leben lang überdauern. Daher muss jede Theorie, die erklärt, wie Gedächtnisinhalte in das Langzeitgedächtnis gelangen, auch erklären, wie diese über die gesamte Dauer eines Lebens zugänglich bleiben können. Das Langzeitgedächtnis (LZG) ist die Lagerhalle aller Erfahrungen, Ereignisse, Informationen, Emotionen, Fertigkeiten, Wörter, Kategorien, Regeln und Beurteilungen, die über das sensorische Gedächtnis und das Kurzzeitgedächtnis angeeignet wurden. Das Langzeitgedächtnis eines Menschen bestimmt sein gesamtes Wissen von der Welt und von sich selbst. Psychologen wissen, dass der Erwerb neuer Langzeitinformationen oftmals leichter ist, wenn eine wichtige Schlussfolgerung vorangestellt wird. Mithilfe dieser Schlussfolgerung besitzen Sie einen Rahmen,
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um die eintreffenden Informationen zu verstehen. In Bezug auf Ihr Gedächtnis werden wir zu folgender Schlussfolgerung kommen: Ihre Erinnerungsfähigkeit wird dann am besten sein, wenn die Umstände, unter denen Sie Informationen enkodiert haben, möglichst gut zu jenen Umständen passen, unter denen sie die Informationen wieder abrufen wollen. Was „möglichst gut zueinander passen“ bedeutet, werden wir im Laufe der nächsten Abschnitte sehen.
7.3.1 Hinweisreize beim Abruf Um zu erforschen, wie der Abruf von Enkodierungen funktioniert, stellen wir zunächst eine allgemeine Frage: Wie „findet“ man einen Gedächtnisinhalt? Die grundlegende Antwort ist, dass wir Hinweisreize beim Abruf benutzen. Als Hinweisreize beim Abruf (englisch: retrieval cues) dienen Stimuli, die bei der Suche nach einem bestimmten Gedächtnisinhalt verfügbar sind. Diese Hinweisreize können von außen kommen, wie etwa Fragen bei einem Quiz („Welche Gedächtnisprinzipien fallen Ihnen zu der Forschung von Sternberg und Sperling ein?“), oder sie können intern generiert werden („Wo habe ich sie bloß zuvor schon mal getroffen?“). Immer wenn Sie versuchen, sich an einen expliziten Gedächtnisinhalt zu erinnern, tun Sie dies mit einer bestimmten Zielsetzung, und diese Zielsetzung liefert häufig den Hinweisreiz. Es wird Sie nicht überraschen, dass es entsprechend leichter oder schwerer fällt, einen Gedächtnisinhalt wiederzuerlangen, je nach Qualität des Hinweisreizes. Wenn Sie von einer Freundin gefragt werden: „Wie heißt der römische Herrscher, der mir gerade nicht einfällt?“, ist es für Sie wie bei einem Ratespiel. Fragt sie allerdings: „Wie hieß der römische Herrscher, der auf Claudius folgte?“, können Sie möglicherweise mit Leichtigkeit „Nero“ antworten. Um Ihnen die Bedeutung von Hinweisreizen beim Abruf zu verdeutlichen, stellen wir in den nächsten Abschnitten klassische Gedächtnisexperimente nach. Ihre Aufgabe wird hierbei sein, sich einige Wortpaare zu merken. Prägen Sie sich das Material so lange ein, bis Sie die sechs Wortpaare dreimal hintereinander fehlerfrei beherrschen. Apfel – Boot Hut – Knochen Fahrrad – Uhr Maus – Baum Ball – Haus Ohr – Bettdecke
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Jetzt, da Sie die Paare im Gedächtnis haben, wollen wir die Aufgabe etwas interessanter gestalten. Wir brauchen etwas, um ein Behaltensintervall herzustellen – eine Zeitspanne, über die sie die Information im Gedächtnis behalten müssen. Wir werden daher etwas Zeit damit verbringen, Ihnen einige Methoden vorzustellen, die wir für Ihren Gedächtnistest einsetzen werden. Sie sind vielleicht der Ansicht, dass Sie entweder etwas wissen oder eben auch nicht wissen und dass jede Testmethode zum gleichen Ergebnis kommen müsste. So ist es aber nicht. Beispielsweise werden wir sehen, dass Tests zum impliziten und zum expliziten Gedächtnis sehr unterschiedliche Ergebnisse erbringen können. Lassen Sie uns aber im Moment zwei Tests für das explizite Gedächtnis betrachten, Abruf (englisch: recall) und Wiedererkennen (englisch: recognition).
Abruf und Wiedererkennen Wenn Sie einen Abruf durchführen, reproduzieren Sie die Informationen, denen Sie zuvor ausgesetzt waren. „Was ist der serielle Positionseffekt?“ – ist eine Abruffrage. Wiedererkennen bezieht sich auf den Umstand, etwas als zuvor Gesehenes oder Gehörtes zu beurteilen. „Wie lautet die Bezeichnung für einen visuellsensorischen Gedächtnisinhalt: (1) Echo; (2) Engramm; (3) ikonische Repräsentation oder (4) abstrakter Kode?“ – ist eine Wiedererkennensfrage. Sie können eine Verbindung zwischen Abruf und Wiedererkennen und Ihren täglichen Erfahrungen mit dem expliziten Gedächtnis herstellen. Wenn die Polizei versucht, einen Kriminellen zu identifizieren, dann benutzt sie eine Abrufmethode. Hierbei soll das Opfer aus dem Gedächtnis heraus unterscheidbare Merkmale des Täters beschreiben: „Haben Sie etwas Ungewöhnliches an dem Angreifer bemerkt?“ Weiterhin kann die Wiedererkennensmethode zur Anwendung kommen. Dem Opfer werden Fotos aus der Verbrecherkartei gezeigt, eines nach dem anderen, oder es soll den Täter durch eine Gegenüberstellung identifizieren, wobei der Täter aus einer Gruppe von Personen wiederzuerkennen ist. Lassen Sie uns nun diese beiden Methoden anwenden, um Ihre Gedächtnisleistung im Hinblick auf die Wortpaare zu testen, die Sie kurz zuvor gelernt haben. Welche Wörter fehlen in den Paaren? Hut – ?
Fahrrad – ?
Ohr – ?
Können Sie das richtige Paar aus diesen Möglichkeiten auswählen?
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
Apfel –Baby Apfel – Boot Apfel – Flasche
Maus – Baum Maus – Zunge Maus – Zelt
Ball – Haus Ball – Berg Ball – Horn
War der Wiedererkennenstest einfacher als der Abruftest? So sollte es sein. Lassen Sie uns dieses Ergebnis im Hinblick auf Hinweisreize beim Abruf erklären. Sowohl Abruf als auch Wiedererkennen erfordern eine Suche anhand von Hinweisreizen. Für das Wiedererkennen sind die Hinweisreize allerdings viel nützlicher. Beim Abruf müssen Sie darauf hoffen, dass der Hinweisreiz alleine Ihnen hilft, die Information zu finden. Beim Wiedererkennen haben andere einen Teil dieser Arbeit für Sie erledigt. Wenn Sie das Paar Maus – Baum sehen, müssen Sie lediglich mit „Ja“ oder „Nein“ auf die Frage: „Hatte ich bereits diese Erfahrung?“ antworten. Wollen Sie jedoch auf Maus – ? antworten, so stellt sich die Frage: „Welche Erfahrung hatte ich?“ In diesem Licht können Sie verstehen, dass wir die Wiedererkennensaufgabe für Sie leicht gemacht haben. Stellen Sie sich jedoch vor, wir hätten Ihnen Neukombinationen der ursprünglichen Paare dargeboten. Welche dieser Paare sind zutreffend? Hut – Uhr Hut – Knochen
Ohr – Boot Ohr – Bettdecke
Sie müssen jetzt nicht nur wiedererkennen, dass Sie das Wort bereits gesehen haben, sondern auch, dass sie es in einem bestimmten Kontext gesehen haben. (Wir werden in Kürze auf die Idee des Kontextes zurückkommen.) Sollten Sie sehr geübt sein im Lösen von Multiple-Choice-Klausuren, dann wissen Sie sicherlich, wie schwierig auch Wiedererkennenssituationen sein können. Allerdings wird Ihre Leistung beim Wiedererkennen in der Regel höher sein als beim Abruf, da beim Wiedererkennen die Hinweisreize hilfreicher sind. Lassen Sie uns noch einige andere Aspekte von Hinweisreizen betrachten.
führte als Erster die Unterscheidung in episodische und semantische Formen des deklarativen Wissens ein. Episodische Gedächtnisinhalte bewahren die individuellen und spezifischen Ereignisse auf, die Sie persönlich erlebt haben. Beispielsweise könnten Gedächtnisinhalte wie Ihr schönster Geburtstag, Ihr erster Kuss und so fort in Ihrem episodischen Gedächtnis gespeichert sein. Um solche Gedächtnisinhalte wiederzufinden, benötigen Sie Hinweisreize, die etwas über den Zeitpunkt und den Inhalt des gesuchten Ereignisses aussagen. Abhängig von der Art und Weise, wie die Information enkodiert wurde, sind Sie in der Lage oder auch nicht, eine spezifische Gedächtnisrepräsentation eines Ereignisses zu produzieren. Besitzen Sie beispielsweise einen spezifischen Gedächtnisinhalt, der Ihnen eine Unterscheidung zwischen dem Zähneputzen von vor 10 Tagen und vor 11 Tagen erlaubte? Alles, was Sie wissen, haben Sie sich anfänglich in einem spezifischen Kontext angeeignet. Es gibt allerdings eine sehr große Menge an Informationen, der sie im Laufe der Zeit in vielen unterschiedlichen Kontexten begegnet sind. Diese Informationsklassen stehen Ihnen zur Verfügung, ohne dass Sie auf die unterschiedlichen Zeitpunkte und Orte der Erfahrung zurückgreifen. Diese semantischen Gedächtnisinhalte sind generische kategoriale Gedächtnisinhalte wie beispielsweise die Bedeutung von Wörtern und Konzepten. Für die meisten Menschen erfordern Fakten wie die Formel e = mc2 und die Hauptstadt von Frankreich keine Hinweisreize beim Abruf, die auf die Episoden, die ursprünglichen Lernkontexte beim Erwerb der Gedächtnisinhalte, verweisen.
Episodisches und semantisches Gedächtnis Wir haben bereits zweierlei Unterscheidungen zwischen Gedächtnisformen getroffen: implizites und explizites Gedächtnis sowie deklaratives und prozedurales Gedächtnis. Wir können eine weitere Dimension definieren, anhand derer sich deklarative Gedächtnisinhalte unterscheiden lassen. Diese Unterscheidung erfolgt im Hinblick auf die Hinweisreize, die zur Wiedergewinnung von Gedächtnisinhalten benötigt werden. Der kanadische Psychologe Endel Tulving (1972)
Ereignisse von persönlicher Wichtigkeit, wie etwa, wenn Sie eine Freundin nach einem Jahr das erste Mal wiedersehen, werden im episodischen Gedächtnis aufbewahrt. Welche Arten von semantischen Informationen werden wohl zu einem Treffen beitragen?
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Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Abruf aus dem semantischen Gedächtnis immer fehlerfrei wäre. Sie kennen sicherlich sehr gut den Umstand, dass Sie viele Fakten vergessen können, die von ihrem Lernkontext getrennt wurden. Wenn Sie einen semantischen Gedächtnisinhalt nicht wiederfinden können, so ist es eine gute Strategie, diesen wieder wie einen episodischen Gedächtnisinhalt zu behandeln. Indem Sie sich denken „Ich weiß, ich habe die Namen der römischen Herrscher in meinem Lateinkurs gelernt“, können Sie sich vielleicht die zusätzlichen Hinweisreize für einen erfolgreichen Abruf liefern.
7.3.2 Kontext und Enkodieren Um unsere Betrachtung der Passung zwischen Enkodierung und Abruf fortzusetzen, lassen Sie uns ein Phänomen betrachten, das man als „Kontextschock“ bezeichnen könnte. Sie sehen eine Person in einem überfüllten Raum, Sie wissen, dass Sie sie kennen, aber Sie können sie einfach nicht zuordnen. Schließlich, nachdem Sie sie länger angeblickt haben, als die Höflichkeit erlaubt, wissen Sie, wer es ist – und Sie werden gewahr, dass die Schwierigkeit darin liegt, dass die Person sich im komplett falschen Kontext befindet. Was macht die Frau, die Ihnen die Post bringt, auf der Party Ihres besten Freundes? Wann immer Sie diese Art von Erfahrung haben, haben Sie das Prinzip der Enkodierspezifität wiederentdeckt. Gedächtnisinhalte kommen am leichtesten wieder, wenn der Kontext des Abrufs mit dem Kontext der Enkodierung übereinstimmt. Betrachten wir, wie die Forschung dieses Prinzip nachgewiesen hat.
enthalten sein würde. Die Probanden sollten dann alle Wörter in der Assoziationsliste markieren, die sie als ursprünglich zu behaltende Wörter aus der ersten Phase des Experiments wiedererkannten. Sie erzielten einen Wert von 54 Prozent. Wurde ihnen allerdings später das jeweils erste Wort des Wortpaares gegeben, so konnten sie in 61 Prozent der Fälle den fehlenden Paarling abrufen. Warum war die Abrufleistung besser als das Wiedererkennen? Tulving und Thomson schlugen vor, dass dies am Wechsel des Kontexts lag. Nachdem die Probanden „schwarz“ im Kontext von „Zug“ gelernt hatten, war ein Wiederfinden der Gedächtnisrepräsentation schwierig, wenn der Kontext zu „weiß“ wechselte. Wenn bereits dieser geringe Kontext einen Effekt erbringt, können Sie sich vorstellen, dass ein reichhaltiger Kontext, wie er im täglichen Leben besteht, noch einen größeren Effekt zeigen wird. Die Forschung konnte sehr beachtliche Effekte des Kontextes auf das Gedächtnis nachweisen. In einem Experiment lernten Taucher Wortlisten entweder am Strand oder unter Wasser. Sie wurden dann in einem der beiden Kontexte auf das Behalten hin getestet. Die Behaltensleistung war etwa 50 Prozent höher, wenn der Kontext von Enkodieren und Abruf übereinstimmte, obwohl das Material überhaupt nichts mit Wasser oder Tauchen zu tun hatte (Gooden & Baddeley, 1975). In die gleiche Richtung zielt das Ergebnis, dass Menschen bessere Leistungen in Gedächtnistests erbrachten, wenn das Tempo von Hintergrundmusik bei der Enkodierung und dem Abruf gleich blieb (Balch & Lewis, 1996). In einer weiteren Studie wurde die Gedächtnisleistung deutlich erhöht, wenn der Geruch von Schokolade bei der Enkodierung und dem Abruf vorhanden war (Schab, 1990). Diese Forschung zu kon-
Enkodierspezifität Welche Konsequenzen hat es, Informationen in einem bestimmten Kontext zu lernen? Tulving und Thomson (1973) zeigten als Erste die Kraft der Enkodierspezifität, indem sie die übliche Beziehung der Leistungen zwischen Abruf und Wiedererkennen umkehrten.
AUS DER FORSCHUNG Die Probanden lernten Wortpaare wie „Zug – schwarz“ und wurden instruiert, sich nur das zweite Wort des Paares zu merken. In der Folgephase des Experiments sollten sie vier Wörter zu einem vorgegebenen Wort assoziieren, beispielsweise zu „weiß“. Diese Vorgabewörter wurden so ausgewählt, dass das ursprünglich zu erinnernde Wort (beispielsweise „schwarz“) mit großer Wahrscheinlichkeit
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Wenn Sie von diesem Mann einen Strafzettel erhalten hätten, warum würden Sie ihn vielleicht nicht mehr wiedererkennen, falls Sie ihm zufällig bei einer Party begegnen?
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
textabhängigen Gedächtnisleistungen mit Gerüchen wurde dahingehend erweitert, dass angenommen wird, die Gerüche müssen in der Umwelt markant sein.
AUS DER FORSCHUNG Welche Gerüche sind hinreichend unterscheidbar, um kontextabhängige Gedächtnisinhalte zu befördern? In einigen Experimenten wurden Düfte verwendet, die für die Probanden neu waren (Osmanthus, „ein ungewöhnliches, asiatisches, blumig-fruchtiges Parfum“; Herz, 1997, S. 375), ein vertrauter Duft, der jedoch in einem Forschungslabor ungewöhnlich ist (Pfefferminze), und ein vertrauter Duft, der in Labors eher gewöhnlich ist (frische Tanne). Die überprüfte Hypothese bestand darin, dass ausschließlich die beiden Düfte für die Enkodierung genutzt würden, die Aufmerksamkeit erregten – sowohl der nicht vertraute Duft (Osmanthus) wie auch der an diesem Ort ungewöhnliche (Pfefferminze). Die Ergebnisse bestätigten diese Hypothese. Obwohl zwischen Enkodierung und Abruf 48 Stunden lagen, konnten sich die Probanden zuverlässig an mehr Wörter (aus einer Liste von 20 Items) erinnern, wenn der Duft im Labor beim Abruf und bei der Enkodierung der gleiche war. Doch galt dies nur für Osmanthus und Pfefferminze (Herz, 1997).
Diese Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass nicht alle Umweltdüfte gleichermaßen unterscheidbar sind, um einen Kontext zur Gedächtnisenkodierung zu liefern. Was genau unterscheidbar ist, ändert sich mit dem Kontext. In einem Süßwarenladen wird Pfefferminze wahrscheinlich seine Kraft verlieren, ein markantes Element des Kontextes zu sein.
Der serielle Positionseffekt Wir können Kontextwechsel heranziehen, um einen der klassischen Effekte in der Gedächtnisforschung zu erklären: den seriellen Positionseffekt. Stellen Sie sich vor, Sie sollten eine Liste unzusammenhängender Wörter lernen. Wenn wir Sie bitten würden, diese Wörter in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben, würden Ihre Daten wahrscheinlich dem Muster in 씰 Abbildung 7.6 entsprechen: Sie hätten eine gute Leistung bei den ersten Wörtern (Primacy-Effekt) sowie bei den letzten Wörtern (Recency-Effekt), jedoch nur eine geringe Leistung im mittleren Teil der Liste. Abbildung 7.6 zeigt die Allgemeingültigkeit dieses Musters, wenn Studierende sich an Wortlisten unterschiedlicher Länge erinnern sollten und sie die Wörter entweder in der richtigen Reihenfolge (englisch: serial recall) abrufen sollten („Nennen Sie die Wörter in der Reihenfolge, wie Sie sie gehört haben“) oder frei abrufen sollten (englisch: free recall) („Nennen Sie so viele Wörter wie möglich“) (Jahnke, 1965). Die Forschung konnte den Primacy-Effekt und den Recency-Effekt in sehr vielen Testsituationen nachweisen (Neath & Surprenant, 2003). Welcher Tag ist heute? Glauben Sie, dass Sie diese Frage am Anfang und am Ende der Woche nahezu eine Sekunde schneller beantworten können als in der Mitte der Woche (Koriat & Fischoff, 1974)? Die Rolle, die der Kontext für die Form der seriellen Positionskurve spielt, hat mit der kontextuellen Unterscheidbarkeit verschiedener Items einer Liste zu tun, mit verschiedenen Erfahrungen in Ihrem Leben und so fort (Neath et al., 2006). Um kontextuelle
Abbildung 7.6: Der serielle Positionseffekt. Diese Abbildung zeigt die Allgemeingültigkeit des seriellen Positionseffekts. Studierende sollten sich an Wortlisten variabler Länge (6, 10 und 15 Wörter) erinnern und diese entweder als Serial Recall in der richtigen Reihenfolge („Nennen Sie die Wörter in der Reihenfolge, wie Sie sie gehört haben“) abrufen oder als Free Recall in freier Folge („Nennen Sie so viele Wörter wie möglich“). Alle Kurven zeigen eine bessere Gedächtnisleistung zu Beginn (Primacy-Effekt) und zum Ende (RecencyEffekt) der Liste.
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Unterscheidbarkeit zu verstehen, können Sie die Frage stellen: „Wie unterschiedlich waren die Kontexte beim Lernen dieser Information und beim Versuch, sie
Teil A
„
“
Teil B Abbildung 7.7: Kontextuelle Unterscheidbarkeit. Man kann eine Analogie bilden zwischen dem Umstand, Items in das Gedächtnis zu übertragen und Gleisschwellen. In Teil A können Sie sich vorstellen, dass zeitlich weiter zurückliegende Gedächtnisinhalte verschmelzen, geradezu wie die Gleisschwellen in weiter Entfernung. In Teil B sehen Sie eine Möglichkeit, diesem Effekt zu begegnen. Die entfernteren Gleisschwellen rücken nach hinten, der Abstand zwischen den Schwellen scheint nun proportional zu sein. In ähnlicher Weise können Sie Ihre früh erworbenen Gedächtnisinhalte stärker unterscheidbar machen, indem Sie sie psychologisch auseinander rücken.
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abzurufen?“ Lassen Sie uns den Recency-Effekt genauer betrachten. 씰 Abbildung 7.7 zeigt die Unterscheidbarkeit an einem visuellen Beispiel. Stellen Sie sich in dem Teil A vor, dass Sie auf Bahngleise schauen. Es sieht so aus, als ob die Schwellen am Horizont (Listenanfang) verschmelzen würden – obwohl sie real immer den gleichen Abstand zueinander besitzen. Man könnte sagen, dass die nahen Schwellen stärker aus dem Kontext herausragen – stärker unterscheidbar sind. Stellen Sie sich nun vor, Sie wollten sich an die letzten zehn Kinofilme erinnern, die Sie gesehen haben. Die Filme sind wie die Gleisschwellen. Unter den meisten Umständen sollten Sie sich an den zuletzt gesehenen Film am besten erinnern, da Sie für diese Erfahrung den größten Teil des Kontextes teilen – sie ist am „nächsten“ zu Ihren aktuellen Erfahrungen. Diese Logik führt zu der Annahme, dass man sich an die „mittlere“ Information besser erinnern könnte, wenn sie unterscheidbarer gemacht würde. Diese Idee ist im Hinblick auf unsere Analogie zu den Gleisschwellen im Teil B der Abbildung 7.7 veranschaulicht. Hier scheinen die Abstände zwischen den Schwellen gleich weit zu sein.
AUS DER FORSCHUNG Um den Abstand zwischen Gleisschwellen gleich weit erscheinen zu lassen, müssten Ingenieure die weit entfernteren tatsächlich weiter auseinander setzen. Forscher haben die gleiche Logik für einen Gedächtnistest eingesetzt, indem sie die Analogie zwischen Raum und Zeit ausnutzten. Die Probanden lernten Buchstabenlisten und es wurde manipuliert, wie weit die Buchstaben bei der Darbietung zeitlich auseinander zu liegen scheinen. Diese Manipulation wurde erreicht, indem die Probanden mehrstellige Zufallszahlen lesen sollten, die zwischen den Buchstaben auf dem Computerbildschirm erschienen. In der Standardbedingung (vergleichbar zu Teil A von 씰 Abbildung 7.7) wurde jedes Buchstabenpaar durch zwei Ziffern getrennt. In der Proportionalbedingung (vergleichbar zu Teil B von Abbildung 7.7) war das erste Paar durch vier Ziffern, das letzte Paar durch null Ziffern getrennt. Dies sollte die frühen Items stärker unterscheidbar machen (als ob wir entferntere Gleisschwellen weiter auseinander setzten). Die Probanden zeigten in der Tat eine bessere Gedächtnisleistung für frühe Items der Liste, wenn diese Items deutlicher unterscheidbar waren (Neath & Crowder, 1990).
Dieses Experiment legt den Schluss nahe, dass der Standard-Recency-Effekt deshalb entsteht, weil die zuletzt gelernten Items nahezu automatisch unterscheidbar sind. Das gleiche Prinzip könnte auch den
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
Primacy-Effekt erklären – jedes Mal, wenn Sie etwas Neues beginnen, stellt Ihre Tätigkeit einen neuen Kontext her. In diesem neuen Kontext sind Ihre ersten Erfahrungen ausgesprochen unterscheidbar. Sie können somit den Primacy- und den Recency-Effekt als zwei Perspektiven auf die gleichen Bahngleise auffassen – je eine von jedem Ende.
7.3.3 Die Prozesse des Enkodierens und des Abrufs Wir haben bislang gesehen, dass eine Übereinstimmung zwischen den Kontexten beim Enkodieren und beim Abruf für eine gute Gedächtnisleistung hilfreich ist. Wir werden diese Schlussfolgerung nun weiter differenzieren, indem wir die Prozesse betrachten, die den Informationsfluss zum und vom Langzeitgedächtnis steuern. Wir werden sehen, dass das Gedächtnis dann am besten funktioniert, wenn die Enkodierungsprozesse und die Prozesse des Abrufs gut übereinstimmen.
Ebenen der Verarbeitungstiefe Lassen Sie uns mit der Idee beginnen, dass die Art der Informationsverarbeitungsprozesse – die Art der Aufmerksamkeit, die Sie der Information zum Zeitpunkt der Enkodierung zuteil werden lassen – einen Einfluss auf Ihre Gedächtnisleistung für diese Informationen hat. Die Theorie der Verarbeitungstiefe (englisch: Levels-of-Processing Theory) nimmt an, dass Informationen, je tiefer sie verarbeitet wurden, desto wahrscheinlicher dem Gedächtnis überstellt werden (Craik & Lockhart, 1972; Lockhart & Craik, 1990). Wenn die Verarbeitung mehr Analyse, Interpretation, Vergleich und Elaboration umfasst, dann sollte sie in einer besseren Gedächtnisleistung resultieren. Die Tiefe der Verarbeitung ist oftmals definiert durch die Art von Urteilen, die Probanden im Hinblick auf Experimentalmaterial abgeben sollen. Betrachten Sie
das Wort TRAUBE. Sie könnten gebeten werden, ein physikalisches Urteil abzugeben (Ist das Wort in Großbuchstaben geschrieben?), oder ein Reimurteil (Reimt sich das Wort auf „Laube“?), oder ein Bedeutungsurteil (Bezeichnet dieses Wort eine Frucht?). Können Sie sehen, wie jede dieser Fragen es erforderlich macht, etwas tiefer über TRAUBE nachzudenken? In der Tat ist es so, dass je tiefer Probanden Wörter ursprünglich verarbeiten, an umso mehr Wörter erinnern sie sich (Lockhart & Craik, 1990). Eine Schwierigkeit der Theorie der Verarbeitungstiefe liegt allerdings darin, dass die Forscher nicht immer in der Lage waren, exakt anzugeben, was einen Prozess als „flach“ oder als „tief“ charakterisiert. Trotz dieses Umstandes bestätigen diese Ergebnisse, dass die Art, wie Informationen dem Gedächtnis übergeben werden – die mentalen Prozesse, die Sie zur Enkodierung von Informationen benutzen –, einen Effekt darauf hat, ob Sie diese Informationen später wiederfinden. Bislang haben wir ausschließlich das explizite Gedächtnis dargestellt. Wir werden nun sehen, dass die Passung zwischen Prozessen des Enkodierens und des Wiederfindens besonders wichtig für das implizite Gedächtnis ist.
Prozesse und das implizite Gedächtnis Weiter oben haben wir die Unterscheidung der expliziten vs. impliziten Dimension von Gedächtnisinhalten als gültig für die Enkodierung und den Abruf (Bowers & Marsolek, 2003) dargestellt. Oftmals müssen Sie jedoch implizite Gedächtnisinhalte abrufen, die Sie ursprünglich explizit enkodiert haben. Dies trifft zu, wenn Sie Ihre beste Freundin mit Ihrem Namen begrüßen, ohne dass Sie besonderen mentalen Aufwand betreiben müssten. Oftmals sind implizite Gedächtnisinhalte sehr stabil, wenn es eine große Übereinstimmung zwischen den Prozessen beim impliziten Enkodieren und den Prozessen beim impliziten Abruf gibt. Dies wird auch als transferadäquate
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Verarbeitung bezeichnet: Die Gedächtnisleistung ist am besten, wenn die Art der Verarbeitung beim Enkodieren sich leicht übertragen lässt auf die Art der Verarbeitung beim Abruf (Roediger et al., 2002). Um diese Ansicht zu stützen, werden wir zunächst einige Methoden beschreiben, die das implizite Gedächtnis belegen. Dann werden wir zeigen, wie sich die Passung zwischen den Prozessen des Enkodierens und des Abrufs auswirkt. Betrachten wir ein typisches Experiment zum impliziten Gedächtnis. Studierenden wurde eine Liste anschaulicher Nomina vorgelegt und sie sollten beurteilen, wie angenehm jedes Wort ist. Hierfür wurde eine Skala von eins (am wenigsten angenehm) bis fünf (sehr angenehm) verwendet (Rajaram & Roediger, 1993). Die Einschätzung, wie angenehm die Wörter waren, erforderte, dass die Probanden über die Bedeutung der Wörter nachdachten, ohne die Wörter aber explizit im Gedächtnis abzulegen. Nach dieser Experimentalphase wurde einer von vier Gedächtnistests durchgeführt. Angenommen, das Wort „Hitzewelle“ hätte sich in der Liste befunden: Vervollständigen von Wortfragmenten. Den Probanden werden Wortfragmente wie beispielsweise – tze – ll – vorgegeben und sie sollen die Fragmente mit dem ersten Wort auffüllen, das ihnen einfällt. Vervollständigen von Wortstämmen. Die Probanden sollen einen Wortstamm mit dem ersten Wort, das ihnen einfällt, vervollständigen. Beispielsweise Hitze___________. Wortidentifikation. Wörter werden mit so kurzer Darbietungszeit (tachistoskopisch) auf einem Computerbildschirm gezeigt, dass die Probanden sie nicht deutlich erkennen können. Sie müssen jedes sehr kurz dargebotene Wort erraten. In unserem Beispielfall wäre eines der Wörter „Hitzewelle“. Anagramme. Den Probanden wird eine zufällige Folge von Buchstaben dargeboten, die ein Wort ergeben kann. Dies könnte beispielsweise „lelewihetz“ sein und sie sollen das erste Wort angeben, das ihnen einfällt und das mit diesen Buchstaben zu bilden ist. Genau wie in unserem Beispiel mit „Hitzewelle“ können zutreffende Reaktionen zu jeder der Aufgaben aus Wörtern der vorherigen Listen generiert werden. Entscheidend ist hierbei, dass die Experimentalleiter keine Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen den
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Wörtern der früheren Listen und zutreffenden Reaktionen auf diese neuen Aufgaben gelenkt haben – daher kann der Gebrauch des Gedächtnisses in diesem Experiment als implizit betrachtet werden. Um den Grad an implizitem Gedächtnis zu bestimmen, verglichen die Forscher die Leistung von Probanden, die ein bestimmtes Wort, wie „Hitzewelle“, auf der Liste zur Einschätzung der Angenehmheit beurteilt hatten, mit der Leistung von Probanden, die kein Urteil zu diesem Wort abgegeben hatten. 씰 Abbildung 7.8 zeigt die Verbesserung durch implizites Gedächtnis für Wörter – Prozent korrekt, wenn das Wort auf der Liste zur Beurteilung der Angenehmheit erschienen war, minus Prozent korrekt, wenn es nicht auf der Liste war (unterschiedlichen Probanden wurden unterschiedliche Wortlisten vorgegeben). Sie können der Abbildung entnehmen, dass es für jede Aufgabe von Vorteil war, ein Wort vorher bereits gesehen zu haben, obwohl die Probanden ursprünglich ausschließlich beurteilen sollten, ob das Wort eine angenehme Bedeutung hat. Dieser Vorteil wird auch als Priming bezeichnet, da die erste Erfahrung mit einem Wort das Gedächtnis für spätere Erfahrungen „vorheizt“ (englisch: primed). Für einige Aufgaben wie beispielsweise die Vervollständigung von Wortfragmenten konnten Primingeffekte gefunden werden, die eine Woche und länger andauerten (Sloman et al., 1988). Wir wollen uns nun dem Kern der Passung zwischen Enkodieren und Abruf zuwenden. Alle vier impliziten Gedächtnistests, die wir bislang erwähnt haben, basieren auf einer physikalischen Übereinstimmung zwischen dem Originalstimulus und der Information, die zum Testzeitpunkt gegeben wird. Dies setzt voraus, dass welcher Prozess auch immer „Hitzewelle“ enkodiert, auch das Wort verfügbar macht, wenn Sie den Wortstamm Hitze__________ vervollständigen sollen und so fort. Wir möchten Ihnen noch einen weiteren Test vorstellen, Kategorienassoziation, der anstelle von physikalischer Übereinstimmung auf Bedeutungen und Konzepten basiert. Stellen Sie sich vor, wir hätten Ihnen die Kategorienbezeichnung „Wetterphänomene“ gegeben und Sie gebeten, so viele Mitglieder dieser Kategorie zu nennen, wie Sie in kurzer Zeit können. Vielleicht hätten Sie hier auch Hitzewelle gesagt. Wenn Sie allerdings mit größerer Wahrscheinlichkeit Hitzewelle sagen, weil Sie dieses Wort zuvor auf einer Liste gesehen haben, in einem anderen Kontext, dann wäre dies ein Beleg für implizites Gedächtnis. Indem wir zwei unterschiedliche Arten von impliziten Gedächtnistests verwenden, die beide auf Priming basieren – entweder auf der Grundlage physikalischer Merkmale oder auf Bedeutung –, können wir
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
Abbildung 7.8: Priming bei impliziten Gedächtnistests. Priming zeigt eine Verbesserung der Leistung gegenüber Kontrollwörtern bei unterschiedlichen Aufgaben an. Bei einigen Tests zum impliziten Gedächtnis kann Priming eine Woche und länger andauern.
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die Beziehung zwischen Enkodieren und Abruf untersuchen.
AUS DER FORSCHUNG Gedächtnisforscher haben ein Experiment zu Verarbeitungsebenen entwickelt, um zu zeigen, dass verschiedene implizite Gedächtnisinhalte von verschiedenen Arten der Verarbeitung abhängen. Die Probanden wurden gebeten, auf jedes Wort einer Liste zu antworten. Für Tiefenbeurteilungen reagierten sie auf die Bedeutung eines Wortes – zum Beispiel „Kann man das kaufen?“. Für Oberflächenbeurteilungen reagierten sie auf die physischen Eigenschaften eines Wortes – zum Beispiel „Schreibt man dieses Wort mit C?“ Die Experimentatoren untersuchten das implizite Gedächtnis durch allgemeine Wissensfragen und durch die Methode der Vervollständigung von Wortfragmenten. Betrachten wir diese Aufgaben im Hinblick auf transferadäquate Verarbeitung. Im Gegensatz zu den Oberflächenbeurteilungen stoßen die Tiefenbeurteilungen konzeptuelle Prozesse beim Enkodieren an. Die Fragen zum Allgemeinwissen erfordern konzeptuelle Prozesse beim Abruf, die Vervollständigung von Wortfragmenten jedoch nicht. Demgemäß erwarteten die Forscher, dass sie eher einen Priming-Vorteil für die Tiefenbeurteilungen finden würden, wenn die Prozesse beim Enkodieren und Abruf übereinstimmten (Tiefenbeurteilungen mit Fragen zum Allgemeinwissen) als wenn sie nicht übereinstimmten (Tiefenbeurteilungen mit Lückenfüllen). Die Resultate bestätigten die Vorhersage (Hamilton & Rajaram, 2001).
Diese Forschungsrichtung unterstützt die Annahme der transferadäquaten Verarbeitung. Wenn Sie eine be-
stimmte Art der Verarbeitung benutzen – beispielsweise physikalische Analyse oder Bedeutungsanalyse –, um Informationen zu enkodieren, dann werden Sie diese Informationen am besten wieder abrufen können, wenn die Abrufprozesse die gleiche Art der Analyse durchführen. Weiter oben haben wir folgende Annahme getroffen: Ihre Erinnerungsleistung ist am besten, wenn eine gute Übereinstimmung zwischen den Umständen des Enkodierens und des Abrufs vorliegt. Dieser Abschnitt lieferte Belege für diese Annahme. Beachten Sie, dass diese Analyse sowohl definiert, wann Ihre Gedächtnisprozesse relativ gut funktionieren (nämlich, wenn die Umstände des Enkodierens und des Abrufens einander entsprechen), als auch, wann sie relativ schlecht funktionieren (nämlich im Falle des Nichtübereinstimmens). In diesem Sinne haben wir Ihnen bereits eine ungefähre Vorstellung gegeben, warum Ihnen manchmal etwas nicht einfällt, wenn Sie sich daran erinnern möchten. Betrachten wir jetzt im allgemeineren Rahmen die Umstände, unter denen Ihr Gedächtnis nur unzulänglich arbeitet.
7.3.4 Warum wir vergessen Meistens arbeitet unser Gedächtnis einwandfrei. Wir sehen eine Bekannte auf uns zukommen, und ihr Name fällt uns sofort ein. Unglücklicherweise endet unser Gruß jedoch manchmal in unangenehmem Schweigen – mit diesem peinlichen Eingeständnis, dass uns der Name nicht einfällt. Wie kommt das? Manchmal
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ist die Antwort in den Faktoren zu suchen, die wir bereits besprochen haben. Es könnte zum Beispiel sein, dass wir versuchen uns an den Namen zu erinnern, in einem Kontext, der sich sehr von dem unterscheidet, in dem wir ihn uns eingeprägt haben. Es sind aber auch andere Ursachen für Vergessen erforscht worden. Die allererste wissenschaftliche Forschungsarbeit über das Gedächtnis, veröffentlicht 1885, hat sich sogar mit genau diesem Thema befasst. Machen wir uns also an die Arbeit.
ab, indem er sich zwang, viele andere Listen zu lernen. Nach diesem Intervall maß Ebbinghaus seine Gedächtnisleistung, indem er bestimmte, wie viele Durchgänge er benötigt, um die Originalliste wiederzulernen. Benötigte er weniger Durchgänge beim Wiederlernen als beim erstmaligen Lernen, so war Information vom erstmaligen Lernen erhalten geblieben und Lernaufwand gespart. (Diese Auffassung sollten Sie aus Kapitel 6 kennen. Wie Sie sich erinnern, tritt Ersparnis bei Tieren auf, die eine konditionierte Reaktion erneut lernen.)
Ebbinghaus quantifiziert das Vergessen
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Ein Beispiel: Wenn Ebbinghaus zwölf Durchgänge beim erstmaligen Lernen einer Liste benötigte und neun Durchgänge, diese Liste ein paar Tage später erneut zu lernen, dann beträgt seine Ersparnis für diese verstrichene Zeit 25 Prozent (zwölf Durchgänge – neun Durchgänge = drei Durchgänge; drei Durchgänge ÷ zwölf Durchgänge = 0,25 oder 25 Prozent). Indem Ebbinghaus ein Ersparnismaß verwendete, bildete er den Grad des Behaltens in Abhängigkeit unterschiedlicher Zeitintervalle ab. Die so erhaltene Kurve zeigt 씰 Abbildung 7.9. Wie daraus ersichtlich ist, fällt die Behaltensleistung zunächst sehr stark ab, anschließend wird zusehends immer weniger vergessen. Die Verlaufsform der Kurve nach Ebbinghaus ist typisch für Ergebnisse aus Experimenten zum Auswendiglernen.
Das in Ebbinghaus’ Vergessenskurve dargestellte Muster ist Ihnen schon ungezählte Male widerfahren. Bedenken Sie zum Beispiel, wie ungern Sie bereit wären, ein Examen erst eine Woche, nachdem Sie dafür gelernt haben, abzulegen. Sie wissen aus Erfahrung, dass vieles, was Sie sich eingeprägt haben, dann nicht mehr zugänglich wäre. Genauso würden Sie sich wahrscheinlich leicht an einen Namen erinnern, unmittel-
Was denken Sie über diese Aussage: „Fakten, die kurz vor einer Prüfung gepaukt werden, verschwinden bald wieder, wenn sie nicht auf früheren Lernprozessen aufbauen und danach hinreichend überdacht wurden.“? In anderen Worten heißt dies, wenn Sie etwas nur für eine Prüfung schnell einpauken, werden Sie sich ein paar Tage später wahrscheinlich nicht mehr an allzu viel davon erinnern. Diese scharfsinnige und hoch aktuelle Beobachtung stammt von dem deutschen Psychologen Herrmann Ebbinghaus aus dem Jahre 1885. Ebbinghaus verwies auf eine ganze Reihe derartiger Phänomene, um seine neue Wissenschaft vom Gedächtnis zu begründen. Die Beobachtungen von Ebbinghaus fügten sich zu einem überzeugenden Argument für eine empirische Untersuchung des Gedächtnisses zusammen. Was gebraucht wurde, war eine Methodologie, und Ebbinghaus erfand eine brillante: Er verwendete sinnlose Silben – Kombinationen aus drei Buchstaben, die aus einem Vokal zwischen zwei Konsonanten bestanden und keine Bedeutung hatten – wie etwa CEG oder DAL. Er verwendete sinnlose Silben statt bedeutungshaltiger Wörter wie etwa MUT, denn er hoffte, so ein „reines“ Maß des Gedächtnisses zu erhalten – ein Gedächtnismaß, das frei von früheren Lernerfahrungen und von Assoziationen wäre, die jemand in die experimentelle Gedächtnisaufgabe mitbringt. Ebbinghaus war nicht nur der Forscher, er war auch seine eigene Versuchsperson. Er führte die Aufgaben selbst aus und bestimmte seine eigenen Leistungsmaße. Die auszuführende Aufgabe bestand aus dem Sicherinnern an Listen unterschiedlicher Länge, die Ebbinghaus auswendig lernte, also durch mechanische Wiederholung einprägte. Ebbinghaus begann sein Lernen, indem er Item für Item bis zum Ende der Liste las. Dann las er die Liste immer und immer wieder in der gleichen Reihenfolge, bis er alle Items in der richtigen Reihenfolge aufsagen konnte – sein Leistungskriterium war erreicht. Anschließend lenkte er sich vom Wiederholen der Originalliste
AUS DER FORSCHUNG
Abbildung 7.9: Die Vergessenskurve nach Ebbinghaus. Die Kurve zeigt, an wieviele sinnlose Silben sich erinnert wird, wenn man die Ersparnismethode anwendet und über einen Zeitraum von 30 Tagen testet. Die Kurve fällt zunächst stark ab und erreicht dann ein Plateau mit nur noch geringen Veränderungen.
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
bar nachdem Sie ihn erfahren haben, aber wenn Sie diese Erinnerung eine Woche lang nicht aufrufen, würden Sie sich vielleicht dabei ertappen, wie Sie denken: „Ich weiß doch eigentlich, wie sie heißt!“
Interferenz Warum noch könnten Sie einen Namen vergessen, den Sie vor einer Woche noch kannten? Eine wichtige Antwort darauf ist, dass Sie diesen Namen nicht isoliert gelernt haben. Bevor Sie ihn sich eingeprägt haben, hatten Sie bereits viele andere Namen im Kopf; danach haben Sie wahrscheinlich ein paar weitere gelernt. Alle diese anderen Namen können Ihre Fähigkeit beeinträchtigen, sich an den einen zu erinnern, den Sie im Moment brauchen. Um dies stärker formal darzustellen, möchten wir Sie bitten, einige neue Wortpaare zu lernen. Prägen Sie sich das Material wiederum so lange ein, bis Sie die sechs Wortpaare dreimal hintereinander fehlerfrei beherrschen. Apfel – Robe Hut – Kreis Fahrrad – Dach Maus – Zeitschrift Ball – Baby Ohr – Cent Wie hat es geklappt? Betrachten Sie die Liste genau. Sie können sehen, was wir verändert haben – jeder frühere Zielreiz steht jetzt jeweils vorne und ist mit einem neuen Zielreiz verbunden. Ist es Ihnen schwerer gefallen, diese neue Liste zu lernen? Glauben Sie, dass es Ihnen nun schwerer fallen würde, die ursprünglichen Wörter wiederzugeben? (Versuchen Sie es einmal!) Die typische Antwort auf beide Fragen ist „Ja“. Diese kurze Aufgabe sollte Ihnen einen Eindruck vermitteln, wie Gedächtnisinhalte miteinander konkurrieren – das heißt in Interferenz zueinander stehen – können. Wir haben Ihnen bereits ein Alltagsbeispiel zum Problem der Interferenz gegeben, mit der Frage nach der Unterscheidung Ihrer Erinnerung an die beiden Zahnputzepisoden. Jeder spezifische Gedächtnisinhalt interferiert mit den anderen Inhalten. Proaktive Interferenz (proaktiv bedeutet: „wirkt nach vorne“) bezeichnet Umstände, wo Informationen, die Sie in der Vergangenheit erworben haben, den Erwerb neuer Informationen erschweren (씰 Abbildung 7.10). Retroaktive Interferenz (retroaktiv bedeutet: „wirkt zurück“) tritt auf, wenn der Erwerb neuer Informationen das Behalten früher erworbener Informationen er-
schwert. Die Ihnen vorgegebenen Listen demonstrieren beide Arten von Interferenz. Sie haben bereits sowohl proaktive wie retroaktive Interferenz erfahren, wenn Sie jemals umgezogen sind und sich Ihre Telefonnummer geändert hat. Am Anfang haben Sie es vielleicht als schwierig empfunden, sich die neue Nummer zu merken – Ihnen ist immer die alte Nummer eingefallen (proaktive Interferenz). Als Sie schlussendlich sicher die neue Nummer produzieren konnten, ist es Ihnen vielleicht schwer gefallen, sich an die alte Nummer zu erinnern – obwohl Sie sie möglicherweise jahrelang benutzt haben (retroaktive Hemmung). Wie für viele andere Gedächtnisphänomene auch, war Herrmann Ebbinghaus der erste Forscher, der Interferenz strikt in Experimenten nachwies. Ebbinghaus stellte fest, dass er nach dem Lernen von Dutzenden Listen sinnloser Silben etwa 65 Prozent der neu zu Lernenden vergaß. 50 Jahre später lernten Studierende der Northwestern University ebenfalls die Listen von Ebbinghaus und machten die gleiche Erfahrung – nach vielen Durchgängen mit vielen Listen interferierte das zuvor Gelernte proaktiv mit dem Abruf der aktuellen Listen (Underwood, 1948, 1949). In diesem Abschnitt haben wir einige mögliche Gründe für das Vergessen von Information dargestellt. Es scheint angebracht, dass wir uns jetzt mit Vorschlägen aus der Forschung beschäftigen, wie man die Funktion des Gedächtnisses verbessert. Proaktive Interferenz gerade eingeprägter Information.
interferiert mit
Zuvor eingeprägte Information
Retroaktive Interferenz Gerade eingeprägte Information.
interferiert mit
zuvor eingeprägter Information.
Abbildung 7.10: Proaktive und retroaktive Interferenz. Proaktive und retroaktive Interferenz helfen zu erklären, warum es schwierig sein kann, Gedächtnisinhalte zu enkodieren und abzurufen. Was Sie bereits gelernt haben, kann die Enkodierung von Neuem erschweren (proaktive Interferenz). Was Sie gerade lernen, kann den Abruf älterer Informationen erschweren (retroaktive Interferenz).
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7
Ged äc h tn i s
7.3.5 Verbesserung der Gedächtnisleistung bei unstrukturierten Informationen Nach dem Lesen dieses gesamten Abschnitts sollten Sie eine klare Vorstellung davon haben, wie Sie Ihre Gedächtnisleistung im Alltag verbessern können – wie Sie sich an mehr erinnern und weniger vergessen können. (Der Kasten Kritisches Denken im Alltag weiter unten in diesem Kapitel wird Ihnen helfen, diese Vorstellungen bei der Übertragung auf den universitären Alltag zu vertiefen.) Sie wissen bereits, dass Sie den größten Vorteil beim Wiederfinden von Informationsbestandteilen dann haben, wenn der gleiche Kontext vorliegt oder wenn Sie die gleiche Art von Aufgaben ausführen wie beim Erwerb des Gedächtnisinhalts. Es gibt aber noch ein weiteres kleines Problem, bei dem wir Ihnen behilflich sein wollen. Es hat damit zu tun, unstrukturierte oder zufällige Informationen zu enkodieren. Stellen Sie sich vor, Sie sind Verkäufer in einem Laden. Sie müssen sich die verschiedenen Dinge merken, die jeder Kunde will. „Die Frau in der grünen Bluse will eine Gartenschere und einen Gartenschlauch. Der Mann im blauen Hemd will eine Zange, sechs 30-mm-Schrauben und einen Farbspachtel.“ Dieses Szenario ist sehr ähnlich zu Experimenten zum Paarassoziationslernen. Wie haben Sie die weiter oben dargebotenen Wortpaare gelernt? Die Aufgabe war vielleicht recht schwierig für Sie, da die Paare nicht besonders bedeutungsvoll für Sie waren – und sich an Informationen zu erinnnern, die nicht bedeutungsvoll sind, ist schwer. Um eine Möglichkeit zu finden, die richtigen Dinge den richtigen Kunden zuzuordnen, müssen Sie die Assoziationen weniger zufällig erscheinen lassen. Lassen Sie uns daher elaborierendes Wiederholen und Mnemotechniken näher betrachten.
Elaborierendes Wiederholen Eine allgemeine Strategie, um das Enkodieren zu verbessern, ist elaborierendes Wiederholen. Die Grundidee dieser Technik ist, während des Wiederholens der Information – beim erstmaligen Einprägen in das Gedächtnis – diese zu elaborieren, um das Material für das Enkodieren reichhaltiger zu gestalten. Eine Art dies zu tun ist es, eine Beziehung herzustellen, die Assoziationen weniger zufällig erscheinen lässt. Wenn Sie sich beispielsweise das Paar Maus – Baum einprägen wollen, dann könnten Sie ein Bild hervorzaubern mit einer Maus, die auf der Suche nach Käse einen Baum hochhuscht. Der Abruf wird verbessert, wenn Sie unterschiedliche Teile der Information in solche Miniaturgeschichten en-
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kodieren. Können Sie für die Verkäufersituation schnell eine Geschichte erfinden, die jeden Kunden mit seinen gewünschten Einkäufen verbindet? (Mit etwas Übung wird es funktionieren.) Sie haben sicherlich bereits erraten, dass es auch hilfreich sein kann, Ihre Geschichte mit einem mentalen Bild – einer visuellen Vorstellung – der Szene, an die Sie sich erinnern wollen, anzureichern. Die visuelle Vorstellungskraft verbessert Ihren Abruf, denn sie liefert Kodes für verbale wie auch für visuelle Gedächtnisinhalte (Paivio, 1995). Elaborierendes Wiederholen kann Ihnen auch helfen, Sie vor einem Effekt zu bewahren, der als DerNächste-in-der-Reihe-Effekt bezeichnet werden kann. Wenn es beispielsweise eine Art Rednerliste gibt und Sie der nächste Redner sein werden, dann haben Sie vielleicht Mühe, sich an das zu erinnern, was Ihr direkter Vorredner gesagt hat. Es muss nicht unbedingt eine Rede sein, Sie kennen diesen Effekt vielleicht auch von einer Vorstellungsrunde, wo jeder seinen Namen sagt. Wie war noch mal der Name der Person unmittelbar vor mir? Der Ursprung dieses Effekts scheint in einer Verschiebung der Aufmerksamkeit zu liegen. Sie erfolgt in Richtung Vorbereitung der eigenen Anmerkungen oder Sagen des eigenen Namens (Bond et al., 1991). Um dieser Aufmerksamkeitsverschiebung zu begegnen, sollten Sie elaborierende Wiederholung einsetzen. Halten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf der Person vor Ihnen und bereichern Sie die Enkodierung von ihm oder ihr: „Lisa – sie lächelt wie Mona Lisa.“
Mnemotechniken Sie können Ihre Gedächtnisleistung auch dadurch verbessern, dass Sie eine mentale Strategie heranziehen, die als Mnemotechnik (abgeleitet von dem griechischen Wort für „erinnern“) bezeichnet wird. Mithilfe von Mnemotechniken werden lange Folgen von Fakten mit vertrauten, bereits enkodierten Informati-
Wie könnte ein Kellner oder eine Kellnerin elaborierendes Wiederholen oder Mnemotechnik einsetzen, um sich die Bestellungen der Gäste korrekt zu merken?
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
Abbildung 7.11: Die Methode der Orte. Mit der Methode der Orte assoziieren Sie zu erinnernde Items (wie etwa Einträge einer Einkaufsliste) mit Orten, die sich entlang einer vertrauten Route befinden (wie etwa Ihr Weg zur Arbeit).
Brot
Orangensaft
BRI
EFE
Eiscreme onen assoziiert. Viele Mnemotechniken arbeiten mit vorgefertigten Hinweisreizen für den Abruf, die Ihnen helfen, ansonsten zufälliges Material zu organisieren. Betrachten wir die Methode der Orte (englisch: method of loci), die zuerst von klassischen griechischen Rednern praktiziert wurde. Die Singularform von „loci“ ist „locus“ und bedeutet „Ort“ oder „Platz“. Die Methode der Orte dient dazu, sich eine Folge von Namen oder Objekten einzuprägen – oder im Falle von Rednern, die einzelnen Abschnitte einer längerer Rede –, indem man diese mit einer Folge von Orten assoziiert, die einem vertraut sind. Wenn Sie sich eine Einkaufsliste merken wollen, können Sie die Folge der Items mental entlang Ihres Weges zur Arbeit legen. Um sich an die Liste später zu erinnern, gehen Sie mental diesen Weg entlang und Sie finden das Item, das mit dem jeweiligen Ort assoziiert ist (씰 Abbildung 7.11).
Bananen Die Wäscheleinemethode (englisch: peg-word method) funktioniert ähnlich, allerdings assoziieren Sie hier die Items einer Liste mit einer Folge von Hinweisreizen. Typischerweise bestehen die Hinweisreize bei der Wäscheleinemethode aus einer Folge von Reimen, die Zahlen mit Wörtern assoziiert: „Eins ist Heinz“, „Zwei ist ein Schrei“, „Drei ist Brei“, „Vier ist ein Stier“ und so fort. Anschließend assoziieren Sie jedes Item Ihrer Liste, indem Sie es mit den entsprechenden Hinweisreizen interagieren lassen. Für eine Einkaufsliste könnte dies beispielsweise heißen: Heinz balanciert Brot auf dem Kopf; ein Baby schreit, weil es in einer Badewanne mit Orangensaft sitzt; die Eiscreme ist bereits zu einem Brei zerlaufen; ein Stier mit Bananen statt Hörnern und so fort. Sie sehen, dass der Schlüssel darin liegt, zufällige Informationen in solcher Weise zu enkodieren, dass Sie sich selbst wirksame Hinweisreize für den Abruf geben.
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KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Wie kann Ihnen die Gedächtnisforschung bei der Prüfungsvorbereitung helfen?
Eine der am häufigsten gestellten Fragen von Studierenden, nachdem sie etwas über Gedächtnisforschung gelesen haben, ist: „Wie kann ich diese Informationen sofort nutzen? Was kann ich aus dieser Forschung lernen, um mich auf meine nächste Prüfung besser vorzubereiten?“ Lassen Sie uns sehen, was für Ratschläge wir aus den Schlussfolgerungen der Forschung ziehen können: Enkodierspezifität. Wie Sie sich erinnern, lautet das Prinzip der Enkodierspezifität, dass der Kontext beim Abruf mit dem Kontext beim Enkodieren übereinstimmen sollte. Im universitären Setting bedeutet „Kontext“ oftmals „im Kontext von anderen Informationen“. Wenn Sie das Material immer im gleichen Kontext lernen, werden Sie Schwierigkeiten haben, es in einem anderen Kontext abzurufen – wenn ein Professor nach einem Sachverhalt auf eine etwas andere Art und Weise als bisher fragt, wären Sie verloren. Dagegen hilft, dass Sie bereits beim Lernen den Kontext variieren. Arrangieren Sie die Reihenfolge Ihrer Notizen um. Stellen Sie sich Fragen, die verschiedene Themengebiete zusammenbringen. Stellen Sie eigene neue Kombinationen her. Wenn Sie in einer Prüfung einmal nicht weiterkommen, versuchen Sie so viele Hinweisreize wie möglich zu generieren, die wieder den Originalkontext herstellen: „Okay, wir haben zu diesem Thema etwas in der gleichen Vorlesung gehört, als auch das Kurzzeitgedächtnis behandelt wurde …“ Serielle Position. Sie wissen durch die serielle Positionskurve, dass unter den meisten Umständen sich an die „mittleren“ Informationen am schlechtesten erinnert wird. In der Tat schneiden Studierende in Prüfungen bei Fragen schlechter ab, wenn das Material aus der Mitte einer Vorlesung stammt, gegenüber Material, das vom Beginn oder vom Ende einer Vorlesung stammt (Holen & Oaster, 1976; Jensen, 1962). Wenn Sie an einer Vorlesung teilnehmen, sollten Sie ganz besondere Aufmerksamkeit auf den mittleren Teil der Sitzung verwenden. Wenn es an die Nachbereitung geht, sollten Sie zusätzlich Zeit und Mühe auf dieses Material verwenden – und stellen Sie sicher, das Material nicht immer in der gleichen Reihenfolge zu lernen. Vielleicht fällt Ihnen auch auf, dass das Kapitel, das Sie jetzt gerade lesen, in der Mitte des Buches steht. Sollten Sie eine Abschlussprüfung über den gesamten Inhalt dieses Buches haben, wären Sie gut beraten, dieses Kapitel besonders genau durchzugehen. Elaborierende Wiederholung und Mnemotechniken. Wenn Sie für Prüfungen lernen, wird es Ihnen manchmal so gehen, als ob Sie sich „unstrukturierte Infor-
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mationen“ aneignen sollen. Beispielsweise könnten Sie nach den Funktionen unterschiedlicher Gehirnareale befragt werden. Unter diesen Umständen müssen Sie eigene Wege finden, sich die Struktur zu geben. Versuchen Sie sich visuelle Vorstellungsbilder zu machen oder erfinden Sie Sätze oder Geschichten, welche die Konzepte auf eine kreative Weise verbinden. Einer der Autoren des vorliegenden Buchs erinnert sich immer noch an seine Mnemotechnik, als er sich in einem Einführungskurs zur Psychologie die Funktion des ventromedialen Hypothalamus einprägen wollte. Der ventromediale Hypothalamus wird oftmals mit VMH abgekürzt. Die Mnemotechnik war Very Much Hungry (wie Sie allerdings in Kapitel 11 sehen werden, hat die Forschung in den letzten 30 Jahren neue Ergebnisse erbracht, so dass die Mnemotechnik nicht mehr ganz zutreffend ist). Durch elaborierende Wiederholung können Sie Ihr bereits vorhandenes Wissen nutzen, um sich an das neue Material besser zu erinnern. Metagedächtnis. Die Forschung zum Metagedächtnis hat erbracht, dass Menschen im Allgemeinen ein gutes Gespür dafür haben, was sie wissen und was nicht. Wenn Sie sich in einer Prüfungssituation unter Zeitdruck befinden, sollten Sie Ihrer Intuition folgen und diese als Richtschnur einsetzen, worauf Sie Zeit verwenden. Sie sollten beispielsweise zunächst den gesamten Test überfliegen und sehen, welche Fragen Ihnen das stärkste Gefühl geben, die Antwort zu kennen. Wenn Sie bei einem Test für Falschantworten Punktabzug erhalten (wie etwa bei dem amerikanischen Hochschulzugangstest SAT), sollten Sie ganz besonders auf Ihr Gespür für das Metagedächtnis achten. So können Sie vermeiden, Fragen zu beantworten, wenn Sie das Gefühl haben, dass die Antwort wahrscheinlich falsch sein wird. Als Sie die grundlegenden Fakten aus der Gedächtnisforschung gelesen haben, war Ihnen ihr Nutzen vielleicht nicht unmittelbar klar. Wir haben Ihnen diese konkreten Ideen vorgestellt, damit Sie sehen können, wie Sie mithilfe kritischen Denkens psychologische Kenntnisse direkt in Ihrem Alltag anwenden können. Warum könnte es beim Lernen zur Prüfungsvorbereitung eine gute Idee sein, die Merkzettel in eine neue Reihenfolge zu bringen? Wie könnte ein Professor oder eine Professorin die Studierenden dabei unterstützen, den Einfluss der seriellen Position für den Vorlesungsstoff zu überwinden?
7.3 Langzeitgedächtnis: Enkodierung und Abruf
7.3.6 Metagedächtnis Stellen Sie sich eine Situation vor, in welcher Sie sich an eine bestimmte Information wirklich gerne erinnern würden. Sie tun, was in Ihren Möglichkeiten steht, um Hinweisreize zu benützen, welche die Umstände beim Enkodieren widerspiegeln. Sie können jedoch die gesuchte Information nicht finden. Ein Teil des Grundes, warum Sie so viel Anstrengung einsetzen, ist, dass Sie sich sicher sind, dass Sie die Information besitzen. Aber liegen Sie richtig mit Ihrem Vertrauen in die Inhalte Ihres Gedächtnisses? Fragen wie diese – wie arbeitet Ihr Gedächtnis oder wie wissen Sie, welche Informationen Sie besitzen – sind Fragen zum Metagedächtnis. Eine wichtige Frage zum Metagedächtnis war, wann und warum das Gefühl, etwas zu wissen – der subjektive Eindruck, dass sie die gesuchten Informationen im Gedächtnis haben –, zutreffend ist. Pionierarbeit in der Forschung zu dem Phänomen des „Gefühls-etwas-zu-wissen“ wurde von J. T. Hart (1965) geleistet. Er begann seine Untersuchungen, indem er Studierenden eine Reihe von Fragen zum Allgemeinwissen vorlegte. Stellen Sie sich vor, wir würden Sie fragen, „Welches ist der größte Planet in unserem Sonnensystem?“ Kennen Sie die Antwort? Falls nicht, wie würden Sie auf folgende Frage antworten: „Obwohl ich die Antwort jetzt nicht weiß, weiß ich doch so viel über die Antwort, dass ich die richtige Lösung unter mehreren falschen Lösungen herausfinden könnte?“ Diese Frage hat Hart seinen Probanden gestellt und sie sollten dann eine Einschätzung zwischen eins und sechs über ihre Sicherheit abgeben, bei Multiple Choice die richtige Antwort geben zu können (eins stand für ziemlich sicher, bei Multiple Choice nicht die richtige Antwort geben zu können; sechs stand für ziemlich sicher, bei Multiple Choice die richtige Antwort zu finden). Was wäre Ihr Rating? Hier sind die Alternativen: a. Pluto b. Venus c. Erde d. Jupiter Wenn Sie über ein zutreffendes Gefühl des Wissens verfügen und Ihre Einschätzung entsprechend vorgenommen haben, sollten Sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort (sie lautet „d“) gegeben haben, wenn Ihr Rating vorher „eins“ lautete, als wenn es „sechs“ lautete. (Für einen fairen Test
würden wir selbstverständlich eine große Zahl an Fragen benötigen.) Hart fand heraus, dass die Probanden bei einer Einschätzung von „eins“ lediglich 30 Prozent richtige Lösungen aufwiesen, lautete sie jedoch „sechs“, so erzielten sie 75 Prozent richtiger Lösungen. Dies ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass das Gefühl, etwas zu wissen, zutreffend sein kann. Die Forschung zum Metagedächtnis beschäftigt sich sowohl mit den Prozessen, die ein Gefühl des Wissens entstehen lassen, als auch damit, wie sichergestellt wird, dass das Gefühl zutreffend ist (Benjamin, 2005; Koriat & Levy-Sadot, 2001; Metcalfe, 2000): Die Hypothese der Vertrautheit von Hinweisreizen besagt, dass Menschen ihr Gefühl, etwas zu wissen, aus Ihrer Vertrautheit mit dem Hinweisreiz für den Abruf ableiten. Stellen Sie sich vor, Sie werden gefragt: „Wie lautet der Familienname des Komponisten von ‚Maple Leaf Rag‘?“ Wenn Sie Vorerfahrung mit dem „Maple Leaf Rag“ haben, werden Sie vielleicht denken, dass Sie die richtige Lösung bei einer MultipleChoice-Aufgabe finden könnten. Die Zugänglichkeitshypothese lautet, dass Menschen ihr Urteil auf der Zugänglichkeit oder der Verfügbarkeit von Informationsbestandteilen des Gedächtnisses gründen. Wenn die Frage, „Wie lautet der Familienname des Komponisten von ‚Maple Leaf Rag‘?“, auf leichtem Wege Informationen ins Bewusstsein bringt, von denen Sie annehmen, dass sie mit der richtigen Antwort zu tun haben, dann werden Sie wahrscheinlich denken, dass Sie die richtige Lösung ebenfalls wiedererkennen können. Beide Theorien erhielten empirische Unterstützung – und beide Theorien legen nahe, dass Sie im Allgemeinen Ihren Instinkten trauen können, wenn Sie glauben, etwas zu wissen. (Weiter unten in diesem Kapitel werden wir Ihnen Forschungsergebnisse zu Zeugenaussagen vorstellen, die auf Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel hinweisen.) Sie haben jetzt eine ganze Menge gelernt über die Art und Weise, wie Informationen in das Gedächtnis gelangen und daraus abgerufen werden. Sie wissen, was „gute Passung“ zwischen den Umständen des Enkodierens und des Abrufs bedeutet. Im folgenden Abschnitt werden wir unsere Aufmerksamkeit von den Gedächtnisprozessen hin zu den Inhalten des Gedächtnisses lenken.
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ZWISCHENBILANZ 1 Geben die Umstände des Abrufs oder des Wiederer-
kennens generell mehr Hinweisreize? 2 Warum erinnern Sie sich auf einer Party am besten an
die erste Person, mit der Sie gesprochen haben? 3 Was bezeichnet der Begriff der transferadäquaten Ver-
arbeitung im Hinblick auf das Gedächtnis? 4 Sie lernen diese Woche für Ihren Englischkurs das Ge-
dicht „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe auswendig. Danach können Sie das Gedicht der letzten Woche nicht mehr aufsagen. Ist dies ein Beispiel für proaktive oder retroaktive Interferenz? 5 Wie könnten Sie sich mithilfe der Methode der Orte
an die Reihenfolge der Elemente im Periodensystem erinnern? 6 Welche zwei Informationsarten tragen zum Gefühl des
sich an eine ähnliche Beschreibung der Funktion der Wahrnehmung in Kapitel 4.) Sie leben in einer Welt, die angefüllt ist mit zahllosen Einzelereignissen, aus denen Sie ständig Informationen extrahieren müssen, um diese in kleinere, einfachere Sets zusammenzufassen, die mental handhabbar sind. Aber augenscheinlich müssen Sie keinen großen bewussten Aufwand betreiben, um Struktur in der Welt zu finden. Genau wie wir bereits anmerkten, als wir den impliziten Erwerb von Gedächtnisinhalten definierten, ist es unwahrscheinlich, dass Sie jemals bewusst einen Gedanken gehabt hätten wie: „Hier sehe ich, was zu einer Küche gehört.“ Es gehört zur Alltagserfahrung im Umgang mit der Welt, dass Sie mentale Strukturen erworben haben, die Strukturen in der Umwelt repräsentieren. Lassen Sie uns einen Blick auf die Formen der Gedächtnisstrukturen werfen, die Sie durch Alltagserfahrungen mit der Welt ausgebildet haben.
Wissens bei? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an das Experiment, in dem Gerüche als Hinweisreize beim Sicherinnern dienten. Wie konnte der Experimentator wissen, welche Gerüche neuartig, angemessen oder unangemessen waren?
Strukturen im Langzeitgedächtnis
7.4
In unseren bisherigen Beispielen sollten Sie in den meisten Fällen isolierte und unzusammenhängende Informationseinheiten erwerben und abrufen. Was Sie aber in überwiegendem Maße im Gedächtnis repräsentiert haben, sind große Bestände organisierten Wissens. Erinnern Sie sich beispielsweise daran, dass wir Sie fragten, ob Traube eine Frucht sei. Sie konnten sicherlich sehr schnell mit „Ja“ antworten. Wie steht es mit Stachelschwein? Ist es eine Frucht? Was ist mit Tomate? In diesem Abschnitt werden wir untersuchen, wie die Schwierigkeit solcher Urteile mit der Art und Weise zusammenhängt, wie Informationen im Gedächtnis strukturiert sind. Wir werden ebenfalls diskutieren, wie Ihnen Ihre Gedächtnisorganisation erlaubt, am günstigsten einen Gedächtnisinhalt zu erraten, an den Sie sich nicht hinreichend genau erinnern können.
7.4.1 Gedächtnisstrukturen Eine Grundfunktion von Gedächtnis ist es, ähnliche Erfahrungen zusammenzufassen, um Muster in der Interaktion mit der Umwelt aufzudecken. (Erinnern Sie
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Kategorisierung und Konzepte Wir werden mit einer Vorschau auf eines der Themen beginnen, die wir in Kapitel 10 behandeln werden – der mentale Aufwand, den ein Kind leisten muss, um eine Wortbedeutung zu erwerben, wie beispielsweise „Hund“. Damit diesem Wort Bedeutung verliehen werden kann, muss das Kind sowohl speichern, dass das Wort „Hund“ gefallen ist, wie auch den entsprechenden Kontext. Dadurch findet das Kind heraus, welche Kernerfahrung – ein pelziges Etwas mit vier Beinen – durch das Wort „Hund“ angesprochen wird. Das Kind muss das Wissen erwerben, dass „Hund“ nicht nur auf ein einzelnes Tier angewendet wird, sondern auf eine ganze Kategorie von Tieren. Diese Fähigkeit, Einzelerfahrungen Kategorien zuzuordnen – an ihnen die gleiche Tätigkeit auszuführen oder sie gleich zu benennen –, ist eine der grundlegendsten Fähigkeiten denkender Organismen (Murphy, 2002). Die mentalen Repräsentationen für Kategorien, die Sie aufbauen, werden als Konzepte bezeichnet. Das Konzept „Hund“ beispielsweise bezeichnet die Menge mentaler Repräsentationen von Erfahrungen mit Hunden, die ein kleines Kind im Gedächtnis gesammelt hat. (Wie wir in Kapitel 10 sehen werden, muss ein Kind jedoch noch seine Bedeutung von Hund verfeinern, um sie in Übereinstimmung mit der Bedeutungszuordnung von Erwachsenen zu bringen, da sie ansonsten Merkmale beinhaltet, die Erwachsene als unangemessen betrachten würden.) Sie haben eine sehr große Menge an Konzepten erworben. Sie haben Kategorien für Objekte und für Tätigkeiten, wie Scheune oder Fußball. Konzepte können auch Eigenschaften repräsentieren wie:
7.4 Strukturen im Langzeitgedächtnis
rot oder groß; abstrakte Ideen wie: Wahrheit oder Liebe; und Beziehungen wie: pfiffiger als oder Schwester von. Jedes Konzept steht für eine zusammenfassende Einheit Ihrer Erfahrungen mit der Welt. Betrachten Sie die vielen Erfahrungskategorien, die Ihnen im Leben begegnen. Sie werden erkennen, dass manche Angehörige einer Kategorie jeweils mehr oder weniger typisch für diese Kategorie sind. Sie können diese intuitive Erkenntnis vertiefen, indem Sie an eine Kategorie wie Vogel denken. Sie würden wahrscheinlich zustimmen, dass Rotkehlchen typische Vögel sind, während ein Strauß oder Pinguin atypisch ist. Der Grad an Typikalität, den ein Angehöriger einer Kategorie zeigt, hat Folgen für das wirkliche Leben. So hat die klassische Forschung beispielsweise gezeigt, dass Menschen schneller auf typische Angehörige einer Kategorie reagieren als auf die eher ungewöhnlichen. Die Reaktionszeit, in der Sie ein Rotkehlchen als Vogel erkennen, wäre kürzer als die, mit der Sie einen Strauß als Vogel einordnen (Rosch et al., 1976). Aber warum wird ein Rotkehlchen anders als ein Strauß gemeinhin als typischer Vogel betrachtet? Antworten auf diese Frage konzentrieren sich oft auf die Familienähnlichkeit – typische Kategorieangehörige haben Eigenschaften, die sich mit vielen anderen in derselben Kategorie überschneiden (Rosch & Mervis, 1975). Rotkehlchen verfügen über die meisten Attribute, die man mit Vögeln verbindet – sie haben ungefähr die richtige Größe, sie können fliegen und so weiter. Diese Beispiele legen nahe, dass Familienähnlichkeit eine Rolle in der Beurteilung von Typikalität spielt. Andererseits deutet die neueste Forschung darauf hin, dass die typischsten Angehörigen einer Kategorie auch die idealen Kategorieangehörigen sind.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscherteam warb Probanden aus zwei verschiedenen Bevölkerungsgruppen an, die jeweils mehrere Jahrzehnte Erfahrung im Fischen hatten: Eine der Gruppen bestand aus Menomini-Indianern aus dem nördlichen Mittel-Wisconsin; die andere Gruppe waren europäischstämmige Amerikaner aus etwa derselben Region (Burnett et al., 2005). Das Experiment bediente sich dieser beiden Gruppen, weil sie sich hinsichtlich der Fischarten, die sie für am begehrenswertesten oder ideal halten, unterscheiden. So ist etwa für die Menomini der Stör heilig. Die Forscher gaben den Teilnehmern einen Stapel von 44 Karten mit den Namen lokaler Fischarten. Die Probanden sortierten diese Karten dann in Gruppen – die Forscher benutzten die mündlichen Begründungen (zum Beispiel „gut essbar“) der Probanden, warum sie bestimmte Fische zusammen einordneten, als
Wie hilft Ihnen der Aufbau von Kategorien – beispielsweise was macht einen frischen Kopfsalat aus, eine süße Melone oder eine geschmackvolle Tomate –, die tägliche Entscheidung zu treffen, was Sie zum Abendessen kaufen sollen?
einen Index für den Grad an Begehrtheit. Außerdem bewerteten die Teilnehmer, inwieweit jede Spezies ein gutes Beispiel für die Kategorie „Fisch“ sei. Die Forscher fanden eine Korrelation von 0,8 zwischen Begehrtheit und Typikalität. (Wir erinnern uns aus Kapitel 2, dass Korrelationen von –1,0 bis +1,0 reichen.) Das ist ein beeindruckender Beweis dafür, dass die Auffassungen der Teilnehmer vom „idealen Fisch“ eine Rolle in ihrer Beurteilung der Typikalität spielten. Außerdem wurden die Bewertungen von kulturellen Unterschieden in der Begehrtheit beeinflusst: So bewerteten etwa die Menomini den Stör als typischer als die europäischstämmigen Amerikaner.
Wenn Sie nicht viel Erfahrung im Fischen haben, kennen Sie sich wahrscheinlich weniger gut als die Probanden mit der Begehrtheit von Fischen aus. Durch Ihnen sehr vertraute Kategorien können Sie jedoch einen Eindruck davon gewinnen, wie Ihre Vorstellungen von dem, was „ideal“ ist, Ihre Beurteilungen der Typikalität beeinflussen.
Hierarchien und Basisebene Konzepte und ihre Prototypen existieren nicht isoliert. Wie 씰 Abbildung 7.12 zeigt, können Konzepte oftmals als bedeutungsvolle Anordnungen organisiert sein. Eine weite Kategorie, wie beispielsweise Tier, besitzt viele Subkategorien, wie Vogel oder Fisch, die wiederum Exemplare beinhalten wie Kanarienvogel, Strauß, Hai oder Lachs. Die Tierkategorie selbst ist wieder eine Subkategorie der noch größeren Kategorie der Lebewesen. Konzepte sind auch mit anderen Arten von Informationen verbunden: Sie speichern die Information, dass einige Vögel essbar sind, andere sind gefährlich, und wiederum andere gelten als nationale Symbole.
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Abbildung 7.12: Hierarchische Organisationsstruktur von Konzepten. Die Kategorie Tier kann in Subkategorien wie Vogel oder Fisch eingeteilt werden; ähnlich kann wiederum jede Subkategorie weiter unterteilt werden. Einige Informationen (beispielsweise hat Haut) trifft für alle Konzepte in der Hierarchie zu; andere Informationen (beispielsweise kann singen) trifft nur auf Konzepte auf tieferer Ebene zu (beispielsweise für Kanarienvogel).
Es scheint eine Ebene in solchen Hierarchien zu geben, wo Menschen am besten kategorisieren und über Objekte denken können. Diese wird als Basisebene (Rosch, 1973, 1978) bezeichnet. Wenn Sie beispielsweise einen Apfel in einem Lebensmittelgeschäft kaufen wollen, könnten Sie ihn als ein Stück Obst einstufen – dies scheint jedoch zu unpräzise – oder als Golden Delicious – das scheint wiederum zu spezifisch und zu kleinlich. Die Basisebene ist einfach Apfel. Würde man Ihnen ein Bild eines solchen Objekts zeigen, dann wäre dies das wahrscheinlichste, was Sie sagen würden. Sie könnten auch schneller sagen, dass es sich um einen Apfel handelt, als dass es sich um ein Stück Obst handelt (Rosch, 1978). Die Basisebene entsteht durch sehr ähnliche Kräfte wie der Prototyp. Sie haben mehr Erfahrungen mit der Bezeichnung Apfel als mit den weniger spezifischen oder spezifischeren Alternativen. Wenn Sie allerdings Apfelzüchter werden würden, würde Ihre Basisebene möglicherweise tiefer in der Hierarchie sinken.
Schemata Wir haben gesehen, dass Konzepte als Bausteine von Gedächtnishierarchien dienen. Sie dienen auch als
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Bausteine für komplexere mentale Strukturen. Erinnern Sie sich an Abbildung 7.1. Warum wussten Sie sofort, dass der Hase nicht in die Küche gehört? Wir haben weiter oben angeführt, dass diese Beurteilung auf dem impliziten Gedächtnis beruht – wir haben jedoch nicht erwähnt, welche Struktur des Gedächtnisses wir hierfür benutzen. Offensichtlich benötigen Sie eine Repräsentation im Gedächtnis, die einzelne Konzepte von Küchenbestandteilen – Ihr Wissen über Öfen, Spülen und Kühlschränke – zu einer größeren Einheit kombiniert. Wir nennen diese größere Einheit ein Schema. Schemata sind konzeptuelle Rahmen, oder Bündelungen von Wissen, die sich auf Objekte, Menschen und Situationen beziehen. Schemata sind „Wissenspakete“, die komplexe Verallgemeinerungen über Ihre Erfahrungen mit der Struktur der Umwelt enkodieren. Sie besitzen Schemata für Küchen und Schlafzimmer, Rennfahrer und Professoren, Überraschungspartys und vielleicht für Diplomabschlussfeiern. In späteren Kapiteln werden wir noch mehr Beispiele für die Typen von Schemata vorstellen, die Ihre Alltagserfahrung prägen. In Kapitel 10 etwa werden wir sehen, dass die Bindungen, die Kinder zu ihren Eltern aufbauen, Schemata für spätere soziale Interak-
7.4 Strukturen im Langzeitgedächtnis
tionen abgeben. In Kapitel 13 zeigen wir, dass Sie ein Schema des Selbst besitzen – eine Gedächtnisstruktur, mit der Sie Informationen über sich selbst organisieren können. Sie haben vielleicht erraten, dass Ihre Schemata nicht alle individuellen Details all Ihrer unterschiedlichen Erfahrungen beinhalten. Genau wie ein Prototyp den Durchschnitt all Ihrer Erfahrungen in einer Kategorie bildet, stellt ein Schema Ihre durchschnittliche Erfahrung von Situationen in der Umwelt dar. Daher sind Ihre Schemata, wie Prototypen auch, nicht festgefügt, sondern ändern sich mit wechselnden Lebensereignissen. Ihre Schemata beinhalten zudem nur jene Details der Welt, denen sie hinreichend Aufmerksamkeit widmeten. Als beispielsweise Hochschulstudierende in den USA befragt wurden, was auf der
A.
Kopfseite von US-Münzen steht, wurde nahezu nie das Wort „Liberty“ (deutsch: „Freiheit“) angegeben, obwohl es auf jeder Münze erscheint (Rubin & Kontis, 1983). Ihre Schemata spiegeln daher genau wider, wovon Sie in der Welt Notiz genommen haben. Wir wollen nun einige Arten des Gebrauchs von Konzepten und von Schemata erläutern.
Gebrauch von Gedächtnisstrukturen Lassen Sie uns einige Beispiele von Gedächtnisstrukturen in Aktion betrachten. Zunächst betrachten wir das Bild in Teil A der 씰 Abbildung 7.13. Worum handelt es sich? Obwohl wir absichtlich einen ungewöhnlichen Angehörigen der Kategorie gewählt haben, sind Sie wahrscheinlich ziemlich leicht auf die Antwort
B.
C.
Abbildung 7.13: Kategorisierungstheorien. A. Worum handelt es sich bei diesem ungewöhnlichen Objekt? B. Eine Theorie besagt, dass Sie dieses Objekt als Stuhl kategorisieren, indem Sie es mit einem einzigen in Ihrem Gedächtnis gespeicherten Prototypen vergleichen. C. Eine andere Theorie besagt, dass Sie dieses Objekt kategorisieren, indem Sie es mit den vielen Exemplaren dieser Kategorie in Ihrem Gedächtnis vergleichen.
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„Das ist ein Stuhl“ gekommen. Dafür mussten Sie allerdings auf die Darstellungen von Angehörigen dieser Kategorie in Ihrem Gedächtnis zurückgreifen. Sie können sagen, „dies ist ein Stuhl“, weil das Objekt in der Abbildung Ihnen Ihre bisherigen Erfahrungen mit Stühlen ins Gedächtnis ruft. Die Forschung hat zwei Theorien aufgestellt, wie Menschen Konzepte im Gedächtnis einsetzen, um Gegenstände, denen sie in der Umwelt begegnen, zu kategorisieren. Die eine Theorie besagt, dass man für jedes Konzept einen Prototypen enkodiert – eine Repräsentation des zentralsten oder durchschnittlichen Angehörigen einer Kategorie (Rosch, 1978). Nach dieser Ansicht erkennt man Objekte, indem man sie mit Prototypen im Gedächtnis vergleicht. Weil das Bild in Teil A der Abbildung 7.13 viele wichtige Eigenschaften des Prototyps in Teil B aufweist, wird das Bild als das eines Stuhles erkannt. Die andere Theorie geht davon aus, dass man Erinnerungen an die vielen verschiedenen Exemplare einer Kategorie, denen man begegnet, im Gedächtnis behält. In Teil C von Abbildung 7.13 sehen Sie einen Teil der Menge aller Stühle, die Sie vielleicht schon gesehen haben. Nach dieser Theorie erkennen Sie ein Objekt, indem Sie es mit den im Gedächtnis abgespeicherten Exemplaren vergleichen. Sie erkennen das Bild als das eines Stuhls, weil es mehreren dieser Exemplare ähnelt. Forscher haben zahlreiche Studien durchgeführt, um die Prototypen- und die Exemplartheorie der Kategorisierung einander gegenüber zu stellen. Die Daten stützen zum größten Teil die Exemplartheorie: Menschen scheinen die Objekte, denen sie begegnen, zu kategorisieren, indem sie sie mit vielfachen Repräsentationen im Gedächtnis vergleichen (Nosofsky & Stanton, 2005; Smits et al., 2002). Der Stuhl in Abbildung 7.13 sollte ein ungewöhnlicher Stuhl sein, aber trotzdem eindeutig ein Stuhl. Allerdings liefert uns die Welt, wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, mitunter mehrdeutige Reize – und man interpretiert diese Stimuli mithilfe von Vorwissen. Erinnern Sie sich an Abbildung 7.14? Sehen Sie eine Ente oder ein Kaninchen? Angenommen, wir veranlassen Sie zu der Erwartung, eine Ente zu sehen. Wenn Sie die Merkmale des Bilds mit Ihren schematischen Erwartungen der Merkmale einer Ente vergleichen, sind Sie wahrscheinlich recht zufrieden. Das Gleiche würde geschehen, wenn wir Sie zur Erwartung eines Kaninchens angehalten hätten. Sie benutzen Informationen aus dem Gedächtnis, um Erwartungen zu generieren – und zu bestätigen. Wie wir bereits gesehen haben, können Sie mithilfe von Gedächtnisrepräsentationen auch erkennen, wenn
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oder
Abbildung 7.14: Illusion beim Wiedererkennen. Ente oder Kaninchen? etwas in Ihrer Umwelt ungewöhnlich ist. Deshalb ist Ihnen das aus dem Rahmen fallende Kaninchen in der Mitte von Abbildung 7.1 schnell aufgefallen. Weil das Kaninchen nicht mit Ihrem kognitiven Schema einer Küche zusammenpasst, werden Sie sich sogar sehr wahrscheinlich daran erinnern, es in dem Bild gesehen zu haben. In einer Forschungsstudie konnte gezeigt werden, dass Information, die nicht in ein Schema passt, einprägsamer ist: Hierbei wurden in einem studentischen Arbeitszimmer sowohl typische (zum Beispiel Notizbuch, Bleistift) als auch atypische Gegenständen (zum Beispiel Harmonika, Zahnbürste) (Lampinen et al., 2001) platziert. Die Probanden verbrachten eine Minute in dem Raum. In einer späteren Phase des Experiments gaben sie dann an, welche der aufgelisteten Gegenstände in dem Raum vorhanden gewesen waren. Sie erinnerten sich durchweg besser an die atypischen als an die typischen Gegenstände. Außerdem hatten die Teilnehmer eher spezifische Erinnerungen an die atypischen Gegenstände, während die Erinnerungen an die typischen Gegenstände eher auf einem allgemeinen Gefühl von Vertrautheit beruhten. Diese Studie zeigt, wie die Strukturen des Gedächtnisses Ihre Aufmerksamkeit auf ungewöhnliche Bestandteile einer Szene lenken. Insgesamt zeigen diese Beispiele, dass die Verfügbarkeit von Gedächtnisstrukturen Ihre Sicht der Welt beeinflussen kann. Ihre früheren Erfahrungen färben Ihre momentanen Erfahrungen und ändern Ihre Erwartungen an die Zukunft. Sie werden gleich sehen, dass aus genau den gleichen Gründen die Konzepte und die Schemata manchmal einer genauen Erinnerung entgegenarbeiten.
7.4 Strukturen im Langzeitgedächtnis
7.4.2 Erinnern als rekonstruktiver Prozess Wir wollen uns nun einer weiteren Form der Nutzung von Gedächtnisstrukturen zuwenden. Wenn Sie versuchen, sich an einen Informationsbestandteil zu erinnern, sind Sie oftmals nicht in der Lage, sich an diesen direkt zu erinnern. Stattdessen rekonstruieren Sie diese Information auf der Grundlage einer allgemeineren Form gespeicherten Wissens. Um rekonstruktives Gedächtnis zu erfahren, betrachten Sie die folgenden drei Fragen: War in Kapitel 3 das Wort „der“ enthalten? Gab es im Jahr 1991 einen 7. Juli? Haben Sie gestern zwischen 14:05 Uhr und 14:10 Uhr geatmet? Sie werden wahrscheinlich auf jede der Fragen ohne zu Zögern mit „Ja“ antworten, aber Sie verfügen mit großer Sicherheit nicht über spezifische episodische Gedächtnisinhalte, die Ihnen helfen würden (es sei denn, etwas geschah, um diese Ereignisse im Gedächtnis zu fixieren – vielleicht haben Sie ja am 7. Juli Geburtstag oder Sie haben alle „der“ in Kapitel 3 angestrichen, um Ihrer Langeweile zu begegnen). Um auf Fragen wie die drei genannten zu antworten, müssen Sie Gedächtnisinhalte eines großen Allgemeinheitsgrads nutzen, um zu rekonstruieren, was wahrscheinlich geschehen ist. Wir wollen nun diesen Prozess der Rekonstruktion ein wenig genauer betrachten.
Genauigkeit des rekonstruktiven Gedächtnisses Wenn Menschen Gedächtnisinhalte rekonstruieren, anstatt eine spezifische Gedächtnisrepräsentation eines Ereignisses abzurufen, dann könnte man erwarten, dass gelegentlich der rekonstruierte Gedächtnisinhalt von dem genauen Ereignis abweicht; es kommt zu Verzerrungen. Eine der eindrucksvollsten Demonstrationen von Gedächtnisverzerrungen ist gleichzeitig die älteste. In seinem klassischen Buch Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology (1932) stellte Sir Frederic Bartlett ein Forschungsprogramm vor, das aufzeigte, wie das Vorwissen von Menschen die Art und Weise beeinflusst, wie sie sich an neue Informationen erinnern. Bartlett untersuchte das Behalten von Geschichten bei britischen Studienanfängern. Inhalte und sprachliche Ausdrucksweise entstammten allerdings einer anderen Kultur. Seine berühmteste Geschichte war ein Märchen amerikanischer Indianer und trug den Titel „Der Krieg der Geister“.
Bartlett fand heraus, dass die Probanden beim Nacherzählen der Geschichte diese gegenüber dem Original oftmals stark veränderten. Die Verzerrungen, die Bartlett fand, umfassten drei Arten rekonstruktiver Prozesse: Nivellierung (englisch: leveling) – Vereinfachen der Geschichte. Akzentuierung (englisch: sharpening) – Hervorheben und Überbetonen bestimmter Details. Assimilation (englisch: assimilating) – Ändern von Details, um eine bessere Übereinstimmung mit dem eigenen Hintergrund und Wissen zu erzielen. Beim Nacherzählen der Geschichte ersetzten die Probanden unvertraute Wörter durch Wörter, die ihnen aus ihrer eigenen Kultur vertraut waren. Beispielsweise ersetzte „Boot“ das Wort „Kanu“ und „fischen gehen“ den Ausdruck „Seehunde jagen“. Die Probanden änderten auch oft den Inhalt der Geschichte, um Passagen zu eliminieren, die auf übernatürliche Kräfte verwiesen, da diese nicht vertrauter Bestandteil der eigenen Kultur waren. In der Folge von Bartlett hat die neuere Forschung eine ganze Vielzahl von Gedächtnisverzerrungen belegt, die dann auftreten, wenn Menschen konstruktive Prozesse zur Reproduktion von Gedächtnisinhalten einsetzen (Bergman & Roediger, 1999). Wie erinnern Sie sich beispielsweise daran, was Sie als Kind getan haben? Teilnehmer eines Experiments wurden gefragt, ob sie vor dem Alter von 10 Jahren eine ihrer Lieblings-Fernsehfiguren in einem Vergnügungspark getroffen und ihr die Hand gegeben hatten (Braun et al., 2002, S. 7). Nachdem sie diese Frage beantwortet hatten – als Teil eines größeren Fragebogens zu Lebenserfahrungen –, lasen einige der Teilnehmer eine Werbung für Disneyland, mit der die Vorstellung eines Familienbesuchs heraufbeschworen wurde: „Kehren Sie in Ihre Kindheit zurück ... und erinnern Sie sich an die Figuren Ihrer Jugend, Mickey, Goofy und Daffy Duck“. Darauf beschrieb die Anzeige, wie der Besucher einem seiner Helden von früher die Hand geben konnte: „Bugs Bunny, Ihre Lieblings-Zeichentrickfigur, ist nur ein paar Meter entfernt ... Sie [greifen nach oben], um ihm die Hand zu reichen“ (S. 6). Nachdem sie eine Anzeige dieser Art gelesen hatten, waren die Teilnehmer eher geneigt zu behaupten – auch im Gegensatz zu ihrer früheren Aussage – dass sie einer Filmfigur die Hand geschüttelt hatten. Außerdem wurde es wahrscheinlicher, dass sie eine spezifische Kindheitserinnerung erzählten, in der sie Bugs Bunny
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in Disneyland die Hand gegeben hatten: 16 Prozent der Teilnehmer in der Gruppe der Anzeigenleser berichteten davon, aber nur 7 Prozent der Teilnehmer in einer Gruppe, die diese autobiografische Anzeige nicht gelesen hatte. Natürlich kann keine dieser Erinnerungen wirklich stimmen, denn Bugs Bunny ist keine Disneyfigur! Diese Studie zeigt, wie sogar Erinnerungen aus dem eigenen Leben aus verschiedenen Quellen rekonstruiert werden. Die Studie belegt auch, dass Menschen sich nicht immer genau an die Originalquellen der verschiedenen Komponenten ihrer Erinnerungen erinnern können (Mitchell & Johnson, 2000). Tatsächlich hat die Forschung gezeigt, dass man Menschen dazu bringen kann zu glauben, sie hätten Dinge tatsächlich getan, die sie nur in ihrer Vorstellung ausgeführt hatten.
AUS DER FORSCHUNG Eine Gruppe von 210 College-Studenten nahm an einem Experiment teil, das aus drei Sitzungen bestand. In Sitzung 1 saßen die Studenten an einem Tisch, auf dem eine Auswahl von Gegenständen lag. Der Versuchsleiter las den Teilnehmern eine Liste vor, was man mit den Objekten anstellen konnte. Einige dieser Handlungen waren nicht ungewöhnlich (zum Beispiel die Münze werfen), andere waren bizarr (zum Beispiel sich auf den Würfel setzen). Die Studenten sollten dann die Hälfte dieser Handlungen tatsächlich ausführen (sowohl normale als auch bizarre), sich das Ausführen der anderen Hälfte aber nur vorstellen. Die zweite Sitzung fand 24 Stunden später statt. In dieser Sitzung sollten die Studenten sich bis zu fünf Mal hintereinander nur vorstellen, eine Handlung auszuführen – darunter auch einige vom Tag vorher. In der dritten Sitzung, die zwei Wochen nach der zweiten stattfand, sollten sich die Studenten an die erste Sitzung erinnern. Sie sollten sich daran erinnern, ob sie eine bestimmte Handlung tatsächlich ausgeführt oder sie sich nur vorgestellt hatten. Sowohl für normale als auch für bizarre Handlungen galt das selbe Muster: Je öfter sich die Studierenden in der zweiten Sitzung eine Handlung vorgestellt hatten, desto wahrscheinlicher erinnerten sie sich, diese Handlung tatsächlich ausgeführt zu haben – auch, wenn sie es nie getan hatten (Thomas & Loftus, 2002).
Können Sie dieses Ergebnis in Ihrem eigenen Leben anwenden? Angenommen, Sie erinnern sich selbst mehrfach daran, den Wecker zu stellen, bevor Sie ins Bett gehen. Jedes Mal formen Sie im Geiste ein Bild mit den dazu notwendigen Schritten. Wenn Sie sich das oft genug vorstellen, glauben Sie am Ende vielleicht irrtümlicherweise, den Wecker bereits tatsächlich gestellt zu haben!
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Stellen Sie sich vor, Sie wären bei dieser Grillparty und jemand sagte Ihnen, der Mann zu Ihrer Linken sei ein Millionär. Wie würde dies Ihre Gedächtnisinhalte im Hinblick auf das Verhalten dieses Mannes während der Grillparty verändern? Was wäre, wenn man Ihnen gesagt hätte, dieser Mann habe nur die Wahnvorstellung, Millionär zu sein? Man sollte allerdings im Blick behalten, dass Psychologen – genau wie in Kapitel 4, wo es um Wahrnehmungstäuschungen ging – dazu neigen, das normale Funktionieren eines Prozesses durch die Demonstration von Umständen zu erforschen, in denen dieser Prozess zu Fehlern führt. Sie können sich diese Gedächtnisverzerrungen als Konsequenzen eines Vorgangs vorstellen, der normalerweise ziemlich gut funktioniert. Tatsächlich müssen wir uns oft gar nicht an die genauen Einzelheiten einer Episode erinnern. Eine Rekonstruktion des Grundsachverhalts reicht meistens aus. Es gibt jedoch mindestens einen Bereich im Leben, wo Sie verpflichtet werden, das Geschehene ganz genau wiederzugeben. Dies sind Zeugenaussagen.
Gedächtnis und Zeugenaussagen Zeugen im Gerichtssaal schwören, „die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen“. Im Laufe dieses Kapitels haben wir allerdings gesehen, dass die Genauigkeit der Erinnerung davon abhängt, wie sorgfältig der Gedächtnisinhalt enkodiert wurde und abhängt von der Übereinstimmung der Umstände beim Enkodieren und beim Abruf. Denken Sie an die Zeichnung mit den vielen Menschen, die Sie weiter vorne in diesem Kapitel im Zusammenhang mit dem sensorischen Gedächtnis betrachten sollten. Versuchen Sie, ohne nachzusehen, so viel wie möglich aus dieser Szene aufzuschreiben oder im Geiste durchzugehen. Jetzt blättern Sie zurück zur Seite 237. Wie haben Sie abgeschnitten? War alles, woran Sie sich erinnerten, zutref-
7.4 Strukturen im Langzeitgedächtnis
Warum könnten die verschiedenen Formulierungen, mit denen Augenzeugen einen Unfall beschreiben, ihre späteren Erinnerungen beeinflussen? fend? Da die Forschung davon ausgeht, dass Menschen nicht „die Wahrheit“ berichten können, auch wenn Sie sich bemühen dies zu tun, hat sie sich im Zusammenhang mit Gedächtnis stark dem Thema Zeugenaussagen gewidmet. Dem Rechtssystem soll hierbei geholfen werden, die beste Methode herauszufinden, um Genauigkeit und Zutreffen von Zeugenaussagen zu sichern. Elizabeth Loftus und ihre Kollegen (1979; Wells & Loftus, 2003) führten wichtige Untersuchungen zum Gedächtnis bei Zeugenaussagen durch. Die Hauptschlussfolgerung ihrer Forschung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn Augenzeugen berichten, was sie gesehen haben, dann sind diese Gedächtnisinhalte recht störanfällig gegenüber Verzerrungen durch später hinzugekommene Informationen. Beispielsweise wurde in einer Untersuchung Probanden ein Film von einem Autounfall gezeigt und sie sollten schätzen, wie schnell die beteiligten Autos gefahren sind (Loftus & Palmer, 1974). Allerdings lautete die Frage für einige Probanden: „Wie schnell sind die Autos gefahren, als sie ineinander gekracht sind?“ – während sie für andere Probanden lautete: „Wie schnell sind die Autos gefahren, als sie sich berührten?“ Die Probanden der ersten Gruppe schätzten die Geschwindigkeit im Mittel auf 65 Kilometer pro Stunde, jene der zweiten Gruppe auf 50 Kilometer. Eine Woche später wurden die Augenzeugen befragt: „Haben Sie zerbrochenes Glas gesehen?“ In Wahrheit war in dem Film kein zerbrochenes Glas zu sehen. Etwa ein Drittel der Probanden der ersten Gruppe gab an, dass Glas zu sehen gewesen sei, von der zweiten Gruppe gaben dies lediglich 14 Prozent an. Es zeigt sich daher, dass nach dem Ereignis gegebene Informationen einen beachtlichen Einfluss darauf haben, was Augenzeugen angeben, erlebt zu haben.
Dieses Experiment stellt nach, was vermutlich der tatsächlichen Erfahrung der meisten Augenzeugen entspricht: Nach dem Ereignis haben sie zahlreiche Gelegenheiten, neue Informationen aufzunehmen, die mit ihren ursprünglichen Erinnerungen in Wechselwirkung treten. Loftus und ihre Kollegen konnten zeigen, dass Versuchsteilnehmer oft unter einem Falschinformationseffekt leiden (Loftus, 2005). So sahen zum Beispiel die Teilnehmer einer Studie eine Bilderserie eines Autounfalls. Danach wurden ihnen einige Fragen gestellt. Eine der Fragen lautete für die eine Hälfte der Teilnehmer: „Fuhr ein anderes Auto an dem roten Datsun vorbei, während er vor dem Stoppschild hielt?“ Für die andere Hälfte lautete diese Frage: „Fuhr ein anderes Auto an dem roten Datsun vorbei, während er an dem Vorfahrt-gewähren-Schild hielt?“ Das ursprüngliche Bild zeigte ein Stoppschild. Anschließend sollten die Teilnehmer das ursprüngliche Bild aus zwei Bildern wiedererkennen, wobei eines ein Stoppschild zeigte, das andere ein Vorfahrt-gewähren-Schild. 75 Prozent derjenigen, die zuvor nach einem Stoppschild gefragt worden waren, trafen nun die richtige Entscheidung, aber nur 41 Prozent derjenigen, die nach einem Vorfahrt-gewähren-Schild gefragt worden waren (Loftus et al., 1978). Hier zeigt sich ein starker Einfluss von Fehlinformation.
AUS DER FORSCHUNG In einem Experiment sahen die Probanden eine Diashow, die von einem Bürodieb handelte. Die Diashow war mit der Tonaufnahme einer Frau unterlegt, welche die Sequenz der Ereignisse beschrieb. Unmittelbar nach Ablauf der Diashow hörten die Probanden nochmals die Beschreibung der Ereignisse durch die Frau. Allerdings beinhaltete diese Beschreibung dieses Mal Falschinformationen. Beispielsweise sagte nun die Stimme auf der Tonspur bei Probanden, die das Glamour-Magazin gesehen hatten, stattdessen Vogue. 48 Stunden später wurde die Gedächtnisleistung der Probanden für die Informationen auf den Dias getestet. Sie wurden dabei explizit informiert, dass sich keine Frage auf Gedächtnisinhalte in Bezug auf das zweite Hören der Tonspur bezieht. Wenn also die Probanden eine klare Trennung zwischen dem Originalereignis und den Informationen nach dem Ereignis vornehmen können, dann sollten sie durch die späteren Informationen unbeeinflusst bleiben. Dies war nicht der Fall. Auch bei fairer Warnung erinnerten sich die Probanden oftmals an die später gegebenen Falschinformationen anstelle des ursprünglichen Gedächtnisinhalts (Lindsay, 1990).
Die Teilnehmer hatten nicht zwischen den Originalquellen der Gedächtnisinhalte – während des Ereig-
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nisses oder nach dem Ereignis – unterscheiden können. Die Forschung arbeitet weiter daran, das Verständnis der Umstände, die Augenzeugen irreführen, zu verfeinern. So hat sie etwa gezeigt, dass Fehlinformation einen größeren Effekt hat, wenn die Quelle derjenigen des ursprünglichen Ereignisses ähnelt – wenn die Quellen sich von einander unterscheiden, können die Menschen besser unterscheiden, welche Information aus welcher Quelle stammte (Lindsay et al., 2004). Diese Art von Ergebnis zeigt die Grenze auf, in welchem Maße Augenzeugenaussagen durch andere Informationen beeinflussbar sind. Wir haben jetzt verschiedene wichtige Merkmale der Enkodierung, Speicherung und des Abrufs von Informationen diskutiert. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels werden wir die biologischen Grundlagen für diese Gedächtnisfunktionen erläutern.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Beziehung besteht zwischen Kategorien und
Konzepten? 2 Was behauptet die Exemplartheorie der Kategorisie-
rung? 3 Welche drei Prozesse verursachen laut Frederic Bart-
lett Verzerrungen im rekonstruktiven Gedächtnis? 4 Wie demonstrierten Elizabeth Loftus und ihre Kollegen
Falschinformationseffekte? KRITISCHES DENKEN: Warum haben die Forscher in der Studie über die Typikalität von Fischarten zwei Teilnehmergruppen aus derselben geografischen Region eingesetzt?
Biologische Aspekte des Gedächtnisses
7.5
Es ist wieder so weit, dass wir Sie nach der Zahl fragen wollen, die Sie sich zu Beginn dieses Kapitels eingeprägt haben. Erinnern Sie sich an die Zahl noch immer? Was war der Zweck dieser Aufgabe? Denken Sie eine Minute über die biologischen Aspekte nach, die Ihnen erlauben, ein beliebiges Stück Information anzusehen und es sofort ins Gedächtnis zu übertragen. Wie leisten Sie dies? Einen Gedächtnisinhalt zu enkodieren bedeutet, sofort etwas in Ihrem Gehirn zu verändern. Wenn dieser Gedächtnisinhalt zumindest für die Dauer eines Kapitels bestehen soll, dann muss die Veränderung das Potenzial besitzen, permanent zu werden. Haben Sie sich jemals darüber gewundert, wie
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dies möglich ist? Zu unserer Entschuldigung können wir ins Feld führen, dass Sie die Zufallszahl wiedergeben sollten, weil Sie dies vielleicht als Anlass nehmen können, über die bemerkenswerte Leistung der Biologie im Hinblick auf das Gedächtnis zu reflektieren. Wir wollen nun etwas genauer in das Gehirn sehen.
7.5.1 Suche nach dem Engramm Lassen Sie uns Ihren Gedächtnisinhalt der Zahl 46 betrachten, oder genauer, Ihren Gedächtnisinhalt, dass die Zahl 46 jene Zahl war, die Sie sich einprägen sollten. Wie können wir herausfinden, wo in Ihrem Gehirn sich dieser Gedächtnisinhalt befindet? Karl Lashley (1929, 1959) gilt als Pionier der Forschung zur Anatomie des Gedächtnisses und bezeichnete diese Frage als Suche nach dem Engramm, der physikalischen Gedächtnisrepräsentation. Lashley trainierte Ratten, in Labyrinthen zu laufen, dann entfernte er unterschiedlich große Teile ihres Cortex und testete wiederum ihr Erinnerungsvermögen für Labyrinthe. Er fand heraus, dass das Erinnerungsvermögen proportional mit der Masse an entferntem Gewebe sank. Die Gedächtnisleistung wurde geringer, je mehr Cortex-Gewebe geschädigt war. Das Absinken der Gedächtnisleistung war allerdings unabhängig davon, welchen Teil des Cortex er entfernte. Lashley schlussfolgerte, dass das schwer zu fassende Engramm nicht in einer bestimmten Region existiert, sondern weit verteilt im ganzen Gehirn. Vielleicht konnte Lashley das Engramm nicht finden, weil eine ganze Vielzahl von Gedächtnisformen bei einer so einfach erscheinenden Aufgabe ins Spiel tritt. Lernen im Labyrinth beinhaltet komplexe Interaktionen von räumlichen, visuellen und olfaktorischen Signalen. Neurowissenschaftler sind heute der Ansicht, dass die Gedächtnisinhalte für komplexe Sets von Informationen über viele neuronale Systeme verteilt sind, obwohl diskrete Arten von Wissen in umgrenzten Gehirnregionen getrennt verarbeitet und abgelegt werden (Markowitsch, 2000; Rolls, 2000). Vier wichtige Gehirnstrukturen sind in das Gedächtnis involviert:
Das Cerebellum, das wichtig ist für das prozedurale Gedächtnis, für Gedächtnisinhalte, die durch Wiederholen erworben werden, und für Reaktionen beim klassischen Konditionieren. Das Striatum, eine komplexe Struktur im Vorderhirn, wahrscheinlich die Basis für Gewohnheitsbildung und für Reiz-Reaktions-Verbindungen.
7.5 Biologische Aspekte des Gedächtnisses
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Warum greift die Alzheimer‘sche Krankheit das Gedächtnis an?
In den letzten Jahren hat die Forschung ein tieferes Verständnis dafür gewonnen, wie Erinnerungen im Gehirn entstehen. Diese Kenntnisse haben eine spezielle Beschäftigung mit der Alzheimer’schen Krankheit ermöglicht, einer biologischen Veränderung, bei der die Gedächtnisfunktionen langsam erlöschen. Diese Krankheit trifft etwa 5 Prozent aller Amerikaner zwischen 65 und 74 Jahren. Bei Menschen über 65 Jahren verdoppelt sich das Krankheitsrisiko alle 5 Jahre – sie trifft nahezu 50 Prozent aller Menschen über 85 (National Institute on Aging, 2005). Das Anfangsstadium der Alzheimer’schen Krankheit wirkt täuschend harmlos – das erste beobachtbare Symptom ist vielleicht nur ein schlechtes Gedächtnis. Danach aber folgt ein stetiger Verfall. Alzheimerpatienten zeigen oft allmähliche Persönlichkeitsveränderungen wie Teilnahmslosigkeit, mangelnde Spontanität und Rückzug aus sozialen Interaktionen. Im fortgeschrittenen Stadium verstummen Alzheimerpatienten oft völlig, sind apathisch und vergessen sogar die Namen von Ehepartnern und Kindern. Die Symptome der Alzheimer’schen Krankheit wurden zuerst 1906 vom deutschen Psychiater Alois Alzheimer beschrieben. In diesen frühen Untersuchungen fiel Alzheimer auf, dass sich in den Gehirnen der an der Krankheit Verstorbenen ungewöhnliche Knäuel neuralen Gewebes und klebrige, Ablagerungen (als Plaque bezeichnet) fanden. Allerdings konnte Alzheimer nicht bestimmen, ob diese Gewebeveränderungen im Gehirn die Ursache der Krankheit oder eine ihrer Folgen war. (Wie Sie sich aus Kapitel 2 erinnern, bedeutet Korrelation nicht unbedingt Kausalität.) Erst in den letzten 10 bis 15 Jahren konnte die Forschung die Belege zusammentragen, dass die Plaques den Verfall des Hirngewebes verursachen (Esler & Wolfe, 2001; Hardy & Selkoe, 2002). Die Plaques bestehen aus einer Peptidsubstanz namens Beta-Amyloid (Ab). Normale Vorgänge im menschlichen Gehirn, die Wachstum und Versorgung der Neuronen unterstützen, erzeugen Ab als Nebenprodukt. Gewöhnlich löst es sich dann ohne schädliche Folgen in der die Neuronen umgebenden
Der cerebrale Cortex, verantwortlich für das sensorische Gedächtnis und für Assoziationen zwischen Sinneseindrücken. Die Amygdala und Hippocampus, weitgehend verantwortlich für das deklarative Gedächtnis von Fakten, Daten und Namen und verantwort-
Flüssigkeit auf. Bei der Alzheimer’schen Krankheit wird Ab allerdings tödlich für die Neuronen, indem es Plaques bildet und die Gehirnzellen zur Selbstzerstörung bringt (Marx, 2001). Das so erreichte Verständnis der Rolle von Ab beim Fortschreiten der Alzheimer’schen Krankheit hat zu wichtigen neuen Durchbrüchen geführt. So verbessert die Forschung etwa die Möglichkeiten zur Diagnose der Krankheit. Wie Kapitel 10 zeigt, wird der Alterungsprozess beim Menschen von einigen normalen Veränderungen der Hirnfunktionen begleitet. Um die Alzheimer’sche Krankheit möglichst frühzeitig diagnostizieren zu können, brauchen Ärzte daher eine Methode, um zu entscheiden, ob die Gedächtnisverschlechterung bei älteren Erwachsenen über das Normalmaß hinausgehen. Den größten Teil der letzten 100 Jahre über war das eine schwierige Aufgabe. Die Alzheimer’sche Krankheit konnte nur durch Autopsie des Gehirns sicher diagnostiziert werden – was natürlich nicht möglich war, solange die Patienten am Leben waren. Inzwischen haben Forscher aber begonnen, Anwendungen für PETScans (siehe Kapitel 3) zu entwickeln, mit welchen Ab im lebenden Gehirn entdeckt werden kann (Helmuth, 2002a). Der entscheidende Fortschritt war dabei die Entwicklung eines radioaktiven Markers, der sich an die Ab-Plaque anlagert. Dieser Marker wird in PET-Scans sichtbar und dient so zur frühen Diagnose von bedrohlichen Ab-Mustern im Gehirn. Frühe Diagnose würde eine frühe Behandlung mit dem Ziel, die negativen Effekte der Krankheit einzudämmen, ermöglichen. Obwohl die Wissenschaft verschiedene Präventivmaßnahmen und Behandlungen erarbeitet, konzentrieren sich mehrere Richtungen der Forschung wieder auf Ab (Travis, 2005). So wird etwa nach Methoden gesucht, bereits die biochemischen Prozesse zu unterbrechen, die A erzeugen. Des Weiteren werden Techniken entwickelt, die Ab-Plaque zu zerstören, wenn sie bereits begonnen hat, sich abzulagern. Insgesamt lassen diese Ansätze erhoffen, dass die Alzheimer’sche Krankheit kommende Generationen weniger schwer treffen wird.
lich für Gedächtnisinhalte mit emotionaler Bedeutung. Andere Teile des Gehirns wie etwa der Thalamus, das basale Vorderhirn und der präfrontale Cortex sind als Durchgangsstationen bei der Bildung spezifischer Arten von Gedächtnisinhalten beteiligt (씰 Abbildung 7.15).
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Abbildung 7.15: Am Gedächtnis beteiligte Hirnstrukturen. Diese vereinfachte Abbildung zeigt die wichtigsten Strukturen des Gehirns, die an Aufbau, Speicherung und Abruf von Gedächtnisinhalten beteiligt sind.
Thalamus
Striatum Präfrontaler Cortex
Amygdala
Cerebellum
Hippocampus
In Kapitel 3 haben wir unser Augenmerk direkt auf die Anatomie des Gehirns gelenkt. Hier betrachten wir die Methoden der Neurowissenschaftler, die zu Schlussfolgerungen über die Rolle spezifischer Hirnstrukturen für das Gedächtnis führen. Wir werden zwei Arten von Forschungsrichtungen darstellen. Erstens werden wir die Einblicke anführen, die durch „Experimente der Natur“ entstanden sind – Umstände, unter denen Individuen nach einer Schädigung des Gehirns freiwillig an weiterer Forschung teilnehmen. Zweitens beschreiben wir, wie die Forschung neue bildgebende Verfahren benutzt, um das Verständnis von Gedächtnisprozessen im Gehirn besser zu verstehen.
7.5.2 Amnesie Im Jahre 1960 erlitt Nick A., ein junger Radartechniker der Luftwaffe, eine gravierende Verletzung, die auf Dauer sein Leben veränderte. Nick saß an seinem Tisch, während sein Zimmerkollege mit einem Miniaturdegen spielte. Dann stand Nick plötzlich auf und drehte sich um – gerade als sein Kamerad sich zufällig mit dem Schwert nach vorne wandte. Der Degen durchstieß sein rechtes Nasenloch und drang in die linke Seite seines Gehirns ein. Dieser Unfall hinterließ Nick mit starken Orientierungsproblemen. Sein schlimmstes Problem war eine Amnesie, ein Gedächtnisverlust über eine längere Zeitspanne hinweg. Aufgrund seiner
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Hirnstamm
Amnesie vergisst Nick viele Ereignisse unmittelbar, nachdem sie eingetreten sind. Nachdem er einige Absätze Text gelesen hat, entschlüpft ihm der erste Satz aus dem Gedächtnis. Er kann sich nicht an die Handlung einer Fernsehshow erinnern, es sei denn, er denkt während der Werbepause nochmals aktiv darüber nach und wiederholt, was er gerade gesehen hat. Die besondere Form von Amnesie, an der Nick leidet, wird als anterograd bezeichnet. Das bedeutet, dass Nick keine expliziten Erinnerungen an Ereignisse nach dem Zeitpunkt der physischen Schädigung seines Gehirns mehr speichern kann. Andere Patienten leiden an retrograder Amnesie. In diesen Fällen verhindert die Hirnschädigung das Sicherinnern von Gedächtnisinhalten, die vor Verletzung angelegt wurden. Wenn Sie je das Pech hatten, einen heftigen Schlag auf den Kopf zu bekommen (etwa bei einem Autounfall), haben Sie wahrscheinlich eine retrograde Amnesie für die Ereignisse kurz vor dem Unfall erlitten. Die Forscherinnen und Forscher sind dankbar für Patienten wie Nick, die sich als „Experimente der Natur“ für Untersuchungen zur Verfügung stellen. Indem der Ort einer Gehirnschädigung mit einem Muster von Leistungsdefiziten in Verbindung gebracht wird, beginnen wir die Korrespondenz zwischen Gedächtnisformen und Gehirnregionen zu verstehen (O’Connor & Lafleche, 2005). Nick erinnert sich immer noch daran, wie er Dinge tun soll – sein prozedurales Wissen scheint intakt, auch wenn das deklarative Wissen ge-
7.5 Biologische Aspekte des Gedächtnisses
litten hat. So erinnert er sich beispielsweise, wie die Zutaten eines Rezeptes gemixt, gerührt und gebacken werden, aber er hat vergessen, welche Zutaten für das Rezept benötigt werden. Die selektive Schädigung des expliziten Gedächtnisses, wie sie in Nicks Fall vorliegt, deutet stark darauf hin, dass verschiedene Hirnareale für verschiedene Arten von Enkodierung und Abruf zuständig sind. Deshalb kann die Schädigung einer einzelnen Hirnregion einen Gedächtnisprozess beeinträchtigen, ohne andere zu betreffen. Forscher haben diese Art von Dissoziierung nachgewiesen, indem sie expliziten und impliziten Gedächtnisgebrauch miteinander kontrastierten.
AUS DER FORSCHUNG Fünfzehn Amnesiepatienten und zwölf Angehörige einer Kontrollgruppe nahmen an einer Studie teil, die ihre expliziten und impliziten Gedächtnisfähigkeiten untersuchte (Goshen-Gottstein et al., 2000). In dem Experiment bekamen die Teilnehmer Wortpaare wie Handtasche – Soße vorgelegt. Sie sollten dann für jedes Paar einen inhaltlich korrekten Satz bilden, der die beiden Wörter in ihrer ursprünglichen Reihenfolge enthielt (wie etwa: „Ich füllte die Handtasche mit Soße“). Danach führten die Probanden Aufgaben zum expliziten und impliziten Gedächtnis aus. In der expliziten Aufgabe bekamen die Teilnehmer wieder Wortpaare gezeigt und sollten angeben, ob sie die beiden Wörter eines Paares bereits zuvor gesehen hatten. Im Vergleich mit der Kontrollgruppe schnitten die Amnesiepatienten bei dieser expliziten Aufgabe ziemlich schlecht ab. Für die Aufgabe zum impliziten Gedächtnis wurden wieder Wortpaare präsentiert. In diesem Fall sollten die Probanden allerdings angeben, ob beide Buchstabenfolgen korrekt gebildete Wörter des Englischen seien. Bei dieser impliziten Aufgabe lagen die Amnestiker mit den Kontrollprobanden gleichauf. Obwohl die Amnesiepatienten sich nicht explizit erinnern konnten, dass sie die Wörter (wie etwa Handtasche und Soße) zusammen gesehen hatten, verbesserte sich durch ihre Erfahrung, mit diesen Wörtern bereits gearbeitet zu haben (durch die Bildung von Sätzen), dennoch ihre Leistung bei der impliziten Aufgabe.
Das Wissen, dass bestimmte Formen von Hirnschädigungen selektiv das explizite, nicht aber das implizite Gedächtnis beeinträchtigen, erlaubt der Forschung, spezifische Beiträge der beiden Formen von Gedächtnis auf das Enkodieren und den Abruf zu isolieren. Betrachten Sie beispielsweise, wie Menschen neue verbale Assoziationen bilden bei Sätzen wie: „Medizin heilte Schluckauf“. Aus der Art von Forschung, die wir gerade beschrieben haben, wissen wir, dass Men-
schen mit Amnesie Wissen über Wörter außerhalb des expliziten Bewusstseins erwerben können. – Können sie aber auch Wissen über Assoziationen zwischen Wörtern erwerben? Im Hinblick auf einen Patienten namens C. V. müssen wir diese Frage mit „Nein“ beantworten. C. V. litt an einer Amnesie, die von einer Schädigung eines Teils des Temporallappens, des medialen Temporallappens, herrührte (Rajaram & Coslett, 2000). Obwohl sich bei C. V. Hinweise auf perzeptuelles implizites Gedächtnis ergaben, gab es keine Belege für konzeptuelles implizites Gedächtnis. Dieses Ergebnis legt nahe, dass Sie ohne Funktionen des expliziten Gedächtnisses bestimmte Arten von Assoziationen nicht enkodieren können. Untersuchungen dieser Art erlauben ein besseres Verständnis der Grundlagen und Funktionsweisen des Gedächtnisses im Gehirn wie auch der Organisation von Gedächtnisprozessen.
7.5.3 Bildgebende Verfahren in der Hirnforschung Psychologen und Psychologinnen haben einen großen Teil ihres Wissens über die Beziehung zwischen Anatomie und Gedächtnis diesen amnestischen Patienten zu verdanken, die großzügigerweise als Probanden an Experimenten teilnahmen. Allerdings hat der Siegeszug bildgebender Verfahren die Forschung in die Lage versetzt, Gedächtnisprozesse bei Menschen ohne Hirnschädigung zu untersuchen (Nyberg & Cabeza, 2000). (Vielleicht wollen Sie den Abschnitt zu bildgebenden Verfahren in Kapitel 3 nochmals durchsehen.) Beispielsweise haben Endel Tulving und seine Kollegen (Habib et al., 2003) mithilfe der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) einen Unterschied in der Aktivation beider Gehirnhälften beim Enkodieren und beim Abruf episodischer Information ausgemacht. Ihre Untersuchungen entsprechen Standardgedächtnisuntersuchungen mit der Ausnahme, dass der cerebrale Blutfluss der Probanden während des Enkodierens und des Abrufs durch PET aufgezeichnet wurde. Die Forscher fanden überproportional hohe Hirnaktivität im linken präfrontalen Cortex (씰 Abbildung 7.16) bei der Enkodierung episodischer Information und im rechten präfrontalen Cortex beim Abruf episodischer Information. Somit lassen sich die Prozesse auch anatomisch unterscheiden, zusätzlich zur konzeptuellen Unterscheidung, wie sie von kognitiven Psychologen getroffen wird. Forschung mithilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT; englisch: fMRI von Functional Magnetic Resonance Imaging) erbrachte weitere
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Rechts
Links
Enkodieren
Abruf
Abbildung 7.16 Gehirnaktivität beim Enkodieren und beim Abruf. Die Grafik zeigt die Hirnareale, die beim Enkodieren im Vergleich zum Abruf von Gedächtnisinhalten am stärksten aktiviert waren. Die PET-Scans zeigen eine überproportional hohe Aktivität im linken präfrontalen Cortex beim Enkodieren episodischer Information und im rechten präfrontalen Cortex für den Abruf episodischer Information (nach Habib et al., 2003).
beachtenswerte Details, wie Gedächtnisfunktionen im Gehirn verteilt sind. So haben fMRT-Studien etwa begonnen, die spezifischen Hirnareale zu identifizieren, die bei der Speicherung neuer Gedächtnisinhalte aktiviert werden.
AUS DER FORSCHUNG In einem Projekt wurde die Informationsübertragung vom Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis untersucht (Ranganath et al., 2005). In dieser Studie wurden den Probanden jeweils eine Sekunde lang Strichzeichnungen komplexer Formen gezeigt. Die Experimentatoren wiesen die Teilnehmer an, sich das jeweilige Bild so gut einzuprägen, dass sie es etwa 7 bis 13 Sekunden lang im Arbeitsgedächtnis behalten konnten. Am Ende dieses Intervalls wurde ihnen ein zweites Bild gezeigt, und sie sollten angeben, ob es mit dem ersten identisch sei oder nicht. Während dieser ganzen Zeit wurden fMRT-Scans an den Teilnehmern durchgeführt. Nach 128 Durchgängen wurde ein überraschender Test des Langzeitgedächtnisses durchgeführt. Die Teilnehmer sahen eine Reihe von Strichzeichnungen und versuchten sich zu erinnern, welche davon in den ursprünglichen Versuchsdurchgängen bereits vorgekommen waren. Wie man sich denken kann, lagen die Probanden manchmal richtig und manchmal falsch. Die fMRT-Scans enthüllten ein faszinierendes Muster: Wenn während der Zeit, in der die einzelnen Strichzeichnungen zuerst ins Arbeitsgedächtnis enkodiert wurden, die Areale im präfrontalen Cortex und im Hippocampus erhöhte Aktivität zeigten, konnten die Teilnehmer diese Strichzeichnungen später eher wiedererkennen; wenn diese Areale aber beim Enkodieren eher wenig aktiv waren, schlug das Wiedererkennen fehl.
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Wir wissen nicht genau, was die Teilnehmer eigentlich taten, um beim Betrachten der Zeichnungen die erhöhte Hirnaktivität auszulösen. Auf jeden Fall ließ sich anhand dieser Reaktion des Gehirns erfolgreich voraussagen, woran sich die Teilnehmer erinnern würden. Diese Studie enthüllte die biologische Basis für die Entstehung neuer Gedächtnisinhalte. In der Geschichte der Hirnforschung ist es sehr schwierig gewesen, Bilder einiger der wichtigsten subcortikalen Areale zu erhalten, die an Gedächtnisprozessen beteiligt sind. So ist zum Beispiel der Hippocampus, wie Sie in Abbildung 7.15 sehen können, eine kleine, eng gerollte Spirale tief im Innern des Gehirns. Inzwischen haben aber neue Durchbrüche im fMRTVerfahren erste Bilder der spezifischen Bereiche des Hippocampus ergeben, die aktiv sind, wenn Menschen neue Assoziationen herstellen und wieder abrufen.
AUS DER FORSCHUNG Während sie in einem MRT-Gerät lagen, nahmen die Probanden an einem Gedächtnisexperiment teil. Sie betrachteten dabei Bilder von Gesichtern Fremder, denen Namen zugeordnet waren (zum Beispiel Janet). Diese Aufgabe sollte die Art neuer Assoziationen zwischen Gesicht und Name widerspiegeln, die man auch im täglichen Leben anstellen muss. Die Gehirnscans zeigten ein bemerkenswertes Aktivitätsmuster (씰 Abbildung 7.17). Ein Paar von Regionen im Hippocampus – die Areale zwei und drei des Cornu ammonis (abgekürzt: CA23) und des Gyrus dentatus (abgekürzt: DG) – zeigten während des anfänglichen Enkodierens erhöhte Aktivität. Sobald die Teilnehmer die Assoziationen allerdings einmal gelernt hatten, ließen diese Teilgebiete in ihrer Aktivität nach und ein anderes Teilgebiet namens Subiculum wurde stattdessen eigens für den Abruf der neuen Assoziationen zwischen Namen und Gesichtern aktiv (Zeineh et al., 2003). Wenn Sie nicht gerade in den kognitiven Neurowissenschaften forschen, braucht es Sie nicht zu kümmern, warum der Gyrus dentatus für die Enkodierung und das Subiculum für den Abruf von Informationen zuständig ist. Doch sollten Studien dieser Art Ihr Bewusstsein schärfen für die Verbindungen zwischen den Gedächtnisprozessen, die in den Modellen der kognitiven Psychologie benannt werden (wie etwa Enkodierung und Abruf), und den zugehörigen biologischen Vorgängen im Gehirn. Die Ergebnisse bildgebender Verfahren machen deutlich, warum Forscher unterschiedlicher Disziplinen eng zusammenarbeiten müssen im Unterfangen, ein volles Verständnis von Gedächtnisprozessen zu erlangen. Psychologinnen und Psychologen liefern
Zusammenfassung
Daten zu Leistungen des Menschen, die als Grundlage für Neurophysiologen dienen, spezialisierte Hirnstrukturen zu entdecken. Gleichzeitig beschränken die Gegebenheiten der Physiologie psychologische Theorien zu Mechanismen der Enkodierung, Speicherung und des Abrufs in fruchtbarer Weise. Durch gemeinsame Anstrengungen liefern Wissenschaftler dieser Fachrichtungen einen guten Einblick in Gedächtnisprozesse.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Schlussfolgerung zog Karl Lashley über den Ort
des Engramms? 2 Was ergab die Forschung über die Schädigung des im-
pliziten Gedächtnisses bei Amnesiepatienten?
Abbildung 7.17: Regionen des Hippocampus, die an Enkodierung und Abruf beteiligt sind. Die Rot dargestellten Gebiete – Region zwei und drei des Cornu ammonis (CA23) und der Gyrus dentatus (DG) sind beim Enkodieren neuer Informationen besonders aktiv. Die Blau gezeigte Region – das Subiculum – ist während des Abrufs besonders aktiv. Die violette Region – der Gyrus fusiformis (FG) – ist sowohl beim Enkodieren als auch beim Abruf aktiv, was darauf hindeutet, dass die Aktivierung weder speziell mit dem Lernen noch dem Sicherinnern zu tun hat (nach Zeineh et al., 2003).
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Was ist Gedächtnis? Kognitive Psychologen untersuchen das Gedächtnis als eine Form der Informationsverarbeitung. Gedächtnisinhalte, die bewusster Anstrengung bedürfen, sind explizit. Unbewusste Gedächtnisinhalte sind implizit. Das deklarative Gedächtnis betrifft Fakten; prozedurales Gedächtnis betrifft das Ausführen von Handlungen. Das Gedächtnis wird oft als dreistufiger Prozess betrachtet: Enkodieren, Speichern, Abruf. Kurzzeitgedächtnis (KZG) und Arbeitsgedächtnis Das ikonische Gedächtnis besitzt eine große Kapazität, speichert jedoch nur sehr kurz. Das Kurzzeitgedächtnis hat eine begrenzte Kapazität und speichert ohne Wiederholen nur kurz. Rehearsal kann Material im KZG unbegrenzt halten. Die KZG-Kapazität kann vergrößert werden, indem man unzusammenhängendes Material zu bedeutungsvollen Einheiten (Chunks) gruppiert.
3 Was haben PET-Studien über die Basis von Enkodie-
rung und Abruf episodischer Information im Gehirn ergeben? KRITISCHES DENKEN: Warum war es in der Studie, die das Erinnerungsvermögen mithilfe von Strichzeichnungen untersuchte, wichtig, dass der Langzeitgedächtnistest für die Teilnehmer überraschend kam?
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Das breitere Konzept des Arbeitsgedächtnisses beinhaltet das KZG. Die drei Komponenten des Arbeitsgedächtnisses bilden die Grundlage für das Erleben von Kontinuität. Langzeitgedächtnis (LZG): Enkodierung und Abruf Das Langzeitgedächtnis umfasst Ihr gesamtes Wissen von der Welt und von Ihnen selbst. Die Kapazität ist nahezu unbegrenzt. Das Sicherinnern an Informationen hängt vom Grad der Übereinstimmung zwischen den spezifischen Umständen beim Enkodieren und beim Abruf ab. Hinweisreize helfen beim Zugriff auf Informationen im LZG. Das episodische Gedächtnis betrifft Gedächtnisinhalte von Ereignissen, die Sie selbst erlebt haben. Das semantische Gedächtnis betrifft die Bedeutung von Wörtern und Konzepten. Die Ähnlichkeit des Kontextes zwischen Lernen und Abruf hilft beim Abruf.
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Ged äc h tn i s
Die serielle Positionskurve wird durch Unterscheidbarkeit im Kontext erklärt.
All diese Gedächtnisstrukturen werden genutzt, um Erwartungen und Kontext zur Interpretation neuer Informationen zu liefern.
An tiefer verarbeitete Informationen wird sich typischerweise besser erinnert.
Das Sicherinnern ist nicht einfach Abruf von Aufzeichnungen, sondern ein konstruktiver und selektiver Prozess.
Für das implizite Gedächtnis ist es wichtig, dass die Prozesse beim Enkodieren und beim Abruf ähnlich sind.
Frühere Erfahrungen und aktuelle Ziele beeinflussen, an was Sie sich erinnern.
Ebbinghaus untersuchte den Zeitverlauf des Vergessens.
Neue Informationen können den Abruf in eine bestimmte Richtung lenken. Das Erinnerungsvermögen von Augenzeugen ist unzuverlässig, wenn neue Informationen nach dem Ereignis hinzukommen.
Interferenz entsteht, wenn Hinweisreize auf mehr als einen Gedächtnisinhalt verweisen. Die Gedächtnisleistung kann durch elaborierende Wiederholung und Mnemotechniken verbessert werden.
Biologische Aspekte des Gedächtnisses Unterschiedliche Gehirnstrukturen (unter anderem Hippocampus, Amygdala, Cerebellum und der cerebrale Cortex) sind an unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses beteiligt.
Im Allgemeinen ist das Gefühl, etwas zu wissen, zutreffend im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Informationen im Gedächtnis.
Experimente mit amnestischen Patienten erlauben uns herauszufinden, wie unterschiedliche Gedächtnisformen erworben und im Gehirn repräsentiert werden.
Strukturen im Langzeitgedächtnis Konzepte sind die Gedächtnisbausteine des Denkens. Sie werden gebildet, wenn Gedächtnisprozesse Klassen von Objekten oder Vorstellungen mit gemeinsamen Merkmalen zusammenfassen.
Bildgebende Verfahren haben das Wissen über die Grundlagen des Gehirns im Hinblick auf Enkodieren und Abruf erweitert.
Konzepte sind oftmals organisiert in Hierarchien mit der Abfolge: allgemein, Basisebene, spezifisch. Schemata sind hochkomplexe kognitive Cluster.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Abruf (recall) (S. 244) Abruf (retrieval) (S. 235) Amnesie (S. 268) Arbeitsgedächtnis (S. 241) Basisebene (S. 260) Chunking (S. 240) Deklaratives Gedächtnis (S. 234) Echoisches Gedächtnis (S. 238) Elaborierendes Wiederholen (S. 254) Engramm (S. 266) Enkodierspezifität (S. 246) Enkodierung (S. 235) Episodisches Gedächtnis (S. 245) Exemplare (S. 262) Expliziter Gedächtnisgebrauch (S. 233) Gedächtnis (S. 232) Hinweisreize beim Abruf (S. 244) Ikonisches Gedächtnis (S. 237) Impliziter Gedächtnisgebrauch (S. 233) Interferenz (S. 253) Kontextuelle Unterscheidbarkeit (S. 247) Konzepte (S. 258) Kurzzeitgedächtnis (KZG) (S. 238) Langzeitgedächtnis (LZG) (S. 243)
Metagedächtnis (S. 257) Mnemotechniken (S. 254) Primacy-Effekt (S. 247) Priming (S. 250) Prototyp (S. 262) Prozedurales Gedächtnis (S. 234) Recency-Effekt (S. 247) Rekonstruktives Gedächtnis (S. 263) Schemata (S. 260) Semantisches Gedächtnis (S. 245) Sensorisches Gedächtnis (S. 236) Serieller Positionseffekt (S. 247) Speicherung (S. 235) Theorie der Verarbeitungstiefe (S. 249) Transferadäquate Verarbeitung (S. 249) Wiedererkennen (recognition) (S. 244)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Kognitive Prozesse
8.1.1 Die Entdeckung der geistigen Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Geistige Prozesse und mentale Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.2 Sprachverwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprachverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache, Denken und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Wie und warum lügen Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4
8.3 Visuelle Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Die Verwendung visueller Repräsentationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Die Kombination verbaler und visueller Repräsentationen . . . . . .
8.4 Problemlösen und logisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Deduktives Schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Induktives Schließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8.5 Urteilen und Entscheiden
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.................................. 8.5.1 Heuristiken und Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Die Psychologie der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311 311 316
Kritisches Denken im Alltag: Können Politikexperten die Zukunft voraussagen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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277 277 279
............................................
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Ü B E R B L I C K
8.1 Die Untersuchung der Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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s ist Mitternacht. Es klopft an der Tür. Sie rufen „Herein“, bekommen aber keine Antwort. Sie gehen zur Tür und sehen einen Briefumschlag auf dem Boden liegen. In dem Umschlag steckt ein Blatt Papier mit den handgeschriebenen Worten: „Die Katze sitzt auf der Matte.“ Was machen Sie aus dieser Situation? Sie müssen einige kognitive Prozesse in Gang setzen. Sie brauchen Sprachprozesse, um den Wörtern eine Grundbedeutung zu geben, aber was kommt dann? Können Sie in Ihrem Gedächtnis ein Ereignis finden, zu dem diese Wörter passen? (Erinnern Sie sich daran, dass wir in Kapitel 7 das Gedächtnis als eine Art kognitiver Verarbeitung kennen gelernt haben.) Wenn nicht, müssen Sie andere Überlegungen zu Hilfe nehmen. Ist die Botschaft ein Geheimcode? Um welche Art von Code handelt es sich? Wen kennen Sie, der eine Botschaft so verschlüsseln könnte? Liegt das Schicksal unserer Zivilisation in Ihrer Hand? Vielleicht gehen wir mit diesen Gedanken etwas zu weit, aber wir wollen damit verdeutlichen, welche Arten von Aktivitäten zu den kognitiven Prozessen gehören, und warum sie interessant sein könnten. Die Fähigkeit, Sprache zu nutzen und abstrakt zu denken galt oft als wesentliches Merkmal des Menschen. Man nimmt das Denken im Allgemeinen als etwas Selbstverständliches, weil man derartige Tätigkeiten während der Wachzeit praktisch kontinuierlich ausübt. Aber auch wenn eine sorgfältig gedrechselte Rede Zustimmung hervorruft oder wenn man einen Krimi
Abbildung 8.1: Die kognitive Psychologie. Kognitive Psychologen befassen sich mit den höheren geistigen Funktionen, bei besonderer Betonung der Art und Weise, wie Menschen Wissen erwerben und wie sie es einsetzen, um die Erfahrungen in der Welt zu verstehen und zu formen.
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liest, in dem der Detektiv mehrere scheinbar triviale Spuren und Hinweise zu einer brillanten Lösung des Verbrechens kombiniert, muss man den intellektuellen Triumph kognitiver Prozesse anerkennen. Kognition ist ein allgemeiner Begriff für alle Formen des Wissens. Wie in Abbildung 8.1 gezeigt, ist die Untersuchung der Kognition die Erforschung des geistigen Lebens. (In Kapitel 4 wurden bereits einige der in Abbildung 8.1 dargestellten Themen behandelt.) Zur Kognition gehören sowohl Inhalte als auch Prozesse. Die Inhalte der Kognition beziehen sich darauf, was man weiß – Begriffe, Fakten, Aussagen, Regeln und Gedächtnisinhalte: „Ein Hund ist ein Säugetier“; „Rotes Licht bedeutet anhalten“; „Ich bin mit 18 von zu Hause ausgezogen“. Kognitive Prozesse beziehen sich darauf, wie man diese geistigen Inhalte manipuliert – so dass man die Welt um sich herum interpretieren kann und kreative Lösungen findet, um die Dilemmata des Lebens zu bewältigen. In der Psychologie wird die Kognition von Forschern untersucht, die der kognitiven Psychologie zuzurechnen sind. In den letzten drei Jahrzehnten wurde die kognitive Psychologie durch das interdisziplinäre Gebiet der Kognitionswissenschaft ergänzt ( Abbildung 8.2). Die Kognitionswissenschaft befasst sich mit dem gesammelten Wissen aus mehreren akademischen Fachrichtungen vergleichbarer theoretischer Fragestellungen. Sie profitiert von den Praktikern all dieser Fachgebiete, um deren Daten und Erkenntnisse zusam-
8.1 Die Untersuchung der Kognition
die geistigen Schritte bestimmen, welche die Notiz mit der Reaktion verknüpfen? Wie kann man also sichtbar machen, was zwischendrin passierte – die kognitiven Prozesse und die mentalen Repräsentationen, auf denen die Handlungsweise beruht? In diesem Abschnitt beschreiben wir die logischen Analysen, welche die wissenschaftliche Untersuchung der kognitiven Psychologie ermöglicht haben.
8.1.1 Die Entdeckung der geistigen Prozesse
Abbildung 8.2: Die Kognitionswissenschaft. Das Gebiet der Kognitionswissenschaft liegt im Schnittfeld von Philosophie, Neurowissenschaft, Linguistik, kognitiver Psychologie und Informatik (künstliche Intelligenz). menzutragen. Wie diese Philosophie der Kognitionswissenschaft funktioniert, haben wir bereits in Kapitel 7 gesehen, wo wir beschrieben haben, wie mithilfe der Untersuchung der Biologie des Gedächtnisses Theorien des Gedächtnisprozesses eingegrenzt und differenziert werden können. Viele der in diesem Kapitel beschriebenen Theorien wurden in ähnlicher Weise durch die Zusammenarbeit von Forschern ganz unterschiedlicher disziplinärer Perspektiven geformt. Wir beginnen die Untersuchung der Kognition mit einer kurzen Beschreibung der Mittel, mit denen Forscher die inneren, letztlich privaten Prozesse der kognitiven Funktionen zu messen versuchen. Wir widmen uns danach in einiger Ausführlichkeit denjenigen Themen der kognitiven Psychologie, die viel Grundlagenforschung und Praxisanwendungen erfahren: Sprachverwendung, visuelle Kognition, Problemlösen, logisches Denken und die Prozesse der Urteilsfindung.
Die Untersuchung der Kognition
8.1
Wie kann man die Kognition untersuchen? Das Spannende besteht natürlich darin, dass sich die Sache im Kopf abspielt. Man sieht den Input – zum Beispiel die Notiz „Ruf mich an“ – und erfährt den Output – man ruft die entsprechende Person an. Aber wie kann man
Eine der methodologischen Grundlagen für die Untersuchung mentaler Prozesse wurde 1868 von dem niederländischen Physiologen F. C. Donders entwickelt. Um die „Geschwindigkeit geistiger Prozesse“ zu untersuchen, erdachte Donders eine Reihe experimenteller Aufgaben, deren Unterschied er in den geistigen Schritten sah, die für ihre erfolgreiche Bearbeitung nötig sind (Lachman et al., 1979). Tabelle 8.1 gibt ein Beispiel für ein Experiment, das Donders’ Logik folgt. (Dabei handelt es sich um ein so genanntes Paper-Pencil-Experiment, also ein Experiment, das ohne weitere technische Geräte durchgeführt werden kann.) Vor dem Weiterlesen sollten Sie sich die Zeit nehmen, diese Aufgaben zu bearbeiten. Wie viel Zeit benötigten Sie für Aufgabe 1? Angenommen, wir wollten eine Liste derjenigen Schritte aufstellen, die man bei der Bearbeitung der Aufgabe durchführt. Eine solche Liste könnte folgendermaßen aussehen: a. Bestimme, ob ein Buchstabe groß oder klein geschrieben ist. b. Wenn er groß geschrieben ist, male ein C darüber. Wie viel Zeit benötigten Sie für Aufgabe 2? Bei unseren Versuchen mit dieser Übung haben die Studierenden meistens mindestens eine halbe Minute länger gebraucht. Das lässt sich erklären, wenn man die notwendigen Schritte ausformuliert: a. Bestimme, ob ein Buchstabe groß oder klein geschrieben ist. b. Bestimme bei einem groß geschriebenen Buchstaben, ob er einen Vokal oder einen Konsonanten darstellt. c. Wenn es sich um einen Konsonanten handelt, male ein C darüber. Über einen Vokal male ein V.
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Tabelle 8.1
Donders’ Analyse geistiger Prozesse Notieren Sie, wie lange Sie (in Sekunden) für die folgenden Aufgaben benötigen. Bearbeiten Sie jede Aufgabe sorgfältig, aber so schnell wie möglich.
Aufgabe 1: Malen Sie ein C über alle groß geschriebenen Buchstaben: Sein oDer NicHt sEIn, das Ist dIE FraGe: wAS iSt daS EDLerE, iM GeisT zu dUlDEn SchlEuDEr Und PfEIl dEs rASEndEn GesCHicKs, oDEr Sich WaffnEN, eiNeM MeER von PlaGEn tROtZen Und sO Sie eNDen? Zeit: _________________ Aufgabe 2: Malen Sie ein V über alle groß geschriebenen Vokale und ein C über alle groß geschriebenen Konsonanten: Sein oDer NicHt sEIn, das Ist dIE FraGe: wAS iSt daS EDLerE, iM GeisT zu dUlDEn SchlEuDEr Und PfEIl dEs rASEndEn GesCHicKs, oDEr Sich WaffnEN, eiNeM MeER von PlaGEn tROtZen Und sO Sie eNDen? Zeit: _________________ Aufgabe 3: Malen Sie ein V über alle groß geschriebenen Buchstaben: Sein oDer NicHt sEIn, das Ist dIE FraGe: wAS iSt daS EDLerE, iM GeisT zu dUlDEn SchlEuDEr Und PfEIl dEs rASEndEn GesCHicKs, oDEr Sich WaffnEN, eiNeM MeER von PlaGEn tROtZen Und sO Sie eNDen? Zeit: _________________
Beim Übergang von Aufgabe 1 zu Aufgabe 2 kommen also zwei geistige Schritte hinzu, die man Reizkategorisierung oder Reizklassifikation (Vokal oder Konsonant?) und Reaktionsauswahl (ein C oder ein V malen?) nennen kann. Aufgabe 1 erfordert eine Reizkategorisierung, Aufgabe 2 zwei solcher Klassifikationsschritte. Aufgabe 2 erfordert weiterhin die Wahl zwischen zwei Reaktionen. Weil man bei Aufgabe 2 alles tun muss, was auch Aufgabe 1 enthält, und noch etwas darüber hinaus, benötigt Aufgabe 2 mehr Zeit. Darin bestand Donders’ fundamentale Erkenntnis: Geistige Extraschritte führen oft dazu, dass die Aufgabenbearbeitung mehr Zeit erfordert. Man mag sich fragen, warum wir Aufgabe 3 dazugenommen haben. Dabei handelt es sich um eine notwendige Verfahrenskontrolle für das Experiment. Es muss sichergestellt werden, dass der Zeitunterschied zwischen den Aufgaben 1 und 2 nicht darauf zurück-
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geführt werden kann, dass es länger dauert, Vs zu malen als Cs zu malen. Aufgabe 3 sollte wieder viel schneller bearbeitet werden können als Aufgabe 2. Entspricht das Ihrem Selbstversuch? Die Forscher folgen weiterhin Donders’ grundlegender Logik; sie arbeiten häufig mit Reaktionszeiten – der Menge an Zeit, welche die Versuchsteilnehmer benötigen, um bestimmte Aufgaben auszuführen – und prüfen damit spezifische Annahmen darüber, wie ein kognitiver Prozess ausgeführt wird. Donders’ fundamentale Annahme, dass zusätzliche geistige Schritte zu verlängerten Zeiten führen, liegt einem großen Teil der kognitionspsychologischen Forschung bis heute zu Grunde. Sehen wir nun, wie sich diese erfolgreiche Idee im Verlauf von 135 Jahren entwickelt hat.
8.1 Die Untersuchung der Kognition
8.1.2 Geistige Prozesse und mentaleRessourcen Wenn Kognitionspsychologen höhere geistige Aktivitäten wie Sprachverwendung oder Problemlösen in ihre einzelnen Prozesskomponenten zerlegen, ist das oft so, als ob sie mit Bauklötzen spielen. Jeder Klotz steht für eine andere Komponente, die ausgeführt werden muss. Das Ziel besteht darin, Form und Größe jedes Klotzes zu bestimmen und herauszufinden, wie die Bauklötze zum jeweils untersuchten Gesamtprozess zusammenpassen. Bei den Donders-Aufgaben kann man, wie wir gesehen haben, die Klötze in einer Reihe nacheinander anordnen (siehe Teil A von Ab-
bildung 8.3); jeder Schritt folgt direkt auf den vorangehenden. Die Bauklotz-Metapher lässt erkennen, dass man die einzelnen Klötze aber auch so stapeln könnte, dass mehr als ein Schritt gleichzeitig erfolgt (siehe Teil B). Diese beiden Darstellungen illustrieren den Unterschied zwischen seriellen und parallelen Prozessen. Prozesse sind seriell, wenn sie nacheinander stattfinden. Angenommen, Sie befinden sich in einem Restaurant und sollen entscheiden, was Sie bestellen möchten. Sie konzentrieren sich auf ein Gericht nach dem anderen und entscheiden jeweils, ob es unter „Ja“, „Nein“ oder „Vielleicht“ fällt. Bei jedem Gericht folgt der Prozess der Beurteilung dem des Lesens. Prozesse sind parallel, wenn sie sich zeitlich überschnei-
Abbildung 8.3: Die Zerlegung höherer kognitiver Aktivitäten. Kognitionspsychologen versuchen, die Beschaffenheit und Struktur der geistigen Prozesse zu bestimmen, welche die Bausteine höherer (komplexerer) kognitiver Aktivitäten sind. (A) Unsere Version der Donders-Aufgabe erfordert mindestens drei Schritte, die nacheinander ausgeführt werden. (B) Manche Prozesse werden seriell (nacheinander) ausgeführt, andere parallel (gleichzeitig). (C) Die für die Aufgabenbearbeitung benötigte Zeit erlaubt den Forschern nicht immer Rückschlüsse darauf, ob serielle oder parallele Prozesse zum Einsatz kamen.
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den. Wenn Sie die Bestellung aufgeben, laufen die sprachlichen Prozesse, mit denen Sie die Frage des Kellners verstehen (zum Beispiel: „Was darf ich Ihnen bringen?“) wahrscheinlich gleichzeitig mit denen ab, mit denen Sie Ihre Antwort formulieren (zum Beispiel: „Ich nehme den Osso buco“). Deswegen können Sie sofort antworten, wenn der Kellner seine Frage beendet hat. Kognitionspsychologen verwenden oft Reaktionszeiten, um herauszufinden, ob Prozesse parallel oder seriell ablaufen. Die Beispiele im Teil C von Abbildung 8.3 zeigen jedoch, dass das nicht immer so einfach ist, wie man glauben könnte. Angenommen, wir haben eine Aufgabe, die sich mit guten Gründen in zwei Teilprozesse X und Y zerlegen lässt. Wenn die einzige verfügbare Information in der Gesamtzeit besteht, die für die Ausführung der Aufgabe benötigt wird, kann man sich nie sicher sein, ob die Prozesse X und Y nebeneinander oder nacheinander ablaufen. Eine zentrale Herausforderung kognitionspsychologischer Forschung besteht darin, Anordnungen und Anforderungen zu erfinden, mit deren Hilfe der Experimentator entscheiden kann, welche von vielen möglichen Konfigurationen der Prozess-Bauklötze die richtige ist. Bei Aufgabe 2 der vorherigen DondersÜbung konnten wir vergleichsweise sicher sein, dass es sich um serielle Prozesse handelt, weil einige der Aktivitäten logischerweise erst auf andere folgen konnten. So konnte man die Ausführung der Reaktion (ein C oder ein V malen) erst dann vorbereiten, wenn man bestimmt hatte, um welche Reaktion es sich handeln soll. In vielen Fällen wird eine Entscheidung darüber, ob Prozesse seriell oder parallel ablaufen, durch die Bestimmung des Ausmaßes versucht, in dem die Prozesse die geistigen Ressourcen beanspruchen. Angenommen, Sie gehen zusammen mit einem Kommilitonen von der Mensa zum Hörsaal. Normalerweise sollte es ein Leichtes sein, einen geraden Weg entlangzulaufen und gleichzeitig ein Gespräch weiter zu führen – Ihre Navigationsprozesse und Ihre Sprachprozesse können parallel weiterlaufen. Aber was würde passieren, wenn sich auf dem Gehweg vor Ihnen plötzlich lauter Pfützen befinden? Beim Versuch, nicht in eine Pfütze zu treten, müssen Sie das Gespräch vielleicht so lange einstellen. Der Navigationsprozess des Gehens erfordert nun zusätzliche Planungsressourcen, so dass die sprachbezogenen Prozesse dann kurzzeitig ausgeschaltet werden. Eine zentrale Annahme bei diesem Beispiel besteht darin, dass wir über begrenzte Verarbeitungsressourcen verfügen, die auf verschiedene mentale Aufgaben
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verteilt werden müssen (Logan, 2002). Für die Verteilung dieser Ressourcen sind unsere Aufmerksamkeitsprozesse verantwortlich. In Kapitel 4 haben wir Aufmerksamkeit als die Gruppe von Prozessen besprochen, mit deren Hilfe wir kleinere Teilmengen der verfügbaren perzeptuellen Information zum Zwecke genauerer Inspektion auswählen können. Im vorliegenden Zusammenhang geht es bei der Aufmerksamkeit weiterhin um die Frage der Selektivität; jetzt besteht die Entscheidung jedoch darin, welche mentalen Prozesse als Empfänger der Verarbeitungsressourcen ausgewählt werden. Dazu kommt aber eine weitere Komplikation: Nicht alle Prozesse nehmen die Ressourcen in gleichem Ausmaß in Anspruch. Vielmehr lässt sich eine Dimension von kontrollierten Prozessen bis zu automatischen Prozessen definieren (Shiffrin & Schneider, 1977). Kontrollierte Prozesse erfordern Aufmerksamkeit; automatische Prozesse erfordern im Allgemeinen keine Aufmerksamkeit. Es ist oft schwierig, mehr als einen kontrollierten Prozess gleichzeitig auszuführen, weil dann mehr Ressourcen benötigt würden; automatische Prozesse lassen sich dagegen häufig neben anderen Aufgaben ausführen, ohne dass es zu wechselseitigen Störungen (Interferenzen) kommt. Wir geben jetzt erst einmal ein Beispiel für einen automatischen Prozess. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um die Aufgaben in Tabelle 8.2 zu bearbeiten. Fanden Sie Liste A etwas schwieriger als Liste B?
Warum ist es schwierig, eine Unterhaltung zu führen, während man versucht, Pfützen auszuweichen?
8.1 Die Untersuchung der Kognition
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer am Experiment sollten Gleich-UngleichUrteile abgeben, wie sie in Tabelle 8.2 illustriert sind. Das Befundmuster ließ darauf schließen, dass es den Probanden schwerer fiel, mit „ungleich“ zu reagieren, wenn die Zahlen eng beieinander lagen (beispielsweise bei 1– 2), als wenn die zu vergleichenden Zahlen einen größeren Abstand voneinander aufwiesen (zum Beispiel acht-eins); ob die Zahlen als Ziffern oder ausgeschrieben präsentiert wurden, spielte dabei keine Rolle. Liste A besteht aus Paaren mit kleinen Unterschieden, Liste B aus Paaren mit größeren Unterschieden; Liste A sollte von Ihnen in diesem Sinne also als etwas schwieriger erlebt worden sein. Aber warum sollte die numerische Nähe von Zahlen bei Urteilen eine Rolle spielen, bei denen es doch nur um die äußere Ähnlichkeit im gedruckten Erscheinungsbild geht? Eins–zwei und eins–neun sind auf der Dimension der physikalischen Unähnlichkeit der Wörter etwa gleich. Die Forscher nahmen an, dass man beim Betrachten von 2 oder zwei nicht anders kann, als auch an die Menge zu denken, die das Zahlzeichen repräsentiert – selbst wenn dies, wie im vorliegenden Fall, die Bearbeitung der auszuführenden Aufgabe beeinträchtigt. Dies bedeutet, dass man auf die Bedeutung der Zahl automatisch zugreift, selbst wenn dies nicht benötigt (oder nicht gewollt) wird (Dehaene & Akhavein, 1995).
Die Zahlenaufgabe zeigt, dass automatische Prozesse stark auf den effizienten Gebrauch des Gedächtnisses angewiesen sind (Barrett et al., 2004). Ob das Objekt in der physikalischen Umgebung eine 2 oder das Wort zwei ist – unsere Gedächtnisprozesse liefern prompt Informationen über die damit bezeichnete Menge. Die Zahlenaufgabe zeigt auch, wie Aufgaben, die zunächst kontrollierte Prozesse erfordern, bei genügender Übung automatisiert werden können. Vielleicht erinnern Sie sich daran, wie Sie als Kind lernen mussten, wie Zahlen funktionieren. Danach haben sich die Assoziationen zwischen den Zahlen und den Mengen, für die sie stehen, so automatisiert, dass man die Assoziation nicht mehr abstellen kann. Ihnen fallen wahrscheinlich weitere Beispiele ein, in denen Sie genügend geübt haben, um Tätigkeiten zu automatisieren: Spielen Sie vielleicht ein Instrument? Können Sie tippen, ohne auf die Tastatur zu sehen? Wenden wir dieses Wissen über kontrollierte und automatische Prozesse wieder auf die Situation des Gehens und sich Unterhaltens an. Wenn man nur geradeaus laufen muss, erlebt man wenige Interferenzen zwischen den beiden Tätigkeiten, was dafür spricht, dass das Auf-dem-Weg-Bleiben und die Planung von sprachlichen Äußerungen beides weitgehend automatische Aktivitäten sind. Die Situation ändert sich je-
Tabelle 8.2
Zahlenverarbeitung Die Aufgabe besteht darin, all die Zahlenpaare anzukreuzen, die sich – gleich ob als Ziffern oder als Wörter dargestellt – unterscheiden. (Man würde also sowohl 4 –6 als auch vier–sechs ankreuzen.) Versuchen Sie abzuschätzen, welche Liste schwieriger zu bearbeiten ist. Liste A 8–8
neun – acht
1– 2
acht – acht
2–1
8–9
9–9
2–2
zwei – zwei
eins – zwei
neun – neun
acht – neun
eins – eins
1–1
zwei – eins
9–8
1–1
neun – zwei
eins – eins
neun – neun
2–9
acht – zwei
9–9
1–9
acht – eins
8–8
acht – acht
neun – eins
2–2
1– 8
2–8
zwei – zwei
Liste B
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doch, wenn die Pfützen einen dazu zwingen, beim Fortsetzen des Weges zwischen einer größeren Zahl von Alternativen zu wählen. Jetzt muss man entscheiden, wohin man seinen Fuß setzt und was man sagen will. Da man beide Entscheidungen nicht gleichzeitig treffen kann, gerät man in einen AufmerksamkeitsEngpass (Tombu & Jolicœur, 2005). Das Beispiel zeigt, warum kontrollierte und automatische Prozesse als variable Ausprägungen auf einer Dimension definiert sind und nicht als zwei strikt zu unterscheidende Klassen. Wenn sich die Umstände entsprechend ändern, erfordert das zuvor scheinbar Automatische nun kontrollierte Aufmerksamkeit. In Abhängigkeit vom Kontext können Prozesse also mehr oder weniger Aufmerksamkeit benötigen. Wir wissen jetzt einiges über die Logik mentaler Prozesse. Bei der Erklärung, wie komplexe geistige Aufgaben ausgeführt werden, werden theoretische Modelle vorgeschlagen, die serielle und parallele, kontrollierte und automatische Prozesse kombinieren. Ein großer Teil der kognitionspsychologischen Forschung ist dem Ziel gewidmet, Experimente zu finden, welche die einzelnen Komponenten solcher Modelle bestätigen. Nachdem jetzt manches von der Logik hinter der kognitionspsychologischen Erforschung mentaler Prozesse verständlich geworden ist, sollten wir uns spezielleren Bereichen zuwenden, in denen kognitive Prozesse zum Einsatz kommen. Wir beginnen mit der Verwendung von Sprache.
ZWISCHENBILANZ 1 Was war Donders’ Ziel, als er Probanden verschiedene
experimentelle Aufgaben ausführen ließ? 2 Welcher Unterschied besteht zwischen seriellen und
parallelen Prozessen? 3 Welche Arten von Prozessen erfordern gewöhnlich
keine Aufmerksamkeitsressourcen? KRITISCHES DENKEN: Wie könnten Sie bestätigen, dass die Paare „eins – zwei“ und „eins – neun“ einander in Hinsicht auf die physikalische Ähnlichkeit der Zahlwörter ungefähr gleichen?
Angenommen, Ihre Katze wartet auf einer Matte neben der Tür, wenn sie herausgelassen werden will. Wenn Sie zu Ihrer Mitbewohnerin sagen „Die Katze sitzt auf der Matte“, dann teilen Sie mithilfe dieser Wörter mit: „Kannst du mal aufstehen und die Katze herauslassen?“ Angenommen, Ihr Freund ist besorgt, ob er das Auto aus der Auffahrt fahren kann, weil er nicht weiß, wo die Katze ist. Wenn Sie sagen „Die Katze sitzt auf der Matte“, verwenden Sie diese Wörter, um zu sagen: „Du kannst das Auto getrost herausfahren; der Katze passiert nichts.“ Angenommen, Sie wollen Ihre Katze mit dem Hund Ihrer Freundin um die Wette laufen lassen. Mit dem Satz „Die Katze sitzt auf der Matte“ kommunizieren Sie in diesem Fall: „Meine Katze macht nicht den Eindruck, als ob Sie rennen wollte.“ Diese Beispiele illustrieren den Unterschied zwischen der Satzbedeutung – der im Allgemeinen einfachen Bedeutung der zu einem Satz zusammengefügten Wörter – und der sprecherseitigen Äußerungsbedeutung – der unbegrenzten Anzahl von Bedeutungen, die ein Sprecher kommunizieren kann, indem er einen Satz geeignet verwendet (Grice, 1968). Wenn Psychologen die Sprachverwendung untersuchen, dann wollen Sie sowohl die Produktion als auch das Verstehen der sprecherbezogenen Äußerungsbedeutung begreifen: Wie produzieren Sprecher die geeigneten Wörter, um die von ihnen beabsichtigte Bedeutung zu übermitteln?
8.2
Wie erkennen Hörer aus der Mitteilung, was der Sprecher zu kommunizieren beabsichtigte?
Kehren wir zu der Nachricht zurück, die Sie um Mitternacht erhalten haben: „Die Katze sitzt auf der Matte.“ Was könnten wir tun, um die Situation so zu verändern, dass diese Botschaft unmittelbar einen Sinn
Wir werden beide Fragen nun nacheinander behandeln und dabei auch den entwicklungsgeschichtlichen und kulturellen Kontext der Sprachverwendung berücksichtigen.
Sprachverwendung
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ergibt? Als ersten Schritt könnten wir passendes Hintergrundwissen einführen. Angenommen, Sie wären ein Geheimagent, der andauernd Anweisungen in dieser sonderbaren Weise bekommt. So wissen Sie vielleicht, dass „die Katze“ Ihre Kontaktperson bezeichnet und „auf der Matte“ die Turnhalle des Boxvereins bedeutet. Und schon gehen Sie los. Man muss aber nicht Spion sein, damit der Satz „Die Katze sitzt auf der Matte“ eine Vielzahl von Bedeutungen annehmen kann:
8.2 Sprachverwendung
8.2.1 Sprachproduktion
Hörerbezug
Betrachten Sie Abbildung 8.4. Formulieren Sie ein paar Sätze über dieses Bild. Was würden Sie wohl sagen? Nehmen wir nun an, Sie sollten die Szene noch einmal beschreiben, und zwar für eine blinde Person. Wie würde sich die Beschreibung verändern? Erfordert diese zweite Beschreibung wohl mehr geistige Anstrengung? Die Untersuchung der Sprachproduktion betrifft sowohl, was Menschen sagen – für welche Äußerungen sie sich also zum jeweiligen Zeitpunkt entscheiden –, als auch die Prozesse, die sie beim Produzieren der Mitteilung durchlaufen. Man beachte, dass Sprachverwender die sprachlichen Einheiten nicht notwendigerweise laut und hörbar produzieren müssen. Zur Sprachproduktion gehören auch das Verwenden von Gebärden und das Schreiben. Der Einfachheit halber nennen wir Sprachproduzenten im Folgenden jedoch Sprecher und Sprachrezipienten Hörer.
Mit der Vorstellung unterschiedlicher Beschreibungen von Abbildung 8.4 gegenüber einer sehfähigen und einer blinden Person wollten wir Sie auf den Hörerbezug bei der Sprachproduktion aufmerksam machen. Beim Produzieren einer Äußerung muss man immer daran denken, an welche Hörerschaft die Äußerung gerichtet ist und welches Wissen man bei den intendierten Zuhörern voraussetzen kann. Die Berücksichtigung der hörerseitigen Merkmale wird in Anlehnung an Clark (1996; Clark & Van Der Wege, 2002) auch Audience Design genannt. Beispielsweise würde es überhaupt nichts nützen zu sagen „Die Katze sitzt auf der Matte“, wenn der Hörer nicht weiß, dass die Katze nur dann auf der Matte sitzt, wenn sie herausgelassen werden will. Eine übergreifende Regel für die Berücksichtigung des Hörerbezugs, das Kooperationsprinzip, wurde zuerst von dem Sprachphilosophen H. Paul Grice (1975) eingeführt. Grice formulierte das Kooperationsprinzip als Anweisung an Sprecher, ihre Äußerungen so zu produzieren, dass sie für die inhaltliche Ausrichtung des jeweils laufenden Gesprächs und seine Randbedingungen angemessen sind. Als Erweiterung dieser Instruktion definierte Grice vier Maximen, an denen sich kooperative Sprecher orientieren. In Tabelle 8.3 sind diese Maximen zusammen mit einer erfundenen Unterhaltung dargestellt, welche die Auswirkung der Maximen auf die Entscheidungen illustriert, die einen Sprecher bei der Äußerungsproduktion leiten. Tabelle 8.3 lässt erkennen, dass ein kooperativer Sprecher zu sein, zu einem großen Teil davon abhängt, genaue Erwartungen darüber zu haben, was der jeweilige Hörer wahrscheinlich weiß und versteht. So würde man einer Freundin nicht erzählen „Ich gehe mit Alex in die Mensa“, wenn man nicht gute Gründe für die Annahme hat, dass die Freundin weiß, um wen es sich bei Alex handelt. Auch muss man sich selbst vergewissern, dass von allen Alexen, die diese Freundin kennt und von denen sie weiß, dass der Sprecher sie kennt, nur einer als der bestimmte Alex in Frage kommt, der in der gegebenen Situation Erwähnung findet. In etwas formalerer Formulierung können wir sagen, dass es einen Alex geben muss, der im gemeinsamen Wissenshintergrund, den Sprecher und Hörer teilen, irgendwie hervorsticht. Herbert Clark (1996) nennt drei Quellen von Hinweisen, auf die sich Urteile über einen gemeinsamen Wissenshintergrund gründen:
Abbildung 8.4: Sprachproduktion. Wie würden Sie diese Person einem Freund beschreiben? Wie würde sich die Beschreibung ändern, wenn der Freund blind wäre?
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Tabelle 8.3
Die Grice’schen Maximen bei der Sprachproduktion 1. Maxime der Quantität: Mache deinen Beitrag so informativ wie (für die gegebenen Gesprächszwecke) nötig! Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig! Konsequenz für den Sprecher: Du musst abschätzen, wie viele Informationen die Hörer tatsächlich benötigen. Oft muss man dazu einschätzen, was die Hörer wohl bereits wissen. 2. Maxime der Qualität: Versuche, den Wahrheitsgehalt deines Beitrags zu sichern! Sage nichts, was du für falsch hältst! Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen! Konsequenz für den Sprecher: Wenn du etwas sagst, werden die Hörer annehmen, dass du deine Behauptungen mit angemessenen Belegen untermauern kannst. Beim Planen einer jeden Äußerung musst du dir die Belege vergegenwärtigen, auf denen die Äußerung beruht. 3. Maxime der Relation: Sei relevant! Konsequenz für den Sprecher: Du musst dafür sorgen, dass deine Zuhörer erkennen, inwiefern das, was du sagst, für das Vorherige relevant ist. Wenn du das Gesprächsthema wechseln willst – so dass deine nächste Äußerung nicht direkt relevant ist –, musst du dies deutlich machen. 4. Maxime der Art und Weise: Sei klar! Vermeide Unverständlichkeit des Ausdrucks! Vermeide Mehrdeutigkeit! Halte dich kurz! Spreche geordnet! Konsequenz für den Sprecher: Es liegt in deiner Verantwortung, so klar und eindeutig wie möglich zu sprechen. Auch wenn dir zwangsläufig Fehler unterlaufen, musst du als kooperativer Sprecher dafür sorgen, dass die Hörer deine Mitteilung verstehen können. Können Sie der folgenden Konversation entnehmen, wie Eva den Grice’schen Maximen folgt (oder sie verletzt)? Was gesagt wird
Was Eva vielleicht denkt
David: Warst du schon mal in New York City? Eva: Ich war 1992 schon einmal dort.
Ich weiß nicht, warum David mich das fragt, deshalb sollte ich wahrscheinlich ein bisschen mehr sagen als bloß „ja“.
David: Ich müsste unbedingt mal hin, aber ich habe Angst, ausgeraubt zu werden. Eva: Ich glaube, dass viele Gegenden sicher sind.
Ich kann ihm nicht sagen, dass er keine Angst zu haben braucht, weil er mir das nicht glauben würde. Was kann ich sagen, was wahr ist und ihm doch ein gutes Gefühl gibt?
David: Wie war dein Hotel? Eva: Wir sind nicht über Nacht geblieben.
Wenn ich sage „Wir haben nicht im Hotel übernachtet“, könnte das bedeuten, dass wir anderweitig untergekommen sind. Ich muss etwas Relevantes sagen, aus dem hervorgeht, warum ich die Frage nicht beantworten kann.
David: Würdest du wohl mit mir nach New York fahren? Ich möchte es nicht, aber ich will nicht unhöflich erscheinen. Eva: Ich müsste mal schauen, wie ich es möglich machen Wird David merken, dass ich ihm nur ausweichend antworte? könnte, ohne dass es nicht allzu unmöglich wäre wegzufahren. David: Häh? Eva: Also …
Gruppenmitgliedschaft. Sprachproduzenten treffen oft starke Annahmen über das mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bestehende geteilte Wissen auf der Basis der gemeinsamen Mitgliedschaft in Gruppen unterschiedlicher Größe (Familie, Freundeskreis, Dorfgemeinschaft, Kultur).
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Er hat’s wohl gemerkt.
Sprachliche Kopräsenz. Oft nehmen Sprachproduzenten an, dass Informationen über Handlungen oder Ereignisse, die in früheren Abschnitten eines Gesprächs (oder in früheren Gesprächen) enthalten waren, zum gemeinsamen Wissenshintergrund gehören.
8.2 Sprachverwendung
Physische Kopräsenz. Physische Kopräsenz besteht dann, wenn ein Sprecher und ein Hörer sich in der unmittelbaren Gegenwart von Objekten oder Situationen befinden. Dazu gehören die Gesprächssituation selbst wie auch alle Personen in der jeweiligen Umgebung der Gesprächspartner. Die Verwendung von Alex in „Ich gehe mit Alex in die Mensa“ gelingt also vielleicht deshalb, weil Sprecher und Hörer Teil einer kleinen Gemeinschaft sind (beispielsweise die Bewohner eines Studentenwohnheims), in der es nur einen Alex gibt (Gruppenmitgliedschaft). Oder die Äußerung ist erfolgreich, weil der Sprecher die Existenz von Alex im vorherigen Verlauf des Gesprächs bereits eingeführt hat (sprachliche Kopräsenz). Schließlich kann es auch sein, dass Alex sich bereits leibhaftig im gleichen Raum befindet (physische Kopräsenz). Sie können an diesem Beispiel erkennen, warum die Beurteilung von gemeinsamem Wissenshintergrund oft von der Fähigkeit Ihrer Gedächtnisprozesse abhängt, Informationen über einzelne Menschen und Gemeinschaften bereitzustellen (Horton & Gerrig, 2005a, 2005b). Damit Sie „Ich gehe mit Alex in die Mensa“ sagen können, müssen Sie einigermaßen sicher sein, dass Ihr Zuhörer in diesem Fall sich ausreichend deutlich an „Alex“ erinnern kann. Konzentrieren wir uns etwas stärker auf die Gruppenmitgliedschaft. Denken Sie einen Augenblick über folgende Frage nach: Welche Informationen würden Sie bei den Angehörigen der Gemeinschaft Ihrer Universität voraussetzen? Welche Information würden Sie bei den Studierenden voraussetzen – aber nicht bei den Dozentinnen und Dozenten? Die Forschung hat sich damit beschäftigt, inwieweit die Einschätzungen von Menschen bezüglich eines gemeinsamen Wissenshintergrundes akkurat und anwendbar sind.
AUS DER FORSCHUNG In einem ersten Experiment bekamen Studenten vor dem ersten Abschluss aus Hongkong eine Diaserie mit 30 Wahrzeichen von Hongkong, Macao und New York gezeigt (Lau et al., 2001). Die Probanden wurden jeweils gefragt, ob Sie das Wahrzeichen erkannten und ob Sie es benennen konnten. Des Weiteren schätzten die Probanden jeweils ein, welcher Prozentsatz der anderen Seminarteilnehmer jedes der Wahrzeichen erkennen würde. Die Ergebnisse dieses Versuchs wiesen darauf hin, dass die Studierenden ziemlich genau errieten, was Mitglieder ihrer eigenen Gemeinschaft wussten: Ihre Schätzungen lagen recht nahe
an den tatsächlichen Prozentsätzen der Studierenden, die jeweils ein Wahrzeichen richtig erkannten. Andererseits neigten die Studierenden zu der irrigen Annahme, andere Leute wüssten, was sie selbst wussten: Sie gaben höhere Prozentzahlen bei Wahrzeichen an, die sie selbst kannten. In einem zweiten Experiment sollte eine andere Probandengruppe jedes der 30 Wahrzeichen beschreiben. Das Ziel war dabei eine Beschreibung, nach der einer der anderen Studierenden das betreffende Wahrzeichen richtig aus den 30 Abbildungen herausfinden konnte. Die Experimentatoren zeigten, dass die Länge der Beschreibung mit dem gemeinsamen Wissenshintergrund zusammenhing: Die Teilnehmer gebrauchten mehr Wörter, um diejenigen Wahrzeichen zu beschreiben, die laut dem ersten Experiment die am wenigsten bekannten waren.
Sie können diese Ergebnisse zu Ihren eigenen Alltagserfahrungen in Beziehung setzen. Wenn Sie mit einem Kommilitonen sprechen, können Sie wahrscheinlich etwa „Treffen wir uns zum Mittagessen in der Mensa“ sagen. Wenn Sie den Besuch eines Freundes erwarten, der sich auf dem Universitätsgelände nicht auskennt, würden Sie dagegen wohl eher sagen: „Es ist das rote Gebäude auf der linken Seite, etwa 30 Meter hinter dem Brunnen“. Der Vergleich zwischen der Länge beider Angaben zeigt, dass sie den gemeinsamen Wissenshintergrund benutzen, um Ihre Äußerungen zu planen. Bis hierhin haben wir uns auf Sprachproduktion auf der Ebene der Äußerung konzentriert: Wie wir das, was wir sagen wollen, konkret zum Ausdruck bringen, hängt von den Hörern ab, zu denen wir sprechen. Wir wenden uns nun den mentalen Prozessen zu, mit deren Hilfe wir diese Äußerungen hervorbringen können.
Sprechvorgang und Versprecher Wären Sie gern bekannt dafür, dass Sie sich immer versprechen? Dies gilt für den Geistlichen Reverend W. A. Spooner von der Oxford University, von dem sich im englischen Sprachraum der Ausdruck Spoonerismus ableitet: die Vertauschung der Anfangslaute von zwei oder mehreren Wörtern in einem Satz oder einem Satzteil (wobei wiederum ein, nun gleichwohl veränderter, Sinn entsteht; es handelt sich um eine Mischung aus Schüttelreim und Freud’schem Versprecher). Reverend Spooner hat sich seine Ehre in einer Vielzahl dokumentierter Versprecher aufrichtig erworben. Zum Beispiel sagte er in einer Predigt statt „the Lord is a loving shepherd to his flock“ („der Herr ist seiner Herde ein liebender Hirte“) „… a shoving leopard to his flock“ („… ein drängelnder Leopard“).
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Unter Ichthyologen handelt es sich bei diesem Tier um ein Exemplar von Choerodon fasciatus. Wie würden Sie es nennen, wenn Sie einem Freund davon erzählen oder schreiben? Spoonerismen bilden einen der begrenzten Typen von Versprechern, die bei der Sprachproduktion gemeinhin vorkommen. Solche Versprecher erlauben den Forschern Erkenntnisse über die Planungsprozesse bei der Produktion von Äußerungen. In Tabelle 8.4 ist zu sehen, dass eine Äußerung auf verschiedenen Ebenen geplant werden muss, wobei Versprecher jede dieser Ebenen belegen können (Bock & Levelt, 1994; Rapp & Goldrick, 2000). Beeindruckend ist bei diesen Versprecherbeispielen vor allem, dass sie nicht zufällig auftreten – sie bewegen sich innerhalb der Struktur-
regeln der jeweiligen Sprache (siehe für das Englische Fromkin, 1980). Im Deutschen mag man zum Beispiel die Anfangskonsonanten aufeinander folgender Silben vertauschen – „saugram“ statt „grausam“ –, würde aber niemals „sraugam“ sagen, weil „sr“ am Silbenanfang im Deutschen eine phonologische Regelverletzung darstellen würde. Angesichts der Bedeutsamkeit von Versprechern für die Entwicklung theoretischer Modelle der Sprachproduktion waren die Forscher nicht immer nur damit zufrieden, darauf zu warten, dass Versprecher auf natürliche Weise auftreten. Stattdessen haben sie mehrere Wege untersucht, um künstliche Sprechfehler unter kontrollierten Experimentalbedingungen zu produzieren (zum Beispiel Hartsuiker et al., 2003; Warker & Dell, 2006). Diese Methoden erbrachten Erkenntnisse über die Prozesse wie auch über die Repräsentationen, die der flüssigen (versprecherfreien) Sprachproduktion zugrunde liegen: Prozesse. In Kapitel 5 wurde bereits die SLIPTechnik (von englisch: spoonerisms of laboratory-induced predisposition) beschrieben, welche die Probanden zur Produktion von Spoonerismen anregt (Baars, 1992). Bei diesem
Tabelle 8.4
Fehler bei der Sprachproduktionsplanung Planungstypen: Sprecher müssen die Inhaltswörter auswählen, die ihren Gedanken am besten entsprechen. Wenn ein Sprecher zwei Wörter im Kopf hat, beispielsweise Fisch und Barsch, kann es zu einer Vermischung wie Bisch kommen. Sprecher müssen die ausgewählten Wörter an den richtigen Stellen in der Äußerung einsetzen. Weil Sprecher die Äußerungen während ihrer Produktion in ganzen Einheiten planen, geraten Inhaltswörter manchmal an die falsche Stelle. den Topf auf den Herd stellen ¤ den Herd auf den Topf stellen ein Käfig voller Holz ¤ ein Holz voller Käfig Sprecher müssen die Laute einsetzen, welche die Wörter bilden, die sie äußern möchten. Auch hier kann wieder das Vorausplanen der Äußerungen beziehungsweise der Äußerungsteile dazu führen, dass Laute an die falsche Stelle geraten. linkshändig ¤ hinksländig Griesgram ¤ Griemgras
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8.2 Sprachverwendung
Verfahren sollen die Teilnehmer Listen von Wortpaaren, die als Modelle für die phonetische Struktur des angezielten Versprechers dienen, leise lesen: Schirm Rast, Schaft Reck, Schilf Rost, Schild Raum. Dann sollen sie ein Wortpaar wie Rock Schaum laut vorlesen, was unter dem Einfluss der vorangegangenen Paare dann manchmal als Schock Raum herauskommt. Mit dieser Methode können die Forscher die Faktoren untersuchen, welche die Wahrscheinlichkeit beeinflussen, dass Sprecher Fehler produzieren. Beispielsweise ist die Produktion eines Spoonerismus wahrscheinlicher, wenn die vertauschten Anfangskonsonanten wieder zu existierenden Wörtern führen (Baars et al., 1975; Hartsuiker et al., 2005). Ein Fehler bei Rock Schaum (der zu Schock Raum führt) ist also wahrscheinlicher als ein Fehler bei Schilf Rost (vertauscht zu Rilf Schost). Derartige Befunde sprechen dafür, dass einige der kognitiven Prozesse schon während der Äußerungsproduktion darauf gerichtet sind, potenzielle Fehler zu entdecken und zu verbessern. Diese Prozesse lassen nur widerwillig die Aussprache von Lautfolgen wie Rilf zu, bei denen es sich nicht um richtige Wörter der deutschen Sprache handelt. Repräsentationen. In einem anderen Verfahren lasen die Teilnehmer – in englischer Sprache – Paare von idiomatischen Ausdrücken (Redewendungen wie ins Kraut schießen und ins Gras beißen). Nach einer Pause von zwei Sekunden sollten sie eines der beiden Idiome aus dem Gedächtnis reproduzieren, und zwar in möglichst schnellem Sprachfluss. Unter solchem Zeitdruck produzierten die Teilnehmer manchmal eine Mischung der beiden Idiome (also im obigen Beispiel etwa ins Kraut beißen). Diese Vermischungsfehler waren dann am wahrscheinlichsten, wenn den beiden Idiomen dieselbe Bedeutung zugrunde lag (beispielsweise kick the maker aus kick the bucket und meet your maker, was im Englischen beides Ausdrücke sind, die etwas despektierlich das Ableben eines Menschen bezeichnen), und traten seltener auf, wenn es sich um Idiome mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen handelte. Im Deutschen könnte man analog beispielsweise die Vermischung von auf Trab bringen und in Gang setzen zu auf Trab setzen erwarten. Solche Befunde lassen darauf schließen, dass die Repräsentationen von idiomatischen Ausdrücken im Gedächtnis miteinander ver-
knüpft sind: Man beginnt, das eine Idiom zu produzieren, und eine repräsentationale Verbindung zu einem anderen Idiom mit ähnlicher Bedeutung führt dann unter Umständen zu einem Vermischungsfehler (Cutting & Bock, 1997). Und so beißt man am Ende in die Grube! Wir haben jetzt einige der Kräfte betrachtet, die Sprecher dazu bringen, bestimmte Äußerungen zu produzieren, und einige der Prozesse, mit deren Hilfe ihnen das gelingt. Nun wenden wir uns den Hörern zu, die dafür verantwortlich sind, dass das, was die Sprecher mitteilen wollten, auch verstanden wird.
8.2.2 Sprachverstehen Angenommen, ein Sprecher produzierte die Äußerung „Die Katze sitzt auf der Matte“. Wir wissen bereits, dass diese Äußerung in Abhängigkeit von ihrem Kontext dazu verwendet werden kann, eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen zu vermitteln. Wie aber entscheidet man sich als Hörer für eine dieser Bedeutungen? Wir beginnen die Behandlung des Sprachverstehens mit einer ausführlicheren Betrachtung des Problems der Mehrdeutigkeit.
Die Auflösung von Mehrdeutigkeit Was bedeutet das Wort Schloss? Wahrscheinlich fallen Ihnen zumindest zwei Bedeutungen ein, wovon die eine mit einem Prachtgebäude und die andere mit Sicherheitsvorkehrungen zu tun hat. Angenommen, Sie hören die Äußerung „Er kaufte sich ein Schloss“. Wie weiß man, welche Bedeutung gemeint ist? Man muss in der Lage sein, die lexikalische Ambiguität der beiden Bedeutungen aufzulösen. (Lexikalisch bezieht sich auf Worteinheiten; Wörter bilden die Einträge im Lexikon. Ambiguität ist das Fachwort für Mehrdeutigkeit.) Wenn Sie über diese Frage nachdenken, werden Sie erkennen, dass wir über bestimmte kognitive Prozesse verfügen, mit deren Hilfe wir Kontextinformationen heranziehen können, um die Mehrdeutigkeit des Wortes auszuschalten. (Das eindeutig Machen von Mehrdeutigem nennt man Disambiguierung.) Ging es im Gespräch gerade um einen Lottogewinner oder um Diebstahlsvermeidung? Der allgemeine Gesprächszusammenhang sollte es ermöglichen, sich zwischen den beiden möglichen Bedeutungen zu entscheiden. Aber wie gelingt das? Bevor wir auf diese Frage antworten, wollen wir zunächst noch einen anderen Typ der Mehrdeutigkeit
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einführen. Was bedeutet der folgende Satz „Die Schwestern von Angelika und Carmen werden eintreffen“? Auf Anhieb entdeckt man hier vielleicht nur eine Bedeutung, aber es besteht eine strukturelle Ambiguität (Akmajian et al., 1990). Dazu betrachte man Abbildung 8.5. Linguisten stellen die Struktur von Sätzen oft als Baumdiagramm dar, um aufzuzeigen, wie sich die verschiedenen Wörter zu grammatischen Einheiten bündeln. In Teil A zeigen wir die grammatische Analyse von „Die Katze sitzt auf der Matte“. Die Struktur des Satzes ist recht einfach; sie umfasst eine Nominalphrase, die sich aus Artikel und Nomen zusammensetzt, und eine Verbalphrase, die aus einem Verb und einer Präpositionalphrase besteht. Die beiden anderen Teile der Abbildung zeigen die komplexeren Strukturen für die beiden unterschiedlichen Bedeutungen unseres Beispielsatzes „Die Schwestern …“. In Teil B zeigt die Analyse, dass sich die gesamte Phrase „von Angelika und Carmen“ auf die Schwestern bezieht. Angelika hat mindestens eine Schwester, Carmen hat mindestens eine Schwester, und über beide wird ausgesagt, dass sie eintreffen werden. (Wenn mindestens zwei Personen eintreffen, eine Schwester von Angelika und eine von Carmen, kann der Satz als wahr gelten.) Die in Teil C dargestellte Lesart des Satzes weist zwei Nominalphrasen auf, „die Schwestern von Angelika“ und „Carmen“. „Die Schwestern von“ bezieht sich hier nur auf Angelika, und diese Schwestern werden zusammen mit der Person Carmen eintreffen. (Hier müssen, damit der Satz wahr ist, mindestens drei Personen eintreffen: Carmen und, damit der Plural von „Schwestern“ gerechtfertigt ist, mindestens zwei
Abbildung 8.5: Satzstrukturen. Linguisten stellen die grammatische Struktur von Sätzen als Baumdiagramm dar. Teil A zeigt die Struktur des Satzes „Die Katze sitzt auf der Matte“. Die Teile B und C zeigen, dass der Satz „Die Schwestern von Angelika und Carmen werden eintreffen“ durch zwei unterschiedliche Strukturanalysen dargestellt werden kann. Worauf bezieht sich „Schwestern“, auf beide Frauen (Struktur B) oder nur auf die erstgenannte (Struktur C)?
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Schwestern von Angelika.) Wie haben Sie den Satz beim ersten Lesen verstanden? Nachdem wir jetzt sehen, dass zwei Bedeutungen möglich sind, kommen wir wieder zu derselben Frage wie zuvor bei der lexikalischen Mehrdeutigkeit: Wie macht es der vorausgegangene Kontext möglich, sich für eine Bedeutung zu entscheiden, wenn mehr als eine zur Auswahl steht? Kehren wir zur lexikalischen Ambiguität (der Mehrdeutigkeit bei Wortbedeutungen) zurück. Betrachten Sie folgenden Satz: Maria beobachtete den Ball. Wie würden Sie beim Lesen dieses Satzes das Wort „Ball“ interpretieren? Angenommen, wir hätten ein Wörterbuch im Kopf, würde unser Eintrag für Ball etwa folgendermaßen aussehen: Definition 1. Ein rundes Objekt, das bei Sport und Spiel Verwendung findet. Definition 2. Ein großes, förmliches Tanzereignis. Der Satz „Maria beobachtete den Ball“ enthält keine Information, auf deren Grundlage man eine der beiden Definitionen auswählen könnte. Tatsächlich gehen die Forscher davon aus, dass beide Definitionen im Gedächtnis zugänglich werden, nachdem man einen derartigen Satz gelesen hat (Vu et al., 1998). Es bedarf der Hilfestellung aus dem Satzkontext, um zu bestimmen, wann welcher Ball gemeint ist. Aber wie trägt der Kontext dazu bei, zwischen den Bedeutungen zu entschei-
8.2 Sprachverwendung
Beim Betrachten des Bildes eines tanzenden Paares – was fällt Ihnen zu dem Wort Ball jetzt ein? den? In der Forschung geht man davon aus, dass der Kontext vielfältige Typen von Anhaltspunkten liefert (Vu et al., 1998, 2000). Betrachten Sie die folgenden Beispiele:
Sie haben es vielleicht gar nicht gemerkt, aber der erste Satz enthielt mit Stollen, Pass und Schloss drei mehrdeutige Wörter. Obwohl Sie sich dessen womöglich nicht bewusst waren, hat Ihr Gehirn die beiden Sätze unterschiedlich bearbeitet (Rodd et al., 2005). In einem Versuch wurden fMRT-Scans von den Probanden angefertigt, während sie entweder Geräuschen (das war die nichtsprachliche Kontrollbedingung), Sätzen mit geringer Mehrdeutigkeit oder Sätzen mit hoher Mehrdeutigkeit zuhörten. Abbildung 8.6 zeigt die Hirnareale, die für jeden Satztyp besonders aktiv waren. Die blau und gelb markierten Bereiche sind Hirnareale, die an der Verarbeitung wenig mehrdeutiger Sätze oder beider Satztypen im Gegensatz zum reinen Geräusch beteiligt waren. Die blau markierten Bereiche zeigen, dass besondere Regionen im
1 Sie bediente bei dem Ball. 2 Die Jongleurin beobachtete den Ball. 3 Die Debütantin saß an der Tür. Sie beobachtete
den Ball. In Beispiel 1 hilft das Verb bedienen bei der Angabe, welche Definition von Ball hier die passende ist; in Beispiel 2 leistet dies das Nomen Jongleurin. In Beispiel 3 ruft der erste Satz ein Szenario auf, das für den zweiten Satz, „Sie betrachtete den Ball“, einen Kontext erzeugt, der schon fast eine Geschichte erzählt. Diese Beispiele lassen erkennen, dass wir immer, wenn wir auf ein mehrdeutiges Wort stoßen, unterschiedliche Arten von Anhaltspunkten schnell und effizient zur Anwendung bringen: Der Kontext wirkt sich unmittelbar darauf aus, welche Bedeutungen Hörer bei mehrdeutigen Wörtern in Betracht ziehen (Gorfein, 2001). Einen ähnlichen Einfluss nimmt der Kontext bei strukturellen Mehrdeutigkeiten (Filik et al., 2005; Spivey et al., 2002). Informationen aus dem Kontext beschleunigen die Entscheidung, wenn verschiedene grammatische Strukturen möglich sind. In den letzten Jahren hat die Forschung begonnen, die Grundlagen der Auflösung von Mehrdeutigkeiten im Gehirn zu studieren. Betrachten Sie diese beiden Sätze: Nur über einen Stollen war der Pass Richtung Schloss zu erreichen. Das Bild an der Wand war von seiner Freundin ausgesucht worden.
Abbildung 8.6. Gehirnregionen für die Auflösung von Mehrdeutigkeiten. Von Versuchspersonen wurden fMRT-Scans angefertigt, während sie Sätze mit geringer oder hoher Mehrdeutigkeit hörten. Die blau markierten Gehirnregionen sind aktiver bei weniger mehrdeutigen Sätzen als bei der Kontrollbedingung mit Geräuschen. Die gelb markierten Areale waren (im Vergleich zur Kontrollbedingung) bei beiden Satztypen aktiver; die roten waren bei stark mehrdeutigen Sätzen aktiver als bei gering mehrdeutigen Sätzen.
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Gehirn aktiv wurden, wenn die Sätze stark mehrdeutig waren. Man kann annehmen, dass diese Bereiche diejenigen sind, in denen das Gehirn Mehrdeutigkeiten durch Verständnis des Zusammenhangs auflöst. Insgesamt kann man zu dem Schluss kommen, dass unsere sprachlichen Prozesse den jeweiligen Kontext sehr effizient und ausgiebig heranziehen, wenn es darum geht, Mehrdeutigkeiten aufzulösen. In gewisser Weise lässt dies auch erkennen, dass Sprachproduktion und Sprachverstehen gut aufeinander abgestimmt sind. Bei der Behandlung der Sprachproduktion haben wir den Hörerbezug – das Audience Design – hervorgehoben: Prozesse, mit denen Sprecher versuchen, ihre Äußerungen für den jeweiligen Kontext angemessen zu gestalten. Unsere Analyse des Sprachverstehens deutet darauf hin, dass Hörer von den Sprechern erwarten, dass sie ihre diesbezügliche Aufgabe gut ausgeführt haben. Unter diesen Umständen erscheint es sinnvoll, dass der Kontext bei den Hörern einen starken Einfluss auf ihre Erwartungen darüber ausübt, was der Sprecher wohl gemeint hat.
Die Resultate des Verstehens Unsere Diskussion der Auflösung von Mehrdeutigkeiten konzentrierte sich auf die Verstehensprozesse. In diesem Abschnitt richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Verstehensresultate. Die Frage lautet nun: Welche Repräsentationen entstehen im Gedächtnis, wenn Hörer Äußerungen oder Texte verstehen? Was würde beispielsweise im Gedächtnis gespeichert, wenn wir unser altes Dauerbeispiel „Die Katze sitzt auf der Matte“ hören? Die Forschung kam zu dem Schluss, dass die Bedeutungsrepräsentation mit Basiseinheiten beginnt, die man Propositionen nennt (Clark & Clark, 1977; Kintsch, 1974). Propositionen sind die zentralen gedanklichen Inhalte von Äußerungen. Bei „Die Katze sitzt auf der Matte“ besteht der Hauptgedanke darin, dass sich etwas (in einer bestimmten Weise) auf etwas anderem befindet. Beim Lesen der Äußerung extrahiert man das Konzept SITZEN-AUF und versteht damit die Beziehung, die zwischen der Katze und der Matte besteht. Propositionen werden meistens folgendermaßen notiert: SITZEN-AUF (Katze, Matte). Viele Äußerungen enthalten mehr als eine Proposition, zum Beispiel der Satz „Die Katze sah die Maus unter das Sofa rennen“. Die erste propositionale Komponente wäre UNTER (Maus, Sofa). Darauf aufbauend gelangen wir zu RENNEN (Maus, UNTER (Maus, Sofa)). Schließlich landen wir bei SEHEN (Katze, RENNEN (Maus, UNTER (Maus, Sofa))).
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Wie können wir prüfen, ob unsere mentalen Bedeutungsrepräsentationen tatsächlich auf diese Weise funktionieren? Einige der ersten sprachpsychologischen Experimente waren darauf gerichtet, die Bedeutung propositionaler Repräsentationen beim Verstehen aufzuzeigen (Kintsch, 1974). Die Forschung zeigte, dass zwei Wörter, die zu derselben Proposition gehören, im Gedächtnis zusammen repräsentiert werden, auch wenn sie im konkreten Satz nicht nahe beieinander stehen.
AUS DER FORSCHUNG Betrachten wir den Satz „Das Mausoleum, in dem der Zar aufgebahrt war, überragte den Platz“. Die Wörter Mausoleum und Platz liegen im Satz weit auseinander, doch weist eine propositionale Analyse darauf hin, dass sie im Gedächtnis zu der Proposition ÜBERRAGEN (Mausoleum, Platz) zusammengefügt sein sollten. Um diese Analyse zu prüfen, sollten die Teilnehmer einer Untersuchung Wortlisten lesen und angeben, ob die einzelnen Wörter in dem zuvor gelesenen Satz vorgekommen waren. Einige Probanden sahen auf der Liste Mausoleum direkt nach Platz. Andere Probanden sahen Mausoleum nach einem Wort aus einer anderen Proposition. Die Reaktion „Mausoleum ist in dem Satz vorgekommen“ erfolgte schneller, wenn Mausoleum direkt nach Platz kam, als wenn das Vorgängerwort aus einer anderen Proposition stammte. Dieser Befund spricht dafür, dass die Begriffe Mausoleum und Platz im Gedächtnis zusammen repräsentiert worden sind (Ratcliff & McKoon, 1978).
Ist Ihnen jemals aufgefallen, wie schwer es ist, sich an das, was jemand sagte, exakt zu erinnern? Vielleicht haben Sie versucht, sich eine Textzeile aus einem Film Wort für Wort zu merken – zu Hause angekommen, mussten Sie erkennen, dass Sie nur den allgemeinen Sinn des Gesagten behalten haben. Das obige Experiment zeigt, warum das wörtliche Gedächtnis nicht so gut funktioniert: Die wichtigsten Funktionen der sprachlichen Verstehensprozesse bestehen in der Extraktion von Propositionen; die exakte Form, aus der diese Propositionen gewonnen wurden, geht relativ schnell verloren (zum Beispiel, ob es „Die Katze jagte die Maus“ oder „Die Maus wurde von der Katze gejagt“ hieß). Nicht alle Propositionen, die Hörer im Gedächtnis speichern, stammen aus Informationen, die der Sprecher direkt ausgesprochen hat. Oft füllen die Hörer Informationslücken mithilfe von Inferenzen – logischen Annahmen, die durch die im Gedächtnis schon vorhandene Information ermöglicht werden. Betrachten wir folgendes Äußerungspaar:
8.2 Sprachverwendung
Ich gehe zum Imbiss-Stand, um Donna zu treffen. Sie hat versprochen, mir zum Mittag eine Currywurst auszugeben. Um zu verstehen, wie diese beiden Sätze zusammengehören, muss man zumindest zwei Schlussfolgerungen ziehen. Man muss herausfinden, wer im zweiten Satz mit sie gemeint ist und was der Gang zum Imbiss-Stand mit einem Versprechen zu tun hat. Ein Freund, der diese beiden Sätze tatsächlich äußert, würde völlig darauf vertrauen, dass wir das alles herausfinden können. Wir würden niemals erwarten, Folgendes zu hören: Ich gehe zum Imbiss-Stand, um Donna zu treffen. Sie – und damit meine ich Donna – hat versprochen, mir zum Mittag eine Currywurst auszugeben – und ein Imbiss-Stand ist ein Ort, wo man eine Currywurst kaufen und somit auch jemand anderem spendieren kann. Sprecher verlassen sich darauf, dass ihre Hörer derartige Inferenzen ziehen.
Viele Forschungsarbeiten waren darauf gerichtet, welche Typen von Inferenzen Hörer im Regelfall ziehen (Gerrig, & O’Brien, 2005). Die Anzahl der möglichen Inferenzen im Anschluss an jede beliebige Äußerung ist unbegrenzt. Weil wir zum Beispiel wissen, dass es sich bei Donna wahrscheinlich um einen Menschen handelt, könnten wir schließen, dass sie ein Herz, eine Leber und zwei Lungenflügel besitzt (und so weiter und so weiter); es dürfte aber unwahrscheinlich sein, dass wir uns dazu veranlasst fühlen, irgendeine dieser (perfekt gültigen) Schlussfolgerungen ins Bewusstsein zu rufen, nachdem wir den Satz „Ich gehe zum ImbissStand, um Donna zu treffen“ gehört haben. (Es sei denn, wir heißen Hannibal Lecter.) Die Forschungsergebnisse legen sogar nahe, dass das Modell, das Leser für die komplette Textsituation entwickeln, beeinflusst, welche Inferenzen (Annahmen) sie enkodieren. Als Beispiel lesen Sie bitte Text 1 in Tabelle 8.5. Haben Sie am Ende des Textes die Inferenz enkodiert, dass Carol wahrscheinlich dem Gast die Spagetti über den Kopf schütten wird? Laut den Forschungsergebnissen nehmen die Leser dies regelmäßig an (Peracchi & O’Brien, 2004). Jetzt lesen Sie
Tabelle 8.5
Textsituationen und Inferenzen 1. Carol war eine allein erziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie musste zwei Jobs gleichzeitig annehmen, um ihr Auskommen zu haben. Sie hatte eine Vollzeitstelle als Lehrerin und eine Teilzeitstelle als Kellnerin. Sie hasste es, so wenig Freizeit zu haben. Carol war für ihre Reizbarkeit und Neigung zu unbeherrschtem Verhalten bekannt. Sie dachte nie an die Konsequenzen ihrer Handlungen und hatte oft negative Folgen zu tragen. Sie ließ sich von niemandem etwas gefallen. Sie hatte sogar gerade einen Strafzettel für Nötigung im Straßenverkehr bekommen. Sie hatte sich entschieden, nie jemanden zu akzeptieren, der nicht nett zu ihr war. An einem bestimmten Abend hatte Carol einen extrem unfreundlichen Kunden. Er beschwerte sich über die Spagetti und herrschte Carol an, als wäre sie dafür verantwortlich. Carol hob die Spagetti über seinen Kopf. 2. Carol war eine allein erziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern. Sie musste zwei Jobs gleichzeitig annehmen, um ihr Auskommen zu haben. Sie hatte eine Vollzeitstelle als Lehrerin und eine Teilzeitstelle als Kellnerin. Sie hasste es, so wenig Freizeit zu haben. Carol war bekannt für ihre Fähigkeit, jeden Streit friedlich beizulegen. Sie dachte nie auch nur daran, ihre Probleme mit physischer Gewalt zu lösen. Sie lehrte ihre Schüler und ihre eigenen Kinder, wie man Probleme mit Gesprächen löst. Sie glaubte daran, dass dies eine effektive Art sei, der zunehmenden Gewalt in den Schulen zu begegnen. Carol half außerdem anderen Eltern, mit ihrer Wut umgehen zu lernen. An einem bestimmten Abend hatte Carol einen extrem unfreundlichen Kunden. Er beschwerte sich über die Spagetti und herrschte Carol an, als wäre sie dafür verantwortlich. Carol hob die Spagetti über seinen Kopf.
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bitte Text 2. In diesem Fall scheinen die Leser sehr viel weniger geneigt, ein Ende anzunehmen, bei dem Carol die Spagetti über den Gast kippt. Sie benutzen Informationen aus einem breiteren Kontext – Carols allgemeine Friedfertigkeit –, um sich ein anderes Ende vorzustellen. Unsere Behandlung der Sprachverwendung hat gezeigt, wie viel ein Sprecher aufwendet, um den richtigen Satz zum richtigen Zeitpunkt zu produzieren, und was der Hörer alles tut, um das vom Sprecher Gemeinte exakt herauszufinden. Normalerweise sind wir uns all dieser Anstrengungen nicht bewusst! Steigert das Ihre Wertschätzung für die elegante Konstruktion Ihrer kognitiven Prozesse?
8.2.3 Sprache und Evolution Wie wir gerade gesehen haben gibt es eine Reihe von Prozessen, die unablässig im Hintergrund ablaufen, um uns bei der Produktion und dem Verstehen von Sprache zu helfen. Die Forschung ist seit langem von der Frage fasziniert, ob noch irgendeine andere Spezies über diese Prozesse verfügt. Wir kennen keine andere Spezies, die eine so komplexe Sprache wie die menschliche besitzt. Aus dieser Beobachtung folgt eine interessante Frage: Welche Prozesse haben Menschen entwickelt, um menschliche Sprache zu ermöglichen? Um diese Frage zu beantworten, hat sich die Wissenschaft hauptsächlich der Forschung an anderen Spezies zugewandt: Es wird versucht, zu definieren, was Menschen und menschliche Sprache auszeichnet. Wir werden uns auf Sprachstruktur und Hörerbezug konzentrieren. Eine Eigenschaft, die menschliche Sprache einmalig macht, ist, dass man damit unbegrenzt viele Botschaften mit einer begrenzten Anzahl von Wörtern hervorbringen kann: Sie folgen den grammatischen Regeln Ihrer Sprache – von der Art, wie sie in Abbildung 8.5 dargestellt sind –, um so viele Sätze, wie Sie brauchen, aus dem Bestand Ihres Vokabulars zu produzieren. Forscher haben vermutet, dass der Mensch die einzige Spezies ist, die Regeln von der Komplexität, wie sie in menschlichen Sprachen vorliegen, anwenden kann (Fitch & Hauser, 2004; Hauser et al., 2002). Diese Schlussfolgerung ist das Resultat mehrerer Jahrzehnte Forschungsarbeit, in der Menschen versucht haben, Tieren Sprachen mit einer (mit der menschlichen Struktur vergleichbaren) Struktur beizubringen. Schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts versuchten Psychologen, dieser Frage nachzugehen, in-
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dem sie Schimpansen Sprache zu lehren versuchten. Schimpansen besitzen keinen Vokaltrakt, der für die Produktion gesprochener Sprache geeignet wäre; deshalb mussten sich die Forscher andere Kommunikationsmethoden ausdenken. Eine Schimpansin namens Washoe wurde beispielsweise eine stark vereinfachte Version der amerikanischen Gebärdensprache ASL (American Sign Language) gelehrt (Gardner & Gardner, 1969); der Schimpansin Sarah wurde beigebracht, Symbole (die für Konzepte wie Apfel oder geben standen) auf einer Magnettafel zu bedienen (Premack, 1971). Die Ergebnisse dieser Experimente riefen große Kontroversen hervor (Seidenberg & Petitto, 1979). Skeptiker bezweifelten, ob die gelegentlichen Kombinationen von Gesten oder Symbolen (zum Beispiel Washoe sorry, You more drink) als irgendeine sinnhaltige Art der Sprachverwendung gelten können. Sie fragten sich auch, ob nicht der größte Teil der Bedeutung, die den Äußerungen der Schimpansen zugeschrieben wurde, in den Köpfen der Menschen entstanden ist statt in den Köpfen der Schimpansen. Sue Savage-Rumbaugh und ihre Mitarbeiter (Savage-Rumbaugh et al., 1998) haben Forschungen durchgeführt, die besser fundierte Einblicke in die sprachlichen Fähigkeiten von Schimpansen erlauben. Savage-Rumbaugh arbeitet mit Bonobos (Zwergschimpansen; Pan paniscus), einer Menschenaffenart, die dem Menschen evolutionär sogar näher steht als normale Schimpansen (Pan troglodytes). Bemerkenswerterweise erwarben zwei der Bonobos aus ihren Untersuchungen, Kanzi und Mulika, die Bedeutungen von Plastiksymbolen spontan: Sie erhielten kein explizites Training, sondern erlernten die Symbole durch die Beobachtung anderer (Menschen wie Bonobos), die mit diesen Symbolen kommunizierten. Außerdem sind Kanzi und Mulika in der Lage, ein wenig gesprochenes Englisch zu verstehen. Wenn Kanzi beispielsweise ein gesprochenes Wort hört, kann er das Symbol für das Wort oder eine Fotografie des bezeichneten Gegenstands identifizieren. Kanzi konnte außerdem einfache Befehle wie „Zieh Sues Schuh aus“ befolgen. Kanzis Leistung deutet stark darauf hin, dass einzelne Aspekte menschlicher Sprachkompetenz auch bei anderen Spezies auftreten können. Andererseits erreichte Kanzi nicht die Fähigkeiten eines Menschen: Er konnte sich kein Regelsystem aneignen, das ihm die Produktion unbegrenzt vieler verschiedener Äußerungen ermöglicht hätte. Weitere speziesübergreifende Forschung bestätigt die Schlussfolgerung, dass allein der Mensch die Prozesse entwickelt hat, mit denen komplexe grammatische Strukturen angemessen hervorgebracht und verstanden werden können (Fitch & Hauser, 2004).
8.2 Sprachverwendung
Ein weiterer Schwerpunkt speziesübergreifenden Vergleichs liegt auf dem, was wir als Hörerbezug bezeichnet haben. Um darin erfolgreich zu sein, muss man in Betracht ziehen, was die Adressaten einer Äußerung wissen und was nicht. Können Tiere ihre Äußerungen entsprechend dem Vorwissen des Empfängers modifizieren? Forscher haben sich aufgemacht, diese Frage zu beantworten. Zum Beispiel haben Dorothy Cheney und Robert Seyfarth (1990) umfangreiche Forschungsarbeiten über die kommunikativen Fähigkeiten von Meerkatzen (einer Gattung aus der Familie der Altweltaffen) durchgeführt. Eine bestimmte Art der Meerkatzen (Cercopithecus pygerythrus) stößt verschiedenartige Schreie aus, um die Anwesenheit unterschiedlicher Gefahren – Leoparden, Adler, Schlangen – zu signalisieren. Diese Affen können ihre Rufe in Abhängigkeit von den Adressaten modifizieren: Weibliche Affen gaben viel häufiger Alarm, wenn sie mit ihrem eigenen Nachwuchs unterwegs waren, als wenn sie im Kreise von Affen waren, mit denen sie nicht verwandt waren. Die Affen verändern ihre Schreie jedoch nicht auf der Grundlage dessen, was die Adressaten wissen: In einer experimentellen Anordnung produzierten Affenmütter dieselben Schreie, gleich ob ihr Nachwuchs die Ereignisse, welche die Schreie ausgelöst haben, auch selbst beobachtet hatten oder nicht. Die Forschung arbeitet weiter an dem Verständnis, was genau Menschen vor anderen Spezies darin auszeichnet, Hörerbezug aufzuweisen (Karin-D’Arcy & Povinelli, 2002; Povinelli & Prince, 1998). Beispielsweise betrachteten in einem Experiment Gibbonaffen Versuchsanordnungen, deren zentraler Bestandteil entweder Fotografien eines Menschen oder eines anderen Gibbons waren, der entweder nach rechts oder
Einige Bonobos haben die Bedeutungen von Wörtern ohne explizites Training gelernt. Welche weiteren Fähigkeiten müssen diese Tiere an den Tag legen, bevor man sagen könnte, dass sie eine menschliche Sprache wirklich erworben haben?
links blickte (Horton & Caldwell, 2006). Ein weiterer Teil der Versuchsanordnungen war jeweils ein Spielzeug links oder rechts von der Fotografie. Die Gibbons waren in der Lage, die Blickrichtung der Abgebildeten zu benutzen, um das Spielzeug zu finden. Diese Fähigkeit, ein anderes Individuum als Informationsquelle über die Umwelt zu benutzen, ist ein Schritt in die Richtung von Hörerbezug. Experimente dieser Art erlauben den Forschern genauer festzulegen, welchen Schritt in den Fähigkeiten der Mensch über das Nichtmenschliche hinaus getan hat. Ein evolutionärer Ansatz in der Sprachforschung befasst sich mit den entscheidenden Prozessen, die der Mensch entwickelte, um Sprache zu ermöglichen. Dieses allgemeine Bündel von Prozessen erlaubt allerdings die Entstehung einer Vielzahl stark unterschiedlicher Sprachen. Im nächsten Abschnitt befassen wir uns mit einigen potenziellen Auswirkungen der Unterschiedlichkeit von Sprachen.
8.2.4 Sprache, Denken und Kultur Hatten Sie die Gelegenheit, mehr als eine Sprache zu lernen? Falls ja, glauben Sie, dass Sie in den beiden Sprachen unterschiedlich denken? Beeinflusst Sprache das Denken? Diese Frage haben Forscher auf ganz unterschiedliche Weise verfolgt. Nehmen wir ein sprachenübergreifendes Beispiel, um diese Frage zu konkretisieren. Stellen Sie sich eine Szene vor, in der ein Mädchen seinem Vater dabei zugeschaut hat, wie er einen Ball warf. Wenn es sich um ein deutsches Kind handelte, würde es vielleicht sagen: „Papi warf den Ball.“ Falls es sich bei dem Kind hingegen um eine türkische Sprecherin handelt, würde sie sagen: „Topu babam atti.“ Handelt es sich dabei lediglich um eine andere Ansammlung von Wörtern für denselben Gedanken? Nicht ganz: Das Suffix -ti am Ende des türkischen Satzes gibt an, dass die Sprecherin das Ereignis selbst beobachtet hat; wenn die Sprecherin nicht Zeuge des Ereignisses gewesen wäre, würde dem Wortstamm at (dem türkischen Äquivalent von warf) ein anderes Suffix (mis) angehängt, so dass atmis entsteht. Als Sprecher des Deutschen müssen wir die Welt nicht in Ereignisse, die wir selbst beobachtet haben, gegenüber solchen, von denen wir nur aus anderen Quellen erfahren haben, einteilen; als türkischer Sprecher ist das aber notwendig (Slobin, 1982; Slobin & Aksu, 1982). Könnte es zutreffen, dass sich die unterschiedlichen grammatischen Anforderungen dieser beiden Sprachen in sehr grundsätzlicher Weise auf die Art auswirken, in der die Menschen über die Welt den-
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ken? Wir kennen die Antwort nicht, was diese spezielle Frage des Deutschen und Türkischen betrifft. (Vielleicht wollen Sie die notwendigen Forschungsarbeiten durchführen?) Der Unterschied liefert jedoch ein gutes Beispiel dafür, warum Menschen so häufig von der Frage nach dem potenziellen Einfluss der Sprache auf das Denken fasziniert waren. Die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Frage ging von Edward Sapir und seinem Studierenden und Schüler Benjamin Lee Whorf aus, deren sprachvergleichende Untersuchungen zu der etwas radikalen Schlussfolgerung führten, der zufolge Unterschiede in der Sprache Unterschiede im Denken verursachen. Sapir fasste diesen Gedanken wie folgt: Was wir sehen, hören oder anderweitig erfahren, ist zum größten Teil so beschaffen wie es ist, weil die sprachlichen Gewohnheiten unserer Gemeinschaft bestimmte Interpretationswahlen prädisponieren. (Sapir, 1941/1964, S. 69) Für Sapir und Whorf ergab sich dieser Schluss direkt aus Beziehungen, die sie in ihren eigenen Daten zu erkennen glaubten. Von den Hypothesen, die Sapir und Whorf aufstellten, hat die Hypothese des linguistischen Relativismus die meiste Aufmerksamkeit erfahren (Brown, 1976). Nach dieser Hypothese hat die Sprachstruktur eines Menschen Auswirkungen auf seine Weltsicht. Die gegenwärtige Forschung in den Bereichen Psychologie, Linguistik und Anthropologie hat versucht, harte Tests für diese Behauptungen zu schaffen (Gentner & Goldin-Meadow, 2003). Betrachten wir einen Bereich, in dem der Einfluss der Sprache auf das Denken untersucht wurde. Es mag vielleicht überraschen, dass sich die Sprachen der Welt hinsichtlich der Anzahl an Grundfarbwörtern unterscheiden, die sie verwenden. Einer linguistischen Analyse zufolge besitzt das Englische – hierin dem Deutschen sehr ähnlich – elf Grundfarbwörter (Wörter für schwarz, weiß, rot, gelb, grün, blau, braun, lila, rosa, orange und grau). Anders ist dies beispielsweise in der Sprache der Dani, einem Volk auf Papua-Neuguinea, wo es nur zwei Grundfarbwörter gibt, nämlich eine einfache Unterscheidung zwischen schwarz und weiß (oder hell und dunkel) (Berlin & Kay, 1969). Whorf hatte angenommen, dass Sprachverwender „die Natur an Linien aufgliedern, die durch [ihre] Muttersprachen vorgegeben sind“ (1956, S. 213): Die Forscher vermuteten, dass die Anzahl der Farbwörter (zum Beispiel zwei gegenüber elf) einen Einfluss darauf haben könnte, wie die Sprecher verschiedener Sprachen über Farben denken können.
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Das Volk der Dani aus Papua-Neuguinea spricht eine Sprache mit nur zwei Grundfarbwörtern – sie unterscheiden schwarz und weiß (oder hell und dunkel). Das Deutsche besitzt demgegenüber elf Grundfarbwörter. Kann dieser sprachliche Unterschied einen Einfluss darauf haben, wie Menschen die Welt erleben?
AUS DER FORSCHUNG Zwölf Himba-Sprecher aus dem nördlichen Namibia bekamen Dreiergruppen von Farbchips vorgelegt, die alle zum Blau-Grün-Kontinuum gehörten. Die Teilnehmer sollten angeben, „welche dieser drei Farben einander am ähnlichsten sehen, so wie Brüder einander ähneln“ (Roberson et al., 2005, S. 395). Anders als das Englische und Deutsche kennt das Himba keine lexikalische Unterscheidung zwischen Blau und Grün. Im Himba verwendet man stattdessen den Begriff borou, der die meisten grünen und blauen Farbtöne abdeckt. Die Forscher suchten nach Anzeichen kategorieller Wahrnehmung: Sie bestimmten das Ausmaß, in dem Himba-Sprecher Farbtöne innerhalb der Kategorien ihrer Sprache als einander ähnlicher einstuften, verglichen mit Ähnlichkeiten zwischen den Kategorien. Tatsächlich zeigten die Ähnlichkeitsbewertungen der Himba-Sprecher einen deutlichen Einfluss der kategoriellen Struktur ihrer Sprache.
Die Ergebnisse unterstützen die Behauptung des linguistischen Relativismus, dass Sprache unter bestimmten Umständen tatsächlich das Denken beeinflussen kann. Auf der Welt gibt es Tausende von Sprachen, die viele interessante Unterscheidungen bereithalten: Wir haben bereits an unserem Ausgangsbeispiel des Deutschen und des Türkischen darauf hingewiesen, dass viele interessante Hypothesen über die Verknüpfung zwischen Sprache und Denken noch der Prüfung bedürfen (Slobin, 2003). Wahrscheinlich wird es sich so verhalten, dass sehr viele der lexikalischen und grammatischen Unterschiede zwischen Sprachen – Unterschiede bei Wörtern und Strukturen – keine Auswirkungen auf das Denken haben. Und dennoch sollte man
8.2 Sprachverwendung
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Wie und warum lügen Menschen?
In diesem Kapitel, das sich mit dem Sprachgebrauch befasst, haben wir betont, dass Menschen sich um Kooperation in der Verständigung bemühen. So haben wir zum Beispiel angenommen, dass man normalerweise dem Prinzip „Versuche, den Wahrheitsgehalt deines Beitrags zu sichern!“ folgt. Es ist jedoch bekannt, dass diese Maxime häufig nicht eingehalten wird. Als man Versuchspersonen bat, Buch über die Lügen zu führen, die sie erzählten, kamen die meisten auf eine oder zwei pro Tag (DePaulo et al., 2003). Aber warum lügen Menschen? Wenn die Lügen relativ harmlos sind, wird eher aus psychologischen Gründen gelogen (wenn man sich zum Beispiel eine Peinlichkeit ersparen möchte) als wegen persönlicher Vorteile (wenn man sich zum Beispiel vor einer unangenehmen Aufgabe drücken möchte). Wenn die Lügen aber schwerwiegender werden, verschieben sich die Motive in Richtung des persönlichen Vor teils. In einer Studie sollten die Teilnehmer die schlimmste Lüge ihres Lebens berichten (DePaulo et al., 2004): Sehr oft hatten sie gelogen, um Affären oder andere verbotene Formen sozialen Kontakts zu verbergen. Sie fühlten, dass sie das Recht hatten, ihre Partner zu betrügen, und logen um dieses Gefühl zu befriedigen. Daher dienten die Lügen dem persönlichen Vorteil. Betrachten wir die geistigen Prozesse, die dem Lügen dienen. Sollte es schwieriger oder einfacher sein, eine Lüge statt der Wahrheit zu erzählen? Die Antwort lautet: „Es kommt darauf an“ (DePaulo et al., 2003). Angenommen, Sie werden gefragt: „Was haben Sie letzte Nacht gemacht?“ Wenn Sie sich spontan zum Lügen entschließen, könnte es schwieriger sein, eine Lüge zu formulieren als einfach die Wahrheit zu sagen. Wenn Sie aber schon eine Lüge vorbereitet haben –, weil die unangenehme Frage vorauszusehen war, bringen Sie diese möglicherweise mit fließender Leichtigkeit vor. Trotzdem unterschieden sich Wahrheit und Lüge doch in bestimmten Aspekten durchgängig von einander. Eine Studie, die sich mit der Literatur zum Inhalt von Lügen befasste, berichtete, dass Lügner in ihren Äußerungen weniger Einzelheiten nennen als Menschen, die die Wahrheit sagen (DePaulo et al., 2003). Außerdem klangen die Lügengeschichten durchgängig unwahrscheinlicher und holpriger als die wahren Geschichten.
sich der linguistischen Relativität und dem linguistischen Determinismus gedanklich nicht verschließen, wenn wir in diesem Buch kulturelle Unterschiede beschreiben. Angesichts der vielen Situationen, in denen
Diese Ergebnisse legen nahe, dass man vielleicht verschiedene geistige Prozesse zur Erzeugung von Lügen benutzt. Um diese Vermutung zu überprüfen, hat die Forschung begonnen, Muster von Gehirnaktivität zu untersuchen, die dem Lügen und dem Erzählen der Wahrheit zu Grunde liegen. In einer Studie sollten die Teilnehmer über ihre Beteiligung an einem Vorfall lügen oder die Wahrheit sagen, bei dem in einem Krankenhaus eine Pistole abgefeuert wurde (Mohamed et al., 2006). Um die Erfahrung des Lügens so realistisch wie möglich zu gestalten, feuerten die „schuldigen“ Teilnehmer tatsächlich eine (mit Platzpatronen geladene) Startschusspistole im Versuchsraum ab. Sowohl die „schuldigen“ als auch die „unschuldigen“ Teilnehmer beantworteten eine Reihe Fragen, während sie einen fMRT-Scan durchliefen. Die „schuldigen“ Probanden wurden angewiesen, über ihre Rolle bei dem Vorfall zu lügen. Die fMRT-Scans enthüllten, dass mehrere Hirnareale bei der Vorbereitung zum Lügen (statt die Wahrheit zu sagen) aktiver waren, so zum Beispiel die für Vorausplanung und Emotionen zuständigen Bereiche. Eine weitere Studie untersuchte die Gehirne von Menschen, die als pathologische Lügner gelten können – das sind Menschen, die mit ausreichender Gewohnheitsmäßigkeit lügen, dass man ihr Verhalten als unnormal einstuft (nach der Klassifizierung der DSM-IV-Kriterien, die in Kapitel 14 beschrieben werden). Die Gesamtstruktur der Hirne der pathologischen Lügner wurde mittels MRT-Aufnahmen mit denen einer Kontrollgruppe verglichen (Yang et al., 2005). Diese Gehirnvergleiche zeigten durchgehende Unterschiede im präfrontalen Cortex. So hatten die pathologischen Lügner etwa mehr jener Art von Hirngewebe, durch das Neuronen miteinander kommunizieren. Der präfrontale Cortex ist eine Hirnregion, die eine wichtige Rolle in der Vorausplanung spielt – was darauf hinweist, dass die pathologischen Lügner besonders gut dafür ausgestattet sind, ihre Lügen zu planen. Diese Ergebnisse lassen allerdings die Frage von Ursache und Wirkung offen: Haben die pathologischen Lügner diese Art von Gehirn von Geburt an (was sie vielleicht dazu brachte oder es ihnen ermöglichte, häufig zu lügen) oder veränderte das häufige Lügen ihre Hirnstruktur?
die Mitglieder der verschiedenen Kulturen sehr unterschiedliche Sprachen sprechen, können wir uns fragen, in welchem Ausmaß die Sprache beim Entstehen kultureller Unterschiede eine ursächliche Rolle spielt.
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Kommen wir nun von den Umständen, unter denen Bedeutung durch Wörter kommuniziert wird, zu solchen, in denen die Bedeutung auch auf Bildern beruht.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Beziehung besteht zwischen dem Kooperati-
onsprinzip und dem Hörerbezug? 2 Angenommen, Sie sollen „schicker Duft“ und „langer
Bart“ sagen. Wieso ist es wahrscheinlicher, dass Sie bei einem Versprecher „dicker Schuft“ als „banger Lart“ sagen? 3 Wie können Sie Inferenzen in den Vorstellungen ande-
rer Menschen entdecken? 4 Welche zwei sprachlichen Fähigkeiten unterscheiden
Menschen von anderen Spezies laut Hinweisen aus der Forschung? 5 Was besagt die Hypothese des linguistischen Relati-
vismus? KRITISCHES DENKEN: Warum haben die Experimentatoren in der Studie über Angehörige einer Gemeinschaft die Wahrzeichen dreier verschiedener Städte benutzt?
8.3.1 Die Verwendung visueller Repräsentationen Die Geschichte ist voller Beispiele berühmter Entdeckungen, die offenbar auf der Grundlage mentaler Vorstellungsbilder gemacht wurden (Shepard, 1978). F. A. Kekulé beispielsweise, der Entdecker der chemischen Struktur des Benzols, beschwor oft geistige Vorstellungen von tanzenden Atomen herauf, die sich selbst zu Molekülketten zusammenschlossen. Seine Entdeckung des Benzolrings erfolgte in einem Traum, in dem ein schlangenartiges Molekül plötzlich nach seinem eigenen Schwanz schnappte und so einen Ring bildete. Michael Faraday, der viele Eigenschaften des Magnetismus entdeckte, war in Mathematik nicht gut bewandert, aber er besaß lebhafte geistige Vorstellungsbilder von den Eigenschaften magnetischer Felder. Albert Einstein behauptete, er habe ganz und gar in geistigen Bildern gedacht und seine Ergebnisse erst dann in mathematische Symbole und Wörter übertragen, wenn die Arbeit der visuell basierten Entdeckung abgeschlossen war.
(A)
Visuelle Kognition
8.3
In Abbildung 8.7 geben wir zwei alternative visuelle Darstellungen des – für diesen Zweck leicht modifizierten – Satzes „Die Katze befindet sich auf der Matte“. Welche scheint die richtige zu sein? Wenn man in sprachbasierten Propositionen denkt, erfassen beide Alternativen die richtige Bedeutung – die Katze ist auf der Matte. (Nur mit dem Verb sitzen wäre zugleich die Art und Weise spezifiziert, in der sich die Katze auf der Matte befindet.) Dennoch sind Sie wohl nur mit Bild A zufrieden, weil es dem Sachverhalt gleicht, der ihnen beim Lesen des Satzes wahrscheinlich in den Sinn kam (Searle, 1979b). Was ist mit Alternative B? Vielleicht beunruhigt sie Sie ein wenig, weil es den Anschein hat, als ob die Katze gleich nach rechts umkippen wird. Dieses besorgte Gefühl muss entstehen, weil wir mit Bildern denken können. In gewisser Weise sehen wir genau, was passieren wird. In diesem Abschnitt untersuchen wir einige der Wege, auf denen visuelle Vorstellungen und visuelle Prozesse dazu beitragen, wie wir denken.
(B)
Abbildung 8.7: Visuelle Repräsentationen. Befinden sich beide Katzen auf der Matte?
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8.3 Visuelle Kognition
Wir haben diese Beispiele angeführt, um Sie zu dem Versuch zu ermutigen, sich auf das visuelle Denken einzulassen. Aber auch ohne den expliziten Versuch nutzen wir unsere Fähigkeit, mit visuellen Vorstellungsbildern umzugehen, regelmäßig. Betrachten wir ein klassisches Experiment, in dem die Teilnehmer Bilder in ihren Köpfen transformieren sollten.
AUS DER FORSCHUNG Die Forscher zeigten Studierenden Exemplare des Buchstabens R und seines Spiegelbilds, die um verschiedene Winkelbeträge rotiert waren, von 0 bis 180 Grad ( Abbildung 8.8). Wenn der Buchstabe erschien, mussten die Teilnehmer feststellen, ob es sich um ein normales R oder um ein spiegelverkehrtes R handelt. Die Reaktionszeit für diese Entscheidung verlängerte sich direkt proportional zu dem Winkel, um den die Figur rotiert worden war. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass sich die Probanden die Figur vor ihrem „geistigen Auge“ vorstellen und dieses Vorstellungsbild mit gleich bleibender Geschwindigkeit in seine aufrechte Position drehen, um dann zu entscheiden, ob es sich um ein R oder um dessen Spiegelbild handelt. Die Konsistenz der Rotationsgeschwindigkeit weist darauf hin, dass der mentale Rotationsprozess dem Prozess der physikalischen Rotation sehr ähnlich ist (Shepard & Cooper, 1982).
Wir können unsere Fähigkeit zur mentalen Rotation sehr gut nutzen. Häufig sehen wir Objekte in unserer Umwelt aus ungewöhnlichen Perspektiven. Vermöge der mentalen Rotation können wir das Wahrnehmungsbild so transformieren, dass es mit Repräsentationen
(A)
aus dem Gedächtnis übereinstimmt (Lloyd-Jones & Luckhurst, 2002). In Abbildung 8.7 beispielsweise mussten Sie das Bild fast zwangsläufig rotieren (es sei denn, Sie hätten Ihren Kopf oder das Buch gedreht), um das Objekt auf der Matte als eine Katze zu erkennen. Mithilfe von visuellen Vorstellungsbildern kann man auch bestimmte Typen von Fragen über die Welt beantworten. Angenommen, Sie würden gefragt, ob ein Golfball größer ist als ein Tischtennisball. Wenn Sie die gesuchte Information nicht direkt aus dem Gedächtnis abrufen können, könnte es zweckmäßig sein, eine visuelle Vorstellung zu bilden, in der beide Objekte nebeneinander liegen. Auch diese Verwendung eines Vorstellungsbildes hat wieder vieles mit den Eigenschaften der echten visuellen Wahrnehmung gemeinsam.
AUS DER FORSCHUNG In einer Untersuchung prägten sich die Teilnehmer zunächst Bilder komplexer Objekte ein, beispielsweise eines Motorboots ( Abbildung 8.9). Dann sollten sie sich ihre visuelle Vorstellung des Boots in Erinnerung rufen und sich auf eine Stelle konzentrieren – beispielsweise auf den Motor. Wenn sie dann gefragt wurden, ob auf dem Bild ein anderes Objekt zu sehen war – zum Beispiel eine Windschutzscheibe oder ein Anker (beide waren vorhanden) –, dann brauchten sie länger, um den Anker zu „sehen“, weil die Windschutzscheibe näher am Motor lag als der Anker. Der Reaktionszeitunterschied kann als Beleg dafür gelten, dass Menschen visuelle Vorstellungen so absuchen, wie sie es auch bei echten Objekten in der Welt tun (Kosslyn, 1980).
(B) L N
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G
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S
Abbildung 8.8: Die Bestimmung bildhafter mentaler Prozesse mithilfe eines rotierten R. Die Teilnehmer sahen diese Figuren in zufälliger Abfolge und sollten schnellstmöglich angeben, ob es sich jeweils um ein normales R oder um dessen Spiegelbild handelt. Die Reaktionszeiten stiegen mit dem Rotationswinkel, ausgehend von der aufrechten Position des Buchstabens. (Bei Rotationswinkeln größer als 180 Grad wird die Abweichung von der aufrechten Position wieder kleiner.)
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Die Verwendung der visuellen Vorstellungskraft unterliegt natürlich auch bestimmten Grenzen. Betrachten wir folgende Aufgabe: Stell dir vor, du hast ein großes, leeres Blatt Papier. Falte es – im Geiste – in die Hälfte (so dass zwei Lagen entstehen), falte es wieder hälftig (vier Lagen) und mache über 50 Mal so weiter. Wie dick ist das Papier am Ende etwa? (Adams, 1986) Die tatsächliche Antwort beträgt etwa 80 Millionen Kilometer (250 x 0,7 Millimeter, der Dicke eines Blatt Papiers); das ist ungefähr die halbe Entfernung zwischen der Erde und der Sonne. Ihre Schätzung fiel wahrscheinlich beträchtlich niedriger aus. Ihr geistiges Auge war von der Information, die es repräsentieren sollte, überfordert. Wir möchten, dass Sie noch eine letzte Übung zur visuellen Vorstellung durchführen. Nehmen Sie irgendein Objekt in Ihrer Umgebung und betrachten es einige Sekunden lang. Jetzt schließen Sie die Augen und versuchen Sie, eine visuelle Vorstellung desselben Objekts hervorzurufen. Die Frage dabei ist: Wie weit überschnitten sich die Gehirnregionen, die bei der visuellen Wahrnehmung aktiv waren, mit denen, die bei der visuellen Vorstellung aktiv waren? Um diese Frage zu beantworten, ließen Forscher die Teilnehmer eines Experiments eine Reihe von Strichzeichnungen gewöhnlicher Objekte wie etwa eines Baumes auswendig lernen (Ganis et al., 2004). In der nächsten Versuchsphase wurden an den Patienten fMRT-Scans vorgenommen, während sie entweder dieselben Zeichnungen auf einem Bildschirm betrachteten oder visu-
Abbildung 8.9: Visuelles Absuchen mentaler Vorstellungsbilder. Nach dem Einprägen eines Bilds, auf dem ein Boot war, sollten die Probanden in ihrer eigenen mentalen Vorstellung auf den Motor „schauen“. Sie wurden dann gefragt, ob das Boot auch eine Windschutzscheibe oder einen Anker besaß. Die schnellere Reaktion bei der Windschutzscheibe, die sich näher am Motor befand als der Anker, spricht dafür, dass die Probanden ihre visuellen Vorstellungsbilder absuchten.
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elle Vorstellungen davon hervorriefen. Bei jeder Zeichnung beantworteten sie eine einfache Frage, etwa, ob das Objekt kreisförmige Teile habe. Abbildung 8.10 zeigt die Resultate der fMRT-Scans verschiedener Hirnregionen. Die linke und mittlere Spalte zeigen diejenigen Hirnareale, die sich bei jeder Aufgabe von der Baseline-Bedingung (zum Beispiel wenn die Teilnehmer gerade keine Aufgabe lösten) unterschieden. Die rechte Spalte zeigt die Hirnregionen, die spezifisch für die Wahrnehmungsaufgabe zuständig waren. Aus diesen Daten folgen zwei wichtige Schlüsse: Erstens gab es eine bedeutende Überschneidung zwischen den Hirnprozessen für Wahrnehmung und Vorstellung. Zweitens waren die Hirnareale für Vorstellung eine Untermenge derjenigen für Wahrnehmung – die Teilnehmer benutzten keine besonderen Regionen nur für die Erzeugung einer visuellen Vorstellung. Was die Hirnaktivität angeht, so benutzen Sie ziemlich dieselben Ressourcen, um die visuelle Welt zu enkodieren, wie für die Erzeugung einer visuellen Vorstellung.
8.3.2 Die Kombination verbaler und visueller Repräsentationen Bis hierhin hat sich unsere Diskussion weitgehend auf die Typen visueller Repräsentationen konzentriert, die wir dadurch bilden, dass wir visuelle Reize aus der Umwelt ins Gedächtnis aufnehmen – oder im Falle des Umgangs mit visuellen Vorstellungsbildern aus dem Gedächtnis wieder abrufen. Oft bilden wir jedoch visuelle Vorstellungen auf der Grundlage verbaler Beschreibungen. Beispielsweise könnten wir ein mentales Bild einer Katze mit drei Schwänzen erzeugen, obwohl wir
8.3 Visuelle Kognition
Wahrnehmung
Vorstellung
Wahrnehmung– Vorstellung
Frontaler Cortex
Temporaler Cortex
Parietaler Cortex
Okzipitaler Cortex
Abbildung 8.10: Die Gehirnregionen für visuelle Vorstellung im Gehirn. Die Abbildung zeigt die Ergebnisse von fMRT-Scans an Probanden, die entweder eine Wahrnehmungs- oder eine Vorstellungsaufgabe lösten. Die linke und mittlere Spalte zeigen die Hirnaktivität bei jeder Aufgabe: Rot, orange und gelb markierte Regionen zeigten im Vergleich zu einer Baseline ohne Aufgabe erhöhte Aktivität, blau markierte Regionen verminderte Aktivität. Die rechte Spalte zeigt die Hirnregionen, die von der Wahrnehmungs-, aber nicht von der Vorstellungsaufgabe in Anspruch genommen wurden. Diese fMRT-Scans zeigen, dass fast dieselben Hirnareale für Wahrnehmung und Vorstellung benutzt werden.
mit größter Wahrscheinlichkeit noch nie eine gesehen haben. Die verbale Beschreibung versetzt uns in die Lage, eine visuelle Repräsentation zu bilden. Die Fähigkeit, aus einer verbalen Szene eine mentale Vorstellung zu produzieren, ist besonders hilfreich, wenn wir fiktive Texte lesen, die räumliche Details enthalten. Betrachten wir den folgenden Abschnitt aus der JamesBond-Kurzgeschichte From a view to a kill:
Glockenblumen. Auf der einen Seite erhob sich ein niedriger Erdhügel, vielleicht ein alter Grabhügel, ganz von Brombeersträuchern und wilden Rosen überwuchert, die jetzt in voller Blüte standen. Bond umschritt den Hügel und spähte zwischen den Wurzeln hinein. Aber nur die Erdform des Hügels war zu sehen. (Fleming, 1965, S. 25 f.)
Von Unterholz und Bäumen gedeckt sah er sich die Lichtung sorgfältig an, betrat sie dann und schritt sie bis zum anderen Ende aus. Sie hatte das Ausmaß von zwei Tennisplätzen und war mit dichtem Gras und Moos bedeckt. Ein großer Fleck Maiglöckchen war da, und unter den Bäumen am Rand wuchsen vereinzelt
Haben Sie versucht, sich die Szene vorzustellen – und James Bond bei der Suche nach Gefahr zu helfen? (Er wird sie finden.) Beim Lesen können Sie ein räumliches mentales Modell aufbauen, um die Umgebung der Charaktere mitzuverfolgen (Zwaan & Radvansky, 1998). Die Forscher haben sich häufig auf die Arten und Weisen konzentriert, in denen räumliche mentale
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Modelle die Eigenschaften der echten räumlichen Erfahrungen erfassen (Rinck et al., 1997). Angenommen, Sie würden beispielsweise den Abschnitt eines Textes lesen, der Sie mitten in eine interessante Umgebung führt. Du gehst zum Promitreff in die Oper. Heute Abend wolltest du interessante Mitglieder der oberen Zehntausend treffen und mit ihnen plaudern. Im Moment stehst du am Geländer eines breiten, eleganten Balkons, von dem aus man die untere Ebene überblicken kann. Direkt hinter dir ist auf Augenhöhe eine prunkvolle Lampe an der Wand des Balkons angebracht. Der Sockel der Lampe, die an der Wand hängt, ist vergoldet. (Franklin & Tversky, 1990, S. 65) In einer Serie von Experimenten befassten sich Leser mit derartigen Beschreibungen, in denen die Anordnung von Objekten um den Betrachter herum anschaulich beschrieben wurde (Franklin & Tversky, 1990). Die Forscherinnen wollten zeigen, dass die Leser beim Zugriff auf die Information über die jeweilige Szene schneller oder langsamer waren, je nachdem, wo sich die Objekte in dem mentalen Raum um sie herum befanden. Beispielsweise konnten die Leser schneller angeben, welches Objekt sich in der Szene vor ihnen befand, als welches sich hinter ihnen befand, obwohl alle Objekte in den Geschichten gleichermaßen sorgfältig eingeführt wurden ( Abbildung 8.11). Am leichtesten kann man dieses Ergebnis verstehen, wenn man annimmt, dass die Repräsentation, die man während des Lesens aufbaut, den Leser in gewisser Weise tatsächlich inmitten der Szene platziert. Wir sind in der Lage, eine verbale Erfahrung in eine visuelle und räumliche Erfahrung umzuwandeln. Im Allgemeinen kombinieren wir fast immer visuelle und verbale Informationsrepräsentationen, wenn wir über die Welt um uns herum nachdenken. Um sich das selbst zu beweisen, sollten Sie sich kurz Zeit nehmen und eine Weltkarte zeichnen. Los – machen Sie eine Skizze! Wie gehen Sie diese Aufgabe an? Manche der Dinge, die Sie einzeichnen, beruhen wahrscheinlich auf visuellen Erfahrungen – Sie kennen den Umriss von Afrika nur, weil Sie ihn in der Vergangenheit schon dargestellt gesehen haben. Andere Merkmale der Zeichnung beruhen wahrscheinlich auf verbalen Informationen – vielleicht erinnern Sie sich, dass Japan aus mehreren Inseln besteht, selbst wenn Sie nicht über eine visuelle Repräsentation davon verfügen, wie die Inseln genau zueinander liegen. In einer Untersuchung sollten fast 4000 Schüler und Schülerinnen aus 71 Städ-
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ten und 49 Ländern die Aufgabe ausführen, eine Weltkarte zu zeichnen (Saarinen, 1987). Das Ziel der Untersuchung bestand darin, das Verständnis für kulturelle Unterschiede in der Art, wie die Welt visualisiert wird, zu erweitern und den Weltfrieden zu fördern. Die Untersuchung belegte, dass die Mehrzahl der Karten eine eurozentrische Weltsicht aufwies. Europa wurde in die Mitte der Karte platziert, und die anderen Länder wurden drum herum angeordnet; dies beruht wahrscheinlich auf der jahrhundertelangen Dominanz eurozentrischer Darstellungen in Geografiebüchern. Die Untersuchung brachte jedoch auch viele Beispiele für kulturgefärbt verzerrte Landkarten, etwa die Weltkarte eines Schülers aus Chicago in Abbildung 8.12 und die eines australischen Schülers in Abbildung 8.13. Diese Karten zeigen, was passiert, wenn eine verbale Perspektive – Meine Heimat sollte im Zentrum stehen! – einer visuellen Repräsentation aufgeprägt wird. In diesem Abschnitt haben wir gesehen, dass es visuelle Prozesse und Repräsentationen gibt, die unsere verbalen Fähigkeiten ergänzen. Diese beiden Typen des Informationszugriffs geben uns eine besondere Unterstützung im Umgang mit den Erfordernissen und Aufgaben des Lebens. Wir wenden uns nun Bereichen zu, in denen wir sowohl visuelle als auch verbale Repräsentationen zum Einsatz bringen, um die Komplexitäten zu bewältigen, die das Leben mit sich bringt: Problemlösen und logisches Denken.
Abbildung 8.11: Räumliche mentale Modelle. Mithilfe der Vorstellung kann man sich selbst in die Mitte einer Szene projizieren. So wie wenn man selbst tatsächlich in dem Raum stünde, könnte man schneller sagen, was vor einem steht (die Lampe), als was sich hinter einem befindet (die Büste).
8.3 Visuelle Kognition
Abbildung 8.12: Wie verhält sich diese Chicago-zentrische Weltsicht zu der Ihrigen?
Abbildung 8.13: Betrachten Sie diese australozentrische Perspektive auf die Welt. Was ist jetzt „down under“?
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ZWISCHENBILANZ 1 Wie ähnlich sind die Prozesse der physischen und der
mentalen Rotation? 2 Was hat die Forschung über die Aktivität von Ge-
hirnregionen beim Erzeugen visueller Vorstellungen ergeben? 3 Wenn Sie sich selbst in einer Szene vorstellen, kommt
es dann darauf an, wo Sie sich in dem Raum platzieren? KRITISCHES DENKEN: Warum war es bei dem Experiment zum Scannen mentaler Bilder wichtig, dass die Teilnehmer die Bilder vorher auswendig lernten?
Problemlösen und logisches Denken
8.4
Kehren wir wieder zu unserer rätselhaften Botschaft zurück: „Die Katze sitzt auf der Matte.“ Wenn Sie soweit gekommen sind, dass Sie die Botschaft verstehen – was fangen Sie dann damit an? Für jene unter uns, deren Leben etwas weniger rätselhaft verläuft, betrachten wir eine Situation aus unserem leider nur zu alltäglichen Leben: Sie haben sich versehentlich aus Ihrer Wohnung, Ihrem Zimmer oder Ihrem Auto ausgeschlossen. Was gilt es als Nächstes zu tun? Denken Sie einen Moment über die Arten geistiger Schritte nach, mit deren Hilfe Sie diese Schwierigkeit überwinden könnten. Zu solchen geistigen Schritten gehören mit ziemlicher Sicherheit die kognitiven Prozesse, die das Problemlösen und das logische Denken bilden. Beide geistigen Aktivitäten erfordern, dass man aktuelle Information mit Information, die im Gedächtnis gespeichert ist, verbindet, um auf ein bestimmtes Ziel hinzuarbeiten: eine Lösung oder eine Schlussfolgerung. Wir werden Aspekte des Problemlösens sowie zwei Arten des logischen Denkens, das deduktive und das induktive Schließen, betrachten.
8.4.1 Problemlösen Was geht am Morgen auf vier Beinen, mittags auf zwei Beinen, und in der Abenddämmerung auf drei Beinen? Nach der griechischen Mythologie hat die Sphinx diese Rätselfrage gestellt, ein bösartiges Wesen, das damit drohte, das Volk von Theben so lange in Tyrannei zu halten, bis jemand käme und das Rätsel zu lösen vermochte. Um die Verschlüsselung aufzuknacken,
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musste Ödipus Elemente des Rätsels als Metaphern erkennen. Morgen, Mittag und Abend stehen für verschiedene Abschnitte im menschlichen Leben. Ein Baby krabbelt und hat somit im Endeffekt vier Beine, ein Erwachsener geht auf zwei Beinen, und im Alter kommt noch ein Gehstock dazu, was einem dritten Bein entspricht. Ödipus’ Lösung des Rätsels hieß: Menschen. Auch wenn die Probleme unseres Alltags nicht so monumental erscheinen dürften wie das, dem sich der junge Ödipus gegenübersah, bilden Problemlöseaktivitäten dennoch einen zentralen Teil unserer täglichen Existenz. Andauernd stehen wir vor Problemen, die einer Lösung bedürfen: wie wir unsere Arbeit und die zugehörigen Aufgaben innerhalb eines begrenzten Zeitrahmens bewältigen können, wie wir bei einem Einstellungsgespräch erfolgreich abschneiden, wie wir eine Beziehung angemessen abbrechen und so weiter. Viele Probleme enthalten Diskrepanzen zwischen dem, was wir bereits wissen, und dem, was wir an Wissen benötigen. Beim Lösen eines Problems verringern wir diese Diskrepanz, indem wir einen Weg finden, wie wir an die fehlende Information gelangen können. Um sich auf das Problemlösen einzustimmen, sollten Sie sich an den Problemen versuchen, die in Abbildung 8.14 dargestellt sind. Danach werden wir sehen, inwiefern die psychologische Forschung Ihre Leistungen erklärbar macht – und vielleicht ergeben sich auch ein paar Vorschläge zur Verbesserung.
Problemräume und Prozesse Wie definieren Sie unter den Bedingungen des realen Lebens ein Problem? Normalerweise bemerken Sie den Unterschied zwischen Ihrem derzeitigen Zustand und einem erwünschten Ziel: Zum Beispiel sind Sie abgebrannt, und Sie hätten gern etwas Geld. Meistens sind Ihnen auch einige Schritte bewusst, die Sie unternehmen könnten (oder die zu unternehmen Sie bereit wären), um den bestehenden Unterschied zu überbrücken: Sie versuchen, einen Teilzeitjob zu bekommen, aber Sie wollen nicht zum Taschendieb umschulen. Die formale Definition eines Problems umfasst diese drei Elemente (Newell & Simon, 1972). Ein Problem ist definiert durch: (1) einen Anfangszustand – die unvollständige Information oder die unbefriedigende Zustandslage, von der sie ausgehen; (2) einen Zielzustand – die Information oder der Zustand in der Welt, den Sie zu erreichen hoffen; und (3) eine Menge von Operatoren – die Schritte, die Sie unternehmen, um sich vom Anfangszustand auf den Zielzustand hin zu bewegen. Zusammen definieren diese drei Teile den
8.4 Problemlösen und logisches Denken
Abbildung 8.14: Finden Sie die Lösung? (Teil I). Versuchen Sie, alle dargestellten Probleme zu lösen. (Die Lösungen finden Sie in Abbildung 8.15; aber schauen Sie nicht nach, bevor Sie sich an allen Problemen wenigstens versucht haben.) Problemraum. Man kann sich das Problemlösen als einen Gang durch ein Labyrinth (den Problemraum) vorstellen – von der Stelle, an der Sie gerade stehen (dem Anfangszustand), zu der Stelle, an der Sie sein möchten (dem Zielzustand) – wobei Sie eine Reihe von Richtungsänderungen vornehmen (die zulässigen Operatoren). Ein Großteil der anfänglichen Schwierigkeiten bei der Lösung eines Problems entsteht, wenn eines dieser Elemente nicht gut definiert ist (Simon, 1973). Ein wohldefiniertes Problem gleicht einer Aufgabe in einem Schulbuch, bei welcher der Anfangszustand, der Zielzustand und die Operatoren alle eindeutig spezifiziert sind. Die Aufgabe besteht darin herauszufinden, wie man die zulässigen, bekannten Operatoren zum Einsatz bringt, um zur Lösung zu gelangen. Ein schlecht definiertes Problem gleicht im Gegensatz dazu dem Vorhaben, seine Wohnung einzurichten, einen Roman zu schreiben oder ein Heilmittel für AIDS zu finden. Der Anfangszustand, der Zielzustand und /
oder die verfügbaren Mittel können unklar und vage spezifiziert sein. In solchen Fällen besteht die erste Aufgabe des Problemlösers darin, so weit wie möglich herauszuarbeiten, wie das Problem genau beschaffen ist: Was ist der Anfang, was wäre eine ideale Lösung, und welche Mittel sind möglich, um diese zu erreichen? Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass es selbst bei gut definierten Anfangs- und Zielzuständen immer noch schwierig sein kann, die richtige Operatorenmenge zu finden, mit der man vom Anfang zum Ende gelangt. Man muss sich nur an den Mathematikunterricht erinnern, um zu wissen, wie wahr das ist. Der Lehrer gab eine Gleichung vor, beispielsweise x² + x – 12 = 0, und diese sollte nach möglichen Werten von x aufgelöst werden. Wie gehen Sie dabei vor? Um dieses algebraische Problem zu lösen, kann man einen Algorithmus (ein schrittweises Verfahren, das bei einem bestimmten Problemtyp immer die richtige Lösung liefert) verwenden. Wenn man die Regeln der Algebra
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Die Forscher haben sich dafür interessiert, die Art und Weise zu verstehen, wie Menschen sowohl Algorithmen als auch Heuristiken anwenden, wenn sie sich durch einen Problemraum bewegen. Um die Schritte der Problemlöser zu untersuchen, haben sich Forscher oft der Methode des lauten Denkens bedient. Bei diesem Verfahren sollten die Probanden ihre Gedanken fortlaufend verbalisieren (Ericsson & Simon, 1993). Zum Beispiel waren zwei Forscher daran interessiert, die mentalen Prozesse zu erfassen, mit deren Hilfe die Teilnehmer das Problem des unvollständigen Schachbretts lösen, das in Teil C von Abbildung 8.14 dargestellt ist (Kaplan & Simon, 1990). Hier ist das (sinngemäß übersetzte) Protokoll eines Teilnehmers, der gerade den entscheiden gedanklichen Durchbruch hat, dass sich das Problem bei ausschließlich horizontaler und vertikaler Platzierung der Dominosteine nicht lösen lässt (das Schachbrett war pink und schwarz gemustert, und die beiden schwarzen Eckfelder fehlten):
Wie können Wissenschaftler das schlecht definierte Problem angehen, AIDS zu heilen? korrekt anwendet, erhält man mit Sicherheit die korrekten Lösungswerte für x (in diesem Fall 3 und – 4). Auch wenn man die Kombination eines Zahlenschlosses vergessen hat, kann man sich in seinem Verhalten von einem Algorithmus leiten lassen. Wenn man die Lösungen systematisch durchprobiert (zum Beispiel 1, 2, 3; 1, 2, 4), gelangt man definitiv zur richtigen Kombination – es kann allerdings eine Weile dauern! Weil wohldefinierte Probleme eindeutige Anfangs- und Zielzustände besitzen, sind für sie mit größerer Wahrscheinlichkeit Algorithmen verfügbar als für schlecht definierte Probleme. Wenn Algorithmen nicht in Reichweite sind, verlassen sich Problemlöser oft auf Heuristiken, das sind Strategien oder „Faustregeln“. Angenommen, Sie lesen eine Kriminalgeschichte und möchten gern herausfinden (das Problem lösen), wer einen Magnaten des elektronischen Versandhandels ermordet hat. Dabei schließen Sie vielleicht die Möglichkeit aus, dass es der Butler war, weil Sie sich an der Heuristik orientieren, dass ein Autor niemals so einen abgedroschenen Handlungsverlauf wählen würde. Wir werden in Kürze sehen, dass Heuristiken auch beim Urteilen und Entscheiden einen wesentlichen Aspekt darstellen.
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So, du gehst weg … es ist zu wenig – wie viele, du gehst weg ohh … es sind mehr pinkfarbene als schwarze, und um es fertig zu machen müsste man zwei pinkfarbene verbinden, aber das geht nicht, weil sie diagonal … kommt das der Sache näher? (Kaplan & Simon, 1990, S. 388) Der Problemlöser hatte gerade erkannt, dass das Ziel nicht erreicht werden kann, wenn man die Dominosteine nur waagerecht und senkrecht platzieren darf. Forscher haben oft die Selbstauskünfte der Teilnehmer über ihre Denkvorgänge zum Ausgangspunkt für formalere Modelle des Problemlösens herangezogen (Simon, 1979, 1989).
Das Problemlösen verbessern Was macht das Problemlösen so schwer? Denkt man an seine Alltagserfahrung, gelangt man vielleicht zu der Antwort: „Es sind zu viele verschiedene Dinge, die man gleichzeitig beachten muss.“ Die Erforschung des Problemlösens ist zu ziemlich demselben Schluss gekommen. Was ein bestimmtes Problem (oder eine Aufgabe) oft so schwer macht, sind die mentalen Anforderungen für seine Lösung, welche die Verarbeitungsressourcen überlasten (Kotovsky & Simon, 1990; Mac Gregor et al., 2001). Um ein Problem zu lösen, muss man eine Folge von Operationen planen, die man durchführen will. Wenn diese Reihe zu komplex wird, kann es passieren, dass man den Weg vom Anfangszu-
8.4 Problemlösen und logisches Denken
stand bis zum Zielzustand nicht mehr erkennt. Wie könnte man diese potenzielle Einschränkung überwinden? Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Problemlösens besteht darin, ein Problem so zu repräsentieren, dass jeder Operator im Rahmen der vorhandenen Verarbeitungsressourcen auch zum Einsatz kommen kann. Wenn man sich ständig mit ähnlichen Problemoder Aufgabentypen herumschlagen muss, besteht ein hilfreiches Verfahren darin, die einzelnen Komponenten des Lösungswegs zu üben, so dass sie mit der Zeit weniger Ressourcen benötigen (Kotovsky et al., 1985). Angenommen, Sie wären Taxifahrer in Berlin und wären täglich mit Verkehrsstaus konfrontiert. Sie könnten im Geiste Ihre Reaktionen auf Staus an verschiedenen Stellen der Stadt einüben, so dass Sie für das Gesamtproblem, Ihre Fahrgäste vom Taxiplatz an den Bestimmungsort zu befördern, bereits fertige Lösungen für einzelne Problemkomponenten besäßen. Mit dem Einüben dieser Komponentenlösungen könnten Sie einen größeren Teil Ihrer Aufmerksamkeit auf die Straße richten! Manchmal bedeutet das Finden einer hilfreichen Repräsentation, dass man einen völlig neuen Weg findet, über ein Problem nachzudenken (Novick & Bassok, 2005). Lesen Sie das Rätsel in Tabelle 8.6. Wie würden Sie vorgehen, um den geforderten Beweis vorzulegen? Denken Sie ein paar Minuten darüber nach, bevor Sie weiterlesen. Wie ist es Ihnen ergangen? Wenn Ihnen das Wort Beweis so etwas wie eine mathematische Lösung nahe legte, dann sind Sie wahrscheinlich nicht besonders weit gekommen. Ein güns-
tigerer Weg, das Problem gedanklich zu erfassen, besteht darin, sich zwei Mönche vorzustellen, von denen der eine am Gipfel und der andere am Fuß des Berges losgeht (Adams, 1986). Wenn der eine abwärts und der andere aufwärts geht, ist es klar, dass sich die beiden an irgendeiner Stelle des Bergwegs treffen müssen ( Abbildung 8.16). So weit klar? Jetzt ersetzen Sie die beiden Mönche am selben Tag durch nur einen an zwei verschiedenen Tagen – vom Konzept her ist es dasselbe –, und hier ist der Beweis. Was dieses Problem plötzlich sehr einfach werden lässt, ist die Verwendung der geeigneten Art der Problemrepräsentation: Eine visuelle Repräsentation führt hier weiter als eine verbale oder mathematische. Wenn man noch einmal zu den Problemen in Abbildung 8.14 zurückgeht, finden sich weitere gute Beispiele für die Wichtigkeit einer geeigneten Repräsentation des Problemraums. Um die Tischtennisbälle aus der Röhre zu bekommen, musste man erkennen, dass die Lösung nicht notwendigerweise impliziert, in die Röhre irgendwie hineinzugreifen. Um die beiden Seile zu fassen zu kriegen, muss man eines der Werkzeuge, die auf dem Boden liegen, als Gewicht sehen können. Um die Kerze an der Tür zu befestigen, muss man seine übliche Perspektive ändern und in der Streichholzschachtel ein Podest und nicht nur ein Behältnis erkennen, und man muss die Kerze sowohl als Werkzeug als auch als Objekt wahrnehmen, das an der Tür befestigt werden soll. Die beiden letztgenannten Probleme illustrieren ein Phänomen, das funktionale Fixierung genannt wird (Duncker, 1945; Maier, 1931). Funktionale Fixierung bezeichnet eine geistige Blo-
Tabelle 8.6
Das Rätsel des Mönchs
Eines Morgens, genau bei Sonnenaufgang, begann ein Mönch, einen hohen Berg zu besteigen. Ein schmaler Pfad, kaum mehr als einen halben Meter breit, wand sich um den Berg, hinauf zu einem Kloster auf dem Gipfel. Der Mönch bestieg den Berg mit variierender Geschwindigkeit, oft hielt er an, um sich auszuruhen und Trockenobst zu essen, das er mit sich führte. Er erreichte das Kloster kurz vor Sonnenuntergang. Nach mehreren Tagen des Fastens und der Meditation begann er seine Rückreise auf demselben Weg, ging bei Sonnenaufgang los, ging mal langsamer, mal schneller und machte unterwegs viele Pausen. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit beim Abstieg war natürlich höher als seine durchschnittliche Aufstiegsgeschwindigkeit. Zeigen (beweisen) Sie, dass es einen Punkt auf dem Weg gibt, an dem sich der Mönch beim Aufstieg und beim Abstieg zu exakt derselben Tageszeit befand! (Ein „Beweis“ für das Rätsel findet sich in Abbildung 8.16.)
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Abbildung 8.15: Finden Sie die Lösung? (Teil II). Hier sind die Lösungen der Probleme aus Teil I. Wie haben Sie abgeschnitten? Im Abschnitt über Problemlösen und logisches Denken finden Sie, was diese Probleme schwierig macht.
ckade, die sich negativ auf die Problemlösung auswirkt, indem sie das Erkennen einer neuartigen Funktion eines Objekts hemmt, das zuvor mit einer anderen Funktion assoziiert war. Immer wenn Sie bei einem Problem nicht weiterkommen, sollten Sie sich fragen: „Wie habe ich das Problem repräsentiert? Gibt es andere oder bessere Möglichkeiten, wie ich das Problem oder einige seiner Lösungskomponenten auffassen kann?“ Wenn es nicht mit Worten geht, versuchen Sie es mit einem Bild. Oder versuchen Sie, Ihre Annahmen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und zu sehen, welche scheinbaren Regeln durch neuartige Kombinationen durchbrochen werden können.
Abbildung 8.16: Ein „Beweis“ für das Rätsel des Mönchs. Bild A zeigt zwei Mönche, von denen einer am Gipfel und der andere am Fuß des Berges losgeht. Bild B zeigt, dass sie sich im Laufe des Tages irgendwann treffen müssen. Man ersetze die beiden Mönche durch einen einzigen Mönch, und schon hat man den Beweis.
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Beim Versuch, ein Problem zu lösen, bringen Sie oft auch spezielle Formen des logischen Denkens zur Anwendung. Wenden wir uns nun einem ersten Typ des logischen Denkens zu, der beim Problemlösen zur Anwendung kommt: dem deduktiven Schließen.
8.4.2 Deduktives Schließen Angenommen, Sie bereiten sich abends auf den Weg ins Restaurant vor und beabsichtigen, mit der einzigen Kreditkarte zu bezahlen, die Sie besitzen: der VISACard. Sie rufen im Restaurant an und fragen: „Akzep-
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8.4 Problemlösen und logisches Denken
tieren Sie die VISA-Card?“ Die Wirtin antwortet: „Wir akzeptieren alle wichtigen Kreditkarten.“ Daraus können Sie sicher schließen, dass sie dort auch die VISACard annehmen. Warum? Dazu reformulieren wir die Gesprächsinhalte so, dass sie die Struktur eines Syllogismus annehmen, wie ihn der griechische Philosoph Aristoteles vor über 2000 Jahren eingeführt hat: Prämisse 1: Das Restaurant akzeptiert alle wichtigen Kreditkarten. Prämisse 2: VISA-Card ist eine wichtige Kreditkarte. Schlussfolgerung: Das Restaurant akzeptiert die VISA-Card. Aristoteles hat sich damit befasst, die logischen Beziehungen zwischen Aussagen zu definieren, die zu wahren oder gültigen Schlüssen führen. Das deduktive Schließen bezieht sich auf die korrekte Anwendung solcher logischer Regeln. Mit dem Kreditkartenbeispiel wollten wir Ihnen zeigen, dass Sie sehr wohl in der Lage sind, Schlussfolgerungen in der Form logischer, deduktiver Beweise zu ziehen. Gleichwohl hat sich die psychologische Forschung auf die Frage konzentriert, ob wir im Geiste tatsächlich die formalen Regeln des deduktiven Schließens repräsentiert haben (Schaeken et al., 2000). Dieser Forschungsansatz kommt zu dem Schluss, dass wir über ein gewisses allgemeines, abstraktes Verständnis der formalen Logik verfügen, dass aber das deduktive Schließen im wirklichen Leben sowohl durch das spezifische Weltwissen, das wir besitzen, als auch durch die repräsentationalen Ressourcen, die wir bei dem jeweiligen Schlussfolgerungsproblem zum Einsatz bringen können, beeinflusst wird. Wir wollen diese Folgerungen etwas erweitern. Wie beeinflusst unser Wissen das deduktive Schließen? Betrachten Sie folgenden Syllogismus: Prämisse 1: Alles, was einen Motor hat, braucht Öl. Prämisse 2: Autos brauchen Öl. Schlussfolgerung: Autos haben einen Motor. Ist dieser Schluss gültig? Nach den Regeln der Logik handelt es sich nicht um einen gültigen Schluss, weil Prämisse 1 die Möglichkeit offen lässt, dass es auch Dinge geben kann, die keinen Motor haben und dennoch Öl brauchen. Die Schwierigkeit für uns Menschen liegt darin, dass sich Folgerungen, die in einer logischen Problemstellung ungültig sind, im wirklichen Leben nicht notwendigerweise als unwahr erweisen. Das heißt, dass die Schlussfolgerung nur dann
ungültig ist, wenn man die Prämissen 1 und 2 (und nichts anderes) als Gesamtmenge der Information heranzieht, die man besitzt – wie man es tun sollte, wenn man sich darauf einlässt, dass es sich lediglich um eine Übung in formaler Logik handelt. Und dennoch: Wenn Versuchsteilnehmer beurteilen, ob die Schlussfolgerung „logisch aus den Prämissen folgt“, dann neigen sie weit eher zur Zustimmung, wenn die Schlussfolgerung mit Autos zu tun hat, als wenn stattdessen der sinnlose Ausdruck Oppobine eingesetzt wird (Markovitz & Nantel, 1989). Dieses Ergebnis illustriert den allgemeinen Effekt glaubhaftigkeitsbasierter Urteilsneigung (belief-bias effect), dass Menschen dazu neigen, solche Schlüsse als gültig zu beurteilen, für die sie in ihrer Erfahrungswelt ein vernünftiges Modell konstruieren können, und Schlüsse als ungültig zurückzuweisen, bei denen eine entsprechende Modellkonstruktion nicht möglich ist (Janis & Frick, 1943). Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass dieser Effekt aufgrund eines Prozesses eintritt, der beim Menschen als Reaktion auf die Alternative zwischen gültigen und ungültigen Schlüssen abläuft (Ball et al., 2006). Wenn es eine glaubhafte Schlussfolgerung gibt, wie etwa „Autos haben einen Motor“, dann neigen wir zu positiv bestätigenden Tests, um eine Modellkonstruktion zu finden, die zu der Schlussfolgerung passt. Wenn das gelingt,
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ist der Prozess beendet. Daraus erklärt sich, warum man nicht lange genug nachdenkt, um die Möglichkeit zu erkennen, dass Autos – im Hinblick auf die logische Struktur der Prämissen – vielleicht aus anderen Gründen Öl brauchen als nur, weil sie einen Motor haben. Angesichts einer unglaubwürdigen Schlussfolgerung fängt man hingegen sehr wahrscheinlich mit negativ bestätigenden Tests an, das heißt man bemüht sich darum, Umstände zu ermitteln, die die Schlussfolgerung ungültig machen. Wenn Sie die Logik von Schlussfolgerungen bewerten, dann sollten Sie Ihre eigenen Vorurteile in den Hintergrund stellen. Vielleicht beruhigt es Sie zu erfahren, dass formaler Unterricht im logischen Denken, so wie Sie ihn jetzt gerade erhalten, zur Verringerung dieser Beurteilungsschwäche beiträgt (Evans et al., 1994). In manchen Fällen erhöht die Anwendung von Wissen über die „wirkliche“ Welt unsere Fähigkeit zum logischen Denken. Stellen Sie sich vor, Ihnen wird eine Reihe von vier Karten vorgelegt, wie sie in der oberen Reihe von Abbildung 8.17 abgebildet ist. Auf den Karten steht A, D, 4 und 7. Die Aufgabe besteht darin zu entscheiden, welche Karten man umdrehen muss, um folgende Regel zu überprüfen (Johnson-Laird & Wason, 1977): „Wenn auf der einen Seite ein Vokal steht, dann steht auf der anderen Seite eine gerade Zahl.“ Was würden Sie tun? Die meisten Menschen geben an, sie würden die Karte mit dem A umdrehen (was korrekt ist) und die Karte mit der 4 – was falsch ist. Welches Zeichen auch immer sich auf der anderen Seite der 4 befindet: Es kann nichts über die Ungültigkeit der Regel aussagen. (Erkennen Sie, warum das so ist?) Stattdessen muss man die 7 umdrehen. Wenn man dort einen Vokal vorfände, hätte sich die Regel als ungültig erwiesen.
Abstrakte Aufgabe
Lebensweltliche Aufgabe
A
D
4
7
KAUFT SCHNAPS
KAUFT SAFT
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17
Abbildung 8.17: Logisches Denken anhand abstrakter und lebensweltlicher Aufgabenformulierungen. In der oberen Reihe sollen Sie angeben, welche Karten Sie umdrehen müssen, um folgende Regel zu prüfen: „Wenn auf der einen Seite ein Vokal steht, dann steht auf der anderen Seite eine gerade Zahl.“ In der unteren Reihe sollen Sie angeben, welche Karten Sie umdrehen müssen, um folgende Regel zu prüfen: „Wenn ein Kunde Schnaps kauft, dann muss er mindestens 18 Jahre alt sein.“ (Auf der einen Seite steht das Getränk, auf der anderen das Alter einer Person.) Die logischen Leistungen sind bei der zweiten Aufgabe, bei der man lebensweltliche Strategien anwenden kann, meistens besser.
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Die ursprüngliche Forschung zu dieser Aufgabe, die auch als Wason’sche Auswahlaufgabe bezeichnet wird, ließ Zweifel darüber aufkommen, ob Menschen zum effektiven logischen Denken fähig sind. Diese negative Sicht hat sich jedoch in zweierlei Hinsicht relativiert. Erstens haben Forscher darauf hingewiesen, dass die Teilnehmer bei der Prüfung der Karten vielleicht einer nichtdeduktiven Strategie folgen, mit der sie die Allgemeingültigkeit der in der Regel benannten Beziehung bestätigen können, statt sie zu widerlegen. Zwar kann diese Strategie zum Auftreten falscher deduktiver Schlüsse führen, doch handelt es sich um eine vernünftige lebensweltliche Strategie zum Lernen von Assoziationen und zum Treffen von Entscheidungen (Oaksford & Chater, 1994; Oaksford et al., 1997). Zweitens verbessert sich das deduktive Schließen, wenn die Teilnehmer ihr lebensweltliches Wissen bei der Wason-Aufgabe zur Anwendung bringen können (Holyoak & Spellman, 1993). Angenommen, Sie sollen eine in logischer Hinsicht vergleichbare Aufgabe bearbeiten, wie in der unteren Kartenreihe von Abbildung 8.17. In diesem Fall soll nun aber folgende Regel beurteilt werden: „Wenn ein Kunde Schnaps kauft, dann muss er mindestens 18 Jahre alt sein“ (Cheng & Holyoak, 1985). Jetzt erkennen Sie wahrscheinlich auf Anhieb, welches die korrekten Karten sind, die man zum Überprüfen der Regel umdrehen muss: 17 und Schnaps. Wie Sie aus Abbildung 8.17 ersehen, haben 7 und 17 dieselbe logische Funktion. Sie müssen die 17 aus denselben logischen Gründen umdrehen wie die 7. Ihre Erfahrung in der realen Welt hilft Ihnen aber zu verstehen, warum es logisch notwendig ist, die 17 umzudrehen. Dieses Beispiel mit Alter und Alkohol stammt aus der allgemeineren Kategorie der Erlaubnissituationen. Sie besitzen vermutlich eine Menge Erfahrung mit Erlaubnissituationen – erinnern Sie sich an all die Male, in denen uns Bedingungen gestellt wurden wie „Du darfst nicht fernsehen, bevor du deine Hausaufgaben erledigt hast“. Sie haben wahrscheinlich nie erkannt, dass unter solchen Umständen deduktives Schließen beteiligt ist! Einige Forscher vermuten, dass Menschen ein pragmatisches Schlussfolgerungsschema enkodieren, das auf frühen Lebenserfahrungen mit Erlaubnissituationen beruht (Chao & Cheng, 2000). Mit diesem Schema können Menschen in den Spielarten von Erlaubnissituationen, die in ihrer Umgebung aufgetreten sind, erfolgreich schlussfolgern. Die lebensweltliche Situation, welche die Getränkewahl an das Alter knüpft, ruft dieses Schema ins Bewusstsein – nicht aber die willkürliche Situation, in der Vokale mit geraden Zahlen verknüpft werden. In der Folge führt die
8.4 Problemlösen und logisches Denken
willkürliche Schlussfolgerungsaufgabe zu einer Unterschätzung unserer Fähigkeit, korrekte Schlüsse abzuleiten. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass die jüngere Forschung eine Alternative vorgeschlagen hat, was die Annahme betrifft, Menschen erwerben ein Schema, das sich auf Erlaubnis-Situationen bezieht. In einer für Kinder adaptierten Version der Kartenwahlaufgabe konnten die Teilnehmer schon im Alter von drei Jahren erfolgreich schlussfolgern, was durch eine Regel erlaubt ist und was nicht. Dieser Befund weist darauf hin, dass das Schlussfolgern über Erlaubnis-Situationen angeboren sein könnte (Cummins, 1996). Das bedeutet, dass die Fähigkeit zu bestimmen, wann Handlungen nicht mit sozialen Normen im Einklang stehen, Teil der genetischen Ausstattung sein könnte, die wir als Mitglieder der äußerst sozialen menschlichen Spezies geerbt haben (Cummins, 1999). Zu Beginn des Abschnitts über das deduktive Schließen beschrieben wir eine Situation, in der Sie einen gültigen deduktiven Schluss über die Möglichkeit gezogen haben, mithilfe einer VISA-Card Ihr Essen zu bezahlen. Unglücklicherweise bietet das Leben viele Gelegenheiten, bei denen man sich nicht so sicher sein kann, dass man aus gültigen Prämissen auch gültige Schlüsse gezogen hat. Wir kommen nun zu einer Version der Restaurant-Szene, bei der Sie eine andere Form des logischen Denkens zum Einsatz bringen müssen.
8.4.3 Induktives Schließen Nehmen wir an, Sie wären vor dem Restaurant angekommen, und erst dann fällt Ihnen ein nachzusehen, ob Sie überhaupt genug Bargeld bei sich haben. Wiederum stellen Sie fest, dass Sie mit Ihrer VISA-Card bezahlen wollen, aber es gibt kein hilfreiches Zeichen an der Tür. Sie linsen durch die Fenster des Restaurants und sehen gut gekleidete Gäste. Sie schauen sich die teuren Preise auf der Speisekarte an und beachten die gehobene Qualität der Nachbarschaft. All diese Beobachtungen führen Sie zu dem Glauben, dass das Restaurant Ihre Kreditkarte mit großer Wahrscheinlichkeit akzeptieren wird. Dies ist kein Fall deduktiven Schließens, weil die Schlussfolgerung auf Wahrscheinlichkeiten beruht und nicht auf logischer Gewissheit. Stattdessen handelt es sich hier um induktives Schließen – eine Form des logischen Schließens, bei der mithilfe verfügbarer Anhaltspunkte wahrscheinliche, aber nicht sichere Schlussfolgerungen erzeugt werden.
Auch wenn die Bezeichnung hier vielleicht neuartig erscheint, haben wir bereits mehrere Beispiele des induktiven Schließens beschrieben. Wir haben in den Kapiteln 4 und 7 wiederholt gesehen, dass Menschen frühere, in Form von Schemata gespeicherte Informationen nutzen, um Erwartungen über die Gegenwart und die Zukunft auszubilden. Mithilfe des induktiven Schließens kommen wir beispielsweise zu der Auffassung, dass ein bestimmter Geruch in der Luft darauf hindeutet, dass jemand Popcorn zubereitet. Mithilfe des induktiven Schließens teilen Sie die Ansicht, dass die Wörter auf dieser Seite wohl kaum plötzlich unsichtbar werden (und dass, sofern Sie studieren, Ihr Wissen über diesen Stoff am Prüfungstag ebenfalls nicht plötzlich verblassen wird). Schließlich haben wir zuvor in diesem Kapitel die Typen von Inferenzen besprochen, die Menschen bei der Verwendung von Sprache ziehen. Die Überzeugung, dass es sich in der Beispieläußerung bei dem Pronomen sie um Donna handeln muss, beruht auf einem induktiven Schluss. Unter den Bedingungen des täglichen Lebens beruht ein großer Teil unserer Problemlösefähigkeit auf induktivem Schließen. Kommen wir zu unserem Ausgangsbeispiel zurück: Sie haben sich aus Versehen aus Ihrer Wohnung, Ihrem Zimmer oder Ihrem Auto ausgesperrt. Was ist zu tun? Ein guter erster Schritt besteht darin, aus dem Gedächtnis Lösungen abzurufen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Diesen Prozess nennt man analoges Problemlösen: Man stellt eine Analogie zwischen den Merkmalen der aktuellen Situation und den Merkmalen vorangegangener Situationen her (Chen et al., 2004; Holyoak & Thagard, 1997). Im vorliegenden Fall haben die früheren Erfahrungen des Ausgesperrtseins vielleicht die Möglichkeit eröffnet, die allgemeine Regel „finde andere Personen, die einen Schlüssel haben“ abzurufen (Ross & Kennedy, 1990). Mit dieser allgemeinen Problemlöseroutine kann man sich daran machen herauszufinden, um welche Personen es sich handeln könnte und wie man sie findet. Diese Aufgabe lässt Sie dann vielleicht die Methoden in Anwendung bringen, mit denen Sie Ihre Mitbewohnerin früher schon einmal ausfindig gemacht haben, als sie in irgendeinem Seminar saß. Wenn Ihnen dieses Problem einfach erscheint, dann deshalb, weil Sie sich daran gewöhnt haben, aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen: Induktives Schließen macht es möglich, auf erprobte und bewährte Methoden zuzugreifen, welche die aktuelle Problemlösung beschleunigen. Einen Vorbehalt müssen wir dem induktiven Schließen noch hinzufügen. Oft kann ein Lösungsweg, der in der Vergangenheit funktioniert hat, für eine erfolgreiche
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Problemlösung wiederverwendet werden. Manchmal muss man jedoch erkennen, dass das Vertrauen auf die Vergangenheit die Problemlösefähigkeit behindern kann, wenn zwischen der alten und der jetzigen Situation ein entscheidender Unterschied besteht. Die Umfüllaufgabe aus Abbildung 8.14 bietet ein klassisches Beispiel für Bedingungen, unter denen das Vertrauen in die Vergangenheit dazu führen kann, dass die Lösung eines Problems nicht gelingt (Luchins, 1942). Wenn man bei den ersten beiden Aufgabenstellungen in Teil F die allgemeine Regel B–A–2 • C gefunden hat, die zur Lösung führt, dann hat man wahrscheinlich dieselbe Formel auch bei der dritten Aufgabe ausprobiert und kam zu dem Schluss, dass sie auch dort funktioniert. Tatsächlich hätte sich die geforderte Menge aber einfach dadurch herstellen lassen, dass man Gefäß A füllt und daraus das Fassungsvermögen von Gefäß C abgießt (A–C). Wenn man die ursprüngliche Formel benutzt, bemerkt man die einfachere Möglichkeit wahrscheinlich gar nicht – der frühere Erfolg mit der anderen Regel erzeugt eine mentale Voreinstellung. Eine mentale Voreinstellung ist ein schon bestehender Zustand des Geistes, der Gewohnheit oder der Werthaltung, der unter bestimmten Bedingungen die Qualität und Geschwindigkeit der Wahrnehmung und des Problemlösens erhöhen kann. Dieselbe Voreinstellung kann die Qualität der Geistestätigkeit jedoch auch hemmen oder trüben, und zwar immer dann, wenn die alten Wege des Denkens und Handelns in neuen Situationen nicht mehr produktiv sind. Wenn Sie in einer Problemlösesituation frustriert sind, sollten Sie einen Schritt zurückgehen und sich fragen: „Lasse ich meinen Problemlösefokus durch
Deduktives Schließen
frühere Erfolge zu sehr einengen?“ Versuchen Sie, Ihre Problemlösungen dadurch kreativer zu gestalten, dass Sie ein breiteres Spektrum früherer Situationen und früherer Lösungswege in Erwägung ziehen. Bevor wir diese Besprechung des Schließens beenden, wenden wir uns einmal mehr dem Gehirn zu. In diesem Abschnitt haben wir ziemlich strikt zwischen deduktivem und induktivem Schließen unterschieden. Die Forschung legt nahe, dass auch das Gehirn diese zwei Arten des Schlussfolgerns genau trennt.
AUS DER FORSCHUNG Teilnehmer an einem Versuch führten zwei Arten von Schlussfolgerungsaufgaben aus, während PET-Scans von ihren Gehirnen angefertigt wurden. Wie im linken Teil von Abbildung 8.18 zu sehen, erforderte eine der Aufgaben Deduktion. Die Teilnehmer betrachteten klassische Syllogismen und entschieden, ob die Schlussfolgerungen korrekt waren. Eine weitere Art von Aufgaben gab Prämissen vor, deren Schlussfolgerungen unsicher blieben, so dass die Probanden induktiv schließen mussten. Sie gaben an, ob die Argumente eher richtig als falsch seien. Wie der rechte Teil von Abbildung 8.18 zeigt, erzeugten die beiden Arten von Aufgaben unterschiedliche Aktivitätsmuster. Die Daten lassen sich leicht zusammenfassen: Deduktives Schließen aktivierte die rechte Hirnhälfte stärker, induktives eher die linke (Parsons & Osherson, 2001).
Um diesem Ergebnis einen Sinn zu geben, denken Sie zurück an Kapitel 3. Erinnern Sie sich, dass die linke Hirnhälfte eine große Rolle bei der Sprachverarbei-
Induktives Schließen
Er mag entweder Country Music oder Opern.
Wenn er entweder Buchhalter oder Bibliothekar ist, mag er Opern.
Er mag keine Country Music.
Er mag Opern.
Er mag Opern.
Er ist Buchhalter.
Ist die Schlussfolgerung korrekt?
Ist die Schlussfolgerung eher richtig als falsch?
Abbildung 8.18: Schlussfolgern im Gehirn. Wenn Studierende deduktiv schließen sollten, zeigte sich relativ größere Aktivität in Strukturen der rechten Hirnhälfte. (Diese Areale sind grün markiert.) Wenn sie induktiv schließen sollten, zeigte sich die verstärkte Aktivität in Bereichen der linken Hirnhälfte (hier gelb markiert).
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8.5 Urteilen und Entscheiden
tung spielt, die rechte aber nicht. Die Resultate dieser Studie über das Schlussfolgern legen nahe, dass deduktives Schließen eine Art der logischen Analyse ist, die von der Sprache relativ unabhängig ist. Induktives Schließen dagegen bedient sich der sprachbasierten Verständnis- und Inferenzprozesse, die wir zu Anfang des Kapitels beschrieben haben. In diesem Abschnitt haben wir eine ganze Reihe von Typen des Problemlösens und logischen Denkens untersucht – und haben in jedem Fall konkrete Schritte vorgeschlagen, mit denen Sie Ihre Leistungen in lebensweltlichen Situationen steigern und verbessern können. Diese Strategie verfolgen wir auch im abschließenden Abschnitt des Kapitels. Wir beschreiben einige der wichtigsten Forschungsbefunde zu den Prozessen des Urteilens und Entscheidens und geben dann Hinweise, wie Sie diese Befunde in wichtigen Situationen Ihres Lebens umsetzen können.
ZWISCHENBILANZ 1 Was wird beim Problemlösen als Algorithmus bezeich-
net? 2 Was bedeutet es, eine funktionale Fixierung zu über-
winden? 3 Was geschieht, wenn Menschen dem Effekt der glaub-
haftigkeitsbasierten Urteilsneigung (belief-bias effect) unterliegen? KRITISCHES DENKEN: Betrachten Sie das Experiment über die Grundlagen des Schlussfolgerns im Gehirn. Warum beurteilten die Probanden bei den induktiven Schlussfolgerungsaufgaben, ob die Schlussfolgerung wahrscheinlich richtig oder falsch und nicht absolut richtig oder falsch ist?
Urteilen und Entscheiden
8.5
Kehren wir ein letztes Mal zu „Die Katze sitzt auf der Matte“ zurück. Betrachten wir die Prozesse des Urteilens und Entscheidens. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Nachricht nur ein Scherz war? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie eine Bedeutung hat, die Ihnen entgangen ist? Sollten Sie einfach aufgeben und schlafen gehen? Diese Reihe von Fragen zeigt eine der tiefen Wahrheiten unserer Alltagsserfahrung: Wir leben in einer Welt voller Ungewissheit. Sollen wir acht Euro für einen Film ausgeben, von dem wir nicht wissen, ob er uns gefällt? Sollen wir vor der Prüfung unsere Exzerpte durchgehen oder lieber das Originalkapitel
noch mal lesen? Bin ich bereit, eine langjährige Beziehung einzugehen? Weil man die Zukunft nur erraten kann und über die Vergangenheit niemals das vollständige Wissen besitzt, kann man sich selten völlig sicher darüber sein, dass man ein richtiges Urteil oder eine richtige Entscheidung getroffen hat. Die Prozesse des Urteilens und Entscheidens müssen also so funktionieren, dass wir dabei effizient mit Unsicherheit umgehen können. Herbert Simon, einer der Gründerväter der Kognitionspsychologie, hat es so ausgedrückt: Weil das „menschliche Denkvermögen im Vergleich zu der Komplexität der Umwelt, in der menschliche Wesen leben, sehr bescheiden ist“, müssen sie damit zufrieden sein, „Problemlösungen und Handlungsverläufe zu finden, die ‚gut genug‘ sind“ (1979, S. 3). In diesem Licht gesehen nahm Simon an, dass Denkprozesse von begrenzter Rationalität geleitet sind. Unsere Urteile und Entscheidungen sind vielleicht nicht so gut – so „rational“ oder „vernünftig“ –, wie sie immer sein könnten, aber wir sollten auch nicht außer Acht lassen, dass und wie sie aus der Anwendung begrenzter Ressourcen auf Situationen, die schnelles Handeln erfordern, resultieren. Bevor wir uns einer genaueren Analyse der Produkte der begrenzten Rationalität zuwenden, wollen wir die beiden Prozesse des Urteilens und des Entscheidens noch schnell unterscheiden. Urteilen ist der Prozess, in dessen Verlauf wir Meinungen bilden, zu Schlussfolgerungen gelangen und Ereignisse und Menschen kritisch bewerten. Entscheiden ist der Prozess des Wählens zwischen Alternativen, der Auswahl und Zurückweisung vorhandener Möglichkeiten. Die Prozesse des Urteilens und Entscheidens sind miteinander verbunden. Beispielsweise lernen Sie auf einer Party jemanden kennen und beurteilen die Person – nach einem kurzen Gespräch und einem Tanz – als intelligent, interessant, ehrlich und aufrichtig. Daraufhin entscheiden Sie sich vielleicht, den größten Teil der Party mit dieser Person zu verbringen und sich fürs nächste Wochenende zu verabreden; Entscheidungsprozesse sind enger an konkrete Verhaltensweisen und Handlungen geknüpft. Kommen wir nun zu den Forschungen über diese beiden Typen des Denkens.
8.5.1 Heuristiken und Urteilsbildung Was ist der beste Weg, um zu einem Urteil zu gelangen? Nehmen wir zum Beispiel an, Sie werden gefragt, ob Ihnen ein Film gefallen hat. Um diese Frage zu beantworten, könnten Sie eine Tabelle mit zwei Spalten ausfüllen – „was fand ich gut“ und „was fand ich
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schlecht“ – und sehen, welche Spalte länger wird. Um dann doch etwas präziser zu sein, würden Sie die Einträge in den beiden Listen vielleicht noch hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit gewichten (die Leistung der Darsteller wäre auf der Plus-Seite vielleicht wichtiger als die laute Filmmusik auf der Minus-Seite). Wenn Sie dieses Verfahren vollständig durchführen, wären Sie sich am Ende über Ihr Urteil wahrscheinlich recht sicher – aber Sie wissen bereits, dass Sie eine solche Übung selten auf sich nehmen. Unter alltäglichen Bedingungen müssen Urteile häufig und schnell getroffen werden. Wir haben nicht die Zeit – und oft auch nicht genügend Information –, um ein solches formales Verfahren durchzuführen. Was tun wir stattdessen? Wegweisende Antworten auf diese Frage kamen von Amos Tversky und Daniel Kahneman (der 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt), die behaupteten, dass die Urteile von Menschen auf Heuristiken beruhen und nicht auf formalen Analysemethoden. Bei der Behandlung des Problemlösens haben wir bereits angeführt, dass Heuristiken informelle Faustregeln sind, die schnelle Lösungen liefern und die Komplexität der Urteilsfindung reduzieren. Wie kann man nachweisen, dass Menschen solche mentalen Faustregeln verwenden? Wie wir gleich sehen werden, haben sich die Forscher meistens dafür entschieden, die Randbedingungen aufzuzeigen, unter denen diese Abkürzungen im Denkprozess dazu führen, dass die Leute Fehler machen. Die Logik dieser Experimente sollte Ihnen mittlerweile bekannt vorkommen: So wie man die Wahrnehmung durch die Untersuchung von Wahrnehmungstäuschungen und das Gedächtnis durch die Untersuchung von Erinnerungsfehlern verstehen kann, kann man Urteilsprozesse durch die Untersuchung von Urteilsfehlern verstehen (Kahneman, 1991). Wie bei den anderen genannten Gebieten muss man auch hier sorgfältig sein und darf die Methode nicht schon für die Schlussfolgerung halten. Obwohl es eine große Palette von Situationen gibt, in denen Psychologen nachweisen können, wie sich unsere Wahrnehmungsprozesse täuschen lassen, laufen wir doch selten gegen die Wand. In ähnlicher Weise stoßen wir selten gegen die Wand der kognitiven Beschränkungen, auch wenn zuweilen Fehler auftreten, weil unser Urteilsprozess mithilfe von Heuristiken ausgeführt wird. Bedeutet das, dass wir mit diesen Fehlertypen völlig zufrieden sein können? Hier stößt die Analogie zur Wahrnehmung in gewissem Umfang an ihre Grenzen. Die meisten Wahrnehmungstäuschungen sind immun gegen Lernprozesse. Wir werden bei der MüllerLyer’schen Täuschung (siehe Kapitel 4) die Länge der
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beiden Strecken immer als verschieden wahrnehmen, ganz gleich, wie viel wir darüber gelernt haben. Im Gegensatz dazu kann uns das Wissen über Urteilsheuristiken in die Lage versetzen, einige Fehlertypen zu vermeiden. Auch wenn die allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten nicht vor diesen Fehlern schützen – selbst die begabtesten Beurteiler irren sich unter bestimmen Umständen –, kann spezielles Training helfen. Im Verlauf dieses Abschnitts werden wir auf die Mittel und Wege hinweisen, mit denen sich die Urteilsbildung verbessern lässt. Kommen wir nun zu den drei Heuristiken: der Verfügbarkeits-, der Repräsentativitäts- und der Ankerheuristik.
Verfügbarkeitsheuristik Zum Anfang bitten wir Sie um ein recht triviales Urteil. (Wir wissen, dass Ihre Antwort wahrscheinlich falsch sein wird, und wir wollen Sie nicht mit etwas Wichtigem in Verlegenheit bringen.) Angenommen, wir gäben Ihnen einen kurzen Ausschnitt aus einem Roman. Glauben Sie, dass darin mehr Wörter enthalten wären, die mit dem Buchstaben k anfangen (zum Beispiel Känguru) oder bei denen sich der Buchstabe k an dritter Stelle befindet (zum Beispiel Imker)? Wenn Sie sich wie die Teilnehmer einer Untersuchung von Tversky und Kahneman (1973) verhalten (und im Deutschen gelten hier ähnliche Verhältnisse wie im Englischen), dann kommen Sie wahrscheinlich zu dem Schluss, dass das k am Wortanfang häufiger auftritt. Tatsächlich erscheint das k an dritter Stelle aber weit häufiger. Warum glauben die meisten Menschen, das k erscheine mit größerer Wahrscheinlichkeit an erster Po-
Würden Sie sich, wenn Sie sich in fröhlicher Stimmung befinden, mit größerer Wahrscheinlichkeit an schöne Zeiten aus Ihrer Jugend erinnern?
8.5 Urteilen und Entscheiden
sition im Wort? Die Antwort hat mit der Verfügbarkeit von Information aus dem Gedächtnis zu tun. Es ist viel leichter, an Wörter zu denken, die mit k anfangen, als an Wörter, bei denen das k an dritter Stelle steht. Ein solches Urteil ergibt sich somit aus der Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik: Wir gründen unser Urteil auf Information, die im Gedächtnis leicht verfügbar ist. Diese Heuristik ist sinnvoll, weil in vielen Fällen das, was aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann, zu korrekten Urteilen führt. Wenn Sie zum Beispiel Kegeln im Vergleich zum Fallschirmspringen als den weniger gefährlichen Sport beurteilen, sind Sie mit der Verfügbarkeit bestens bedient. Probleme entstehen nur dann, wenn (1) die Gedächtnisprozesse zu einer verzerrten Informationsstichprobe führen oder (2) die im Gedächtnis gespeicherte Information nicht akkurat ist. Schauen wir uns für diese beiden potenziellen Probleme je ein Beispiel an. Die k-Frage ist ein gutes Beispiel für Umstände, unter denen unsere Gedächtnisprozesse ein auf Verfügbarkeit beruhendes Urteil ungenau beziehungsweise unzutreffend werden lassen. Angesichts der Art und Weise, wie Wörter im Gedächtnis organisiert sind, ist es leichter, Wörter aufzufinden, die mit einem bestimmten Buchstaben beginnen. Betrachten wir einen weiteren Fall, der den Urteilen unseres täglichen Lebens näher kommt. Angenommen, wir bäten Sie, in Ihre Zukunft zu schauen: Sagen Sie für sich selbst mehr glückliche oder mehr unglückliche Ereignisse voraus? Es wird sich herausstellen, dass Ihre Antwort auf diese Frage teilweise von Ihrer gegenwärtigen Stimmung abhängt. Nehmen wir eine Studie, in der die Teilnehmer an vergangene glückliche und unglückliche Ereignisse denken sollten – etwa eine willkommene Einladung oder eine schmerzhafte Verletzung – und einschätzen sollten, wie wahrscheinlich es sei, dass ihnen Ereignisse dieser Art in den nächsten sechs Monaten erneut zustoßen würden (Macleod & Campbell, 1992). Die Stimmung der Teilnehmer war ein starker Prädiktor für ihre Fähigkeit, sich an frühere Ereignisse zu erinnern – und die Verfügbarkeit von stimmungskongruenten Erinnerungen sagte die Urteile über die Zukunft vorher. Teilnehmern in fröhlicher Stimmung fiel es also leichter, sich an fröhliche Begebenheiten zu erinnern. Doch die Verfügbarkeit dieser positiven Ereignisse brachte die Teilnehmer auch zu der Einschätzung, dass zukünftig mehr fröhliche Ereignisse und weniger traurige Ereignisse eintreten würden. Dieses Experiment weist nach, wie leicht Urteile von dem Informationstyp beeinflusst werden können, der – aus welchen Gründen auch immer – leicht im Gedächtnis verfügbar ist. Die Im-
plikationen für das tägliche Leben liegen auf der Hand. Wenn wir wichtige Beurteilungen unserer Zukunft vornehmen, wird das Ergebnis in die Richtung gehen, in die sich unsere Stimmung auf die verfügbare Information auswirkt. Allgemeiner gesprochen: Wenn eine wichtige Einschätzung ansteht, kann man sich fragen: „Befindet sich mein Verstand in irgendeiner speziellen Verfassung, die sich verzerrend auf die Information auswirken könnte, die mein Gedächtnis liefert?“ Eine zweite Schwierigkeit bei der Verfügbarkeit als Urteilsheuristik entsteht, wenn die im Gedächtnis gespeicherte Information nicht ausgewogen ist. Betrachten wir die Schätzungen über die Bevölkerungszahlen verschiedener Staaten (Brown & Siegler, 1992). Versuchen Sie, diese vier Länder nach ihrer Einwohnerzahl zu ordnen, beginnend bei der geringsten Bevölkerungszahl: a. Schweden b. Indonesien c. Israel d. Nigeria Die Forscher zeigten, dass die Teilnehmer im Allgemeinen eine umso größere Bevölkerung schätzten, je mehr sie über das Land wussten. Darüber hinaus gab es eine beträchtliche Korrelation zwischen dem von den Teilnehmern eingeschätzten Wissen über ein Land und der Anzahl seiner Erwähnungen in der New York Times im Verlauf des jeweiligen Jahres. (Die richtige Antwort lautet übrigens Israel, Schweden, Nigeria, Indonesien. Hat Sie die Verfügbarkeit fehlgeleitet?) Es beunruhigt Sie vielleicht nicht besonders, dass Ihre Bevölkerungsschätzungen von einer fehlerhaften Datengrundlage beeinflusst werden. Daher hier ein zweites Beispiel, das Ihnen vielleicht wichtiger erscheint: Viele Studierende zeigen eine Voreingenommenheit in der Art, in der sie Informationen im Gedächtnis speichern, was eine negative Auswirkung auf Prüfungsergebnisse hat. Angenommen, Sie nehmen an einem Multiple-Choice-Test teil. Sie beantworten eine Frage, überlegen es sich aber noch einmal anders und ändern Ihre Antwort. Ist es wahrscheinlicher, dass Sie von der richtigen zu einer falschen oder von einer falschen zur richtigen Antwort wechseln? Wenn Sie es der Mehrheit der Studierenden gleich tun, glauben Sie wahrscheinlich, dass Sie bei der ersten Antwort bleiben sollten – es macht Sie wahrscheinlich nervös, die Antwort zu ändern. Sollte es das aber?
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AUS DER FORSCHUNG Forscher untersuchten die Multiple-Choice-Examensbögen einer Gruppe von 1.561 Studierenden, um die Folgen von Antwortänderungen zu bestimmen (Kruger et al., 2005). Von den 3.291 Antworten, die von diesen Studierenden geändert wurden, ersetzten 23 Prozent eine falsche Antwort durch eine andere falsche. Von den verbleibenden Änderungen führten 51 Prozent von einer falschen zur richtigen Antwort; 25 Prozent veränderten die richtige in eine falsche Antwort. Dieses Muster legt nahe, dass Sie nicht zögern sollten, eine Antwort nachträglich zu ändern. Als allerdings ein Teil der Gruppe gefragt wurde, ob es klug sei, das zu tun, gaben 75 Prozent an, dass man lieber bei der ursprünglichen Antwort bleiben solle. Die Forscher argumentierten, dass das Vorurteil der Studierenden gegen veränderte Antworten aus einer Gedächtnisverzerrung, einer tendenziell verfälschten Erinnerung, stammt: Sie mutmaßten, dass die Studierenden sich an mehr Fälle erinnerten, in denen eine Änderung zu einem negativen Ergebnis führte, als an solche, in denen sie sich mit der Änderung verbesserten. Wie oft haben Sie selbst schon innerlich geklagt: „Den hatte ich richtig gehabt!“? Und wie oft „Den hatte ich falsch!“? Um die Hypothese zu überprüfen, dass Studierende ein negatives Ergebnis eher im Gedächtnis speichern, führten die Forscher ein weiteres Experiment durch. In diesem Fall gaben sie den Studierenden kurz nach dem Ausfüllen des Examensfragebogens Feedback über die richtigen und falschen Antworten. Nach 4 bis 6 Wochen sollten sich die Probanden dann an die Fälle erinnern, in denen sie daran gedacht hatten, ihre Antworten zu ändern, wie sie sich entschieden hatten, und welche Folgen das gehabt hatte. Eine Studentin berichtete zum Beispiel, dass sie bei drei Fragen überlegt habe und immer bei der ersten Antwort geblieben sei. Die Erinnerungsdaten zeigten eine durchgängige Verzerrung: Die Teilnehmer überschätzten, wie oft sie eine Antwort zu einem falschen Ergebnis hin geändert hatten, und unterschätzten, wie oft sie eine Antwort zum richtigen Ergebnis hin geändert hatten.
Versetzen Sie sich in einen Seminarraum, in dem Sie gerade an einer Klausur teilnehmen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt überlegen Sie, ob Sie eine Antwort verändern wollen. Laut der genannten Daten treffen Sie die Entscheidung auf der Grundlage voreingenommener Betrachtung: Sie erinnern sich an mehr negative als an positive Ergebnisse einer solchen Änderung. Das heißt aber nicht, dass Sie jedes Mal die Antwort ändern sollen, wenn Sie zweifeln. Ihnen sollte jetzt allerdings deutlich geworden sein, warum es bei Ihnen Unbehagen auslöst, wenn Sie über eine Änderung nachdenken.
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Repräsentativitätsheuristik Wenn wir unsere Urteile auf der Basis der Repräsentativitätsheuristik vornehmen, dann nehmen wir an, dass etwas tatsächlich zu einer Kategorie gehört, (nur) weil es die Eigenschaften besitzt, die für die Mitglieder einer Kategorie als typisch gelten. Diese Heuristik wird Ihnen bekannt vorkommen, weil sie die Vorstellung einschließt, dass Menschen frühere Information heranziehen, um Urteile über ähnliche Sachverhalte in der Gegenwart zu treffen. Das ist der Kern des induktiven Schließens. In den meisten Bedingungen – sofern unsere Vorstellungen über das gemeinsame Auftreten von Eigenschaften und Kategorien zutreffen – wird diese Orientierung an der Ähnlichkeit zu recht vernünftigen Urteilen führen. Wenn Sie sich also überlegen, ob Sie mit einem neuen Hobby wie Fallschirmspringen anfangen sollen, ist es sinnvoll festzustellen, wie repräsentativ dieser Sport für die Klasse von Aktivitäten ist, die Ihnen bislang Spaß gemacht haben. Die Repräsentativität wird Sie jedoch irreleiten, wenn sie dazu führt, dass andere Typen relevanter Information nicht beachtet werden, wie wir gleich sehen werden (Kahneman & Frederick, 2002; Kahneman & Tversky, 1973). Betrachten wir zum Beispiel die Beschreibung eines erfolgreichen Rechtsanwalts in Abbildung 8.19.
AUS DER FORSCHUNG In einem Experiment legten die Forscher ihren Teilnehmern eine Liste mit mehreren Möglichkeiten vor, darunter auch die in Abbildung 8.19 genannten, und gaben ihnen die Möglichkeit, 45 Dollar – echtes Geld – zu gewinnen, wenn sie die richtige (= die wahrscheinlichste) Alternative an Nummer eins setzen. Welche Alternative erscheint Ihnen korrekt? Wenn Sie sich wie die Mehrzahl der ursprünglichen Teilnehmer verhalten, werden Sie das Geld verlieren, weil Sie Tennis sagen und nicht ein Ballspiel. Der untere Teil von Abbildung 8.19 zeigt, warum Tennis niemals eine gute Wette sein kann: Es ist in der Kategorie ein Ballspiel enthalten. Die Teilnehmer halten Tennis für die bessere Antwort, weil es all die Eigenschaften eines Sports zu besitzen scheint, den der Anwalt wahrscheinlich betreibt. Dieses Urteil auf der Basis von Repräsentativität bringt die Teilnehmer jedoch dazu, andere Arten der Information außer Acht zu lassen – die Kategorienstruktur. In diesem Fall beträgt der messbare Schaden 45 Dollar (Bar-Hillel & Neter, 1993).
Die Nutzanwendung für das tägliche Leben besteht darin, dass man sich nicht hereinlegen lassen sollte, nach einer repräsentativen Alternative zu greifen, be-
8.5 Urteilen und Entscheiden
Abbildung 8.19: Die Anwendung der Repräsentativitätsheuristik. Auf die Frage, den Lieblingssport des Rechtsanwalts zu wählen, führt die Repräsentativitätsheuristik die meisten Menschen zur Wahl von „Tennis“. Der grafische Teil der Abbildung zeigt jedoch, dass die wahrscheinlichere Antwort „ein Ballspiel“ lautet, weil das „Tennis“ mit einschließt.
vor man die Struktur aller Alternativen betrachtet und berücksichtigt hat. Wenden wir uns einem zweiten Repräsentativitätsbeispiel zu, das sich ebenfalls auf das Wettverhalten auswirken könnte. Angenommen, Sie erhalten die Gelegenheit, Lotto zu spielen. Sie gewinnen bekanntermaßen, wenn Sie mindestens drei, am besten alle sechs der Zahlen angekreuzt haben, die unter notarieller Aufsicht aus 49 Zahlen gezogen werden. Mit welcher Zahlenreihe würden Sie sich wohler fühlen? 12, 19, 23, 34, 37, 44 1, 2, 3, 4, 5, 6 Die Frage, die tatsächlich dahinter steckt, ist folgende: Welche dieser Zahlenreihen erscheint Ihnen repräsentativer für die Zahlen, die beim Lotto normalerweise gewinnen? Wenn Sie sich wie die meisten Mitspieler verhalten, dann vermeiden Sie mehrere aufeinander folgende Zahlen hintereinander – weil diese Folgen für eine Zufallsziehung nicht repräsentativ erscheinen. Tatsächlich besteht für jede beliebige Auswahl von sechs Zahlen jedoch exakt dieselbe Wahrscheinlichkeit, gezogen zu werden. In einer amerikanischen Untersuchung vermieden die Teilnehmer an einer Staatslotterie, bei der man dreistellige Zahlen tippen musste, Zahlen, in denen dieselbe Ziffer mehr als einmal vorkommt – auch hier wieder, weil das für eine Zufallssequenz nicht repräsen-
tativ erscheint. Obwohl das per Zufall in 27 Prozent der Fälle vorkommt, entschieden sich nur 12,6 Prozent der Lotterieteilnehmer in einem Beobachtungszeitraum von 15 Tagen für eine Zahl mit Ziffernwiederholung (Holtgraves & Skeel, 1992). Grundsätzlich sollte man sehr darauf achten, wie die meisten Geldspielsituationen konstruiert sind. Sehr oft lebt das Ganze von der Hoffnung, dass Sie sich von der Repräsentativität leiten lassen, statt die Gewinnchancen sorgfältig zu berücksichtigen – und die Alternativen wählen, die so aussehen, als ob sie mit größerer Wahrscheinlichkeit gewinnen. Lichtet den Anker! Um Ihnen eine dritte Heuristik vorzustellen, müssen wir Sie um ein Gedankenexperiment bitten. Nehmen Sie sich fünf Sekunden, um das Produkt der folgenden Multiplikation zu schätzen, und schreiben Sie Ihr Ergebnis auf: 1 x 2 x 3 x 4 x 5 x 6 x 7 x 8 = _________ Innerhalb von fünf Sekunden können Sie wahrscheinlich nur ein paar Berechnungen durchführen. Sie gelangen zu einer Zwischenlösung, vielleicht 24, und schätzen den Rest von dort aus ab. Versuchen Sie es jetzt mit dieser Zahlenreihe: 8 x 7 x 6 x 5 x 4 x 3 x 2 x 1 = _________
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Selbst wenn Sie bemerken, dass es sich um dieselbe Liste in umgekehrter Reihenfolge handelt, können Sie erkennen, dass sich die Erfahrung, die Multiplikation durchzuführen, jetzt ganz anders anfühlt. Sie beginnen mit 8 x 7, was 56 ist, und versuchen sich dann an 56 x 6, was bereits nach einer eher großen Zahl aussieht. Auch jetzt reicht die Zeit wieder nur zu einer Teillösung, und der Rest muss geschätzt werden. Als Tversky und Kahneman (1974) ihren Experimentteilnehmern diese beiden Anordnungen derselben Aufgabe vorlegten, führte die Aufwärtsreihe von eins bis acht zu mittleren Schätzungen von 512, während die Gruppe von acht bis eins Schätzungen von 2.250 produzierte (die richtige Lösung lautet 40.320). Anscheinend führten die höheren Zwischenlösungen zu höheren Schätzungen, wenn die Teilnehmer das Gesamtprodukt von ihren Fünf-Sekunden-Schätzungen ausgehend überschlugen. Die Leistungen bei dieser einfachen Multiplikationsaufgabe deuten auf einen Ankereffekt hin. Wenn man den wahrscheinlichen Wert eines Ereignisses oder eines Ergebnisses abschätzt, führt eine Orientierung an der Ankerheuristik von einem Ausgangswert aus zu einer ungenügenden Anpassung – entweder nach oben oder nach unten. Mit anderen Worten: Das Schätzurteil ist zu stark an der ursprünglichen Schätzung „verankert“: Menschen neigen sehr dazu, sich von einem Anker beeinflussen zu lassen, selbst wenn die Information eindeutig geringen oder überhaupt keinen Wert besitzt. In einer Untersuchung erhielten die Studierenden in den Experimentalgruppen eine willkürliche Identifikationsnummer (in der Größenordnung zwischen 1.928 und 1.935), die sie auf ihre Fragebögen übertragen sollten. Als Nächstes schätzten die Studierenden, wie viele praktizierende Ärzte im örtlichen Branchentelefonbuch aufgeführt waren. Die Studierenden in der Kontrollgruppe – die keine Identifikationsnummer als Anker erhalten hatten – schätzten durchschnittlich 219 Ärzte. Studierende mit dem ID-Anker gaben dagegen durchschnittlich 539 Ärzte an – obwohl sie ausdrücklich davor gewarnt worden waren, dass die Identifikationsnummer ihre Schätzungen beeinflussen könnte (Wilson et al., 1996). Sie sehen, wie schwierig es ist, den Einfluss eines Ankers auszuschalten. Warum korrigieren Menschen den Einfluss eines Ankers so ungenügend? Forscher haben begonnen, dieser Frage im täglichen Leben nachzugehen – wo Menschen ihre eigenen Anker erzeugen, bevor sie den Anpassungsprozess beginnen. Denken Sie etwa an folgende Frage: Wie lange braucht der Mars für einen Umlauf um die Sonne? Wie könnten Sie diese Frage
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beantworten? Die Forschung vermutet, dass Sie mit der Dauer des Erdumlaufs von 365 Tagen als Anker anfangen. Was kommt dann? Sie könnten mithilfe Ihres Wissens, dass der Mars weiter als die Erde von der Sonne entfernt ist, den Ankerwert vergrößern. Tatsächlich schätzten die Teilnehmer eines Versuchs das Marsjahr auf etwa 492 Tage (Epley & Gilovich, 2006). Dieser Wert ist immer noch kleiner als der tatsächliche, der 687 Tage beträgt. Was die Probanden anscheinend taten, war, mit einem wahrscheinlichen Anker zu beginnen und diesen Wert anzupassen, bis er plausibel klang. Wenn Sie sich selbst dabei ertappen, wie Sie von einem Anker ausgehend Schätzungen anstellen, nutzen Sie diese Erkenntnis: Sie sollten sich die Mühe machen, zu erhärten, dass der plausible Wert tatsächlich die richtige Antwort ist. Wir setzen Urteilsheuristiken wie die Verfügbarkeit, die Repräsentativität und die Verankerung deshalb ein, weil sie in den meisten Situationen effiziente und akzeptable Urteile erlauben. In gewisser Weise machen wir es angesichts der Unbestimmtheit von Situationen und der Beschränkungen unserer Verarbeitungsressourcen so gut, wie wir es eben können. Wir haben jedoch auch gezeigt, dass Heuristiken zu Fehlern führen können. Sie sollten versuchen, Ihre eigenen Denkprozesse mithilfe dieses Wissens zu überprüfen, wenn wichtige Urteile und Einschätzungen anstehen. Sie sollten besonders kritisch sein, wenn Sie den Eindruck haben, dass andere versuchen könnten, Ihre Urteile einseitig zu beeinflussen. Kommen wir nun zu den Entscheidungen, die wir – oft auf der Grundlage von solchen Einschätzungen – treffen.
8.5.2 Die Psychologie der Entscheidungsfindung Beginnen wir mit einem durchschlagenden Beispiel dafür, wie psychologische Faktoren die Entscheidungen von Menschen beeinflussen. Betrachten Sie das in Teil 1 von Tabelle 8.7 formulierte Problem. Lesen Sie die Anweisungen und treffen Sie dann Ihre Wahl zwischen Ort A und Ort B. Lesen Sie dann die in Teil 2 gegebene Version des Problems. Würden Sie Ihre Wahl jetzt ändern wollen? In einem Experiment lasen Studierende eine Version dieses Problems (Shafir, 1993). Wurden Sie bei Teil 1 gefragt, welche Alternative Sie bevorzugen würden, votierten 67 Prozent für den Urlaubsort B. Fragte man die Studierenden in Teil 2 jedoch, welche Option sie stornieren würden, sank die Präferenz für Ort B auf 52 Prozent (das heißt, 48 Prozent sagten, dass sie Ort B
8.5 Urteilen und Entscheiden
stornieren würden). Warum ist diese Veränderung merkwürdig? Wenn man die beiden Versionen des Entscheidungsproblems genauer betrachtet, erkennt man, dass die verfügbaren Informationen in beiden Fällen genau dieselben sind. Auf Anhieb könnte man erwarten, dass dieselbe Information zu derselben Entscheidung führt. Aber so verhalten sich die Leute nicht. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die auf eine Präferenzentscheidung gerichtete Problemformulierung die Aufmerksamkeit auf positive Eigenschaften der Alternativen richtet – man sammelt Belege zu Gunsten von etwas –, während die Stornierungsbedingung die Aufmerksamkeit auf negative Eigenschaften der Alternativen richtet – man sammelt Belege gegen etwas. Dadurch kann sich die Entscheidung ändern. Dieses einfache Beispiel demonstriert, dass die Art der Formulierung einer Frage starke Konsequenzen für die Entscheidung haben kann, die am Ende getroffen wird (Slovic, 1995). Darum sollte man die psychologischen Aspekte der Entscheidungsfindung verstehen: Man muss in der Lage sein, die eigenen
Entscheidungen zu prüfen, um zu erkennen, ob sie bei sorgfältiger Prüfung immer noch Bestand haben. In diesem Fall könnte man sich selbst fragen: „Wie würde sich meine Wahl ändern, wenn ich mich gegen statt für eine Alternative entscheiden müsste?“ Wenn Sie dabei zu dem Schluss kommen, dass Ihre Top-Präferenz gleichzeitig Ihr Top-Ablehnungskandidat ist, dann haben Sie gemerkt, dass die Alternative sowohl viele positive als auch viele negative Merkmale besitzt. Fragen Sie dann: „Ist das akzeptabel?“ Das ist ein entscheidender Schritt bei der Entwicklung Ihrer kritischen Denkfähigkeit.
Die Rahmung von Entscheidungen Einer der natürlichsten Wege, eine Entscheidung zu treffen, besteht darin abzuschätzen, welche Alternative den größten Gewinn beziehungsweise den geringsten Verlust mit sich bringen wird. Wenn man Ihnen also fünf Euro oder zehn Euro anbietet, werden Sie wenig Unsicherheit empfinden, dass zehn Euro die
Tabelle 8.7
Der Effekt psychologischer Faktoren auf die Entscheidungsfindung
Teil 1: Präferenzversion
Teil 2: Stornierungsversion
1. Stellen Sie sich vor, Sie planen für die Pfingstferien eine Woche Urlaub an einem warmen Ort. Sie besitzen derzeit zwei Alternativen zu vernünftigem Preis. Der Reiseprospekt liefert nur eine begrenzte Menge an Informationen über die beiden Möglichkeiten. Welchen Urlaubsort würden Sie – unter Berücksichtigung der vorhandenen Informationen – bevorzugen?
2. Stellen Sie sich vor, Sie planen für die Pfingstferien eine Woche Urlaub an einem warmen Ort. Sie besitzen derzeit zwei Alternativen zu vernünftigem Preis, aber Sie können die Reservierung für beide nicht mehr länger aufrechterhalten. Der Reiseprospekt liefert nur eine begrenzte Menge an Informationen über die beiden Möglichkeiten. Welche Reservierung würden Sie – unter Berücksichtigung der vorhandenen Informationen – stornieren?
Ort A: • durchschnittliches Wetter • durchschnittliche Strände • Mittelklassehotel • mittlere Wassertemperatur • durchschnittliches Nachtleben
Ort A: • durchschnittliches Wetter • durchschnittliche Strände • Mittelklassehotel • mittlere Wassertemperatur • durchschnittliches Nachtleben
Ort B: • viel Sonne • fantastische Strände und Korallenriffs • ultramodernes Hotel • sehr niedrige Wassertemperatur • sehr starke Winde • kein Nachtleben
Ort B: • viel Sonne • fantastische Strände und Korallenriffs • ultramodernes Hotel • sehr niedrige Wassertemperatur • sehr starke Winde • kein Nachtleben
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bessere Alternative ist. Die Situation wird jedoch dadurch etwas kompliziert, dass die Wahrnehmung von Gewinn oder Verlust oft davon abhängt, wie eine Entscheidung gerahmt ist. Eine Rahmung ist eine besondere Beschreibung einer Wahlsituation. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie sollten angeben, wie froh Sie über eine Erhöhung Ihres Jahresgehalts um 1.000 Euro wären. Wenn Sie gerade keine Erhöhung erwartet hätten, würde dies als ein großer Gewinn erscheinen, über den Sie recht froh wären. Aber angenommen, Ihnen wären mehrere Male 10.000 Euro in Aussicht gestellt worden. Wie fühlen Sie sich dann? Nun könnten Sie sich plötzlich so fühlen, als ob Sie Geld verloren hätten, weil 1.000 Euro weniger sind, als Sie erwartet hatten. Sie sind alles andere als froh! In jedem Fall würden Sie jährlich 1.000 Euro mehr bekommen; objektiv gesehen wären Sie in exakt derselben Lage. Die psychologische Wirkung ist jedoch sehr unterschiedlich. Deshalb sind Bezugspunkte (Kahneman, 1992) bei der Entscheidungsfindung so wichtig. Was als Gewinn oder Verlust erscheint, wird zum Teil durch die Erwartungen bestimmt, auf die sich eine Person bezieht – in unserem Beispiel beträgt diese Erwartung einmal null Euro, das andere Mal 10.000 Euro. (Die
Entscheidung könnte in diesem Fall dann darin bestehen, ob man bleibt oder kündigt.) Richten wir den Blick nun auf ein etwas komplexeres Beispiel, bei dem die Rahmung eine größere Auswirkung auf die Entscheidungen hat, die Menschen treffen. In Tabelle 8.8 sollen Sie sich vorstellen, eine Entscheidung zwischen Operation und Bestrahlung bei der Behandlung von Lungenkrebs zu treffen. Lesen Sie zuerst die Überlebens-Rahmung des Problems und wählen Sie die bevorzugte Behandlungsmethode; lesen Sie dann die Sterblichkeits-Rahmung und achten Sie darauf, ob Sie Ihre Präferenz daraufhin ändern wollen. Beachten Sie, dass die Daten in den beiden Rahmungen objektiv dieselben sind. Der einzige Unterschied besteht darin, ob die statistische Information über die Folgen der jeweiligen Behandlung in Form von Überlebensraten oder Sterberaten dargeboten wird. Als die Entscheidung Experimentteilnehmern vorgegeben wurde, hatte die Konzentration auf die relativen Gewinne oder Verluste einen deutlichen Einfluss auf die Wahl der Behandlungsmethode. Die Bestrahlungstherapie wurde bei Vorgabe der Überlebensrahmung nur von 18 Prozent der Teilnehmer gewählt, unter der Sterblichkeitsrahmung jedoch von 44 Prozent. Dieser Rahmungseffekt trat gleichermaßen
Tabelle 8.8
Der Rahmungseffekt Überlebens-Rahmung
Operation: Von 100 operierten Patienten überleben 90 das postoperative Stadium, 68 sind am Ende des ersten Jahres noch am Leben, fünf Jahre nach der Operation leben noch 34 Patienten. Bestrahlungstherapie: Von 100 Patienten, die bestrahlt wurden, überleben alle die Behandlung, 77 sind am Ende des ersten Jahres noch am Leben, fünf Jahre nach der Bestrahlung leben noch 22 Patienten. Wofür entscheiden Sie sich: Operation oder Bestrahlung? Sterblichkeits-Rahmung
Operation: Von 100 operierten Patienten sterben 10 während der Operation oder im postoperativen Stadium, 32 sterben bis zum Ende des ersten Jahres, und fünf Jahre nach der Operation sind 66 Patienten verstorben. Bestrahlung: Von 100 Patienten, die bestrahlt wurden, stirbt keiner während der Behandlung, 23 sterben bis zum Ende des ersten Jahres, und fünf Jahre nach der Bestrahlung sind 78 Patienten verstorben. Wofür entscheiden Sie sich: Operation oder Bestrahlung?
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8.5 Urteilen und Entscheiden
bei klinischen Patienten, bei statistisch erfahrenen wirtschaftswissenschaftlichen Studierenden und bei erfahrenen Medizinern ein (McNeil et al., 1982). Dieses Beispiel ist unter anderem deshalb wichtig, weil es die Ungewissheit aufweist, die auch im wirklichen Leben häufig besteht.
AUS DER FORSCHUNG Angenommen, Sie befinden sich seit sechs Monaten in einer Beziehung. Wie entscheiden Sie, ob diese Beziehung eine erfolgreiche Zukunft hat? Die Forschung hat gezeigt, dass Rahmung einen wichtigen Einfluss darauf hat, wie optimistisch Studierende ihre Beziehungen einschätzen (Knee & Boon, 2001). Zu Beginn der Studie wurden die Teilnehmer informiert, dass die meisten Studierenden im Grundstudium an ihren Partnerinnen beziehungsweise Partnern Ehrlichkeit, Humor und Intelligenz schätzen. Die Teilnehmer sollten sich dann einen imaginären Partner vorstellen, der einen Teil dieser Charakterzüge verkörperte. In der Gewinn-Version der Beschreibung sagte man den Studierenden, ihr Partner habe zwei der drei Charakterzüge (etwa Ehrlichkeit und Humor). In der Verlust-Version hieß es, dem Partner fehle eine der drei Eigenschaften (etwa Intelligenz). Wie Sie sehen, laufen beide Beschreibungen auf dasselbe hinaus (in diesem Fall ist er oder sie ehrlich und humorvoll, aber nicht intelligent). Trotzdem waren die Studierenden bei ihrer Bewertung der Zukunft der Beziehung bei der Verlust-Beschreibung durchgängig weniger optimistisch als bei der Gewinn-Beschreibung.
Sie sehen, wie eine kleine Änderung in der Rahmung einen großen Effekt darauf haben kann, wie Sie Ihre Zukunft einschätzen. Dieses Ergebnis sollte Sie ermutigen zu versuchen, wichtige Entscheidungen sowohl in einer Gewinn- als auch in einer Verlust-Rahmung zu durchdenken. Nehmen wir beispielsweise an, Sie wollen sich ein neues Auto kaufen. Der Verkäufer wird dazu neigen, alles als Gewinn zu rahmen: „78 Prozent dieses Modells hatten im ersten Jahr keine einzige Panne!“ Sie können den Rahmen umändern zu „22 Prozent bleiben im ersten Jahr irgendwann mal liegen“. Wird der neue Rahmen Ihr Gefühl in einer solchen Situation verändern? Es wäre einen Versuch wert, das im wirklichen Leben auszuprobieren. Der Autoverkäufer ist ein gutes Beispiel für eine Situation, in der jemand versucht, Information so zu rahmen, dass sie den gewünschten Effekt auf Ihre Entscheidung hat. Das gehört natürlich regelmäßig zum Leben dazu. Wenn beispielsweise Wahlen anstehen, dann wetteifern die beiden Kandidaten um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Rahmungen von sich selbst und von den relevanten Themen bei den Wählern. Der
eine Kandidat sagt dann: „Ich glaube daran, an der Politik festzuhalten, die sich als erfolgreich erwiesen hat.“ Sein Gegenspieler kann kontern: „Er fürchtet sich vor neuen Ideen.“ Der eine Kandidat sagt vielleicht: „Diese Politik wird uns ins wirtschaftliche Wachstum führen.“ Der andere entgegnet: „Diese Politik trägt nur zur Umweltzerstörung bei.“ Oft treffen beide Behauptungen zu – dieselbe Politik bringt oft die Wirtschaft voran und schadet der Umwelt. So gesehen ist es weitestgehend eine Frage der persönlichen Geschichte, welcher Rahmen einem zwingender erscheint (Tversky & Kahneman, 1981; Vaughan & Seifert, 1992). Das Wissen über Rahmungseffekte kann also zum Verständnis beitragen, warum Menschen so radikal unterschiedliche Entscheidungen treffen können, wiewohl sie doch mit genau denselben Aussagen und Anhaltspunkten konfrontiert sind. Wenn man das Handeln anderer Menschen verstehen will, sollte man versuchen herauszufinden, wie diese Menschen ihre Entscheidungen gerahmt haben.
Konsequenzen der Entscheidungsfindung Was passiert, wenn Sie eine Entscheidung treffen? Im Idealfall geht alles gut – und Sie schauen nie zurück. Wie Sie aber wahrscheinlich wissen, ist nicht jede Entscheidung die richtige. Wenn Entscheidungen sich als schlecht herausstellen, werden Sie wahrscheinlich Bedauern empfinden. Studien legen nahe, dass die Kategorien, in denen Menschen das größte Bedauern ausdrücken, Entscheidungen in Bezug auf Schulbildung und Karriere sind (Roese & Summerville, 2005). Um dieses Ergebnis zu erklären, weisen die Forscher darauf hin, dass diese zwei Bereiche eine besonders große Auswahl an Möglichkeiten bieten: Es gibt viele
Wie können Verkäufer ihre Produkte so rahmen, dass sie interessierte Kunden dazu bekommen, sie in einem positiven Licht zu sehen?
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Arten von Schulbildung und zahlreiche Berufslaufbahnen, die man anstreben könnte. Diese große Auswahl lässt einen leicht fragen, ob man sich richtig entschieden hat. Menschen empfinden außerdem verstärkt Bedauern, wenn sie sich über die mit einer Entscheidung verbundenen Kosten klar sind (van Dijk & Zeelenberg, 2005). Nehmen wir an, in einer Spielshow soll sich ein Kandidat zwischen Box A und Box B entscheiden. Wenn der Kandidat die Box mit 10 Dollar Inhalt anstatt der mit 10.000 Dollar wählt, kann man sein Bedauern leicht verstehen. Manche Entscheidungen im Leben gleichen dieser Spielshow: Sie nehmen den Apfelkuchen, und Ihr Freund nimmt den Nusskuchen. Nachdem jeder einen Bissen getan hat, wissen Sie, dass Sie sich falsch entschieden haben. Sie empfinden Bedauern, weil Sie genau einschätzen können, was Sie aufgegeben haben. In anderen Fällen können Sie die Konsequenzen einer Entscheidung jedoch nur sehr vage absehen. Wenn Sie sich etwa für einen Pudel als Haustier entscheiden, werden Sie nie erfahren, wie sich Ihr Leben mit einer Bulldogge verändert hätte. In dieser Art von Situation ist Bedauern nicht so wahrscheinlich. Die Möglichkeit des Bedauerns liefert eine Erklärung dafür, warum Sie vielleicht Entscheidungsaversion empfinden: Sie bemerken, dass Sie sich sehr viel Mühe geben, um jegliche Entscheidung zu vermeiden. In Tabelle 8.9 geben wir ein Beispiel für Umstände, die zu einem gesteigerten Widerwillen führen kön-
nen, eine Entscheidung zu treffen. Betrachten Sie das Szenario in Teil 1. Wie würden Sie sich entscheiden? Forscher fanden heraus, dass nur 34 Prozent der Teilnehmer angaben, sie würden weitere Informationen abwarten (Tversky & Shafir, 1992). Betrachten Sie jetzt das leicht veränderte Szenario in Teil 2. Wollen Sie Ihre Entscheidung ändern? Tatsächlich gaben 46 Prozent der Teilnehmer, die diese Version gelesen hatten, an, dass sie auf weitere Informationen warten wollten. Wie kann das sein? Normalerweise würde man erwarten, dass das Hinzufügen einer Handlungsalternative den Anteil der anderen Alternativen herabsenken sollte. Wenn zum Beispiel ein dritter Kanzlerkandidat ins Rennen geht, sollte man erwarten, dass dieser Stimmen von den beiden anderen Kandidaten abzieht. Im vorliegenden Fall erhöht die dritte Möglichkeit jedoch den Anteil einer der ursprünglichen Alternativen um 12 Prozent. Was ist hier los? Der Schlüssel, um diesen Effekt hervorzurufen, besteht darin, die Entscheidung zu erschweren. Wenn die Forscher die Teilnehmer mit einer Version des Problems untersuchten, bei der als zusätzliche Alternative ein minderwertiger CD-Spieler angeboten wurde, gaben nur 24 Prozent an, dass sie sich erst weiter informieren wollten – eine Verringerung statt eines Anstiegs bei der Wahl dieser Alternative –, was die Leichtigkeit zum Ausdruck bringt, sich für den SONYSpieler zu entscheiden. Die Entscheidung zwischen dem billigeren SONY-Gerät und dem erstklassigen
Tabelle 8.9
Entscheidungsaversion 1. Angenommen, Sie tragen sich mit dem Gedanken, einen CD-Spieler zu kaufen, und haben sich noch nicht für ein bestimmtes Modell entschieden. Sie kommen an einem Laden vorbei, der gerade an diesem Tag noch einen Räumungsverkauf durchführt. Man bietet ein übliches SONY-Gerät für nur 67 Euro an, weit unter Listenpreis. Werden Sie a. das SONY-Gerät kaufen? b. warten, bis Sie mehr über die verschiedenen Modelle in Erfahrung bringen? 2. Angenommen, Sie tragen sich mit dem Gedanken, einen CD-Spieler zu kaufen, und haben sich noch nicht für ein bestimmtes Modell entschieden. Sie kommen an einem Laden vorbei, der gerade an diesem Tag noch einen Räumungsverkauf durchführt. Man bietet ein übliches SONY-Gerät für nur 67 Euro an und einen Spitzenklassemodell von AIWA für nur 108 Euro, beide weit unter Listenpreis. Werden Sie a. das AIWA-Gerät kaufen? b. das SONY-Gerät kaufen? c. warten, bis Sie mehr über die verschiedenen Modelle in Erfahrung bringen?
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AIWA-Player ist jedoch schwierig. Es ist praktisch, die schwere Entscheidung auszusetzen und weitere Information abzuwarten. Eine abschließende Bemerkung: Nicht alle Entscheidungsfinder sind gleich. Angenommen, Sie möchten sich in der Videothek eine DVD für den Samstagabend ausleihen. Wenn Sie ein satisficer sind, stöbern Sie in den DVDs herum, bis Sie auf eine stoßen, die Sie ausreichend interessiert. Sind Sie dagegen ein maximizer, sehen Sie zunächst alle DVDs durch, bis Sie sicher sind, die beste gefunden zu haben. Die Forschung hat gezeigt, dass es in der Welt sowohl satisficers als auch maximizers gibt – und dass der Stil der Entscheidungsfindung wichtige Konsequenzen hat (Schwartz et al., 2002).
AUS DER FORSCHUNG Eine Studie verfolgte den Weg von 548 Studierenden aus elf Colleges und Universitäten, als sie sich um Jobs bewarben (Iyengar et al., 2006). Die Studierenden füllten einen Fragebogen aus, aus dem sich ergab, wie weit sie satisficers beziehungsweise maximizers waren: Sie gaben an, ob Aussagen wie „Beim Shopping habe ich Probleme, Kleidung zu finden, die ich wirklich mag“ auf sie zutrafen. Die Studierenden wurden von den Forschern nach drei und sechs Monaten erneut kontaktiert – zu diesen Zeitpunkten waren sie dabei, Vorstellungsgespräche zu absolvieren und Jobs anzunehmen. Die Forscher sammelten vielfältige Daten darüber, wie die Studierenden diese Prozesse erlebten. Diese Daten zeigten ein klares Muster: Die maximizers hatten Jobs angenommen, die im Durchschnitt 20 Prozent höher entlohnt wurden – waren aber trotzdem unzufrieden. Wie die Forscher formulierten, „[waren] die maximizers trotz ihres relativen Erfolgs weniger zufrieden mit dem Ausgang der Jobsuche, außerdem während des ganzen Prozesses stärker pessimistisch, gestresst, erschöpft, ängstlich, besorgt, überfordert und deprimiert“ (Iyengar et al., 2006, S. 146). Offensichtlich verursachte die Jagd nach einem vermeintlich „besten“ Angebot bei den maximizers große psychische Probleme.
Wir stellen uns vor, dass die meisten Menschen gerne einen guten Job hätten, ohne sich dabei unglücklich zu machen. Denken Sie vielleicht bei Ihrer eigenen Jobsuche an die Unterscheidung zwischen maximizers und satisficers – um sich darüber klar zu werden, wie Sie zu einer wohl ausgewogenen Entscheidung für Ihr Leben gelangen. In diesem Kapitel haben wir uns immer wieder mit der mysteriösen Mitternachtsbotschaft „Die Katze sitzt auf der Matte“ beschäftigt. Unser Ziel dabei war, Ihnen die vielfältigen Arten kognitiver Prozesse vor Augen zu führen – Sprachgebrauch, visuelle Kognition, Problemlösen, Schlussfolgern, Urteilen und Entscheiden. Jetzt, am Ende des Kapitels, hoffen wir, dass Ihnen das Beispiel gegenwärtig bleibt – damit Sie Ihre kognitiven Prozesse nie als selbstverständlich hinnehmen. Wann immer möglich, denken Sie über Ihre Gedanken nach, beurteilen Sie Ihre Urteile und so weiter. Damit befassen Sie sich mit dem Wesen des Menschseins.
ZWISCHENBILANZ 1 Wieso verlassen sich Menschen auf Heuristiken, wenn
sie Urteile abgeben? 2 Mit welcher Heuristik könnten Sie die Frage beantwor-
ten, wie alt der älteste lebende Mensch ist? 3 Warum spielen Rahmungen eine so große Rolle in der
Psychologie der Entscheidungsfindung? 4 Worin besteht der Unterschied zwischen satisficers
und maximizers? KRITISCHES DENKEN: Warum boten die Autoren der Studie über Repräsentativität den Teilnehmen 45 Dollar für die richtige Antwort?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Können Politikexperten die Zukunft vorhersagen?
Versuchen Sie doch einmal diese Übung: Surfen Sie etwa eine Viertelstunde lang im Internet und sammeln Expertenmeinungen über die politische Zukunft: Wird es eine neue Mehrheit bei der nächsten Wahl geben? Wird der Nahe Osten demokratischer werden? Zu jeder Frage werden Sie wahrscheinlich
eine Vielfalt von Antworten finden. Wem sollten Sie also glauben? Laut einer Langzeitstudie des Psychologen Philip Tetlock (2005) ist die sicherste Antwort, dass Sie überhaupt niemandem glauben sollten – oder, genauer gesagt, dass man nicht wissen kann, wem man glauben sollte. Schauen wir uns die Gründe an.
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Um die kollektive Weisheit der Experten zu untersuchen, rekrutierte Tetlock 284 Menschen, die eine gute Reputation für politische Prognosen hinsichtlich bestimmter Länder oder Regionen der Welt hatten. (Tetlock sicherte seinen Probanden Anonymität zu und konnte also nicht sagen, wer diese Experten genau waren.) Er bat die Betreffenden dann um Vorhersagen folgender Art: „Wie wahrscheinlich ist es, dass die Partei, die zur Zeit die meisten Abgeordneten in der Legislative hat, diese Mehrheit nach der nächsten Wahl behält, verliert oder ausbaut?“ (S. 46). Die Fragen wurden jeweils für bestimmte Länder und Regionen konkretisiert. Für einige dieser Fragen galten die Probanden jeweils offiziell als Experten, für andere mussten sie sich auf allgemeineres Wissen verlassen. So war vielleicht einer von ihnen Experte für Russland, aber nicht für Italien. Die Teilnehmer sollten jede der drei Optionen (etwa „behält die Mehrheit“, „verliert die Mehrheit“ oder „baut die Mehrheit aus“) auf einer Wahrscheinlichkeitsskala von null („unmöglich“) bis 100 Prozent („sicher“) bewerten. Tetlock überprüfte die Genauigkeit von 27.451 politischen Prognosen, indem er jeweils darauf wartete, was tatsächlich geschah. Weil es für jede Frage drei Antwortmöglichkeiten gab, hätten die Teilnehmer eigentlich selbst durch bloßen Zufall ein Drittel richtig treffenmüssen. Kannten sie sich wirklich aus, hätten sie in weit mehr Fällen richtig liegen müssen. Das taten sie aber nicht. Bei manchen Vergleichen schnitten die Experten sogar schlechter als zufällig ab. Außerdem hatten sie insgesamt in den Bereichen ihrer offiziellen Expertise nicht öfter Recht als bei den Fragen, die sie mit ihrem Allgemeinwissen beantworteten. Die Russland- und Italien-Experten lagen also gleichauf in ihren Antworten bezüglich Russland (oder Italien). Vielleicht fragen Sie sich, ob die Berühmtheit eine Rolle spielte. Waren bekannte Experten ihren unbekannteren Kollegen überlegen? Die Antwort ist ein klares Nein. Wie Tetlock es formulierte, „neigten die
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Die Untersuchung der Kognition Kognitionspsychologen untersuchen die mentalen Prozesse und Strukturen, die uns in die Lage versetzen wahrzunehmen, Sprache zu verwenden, logisch zu denken, Probleme zu lösen und Urteile und Entscheidungen zu treffen.
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viel gefragten Experten eher zur Selbstüberschätzung als ihre Kollegen, die fern des Rampenlichts ihr Leben fristeten“ (S. 63). Wenn die Experten in ihren Prognosen so falsch liegen, warum hört dann noch jemand auf sie? Ein wichtiger Grund ist, dass Experten im Allgemeinen nicht für ihre Vorhersagen zur Verantwortung gezogen werden: Die Medien spüren selten die Expertin auf, die selbstbewusst Smiths Sieg vorausgesagt hat, um sie zu fragen, warum Jones jetzt Präsident ist. Aber Tetlock fragte seine Experten tatsächlich, warum sie falsch prognostiziert hatten. Die angegebenen Gründe kennen Sie wahrscheinlich aus Ihrem eigenen Leben. Sie erklärten etwa, warum sie „fast richtig“ oder „aus den richtigen Gründen falsch“ getippt hatten. Sie nannten „unvorhergesehene“ Kräfte, die sich nach ihrer Prognose eingeschaltet hätten. Eine sichere Schlussfolgerung aus Tetlocks Studie ist: Was die Politik angeht, kann niemand die Zukunft sicher prognostizieren. Manche Leute können es etwas besser als andere, aber man kann sich nicht auf ihr Selbstvertrauen oder ihre Bekanntheit verlassen, um sie zu erkennen. Andererseits muss man bedenken, dass es in dieser Studie nur um eine bestimmte Art von Experten und einen bestimmten Problemkreis geht, und dass man nicht alle Experten diskreditieren kann. Wenn man zum Beispiel den Rat eines Arztes einholt, dann sollte er seine Prognosen („So wird sich Ihre Behandlung wahrscheinlich auswirken“) auf Grund jahrelanger Ausbildung und Erfahrung erstellen. Außerdem sind Ärzte normalerweise verantwortlich für die Genauigkeit dieser Voraussagen!
Welchen Grund hätte Tetlock für die drei Optionen bei jeder Prognose haben können? Warum könnte übermäßige Selbstsicherheit dabei helfen, berühmt zu werden oder zu bleiben, selbst wenn man falsche Prognosen abgibt?
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Forscher verwenden Reaktionszeitmaße, um komplexe Aufgaben in die zugrunde liegenden mentalen Prozesse zu zerlegen. Sprachverwendung Sprachverwender produzieren und verstehen Sprache.
Zusammenfassung
Problemlösen und logisches Denken Problemlöser müssen einen Anfangszustand, einen Zielzustand und die Operatoren definieren, die das Problem vom Anfangszustand in den Zielzustand überführen.
Sprecher gestalten ihre Äußerungen so, dass sie den Bedürfnissen bestimmter Hörer entsprechen. Versprecher bringen viele der Prozesse zum Vorschein, die in die Sprechplanung eingehen. Ein Großteil des Sprachverstehens besteht darin, mithilfe des Kontexts Mehrdeutigkeiten aufzulösen.
Beim deduktiven Schließen zieht man Schlussfolgerungen aus Prämissen auf der Grundlage logischer Regeln.
Gedächtnisrepräsentationen von Bedeutung beginnen mit Propositionen, die um Inferenzen ergänzt werden.
Beim induktiven Schließen beruht die Schlussfolgerung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Anhaltspunkten.
Untersuchungen zur Sprachevolution konzentrierten sich auf grammatische Strukturen und Hör erbezug.
Urteilen und Entscheiden Ein Großteil der Urteile und Entscheidungen ist von Heuristiken geleitet – mentale Patentrezepte, mit denen man schnell zu Lösungen gelangt.
Die Sprache, die ein Individuum spricht, kann da zu beitragen, wie jemand denkt.
Die Heuristiken der Verfügbarkeit, Repräsentativität und Verankerung können zu Fehlern führen, wenn sie fehlerhaft angewandt werden.
Visuelle Kognition Visuelle Repräsentationen können dazu herangezogen werden, propositionale Repräsentationen zu ergänzen. Mithilfe visueller Repräsentationen können wir über die visuellen Aspekte unserer Umwelt nachdenken.
Entscheidungen werden dadurch beeinflusst, wie die verschiedenen Alternativen gerahmt sind. Die Möglichkeit des Bedauerns macht einige Entscheidungen schwierig, insbesondere für Individuen die eher maximizers als satisficers sind.
Menschen bilden visuelle Repräsentationen, in denen verbale und visuelle Informationen kombiniert sind.
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SCHLÜSSELBEGRIFFE Algorithmus (S. 303) Ankerheuristik (S. 316) Automatische Prozesse (S. 280) Deduktives Schließen (S. 307) Effekt glaubhaftigkeitsbasierter Urteilsneigung (S. 307) Entscheiden (S. 311) Entscheidungsaversion (S. 320) Funktionale Fixierung (S. 305) Heuristiken (S. 304) Hörerbezug (S. 283) Induktives Schließen (S. 309)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Inferenzen (S. 290) Kognition (S. 276) Kognitionswissenschaft (S. 276) Kognitive Prozesse (S. 276) Kognitive Psychologie (S. 276) Kontrollierte Prozesse (S. 280) Logisches Denken (S. 302) Mentale Voreinstellung (S. 310) Methode des lauten Denkens (S. 304) Parallele Prozesse (S. 279) Problemlösen (S. 302) Problemraum (S. 303) Rahmung (S. 318) Repräsentativitätsheuristik (S. 314) Serielle Prozesse (S. 279) Sprachproduktion (S. 283) Urteilen (S. 311) Verfügbarkeitsheuristik (S. 313)
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Intelligenz und Intelligenzdiagnostik 9.1.1 Die Geschichte der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Grundeigenschaften formaler Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2 Intelligenzdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Die Ursprünge der Intelligenzmessung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 IQ-Tests. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Außergewöhnlich hohe oder niedrige Intelligenz . . . . . . . . . . . . .
9.3 Intelligenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.3.1 Psychometrische Intelligenztheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Sternbergs triarchische Intelligenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Diagnostik im World Wide Web . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.3.3 Gardners multiple Intelligenzen und emotionale Intelligenz . . . .
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Psychologie im Alltag: Sind Intelligenztheorien wichtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.4 Intelligenz als Politikum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte der Gruppenvergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz und Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz und Umwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und die Validität von Intelligenztests . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.5 Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.5.1 Die Messung von Kreativität und die Verbindung zur Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5.2 Außergewöhnliche Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353 354
9.6 Diagnostik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
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.............................................
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9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4
Schlüsselbegriffe
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Ü B E R B L I C K
9.1 Was ist Diagnostik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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enn man Sie bitten würde, das Wort Intelligenz zu definieren, welche Arten von Verhalten würden Sie in ihre Definition aufnehmen? Betrachten Sie Ihre eigenen Erfahrungen. Wie war das, als Sie in die Schule kamen? Und wie, als Sie sich in Ihrem ersten Job abmühten? Sehr wahrscheinlich haben Sie in solchen Situationen gehört, wie Ihr Verhalten als intelligent oder unintelligent – schlau oder dumm – eingestuft wurde. Wendet man solche Bezeichnungen in einer normalen Unterhaltung an, haben sie nur geringe Auswirkungen. Es gibt allerdings viele Situationen, in denen es durchaus darauf ankommt, ob Ihr Verhalten als intelligent bewertet wird. Wenn Sie etwa in den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind, wurde wahrscheinlich schon früh Ihr „Potenzial“ gemessen. In den meisten Schulbezirken versuchen Lehrer und Verwaltungsbeamte schon früh in Ihrem Leben, Ihre Intelligenz zu messen. Meistens besteht das Ziel dieser Tests in der Zuordnung der Schüler zu Klassen und schulischen Anforderungen, die sie angemessen fordern. Wie Sie jedoch mit ziemlicher Sicherheit beobachten konnten, scheint das Leben der Leute auch außerhalb des Klassenzimmers häufig von Intelligenztests beeinflusst zu sein. In diesem Kapitel befassen wir uns mit den Grundlagen und Einsatzmöglichkeiten der Intelligenzdiagnostik. Wir werden einen Überblick über die Beiträge der Psychologie zum Verständnis interindividueller Differenzen im Intelligenzbereich geben. Wir werden auch die Kontroversen diskutieren, die fast unweigerlich entstehen, wenn Menschen anfangen, diese Unterschiede zu interpretieren. Unser Hauptaugenmerk richtet sich darauf, wie ein Intelligenztest funktioniert, was einen Test nützlich macht und warum ein Test nicht immer die Aufgabe erfüllt, die er erfüllen soll. Wir werden das Kapitel mit einer persönlichen Notiz abschließen, indem wir den Stellenwert psychologischer Diagnostik in der Gesellschaft betrachten. Wir beginnen mit einem kurzen Überblick über die allgemeine Praxis psychologischer Diagnostik.
Was ist Diagnostik?
9.1.1 Die Geschichte der Diagnostik Die Entwicklung formaler Tests und Verfahren zur Diagnostik ist ein relativ neues Unterfangen in der westlichen Psychologie, dessen weite Verbreitung erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfing. Jedoch waren schon lange, bevor die westliche Psychologie anfing, Tests zur Beurteilung von Personen zu entwickeln, im alten China diagnostische Verfahren üblich. Tatsächlich gab es dort schon vor über 4.000 Jahren ein hoch entwickeltes Programm zur Testung von Beamten. Die Beamten mussten alle drei Jahre ihre Kompetenz in einer mündlichen Prüfung unter Beweis stellen. 2.000 Jahre später, während der Han Dynastie, wurden schriftliche Tests für Beamte eingesetzt, die Kompetenzen in den Bereichen Recht, Militär, Landwirtschaft und Geografie erfassten. Während der Ming Dynastie (1368 –1644 n. Chr.) wurden Verwaltungsbeamte anhand ihrer Leistung in einem dreistufigen, objektiven
9.1
Psychologische Diagnostik ist der Einsatz festgelegter Testverfahren zur Bewertung der Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften von Personen. Psychologische Diagnostik wird oft als die Messung interindividueller Unterschiede bezeichnet, weil die meisten Beurteilungen angeben, inwiefern
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sich eine Person in Bezug auf eine bestimmte Dimension von anderen Personen unterscheidet oder ihnen gleicht. Bevor wir uns jedoch einer detaillierten Betrachtung der Grundzüge psychologischer Testung zuwenden, betrachten wir in groben Zügen die Geschichte der Diagnostik. Dieser geschichtliche Überblick wird einen Einblick in Nutzen und Grenzen der Diagnostik geben und zugleich das Verständnis für einige aktuelle Kontroversen vermitteln.
Welche bedeutenden Ideen zur Intelligenzdiagnostik gehen auf Sir Francis Galton (1822–1911) zurück?
9.1 Was ist Diagnostik?
Selektionsprozess ausgewählt. In der ersten Stufe wurden auf lokaler Ebene Prüfungen durchgeführt. Diejenigen vier Prozent der Teilnehmer, die diese Tests bestanden, mussten eine zweite Stufe über sich ergehen lassen: neun Tage und Nächte schriftliche Prüfungen in klassischer Literatur. Die fünf Prozent, welche die schriftlichen Prüfungen bestanden, durften an einer letzten Testreihe in der Landeshauptstadt teilnehmen. Chinas Selektionsverfahren wurden Anfang des 19. Jahrhunderts von Britischen Diplomaten und Missionaren beobachtet und beschrieben. Bald wurden modifizierte Versionen des chinesischen Systems zur Auswahl von Beamten von den Briten und später auch von den Amerikanern übernommen (Wiggins, 1973). Die Schlüsselfigur in der Entwicklung westlicher Intelligenztestung war der vornehme Engländer Sir Francis Galton. Sein 1869 veröffentlichtes Buch Hereditary Genius (deutsch: Genie und Vererbung) übte großen Einfluss auf spätere Überlegungen zu den Methoden, Theorien und der Praxis des Testens aus. Galton, ein Cousin Charles Darwins, versuchte dessen Evolutionstheorie auf die Untersuchung menschlicher Fähigkeiten anzuwenden. Er interessierte sich dafür, wie und warum sich Menschen in ihren Fähigkeiten unterscheiden. Er fragte sich, warum manche begabt und erfolgreich waren – so wie er – und viele andere nicht. Galton war es, der als Erster vier wichtige Postulate zur Intelligenzdiagnostik aufstellte. Erstens: Intelligenzunterschiede sind quantifizierbar als unterschiedliche Grade von Intelligenz. Mit anderen Worten können den Intelligenzstufen unterschiedlicher Personen Zahlenwerte zugewiesen werden, um sie miteinander zu vergleichen. Zweitens: Die Unterschiede zwischen Personen folgen einer glockenförmigen Kurve, der Normalverteilung. In einer Normalverteilung gruppieren sich die Werte der meisten Leute in der Mitte, und wenige gehören den beiden Extremen von Genialität und Minderbegabung an. (Wir werden uns später in diesem Kapitel erneut mit der Normalverteilung befassen.) Drittens: Intelligenz oder mentale Fähigkeit kann durch objektive Testverfahren gemessen werden, bei denen es nur eine richtige Antwort auf jede Frage gibt. Viertens: Das exakte Ausmaß, in dem zwei Mengen von Testergebnissen zueinander in Beziehung stehen, kann durch ein statistisches Verfahren bestimmt werden, die Korrelation. Diese Ideen erwiesen sich als von bleibendem Wert. Bedauerlicherweise hatte Galton auch ein paar Ideen, die sich als weitaus kontroverser erwiesen. Er glaubte beispielsweise, Genialität sei erblich. Aus dieser Sicht wurden Talent und gesellschaftliches Ansehen innerhalb von Familien weitergegeben, und die
Umwelt hatte nur minimalen Effekt auf die Intelligenz. Seiner Meinung nach stand die Intelligenz in Beziehung zu Darwins „fitness“ oder Überlebensstärke der Arten, und letztlich auch in Beziehung zum moralischen Wert einer Person. Galton versuchte auch, politische Entscheidungen auf das Konzept genetisch überlegender und unterlegener Menschen zu gründen. Er ist der Vater der Eugenik-Bewegung, die eine Verbesserung der menschlichen Rasse durch die Anwendung der Evolutionstheorie propagierte, der zufolge die Paarung biologisch überlegener Menschen gefördert werden sollte und biologisch minderwertige Menschen davon abgebracht werden sollten, Kinder zu haben. Galton schrieb: „Es gibt eine Stimmung, die weitgehend durchaus unvernünftig ist, die sich gegen die graduelle Auslöschung einer minderwertigen Rasse richtet“ (Galton, 1883/1907, S. 200). Diese kontroversen Ideen wurden später von vielen aufgegriffen und weiterentwickelt, die vehement dafür plädierten, dass die intellektuell überlegene Rasse sich auf Kosten der intellektuell Unterlegenen vermehren sollte. Zu den Vertretern dieses Gedankenguts gehörten die amerikanischen Psychologen Goddard und Terman, auf deren Theorien wir noch zurückkommen werden, und natürlich auch Adolf Hitler. Wir werden später in diesem Kapitel sehen, dass auch heute noch Überreste dieser elitären Ideen zum Vorschein kommen. Die Arbeiten von Sir Francis Galton bildeten den Rahmen für die heutige Intelligenzdiagnostik. Betrachten wir nun, durch welche Eigenschaften sich die formale Diagnostik auszeichnet.
9.1.2 Grundeigenschaften formaler Diagnostik Um für die Klassifikation oder Selektion von Menschen mit bestimmten Eigenschaften brauchbar zu sein, muss ein Verfahren der formalen Diagnostik drei Anforderungen genügen. Das Diagnoseinstrument muss (1) reliabel, (2) valide und (3) standardisiert sein. Wenn das Instrument diesen Anforderungen nicht genügt, kann man sich nicht auf die diagnostischen Schlussfolgerungen verlassen. Obwohl sich dieses Kapitel mit der Intelligenzdiagnostik befasst, gelten die Verfahren zur formalen Diagnostik für alle Arten psychologischer Testung. Um sicherzustellen, dass Ihnen die Allgemeingültigkeit dieser Prinzipien verständlich ist, werden wir uns sowohl auf Beispiele aus der Intelligenztestung als auch auf Beispiele aus anderen Bereichen psychologischer Diagnostik beziehen.
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Der falsche Weg zur Bestimmung der Testhalbierungs-Reliabilität. Reliabilität Reliabilität ist das Ausmaß, in dem man sich darauf verlassen kann, dass ein diagnostisches Instrument konsistente Ergebnisse liefert. Wenn man an einem Morgen dreimal hintereinander auf die Waage steigt und dreimal ein anderes Gewicht abliest, erfüllt die Waage ihren Zweck nicht. Man würde die Waage als unzuverlässig beziehungsweise unreliabel bezeichnen, weil man sich nicht darauf verlassen kann, dass sie konsistente Ergebnisse liefert. Selbstverständlich würde man nicht erwarten, dass die Waage dasselbe Ergebnis liefert, wenn man zwischen zwei Messvorgängen ein ausgiebiges Frühstück zu sich genommen hat. Mit anderen Worten: Ein Messinstrument kann nur insoweit als reliabel oder unreliabel bezeichnet werden, als der zugrunde liegende Sachverhalt, den es messen soll, stabil bleibt. Eine einfache Möglichkeit, um die Reliabilität eines Tests zu ermitteln, ist die Berechnung der Retest-Reliabilität; ein Maß der Korrelation zwischen den Testwerten derselben Personen im selben Test, der zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt wurde. Ein vollständig reliabler Test würde einen Korrelationskoeffizienten von +1 ergeben, was besagt, dass beide Male ein identisches Muster von Testergebnissen entsteht. Dieselben Personen, die beim ersten Mal die höchsten und niedrigsten Werte erzielt hatten, erhalten erneut die höchsten und nied-
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rigsten Werte. Ein vollständig unreliabler Test würde einen Korrelationskoeffizienten von 0 ergeben, was besagt, dass es keinen Zusammenhang zwischen den ersten und den zweiten Messergebnissen gibt. Die Reliabilität eines Tests steigt in dem Maße, in dem sich der Korrelationskoeffizient dem Idealwert +1 annähert. Es gibt zwei weitere Methoden zur Bestimmung der Reliabilität. Bei der einen werden zwei unterschiedliche, parallele Formen eines Tests vorgegeben, anstatt denselben Test zweimal zu verwenden. Der Einsatz von Parallelformen reduziert die Einflüsse der Übung im Umgang mit den Fragen, des Erinnerns der Testfragen und des Bedürfnisses der Probanden, bei gleichen Tests konsistent erscheinen zu wollen. Reliable Tests liefern vergleichbare Ergebnisse in den Parallelformen eines Tests. Die zweite Alternative zur Bestimmung der Reliabilität ist die interne Konsistenz der Antworten in einem einzigen Test. Man kann beispielsweise den Testwert einer Person auf der Basis der geraden Itemnummern mit dem Testwert auf der Basis der ungeraden Itemnummern vergleichen. Ein reliabler Test liefert das gleiche Ergebnis für seine beiden Hälften. Man sagt dann, der Test besitze eine hohe interne Konsistenz für dieses Maß der Split-half- oder Testhalbierungs-Reliabilität. In den meisten Fällen sollte nicht nur das Messinstrument selbst reliabel sein, sondern auch die Art und Weise, in der es angewendet wird. Angenommen, Forscher wollten Kinder in einem Klassenzimmer beobachten, um unterschiedliche Stufen aggressiven Spiels zu diagnostizieren. Sie könnten ein Kodierschema entwickeln, das es ihnen erlaubt, angemessene Unterscheidungen zu treffen. Dieses Schema wäre in dem Maße reliabel, in dem alle Personen, die dasselbe Verhalten sehen, die jeweiligen Kinder auch ähnlich bewerten. Hierin liegt einer der Gründe, warum ein gewisses Training notwendig ist, bevor jemand eine akkurate psychologische Diagnostik durchführen kann. Man muss lernen, solche Unterscheidungs- und Klassifikationssysteme reliabel einzusetzen. Die Forscher, die diagnostische Verfahren entwickeln und anwenden, arbeiten hart daran, ihre Reliabilität sicher zu stellen. Wenn Sie in den USA studieren, haben Sie vielleicht vor Ihrer Zulassung zum Collegestudium das SAT-I-Examen absolviert. Sie wissen vielleicht gar nicht, dass ein Abschnitt dieses Examens keinen Einfluss auf die Bewertung hatte; vielmehr sollten die Fragen dieses nicht bewerteten Abschnitts wahrscheinlich für zukünftige Tests geprüft werden. Die Entwickler des Tests können die Leistung beim Beantworten der bewerteten Fragen mit
9.1 Was ist Diagnostik?
der bei den Versuchsfragen vergleichen und so erreichen, dass die Ergebnisse der Kandidaten bei zukünftigen Examen mit den gegenwärtigen vergleichbar sind. Wenn Sie also den SAT-I-Test absolviert haben, haben Sie ein wenig zu der Information beigetragen, die ihn reliabel macht. Validität Die Validität eines Tests ist das Ausmaß, in dem er misst, was ein Diagnostiker zu messen beabsichtigt. Ein valider Intelligenztest misst diese Eigenschaft und erlaubt Vorhersagen über die Leistung in Situationen, in denen Intelligenz wichtig ist. Das Testergebnis in einem validen Kreativitätstest spiegelt die tatsächliche Kreativität wider und nicht die Fähigkeit zu zeichnen oder eine momentane Stimmung. Man kann also im Allgemeinen sagen, dass die Validität die Fähigkeit eines Tests widerspiegelt, korrekte und genaue Vorhersagen über Verhaltensweisen und Leistungsresultate zu treffen, die in Beziehung zum Testzweck oder Testdesign stehen. Drei wichtige Validitätsarten sind die Augenscheinvalidität, die Kriteriumsvalidität und die Konstruktvalidität. Die erste Validitätsart beruht auf dem Oberflächengehalt eines Tests. Ein Test besitzt Augenscheinvalidität, wenn sich Testitems direkt auf das untersuchte Merkmal zu beziehen scheinen. Tests mit Augenscheinvalidität sind sehr direkt – sie fragen einfach, was der Testkonstrukteur wissen will: Wie ängstlich fühlen Sie sich? Sind Sie kreativ? Man erwartet, dass die Person, die den Test bearbeitet, genau und aufrichtig antwortet. Leider reicht die Augenscheinvalidität oft nicht aus, um die Genauigkeit der Messung sicherzustellen. Zum einen können die Selbstwahrnehmungen von Personen falsch sein, oder sie wissen nicht, wie sie sich im Vergleich zu anderen Personen einschätzen sollen. Zum anderen erlaubt ein Test, der eine bestimmte Eigenschaft zu offensichtlich misst, dass Probanden den Eindruck manipulieren, den sie hinterlassen möchten. Ein gutes Beispiel hierfür ist der klassische Fall von Psychiatrie-Patienten, die nicht aus ihrer vertrauten strukturierten Umgebung entlassen werden wollten.
AUS DER FORSCHUNG Diese schizophrenen Langzeitpatienten wurden vom Personal interviewt, um herauszufinden, wie schwer beeinträchtigt sie waren. Wenn das Interview der Frage diente, ob es den Patienten gut genug ginge, um auf eine offene Station verlegt zu werden, dann gaben die Patienten im
Allgemeinen positive Selbsteinschätzungen ab. Sollte das Interview jedoch feststellen, ob sie für eine Entlassung in Frage kommen, dann gaben die Patienten negativere Selbsteinschätzungen ab, weil sie nicht entlassen werden wollten. Psychiater, welche die Interviews beurteilten, ohne von der experimentellen Variation des Interviewzwecks zu wissen, beurteilten diejenigen, die negativere Selbsteinschätzungen abgaben, als schwerer beeinträchtigt und empfahlen, sie nicht zu entlassen. Die Patienten erreichten also das von ihnen angestrebte Ergebnis der Diagnostik. Das Urteil der Psychiater könnte auch davon beeinflusst worden sein, dass sie der Ansicht waren, jemand, der in einer psychiatrischen Klink bleiben will, müsse allein deshalb schwer gestört sein (Braginsky & Braginsky, 1967).
Dieses Beispiel macht besonders deutlich, dass sich Testanwender nicht nur auf Messinstrumente verlassen können, die augenscheinvalide sind. Sehen wir uns andere Validitätsarten an, die einige dieser Beschränkungen überwinden. Um die Kriteriumsvalidität (auch Vorhersagevalidität oder prädiktive Validität) eines Tests zu ermitteln, vergleichen Psychologen die Testergebnisse einer Person mit ihrem Abschneiden bei einer anderen Vergleichsgröße oder einem Kriterium, das mit dem testrelevanten Merkmal in Beziehung steht. Wenn ein Test beispielsweise Erfolg im Studium vorhersagen soll, wären die während des Studiums erzielten Noten ein geeignetes Kriterium. Es ist eine der Hauptaufgaben von Testentwicklern, angemessene und messbare Kriterien zu finden. Sobald die Kriteriumsvalidität eines Messinstruments nachgewiesen wurde, vertrauen Forscher darauf, dass sie auch in Zukunft Vorhersagen auf der Basis dieses Instruments machen können. Die Beschränkung des Zugangs zu bestimmten Universitätsstudiengängen aufgrund der Durchschnittsnote im Abitur, der so genannte Numerus Clausus, beruht auf derselben Logik. In der Vergangenheit konnte eine positive Korrelation zwischen den Abschlussnoten und der Studienleistung festgestellt werden. Auf dieser Basis werden die Abschlussnoten verwendet, um Vorhersagen über Ihre Studienlaufbahn zu treffen. Für viele Persönlichkeitsvariablen, die für die Psychologie interessant sind, gibt es kein ideales Kriterium. Weder ein einzelnes Verhaltensmuster noch eine einzelne Leistung kann zum Beispiel anzeigen, wie ängstlich, depressiv oder aggressiv ein Mensch insgesamt ist. Die Psychologen haben Theorien oder Konstrukte bezüglich dieser abstrakten Eigenschaften – was sie verursacht, wie sie das Verhalten beeinflussen und wie sie sich zu anderen Variablen verhalten. Die Konstruktvalidität eines Tests ist der Grad, in dem er das
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zu Grunde liegende Konstrukt adäquat misst. So hat etwa ein neues Maß für Depression dann eine Konstruktvalidität, wenn die Werte, die sich daraus ergeben, hochgradig mit validen Maßen der Merkmale korrelieren, die das Konstrukt der Depression definieren. Darüber hinaus sollte dieses neuartige Maß keinen Bezug zu Merkmalen haben, die nicht zum Konstrukt der Depression gehören. Die Bedingungen, unter denen ein Test valide ist, können sehr spezifisch sein. Insofern ist es immer wichtig, die Validität eines Tests zu bewerten, indem man fragt: „Für welche Zwecke ist er valide?“. Das Wissen darum, mit welchen anderen Maßen ein Test korreliert oder nicht korreliert, kann etwas Neues über diese Maße, das Konstrukt oder die Komplexität menschlichen Verhaltens zu Tage bringen. Angenommen, Sie entwickeln einen Test, der die Fähigkeit von Medizinstudierenden im Umgang mit Stress messen soll. Sie finden dann heraus, dass die Testergebnisse gut mit der Fähigkeit der Studierenden korrelieren, mit Stress im Unterricht umzugehen. Sie vermuten, dass Ihr Test auch gut mit der Fähigkeit der Studierenden korreliert, mit Stress in medizinischen Notfällen umzugehen, finden jedoch heraus, dass das nicht zutrifft. Weil Sie eine gewisse Validität nachgewiesen haben, haben Sie sowohl etwas über Ihren Test herausgefunden – die Bedingungen, unter denen er valide ist – als auch über Ihr Konstrukt – unterschiedliche Kategorien von Stressoren haben unterschiedliche Auswirkungen. Sie würden als Nächstes Ihren Test modifizieren, um die unterschiedlichen speziellen Stressoren zu berücksichtigen, die in medizinischen Notfällen auftreten.
Wie würden Sie sich fühlen, wenn jemand Ihre Körpergröße zur Bestimmung Ihrer Intelligenz heranzöge? Das Maß wäre reliabel, aber wäre es auch valide?
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Denken Sie für einen Moment über die Beziehung zwischen Reliabilität und Validität nach. Während Reliabilität anhand der Korrelation des Tests mit sich selbst gemessen wird (durch Vorgabe des Tests zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder mit unterschiedlichen Items), wird Validität durch die Korrelation des Tests mit etwas Externem (ein anderer Test, ein Verhaltenskriterium, eine Beurteilung durch Beobachter) gemessen. Für gewöhnlich ist ein nicht reliabler Test auch nicht valide, weil ein Test, der sein eigenes Ergebnis nicht vorhersagen kann, auch nicht in der Lage sein wird, etwas anderes vorherzusagen. Wenn Sie in Ihrem Seminar heute einen Aggressivitätstest durchführen und die Testergebnisse nicht mit den Ergebnissen einer morgen durchgeführten Parallelform des Tests korrelieren, ist es unwahrscheinlich, dass die Testergebnisse irgendeines der beiden Tage vorhersagen, welche Studierenden sich im Laufe einer Woche häufiger gestritten haben oder in Auseinandersetzungen verwickelt waren: Schließlich haben die beiden Testergebnisse ja nicht einmal dieselben Vorhersagen getroffen! Andererseits ist es durchaus möglich, dass ein Test hoch reliabel ist und gleichzeitig nicht valide. Angenommen, man nähme Ihre Körpergröße als Maß Ihrer Intelligenz – offensichtlich wäre die Messung reliabel, aber nicht valide. Normen und Standardisierung Wir haben also einen reliablen und validen Test, aber wir brauchen immer noch Normen, um einen Bezugsrahmen für die Interpretation der unterschiedlichen Testergebnisse zu schaffen. Angenommen, Sie erhielten einen Punktwert von 18 als Ergebnis eines Tests, der offen legen soll, wie depressiv Sie sind. Was heißt das? Sind Sie ein wenig depressiv, überhaupt nicht depressiv oder etwa durchschnittlich depressiv? Um herauszufinden, was Ihr individuelles Ergebnis besagt, müssen Sie es mit typischen Ergebnissen oder statistischen Normen anderer Studierender vergleichen. Sie könnten anhand der Normen feststellen wollen, in welchem Bereich die Testergebnisse üblicherweise liegen, welchen Durchschnittswert Studierende Ihres Alters und Geschlechts haben. In diesem Rahmen könnten Sie Ihren eigenen Depressionspunktwert interpretieren. Sie sind solchen Testnormen möglicherweise schon einmal begegnet, wenn Sie sich einem Eignungs- oder Intelligenztest unterzogen haben. Anhand der Normen konnten Sie feststellen, wie ähnlich Ihre Ergebnisse denen anderer Studierender waren und wie gut Sie im Vergleich zu dieser Normstichprobe abgeschnitten hatten. Gruppennormen sind dann besonders nützlich bei
9.2 Intelligenzdiagnostik
der Interpretation individueller Testergebnisse, wenn die Vergleichsgruppe in wichtigen Bereichen wie Alter, sozioökonomischem Status und kulturellem Hintergrund mit den getesteten Individuen übereinstimmt. Damit Normen sinnvoll sind, muss jeder den gleichen Test unter standardisierten Bedingungen absolvieren. Standardisierung heißt, ein Testinstrument bei allen Personen in gleicher Weise und unter denselben Bedingungen anzuwenden. Die Notwendigkeit der Standardisierung erscheint zwingend, aber in der Praxis wird nicht immer standardisiert. Einigen Personen kann mehr Bearbeitungszeit gewährt werden, sie können klarere oder detailliertere Instruktionen erhalten, es kann ihnen erlaubt werden, Fragen zu stellen, oder der Testleiter motiviert sie, sich stärker anzustrengen. Betrachten wir folgenden Erfahrungsbericht eines der Autoren: Als Doktorand in Yale führte ich einen Test zur Bestimmung der Testangst von Kindern in Grundschulklassen durch. Bevor es losging, sagte eine Lehrerin zu ihrer Klasse: „Wir werden uns jetzt ein wenig mit diesem neuen Fragespiel amüsieren, das dieser freundliche Mann mitgebracht hat.“ Eine andere Lehrerin bereitete ihre Klasse mit folgender Warnung auf denselben Test vor: „Dieser Psychologe von der Universität Yale wird einen Test mit euch durchführen, um herauszufinden, was ihr denkt; ich hoffe, ihr erzielt gute Leistungen und zeigt, wie gut unsere Klasse ist!“ (Zimbardo, persönliche Mitteilung, 1958) Könnte man die Ergebnisse der Kinder in den beiden Klassen im „selben“ Test vergleichen? Die Antwort lautet Nein, weil die Tests nicht in standardisierter Weise vorgegeben wurden. In diesem Fall erreichten die Kinder in der zweiten Klasse höhere Werte bei der Testangst. (Was Sie vermutlich nicht überrascht!) Wenn keine Vorschriften mit expliziten Anweisungen zur Durchführung des Tests oder zur Auswertung vorliegen, ist es schwierig, die Bedeutung eines Testresultats einzuschätzen oder einen Vergleich herzustellen. Wir haben uns jetzt mit einigen Problemen befasst, vor denen Forscher stehen, wenn sie einen Test konstruieren und herausfinden wollen, ob er misst, was er ihrer Meinung nach messen soll. Die Forscher müssen sicherstellen, dass der Test reliabel und valide ist. Sie müssen auch die Standardbedingungen spezifizieren, unter denen der Test vorgelegt werden sollte, damit die daraus resultierenden Normen bedeutungsvoll sind. Deshalb sollten Sie jedes Testergebnis, das Sie
erhalten, in Hinblick auf die Reliabilität und Validität des Tests beurteilen, sowie in Hinblick auf die Güte der Normen und den Umfang, in dem die Testbedingungen in Ihrem Fall standardisiert wurden. Jetzt können wir uns der Intelligenzdiagnostik zuwenden.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche übergreifenden Ideen trug Sir Francis Galton
zur Erforschung der Intelligenz bei? 2 Was ist mit Testhalbierungs-Reliabilität gemeint? 3 Wie könnte die Forschung bestimmen, ob ein Maß
Vorhersagevalidität hat? 4 Warum ist es wichtig, Normen für Maße aufzustellen?
KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an die Studie über die Psychiatriepatienten. Was könnten die Psychiater tun, um den Zweck des Tests zu verschleiern?
Intelligenzdiagnostik
9.2
Wie intelligent sind Sie oder Ihre Freunde? Um diese Frage beantworten zu können, müssen Sie zunächst einmal Intelligenz definieren. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine Gruppe von 52 Forschern hat sich auf folgende Definition geeinigt: „Intelligenz ist eine sehr allgemeine geistige Fähigkeit, die unter anderem die Fähigkeiten zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zum Problemlösen, zum abstrakten Denken, zum Verstehen komplexer Ideen, zum raschen Auffassen und zum Lernen aus Erfahrung einschließt.“ (Gottfredson, 1997a, S. 13). Angesichts dieser Spanne an Fähigkeiten sollte unmittelbar deutlich werden, warum es immer Kontroversen darüber gab, wie Intelligenz gemessen wird. Die Art und Weise, in der Theoretiker Intelligenz und höhere kognitive Funktionen konzeptualisieren, übt starken Einfluss auf die Art und Weise aus, in der sie versuchen, diese zu messen (Sternberg, 1994). Einige Psychologen glauben, dass menschliche Intelligenz quantifiziert und auf einen einzigen Wert reduziert werden kann. Andere behaupten, dass Intelligenz viele Komponenten hat, die einzeln erfasst werden sollten. Wieder andere sind der Ansicht, es gäbe mehrere unterscheidbare Arten von Intelligenz über die unterschiedlichen Lebensbereiche hinweg. In diesem Abschnitt wird beschrieben, wie Intelligenztests mit diesen unterschiedlichen Intelligenzkonzepten verwoben sind. Zunächst wird der historische Kontext betrachtet, in dem erstmalig ein Interesse an Intelligenz und Intelligenzmessung entstand.
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9.2.1 Die Ursprünge der Intelligenzmessung Das Jahr 1905 markierte die erste Veröffentlichung eines Berichts über einen funktionierenden Intelligenztest. Alfred Binet hatte auf den Aufruf des französischen Bildungs- und Erziehungsministers reagiert, der die Entwicklung effektiverer Lehrmethoden für Kinder mit Entwicklungsstörungen gefordert hatte. Binet und sein Kollege Theophile Simon waren der Ansicht, dass die Messung der geistigen Fähigkeiten eines Kindes für die Entwicklung eines Lehrprogramms notwendig war. Binet versuchte einen objektiven Test der geistigen Leistungsfähigkeit zu entwickeln, der geeignet war, normale Kinder und Kinder mit Entwicklungsstörungen zu klassifizieren und voneinander zu trennen. Er hoffte, dass sich durch einen solchen Test die Schulen nicht mehr so sehr auf die eher subjektiven und vielleicht verzerrten oder voreingenommenen Beurteilungen des Lehrpersonals verlassen würden. Um Intelligenz zu quantifizieren – zu messen – entwickelte Binet altersgerechte Aufgaben, so genannte Testitems, anhand derer sich die Antworten vieler Kinder vergleichen ließen. Die Aufgaben in diesem Test waren so gewählt, dass Lösungen objektiv als richtig oder falsch klassifiziert werden konnten, dass ihr Inhalt variieren konnte, dass die Aufgaben nicht zu sehr von den unterschiedlichen Lebensumwelten der Kinder beeinflusst wurden und dass sie Urteilsfähigkeit und die Fähigkeit zu schlussfolgerndem Denken und nicht auswendig gelerntes Wissen erfassten (Binet, 1911). Kinder verschiedenen Alters wurden getestet und das Durchschnittsergebnis für normale Kinder jeden Alters wurde berechnet. Dann wurde die Leistung jedes einzelnen Kindes mit dem Durchschnitt gleichaltriger Kinder verglichen. Die Testergebnisse wurden in Form des Durchschnittsalters ausgedrückt, in dem ein normales Kind einen bestimmten Wert erreichte. Dieses Maß wurde als Intelligenzalter bezeichnet. Wenn beispielsweise das Testergebnis eines Kindes dem Durchschnittswert einer Gruppe von Fünfjährigen entsprach, wurde dem Kind ein Intelligenzalter von fünf Jahren zugesprochen, unabhängig von seinem Lebensalter – der seit der Geburt verstrichenen Zeit. Die erfolgreiche Entwicklung eines Intelligenztests durch Binet hatte großen Einfluss auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Eine einzigartige Kombination historischer Ereignisse und soziopolitischer Kräfte hatte die Vereinigten Staaten von Amerika für ein explosionsartiges Wachstum der Nachfrage nach einer
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Messung geistiger Fähigkeiten vorbereitet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten ein Land im Umbruch. In Folge globaler ökonomischer, sozialer und politischer Bedingungen kamen Millionen von Immigranten ins Land. Infolge neuer Gesetze zur allgemeinen Schulbildung wurden die Schulen mit Schülern überflutet. Eine Form der Diagnostik war nötig, um Immigranten und Schulkinder hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zu identifizieren, zu dokumentieren und zu klassifizieren (Chapman, 1988). Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs marschierten Tausende in die Rekrutierungsbüros. Die zuständigen Beamten mussten festlegen, welche dieser vielen Menschen schnell lernen konnten und von speziellen Trainingsverfahren für Offiziere profitieren würden. Neue, nonverbale Tests zur Erfassung geistiger Fähigkeiten, die in Gruppen vorgegeben werden konnten, wurden eingesetzt, um 1,7 Millionen Rekruten zu beurteilen. Eine Gruppe bekannter Psychologen, darunter Lewis Terman, Edward Thorndike und Robert Yerkes, reagierte auf den nationalen Notfall und entwarf diese Tests in nur einem Monat (Lennon, 1985). In der Folge dieses groß angelegten Testprogramms begann die amerikanische Öffentlichkeit, die Idee zu akzeptieren, dass Intelligenztests in Hinblick auf Führungsstärke und andere sozial wichtige Eigenschaften zwischen Personen unterscheiden konnten. Diese Akzeptanz führte dazu, dass Tests in Schulen und in der Industrie flächendeckend eingesetzt wurden. Diagnostik galt als ein Weg, Ordnung in eine chaotische Gesellschaft zu bringen und als kostengünstige, demokratische Methode, um diejenigen, die von Schulbildung und militärischen Trainingsverfahren für Offiziere profitieren konnten, von jenen zu trennen, bei denen dies nicht der Fall war. Um den großflächigen Einsatz von Intelligenztests zu erleichtern, bemühten sich die Forscher um die Entwicklung von Testverfahren mit breiterem Anwendungsbereich.
9.2.2 IQ-Tests Obwohl Binet in Frankreich mit der standardisierten Diagnostik intellektueller Fähigkeiten begonnen hatte, übernahmen amerikanische Psychologen bald die Führung. Sie verbesserten den problematischen Vergleich zwischen Lebensalter und Intelligenzalter bei Binet durch die Verwendung des IQ, des Intelligenzquotienten. Der IQ ist ein numerisches, standardisiertes Maß der Intelligenz. Zwei Gruppen von IQ-Tests werden heute vielfach eingesetzt: die Stanford-BinetSkalen und die Wechsler-Skalen.
9.2 Intelligenzdiagnostik
Die Stanford-Binet-Intelligenzskala
zum Lebensalter definiert – multipliziert mit 100, um Nachkommastellen zu vermeiden:
Lewis Terman von der Universität Stanford, der früher Rektor an einer Schule gewesen war, wusste die Bedeutung von Binets Methode der Intelligenzmessung zu schätzen. Er passte Binets Testfragen für amerikanische Schulkinder an, standardisierte die Vorgaben des Tests und entwickelte Normen für verschiedene Altersstufen, indem er den Test Tausenden von Kindern vorlegte. 1916 veröffentlichte er die „Stanford Revision of the Binet Tests“, die im Allgemeinen als Stanford-Binet-Intelligenzskala bezeichnet wird (Terman, 1916). Mit seinem neuen Test schuf Terman die Grundlage für das Konzept des Intelligenzquotienten oder IQ in seiner heutigen Verwendung als Abweichungsquotient. Erstmals wurde der Begriff des Intelligenzquotienten von dem deutschen Psychologen William Stern (1912) geprägt und als Verhältnis des Intelligenzalters
IQ = Intelligenzalter / Lebensalter x 100 Ein Kind mit einem Lebensalter von acht Jahren, dessen Testergebnisse ein Intelligenzalter von zehn Jahren ergaben, besaß einen IQ von 125 (10 / 8 • 100 = 125). Ein gleichaltriges Kind, dessen Leistung einem sechsjährigen Kind entsprach, besaß einen IQ von 75 (6 / 8 • 100 = 75). Individuen, deren Leistung ihrem Lebensalter entsprach, besaßen einen IQ von 100. Der Wert 100 galt also als durchschnittlicher IQ. Der neue Stanford-Binet-Test wurde bald zum Standardinstrument in der klinischen Psychologie, in der Psychiatrie und bei der Schulberatung. Der StanfordBinet-Test enthält eine Reihe von Untertests, die jeweils auf ein bestimmtes Alter zugeschnitten sind. Seit seiner Einführung wurde der Test mehrfach überarbeitet (Terman & Merrill, 1937, 1960, 1972; Thorndike et
Tabelle 9.1
Fragen und Aufgaben ähnlich denen aus dem HAWIE-R
Verbalteil Allgemeines Wissen
Wie heißt die Hauptstadt von Italien?
Allgemeines Verständnis
Was bedeutet das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“?
Rechnerisches Denken
Wenn Sie 7,30 Euro für eine Kinokarte und 2,25 Euro für ein Getränk bezahlt haben, wie viel bleibt Ihnen dann von einem 20-Euro-Schein übrig?
Gemeinsamkeiten finden
Was ist das Gemeinsame an Flugzeugen und U-Booten?
Zahlenspanne
Eine zunehmend längere Zahlenfolge (zum Beispiel 3 2 7 5 9) wird einmal vorgesprochen und soll vorwärts oder rückwärts wiederholt werden.
Wortschatz
Was bedeutet „kooperieren“?
Handlungsteil Zahlen-Symbol-Test
Der Testleiter gibt einen Schlüssel vor, anhand dessen Zahlen (zum Beispiel 1, 2, 3) Symbolen (zum Beispiel F, Q, ) zugeordnet werden. Der Proband benutzt diesen Schlüssel, um eine Tabelle zu vervollständigen, in der nur Zahlen oder Symbole angegeben sind.
Bildergänzen
Der Proband muss angeben, was auf einem vorgelegten Bild fehlt (beispielsweise ein Pferd ohne Mähne).
Mosaiktest
Vorgegebene Muster müssen mit farbigen Würfeln nachgelegt werden.
Bilderordnen
Mehrere comicartige Bilder müssen so in eine Reihe gebracht werden, dass sie eine Geschichte erzählen.
Figurenlegen
Mehrere Puzzleteile müssen zu einem bekannten Objekt zusammengefügt werden.
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al., 1986). Mit diesen Überarbeitungen wurde der Test auch auf die IQ-Bestimmung bei sehr kleinen Kindern und hochintelligenten Erwachsenen ausgedehnt. Außerdem haben die Überarbeitungen verbesserte Normen für altersbezogene Durchschnittswerte eingeführt. Die neueste, fünfte Ausgabe des StanfordBinet-Tests liefert IQ-Schätzungen für durchschnittlich intelligente Menschen ebenso wie für intelligenzgeminderte und hochbegabte (Roid, 2003). Die Wechsler-Intelligenzskalen David Wechsler vom Bellevue Krankenhaus in New York machte sich daran, bei der Diagnostik der Intelligenz Erwachsener die Abhängigkeit von verbalen Items zu verringern. 1939 veröffentlichte er die WechslerBellevue-Intelligenzskala, die verbale Untertests mit nichtverbalen, handlungsbezogenen Untertests kombinierte. Dadurch wurde neben der Gesamtintelligenz, dem IQ, auch noch die Angabe eines Verbal-IQ und eines Handlungs-IQ möglich. Infolge einiger Veränderungen wurde der Test dann 1955 umbenannt in Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS, deutsche Adaption: HamburgWechsler-Intelligenztest für Erwachsene, HAWIE). Heute gilt die Version HAWIE-R (Wechsler, 1997). Der HAWIE-R hat 14 Untertests, die verbale und Handlungsaspekte des IQ abdecken. Tabelle 9.1 gibt einige Beispiele für die Fragen, die man hier vorfindet. Die verbalen Untertests behandeln Bereiche wie Wortschatz und Verständnis. Die Handlungsuntertests befassen sich mit der Handhabung von Gegenständen und haben wenig oder keinen verbalen Inhalt. Wenn Sie sich dem HAWIE-R-Test unterziehen sollten, müssten Sie alle Untertests absolvieren und erhielten dann drei Bewertungen: einen verbalen IQ, einen Handlungs-IQ und einen Gesamt-IQ. Der HAWIE-R ist für Personen ab 16 Jahren (der WAIS-R ab 18 Jahren) konstruiert, für Kinder wurden ähnliche Tests entwickelt ( Abbildung 9.1). Die Wechsler Intelligence Scale for Children – Fourth Edition (WISC-IV; Wechsler, 2003, deutsch: HamburgWechsler-Intelligenztest für Kinder – IV, HAWIK-IV, von 2007) eignet sich für Kinder von sechs Jahren bis zu 16 Jahren und elf Monaten, und die Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – Third Edition (WPPSI-III; Wechsler, 2002, deutsch: HannoverWechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter – III, HAWIVA-III) für Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren (beziehungsweise beim HAWIVA-III von zwei Jahren und sechs Monaten bis sieben Jahren und drei Monaten). In den jüngsten Revisionen dieser beiden Tests wurden die Materialien farbiger gestaltet, aktua-
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Abbildung 9.1: Intelligenztest. Eine Psychologin führt mit einem vierjährigen Kind einen Intelligenztest durch. Der Handlungsteil des Tests umfasst einen Mosaiktest, Bildergänzen und Formenerkennen. Warum ist der Handlungsteil eine wichtige Komponente der Intelligenzdiagnostik? lisiert und unterhaltsamer gemacht. Beide Tests haben sich als reliabel und valide erwiesen. Der HAWIE-R, der HAWIK-III und der HAWIVA-III bilden eine Gruppe von Intelligenztests, welche die Ermittlung eines Verbal-IQ, eines Handlungs-IQ und eines Gesamt-IQ für alle Altersgruppen möglich machen. Darüber hinaus erlauben die vergleichbaren Untertests die Beobachtung der Entwicklung spezifischerer intellektueller Fähigkeiten über einen längeren Zeitraum hinweg. Daher sind die Wechsler-Tests besonders nützlich, wenn dieselbe Person immer wieder untersucht wird – beispielsweise wenn die Fortschritte eines Kindes beobachtet werden, das unterschiedliche pädagogische Fördermaßnahmen durchläuft.
9.2.3 Außergewöhnlich hohe oder niedrige Intelligenz Heutzutage werden IQ-Werte nicht mehr als Division des Intelligenzalters durch das Lebensalter berechnet. Wenn Sie heute einen IQ-Test machen, werden Ihre Punkte zusammengezählt und direkt mit der Gesamtpunktzahl anderer Personen Ihres Alters verglichen.
9.2 Intelligenzdiagnostik
Ein IQ von 100 Punkten gilt als „durchschnittlich“ und besagt, dass 50 Prozent der Menschen Ihres Alters niedrigere und 50 Prozent höhere Punktzahlen erreicht haben ( Abbildung 9.2). Werte zwischen 90 und 110 werden heutzutage als „normal“ bezeichnet. In diesem Abschnitt wenden wir uns denjenigen Menschen zu, deren IQ-Werte unter beziehungsweise über diesem Bereich liegen. Intelligenzminderung und Lernschwächen Wenn Erwachsene valide IQ-Werte von unter 70 erzielen, erfüllen sie ein Kriterium für die Diagnose einer Intelligenzminderung (nach ICD-Klassifikation) beziehungsweise einer geistigen Behinderung (nach DSMKlassifikation). Wie Tabelle 9.2 jedoch zeigt, sind für die Diagnose einer geistigen Behinderung auch noch eingeschränkte Fähigkeiten in der sozialen An-
passungsfähigkeit – der altersgemäßen Erfüllung der sozialen Normen ihres Umfeldes – notwendig (Amerikanische Gesellschaft für Minderbegabung [AAMR], 1992). Früher wurden allein IQ-Werte benutzt, um „leichte“, „mittelschwere“, „schwere“ oder „schwerste“ Intelligenzminderungen zu klassifizieren (Abbildung 9.2). Die gegenwärtige Betonung adaptiver Fähigkeiten hat jedoch dazu geführt, dass diese Terminologie zugunsten präziserer Beschreibungen aufgegeben oder um weitere und zusätzliche diagnostische Kriterien erweitert wurde. Heute spricht man beispielsweise von „Patienten mit geistiger Behinderung, die im Bereich ihrer sozialen Fertigkeiten und Selbststeuerung umfangreiche Hilfe benötigen“ oder „Patienten mit Intelligenzminderung, die in den Bereichen Kommunikation und soziale Fertigkeiten in begrenztem Umfang auf Hilfe angewiesen sind“ (AAMR, 1992, S. 34).
Tabelle 9.2
Die Diagnose von Intelligenzminderung beziehungsweise geistiger Behinderung In den beiden in Deutschland am häufigsten herangezogenen Diagnose-Manualen werden die Diagnosekriterien wie folgt beschrieben: Nach dem ICD-10 (S. 255 f.) wird Intelligenzminderung (in einer der in Abbildung 9.2 genannten Ausprägungen) dann diagnostiziert, wenn der IQ einer Person unter 70 beträgt. Weiter heißt es: „Für die endgültige Diagnose muss ein vermindertes Intelligenzniveau mit der Folge der erschwerten Anpassung an die Anforderungen des alltäglichen Lebens bestehen. … Leicht intelligenzgeminderte Personen erwerben Sprache verzögert, jedoch meist mit einem für die täglichen Anforderungen, für eine normale Konversation und für ein klinisches Interview ausreichendem Umfang. Die meisten dieser Personen erlangen eine volle Unabhängigkeit in der Selbstversorgung (Essen, Waschen, Anziehen, Darm- und Blasenkontrolle) und in praktischen und häuslichen Tätigkeiten, wenn auch das Entwicklungstempo deutlich langsamer ist als normalerweise üblich. Die Hauptschwierigkeiten treten bei der Schulausbildung auf, viele Betroffene haben besondere Probleme beim Lesen und Schreiben. … Die Mehrzahl der in den oberen Bereichen der leichten Intelligenzminderung Eingestuften ist für eine Arbeit anlernbar, die eher praktische als schulische Fähigkeiten, einschließlich ungelernter oder angelernter Handarbeit, verlangt.“ Nach dem DSM-IV-TR werden in ähnlicher Weise drei Kriteriengruppen für die Diagnose der dort „geistige Behinderung“ genannten Klassifikation genannt (S. 81): A. Deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit: ein IQ von ca. 70 oder weniger bei einem individuell durchgeführten Intelligenztest (bei Kleinkindern durch eine klinische Beurteilung der deutlich unterdurchschnittlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit). B. Gleichzeitig Defizite oder Beeinträchtigung der gegenwärtigen sozialen Anpassungsfähigkeit (das heißt der Fähigkeit einer Person, die sozialen Normen ihres Umfelds altersgemäß zu erfüllen) in mindestens zwei der folgenden Bereiche: Kommunikation, Eigenständigkeit, häusliches Leben, soziale/zwischenmenschliche Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmtheit, schulische Fertigkeiten, Arbeit, Freizeit, Gesundheit sowie Sicherheit. C. Der Beginn der Störung liegt vor Vollendung des 18. Lebensjahres.
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Abbildung 9.2: Verteilung der IQ-Werte bei einer großen Stichprobe. IQ-Werte werden so normiert, dass ein Wert von 100 dem Populationsdurchschnitt entspricht (gleich viele Personen liegen über 100 und unter 100). Werte zwischen 90 und 110 werden als normal bezeichnet. Werte über 120 werden als überdurchschnittlich oder weit überdurchschnittlich bezeichnet; Werte unter 70 weisen auf steigende Grade geistiger Behinderung hin. Geistige Behinderung kann von unterschiedlichen genetischen und Umweltfaktoren verursacht werden. So haben etwa Menschen, die am Down-Syndrom – einer von zusätzlichem genetischem Material auf dem 21. Chromosom verursachten Krankheit – leiden, oft einen niedrigen IQ. Eine weitere Erbkrankheit, die so genannte Phenylketonurie (PKU), wirkt sich ebenfalls potenziell negativ auf den IQ aus (Gassió et al., 2005). Wenn PKU allerdings bereits in der Kindheit diagnostiziert wird, können die Betroffenen die negativen Effekte durch eine strikte Diät kontrollieren. Familienstudien zeigen, dass Vererbung wahrscheinlich nur in dem Bereich eine Rolle spielt, der früher als „leicht zurückgeblieben“ bezeichnet worden wäre (Plomin & Spinath, 2004). Schwerere Formen geistiger Behinderung scheinen durch das Auftreten spontaner genetischer Veränderungen in der Entwicklung eines Menschen verursacht zu werden, die nicht erblich sind. Die oft entscheidende Umgebung für geistige Behinderung ist die pränatale. Schwangere, die sich Krankheiten wie etwa Röteln oder Syphilis zuziehen, riskieren eine geistige Behinderung ihres Kindes. Der Konsum von Alkohol oder anderen Drogen durch Schwangere, besonders in den Anfangswochen der Schwangerschaft, erhöht ebenfalls die Wahrscheinlichkeit, Kinder mit kognitiven Defiziten zu gebären (Mattson et al., 2001). Früher wurden Menschen mit geistiger Behinderung fast vollständig in separaten Einrichtungen erzogen – soweit sie überhaupt Schulbildung erhielten. Weil sich allerdings die Anzeichen häuften, dass diese getrennten Programme nicht effektiv waren, verabschiedete die US-Regierung ein Gesetz, das vorschreibt, dass behinderte Schüler so weit wie möglich die Regelschule besuchen (Williamson et al., 2006). Das Gesetz berücksichtigt zwar, dass manche Grade
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der Behinderung immer noch den Besuch separater Institutionen verlangen, aber ungefähr 45 Prozent der als geistig zurückgeblieben diagnostizierten Schüler verbringen zumindest einen Teil des Schultages gemeinsam mit ihren Altersgenossen in einer Klasse. Der IQ gibt allgemeine Informationen darüber, welche Leistungen jemand – unter Berücksichtigung altersbezogener Normen – bei verschiedenen verbalen und nichtverbalen Aufgaben erbringen kann. In manchen Fällen besteht Anlass zur Sorge, wenn der ermittelte IQ und die tatsächlichen Leistungen nicht übereinstimmen. Wenn dieser Unterschied groß genug ist, besteht der Verdacht auf eine Lernbehinderung. Bevor eine Lernbehinderung allerdings klinisch diagnostiziert wird, müssen die Ärzte zunächst andere Faktoren ausschließen, die zu schlechten Leistungen führen können, etwa geringe Motivation, schlechte Unterrichtsqualität oder physische Probleme (zum Beispiel Sehbehinderungen). Viele Schulen bieten Schülern mit Lernbehinderungen besondere Hilfsprogramme an. Hochbegabung Menschen werden gewöhnlich als hochbegabt bezeichnet, wenn ihr IQ mehr als 130 beträgt. Wie auch bei der Definition geistiger Behinderung haben Forscher allerdings zu bedenken gegeben, dass der Begriff der Hochbegabung möglicherweise nicht ausschließlich über den IQ definiert werden kann. So hat sich zum Beispiel Joseph Renzulli (2005) für eine „DreiKreis“-Konzeption der Hochbegabung ausgesprochen, in der diese über Fähigkeit, Kreativität und Zielstrebigkeit (task commitment) definiert wird. Damit könnten auch Menschen als hochbegabt bezeichnet werden, die zwar überdurchschnittlich, aber nicht überragend intelligent sind. Zusätzlich müssen sie al-
9.3 Intelligenztheorien
lerdings große Kreativität und Beharrlichkeit in der Beschäftigung mit bestimmten Aufgaben oder Tätigkeitsbereichen beweisen. Diese erweiterte Definition der Hochbegabung erklärt, warum Menschen oft nicht im gesamten akademischen Spektrum gleiche Begabung zeigen (Winner, 2000). Fähigkeiten, Kreativität und Zielstrebigkeit können zum Beispiel zwischen verbalen und mathematischen Aufgabenbereichen variieren. Welche Eigenschaften zeigen hochbegabte Kinder im Allgemeinen? Die formale Forschung an begabten Kindern hat ihren Ursprung 1921, als Lewis Terman (1925) eine Langzeitstudie mit einer Gruppe von über 1.500 Jungen und Mädchen begann, die zu dem einen Prozent der Besten ihrer Schule gehörten. Diese Gruppe wurde bis in ihr neuntes Lebensjahrzehnt hinein beobachtet (Holahan & Sears, 1995). Terman und seine Nachfolger wollten sehen, wie der Lebensweg dieser Kinder verlief. Die Fragen, die Terman damals stellte, bestimmen immer noch den Lauf der Forschung. So untersuchte Terman etwa die verbreitete Ansicht, dass begabte Kinder Schwierigkeiten in der sozialen und emotionalen Anpassung an die Umgebung haben. Er kam zum genau gegenteiligen Ergebnis: Die Mitglieder seiner Gruppe kamen besser zurecht als weniger begabte Gleichaltrige. Neuere Studien deuten allerdings darauf hin, dass begabte Kinder introvertierter sind als ihre Altersgenossen (Sak, 2004). Diese Ausrichtung auf ihre Innenwelt stützt teilweise die Zielstrebigkeit, die zur Definition der Hochbegabung gehört. Hochbegabte Schüler nehmen aber immer noch in ausreichendem Maß an schulischen Aktivitäten teil. So nannten etwa 230 Teilnehmer an einem Sommerprogramm für Hochbegabte Sport als ihre häufigste freiwillige außerschulische Aktivität (Olszewski-Kubilius & Lee, 2004). Sie beteiligten sich außerdem an zahlreichen akademischen Clubs und Wettbewerben, besonders oft an mathematischen. Terman stellte auch fest, dass die Kinder im Leben im Großen und Ganzen erfolgreich waren. Das überrascht nicht, weil, wie wir später in diesem Kapitel feststellen werden, der IQ einen guten Prädiktor für beruflichen Status und die Einkommenshöhe abgibt. Worum man sich bei Hochbegabten sorgen muss, ist nicht, ob sie erfolgreich sein werden. Es geht vielmehr darum, dass sie oft keine ausreichende schulische Unterstützung erhalten, um ihre Begabungen voll zu entwickeln (Sternberg & Grigorenko, 2003; Winner, 2000). Wenn Hochbegabung als ein multidimensionales Konstrukt anerkannt wird, dann muss die schulische Erziehung solcher Kinder auch flexibel genug sein, um ihre individuellen Talente zu fördern.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Maße wurden ursprünglich zur Berechnung
des Intelligenzquotienten benutzt? 2 Welche zwei Arten von Untertests erscheinen im Intel-
ligenztest HAWIE-R? 3 Wie hat sich die Diagnostik der geistigen Behinderung
in den letzten 20 Jahren verändert? 4
Durch welche Dimensionen wird Hochbegabung in der „Drei-Kreis“-Konzeption definiert?
Intelligenztheorien
9.3
Bisher haben wir uns mit einigen Möglichkeiten beschäftigt, wie Intelligenz gemessen werden kann. Sie sind jetzt in der Lage, sich folgende Fragen zu stellen: Erfassen diese Tests alles, was mit dem Wort Intelligenz gemeint ist? Erfassen diese Tests alle Fähigkeiten, die Ihrer Meinung nach Ihre Intelligenz ausmachen? Um Ihnen bei der Abwägung dieser Fragen zu helfen, stellen wir jetzt einige Intelligenztheorien vor. Stellen Sie sich bei der Lektüre jeder Theorie die Frage, ob ihre Befürworter mit dem IQ als Maß der Intelligenz zufrieden wären.
9.3.1 Psychometrische Intelligenztheorien Psychometrische Intelligenztheorien entstanden im selben philosophischen Dunstkreis, in dem auch die IQ-Tests entstanden. Die Psychometrie ist das Gebiet der Psychologie, das sich mit dem Testen mentaler Fähigkeiten befasst. Darin eingeschlossen sind die Persönlichkeitsdiagnostik, Intelligenzdiagnostik und Eignungsprüfungen. Insofern sind psychometrische Ansätze eng mit den Testmethoden verwandt. Diese Theorien untersuchen statistische Beziehungen zwischen den verschiedenen Maßen geistiger Fähigkeit, wie beispielsweise den 14 Untertests des HAWIE. Auf der Basis dieser Beziehungen werden dann Schlussfolgerungen über die Beschaffenheit der menschlichen Intelligenz gezogen. Die am häufigsten verwendete Technik ist die Faktorenanalyse, ein statistisches Verfahren, das eine kleinere Zahl von Faktoren aus einer größeren Menge unabhängiger Variablen extrahiert. Ziel der Faktorenanalyse ist es, die grundlegenden psychologischen Dimensionen des untersuchten Konstrukts zu identifizieren. Es versteht sich von selbst,
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Abbildung 9.3: Die Grundlagen allgemeiner Intelligenz im Gehirn. Nachdem sie den WAIS-Test (vergleichbar HAWIE-R) zur Messung der allgemeinen Intelligenz abgeschlossen hatten, wurden MRT-Scans an den Probanden durchgeführt, um die Struktur ihrer Gehirne abzubilden. Die eingefärbten Bereiche sind Areale, in denen Menschen mit hoher allgemeiner Intelligenz vergleichsweise mehr Hirngewebe hatten. dass ein statistisches Verfahren nur statistische Regelmäßigkeiten identifizieren kann; es ist Aufgabe des Psychologen, Interpretationen dieser Regelmäßigkeiten vorzuschlagen und zu belegen. Die Anwendung der Faktorenanalyse auf das Forschungsgebiet der Intelligenz durch Charles Spearman war eine der ersten und einflussreichsten. Spearman fand heraus, dass die Leistungen von Personen in jeweils verschiedenen Intelligenztests hoch miteinander korrelierten. Er zog aus diesem Muster den Schluss, dass es einen Faktor allgemeiner Intelligenz gibt, den
Abbildung 9.4: Das Intelligenzstrukturmodell. In seinem Intelligenzstrukturmodell spezifizierte Guilford drei Eigenschaften geistiger Aufgaben: (1) den Inhalt – oder die Art der Information; (2) das Produkt – oder die Form, in der die Information repräsentiert wird; und (3) die Operation – oder die Art der durchgeführten geistigen Handlung. Jede Aufgabe, die vom „Intellekt“ durchgeführt wird, kann anhand der beteiligten Inhalte, Produkte und Operationen identifiziert werden. Beispielsweise würde ein Wortschatztest die Fähigkeit zur Kognition mit semantischen Einheiten erfassen.
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so genannten g-Faktor oder Generalfaktor der Intelligenz, der jeder Intelligenzleistung zugrunde liegt (Spearman, 1927). Mit jedem einzelnen Bereich sind spezielle Fähigkeiten verbunden, die Spearman als s-Faktoren bezeichnete. Zum Beispiel hängt die Leistung in einem Wortschatztest oder einem Rechentest sowohl von der allgemeinen Intelligenz als auch von bereichsspezifischen Fähigkeiten ab. Forscher haben MRT-Scans benutzt, um die Basis des g-Faktors im Gehirn zu identifizieren. Abbildung 9.3 zeigt einige der Hirnareale, in denen Menschen mit hoher allgemeiner Intelligenz mehr Hirngewebe als Menschen mit niedriger allgemeiner Intelligenz aufwiesen (Haier et al., 2004). Raymond Cattell (1963) stellte unter Verwendung fortschrittlicherer faktorenanalytischer Techniken fest, dass sich allgemeine Intelligenz in zwei relativ unabhängige Komponenten zerlegen lässt, die er als kristalline und fluide Intelligenz bezeichnete. Kristalline Intelligenz umfasst das Wissen, das eine Person erworben hat, sowie die Fähigkeit, auf dieses Wissen zuzugreifen; man misst sie mit Wortschatztests, Rechentests und Allgemeinwissentests. Fluide Intelligenz ist die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und Probleme zu lösen; sie wird mit Matrizenaufgaben und räumlichen Anordnungen bemes-
9.3 Intelligenztheorien
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Diagnostik im World Wide Web?
Nach der Lektüre eines Kapitels zur Intelligenz interessieren sich Studierende oft dafür, wie sie selbst in einem IQ-Test abschneiden würden. Heutzutage ist es recht einfach, irgendeine Webseite anzusteuern, sich durch einen Test zu klicken und irgendeinen IQ-Wert zu erhalten. Haben die so gewonnenen Zahlen irgendeine reale Bedeutung? Wir werden die Frage anhand einer Wiederholung der in diesem Kapitel eingeführten Konzepte beantworten. Für unsere Analyse benötigten wir ein paar Daten, und deshalb haben wir einen Freund, wir nennen ihn Poindexter, gebeten, online ein paar Intelligenztests zu machen. Die erste Seite, die er besuchte, bot vier Tests an, was uns die Gelegenheit gab, die Reliabilität einzuschätzen. Sie werden sich erinnern, dass es bei der Reliabilität um Konsistenz geht: Liefert jeder Test, der vorgibt, das Gleiche zu messen, auch beinahe den gleichen Wert? Tatsächlich erhielt Poindexter folgende vier Werte: 116, 117, 129 und 130. Wenn Sie zu Abbildung 9.2 zurückblättern, werden Sie sehen, dass diese Werte darauf hinweisen, dass Poindexter überdurchschnittlich intelligent ist (wie schön für Poindexter), aber zwei Ergebnisse würden ihn als „leicht überdurchschnittlich“ kategorisieren und zwei Ergebnisse platzieren ihn an die Grenze zwischen „überdurchschnittlich“ und „weit überdurchschnittlich“. Diese angeblichen IQ-Tests sind nicht sehr reliabel. Wenn die Tests nicht reliabel sind, können sie auch nicht valide sein. Aber nehmen wir einmal an, sie wären reliabel. Warum würden wir uns trotzdem noch Gedanken um ihre Validität machen: Inwiefern messen die Tests, was sie messen sollen? Die IQWerte der Seite, die Poindexter besuchte, wurden berechnet, indem seine Leistung (Anzahl richtiger Lösungen bei 20 Fragen) mit der Leistung der Personen verglichen wurde, die vor ihm diese Seite be-
sen, die logische Schlussfolgerungen erfordern und bei denen die für die Lösung notwendigen Hintergrundinformationen bereits in der Aufgabendarstellung enthalten oder leicht zu erschließen sind. Kristalline Intelligenz befähigt einen Menschen dazu, gut mit den wiederkehrenden und konkreten Herausforderungen des Lebens fertig zu werden. Fluide Intelligenz befähigt einen Menschen dazu, neue und abstrakte Probleme in Angriff zu nehmen. J. P. Guilford (1961) benutzte die Faktorenanalyse zur Untersuchung der Anforderungen vieler Aufga-
sucht hatten. Die Seite schätzt den IQ, indem sie eine glockenförmige Verteilung der IQ-Werte annimmt. Ist Ihnen klar, wo hier die Probleme liegen? Zum einen gibt es keinen Grund anzunehmen, die Personen, die diese Seite besuchen, hätten im Durchschnitt (bei einem traditionellen, reliablen Offline-Test) einen IQ von 100, wie das der Fall sein müsste. Könnte nicht der Personenkreis, der wahrscheinlich einen IQ-Test im Netz macht, einer Selbstselektion unterliegen? Zum anderen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass alle Teilnehmer den Test unter gleichen Bedingungen bearbeitet haben. Die Tests stützen sich zum Teil auf Wortschatz-Fragen. Wie können wir sicher sein, dass niemand ein griffbereites Lexikon benutzt hat (oder ein Online-Lexikon), um seine Werte zu verbessern? („Schau, Mama, ich hab dir doch immer gesagt, ich bin ein Genie!“) Das World Wide Web bietet Ihnen eine Vielzahl von Gelegenheiten, Ihren IQ oder andere Leistungsund Persönlichkeitsmerkmale zu messen. Sie sollten das in diesem Kapitel erworbene Wissen für Ihre eigene, sorgfältige Beurteilung der Reliabilität und Validität aller Testergebnisse nutzen, die Sie im Netz erhalten. Poindexter ist inzwischen so etwas wie ein Online-IQ-Süchtiger geworden. Sein bisher bestes Ergebnis waren 159 Punkte bei einem „Europäischen IQTest“. Poindexter ist überzeugt, dass 159 ein valides Maß seines IQ ist. Sind Sie auch davon überzeugt?
Wie könnten Sie außer durch den Vergleich der Gesamtergebnisse verschiedene IQ-Tests im Internet in Bezug auf deren Zuverlässigkeit noch vergleichen? Wie könnte man die Bedingungen für IQ-Tests im Internet standardisieren?
ben, die mit Intelligenz in Beziehung stehen. Sein Intelligenzstrukturmodell spezifiziert drei Eigenschaften von Intelligenzaufgaben: (1) den Inhalt – oder die Art der Information; (2) das Produkt – oder die Form, in der die Information repräsentiert wird, und (3) die Operation – oder die Art der ausgeführten geistigen Aktivität. Wie Abbildung 9.4 zeigt, gibt es in diesem Modell fünf unterschiedliche Inhalte: visuell, auditorisch, symbolisch, semantisch und behavioral; sechs Arten von Produkten: Einheiten, Klassen, Beziehungen, Sys-
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teme, Transformationen und Implikationen; und fünf Arten von Operationen: Evaluation, konvergente Produktion, divergente Produktion, Gedächtnis und Kognition. Jeder Informationsverarbeitungsprozess kann anhand der beteiligten Inhalte, Produkte und Operationen identifiziert werden. Guilford nimmt ferner an, dass jede Kombination aus Inhalt, Produkt und Operation (jeder kleine Würfel innerhalb des Modells) eine eigene, umgrenzte geistige Fähigkeit repräsentiert. Zum Beispiel würde, wie Abbildung 9.4 zeigt, ein Wortschatztest die Fähigkeit zur Kognition mit Einheiten semantischen Inhalts erfassen. Eine Schrittfolge beim Tanzen erfordert dagegen Gedächtnis für behaviorale Systeme. Dieses theoretische Modell ist mit dem Periodensystem der Elemente eines Chemikers zu vergleichen. Anhand eines solchen systematischen Rahmens können geistige Faktoren, wie chemische Elemente, postuliert werden, bevor sie entdeckt werden. Als Guilford sein Modell 1961 aufstellte, waren etwa 40 geistige Aktivitäten bekannt. Mittlerweile wurden über 100 von Forschern nachgewiesen, was die prädiktive Validität von Guilfords Intelligenzkonzept belegt (Guilford, 1985). Seit den Arbeiten Guilfords haben viele Psychologen ihr Verständnis des Intelligenzbegriffs erweitert, so dass es weitaus mehr als die Leistung in traditionellen IQ-Tests umfasst. Wir betrachten jetzt zwei Theorien näher, die über den IQ hinausgehen.
9.3.2 Sternbergs triarchische Intelligenztheorie Im Rahmen seiner allgemeineren Intelligenztheorie betont auch Robert Sternberg (1999) die Bedeutung von kognitiven Prozessen, die an der Lösung von Problemen beteiligt sind. Sternberg beschreibt eine triarchische – dreiteilige – Theorie. Seine drei Arten von Intelligenz – analytische, kreative und praktische – repräsentieren jeweils unterschiedliche Wege zur Charakterisierung effizienter Leistung. Analytische Intelligenz liefert die grundlegenden informationsverarbeitenden Fähigkeiten, mit denen man die Aufgaben des Alltags bewältigt. Diese Art von Intelligenz ist durch die Komponenten oder geistigen Prozesse definiert, die dem Denken und Problemlösen zu Grunde liegen. Sternberg nennt drei Arten von Komponenten, die bei der Informationsverarbeitung entscheidend sind: (1) Wissenserwerbskomponenten, um neue Fakten zu lernen; (2) Ausführungskomponenten (Performanzkomponenten) für Strategien und
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Techniken des Problemlösens; und (3) metakognitive Komponenten zur Auswahl von Strategien und Überwachung von Fortschritten auf die Lösung hin. Um die Komponenten Ihrer Intelligenz zum Einsatz zu bringen, würden wir Sie bitten, sich an der Aufgabe in Tabelle 9.3 zu versuchen. Wie gut waren Sie bei den Anagrammen? Um Sie zu lösen, brauchten Sie vor allem Performanz-Komponenten und metakognitive Komponenten. Die Performanz-Komponenten erlaubten Ihnen, die Buchstaben im Geist zu manipulieren; die metakognitiven Komponenten erlaubten Ihnen, anhand von Lösungsstrategien vorzugehen. Wie haben Sie beispielsweise R-I-TD-S-E geistig in DREIST umgewandelt? Es ist eine gute Strategie, mit Konsonantengruppen zu beginnen, die im Deutschen wahrscheinlich sind, wie etwa S-T. Die Auswahl von Strategien erfordert metakognitive Komponenten, ihre Ausführung erfordert Performanz-Komponenten. Man muss allerdings beachten, dass auch gute Strategien manchmal versagen. Beispielsweise wird C-E-S-T-H-P dadurch für viele Menschen schwie-
Tabelle 9.3
Der Einsatz der analytischen Intelligenz Bei den folgenden Buchstabenfolgen handelt es sich um Anagramme, Buchstabenfolgen, die aus Wörtern durch Vertauschung einzelner Buchstaben gewonnen wurden. Versuchen Sie so schnell wie möglich, eine Lösung – das entsprechende Wort – zu finden (Sternberg, 1986). 1. A-N-U-B-R ____________________________ 2. M-R-U-M-K ___________________________ 3. B-E-R-H-S-T ___________________________ 4. R-I-T-D-S-E ____________________________ 5. G-W-R-Z-E ____________________________ 6. C-E-S-T-H-P ___________________________ 7. T-P-O-S-R _____________________________ 8. U-M-F-T-R-P __________________________ 9. L-E-B-C-H-I ___________________________ 10. S-B-R-E-K _____________________________ Die Lösungen finden Sie am Ende des Kapitels.
9.3 Intelligenztheorien
rig, dass die Kombination S-P weitaus weniger wahrscheinlich am Wortanfang steht als die Kombination S-C-H oder S-T. Haben Sie dieses Anagramm eine Weile betrachtet und versucht, es in ein Wort zu verwandeln, das mit S-C-H beginnt? Dadurch, dass die unterschiedlichen Aufgaben in ihre jeweiligen Bestandteile zerlegt werden, können Forscher die Prozesse genau identifizieren, die bei Personen mit unterschiedlichem IQ für die Leistungsunterschiede verantwortlich sind. Man könnte beispielsweise feststellen, dass Personen mit hohem IQ im Vergleich zu Menschen mit niedrigerem IQ mithilfe ihrer metakognitiven Komponenten andere Strategien zur Lösung eines bestimmten Problems auswählen. Dieser Unterschied in der Auswahl der Strategie wäre also für den größeren Erfolg verantwortlich, den Personen mit hohem IQ bei der Lösung von Problemen haben. Kreative Intelligenz erfasst die Fähigkeit, mit zwei Extremen umzugehen: neue Aufgaben versus Routineaufgaben. Angenommen, eine Personengruppe wäre nach einem Unfall an einem unbekannten Ort gelandet. In diesem Fall würde man diejenige Person der Gruppe als intelligent bezeichnen, welche die Gruppe am schnellsten nach Hause bringt. Unter anderen Umständen würde man die Person, die Routineaufgaben automatisch bewältigt, als intelligent bezeichnen. Wenn eine Gruppe von Personen beispielsweise jeden Tag dieselben Aufgaben bearbeitet, wären Sie vermutlich am meisten von der Person beeindruckt, die dabei am wenigsten „neue“ Denkarbeit verrichtet. Praktische Intelligenz spiegelt sich in der Koordination von Alltagsanforderungen wieder. Praktische Intelligenz umfasst die Fähigkeit, sich an neue und veränderte Umstände (Kontexte) anzupassen, geeignete Umstände zu identifizieren und die Umwelt bedürfnisgerecht zu gestalten. Praktische Intelligenz wird umgangssprachlich mitunter etwas abfällig auch als Bauernschläue bezeichnet. Um praktische Intelligenz zu messen, müssen die Forscher sich daher in diese Kontexte vertiefen.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscherteam verfolgte das Ziel, praktische Intelligenz unter Heranwachsenden der Yup‘ik-Eskimos in Alaska zu messen (Grigorenko et al., 2004). Obwohl die Yup‘ik in modernen Häusern mit Elektrizität, Ölheizung und Telefonanschluss leben, können viele Dörfer während der langen und harten Winter nur mit dem Flugzeug erreicht werden. Deshalb konzentrierte sich die Messung der praktischen Intelligenz auf die Arten von Wissen, die für das Überleben in den Yup‘ik-Dörfern wesentlich bleiben. Betrachten Sie folgende Frage:
Onkel Markus weiß eine Menge über die Jagd auf Vielfraße. Wo wird er am wahrscheinlichsten einen fangen, wenn er seine Falle aufstellt? a) auf einem schräg stehenden Baum; b) im Hohlraum eines toten Baums; c) weit weg vom Wasser; d) nahe eines zugefrorenen Flusses. Haben Sie (a) als korrekte Antwort gewählt? Der Test für praktische Intelligenz bestand aus 36 Fragen dieser Art und wurde von der Gruppe der adoleszenten Probanden ausgefüllt. Außerdem sammelten die Forscher Einschätzungen von anderen Gruppenmitgliedern, unter anderem von Erwachsenen und Menschen hohen Alters, etwa darüber, welche Jugendlichen am ehesten als umyuartuli beschrieben werden konnten: „jemand, der nachdenkt, dem neue Lösungen einfallen, und der seinen Grips zum Überleben einsetzt“ (S. 191). Die Yup‘ik-Jugendlichen erzielten verschiedene Ergebnisse auf der Skala der praktischen Intelligenz. Im Allgemeinen hatten diejenigen, die in Städten lebten, weniger praktische Intelligenz als die aus ländlicher Umgebung. Außerdem hatten die Jugendlichen mit den höchsten Werten an praktischer Intelligenz auch die meisten positiven Fremdeinschätzungen, zum Beispiel als umyuartuli, erhalten.
An diesem Beispiel können Sie sehen, warum das Konzept der praktischen Intelligenz in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Bedeutung hat. Die allgemeine Idee bleibt allerdings dieselbe: Man kann über mehr oder weniger praktische Intelligenz für die Lösung von Alltagsaufgaben verfügen.
9.3.3 Gardners multiple Intelligenzen und emotionale Intelligenz Howard Gardner (1983, 1999, deutsch: 1991, 2002) stellte ebenfalls eine Theorie auf, welche die Definition von Intelligenz über die in einem IQ-Test erfassten Fähigkeiten hinaus erweitert. Gardner identifizierte zahlreiche Intelligenzen, die einen ganzen Bereich menschlicher Erfahrung abdecken. Die Wertschätzung für jede dieser Fähigkeiten variiert zwischen verschiedenen Gesellschaften, je nachdem, was gebraucht wird, nützlich ist oder von einer bestimmten Gesellschaft ausgezeichnet wird. Wie Tabelle 9.4 zeigt, identifizierte Gardner acht Intelligenzen. Gardner nimmt an, dass westliche Gesellschaften die ersten beiden Arten von Intelligenz fordern und fördern, während nichtwestliche Gesellschaften oft andere Arten wertschätzen. Beispielsweise müssen auf den Karolinen, einer zu Mikronesien gehörenden
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Tabelle 9.4
Gardners acht Intelligenzen Intelligenztyp
Endzustand
Kernkomponenten
Logisch-Mathematisch
Wissenschaftler, Mathematiker
Gespür für logische und numerische Muster und die Fähigkeit, diese zu unterscheiden; Fähigkeit, mit langen Ketten von Schlussfolgerungen umzugehen
Linguistisch
Dichter, Journalist
Gespür für die Laute, Rhythmen und Bedeutung von Wörtern; Gespür für die unterschiedlichen Funktionen der Sprache
Naturalistisch
Biologe, Umweltforscher
Gespür für die Unterschiede zwischen verschiedenen Spezies; Fähigkeiten im diskreten Umgang mit Lebewesen
Musikalisch
Komponist, Violinist
Fähigkeiten zur Produktion von Rhythmik, Tonhöhe und Klangqualität; Wertschätzung der Formen musikalischen Ausdrucks
Räumlich
Steuermann, Bildhauer
Fähigkeit zur akkuraten Wahrnehmung der visuell-räumlichen Welt und zu Transformationen der ursprünglichen Wahrnehmungen
Kinästhetisch
Tänzer, Athlet
Fähigkeit, die Bewegungen des eigenen Körpers zu kontrollieren und geschickt mit Objekten umzugehen
Interpersonal
Therapeut, Verkäufer
Fähigkeit, die Stimmungen, Charaktereigenschaften, Motive und Sehnsüchte anderer Menschen zu erkennen und angemessen zu reagieren
Intrapersonal
Person mit detailliertem und zutreffendem Wissen über sich selbst
Zugang zu den eigenen Gefühlen und die Fähigkeit, diese zu unterscheiden und zur Verhaltenssteuerung einzusetzen; Wissen über die eigenen Stärken, Schwächen, Sehnsüchte und Intelligenzen
Inselgruppe im Westpazifik, die Seeleute in der Lage sein, weite Strecken ohne Karten zu navigieren. Sie verwenden dazu nur ihre räumliche und ihre kinästhetische Intelligenz. In dieser Gesellschaft werden solche Fähigkeiten höher geschätzt als die Fähigkeit, eine Seminararbeit zu schreiben. Auf Bali, wo künstlerische Darbietungen Teil des täglichen Lebens sind, werden musikalische Intelligenz und die an der Koordination komplizierter Tanzschritte beteiligten Talente sehr geschätzt. Zwischenmenschliche Intelligenz ist in kollektivistischen Gesellschaften wie der Japans wichtiger als in individualistischen Gesellschaften wie der unseren, weil in Japan kooperatives Handeln und das Leben in der Gemeinde betont werden (Triandis, 1990). Die Diagnostik dieser Intelligenzarten erfordert mehr als Papier-und-Bleistift-Tests und einfache quan-
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tifizierte Maße. Gardners Intelligenztheorie verlangt, dass der Einzelne in einer Vielzahl von Situationen des Lebens beobachtet und beurteilt wird, wie auch in dem kleinen Ausschnitt des Lebens, den ein traditioneller Intelligenztest darstellt. In den letzten Jahren haben Forscher damit begonnen, eine Intelligenzart – die emotionale Intelligenz – zu erforschen, die mit Gardners Konzepten der interund der intrapersonalen Intelligenz ( Tabelle 9.4) verwandt ist. Die emotionale Intelligenz umfasst definitionsgemäß die folgenden vier Hauptkomponenten (Mayer & Salovey, 1997; Mayer et al., 2004): Die Fähigkeit, Emotionen genau und angemessen wahrzunehmen, einzuschätzen und auszudrücken.
9.3 Intelligenztheorien
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Sind Intelligenztheorien wichtig?
Wenn Studierende sich mit Sternbergs triarchischen Intelligenzen und Gardners multipler Intelligenz befassen, reagieren sie oft so: Es ist ja ganz nett zu behaupten, dass es noch auf andere Werte als auf klassische akademische Intelligenz ankomme, aber begegnet man diesen Theorien noch irgendwo anders als in einer Einführung in die Psychologie für Studenten? Tatsächlich sind sowohl Gardner (1999a) als auch Sternberg (Stemler et al., 2006; Sternberg & Grigorenko, 2000) stark an der Reform der Schulerziehung beteiligt – sie wollen ihre Erkenntnisse über die Intelligenz aus dem Forschungslabor direkt ins Klassenzimmer übertragen. Sehen wir uns eine Klassenstudie an, die sowohl auf Gardners als auch auf Sternbergs Theorien basiert (Williams et al., 2002). Die Studie umfasste mehrere hundert Fünft- und Sechstklässler an Schulen in Connecticut und Massachusetts. Ihr Ziel war, die schulischen Leistungen der beteiligten Schüler zu verbessern, indem man ihnen einen speziellen Lehrplan namens practical intelligence for school (PIFS), der die praktische Intelligenz betonte, zur Verfügung stellte. Erinnern Sie sich, dass praktische Intelligenz in Beziehung zur Fähigkeit steht, den Alltag zu bewältigen. Der Lehrplan umfasste fünf Themen, die den Schülern halfen, praktische Intelligenz für die Schule zu erwerben: Gründe erkennen. Die Schüler sollten den Sinn schulischer Arbeit (zum Beispiel: Welchen Sinn haben Hausaufgaben?) und ihre Beziehung zum außerschulischen Leben verstehen (zum Beispiel: Wie bereiten einen Klassenarbeiten auf die Prüfungen vor, die Erwachsene im Arbeitsleben ablegen müssen?). Sich selbst erkennen. Die Schüler sollten ihre Stärken und Schwächen in der Schule und in anderen Lebenssituationen erkennen; sie sollten dann darüber nachdenken, wie sie ihre Stärken benutzen und ihre Schwächen ausgleichen könnten. Unterschiede erkennen. Die Schüler sollten darüber nachdenken, warum für verschiedene Arten von Aufgaben unterschiedliche Herangehensweisen notwendig sein könnten (zum Beispiel das Lösen von Mathematikaufgaben im Gegensatz zu dem Schreiben eines Aufsatzes).
nen sowie die Methoden und Hilfsmittel kennenlernen, mit denen man sie lösen kann. Wiederholen. Die Schüler sollten erkennen, dass es sinnvoll ist, ihre Arbeit zu überprüfen und zu verbessern, indem man Texte zweimal liest, Geschriebenes noch einmal durchsieht, Lösungen mehrmals durchgeht usw. Wird Ihnen deutlich, wie jedes dieser Themen den Schülern helfen könnte, praktische Intelligenz zu entwickeln und in schulischen Erfolg umzusetzen? Die Fähigkeiten der Schüler wurden vor der Studie (pretest) im Oktober und nach der Studie (posttest) im Juni getestet. Diese Vorher- und NachherTests erfassten Verbesserungen in einer Reihe von Bereichen, beispielsweise Lesen, Schreiben und Hausaufgaben. Schüler, die unter dem PIFS-Lehrplan gearbeitet hatten, zeigten im Verlauf des Jahres beachtliche Verbesserungen. Vielleicht fragen Sie sich aber, ob das an normalen Unterrichtsaktivitäten lag, die mit dem PIFS-Lehrplan nichts zu tun hatten. Um dies zu klären, erfasste das Forschungsteam auch den Fortschritt einer Kontrollgruppe ohne PIFS-Lehrplan. Auch die Schüler in der Kontrollgruppe machten Fortschritte, aber nicht so ausgeprägte wie die PIFS-Schüler. So zeigte etwa unter den Schülern aus Connecticut eine Gruppe von PIFS-Schülern eine um 17 Prozent größere Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeit als die Schüler der Kontrollgruppe. In vergleichbarer Weise zeigten die Schüler aus Massachusetts beim Schreiben eine um 18 Prozent größere Verbesserung als die Kontrollgruppe. Der auf praktische Intelligenz ausgerichtete Lehrplan ermöglichte den Schülern also eine größere Verbesserung bei klassischen schulischen Aufgaben wie dem Lesen und Schreiben. Sehen wir uns die fünf Themen des PIFS-Lehrplans noch einmal an. Wie stark haben Sie über jedes der Themen nachgedacht? Sehen Sie, wie Überlegungen aus einer Theorie der Intelligenz – praktische Intelligenz ist etwas anderes als analytische – eine erfolgreiche Herangehensweise an Probleme des Schulunterrichts ergeben können?
Prozesse erkennen. Die Schüler sollten die verschiedenen Arten von Problemen, die in schulischer Umgebung entstehen, zu identifizieren ler-
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Die Fähigkeit, Emotionen zur Unterstützung von Denkvorgängen einzusetzen. Die Fähigkeit, Emotionen zu verstehen und zu analysieren und emotionales Wissen effektiv einzusetzen. Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu regulieren, um emotionales sowie intellektuelles Wachstum zu fördern. Diese Definition spiegelt ein neues Verständnis der positiven Rolle von Emotionen in Bezug auf intellektuelle Leistung wider: Emotionen können das Denken intelligenter machen, und Menschen können intelligent über ihre Emotionen und die anderer nachdenken. Inzwischen liegen Forschungsergebnisse vor, die zeigen, dass emotionale Intelligenz wichtige Folgen im Alltag hat.
AUS DER FORSCHUNG Denken Sie einen Moment lang über die Komponenten der Definition emotionaler Intelligenz nach. Erkennen Sie, wie Menschen, die stärker über diese Fähigkeiten verfügen, auch besser mit den Problemen des Alltags fertig werden? Zwei Forscher testeten die Hypothese, dass Menschen mit großer emotionaler Intelligenz Erlebnisse besser verarbeiten können und sich daher psychisch insgesamt besser fühlen (Slaski & Cartwright, 2002). Ihre Probandengruppe bestand aus Angehörigen des mittleren Managements einer großen englischen Einzelhandelskette. Diese Männer und Frauen übten eine ziemlich anstrengende Tätigkeit aus. Alle absolvierten zunächst einen Test, der den emotionalen Intelligenzquotienten (EQ) maß. Sie wurden außerdem über Aspekte ihres inneren Befindens, wie etwa psychische Angespanntheit, Arbeitsmoral und die Qualität ihres Arbeitslebens, befragt. Zum Schluss bewerteten die Vorgesetzten jedes Managers seine oder ihre Arbeitsleistung. Die Forscher teilten die Probanden dann in eine Gruppe mit hohem und eine mit niedrigem EQ ein. Die Ergebnisse waren ziemlich dramatisch: Im Vergleich zu der Niedrig-EQGruppe berichteten die Manager mit hohem EQ von weniger Gestresstheit, besserer Arbeitsmoral und einer höheren Qualität des Arbeitslebens. Sie wurden auch von ihren Vorgesetzten als die besseren Manager eingeschätzt.
Sie erkennen wahrscheinlich, wie die Stücke des Puzzles zusammen passen: Menschen, die sich dank ihres hohen EQ nicht so leicht stressen lassen und eine höhere Motivation bewahren, sind wahrscheinlich auch besser in ihren Jobs. Die erwähnten Forscher sind jetzt dabei, ein Trainingsprogramm einzuführen, um die emotionale Intelligenz der Manager mit niedrigem EQ zu verbessern.
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Unser Überblick über Intelligenzdiagnostik und Intelligenztheorien bildet den Rahmen für die folgende provokative Diskussion sozialer Umstände, derentwegen das Thema Intelligenz so kontrovers behandelt wird.
ZWISCHENBILANZ 1 Warum glaubte Spearman an den g-Faktor, die allge-
meine Intelligenz? 2 Welche drei Arten von Intelligenz postuliert Sternbergs
triarchische Theorie? 3 Welche Art von Intelligenz könnte in Gardners Theorie
darüber bestimmen, ob jemand ein erfolgreicher Bildhauer werden könnte? KRITISCHES DENKEN: Warum ist es in der Studie, die emotionale Intelligenz mit Wohlbefinden im Alltagsleben in Beziehung setzt, wichtig, den Erfolg der Probanden von ihren Vorgesetzten beurteilen zu lassen?
Intelligenz als Politikum
9.4
Wir haben gesehen, dass moderne Konzepte der Intelligenz es ablehnen, eine enge Verknüpfung zwischen dem Wert aus einem IQ-Test und der Intelligenz einer Person herzustellen. Trotzdem sind IQ-Tests nach wie vor die häufigsten Maße der „Intelligenz“ in westlichen Gesellschaften. Aufgrund der Häufigkeit von IQ-Tests und der Verfügbarkeit von IQ-Werten ist es leicht, ver-
Warum mussten die Immigranten bei ihrer Ankunft auf Ellis Island Intelligenztests absolvieren? Wie wurden diese Tests benutzt, um daraus etwas über ihre genetische Minderwertigkeit abzuleiten?
9.4 Intelligenz als Politikum
schiedene Gruppen hinsichtlich ihres „durchschnittlichen“ IQ zu vergleichen. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurden solche Vergleiche zwischen ethnischen Gruppen oft benutzt, um die angeborene, genetische Minderwertigkeit von Randgruppen zu belegen. Wir werden uns kurz mit der Geschichte dieser Vorgehensweise befassen, bei der IQ-Werte benutzt werden, um die These von der vorgeblichen Minderwertigkeit bestimmter Gruppen mit Zahlen zu untermauern. Dann werden wir uns aktuellen Belegen zum Anteil von Anlage und Umwelt an der Intelligenz und der Leistung in Intelligenztests zuwenden. Sie werden sehen, dass dies eines der politisch heikelsten Themen der Psychologie ist, weil politische Entscheidungen über Einwanderungsquoten, Bildungsmittel und vieles andere unter Umständen darauf basieren, wie IQ-Daten von Gruppen interpretiert werden.
9.4.1 Die Geschichte der Gruppenvergleiche Anfang des 20. Jahrhunderts sprach sich der Psychologe Henry Goddard für die Untersuchung der geistigen Fähigkeiten aller Immigranten und den selektiven Ausschluss derjenigen aus, die einen „geistigen Defekt“ aufweisen. Solche Ansichten könnten zu der landesweiten feindseligen Einstellung gegenüber der Zulassung bestimmter Immigrantengruppen beigetragen haben (siehe Cronbach, 1975; McPherson, 1985; Sokal, 1987). In der Tat hat der Amerikanische Kongress 1924 den Immigration Restriction Act erlassen, ein Gesetz zur Beschränkung von Einwanderung, infolgedessen es zur Politik der USA wurde, Immigranten bei ihrer Ankunft auf Ellis Island im Hafen von New York Intelligenztests zu unterziehen. Eine große Zahl von Immigranten jüdischer, italienischer und russischer Herkunft wurde ebenso wie Angehörige anderer Nationalitäten aufgrund von IQ-Tests als „debil“ klassifiziert. Einige Psychologen interpretierten diese statistischen Ergebnisse als Beleg für die genetische Minderwertigkeit der Immigranten aus dem Süden und Osten Europas gegenüber den robusten Nord- und Westeuropäern (siehe Ruch, 1937). Diese „minderwertigen“ Gruppen waren jedoch auch diejenigen, die am wenigsten mit der vorherrschenden Sprache und Kultur vertraut waren, die in den IQ-Tests ihren Niederschlag fanden. Sie waren auch erst kürzlich eingewandert. (Innerhalb weniger Jahrzehnte verschwanden diese Gruppenunterschiede völlig aus den IQ-Tests, aber die Theorie von den ethnisch vererbten Intelligenzunterschieden blieb bestehen.)
Als Nächstes gingen Goddard (1917) und andere über die bloße Assoziation zwischen einem niedrigen IQ und dessen ethnischen Ursachen hinaus. Moralische Verwerflichkeit, geistige Behinderung und amoralisches Sozialverhalten wurden der Ansammlung negativer Eigenschaften, die mit einem niedrigen IQ in Beziehung stehen, hinzugefügt. Als Beleg für diese Ansichten dienten die Fallstudien an berüchtigten Familien. Betrachten wir die Familie Kallikak, eine Familie, deren Stammbaum einen „guten“ und einen „schlechten“ Zweig aufwies. (In dieser Studie benannte Goddard die Familie zu Kallikak um, was auf Griechisch gut-schlecht heißt.) Martin Kallikak war ein Soldat im Unabhängigkeitskrieg, der einen unehelichen Sohn mit einer Frau zeugte, die als entwicklungsgestört beschrieben wurde. Aus dieser Verbindung gingen schließlich 480 Nachkommen hervor. Goddard klassifizierte 143 davon als „gestört“ und nur 48 als normal. Er stellte fest, dass Verbrechen, Alkoholismus, Geistesstörungen und Analphabetismus unter den Familienmitgliedern üblich waren. Im Gegensatz dazu heiratete Martin Kallikak später eine „gute Frau“; es gingen 496 Nachkommen aus dieser Verbindung hervor, und nur drei davon wurden als „gestört“ klassifiziert. Goddard stellte auch fest, dass viele Nachkommen aus dieser qualitativ hochwertigen Verbindung „bedeutend“ geworden waren (Goddard, 1914). Goddard kam zu der Überzeugung, dass auf der positiven Seite Intelligenz, Genialität und Bedeutsamkeit erblich bedingt waren. Auf der negativen Seite ordnete er Delinquenz, Alkoholismus, sexuelle Amoral, Entwicklungsstörungen und möglicherweise auch Armut an (McPherson, 1985). Goddards Argument von der genetischen Minderwertigkeit wurde weiterhin durch die Tatsache gestützt, dass Afroamerikaner und andere ethnische Minderheiten bei den Intelligenztests der Army im ersten Weltkrieg schlechter abschnitten als die weiße Mehrheit. Louis Terman, von dem wir wissen, dass er die Intelligenztestung in den USA gefördert hat, kommentierte die Daten über ethnische Minderheiten, an deren Erhebung er beteiligt war, in folgender, unwissenschaftlicher Weise: Ihre Blödheit scheint rassisch bedingt … Es scheint gegenwärtig keine Möglichkeit zu geben, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass ihnen die Fortpflanzung nicht erlaubt werden sollte, obwohl sie aufgrund ihrer ungewöhnlich fruchtbaren Vermehrung vom eugenischen Standpunkt ein schwerwiegendes Problem darstellen. (Terman, 1916, S. 91 f.)
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Die Namen haben sich geändert, aber das Problem bleibt das Gleiche. Heutzutage erzielen in den USA Afroamerikaner und Latinos im Durchschnitt niedrigere Werte bei standardisierten IQ-Tests als Amerikaner asiatischer oder europäischer Herkunft. Selbstverständlich gibt es in allen Gruppen Personen, die extreme (hohe wie niedrige) Werte auf der IQ-Skala erzielen. Wie sollten diese Gruppenunterschiede in den IQ-Werten interpretiert werden? Traditionell wurden in den USA und Großbritannien solche Unterschiede auf genetische Minderwertigkeit (Vererbung) zurückgeführt. Wir werden uns, nach der Diskussion genetisch bedingter IQ-Unterschiede, mit einer zweiten Möglichkeit befassen, der zufolge Unterschiede in der Umgebung (Umwelt) eines Menschen einen signifikanten Einfluss auf den IQ haben. Die Gültigkeit beider Erklärungen oder einer Kombination aus beiden hat wichtige soziale, ökonomische und politische Konsequenzen.
9.4.2 Intelligenz und Vererbung Wie können Forscher bestimmen, in welchem Ausmaß Intelligenz genetisch bedingt ist? Jede Antwort auf diese Frage erfordert die Bestimmung eines Intelligenzmaßes durch den Forscher. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob „Intelligenz“ als abstraktes Konstrukt erblich beeinflusst wird, sondern ob IQ-Werte innerhalb von Familien ähnlich sind. Um diese eingegrenzte Frage zu beantworten, müssen die Forscher die Einflüsse gemeinsamer Gene und gemeinsamer Umgebungen voneinander trennen. Eine Methode hierzu ist der Vergleich zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen und Verwandten mit unterschiedlichen Graden genetischer Übereinstimmung. Abbildung 9.5 zeigt die Korrelationen zwischen den IQ-Werten von Personen anhand ihres Verwandtschaftsgrades (Plomin & Petrill, 1997). Wie Sie sehen können, ist die Ähnlichkeit der IQs umso größer, je größer die genetische Ähnlichkeit ist. (Ihnen sollte bei der Begutachtung dieser Daten auch auffallen, dass der Einfluss der Umwelt sich in der größeren Ähnlichkeit zwischen denjenigen, die zusammen aufgewachsen sind, zeigt.) Forscher nutzen solche Ergebnisse, um die Erblichkeit des IQ abzuschätzen. Eine Erblichkeitsschätzung für eine bestimmte Eigenschaft wie Intelligenz basiert auf dem Anteil der Variabilität in den Testergebnissen dieser Eigenschaft, der auf genetische Faktoren zurückgeführt werden kann. Man gelangt zu dieser Schätzung, indem man die Variabilität in den Test-
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werten einer bestimmten Population (beispielsweise Studierende oder Patienten psychiatrischer Klinken) berechnet und dann den Anteil der Gesamtvarianz ermittelt, der durch genetische oder ererbte Faktoren erklärt wird. Dazu vergleicht man Individuen mit unterschiedlichen Graden genetischer Übereinstimmung. Forscher, die sich einen Überblick über die verschiedenen Studien zur Erblichkeit des IQ verschafft haben, kommen zu dem Schluss, dass etwa 50 Prozent der Varianz von IQ-Werten auf die Gene zurückzuführen ist (Grigorenko, 2000). Noch interessanter ist vielleicht der Befund, dass die Erblichkeit im Laufe des Lebens zunimmt: Bei Vier- bis Sechsjährigen beträgt die Erblichkeit etwa 40 Prozent, nimmt aber im frühen Erwachsenenalter auf 60 Prozent zu und beträgt bei älteren Erwachsenen etwa 80 Prozent! Viele Menschen sind von diesem Ergebnis überrascht, weil es doch scheint, als sollte der Einfluss der Umwelt mit dem Alter zunehmen und nicht abnehmen. Forscher erklären diesen der Intuition widersprechenden Befund folgendermaßen: „Es ist möglich, dass genetische Anlagen uns sanft auf jene Umgebungen zuschieben, in denen unsere genetischen Neigungen akzentuiert werden, was zu einer zunehmenden Erblichkeit im Laufe des Lebens führt“ (Plomin & Petrill, 1997, S. 61). Kehren wir jetzt an den Punkt zurück, an dem diese genetische Analyse zur Kontroverse führt: die Unterschiede zwischen den Testwerten von Afroamerikanern und weißen Amerikanern. Obwohl der Unterschied vor einigen Jahrzehnten 15 Punkte betrug, sind die Werte in der Zwischenzeit näher zusammengerückt. Bei einigen aktuellen Indikatoren beträgt der Unterschied sieben bis zehn Punkte (Nisbett, 1995, 1998; Williams & Ceci, 1997). Obwohl die Verringerung des Unterschieds einen Umwelteinfluss nahe legt, hat der verbleibende Unterschied viele Menschen veranlasst, unüberbrückbare genetische Differenzen zwischen den Rassen zu vermuten (Hernnstein & Murray, 1994). Doch selbst wenn der IQ stark erblich ist: Ist dieser Unterschied dann ein Beleg für die genetische Minderwertigkeit der Gruppe mit den niedrigeren Werten? Die Antwort ist eindeutig Nein. Erblichkeitsschätzungen basieren auf Schätzungen innerhalb einer Gruppe. Sie können nicht zur Interpretation von Gruppenunterschieden herangezogen werden, wie groß der Unterschied zwischen den Gruppen in objektiven Tests auch sei. Erblichkeitsschätzungen beziehen sich nur auf den Mittelwert innerhalb einer Population von Personen. Obwohl wir beispielsweise wissen, dass die Körpergröße eine hohe Erblichkeit besitzt (etwa 90 Prozent), können Sie nicht sagen, wel-
9.4 Intelligenz als Politikum
Abbildung 9.5: IQ und genetische Verwandtschaft. Diese Abbildung zeigt die Korrelationen zwischen den IQ-Werten eineiiger und zweieiiger Zwillinge, die zusammen (in derselben häuslichen Umgebung) oder getrennt (in unterschiedlichen häuslichen Umgebungen) aufgewachsen sind. Zum Vergleich werden auch Daten von Geschwistern (Brüder und Schwestern) und Eltern und ihren Kindern gezeigt, sowohl in biologischen als auch in Adoptivfamilien. Die Daten zeigen die Bedeutung sowohl genetischer Faktoren (die unter „genetische Verwandtschaft“ angegebenen Zahlen geben den Grad der genetischen Übereinstimmung an) als auch von Umweltfaktoren (die unter „geteilte familiäre Umgebung“ angegebenen Zahlen geben an, ob die Umwelt gleich [1] oder unterschiedlich [0] war). So zeigen beispielsweise eineiige Zwillinge höhere Korrelationen zwischen ihren IQ-Werten als zweieiige Zwillinge, was den Einfluss der Gene belegt. Zugleich zeigen aber beide Arten von Zwillingen höhere Korrelationen, wenn sie zusammen aufwuchsen, was den Einfluss der Umwelt belegt. cher Anteil Ihrer Körpergröße auf genetischen Faktoren beruht. Dasselbe gilt für den IQ: Trotz der hohen Erblichkeitsschätzung können wie den spezifisch genetischen Beitrag zum IQ-Wert einer Person oder zu den Mittelwerten von Gruppen nicht bestimmen. Die Tatsache, dass eine ethnische Minderheit bei einem IQ-Test niedrigere Werte als eine andere Gruppe erzielt, heißt nicht, dass der Gruppenunterschied genetisch bedingt ist, selbst wenn die Erblichkeitsschätzung innerhalb der Gruppe hoch ist. Ein weiterer Grund dafür, dass die genetische Ausstattung nicht vollständig für die Gruppenunterschiede verantwortlich sein kann, hängt mit der relativen Größe der Unterschiede zusammen. Es gibt – trotz Mittelwertsunterschieden – eine beträchtliche Überschneidung zwischen den Verteilungen der Werte beider Gruppen: Der Unterschied zwischen den Gruppen ist klein im Vergleich zu den Unterschieden zwischen den Individuen innerhalb jeder Gruppe (Loehlin, 2000; Suzuki & Valencia, 1997). Im Allgemeinen sind die Unterschiede zwischen den Genpools verschiedener ethnischer Gruppen winzig im Vergleich zu den genetischen Unterschieden zwischen einzelnen Mit-
Dieses Bild zeigt die Chemikerin und Nobelpreisträgerin Marie Curie mit ihren Töchtern Irene (links) und Eve (rechts). Irene erhielt ebenfalls den Nobelpreis für Chemie und Eve wurde eine bekannte Schriftstellerin. Warum sind solche Familien ein Anreiz für die Forschung, die Einflüsse von Erbe und Umwelt auf den IQ zu untersuchen?
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gliedern derselben Gruppe. Darüber hinaus ist die Rasse in den Vereinigten Staaten oft eher ein soziales denn ein biologisches Konstrukt. So wurde der junge Golfstar Tiger Woods oft als Farbiger bezeichnet – und diskriminiert –, obwohl seine tatsächliche Abstammung weitaus komplexer ist (seine Vorfahren waren Weiße, Dunkelhäutige, Thailänder, Chinesen und Indianer). Tiger Woods bietet ein hervorragendes Beispiel dafür, wie soziale Urteile nicht der biologischen Realität folgen. Von daher besteht eine große Gefahr, IQ-Unterschiede zwischen sozial abgrenzbaren Gruppen so zu behandeln, als befänden sich diese Unterschiede im Einklang mit der zugrunde liegenden Biologie (Sternberg et al., 2005). Forscher haben einen Weg gefunden, diese Ansicht anhand einer Reihe von Studien zu prüfen, bei denen das Ausmaß weißer oder europäischer Abstammung unter Farbigen bestimmt wurde. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird angenommen, dass die „dunkelhäutige“ Bevölkerung aufgrund von Mischehen zu etwa 20 bis 30 Prozent europäischer Abstammung ist. Spielt es eine Rolle, ob eine „dunkelhäutige“ Person mehr oder weniger europäisches genetisches Material in sich trägt? Folgt man dem Argument von der Erblichkeit des IQ, dann sollte das der Fall sein, aber die Daten lassen vermuten, dass die Korrelation zwischen dem Anteil europäischer Vorfahren und dem IQ sehr niedrig ist (in der Größenordnung von nur 0,15 über viele Studien hinweg). Das gilt unabhängig davon, ob Hautfarbe oder Blutgruppen als Index der ethnischen Zusammensetzung herangezogen werden. Vergleiche zwischen deutschen Kindern, die von dunkelhäutigen oder weißen GIs gezeugt wurden, zeigen keine Unterschiede zwischen ihren IQ-Werten. Darüber hinaus haben Kinder aus „Mischehen“ einen sieben Punkte höheren IQ, wenn die Mutter weiß ist. Dieser Unterschied ist höchstwahrscheinlich auf den
Tiger Woods´ Vorfahren waren Weiße, Afroamerikaner, Thailänder, Chinesen und Indianer. Warum wird er meistens als Dunkelhäutiger beschrieben? Was lässt das über das Konstrukt der Rasse in den Vereinigten Staaten vermuten?
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größeren Beitrag der Mütter zur intellektuellen Sozialisation eines Kindes zurückzuführen und kann natürlich nicht genetisch bedingt sein, weil jeder Elternteil gleichermaßen zu den Genen der Nachkommen beiträgt (Loehlin, 2000; Nisbett, 1998). Gewiss spielten die Gene eine beträchtliche Rolle beim Zustandekommen der IQ-Werte von Einzelnen, genau so, wie sie das bei vielen anderen Eigenschaften und Fähigkeiten tun. Wir haben jedoch argumentiert, dass Erblichkeit keine adäquate Erklärung für die IQUnterschiede zwischen ethnischen Gruppen darstellt. Die Erblichkeit spielt eine notwendige, aber keine hinreichende Rolle in unserem Verständnis solcher Leistungseffekte. Wenden wir uns jetzt der Rolle der Umwelt bei der Entstehung dieser IQ-Unterschiede zu.
9.4.3 Intelligenz und Umwelt Wir wissen, dass das genetische Erbe nicht allein für den IQ verantwortlich ist, weil die Erblichkeitsschätzungen eine korrelative Übereinstimmung von weniger als 1,0 ergeben. Die Umwelt muss auch einen Einfluss auf den IQ haben. Wie aber können wir beurteilen, welche Aspekte der Umwelt wichtige Einflussfaktoren für den IQ sind? Welche Eigenschaften unserer Umwelt beeinflussen das Potenzial, in einem IQ-Test gut abzuschneiden (Beiser & Gotowiec, 2000; Ceci, 1999; Rowe, 1997; Suzuki & Valencia, 1997)? Umwelten und Umgebungen sind komplexe Stimuluspakete, die auf vielen, sowohl physischen als auch sozialen Dimensionen variieren und die von den darin befindlichen Personen unterschiedlich erlebt werden können. Sogar Kinder innerhalb derselben familiären Umgebung teilen nicht notwendigerweise die gleiche entscheidende, psychologische Umgebung. Erinnern Sie sich daran, wie es war, in Ihrer Familie aufzuwachsen: Wenn Sie Geschwister hatten, erhielten alle die gleiche Aufmerksamkeit von Ihren Eltern? Hat sich der Stress im Laufe der Zeit verändert, hat sich die finanzielle Situation der Familie verändert, hat sich der Familienstand Ihrer Eltern verändert? Es ist offensichtlich, dass die Umwelt aus vielen Komponenten besteht, die in einer dynamischen Beziehung zueinander stehen und sich im Laufe der Zeit verändern. Das macht es für Psychologen schwierig, Aussagen darüber zu treffen, welche Umweltbedingungen – Aufmerksamkeit, Stress, Armut, Gesundheit, Krieg und so weiter – tatsächlich einen Einfluss auf den IQ haben. Meistens haben sich die Forscher auf globalere Maße der Umwelt wie etwa den sozioökonomischen Status der Familie konzentriert. Beispielsweise waren in einer
9.4 Intelligenz als Politikum
Die persönliche Aufmerksamkeit, die Kindern zuteil wird, kann ihre Intelligenz beeinflussen. In den Klassenzimmern von Tennessee in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen eine Politik des „Getrennt, aber gleich“ verfolgt wurde, erhielten dunkelhäutige Kinder wenig Aufmerksamkeit (links). Im Gegensatz dazu ist die Mutter (rechts) intensiv in die Bildung ihrer Kinder einbezogen. Wie beeinflussen diese sozialen Umweltunterschiede den IQ? Langzeitstudie an mehr als 26.000 Kindern der sozioökonomische Status der Familie und das Ausbildungsniveau der Mutter die besten Prädiktoren für den IQ des Kindes im Alter von vier Jahren. Das galt gleichermaßen für dunkelhäutige und weiße Kinder (Broman et
al., 1975). Abbildung 9.6 zeigt in ähnlicher Weise einen Gesamteinfluss der sozialen Klasse auf den IQ. Warum beeinflusst die soziale Klasse den IQ? Reichtum und Armut können die geistigen Funktionen auf verschiedene Weisen beeinflussen, die offensicht-
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Abbildung 9.6: Die Beziehung zwischen Vererbung, Umwelt und dem IQ. Diese Grafik zeigt Belege für die Beteiligung von Vererbung und Umwelt an IQ-Werten. Väter und Söhne haben ähnliche IQs (Einfluss des Erbes), aber die IQs von Vätern und Söhnen stehen in Zusammenhang mit der sozialen Klasse (Einfluss der Umwelt).
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lichsten sind der Zugang zu Bildungs- und Gesundheitsressourcen. Trotz der prinzipiellen sozialen Durchlässigkeit hat sich auch für das deutsche Bildungswesen ein im internationalen Vergleich recht hoher Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der schulischen Leistungsfähigkeit bei 15-Jährigen ergeben. Ein schlechter Gesundheitszustand während der Schwangerschaft und ein geringes Geburtsgewicht sind solide Prädiktoren für verringerte geistige Leistungsfähigkeit. Kinder, die in armen Familien aufwachsen, sind oft schlecht ernährt. Viele von ihnen gehen hungrig zur Schule und können sich schlechter auf Lernaufgaben konzentrieren. Darüber hinaus gibt es in sozial schwachen Familien oft einen Mangel an Büchern, Printmedien, Computern und anderen Materialien, die zur intellektuellen Stimulation beitragen. Die „Überlebensmentalität“ armer Eltern, besonders bei Alleinerziehenden, lässt den Eltern wenig Zeit und Energie, mit ihren Kindern zu spielen oder sie intellektuell zu stimulieren, und ist insofern nachteilig für die Leistung der Kinder bei Aufgaben wie IQ-Tests. In gewisser Weise haben Forscher die letzten 40 Jahre mit dem Versuch verbracht, dieses Ergebnis auf gesellschaftlicher Ebene zu replizieren. Das Programm „Head Start“ wurde ursprünglich 1965 von der Regierung der Vereinigten Staaten finanziert. Es richtete sich auf die „körperliche Gesundheit, die Entwicklungs-, Sozial- und Bildungsbedürfnisse von Kindern aus Familien mit geringem Einkommen und soll die Möglichkeiten der entsprechenden Familien, für ihre Kinder zu sorgen, durch Hilfe zur Selbsthilfe und unterstützende Maßnahmen vergrößern“ (Kassebaum, 1994, S. 123). Der Gedanke bei „Head Start“ war nicht, die Kinder in eine privilegierte Umgebung zu bringen, sondern die Umwelt, in die sie geboren wurden, zu verbessern. Die Kinder erhalten spezielle Vorschulbildung, täglich eine ordentliche Mahlzeit, und ihren Eltern werden Ratschläge zur Gesundheit und anderen Aspekten der Kindererziehung gegeben. Betrachten wir ein Programm, das 1962 an der High/Scope-Perry-Vorschule in Ypsilanti (Michigan)
begann (Schweinhart, 2004). Das Programm konzentrierte sich auf eine Gruppe drei- und vierjähriger dunkelhäutiger Kinder aus einkommensschwachen Familien, bei denen ein hohes Risiko für Schulversagen festgestellt worden war. Das High/Scope-Perry-Programm stellte den Kindern eine Klassenraumumgebung zur Verfügung, die sich auf partizipatorische Erziehung konzentrierte – die Kinder wurden ermutigt, eigene und Gruppenaktivitäten zu planen und umzusetzen. Außerdem beteiligte das Programm die Eltern durch Hausbesuche und Elterngruppentreffen an der Erziehung der Kinder. Die Forscher verfolgten den Lebensweg der Schüler, die an dem Programm teilnahmen, über die nächsten 40 Jahre hinweg. Abbildung 9.7 vergleicht die Ergebnisse der Teilnehmer mit einer Gruppe von Schülern gleicher Herkunft, die nicht an dem Programm teilgenommen hatten. Wie man sieht, hatten die High/Scope-Perry-Schüler im Alter von fünf Jahren einen höheren IQ als die gleichaltrigen Nichtteilnehmer. Sie schafften auch sehr viel häufiger den Highschoolabschluss und hatten mit 40 Jahren besser bezahlte Jobs. Vergleichbare Ergebnisse entstammen den Daten eines Frühbetreuungsprogramms in Chicago: 15 Jahre, nachdem sie an einem Vorschulprogramm teilgenommen hatten, hatten die Schüler viele derselben Vorteile wie die High/Scope-Perry-Gruppe, zum Beispiel erreichte ein höherer Anteil von ihnen einen Highschoolabschluss (Reynolds et al., 2001). Diese Studien liefern wichtige Belege für die Wichtigkeit der Umwelt bei der intellektuellen Entwicklung. Sie liefern konkrete Vorbilder für Programme, die das Leben gefährdeter Kinder verändern können.
9.4.4 Kultur und die Validität von Intelligenztests Man würde sich wohl nicht so viele Gedanken um IQWerte machen, wenn mit ihrer Hilfe nicht so nützliche Vorhersagen gemacht werden könnten: Umfangreiche Forschungsarbeiten zeigen, dass IQ-Werte valide Prä-
Teilnehmergruppe Nichtteilnehmergruppe 0% 20% Abbildung 9.7 Der Effekt vorschulischer Betreuung. Schüler, die am High/ScopePerry-Vorschulprogramm teilnahmen, waren später erfolgreicher als andere Schüler.
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IQ 90 oder höher mit 5 Jahren High-SchoolAbschluss Einkommen 20.000 Dollar oder höher mit 40 Jahren
40%
60%
80%
100%
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diktoren für Schulnoten von der ersten Klasse bis zur Universität sind, für den beruflichen Status und die Leistung bei vielen Tätigkeiten (Gottfredson, 2002; Nettlebeck & Wilson, 2005). Diese Ergebnismuster legen nahe, dass IQ-Tests in valider Weise geistige Fähigkeiten messen, die sehr grundlegend und bedeutsam für viele Arten von Erfolg sind, die in der westlichen Welt wertgeschätzt werden – Intelligenz, gemessen durch den IQ, hat direkten Einfluss auf den Erfolg. Unterschiede im IQ können die schulische und berufliche Leistung auch indirekt beeinflussen, indem sie unsere Motive und Überzeugungen verändern. Personen mit höherem IQ haben mit größerer Wahrscheinlichkeit mehr Erfolgserlebnisse in der Schule, erhalten dadurch eine höhere Motivation zu lernen, entwickeln eine Leistungsorientierung und werden optimistisch in Bezug auf ihre Chancen, es zu etwas zu bringen. Kinder mit niedrigen Werten bei IQ-Tests „geraten“ in schlechtere Schulen, Klassen oder Programme, die unter Umständen sogar einen stigmatisierenden Effekt auf das Kompetenzerleben des Kindes haben. Auf diese Weise wird der IQ von der Umwelt beeinflusst und kann seinerseits wiederum neue Umgebungen für das Kind schaffen – einige davon besser, andere schlechter. Die IQ-Diagnostik kann so zum Schicksal werden – unabhängig von der zugrunde liegenden genetischen Intelligenzausstattung eines Kindes. Obwohl sich IQ-Tests als valide für den Alltagsgebrauch erwiesen haben, stellen viele Beobachter nach wie vor ihre Validität für Vergleiche zwischen verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppen in Frage (Greenfield, 1997; Samuda, 1998; Serpell, 2000). Viele Formen von Tests und Testdurchführung passen unter Umständen nicht zu kulturellen Vorstellungen von Intelligenz oder angemessenem Verhalten. Nehmen wir beispielsweise einen Fall negativer Beurteilung im Klassenzimmer: Wenn die Kinder hispanischer Immigranten zur Schule gehen, führt die [in ihrer Kultur gegebene] Betonung des sprachlichen Verstehens gegenüber dem Sprechen oder die Betonung der Autorität des Lehrers gegenüber dem Ausdruck eigener Meinungen zu einer negativen schulischen Beurteilung … Insofern wird eine Art der Kommunikation – respektvolles Zuhören –, die innerhalb einer Kultur geschätzt wird, zur Basis einer ziemlich umfassenden negativen Beurteilung in der Schulumgebung, in der das Sprechen als Ausdruck einer selbstsicheren Persönlichkeit die geschätzte Kommunikationsart ist. (Greenfield, 1997, S. 1120)
Diese Kinder von Immigranten müssen lernen, wie sie sich in amerikanischen Klassenzimmern zu verhalten haben, damit Lehrer sie für intelligent halten. Einer der Standard-Kritikpunkte an IQ-Tests ist der Vorwurf, sie seien gegenüber den Mitgliedern verschiedener Kulturen nicht neutral: Kritiker behaupten, dass Gruppenunterschiede in IQ-Werten durch systematische Verzerrung der Aufgaben zugunsten einer Kultur entstehen und die Tests somit für Minderheiten unfair und nicht valide sind. Die Unterschiede zwischen ethnischen Gruppen bleiben jedoch selbst dann bestehen, wenn man die Tests „kulturfreier“ macht (Neisser et al., 1996). Tatsächlich könnte es sich mehr um ein Problem des Testkontextes handeln als um eines des Testinhalts. Claude Steele (1997; Steele & Aronson, 1995, 1998) behauptet, dass die Leistung bei Fähigkeitstests von einer Bedrohung durch Stereotype (auch bekannt als Anfälligkeit für Stereotype) beeinflusst wird. Darunter versteht man die Bedrohung, dass man ein negatives Stereotyp über die eige-
AUS DER FORSCHUNG In einer Studie versuchten weiße und dunkelhäutige Studierende, sehr schwierige verbale Aufgaben zu lösen, wie sie in der Abschlussprüfung enthalten sind. Der Hälfte der Studierenden wurde vermittelt, ihr Abschneiden bei diesen Fragen sage etwas über ihre Intelligenz aus; der anderen Hälfte wurde lediglich gesagt, dass es bei dem Experiment um psychologische Prozesse bei der Problemlösung gehe. Die Theorie der Bedrohung durch Stereotype besagt, dass nur Studierende, bei denen die Situation eine Bedrohung durch ein Stereotyp auslöst – in diesem Fall die dunkelhäutigen Studierenden in der „Intelligenzdiagnostik“-Bedingung – eine schlechtere Leistung erbringen. Wie Sie in Teil A der Abbildung 9.8 sehen können, bestätigten die Ergebnisse diese Vorhersage. Wenn farbige Studierende glaubten, ihre Leistung würde zur Beurteilung ihrer Intelligenz herangezogen, erbrachten sie schlechtere Leistungen (Steele & Aronson, 1995). Dieselbe Logik der Bedrohung durch Stereotype gilt für jede Gruppe, für die es ein Stereotyp schlechterer Leistung gibt. So gibt es beispielsweise das Stereotyp, dass Frauen weniger begabt für Mathematik sind als Männer. Wie Teil B der Abbildung 9.8 zeigt, ergab ein Mathematiktest nur dann Geschlechtsunterschiede, wenn den Studierenden zuvor gesagt worden war, der Test würde Geschlechtsunterschiede produzieren (Steele, 1997). Genauer gesagt, wurde den Studierenden in der Bedingung mit Geschlechtsunterschied gesagt, dass der Test in der Vergangenheit Geschlechtsunterschiede erbracht hatte. Nachdem man diese Mitteilung vor der Bearbeitung der Aufgaben gemacht hatte, produzierte der Test Geschlechtsunterschiede – für diese Gruppe.
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ne Gruppe bestätigen könnte. Die Forschungsarbeiten von Steele legen nahe, dass der Glaube an die Relevanz eines negativen Stereotyps in einer Situation als Auslöser für das Auftreten genau der schlechten Leistung fungieren kann, die in dem Stereotyp festgeschrieben ist. Beachten Sie bitte, dass es in jeder dieser Studien darauf ankommt, wie die Testteilnehmer die Situation definieren. Nur wenn sie glauben, die Situation sei relevant in Bezug auf das Stereotyp – weil sie beispielsweise glauben, der Test messe Intelligenz –, verschlechtert das Wissen um das Stereotyp die Leistung. Glauben Sie, dass es möglich ist, den IQ zu messen, ohne die Bedrohung durch Stereotype heraufzubeschwören? Falls nicht, werden Forscher vielleicht nie die „tatsächliche“ Leistung bestimmen können. Ein letzter Gedanke zu Intelligenz und Kultur: Insgesamt gesehen gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika eine kulturelle Voreingenommenheit zugunsten genetischer Erklärungen für interindividuelle Differenzen. Harold Stevenson und seine Kollegen (1993) haben Jahre damit verbracht, die mathematischen Leistungen von chinesischen, japanischen und ameri-
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kanischen Kindern zu erfassen. 1980 waren die asiatischen Kinder den gleichaltrigen amerikanischen Kindern im Durchschnitt weit überlegen. Dieser Unterschied bestand auch noch 1990: „Nur 4,1 Prozent der chinesischen und 10,3 Prozent der japanischen Kinder ... hatten so niedrige Werte wie das durchschnittliche amerikanische Kind“ (S. 54). Sind asiatische Kinder genetisch überlegen? In der Tat ist es so, dass Menschen in den Vereinigten Staaten eher dazu neigen, diese Frage mit „Ja“ zu beantworten. Als Stevenson und seine Kollegen asiatische und amerikanische Studierende, Lehrer und Eltern baten, die Bedeutung von „schulischem Fleiß“ und „angeborener Intelligenz“ gegeneinander abzuwägen, betonten asiatische Teilnehmer den Fleiß. Die amerikanischen Teilnehmer betonten angeborene Fähigkeiten. Ist Ihnen klar, wie diese Perspektive Amerikaner zu der Schlussfolgerung führt, dass Asiaten bei der Mathematik genetisch überlegen sind? Weil solche Überzeugungen Auswirkungen auf politische Entscheidungen haben (Wie viel Geld sollte für die Vermittlung von Mathematikkenntnissen ausgegeben werden, wenn Amerikaner Mathematik ohnehin nicht lernen können?), ist
(B)
Abbildung 9.8: Bedrohung durch Stereotype. Eine Bedrohung durch Stereotype liegt dann vor, wenn jemand glaubt, ein negatives Stereotyp sei in einer aktuellen Testsituation relevant. (A) Eine Studie untersuchte das Stereotyp, dass Dunkelhäutige bei Intelligenztests schlecht abschneiden. Der Hälfte einer Stichprobe dunkelhäutiger und weißer Studierender wurde vermittelt, der Test messe ihre Intelligenz, die andere Hälfte erhielt diese Information nicht. Wenn dunkelhäutige Studierende annahmen, der Test messe ihre Intelligenz, war ihre Leistung beeinträchtigt. (Die Testwerte der Teilnehmer im Scholastic Aptitude Test, einem amerikanischer Schulleistungstest, wurden herangezogen, um etwaige Unterschiede in der zu erwartenden Leistung auszugleichen.) (B) Eine zweite Studie untersuchte das Stereotyp, dass Frauen bei Mathematikprüfungen schlechte Ergebnisse erzielen. Der Hälfte einer Stichprobe von männlichen und weiblichen Studierenden wurde gesagt, dass ein Mathematiktest zuvor Geschlechtsunterschiede aufgezeigt hatte; die andere Hälfte erhielt diese Information nicht. Wenn Frauen glaubten, der Test würde Geschlechtsunterschiede aufzeigen, war ihre Leistung schlechter.
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9.5 Kreativität
es wichtig, sich mit gründlicher Forschung vertraut zu machen, um im Hinblick auf intellektuelle Leistung unterscheiden zu können zwischen dem, was verändert werden kann, und dem, was nicht verändert werden kann.
ZWISCHENBILANZ 1 Unter welchen Umständen begannen Goddard und
andere mit IQ-Vergleichen zwischen Gruppen? 2 Warum ist es unangebracht, mit Erblichkeitsschätzun-
gen Behauptungen über Rassenunterschiede beim IQ aufzustellen? 3 Welche Lebensumstände werden von Vorschulbetreu-
ung beeinflusst? 4 Was ergab Harold Stevensons Forschung über interkul-
turelle Betrachtungen akademischer Erfolge? KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an die Studie über Bedrohung durch Stereotype. Wie können lebensnahe Testbedingungen Stereotype relevant erscheinen lassen?
sinn untersuchen. Wir werden auch sehen, was Sie von Personen lernen können, die über außergewöhnliche kreative Fähigkeiten verfügen.
9.5.1 Die Messung von Kreativität und die Verbindung zur Intelligenz Wie würden Sie es anstellen, Personen als (relativ) kreativ oder nichtkreativ zu beurteilen? Viele Ansätze konzentrieren sich auf divergentes Denken, was als die Fähigkeit definiert ist, eine Vielzahl ungewöhnlicher Lösungen für ein Problem zu finden. Fragen, die das divergente Denken prüfen, geben dem Probanden die Möglichkeit, flüssiges (schnelles) und flexibles Denken zu zeigen (Torrance, 1974; Wallach & Kogan, 1965): Nennen Sie alle quadratischen Dinge, die Ihnen einfallen. Zählen Sie innerhalb von drei Minuten so viele weiße, essbare Dinge auf, wie Ihnen einfallen.
9.5
Zählen Sie alle Verwendungsmöglichkeiten für einen Ziegelstein auf, die Ihnen einfallen.
Bevor wir den Themenbereich Intelligenz und Intelligenzdiagnostik verlassen, möchten wir noch auf das Thema Kreativität eingehen. Kreativität ist die Fähigkeit einer Person, neue Ideen und Produkte hervorzubringen, die den Umständen, unter denen sie geschaffen werden, angemessen sind (Sternberg & Lubart, 1999). Betrachten wir die Erfindung des Rads. Das Gerät war neu, weil vor seinem unbekannten Erfinder niemand die Anwendungsmöglichkeiten rollender Objekte erkannt hatte. Es war angemessen, weil der Einsatzbereich des neuen Objekts sehr klar war. Ohne Angemessenheit werden neue Ideen und Objekte oft als seltsam oder irrelevant betrachtet. Unsere Betrachtung der Kreativität ist deshalb in einem Kapitel über Intelligenz angesiedelt, weil viele Leute glauben, es gebe einen starken Zusammenhang zwischen Intelligenz und Kreativität. Um entscheiden zu können, ob das der Fall ist, müssen wir zuerst in der Lage sein, Kreativität zu testen, um dann den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Kreativität zu ermitteln. Deshalb werden wir uns zuerst mit Methoden zur Beurteilung der Kreativität von Ideen oder Produkten befassen und dann einen Blick auf die Verbindung zur Intelligenz werfen. Als Nächstes werden wir Fälle außergewöhnlicher Kreativität betrachten und die Beziehung zwischen Kreativität und Wahn-
Die Antworten werden anhand von Dimensionen wie Flüssigkeit (die Gesamtzahl unterscheidbarer Ideen), Einzigartigkeit (die Anzahl der Ideen, die keine andere Person innerhalb einer angemessenen Stichprobe hatte) und Ungewöhnlichkeit (die Anzahl der Ideen, die beispielsweise nur weniger als 5 Prozent der Stichprobe hatten) bewertet (Runco, 1991). Wenn Kreativität auf diese Weise gemessen wird, liefert der Test ein Leistungsmaß, das mit anderen Maßen verglichen werden kann. Forscher haben bei vielen Gelegenheiten die Beziehung zwischen Maßen für divergentes Denken und dem IQ untersucht. Daraus ist ein typisches Muster entstanden: Es gibt eine schwache bis mäßige Korrelation zwischen den beiden Maßen bis zu einem IQ von etwa 120; jenseits von 120 verschwindet die Korrelation (Sternberg & O’Hara, 1999). Warum ist das so? Ein Forscher schlug vor, dass „Intelligenz die Kreativität zu einem gewissen Grad ermöglicht, sie aber nicht fördert“ (Perkins, 1988, S. 319). Mit anderen Worten: Ein gewisses Maß an Intelligenz gibt einer Person die Gelegenheit, kreativ zu sein, aber die Person nutzt diese Gelegenheit möglicherweise nicht. Kreativitätsforscher hatten oft Bedenken, dass Tests zu divergentem Denken zu nahe an die Tradition der Intelligenzdiagnostik und an den IQ selbst anknüpfen (was die Korrelationen bis zu einem IQ von 120 erklä-
Kreativität
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Abbildung 9.9: Die Beurteilung von Kreativität. Eine fiktive Aufgabe aus einem Fotografiekurs: Machen Sie das bestmögliche Foto aus (A) nichtkreativer und (B) kreativer Perspektive. ren würde) (Lubart, 1994). Ein alternativer Zugang zur Beurteilung von Personen als kreativ oder nichtkreativ besteht darin, diese Personen explizit zu bitten, ein kreatives Produkt zu schaffen – ein Gemälde, ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte. Urteiler bewerten dann die Kreativität jedes einzelnen Produkts. Betrachten Sie die beiden in Abbildung 9.9 gezeigten Fotografien. Welche halten Sie für kreativer? Können Sie erklären, warum? Glauben Sie, Ihre Freunde würden Ihnen zustimmen? Die Forschung hat gezeigt, dass das Maß an Übereinstimmung recht hoch ist, wenn Beurteiler Produkte hinsichtlich ihrer Kreativität bewerten (Amabile, 1983). Personen können über verschiedene Urteiler hinweg reliabel als hoch oder wenig kreativ identifiziert werden.
9.5.2 Außergewöhnliche Kreativität Es gibt einige außergewöhnliche Personen, die bei einem Kreativitätstest beinahe die Skala sprengen würden. An wen denken Sie, wenn Sie gebeten werden, eine außergewöhnlich kreative Person zu nennen? Ihre Antwort hängt wahrscheinlich von Ihrer Expertise auf bestimmten Gebieten und Ihren persönlichen Präferenzen ab. Psychologen könnten Sigmund Freud wählen. Personen, die sich für Kunst, Musik oder Tanz interessieren, könnten Pablo Picasso, Igor Stravinsky oder Rudolf Nurejew wählen. Ist es möglich, die Gemeinsamkeiten in den Persönlichkeiten und Hintergründen dieser Personen zu identifizieren, die außergewöhnliche Kreativität vorhersagen? Howard Gardner (1993) traf eine Auswahl von Personen, darunter Freud, Picasso und Stravinsky, deren außergewöhnliche Fähigkeiten für die oben beschriebenen acht Arten von Intelligenz relevant waren. Gardners
354
Analyse ermöglichte es ihm, ein Portrait der Lebenserfahrungen einer exemplarischen Kreativen zu erstellen, die er E. K. nennt: E. K. entdeckt einen Problembereich oder ein Spezialgebiet, das einen Vorstoß in unbekannte Gefilde verspricht. Das ist ein sehr intensiver Moment. An diesem Punkt wird E. K. von ihren Kollegen abgeschnitten und muss meistens alleine arbeiten. Sie spürt, dass sie an der Schwelle zu einem Durchbruch steht, der noch nicht richtig verstanden ist, nicht einmal von ihr selbst. Überraschenderweise hat E. K. an diesem kritischen Punkt ein starkes Verlangen nach kognitiver und emotionaler Unterstützung, damit sie ihren Kurs beibehalten kann. Ohne diese Unterstützung könnte sie durchaus einen Zusammenbruch erleiden. (Gardner, 1993, S. 361) Welche Lehren können Sie aus Fällen außergewöhnlicher Kreativität ziehen, um Ihre eigene Kreativität zu steigern? Sie können in risikofreudigem Verhalten wetteifern. Hochkreative Menschen sind bereit, in unbekanntes Terrain vorzustoßen (Gardner, 1993; Sternberg & Lubart, 1996). Es gibt außerdem Wege, sich vorzubereiten. Hochkreative Menschen verbringen typischerweise Jahre damit, sich Wissen und Können in den Bereichen zu erarbeiten, in denen sie sich auszeichnen (Weisberg, 1986). Wichtig ist auch die intrinsische Motivation. Hochkreative Menschen gehen ihren Tätigkeiten nach, weil sie Genuss und Befriedigung aus dem ziehen, was sie schaffen (Collins & Amabile, 1999). Wenn Sie alle diese Faktoren in Ihrem eigenen Leben zur Geltung bringen können, sollten Sie im Stande sein, Ihre persönliche Kreativitätsleistung zu steigern.
9.6 Diagnostik und Gesellschaft
Bevor wir diesen Gegenstand verlassen, sollten wir noch eins der verbreitetsten Stereotype über beispielhaft Kreative besprechen: Ihre Lebenserfahrungen grenzen an Wahnsinn oder schließen diese Erfahrung ein. Die Vorstellung, dass große Kreativität in enger Beziehung zu Wahnsinn steht, kann in ihrer Geschichte bis zu Platon zurückverfolgt werden (Kessel, 1989). In jüngerer Zeit (1921) behauptete Kraepelin (der als Begründer der Psychiatrie gilt), dass die manischen Phasen von Personen, die manisch-depressiv sind beziehungsweise eine bipolare affektive Störung aufweisen, einen Kontext frei fließender Denkprozesse schaffen, der große Kreativität begünstigt. Eine Manie ist, wie wir in Kapitel 15 sehen werden, durch Perioden andauernder Erregtheit gekennzeichnet – Handeln und Denken der betroffenen Person können als euphorisch und unbeschränkt beschrieben werden. Es gibt kaum Zweifel, dass viele bedeutende Personen aus Kunst und Literatur an solchen affektiven Störungen litten (Keiger, 1993). Um allerdings eine Verbindung zwischen Kreativität und psychischer Erkrankung herzustellen, haben Forscher versucht, über solche anekdotischen Erzählungen hinauszugehen. Eine
Auswertung der Literatur scheint zu ergeben, dass es zumindest eine leichte Beziehung zwischen einigen Formen von psychischer Erkrankung – wie etwa bipolarer Störung – und Kreativität gibt (Lauronen et al., 2004). Allerdings bezeichnet die Korrelation hier – wie auch sonst – keine Kausalität. Es könnte sein, dass man mit manchen Formen psychischer Erkrankung kreativer denkt; es könnte aber auch sein, dass die Anstrengung des kreativen Prozesses die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen erhöht. Es könnte schließlich auch sein, dass manche Eigenschaften des Gehirns Menschen gleichzeitig hochkreativ und anfällig für psychische Erkrankungen machen – ohne dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen gäbe (Dietrich, 2004). Sie haben jetzt einige der Methoden kennen gelernt, mit denen Psychologen individuelle Unterschiede in Intelligenz und Kreativität messen und interpretieren. Sie haben einen guten Einblick bekommen, wie Forscher versuchen, diese schwierigen Konzepte zu messen und zu verstehen. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wenden wir uns der Frage zu, warum psychologische Diagnostik manchmal Kontroversen verursacht.
ZWISCHENBILANZ 1 Wie wird Kreativität gemessen? 2 Welche Beziehung besteht zwischen dem IQ und Krea-
tivität? 3 Welche drei Faktoren scheinen eine Rolle bei außer-
gewöhnlicher Kreativität zu spielen?
Diagnostik und Gesellschaft
Kunsthistoriker haben oft spekuliert, dass Vincent Van Goghs Kreativität als Künstler von seiner psychischen Erkrankung beeinflusst wurde. Was haben Forscher generell über die Verbindung zwischen Kreativität und Wahnsinn herausgefunden?
9.6
Ein Hauptziel psychologischer Diagnostik ist eine genaue Diagnose von Personen, die möglichst frei von Beurteilungsfehlern ist. Dieses Ziel wird erreicht, indem man die subjektiven Urteile von Lehrern, Arbeitgebern und anderen Beurteilern durch objektive Maße ersetzt, die sorgfältig konstruiert wurden und einer kritischen Bewertung zugänglich sind. Dieses Ziel motivierte Alfred Binet bei seiner bahnbrechenden Arbeit. Binet und andere hofften, dass Testungen die Gesellschaft demokratisieren und Entscheidungen auf der Basis willkürlicher Kriterien wie Geschlecht, Rasse, Nationalität oder der äußeren Erscheinung minimiert würden. Trotz dieser hoch gesteckten Ziele
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jedoch gibt es kein Gebiet der Psychologie, das kontroverser diskutiert wird als die Diagnostik. Die drei ethischen Bedenken, die im Zentrum der Kontroverse stehen, sind die Fairness von Entscheidungen auf der Basis von Tests, der Nutzen von Tests für die Bewertung von Bildungsergebnissen und die Implikationen der Nutzung von Testwerten bei der Kategorisierung von Personen. Kritiker, die sich Gedanken über die Fairness des Einsatzes von Tests machen, behaupten, dass die Kosten oder negativen Konsequenzen für einige Testteilnehmer höher sind als für andere (Bond, 1995). Diese Kosten sind recht hoch, wenn beispielsweise Tests, bei denen Minderheiten niedrige Werte erhalten, dazu verwendet werden, sie von bestimmten Berufsgruppen fern zu halten. In einigen Städten müssen Bewerber für eine Hausmeistertätigkeit im öffentlichen Dienst einen verbalen Test bestehen statt eines angemesseneren Tests für manuelles Geschick. Dem Forscher William Banks (1990) zufolge ist dies eine Strategie, die Gewerkschaften benutzen, um Minderheiten den Zugang zu Arbeitsplätzen zu erschweren. Manchmal erhalten die Mitglieder einer Minderheit schlechte Testergebnisse, weil sie mit nicht angemessenen Normen verglichen werden. Darüber hinaus können willkürliche Grenzwerte, die Bewerber aus einer bestimmten Gruppe bevorzugen, bei Auswahlentscheidungen herangezogen werden, obwohl in Wirklichkeit ein niedrigerer Grenzwert, der fairer ist, genauso viele korrekte Einstellungsentscheidungen produziert hätte. Des Weiteren kann eine zu stark testgestützte Personalauswahl zu einem Versuch der automatischen Zuordnung von Personen zu vorhandenen Arbeitsplätzen werden. Stattdessen würde die Gesellschaft vielleicht mehr davon profitieren, wenn die Anforderungsprofile von Arbeitsplätzen an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Personen angepasst würden. Ein zweiter Grund für ethische Bedenken ist die Tatsache, dass Testungen nicht nur dabei helfen, Schüler zu bewerten; sie können auch bei der Gestaltung der Ausbildung eine Rolle spielen. Die Qualität von Schulsystemen und die Effektivität von Lehrern wird häufig – in Deutschland zumindest zunehmend – aufgrund der Leistungen ihrer Schüler bei standardisierten Leistungstests beurteilt. Das Ausmaß an Unterstützung, welche die Förderung von Schulen durch Steuergelder genießt, und die Höhe individueller Lehrergehälter können von Testwerten abhängen. Diese finanzielle Abhängigkeit von Testwerten hat in einigen Schulbezirken der Vereinigten Staaten zu Betrugsskandalen geführt (Kantrowitz & McGinn, 2000). So trat in Potomac, im Bundesstaat Maryland, die Rek-
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Könnte es sein, dass Lehrer mehr Wert auf testspezifische Fähigkeiten legen als auf breiter angelegte Lernziele, wenn Schulen für hohe Werte bei standardisierten Tests belohnt werden? torin einer Grundschule zurück, nachdem eindeutige Indizien vermuten ließen, die Fünftklässler ihrer Schule hätten mehrere Hilfestellungen erhalten, um ihre Testwerte zu verbessern, unter anderem zusätzliche Bearbeitungszeit und mehrere Versuche (Thomas & Wingert, 2000). Die Beweise gegen die Schule stammten von den Schülern selbst. Die Zehnjährigen berichteten ihren Eltern, dass ihnen erlaubt wurde, zu betrügen, oder dass sie dazu aufgefordert wurden: Sie wunderten sich, warum die Erwachsenen in der Schule darauf bestanden. Die Verwirrung der Kinder zeigt, wie schädlich es sein kann, wenn Testwerte für wichtiger gehalten werden als Bildung. Ein dritter Grund für ethische Bedenken ist die Tatsache, dass Testwerte den Rang von unveränderlichen Etikettierungen einnehmen können. Menschen nehmen sich selbst zu oft als „jemand mit einem IQ von 110“ oder als „Zweier-Schüler“ wahr, als ob diese Werte Etiketten wären, die man ihnen auf die Stirn geklebt hat. Solche Etikettierungen können zu Hürden für die Entwicklung werden, wenn Menschen zu der Überzeugung gelangen, dass ihre geistigen und persönlichen Eigenschaften und Qualitäten fest und unveränderlich sind – dass sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen können. Für diejenigen, die negativ bewertet werden, können diese Werte zu selbst auferlegten Grenzen werden, die ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit verringern und die die Herausforderungen einschränken, die sie in Angriff nehmen. Das ist eine weitere heimtückische Konsequenz von Aussagen über die IQ-Schwächen von Gruppen. Diejenigen, die auf diese Weise stigmatisiert werden, beginnen zu glauben, was „Experten“ über sie sagen, und verlieren ihren Glauben an Schulen und Bildung als Mittel zur Verbesserung ihres Lebens.
9.6 Diagnostik und Gesellschaft
Diese Tendenz, Tests zu heiligen Kühen zu machen, hat sowohl gesellschaftliche als auch persönliche Auswirkungen. Wenn Testwerte zu Etiketten werden (die Eigenschaften, Zustände, Fehlanpassung, Konflikte und Pathologien bei einer Person markieren), dann beginnen die Menschen über die „Normabweichung“ einzelner Kinder nachzudenken, statt über Bildungssysteme, die ihre Programme an alle Lernenden anpassen müssen. Etiketten rücken die abweichende Persönlichkeit in den Mittelpunkt anstelle der dysfunktionalen Umweltaspekte. In Gesellschaften mit einer individualistischen Ausrichtung, wie den Vereinigten Staaten oder den westeuropäischen Ländern, sind die Menschen nur zu sehr bereit, Erfolg und Misserfolg fälschlicherweise der Person zuzuschreiben, während sie dazu neigen, den Einfluss des Verhaltenskontextes zu unterschätzen. Wir machen das Opfer für den Misserfolg verantwortlich und geben dadurch der Gesellschaft einen Freibrief; wir machen den Einzelnen für seinen Erfolg verantwortlich und verkennen dadurch die vielen gesellschaftlichen Einflüsse, die diesen Erfolg möglich machten. Wir müssen erkennen, dass das, was jemand heute ist, davon abhängt, wo jemand herkommt, wo jemand hin will und welche Situation aktuell das Verhalten beeinflusst. Wir möchten das Kapitel mit einer persönlichen Notiz von Philip Zimbardo abschließen, die vielleicht für Studierende, die bei objektiven Tests nicht gut abschneiden, einen Wert als Inspirationsquelle haben mag: Obwohl ich später eine erfolgreiche Karriere als Psychologe hatte, hätten die relevanten Tests, die ich vor vielen Jahren ablegte, etwas anderes vorhergesagt. Obwohl ich eine ausgezeichnete Zwischenprüfung ablegte und meinen Abschluss summa cum laude schaffte, erhielt ich nur ein C [eine mittelschwache Note] im Einführungskurs Psychologie, in dem die Note nur auf Multiple-Choice-Prüfungen basierte. Ich wurde anfänglich nicht zum Hauptstudium an der Universität Yale zugelassen; dann kam ich auf die Warteliste, und schließlich wurde ich widerwillig akzeptiert. Das lag zum Teil daran, dass meine Mathematikwerte im GRE [einem Standard-Leistungstest] unter dem Grenzwert der psychologischen Fakultät lagen. Später stellte ich aber fest, dass es auch daran lag, dass einige Fakultätsmitglieder irrtümlicherweise annahmen, ich sei ein „Neger“ – auf der Basis meines Antwortmusters und anderer „Hinweise“ in meiner Bewerbung
und meinen Tests. Solche Daten färbten ihr Urteil über mein Potenzial für eine Karriere in der Psychologie negativ ein. Glücklicherweise waren einige andere bereit, mir eine Chance zu geben, nachdem einer ihrer ehrbaren Auserwählten (Gordon Bower, der heute ein berühmter Psychologe ist) beschloss, sein Studium andernorts weiterzuführen. Erfolgreiche Leistung im Beruf und im Leben erfordert viel mehr als die Fertigkeiten, Fähigkeiten und Eigenschaften, die in standardisierten Tests gemessen werden. Obwohl die besten Tests die wertvolle Funktion erfüllen, eine Vorhersage über den durchschnittlichen Erfolg zu erlauben, kann es bei jedem Einzelnen zu einer Fehlentscheidung kommen. Menschen können die pessimistischen Vorhersagen ihrer Testwerte überwinden, wenn Ehrgeiz, Vorstellungskraft, Hoffnung, Stolz und intensive Anstrengung ihre Leistung verstärken. Vielleicht ist es lebenswichtig zu wissen, wann man mehr auf sich selbst vertrauen sollte als auf die Ergebnisse eines Tests.
ZWISCHENBILANZ 1 Warum könnten diagnostische Bewertungen nega-
tive Folgen für bestimmte Gruppen von Menschen haben? 2 Warum könnte Diagnostik eine Rolle in der Gestaltung
schulischer Erziehung spielen? 3 Warum könnten Testergebnisse zu Etiketten werden,
die weit reichende Folgen haben?
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Was ist Diagnostik? Psychologische Diagnostik hat eine lange Geschichte, die im alten China beginnt. Viele wichtige Beiträge stammen von Sir Francis Galton.
Intelligenz als Politikum Beinahe von Anfang an wurden Intelligenztests benutzt, um negative Behauptungen über ethnische Gruppen aufzustellen.
Ein nützliches diagnostisches Werkzeug muss reliabel, valide und standardisiert sein. Ein reliables Maß liefert konsistente Ergebnisse. Ein valides Maß erfasst die Eigenschaften, für die der Test konstruiert wurde.
Aufgrund der einigermaßen hohen Erblichkeit des IQ haben einige Forscher die niedrigeren Werte einiger ethnischer und kultureller Gruppen auf genetische Minderwertigkeit zurückgeführt.
Ein standardisierter Test wird immer auf die gleiche Art vorgelegt und ausgewertet; Normen erlauben den Vergleich der Testwerte einer Person mit den Mittelwerten anderer im gleichen Alter, von gleichem Geschlecht und gleicher Kultur.
Benachteiligungen durch die Umwelt und die Bedrohung durch Stereotype scheinen die niedrigeren Werte bestimmter Gruppen zu erklären. Die Forschung zeigt, dass Gruppenunterschiede durch Interventionen in den Umweltbedingungen beeinflusst werden können.
Intelligenzdiagnostik Die Tradition der objektiven Intelligenztestung begann mit Binet zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich. Testwerte wurden als Intelligenzalter interpretiert und sollten die aktuelle Stufe geistiger Entwicklung wiedergeben.
Kreativität Kreativität wird oft durch Tests für divergentes Denken gemessen. Außergewöhnlich kreative Personen sind risikofreudig, gut vorbereitet und hoch motiviert.
In den Vereinigten Staaten schuf Terman die Stanford-Binet-Intelligenzskala und machte das IQ-Konzept populär.
Obwohl ein Zusammenhang von Kreativität und einigen Formen psychischer Erkrankung besteht, konnte keine kausale Verbindung zwischen beiden nachgewiesen werden.
Wechsler entwickelte Intelligenztests für Erwachsene, Schulkinder und Vorschulkinder.
Diagnostik und Gesellschaft Obwohl sie oft zur Vorhersage und als Indikator gegenwärtiger Leistung nützlich sind, dürfen Tests nicht dazu verwendet werden, die Möglichkeiten einer Person zur Entwicklung und Veränderung einzuschränken.
Sowohl die Definition von Intelligenzminderung als auch von Hochbegabung bezieht IQ-Werte wie auch Leistungen im Alltag ein. Intelligenztheorien Psychometrische Analysen des IQ lassen vermuten, dass mehrere grundlegende Fähigkeiten wie fluide und kristalline Aspekte der Intelligenz zum IQ-Wert beitragen.
Wenn die Ergebnisse einer Diagnose das Leben einer Person beeinflussen werden, müssen die verwendeten Techniken reliabel und valide für diese Person und die entsprechende Fragestellung sein.
Aktuelle Theorien verstehen und messen Intelligenz in einem sehr weiten Sinne, indem sie alle Fertigkeiten und Einsichten berücksichtigen, die Menschen bei der Lösung der ihnen begegnenden Probleme einsetzen.
Lösungen für die Anagramme in Tabelle 9.3: 1. Braun 2. Krumm 3. Herbst 4. Dreist 5. Zwerg 6. Specht 7. Sport 8. Trumpf 9. Bleich 10. Krebs
Sternberg unterscheidet analytische, kreative und praktische Aspekte der Intelligenz. Gardner nennt acht Formen der Intelligenz, welche die Intelligenzarten, die bei üblichen IQMaßen erfasst werden, einschließen und darüber hinausgehen. Neuere Forschungen konzentrierten sich zunehmend auch auf die emotionale Intelligenz.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Augenscheinvalidität (S. 329) Bedrohung durch Stereotype (S. 351) Divergentes Denken (S. 353) Emotionale Intelligenz (S. 342) EQ (S. 344) Erblichkeitsschätzung (S. 346) Fluide Intelligenz (S. 338) Formale Diagnostik (S. 327) Geistige Behinderung (S. 335) g-Faktor (S. 338) Intelligenz (S. 331) Intelligenzalter (S. 332)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Intelligenzminderung (S. 335) Intelligenzquotient (IQ) (S. 333) Interne Konsistenz (S. 328) Konstruktvalidität (S. 329) Kreativität (S. 353) Kristalline Intelligenz (S. 338) Kriteriumsvalidität (S. 329) Lebensalter (S. 332) Lernbehinderung (S. 336) Normen (S. 330) Parallelformen (S. 328) Prädiktive Validität (S. 329) Psychologische Diagnostik (S. 326) Psychometrie (S. 337) Reliabilität (S. 328) Retest-Reliabilität (S. 328) Standardisierung (S. 331) Testhalbierungs-Reliabilität (S. 328) Validität (S. 329)
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Entwicklung 362
10.2 Körperliche Entwicklung im Laufe des Lebens . . . . . . . . . . . . . . .
365
10.2.1 Pränatale Entwicklung und Entwicklung während der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Körperliche Entwicklung in der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Körperliche Veränderungen im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . .
365 370 371
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Piagets Erkenntnisse über die geistige Entwicklung. . . . . . . . . . 10.3.2 Aktuelle Perspektiven auf die frühe kognitive Entwicklung . . . . . 10.3.3 Kognitive Entwicklung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . .
372 373 376 379
Psychologie im Alltag: Funktioniert unser Gehirn mit zunehmendem Alter anders?. . . . . . . . . . . . . .
382
10.4 Spracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Lautwahrnehmung und Wortwahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 Lernen von Wortbedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.3 Erwerb der Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
382 383 385 386
10.5.1 Psychosoziale Stadien nach Erikson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.2 Soziale Entwicklung in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388 388 390
Kritisches Denken im Alltag: Wie wirken sich Tagesstätten auf die Entwicklung von Kindern aus? . . . . . . .
395
10.5.3 Soziale Entwicklung in der Adoleszenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.4 Soziale Entwicklung im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . .
396 398
10.6 Unterschiede in Geschlecht und Geschlechterrollen . . . . . . . . . .
402 403 404
10.6.1 Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.2 Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen . . . . . . . . . . . . . . .
10.7 Moralische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7.1 Stufen des moralischen Urteils nach Kohlberg. . . . . . . . . . . . . . 10.7.2 Geschlechterperspektive und kulturelle Perspektiven auf das moralische Urteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405 406 407
10.8 Erfolgreich älter werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung
............................................
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.............................................
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Schlüsselbegriffe
Ü B E R B L I C K
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10.1 Erforschung und Erklärung der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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tellen Sie sich vor, Sie halten ein neugeborenes Baby auf dem Arm. Wie könnten Sie vorhersagen, wie dieses Kind im Alter von einem Jahr sein wird? Mit fünf Jahren? Mit 15? Mit 50? Mit 70? Mit 90? Ihre Vorhersagen würden mit ziemlicher Sicherheit aus einem Gemisch aus Allgemeinem und Speziellem bestehen – das Kind wird höchstwahrscheinlich eine Sprache erlernen, aber vielleicht wird es ein talentierter Autor, vielleicht auch nicht. Ihre Vorhersagen würden auch auf der Berücksichtigung von Erbe und Umwelt beruhen – wenn beide Elternteile talentierte Autoren wären, wären Sie vielleicht bereit zu vermuten, dass das Kind ebenfalls über literarisches Talent verfügen wird; wenn das Kind in einer anregenden Umgebung aufwachsen würde, würden Sie vielleicht vorhersagen, dass das Kind mehr erreichen wird als seine Eltern. In diesem Kapitel beschreiben wir die Theorien der Entwicklungspsychologie, die uns gestatten, systematisch über die Vorhersagen nachzudenken, die wir über den Lebensweg eines neugeborenen Kindes machen können. Entwicklungspsychologie ist dasjenige Gebiet der Psychologie, das sich mit körperlichen und geistigen Veränderungen befasst, die sich von der Empfängnis über die gesamte Lebensspanne hinweg ereignen. Entwicklungspsychologen wollen und sollen herausfinden, wie und warum sich Organismen im Laufe der Zeit verändern – Entwicklung erfassen und erklären. Die Forscher untersuchen die Zeitperioden, in denen unterschiedliche Fähigkeiten und Funktionen erstmalig auftauchen, und beobachten, wie sich diese Fähigkeiten verändern. Die Grundannahme ist hierbei, dass sich geistige Fähigkeiten, soziale Beziehungen und
andere lebenswichtige Aspekte der menschlichen Natur im Laufe des gesamten Lebens entwickeln und verändern. Tabelle 10.1 gibt einen groben Überblick über die wichtigsten Abschnitte der Entwicklung. In diesem Kapitel werden wir allgemein beschreiben, wie Forscher Entwicklung erfassen und welche Theorien sie heranziehen, um Veränderungsmuster über die Zeit hinweg festzuhalten. Anschließend werden wir unsere Lebenserfahrungen in verschiedene Bereiche unterteilen und die Entwicklung in jedem Bereich verfolgen. Zu Anfang des Kapitels werden wir uns auf körperliche und kognitive Entwicklungen konzentrieren sowie auf die Entwicklung der Sprache. Dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Wechselfälle der zwischenmenschlichen Beziehungen im Laufe des Lebens und auf die spezifischen Aufgaben, denen sich Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben stellen müssen. Fangen wir jetzt mit der Frage an, was es heißt, Entwicklung zu erforschen.
Erforschung und Erklärung der Entwicklung
Angenommen, wir würden Sie bitten, eine Liste all der Veränderungen anzulegen, die Sie Ihrer Meinung nach im letzten Jahr durchgemacht haben. Welche Art von Dingen würden Sie auf diese Liste setzen? Haben Sie ein neues Programm zur Steigerung Ihrer körper-
Tabelle 10.1
Phasen der Entwicklung im Laufe des Lebens
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10.1
Phase
Altersabschnitt
Pränatal
Empfängnis bis Geburt
Säuglingsalter
Geburt bis etwa 18 Monate
Frühe Kindheit
Von etwa 18 Monaten bis etwa 6 Jahren
Späte Kindheit
Von etwa 6 Jahren bis etwa 11 Jahren
Adoleszenz
Von etwa 11 Jahren bis etwa 20 Jahren
Frühes Erwachsenenalter
Von etwa 20 Jahren bis etwa 40 Jahren
Mittleres Erwachsenenalter
Von etwa 40 Jahren bis etwa 65 Jahren
Spätes Erwachsenenalter
Etwa 65 Jahre und älter
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Querschnittstudie
lichen Fitness begonnen? Oder haben Sie eine Verletzung ausgeheilt? Haben Sie eine Reihe neuer Hobbys entwickelt? Oder haben Sie beschlossen, sich nur auf ein Interessengebiet zu konzentrieren? Haben Sie einen neuen Freundeskreis gewonnen? Oder haben Sie eine besonders enge Beziehung zu einer einzelnen Person entwickelt? Wenn wir Entwicklung beschreiben, werden wir sie anhand von Veränderung begreifen. Sie sollten diese Übung, über Ihre eigenen Veränderungen nachzudenken, deshalb machen, um zu verdeutlichen, dass Veränderungen fast immer eine Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen, Gewinn und Verlust, mit sich bringen. Oft stellen sich die Menschen vor, der Lauf des Lebens bestünde vorwiegend aus Zugewinn – Veränderungen zum Positiven – in der Kindheit und vorwiegend aus Verlust – Veränderungen zum Negativen – im Verlauf des Erwachsenenlebens. Die hier vorgestellte Sichtweise der Entwicklung betont jedoch, dass Möglichkeiten und damit Zugewinne wie Verluste Merkmale jeder Entwicklung sind (Dixon, 2003; Lachmann, 2004). Wenn Menschen beispielsweise einen Lebenspartner wählen, verzichten sie auf Abwechslung, gewinnen aber an Sicherheit. Wenn Menschen in den Ruhestand treten, verlieren sie an Status, gewinnen aber Freizeit. Es ist weiterhin wichtig, dass Sie Entwicklung nicht als passiven Prozess verstehen. Sie werden sehen, dass viele entwicklungsbedingte Veränderungen die aktive Auseinandersetzung einer Person mit ihrer Umwelt erfordern (Bronfenbrenner, 1999; Bronfenbrenner & Ceci, 1994). Ein guter erster Schritt zur Erfassung von Veränderung ist die Bestimmung der Eigenschaften – körperliche Erscheinung, geistige Fähigkeiten und so weiter – einer durchschnittlichen Person in einem bestimmten Alter. Normative Untersuchungen versuchen, das jeweils Charakteristische eines bestimmten Alters oder einer Entwicklungsstufe zu beschreiben. Durch die systematische Untersuchung von Individuen unterschiedlichen Alters können die Forscher Eckdaten über die Entwicklung bestimmen. Diese Daten liefern Normen, Standardmuster der Entwicklung oder der Leistungsfähigkeit, die auf der Beobachtung vieler Personen beruhen. Normative Standards erlauben den Psychologen, zwischen dem Lebensalter – der Anzahl an Monaten und Jahren seit der Geburt einer Person – und dem Entwicklungsalter – jenem Lebensalter, in dem die meisten Menschen eine gegebene Stufe körperlicher oder geistiger Entwicklung aufweisen – zu unterscheiden. Ein dreijähriges Kind, welches über verbale Fä-
Alter der Teilnehmer bei Datenerhebung
10.1 Erforschung und Erklärung der Entwicklung
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2017 2027 2037 Jahr der Datenerhebung
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Abbildung 10.1: Längsschnitt- und Querschnittstudien. In Längsschnittstudien beobachten die Forscher eine einzige Gruppe von Menschen über Tage, Monate oder Jahre hinweg. In Querschnittstudien werden Menschen verschiedenen Alters zum gleichen Zeitpunkt getestet. higkeiten verfügt, die typisch für Fünfjährige sind, weist dementsprechend ein Entwicklungsalter von fünf Jahren in Bezug auf verbale Fähigkeiten auf. Normen liefern einen Standard, auf dessen Basis Individuen wie auch Gruppen verglichen werden können. Entwicklungspsychologen verwenden mehrere Arten von Forschungsdesigns, um mögliche Veränderungsmechanismen zu verstehen. In einem Längsschnittplan werden dieselben Personen im Laufe der Zeit wiederholt beobachtet und untersucht, oftmals viele Jahre lang ( Abbildung 10.1). Denken Sie an die Studie über die Effektivität des Hope/Perry-Vorschulprogramms, das in Kapitel 9 beschrieben wurde. Die Forscher sammelten zunächst Daten über eine Gruppe von Kindern im Alter von drei bis vier Jahren (Schweinhart, 2004). Um die Langzeiteffekte dieses Programms zu bewerten, befassten sich die Forscher jährlich mit den Kindern, bis sie elf Jahre alt waren, und danach im Alter von 14, 15, 17, 19, 27 und 40 Jahren. Durch diese Längsschnitt-Datensammlung konnten die Forscher wichtige Schlussfolgerungen hinsichtlich der lebenslangen Wirksamkeit des Programms ziehen. Längsschnittpläne werden auch oft benutzt, um individuelle Unterschiede zu untersuchen. Um die Ergebnisse, die unterschiedliche Personen in ihrem Leben erreichen, zu verstehen, können Forscher in einem frühen Lebensabschnitt eine Reihe von potenziellen Kausalfaktoren erfassen und beobachten, wie diese Faktoren den Lebenslauf jeder einzelnen Person beeinflussen.
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In einer Längsschnittstudie wird dieselbe Person in unterschiedlichen Altersstufen beobachtet, manchmal viele Jahre lang. Diese bekannte Frau könnte Teil einer Längsschnittstudie an 1926 geborenen englischen Kindern sein. Inwiefern könnte sie anderen Kindern aus dieser Kohorte gleichen oder sich von diesen unterscheiden?
Ein genereller Vorteil der Forschung mit Längsschnittplänen besteht darin, dass altersbedingte Veränderungen nicht mit Schwankungen in sich wandelnden sozialen Umständen vermischt werden können, weil alle Probanden die gleiche sozioökonomische Zeit-
Ein Nachteil von Querschnittstudien ist der Kohorteneffekt. Welche Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen von Frauen könnten das Ergebnis der historischen Periode sein, in der sie gelebt haben?
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spanne durchlebt haben (Schaie, 1989). Ein Nachteil ist jedoch, dass bestimmte Arten von Verallgemeinerungen nur in Bezug auf dieselbe Kohorte getroffen werden können. Als Kohorte bezeichnet man die Gruppe von Personen, die in derselben historischen Zeitspanne geboren wurden wie die Versuchsteilnehmer. Darüber hinaus sind Längsschnittstudien kostenintensiv, weil es schwer ist, die Probanden über längere Zeit im Auge zu behalten, und man verliert leicht Daten, weil Probanden aussteigen oder nicht mehr auffindbar sind. Ein Großteil der Forschung zur Entwicklung erfolgt unter Verwendung von Querschnittplänen. Hierbei werden Gruppen von Probanden unterschiedlichen chronologischen Alters zur gleichen Zeit untersucht und verglichen. Dadurch kann ein Forscher Schlussfolgerungen über Verhaltensunterschiede ziehen, die mit Altersunterschieden in Zusammenhang stehen könnten. So testeten etwa Forscher, die bestimmen wollten, wie Kinder laufen lernen ohne hinzufallen, Kinder im Alter von 15, 21, 27, 33 und 39 Monaten mithilfe derselben Laboraufgabe (Joh & Adolph, 2006). Ein Nachteil von Querschnittuntersuchungen entsteht durch den Vergleich zwischen Personen, die sich sowohl hinsichtlich des Geburtsjahres als auch hinsichtlich des Lebensalters unterscheiden. Altersbedingte Veränderungen sind konfundiert mit Unterschieden in den sozialen und politischen Bedingungen, denen unterschiedliche Geburtskohorten (Menschen, die in der gleichen Zeitperiode geboren werden) ausgesetzt sind. So könnte eine Studie, die Stichproben von Zehn- und Achtzehnjährigen heute vergleicht, herausfinden, dass die Probanden sich von den Zehn- und Achtzehnjäh-
10.2 Körperliche Entwicklung in Laufe des Lebens
rigen, die in den 70er Jahren aufwuchsen, unterscheiden. Diese Unterschiede könnten sowohl in Beziehung mit der jeweiligen geschichtlichen Periode als auch in Beziehung mit den Entwicklungsstufen der Probanden stehen. Jede Methode gibt den Forschern die Gelegenheit, altersbedingte Veränderungen zu erfassen. Die Forschung bedient sich dieser Methoden, um die Entwicklung in mehreren Bereichen zu studieren. Wenn wir jetzt einige diese Bereiche betrachten – nämlich die physische, kognitive und soziale Entwicklung, werden Sie die enormen Veränderungen nachvollziehen können, die auch Sie bereits durchlaufen haben.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist das Entwicklungsalter? 2 Warum werden oft Längsschnittpläne benutzt, um
individuelle Unterschiede zu studieren? 3 Welche Relevanz haben Geburtskohorten für Quer-
schnittpläne?
Körperliche Entwicklung im Laufe des Lebens
10.2
Viele der in diesem Kapitel beschriebenen Entwicklungsarten erfordern spezielles Wissen, um erkannt werden zu können. Es wäre beispielsweise möglich, dass Sie wichtige Momente der sozialen Entwicklung
nicht erkennen, bevor Sie nicht etwas darüber in diesem Buch gelesen haben. Wir wollen aber mit einem Bereich der Entwicklung beginnen, in dem Veränderungen oft auch für ungeübte Beobachter leicht erkennbar sind: die körperliche Entwicklung. Es besteht kein Zweifel, dass Sie seit Ihrer Geburt enorme körperliche Veränderungen mitgemacht haben. Derartige Veränderungen werden bis an das Ende Ihres Lebens weitergehen. Weil körperliche Veränderungen so zahlreich auftreten, werden wir uns auf diejenigen Veränderungen konzentrieren, die einen Einfluss auf die psychische Entwicklung haben.
10.2.1 Pränatale Entwicklung und Entwicklung während der Kindheit Sie begannen Ihr Leben mit einem einzigartigen genetischen Potenzial: Im Moment der Empfängnis befruchtete ein männliches Spermium eine weibliche Eizelle und bildete so die einzellige Zygote; Sie erhielten die Hälfte der 46 Chromosomen, die sich in allen normalen menschlichen Körperzellen finden, von Ihrer Mutter und die andere Hälfte von Ihrem Vater. In diesem Abschnitt werden wir die körperliche Entwicklung in der pränatalen Phase umreißen, vom Moment der Empfängnis bis zum Moment der Geburt. Wir werden auch einige der sensorischen Fähigkeiten beschreiben, die Kinder noch vor der Geburt erwerben. Schließlich werden wir auch die wichtigen körperlichen Veränderungen beschreiben, die Sie in Ihrer Kindheit erfahren haben.
Körperliche Entwicklung im Mutterleib
Während das Gehirn eines sich entwickelnden Fetus wächst, generiert es 250.000 neue Neurone pro Minute. Worauf muss das Gehirn vorbereitet sein, sobald das Kind die Welt betritt?
Das erste Verhalten jedes Kindes ist der Herzschlag. Er beginnt in der pränatalen Phase, wenn der Embryo etwa drei Wochen alt und etwa 0,4 Zentimeter groß ist. Reaktionen auf Stimulation wurden schon ab der sechsten Woche beobachtet, wenn der Embryo noch unter 2,5 Zentimeter groß ist. Spontane Bewegungen werden ab der achten Woche beobachtet (Kisilevsky & Low, 1998). Nach der achten Woche bezeichnet man den sich entwickelnden Embryo als Fetus. Die Mutter spürt die Bewegung des Fetus etwa ab der sechzehnten Schwangerschaftswoche. Zu diesem Zeitpunkt ist der Fetus etwa 18 Zentimeter groß (die durchschnittliche Größe bei der Geburt beträgt etwa 50 Zentimeter). Während das Gehirn im Mutterleib wächst, generiert es neue Neurone mit einer Geschwindigkeit von 250.000 pro Minute und erreicht eine vollständige Ausstattung von
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100 Milliarden Neurone bei der Geburt (Cowan, 1979). Bei Menschen und anderen Säugetieren findet der Großteil der Zellvermehrung und der Wanderung von Neurone an ihren korrekten Platz vor der Geburt statt. Die Entwicklung des Verzweigungsvorgangs der Axone und Dendriten findet dagegen hauptsächlich nach der Geburt statt (Kolb, 1989). Die Abfolge der Gehirnentwicklung, von 25 Tagen bis zu 9 Monaten, ist in Abbildung 10.2 dargestellt. Während der ersten Schwangerschaftsmonate können Umweltfaktoren wie Fehlernährung, Infektionen, Strahlung oder Drogen die normale Bildung von Organen und Körperstrukturen verhindern. Wenn die Mutter beispielsweise zwei bis vier Wochen nach der Empfängnis mit Röteln infiziert ist, besteht eine Wahrscheinlichkeit von etwa 50 Prozent, dass das Kind an negativen Folgeerscheinungen wie geistiger Behinderung, Sehschäden, Taubheit oder Herzschäden leidet.
30 Tage
Fünf Monate (pränatal)
Abbildung 10.2: Die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Während der neun Monate vor der Geburt erreicht das Gehirn eine Ausstattung von über 100 Milliarden Neuronen.
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Acht Monate (pränatal)
Erfolgt die Infektion zu einem anderen Zeitpunkt, ist die Wahrscheinlichkeit negativer Effekte weitaus geringer (beispielsweise 22 Prozent im zweiten Schwangerschaftsmonat; acht Prozent im dritten Monat) (Murata et al., 1992). In ähnlicher Weise setzen Mütter, die während kritischer Phasen bestimmte Substanzen wie Alkohol konsumieren, ihre ungeborenen Kinder dem Risiko von Hirnschädigungen und anderen Beeinträchtigungen aus (Mattson et al., 2001; Randall, 2001). Missbildungen des Gesichts entstehen beispielsweise am wahrscheinlichsten dadurch, dass Mütter während der ersten zwei Schwangerschaftsmonate trinken (Coles, 1994). Schwangere Frauen, die rauchen, setzen ihr Kind ebenfalls Risiken aus, vor allem in der zweiten Schwangerschaftshälfte. Wer während der Schwangerschaft raucht, erhöht das Risiko für Fehlgeburten, Frühgeburten und Babys mit niedrigem Geburtsgewicht. Es ist sogar so, dass Frauen, die während der
40 Tage
100 Tage
Sieben Monate (pränatal)
Neun Monate (pränatal)
10.2 Körperliche Entwicklung in Laufe des Lebens
Wenn jemand die Wange eines Neugeborenen berührt, dann veranlasst der Suchreflex das Kind, nach etwas zu suchen, woran es saugen kann. Auf welche Weise sind Kinder noch für das Überleben vorprogrammiert? Schwangerschaft als Passivraucherinnen dem Rauch anderer ausgesetzt sind, ebenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit untergewichtige Babys zur Welt bringen (Dejin-Karlsson et al., 1998). Manche Substanzen können fast jederzeit während der Schwangerschaft zu Schäden führen. Kokain beispielsweise gelangt durch die Plazenta und kann die Entwicklung des Fetus unmittelbar beeinflussen. Bei Erwachsenen führt Kokain zur Verengung der Blutgefäße; bei schwangeren Frauen schränkt Kokain die Versorgung des Fetus mit Blut und Sauerstoff durch die Mutter ein. Wenn es zu einem schweren Sauerstoffmangel kommt, können Blutgefäße im Gehirn des Fetus platzen. Solche pränatalen Schlaganfälle können zu lebenslangen geistigen Behinderungen führen (Koren et al., 1998; Singer et al., 2002). Die Forschung legt nahe, dass die Gehirnbereiche, die am stärksten durch Kokain geschädigt werden, für die Kontrolle der Aufmerksamkeit verantwortlich sind: Kinder, die im Mutterleib in Kontakt mit Kokain kamen, werden möglicherweise ihr ganzes Leben lang damit zu tun haben, sich nicht durch irrelevante akustische und visuelle Reize ablenken zu lassen. Wir erwähnen diese Beispiele, um hervorzuheben, dass Anlage und Umwelt sogar vor der Geburt eines Kindes bei der Bildung von Körper und Gehirn interagieren.
Kinder sind auf Überleben programmiert Welche Fähigkeiten sind diesem Körper und diesem Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt einprogrammiert? Wir sind gewohnt, uns Neugeborene als völlig hilflose Wesen vorzustellen. John Watson, der Begründer des
Behaviorismus, beschrieb den menschlichen Säugling als „ein reges, sich windendes Stück Fleisch, in der Lage, ein paar einfache Reaktionen zu zeigen“. Wenn Sie dem zustimmen, dann sind Sie vielleicht überrascht, wenn Sie erfahren, dass Säuglinge nur wenige Augenblicke nach Verlassen des Mutterleibs bereits erstaunliche Fähigkeiten zeigen, wenn es darum geht, Informationen mit ihren Sinnen aufzunehmen und darauf zu reagieren. Man kann sich dies so vorstellen, dass Säuglinge für das Überleben vorprogrammiert sind, gut darauf eingerichtet, auf elterliche Fürsorge zu reagieren und ihre soziale Umgebung zu beeinflussen. So können Säuglinge beispielsweise sogar schon vor der Geburt hören und sind also darauf vorbereitet, auf bestimmte Geräusche zu reagieren, wenn sie geboren werden. Neugeborene hören lieber die Stimme ihrer jeweiligen Mutter als die Stimmen anderer Frauen (Spence & DeCasper, 1987; Spence & Freeman, 1996). Tatsächlich deuten die neuesten Forschungen darauf hin, dass Kinder die Stimmen ihrer Mütter sogar schon vor der Geburt erkennen.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscherteam warb werdende Mütter in einem Krankenhaus in Südostchina an (Kisilevsky et al., 2003). Die Mütter waren durchschnittlich seit 38,4 Wochen schwanger, was bedeutete, dass die Feten geburtsreif waren. Die Mütter sprachen ein zwei Minuten langes Gedicht auf Band. Die Aufnahmen wurden den Feten dann mit einem Lautsprecher vorgespielt, der sich etwa 10 Zentimeter über dem Unterleib der Mütter befand. Die Hälfte der Feten bekam das Gedicht mit der Stimme ihrer eigenen Mutter zu hören, die andere Hälfte mit der Stimme einer der anderen Mütter. Die Experimentatoren überwachten dabei die Herzfrequenz der Feten und erhielten bemerkenswerte Resultate: Der fetale Herzschlag beschleunigte sich als Reaktion auf die Stimme der eigenen Mutter und verlangsamte sich bei fremden Stimmen!
Angesichts dieser deutlichen Ergebnisse zur Präferenz der eigenen Mutter mögen Sie sich fragen, ob Kinder auch eher auf die Stimme des jeweiligen Vaters als auf jene anderer Männer reagieren. Leider scheinen sie nicht genügend akustische Erfahrung mit ihren Vätern zu haben: Neugeborene zeigen keine Präferenz für die Stimmen ihrer Väter (DeCasper & Prescott, 1984). Sogar im Alter von vier Monaten ziehen Kinder die Stimme ihres Vaters nicht der Stimme eines Fremden vor (Ward & Cooper, 1999). Kleinkinder setzen auch fast sofort ihr visuelles System ein: Wenige Minuten nach der Geburt sind die
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AUS DER FORSCHUNG Sogar ohne perfektes Sehvermögen haben Kinder trotzdem visuelle Präferenzen. Robert Fantz (1963), ein Pionier der Forschung auf diesem Gebiet, beobachtete, dass schon vier Monate alte Babys komplexe Objekte einfachen vorzogen und vollständige Gesichter gegenüber Gesichtern präferierten, deren Merkmale falsch angeordnet waren. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass Säuglinge bereits im Alter von drei Tagen toplastige Anordnungen bevorzugen (Macchi Cassia et al., 2004). Um sich das vorzustellen, betrachten Sie einfach Ihr Gesicht im Spiegel – Ihre Augen, Augenbrauen und so weiter nehmen viel mehr Platz ein als Ihre Lippen. Die Tatsache, dass Gesichter optisch toplastig sind, könnte erklären, warum Säuglinge menschliche Gesichter gegenüber anderen visuellen Mustern bevorzugen.
Säuglinge können sehr früh große kontrastreiche Objekte wahrnehmen. Welche visuellen Erfahrungen finden Neugeborene besonders interessant? Augen eines Neugeborenen aufmerksam, wenden sich in Richtung einer Stimme und suchen forschend nach der Quelle bestimmter Geräusche. Trotzdem ist das visuelle System im Vergleich zu den anderen Sinnen bei der Geburt weniger gut entwickelt. Die Sehschärfe ist bei Erwachsenen etwa 40 Mal größer als bei Neugeborenen (Sireteanu, 1999). Die Sehschärfe verbessert sich rapide während der ersten sechs Lebensmonate. Neugeborene sind auch schlecht dafür ausgestattet, die Welt in drei Dimensionen wahrzunehmen: Erst mit etwa vier Monaten sind Kinder in der Lage, Informationen aus beiden Augen zu kombinieren, um räumliche Tiefe wahrzunehmen. Gutes Sehvermögen – Kontrastempfindlichkeit, Sehschärfe und Farbdiskrimination – setzt voraus, dass sehr viele Fotorezeptorzellen in der Mitte des rezeptiven Felds im Auge funktionieren und dass sich die Optik des Auges entsprechend entwickelt (siehe Kapitel 4). Viele dieser Komponenten im visuellen System des Säuglings müssen erst reifen. Gutes Sehvermögen setzt auch voraus, dass aufgrund visueller Erfahrung zahlreiche Verbindungen zwischen den Neuronen im visuellen Cortex des Gehirns aufgebaut werden (Maurer et al., 1999). Bei der Geburt sind noch nicht genügend solcher Verbindungen vorhanden.
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Abbildung 10.3: Die visuelle Klippe. Sobald Kinder Erfahrungen damit gemacht haben, in ihrer Umgebung herumzukrabbeln, zeigen sie Furcht vor der tiefen Seite der visuellen Klippe.
10.2 Körperliche Entwicklung in Laufe des Lebens
Wachstum und Reifung während der Kindheit Neugeborene Kinder verändern sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Wie Abbildung 10.4 jedoch zeigt, wachsen nicht alle Körperstrukturen gleich stark. Ihnen
80
Prozent
Sobald Kinder anfangen, sich in ihrer Umgebung zu bewegen, erwerben sie schnell andere perzeptuelle Fähigkeiten. So wurde beispielsweise in einer klassischen Studie von Eleanor Gibson und Richard Walk (1960) untersucht, wie Kinder auf Informationen über räumliche Tiefe reagieren. Dazu wurde eine Vorrichtung benutzt, die als visuelle Klippe (im Englischen: visual cliff) bezeichnet wird. Die visuelle Klippe besteht aus einem Brett, das sich auf einer stabilen Glasfläche befindet. Wie Abbildung 10.3 zeigt, wurden mithilfe von kariertem Tuch eine tiefe und eine flache Seite hergestellt. In ihrer Originaluntersuchung zeigten Gibson und Walk, dass Kinder das Brett bereitwillig verließen, um über die flache Seite zu krabbeln, aber zögerten, die tiefe Seite zu überqueren. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Furcht vor der tiefen Seite von der Krabbelerfahrung abhängt: Kinder, die schon krabbeln können, haben Angst vor der tiefen Seite, während nichtkrabbelnde Gleichaltrige keine Angst haben (Campos et al., 1992). Respekt vor Höhe ist also nicht ganz „vorprogrammiert“, sondern entwickelt sich schnell, wenn Kinder anfangen, die Welt aus eigener Kraft zu entdecken.
60 40 20 0 Geburt 2
4
6
8 10 12 Alter in Jahren
14
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Neuronales Wachstum (Gehirn und Gehirnteile) Körperliches Wachstum (Körper als Ganzes) Genitales Wachstum (Hoden, Eierstöcke etc.)
Abbildung 10.4: Wachstumsmuster im Verlauf der ersten beiden Lebensjahrzehnte. Neuronales Wachstum erfolgt während des ersten Lebensjahres sehr schnell; wesentlich schneller als das Wachstum des Körpers. Im Gegensatz dazu tritt vor der Adoleszenz keine Reifung der Genitalien auf.
ist vermutlich aufgefallen, dass Babys fast nur aus Kopf zu bestehen scheinen. Bei der Geburt hat der Kopf eines Babys schon fast 60 Prozent seiner Größe im Erwachsenenalter erreicht und macht ein Viertel der gesamten Körpergröße aus (Bayley, 1956). Das Körpergewicht eines Säuglings verdoppelt sich in den ersten sechs Lebensmonaten und verdreifacht sich bis zum ersten Geburtstag; im Alter von zwei Jahren ist
Abbildung 10.5: Der Reifungsfahrplan für die Fortbewegung. Die Entwicklung des Laufens erfordert keine spezielle Unterweisung. Sie folgt einer festen, zeitlich geordneten Sequenz, welche für alle Mitglieder unserer Spezies typisch ist, die zum Laufen körperlich in der Lage sind.
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10.2.2 Körperliche Entwicklung in der Adoleszenz
Welchen Einfluss hat ein Tragebrett auf die Fähigkeit eines Kindes, laufen zu lernen? der Rumpf eines Kindes etwa halb so groß, wie er im Erwachsenenalter sein wird. Das genitale Gewebe weist bis zum Teenageralter nur geringe Veränderungen auf und erreicht dann schnell die Proportionen eines Erwachsenen. Bei den meisten Kindern wird das körperliche Wachstum von der Reifung der motorischen Fähigkeiten begleitet. Als Reifung bezeichnet man Wachstumsprozesse, die typisch für alle Mitglieder einer Spezies sind, die im typischen Lebensraum dieser Spezies aufwachsen. Die charakteristischen Reifungssequenzen, die Neugeborene durchleben, werden durch die Interaktion zwischen ererbten biologischen Begrenzungen und Einflüssen der Umgebung gesteuert. In der reifungsgesteuerten Abfolge der Fortbewegung beispielsweise, wie sie in Abbildung 10.5 dargestellt ist, lernt das Kind den aufrechten Gang ohne spezielles Training. Die überwiegende Mehrheit aller Babys folgt dieser Sequenz; nur wenige überspringen einen Schritt oder entwickeln eine eigene Abfolge. Trotzdem fangen Kinder in Kulturen mit geringerer körperlicher Stimulation erst später mit dem Laufen an. Der Brauch der amerikanischen Indianer, ihre Babys in eng verschnürten Tragegestellen auf dem Rücken zu transportieren, verzögert die Entwicklung des Laufens. Sobald die Kinder aber nicht mehr eingepackt werden, durchlaufen sie dieselbe Sequenz wie alle anderen Kinder. Deshalb können Sie davon ausgehen, dass alle nichtbehinderten Kinder dasselbe Potenzial für körperliche Reifung besitzen.
370
Der erste konkrete Indikator für das Ende der Kindheit ist der pubertäre Wachstumsschub. Etwa im Alter von zehn Jahren bei Mädchen und zwölf Jahren bei Jungen gelangen Wachstumshormone in den Blutkreislauf. Die Adoleszenten können dann über mehrere Jahre hinweg etwa acht bis fünfzehn Zentimeter pro Jahr wachsen, und auch das Körpergewicht nimmt schnell zu. Der Körper eines Adoleszenten erreicht nicht auf einen Schlag die Proportionen eines Erwachsenen. Zuerst wachsen Hände und Füße auf die entsprechende Zielgröße. Als Nächstes kommen Arme und Beine, der Rumpf entwickelt sich am langsamsten. Dadurch verändert sich die Körperform einer Person im Laufe der Adoleszenz mehrmals. Zwei bis drei Jahre nach dem Einsetzen des Wachstumsschubs erreicht ein Mensch die Pubertät, die sexuelle Reife. (Das lateinische Wort Pubertas bedeutet „mit Haaren bedeckt“ und bezieht sich auf das Wachstum der Körperhaare auf Armen und Beinen, unter den Achseln und im Genitalbereich.) Bei Männern beginnt die Pubertät mit der Produktion von fruchtbaren Spermien, während sie bei Mädchen mit der Menarche, dem Beginn der Menstruation, einsetzt. In den Vereinigten Staaten liegt das Durchschnittsalter bei der Menarche zwischen 12 und 13 Jahren, wobei sich die normale Spanne von 11 bis 15 Jahren erstreckt. Bei Jungen kommt es im Durchschnitt zwischen 12 und 14 Jahren zur Produktion fruchtbarer Spermien, aber auch hier gibt es wieder eine beträchtliche Variation des Zeitpunkts. Diese körperlichen Veränderungen führen oft zu einem Bewusstsein sexueller Regungen. Wir werden uns in Kapitel 11 mit dem Beginn der sexuellen Motivation befassen. Einige andere wichtige Veränderungen vollziehen sich in den Gehirnen Heranwachsender. Die Forschung ging früher davon aus, dass der Großteil des Hirnwachstums bereits nach den ersten Lebensjahren abgeschlossen sei. Inzwischen haben allerdings Studien mithilfe von bildgebenden Verfahren gezeigt, dass die Hirnentwicklung auch in der Adoleszenz noch voranschreitet (Paus, 2005). Die Hirnareale, die sich beim Übergang von der Pubertät ins frühe Erwachsenenalter am stärksten verändern, sind die Frontallappen – Bereiche, die für vorausplanendes Denken und die Regulierung von Emotionen zuständig sind. Dem neuen Wachstum, das etwa mit 10 bis 12 Jahren beginnt, folgt ein Auslichten unbenutzter Verbindungen um das zwanzigste Lebensjahr herum. Dieser Abbauprozess hinterlässt ein effizientes und gut organisiertes Erwachsenengehirn.
10.2 Körperliche Entwicklung in Laufe des Lebens
Mit dem Ende der Adoleszenz erreicht der Körper wieder eine Phase, in der die biologischen Veränderungen relativ gering sind. Sie können als junge Erwachsene Ihren Körper auf unterschiedliche Arten beeinflussen – beispielsweise durch Diäten oder Sport, aber die nächste auffällige Menge an Veränderungen, bei denen es sich um konsistente Folgen des Älterwerdens handelt, tritt im mittleren und späten Erwachsenenleben auf.
10.2.3 Körperliche Veränderungen im Erwachsenenalter Einige der offensichtlichsten Veränderungen, die mit dem Alter einhergehen, betreffen unsere körperliche Erscheinung und unsere körperlichen Fähigkeiten. Wenn wir älter werden, müssen wir uns darauf einstellen, dass unsere Haut Falten bildet, dass unser Haar dünn und grau wird und die Körpergröße um drei bis fünf Zentimeter zurückgeht. Wir müssen damit rechnen, dass einige unserer Sinne weniger scharf sein werden. Diese Veränderungen treten nicht plötzlich
im Alter von 65 Jahren ein. Sie treten graduell auf und beginnen, sobald wir das Erwachsenenalter erreichen. Bevor wir aber einige übliche altersbedingte Veränderungen beschreiben, wollen wir auf einen allgemeineren Punkt aufmerksam machen: Viele körperliche Veränderungen entstehen nicht durch das Altern, sondern durch mangelnden Gebrauch; die Forschung stützt den verbreiteten Glauben an die Redewendung „Wer rastet, rostet!“. Ältere Erwachsene, die ein körperliches Fitnessprogramm beibehalten (oder wieder aufnehmen), haben vielleicht nicht so viele der Probleme, von denen man oft annimmt, sie seien unvermeidbare Konsequenzen des Älterwerdens. (Beachten Sie bitte, dass wir zur gleichen Schlussfolgerung gelangen werden, wenn wir uns mit kognitiven und sozialen Aspekten in der Mitte und am Ende des Erwachsenenalters beschäftigen.) Werfen wir jetzt aber einen Blick auf einige Veränderungen, die größtenteils unvermeidbar sind und die oft Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie Erwachsene ihr Leben bewerten.
Sehen Die große Mehrheit der Menschen über 65 leidet unter einem gewissen Verlust an Sehfähigkeit (Carter, 1982; Pitts, 1982). Im Alter werden die Linsen im Auge trüber und weniger flexibel. Man nimmt an, dass die Trübung der Linse für das verschlechterte Farbensehen verantwortlich ist, unter dem einige ältere Menschen leiden. Insbesondere Farben niedriger Wellenlänge – Violett-, Blau- und Grüntöne – sind für einige ältere Menschen schwer zu unterscheiden. Die Starrheit der Linse kann es erschweren, Objekte im Nahbereich zu sehen. Sie beeinflusst auch die Dunkeladaptation und macht die Nachtsicht zu einem Problem für ältere Menschen. Viele normale visuelle Veränderungen können durch Brillen oder Kontaktlinsen ausgeglichen werden.
Hören
Warum geben Forscher älteren Menschen den Rat: „Wer rastet, der rostet“?
Ein Verlust an Hörfähigkeit ist unter den über 60-Jährigen üblich. Der durchschnittliche ältere Erwachsene hat Schwierigkeiten, hochfrequente Schalle zu hören (Corso, 1977). Diese Beeinträchtigung ist üblicherweise bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen. Es ist für ältere Erwachsene oft schwierig, gesprochene Sprache zu verstehen – besonders, wenn in hohen Tonlagen gesprochen wird. (Kurioserweise steigt die Tonhöhe, mit der Menschen sprechen, im Alter an, weil die Stimmbänder weniger elastisch werden.)
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Hörprobleme treten unter Umständen graduell auf und sind für den Einzelnen schwer zu bemerken, bevor sie extrem werden. Hinzu kommt, dass Personen unter Umständen den Hörverlust leugnen, selbst wenn er ihnen aufgefallen ist, weil er als unerwünschtes Zeichen des Alterns wahrgenommen wird. Ein Teil der körperlichen Aspekte des Verlusts an Hörfähigkeit kann mithilfe von Hörgeräten ausgeglichen werden. Sie sollten auch bedenken, dass eine tiefere Stimmlage, deutliche Aussprache und die Reduktion von Hintergrundgeräuschen vieles erleichtern, wenn Sie selbst älter werden oder mit älteren Erwachsenen zu tun haben.
Alter und körperliche Veränderungen führen nicht notwendigerweise zu Einschränkungen in anderen Aspekten der Sexualität (Levine, 1998; Levy, 1994). In der Tat ist Sex ein Teil der gesunden Freuden des Lebens und kann erfolgreiches Älterwerden unterstützen, weil er anregend ist, mit körperlicher Aktivität einhergeht, die Phantasie anregt und eine zentrale Form der sozialen Interaktion darstellt. Wir haben einen kurzen Überblick über die Eckdaten der körperlichen Entwicklung erhalten. Jetzt wollen wir uns vor diesem Hintergrund mit der Art und Weise beschäftigen, in der sich ein Verständnis für die Welt um uns herum entwickelt.
Fortpflanzungsfähigkeit und Sexualität Wir haben davon gesprochen, dass die Pubertät den Beginn der Fortpflanzungsfähigkeit markiert. In der Mitte des Lebens und gegen Ende des Erwachsenenalters schwindet die Fortpflanzungsfähigkeit. Mit etwa 50 Jahren treten die meisten Frauen in die Menopause ein, Menstruation und Ovulation enden. Bei Männern sind die Veränderungen weniger abrupt, aber die Menge an zeugungsfähigen Spermien sinkt jenseits der vierzig, und die Menge an Samenflüssigkeit sinkt jenseits der sechzig. Diese Veränderungen sind natürlich vor allem für die Fortpflanzung wichtig. Zunehmendes
ZWISCHENBILANZ 1 Wie beeinflusst Krabbelerfahrung das Verhalten von
Kindern über der visuellen Klippe? 2 Was hat die neuere Forschung hinsichtlich der Gehirn-
entwicklung in der Adoleszenz gezeigt? 3 Warum hat zunehmendes Lebensalter oft Einfluss auf
das Farbensehen? KRITISCHES DENKEN: Warum ließen die Forscher der Studie zur pränatalen Stimmenerkennung die Mütter das Gedicht aufzeichnen, anstatt sie es „live“ vortragen zu lassen?
Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
Ältere Menschen können die vielen Vorteile von Intimität und sexuellen Beziehungen genießen und tun dies auch. Warum widerspricht dieses Bild den Stereotypen über das Alter?
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10.3
Wie verändert sich das individuelle Verständnis der physikalischen und sozialen Realität im Laufe des Lebens? Kognitive Entwicklungspsychologie befasst sich mit der Entstehung und Veränderung der Prozesse und Produkte des Geistes. Weil die Forscher besonders vom ersten Auftreten kognitiver Fähigkeiten fasziniert waren, wird sich der Großteil unserer Aufmerksamkeit auf die frühesten Stufen der Entwicklung richten. Wir werden aber auch einige der Entdeckungen über die kognitive Entwicklung im Erwachsenenalter beschreiben. Wenn wir jetzt die kognitive Entwicklung zu besprechen beginnen, möchten wir Sie an eine in Kapitel 3 eingeführte Begriffsunterscheidung erinnern: Anlage vs. Umwelt. Die Frage ist, wie man die tief greifenden Unterschiede zwischen einem Neugeborenen und einem Zehnjährigen am besten erklärt: Inwieweit ist diese Entwicklung durch die Gene (Anlagen) bedingt und inwieweit ist sie das Ergebnis gelernter
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
Erfahrungen (Umwelt)? Die Anlage-Umwelt-Debatte über die relative Wichtigkeit von Genen und Lernen wird seit langem unter Philosophen, Psychologen und Pädagogen geführt. Auf der eine Seite stehen diejenigen, die glauben, dass der menschliche Säugling ohne Wissen oder Fähigkeiten geboren wird und dass die Erfahrung, in Form des menschlichen Lernens, Botschaften auf die leere Tafel (lateinisch: tabula rasa) des ungeformten kindlichen Geistes schreibt. Diese Sichtweise, die ursprünglich von dem britischen Philosophen John Locke stammt, wird als Empirismus bezeichnet. Sie schreibt die menschliche Entwicklung der Erfahrung zu. Empiristen glauben, dass die Richtung der menschlichen Entwicklung durch die Stimulation vorgegeben wird, die Menschen von ihrer Umwelt erhalten. Zu den Gelehrten, die sich gegen den Empirismus wandten, gehörte der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Er befürwortete die nativistische Ansicht, der zufolge die Natur oder das evolutionäre Erbe, welches jedes Kind in diese Welt mitbringt, die Gussform ist, nach der sich die Entwicklung formt. Unsere Darstellung der kognitiven Entwicklung sollte Ihnen deutlich machen, dass in dieser Diskussion beide Seiten einen Teil der Wahrheit beanspruchen können. Kinder verfügen über angeborene Voraussetzungen, aus ihren Umwelterfahrungen zu lernen. Unsere Betrachtung der kognitiven Entwicklung beginnt mit den Pionierarbeiten des Schweizer Forschers Jean Piaget.
10.3.1 Piagets Erkenntnisse über die geistige Entwicklung Jean Piaget (1926, 1937/1974, 1976) hat fast 50 Jahre lang Theorien über des Denken, Schlussfolgern und Problemlösen von Kindern entwickelt. Vielleicht entstand Piagets Interesse an kognitiver Entwicklung aus seiner eigenen, intellektuell regen Jugend: Mit zehn Jahren veröffentlichte Piaget seinen ersten Aufsatz, und mit 14 Jahren wurde ihm eine Tätigkeit als Museumskurator angeboten (Brainerd, 1996). Zur Schaffung seiner komplexen Theorien über die frühe geistige Entwicklung benutzte Piaget einfache Demonstrationen und aufschlussreiche Interviews mit seinen eigenen und anderen Kindern. Sein Interesse galt nicht der Menge an Informationen, über die Kinder verfügen, sondern der Art und Weise, wie sich ihr Denken und ihre mentalen Repräsentationen der physikalischen Realität im Laufe verschiedener Entwicklungsstufen veränderten.
Bausteine der entwicklungsbedingten Veränderung Piaget benutzte den Begriff Schema für die geistigen Strukturen, mit deren Hilfe Menschen die Welt interpretieren. Schemata sind die Bausteine der entwicklungsbedingten Veränderung. Piaget bezeichnete die ersten Schemata von Säuglingen als sensumotorische Intelligenz – mentale Strukturen oder Programme, die sensumotorische Sequenzen wie Saugen, Betrachten, Greifen und Schieben steuern. Durch Übung werden elementare Schemata zu immer komplexeren, vielfältigeren Handlungsmustern kombiniert, integriert und differenziert. Ein Beispiel dafür wäre, wenn ein Kind ein ungeliebtes Objekt wegschiebt, um nach einem dahinter liegenden, begehrten Objekt zu greifen. Nach Piaget arbeiten zwei grundlegende Prozesse zusammen, um kognitives Wachstum zu erreichen – Assimilation und Akkommodation. Bei der Assimilation wird Information aus der Umwelt modifiziert, um sie an vorhandenes Wissen anzupassen: Das Kind greift auf vorhandene Schemata zurück, um eintreffende sensorische Informationen zu strukturieren. Bei der Akkommodation werden die vorhandenen Schemata des Kindes umstrukturiert oder modifiziert, so dass neue Informationen umfassender aufgenommen werden können. Betrachten wir die Übergänge, die ein Kind machen muss, um vom Saugen an der Mutterbrust über das Saugen am Nippel einer Flasche und das Saugen an einem Trinkhalm dahin zu kommen, aus einer Tasse zu trinken. Die anfängliche Saugreaktion ist ein bei der Geburt vorhandenes Reflexverhalten, das jedoch etwas modifiziert werden muss, um den Mund des Kindes an die Form und Größe der mütterlichen Brustwarze anzupassen. Bei der Anpassung an die Flasche benutzt ein Säugling immer noch viele Teile der Sequenz in unveränderter Form (Assimilation), muss aber den Gumminippel etwas anders fassen und anders daran saugen, und auch die Flasche muss in einem geeigneten Winkel gehalten werden (Akkommodation). Die Schritte von der Flasche zum Trinkhalm und zur Tasse erfordern weitere Akkommodation, basieren jedoch immer noch auf früheren Fähigkeiten. Für Piaget war kognitive Entwicklung das Ergebnis eines solchen Ineinandergreifens von Assimilation und Akkommodation. Die ausgewogene Anwendung von Assimilation und Akkommodation ermöglicht, dass das Verhalten und Wissen des Kindes unabhängiger von der konkreten externen Realität wird und sich stärker auf abstraktes Denken stützt.
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Stadien der kognitiven Entwicklung Piaget war der Ansicht, dass sich die kognitive Entwicklung eines Kindes in vier aufeinander folgende, diskontinuierliche Stadien unterteilen lässt ( Tabelle 10.2). Es wird angenommen, dass alle Kinder diese Stadien in derselben Reihenfolge durchlaufen, obwohl einzelne Kinder eventuell länger oder kürzer in einem bestimmten Stadium verweilen. Das sensumotorische Stadium: Das sensumotorische Stadium erstreckt sich von der Geburt bis zum Alter von etwa zwei Jahren. In den ersten Monaten beruht ein Großteil des Verhaltens des Säuglings auf einer begrenzten Reihe von angeborenen Schemata wie Saugen, Betrachten, Greifen und Schieben. Im ersten Jahr werden sensumotorische Sequenzen verbessert, kombiniert, koordiniert und integriert (beispielsweise Saugen plus Greifen, Betrachten plus Anfassen). Die Sequenzen werden vielfältiger, wenn Kleinkinder entdecken, dass ihre Handlungen Auswirkungen auf äußere Ereignisse haben. Die wichtigste kognitive Funktion, die während dieser Zeit erworben wird, ist die Fähigkeit, mentale Repräsentationen von nicht vorhandenen Objekten – mit denen das Kind nicht in direktem sensumotorischem Kontakt steht – auszubilden. Der Begriff der Objektpermanenz bezieht sich auf das Wissen eines Kindes darum, dass Objekte unabhängig von seinen Handlungen oder seinem Bewusstsein existieren. In den ersten Lebensmonaten folgen Kinder Objekten mit den Augen, aber sobald die Objekte aus dem Blickfeld verschwinden, wenden sich die Kinder ab, als ob die Objekte auch aus ihrem Bewusstsein verschwunden wären. Mit etwa drei Monaten fangen sie jedoch an, den Ort weiter zu beobachten, an dem die Objekte verschwunden sind. Zwischen acht und zwölf Monaten beginnen Kinder, nach den verschwundenen Objekten zu suchen. Im Alter von zwei Jahren besteht bei den Kindern keine Unsicherheit mehr darüber, dass „nichtsichtbare“ Objekte existieren (Flavell, 1985). Das präoperatorische Stadium: Das präoperatorische Stadium erstreckt sich in etwa zwischen zwei und sieben Jahren. Der große kognitive Fortschritt auf dieser Entwicklungsstufe ist die verbesserte Fähigkeit zur mentalen Repräsentation von physikalisch nicht vorhandenen Objekten. Abgesehen von dieser Entwicklung beschreibt Piaget das präoperatorische Stadium anhand dessen, was das Kind nicht kann. So glaubt Piaget beispielsweise, dass das präoperatorische Denken kleiner Kinder durch Egozentrismus geprägt ist, eine Unfähigkeit, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Ihnen ist dieser Egozent-
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rismus vielleicht aufgefallen, wenn Sie schon einmal das Gespräch eines Zweijährigen mit anderen Kindern gehört haben. In diesem Alter scheinen Kinder mit sich selbst zu sprechen, anstatt zu interagieren. Präoperatorische Kinder unterliegen auch der Zentrierung – sie neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit auf die perzeptiv auffälligen Merkmale von Objekten zu fixieren. Zentrierung zeigt sich anhand einer klassischen Demonstration von Piaget. Präoperatorischen Kindern fehlt das Verständnis dafür, dass die Menge einer Flüssigkeit erhalten bleibt, auch wenn sich die Größe oder Form des Behälters verändert, in dem sich die Flüssigkeit befindet.
AUS DER FORSCHUNG Wenn dieselbe Menge Limonade in zwei identische Gläser gegossen wird, geben fünf und sieben Jahre alte Kinder an, beide Gläser enthielten dieselbe Menge. Wenn aber die Limonade aus einem Glas in ein hohes, dünnes Glas gegossen wird, unterscheiden sich ihre Meinungen. Die Fünfjährigen wissen, dass die Limonade in dem hohen Glas dieselbe Limonade wie zuvor ist, sagen aber, dass es jetzt mehr Limonade sei. Die Siebenjährigen stellen zutreffenderweise fest, dass es keinen Mengenunterschied gibt.
In Piagets Demonstration zentrieren sich die jüngeren Kinder auf eine einzige, perzeptuell saliente Dimension – die Höhe der Limonade im Glas. Die älteren Kinder berücksichtigen sowohl Höhe als auch Breite und schlussfolgern richtigerweise, dass der Anschein nicht der Wirklichkeit entspricht. Das konkret-operatorische Stadium: Das konkretoperatorische Stadium dauert von etwa dem siebten bis zum elften Lebensjahr. In diesem Stadium ist das Kind schon zu mentalen Operationen in der Lage, das sind Handlungen, die im Geist ausgeführt werden und zur Entwicklung des logischen Denkens führen. Das präoperatorische und das konkret-operatorische Stadium werden oft in Gegensatz zueinander gesetzt, weil Kinder im konkret-operatorischen Stadium etwas können, was sie vorher nicht zustande brachten. Konkrete Operationen ermöglichen es Kindern, eine physikalische Handlung durch eine geistige zu ersetzen. Wenn ein Kind beispielsweise sieht, dass Anton größer ist als Sarah, und später sieht, dass Sarah größer ist als Tania, dann kann das Kind schlussfolgern, dass Anton der Größte der drei ist – ohne die drei Personen auch nur berühren zu müssen. Das Kind kann jedoch noch immer nicht zur richtigen Schlussfolgerung („Anton ist am größten“) kommen, wenn das Problem nur verbal
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
Tabelle 10.2
Stadien der kognitiven Entwicklung nach Piaget Stadium/Alter
Typische Merkmale und wichtigste Errungenschaften
Sensumotorisch (0–2)
Das Kind verfügt zu Beginn seines Lebens über eine kleine Zahl an sensumotorischen Sequenzen. Das Kind erwirbt Objektpermanenz und die Anfänge symbolischen Denkens.
Präoperatorisch (2–7)
Das Denken des Kindes ist von Egozentrismus und Zentrierung geprägt. Das Kind besitzt verbesserte Fähigkeiten zum Einsatz symbolischen Denkens.
Konkret-operatorisch (7–11)
Das Kind versteht das Invarianzprinzip. Das Kind kann in Bezug auf konkrete, physikalische Objekte schlussfolgernd denken.
Formal-operatorisch (11¤)
Das Kind entwickelt die Fähigkeit zu abstrakten Schlussfolgerungen und hypothetischem Denken.
Piaget beobachtete, dass ein typisches, sechs Monate altes Kind sich mit einem attraktiven Spielzeug beschäftigen wird (oben), aber schnell das Interesse verliert, wenn ein Sichtschirm das Spielzeug aus dem Blick des Kindes entfernt (unten). Welches Verständnis von Objekten wird das Kind im Alter von zwei Jahren erreichen?
beschrieben wird. Diese Unfähigkeit, Größenvergleiche (und ähnliche Problemstellungen) ohne direkte, gegenständliche Beobachtung zu bewältigen, lässt vermuten, dass sich das abstrakte Denken im konkretoperatorischen Stadium nach wie vor erst allmählich abzeichnet. Die Limonadenstudie gibt ein Beispiel für einen weiteren Meilenstein im konkret-operatorischen Stadium. Die Siebenjährigen haben das gemeistert, was Piaget das Prinzip der Erhaltung (oder Invarianzprinzip) nannte: Sie wissen, dass sich die physikalischen Eigenschaften von Objekten nicht ändern, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen wird, obwohl sich das Aussehen der Objekte ändert. Abbildung 10.6 zeigt Beispiele für die von Piaget entwickelten Tests des Invarianzprinzips für verschiedene begriffliche Mengendimensionen. Eine der neu erworbenen Operationen, die Kinder bei Aufgaben zur Erhaltung einsetzen können, ist die Reversibilität. Reversibilität bezeichnet das Verständnis des Kindes dafür, dass sowohl gegenständliche Handlungen als auch geistige Operationen umgekehrt werden können: Ein Kind kann schlussfolgern, dass die Menge an Limonade sich nicht verändert haben kann, weil die beiden Volumen wieder gleich aussehen, wenn man die Handlung umkehrt, die Limonade also wieder ins Ausgangsglas zurückgießt. Das formal-operatorische Stadium: Das formaloperatorische Stadium beginnt etwa um das elfte Lebensjahr. In diesem letzten Stadium der kognitiven Entwicklung wird das Denken abstrakt. Adoleszenten sind in der Lage zu erkennen, dass ihre Realität nur
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Abbildung 10.6: Tests zum Prinzip der Mengenerhaltung (Invarianzprinzip).
Dieses fünfjährige Mädchen weiß, dass die beiden Gefäße dieselbe Menge Flüssigkeit enthalten. Wenn jedoch die Flüssigkeit aus einem Gefäß in ein schmaleres und höheres Gefäß umgegossen wird, sagt sie, es sei mehr Flüssigkeit in dem höheren Gefäß. Sie hat das Invarianzprinzip noch nicht erfasst, wird es aber mit sechs oder sieben Jahren begreifen. Warum würde das fünfjährige Kind das Invarianzprinzip auch dann nicht verstehen, wenn man ihm die richtige Antwort vorgibt? eine von mehreren vorstellbaren Realitäten ist, und sie fangen an, sich über die großen Fragen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Daseins Gedanken zu machen. Sie suchen systematisch nach Antworten: Sobald sie das formal-operatorische Stadium erreicht haben, können Kinder beginnen, die Rolle eines Wissenschaftlers zu spielen und jede von mehreren Möglichkeiten der Reihe nach auszuprobieren. Adoleszenten sind auch zunehmend in der Lage, die Art von fortgeschrittener deduktiver Logik, die wir in Kapitel 8 beschrieben haben, anzuwenden. Im Gegensatz zu ihren jüngeren Geschwistern können Adoleszenten von abstrakten Prämissen („Wenn A, dann B“ und „nicht B“) auf deren logische Folgerungen („nicht A“) schließen.
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10.3.2 Aktuelle Perspektiven auf die frühe kognitive Entwicklung Piagets Theorie bleibt nach wie vor der klassische Bezugspunkt für das Verständnis der kognitiven Entwicklung von Kindern (Flavell, 1996; Lourenço & Machado, 1996; Scholnick et al., 1999). Heutige Forscher haben jedoch flexiblere Wege zur Untersuchung der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten erdacht. Wir werden uns im Folgenden damit beschäftigen, wie Piagets Schlussfolgerungen über die Kompetenz von Kindern mithilfe einer Vielzahl neuer, kreativer Techniken verfeinert wurden.
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
Kognition bei Kleinkindern Wir haben bereits einige der Aufgaben geschildert, die Piaget einsetzte, um Schlüsse hinsichtlich der kognitiven Entwicklung zu ziehen. In der gegenwärtigen Forschung sind allerdings inzwischen innovative Techniken entwickelt worden, mit denen Piagets Ergebnisse neu bewertet werden konnten. Nehmen wir etwa die Objektpermanenz, die Piaget für die größte Errungenschaft beim zwei Jahre alten Kind hielt. Aktuelle Forschungsmethoden legen nahe, dass Kinder schon mit drei Monaten und vielleicht sogar früher Teilaspekte dieses Konzepts entwickelt haben. Diese wichtige Entdeckung konnte bei verschiedenen, von Renée Baillargeon entwickelten Aufgaben nachgewiesen werden.
AUS DER FORSCHUNG In einer Studie betrachteten 4 Monate alte Kleinkinder, wie ein Experimentator ein breites rechteckiges Objekt absenkte ( Abbildung 10.7) (Wang et al., 2004). In einer Versuchsbedingung verschwand das Objekt dabei hinter einem breiten Hindernis, einer Barriere, die breit genug war, um das rechteckige Objekt vollständig zu verbergen. In der anderen Versuchsbedingung wurde das Objekt dagegen hinter einem schmalen Hindernis, einer Barriere, abgesenkt, die zu schmal war, um es völlig zu verdecken. Während dieses Vorgangs erschien ein Sichtschirm, der die Beobachtung des letzten Moments verhinderte. Verschwand dieser wieder, dann war das Objekt nicht mehr zu sehen. Wie reagierten die Kleinkinder in den beiden Versuchsbedingungen? Wenn sie noch keine Objektpermanenz kannten, würden wir erwarten, dass sie in beiden Fällen gleichermaßen gleichgültig blieben – war das rechteckige Objekt einmal verschwunden, sollte keine Erinnerung daran geblieben sein, dass es je existiert hatte. Aber angenommen, sie verfügten über eine Erinnerung an das Objekt: In diesem Fall würden wir erwarten, dass sie – wie Erwachsene, die den Vorgang sahen – davon überrascht würden, dass ein breites Objekt hinter einem schmalen Hindernis verborgen werden könne. Um den Grad der Überraschung bei den Kleinkindern zu erfassen, zeichneten die Forscher auf, wie lange die Kinder den Versuchsaufbau betrachteten, nachdem der Sichtschirm entfernt worden war. Die Kleinkinder, die den Aufbau mit dem schmalen Hindernis sahen, betrachteten ihn etwa 16 Sekunden länger als ihre Altersgenossen, die den Aufbau mit dem breiten Hindernis gezeigt bekamen.
Wir können die Überraschung der Kleinkinder nicht als Beleg dafür verwenden, dass sie das Konzept der Objektpermanenz vollständig erworben haben – sie wissen vielleicht nur, dass etwas falsch ist, ohne zu
wissen, worin dieses falsche Etwas besteht (Lourenço & Machado, 1996). Trotzdem lässt Baillargeons Forschung vermuten, dass sogar schon sehr kleine Kinder wichtiges Wissen über die physikalische Welt erworben haben. Die von der Forschung entwickelten innovativen Methoden, um das Denken von Kleinkindern zu verstehen, verändern unsere Vorstellungen davon, was Kleinkinder wissen und wie sie es wissen. Betrachten wir etwa das Verhältnis zwischen Handlungen und Zielen. Als Erwachsener sind Sie es gewohnt, aus den Handlungen von Menschen auf ihre Ziele zu schließen. Wenn Sie etwa sehen, wie jemand einen Schlüsselbund hervorholt, schließen Sie daraus leicht, dass er oder sie etwas aufschließen möchte. Wann haben Sie begonnen zu verstehen, wie sich Handlungen zu Zielen verhalten? Forschungsergebnisse legen nahe, dass Kinder im Alter von drei Monaten dieses Verhältnis zu verstehen beginnen – aber nur dann, wenn sie selbst entsprechende Erfahrungen besitzen (Sommerville et al., 2005). Um dieses Ergebnis zu untermauern, versahen Forscher eine Gruppe von drei Monate alten Kindern mit speziellen Kletthandschuhen, vermittels derer sie Spielzeuge aufheben konnten. (Kinder haben in diesem Alter noch nicht die nötige Geschicklichkeit, um ohne solche Unterstützung etwas greifen zu können.) Eine andere Gruppe von Kindern machte nicht die neuartige Erfahrung, Spielzeuge aufzuheben. Beide Gruppen sahen einem Experimentator zu, der eine Reihe von Handlungen ausführte, darunter auch das Aufnehmen von Spielzeug. Ein Erwachsener, der dies sieht, würde zum Beispiel annehmen, dass der Forscher in diesem Fall das Ziel hatte, einen Teddybär aufzuheben. Die Gruppe von Kindern mit Greiferfahrung schien diese Annahme auch tatsächlich zu machen, ihre unerfahrenen Altersgenossen aber nicht. Dieses Ergebnis bringt uns wieder zu Piaget zurück, der angenommen hatte, dass Kinder ihr Wissen aus aktiver Erfahrung in ihrer Umwelt gewinnen. Diese Studie bestätigt, dass aktive Erfahrung Kindern zu verstehen hilft, wie Handlungen und Ziele zusammenpassen.
Grundlegende Theorien von Kindern Piagets Theorie baut auf Stufen auf, in denen sich gravierende Änderungen im Denken der Kinder vollziehen. In jüngerer Zeit sind Forscher der Idee nachgegangen, dass die Veränderungen in den jeweiligen zentralen Wissensbereichen getrennt auftreten, während die Kinder grundlegende Theorien entwickeln – Rahmenkonzepte für ein erstes Verständnis –, um
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Aufbau mit breitem Hindernis
Aufbau mit schmalem Hindernis
Abbildung 10.7: Objektpermanenz bei vier Monate alten Kindern. Vier Monate alte Kinder betrachteten, wie ein Experimentator ein rechteckiges Objekt (hier braun dargestellt) hinter ein breites oder schmales Hindernis absenkte (jeweils in gemustertem Grün). Während dieses Vorgangs erschien ein Sichtschirm, der den Moment verdeckte, in dem das Objekt hinter dem Hindernis verschwand. Wenn der Schirm entfernt wurde, war die Hand des Forschers leer. Die Kleinkinder, die den Aufbau mit schmalem Hindernis gezeigt bekamen, betrachteten ihn danach länger, was darauf hindeutet, dass sie überrascht waren, wie ein breites Objekt hinter einem schmalen Hindernis verborgen werden könne. Diese Überraschung bei Kleinkindern legt nahe, dass sie bereits eine Vorstellung von Objektpermanenz erworben haben: Das rechteckige Objekt war aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. ihre Erfahrungen mit der Welt zu erklären (Gelman & Raman, 2002; Wellman & Inagaki, 1997). So tragen Kinder beispielsweise ihre Erfahrungen mit den Eigenschaften geistiger Zustände zu einer Theorie des Bewusstseins (englisch: theory of mind) zusammen,
einer naiven Psychologie. Dadurch sind sie besser in der Lage, ihre eigenen Gedankenprozesse und die anderer zu verstehen. Die Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe wurde formal untersucht, beispielsweise anhand der Art und Weise, wie Kinder biologische Eigenschaften einer Spezies auf eine andere Spezies übertragen. Auf die Frage, welche von mehreren Tieren schlafen und Knochen haben, neigten Vierjährige dazu, ihr Urteil von der von ihnen wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen dem Tier und einem Menschen abhängig zu machen (Carey, 1985). So schrieben beispielsweise mehr Vierjährige diese Eigenschaften („schlafen“ und „haben Knochen“) den Hunden zu als den Fischen. Und Fischen wiederum wurden diese Eigenschaften häufiger zugeschrieben als Fliegen. Im Laufe der Zeit müssen die Kinder eine Theorie, die auf der Ähnlichkeit zum Menschen basiert, durch eine andere ersetzen, die mehr die Strukturen im Tierreich berücksichtigt – sie müssen beispielsweise die formale Unterscheidung zwischen Wirbeltieren und wirbellosen Tieren erwerben, anhand derer definiert wird, welche Tiere Knochen haben. In ähnlicher Weise verstehen drei- und vierjährige Kinder, dass das, was in einem Objekt ist, die Funktion des Objekts beeinflusst – obwohl sie keine klare Vorstellung haben, um welche inneren Sachverhalte es sich dabei handeln könnte (Gelman, 2003; Gelman & Wellman, 1991). Obwohl drei- bis vierjährige Kinder nicht ganz sicher sind, was für Sachen in einem Hund drin sind, sind sie sich doch sicher, dass ein Hund kein Hund mehr wäre, wenn man das, was innen ist, entfernte. Man sieht in jedem Bereich, dass Kinder beginnen, eine allgemeine Theorie zu entwickeln, und dann eine Vielfalt von neuen Erfahrungen zur sukzessiven Verbesserung der Theorie heranziehen.
Soziale und kulturelle Einflüsse auf die kognitive Entwicklung
Wie kommen Kinder aufgrund ihrer Erfahrungen und Beobachtungen zu Verallgemeinerungen über die Welt?
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Ein weiterer Schwerpunkt der gegenwärtigen Forschung ist die Rolle sozialer Interaktion in der kognitiven Entwicklung. Ein Großteil dieser Forschung geht auf die Theorien des russischen Psychologen Lew Wygotsky zurück. Wygotsky behauptete, Kinder würden sich durch einen Prozess der Internalisierung entwickeln: Sie absorbieren Wissen aus ihrem sozialen Kontext, der einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf der kognitiven Entwicklung hat. Die soziale Theorie, deren Wegbereiter Wygotsky war, wurde durch kulturvergleichende Studien zur Entwicklung gestützt. Als Piagets Theorie anfangs die Aufmerksamkeit von Entwicklungsforschern erregte,
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
waren viele daran interessiert, seine Aufgaben zu benutzen, um die kognitiven Errungenschaften von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen zu untersuchen (Rogoff, 2003; Rogoff & Chavajay, 1995). Diese Untersuchungen stellten die Universalität von Piagets Behauptungen in Frage, weil beispielsweise Menschen in vielen Kulturen keine Belege für formal-operatorisches Denken zeigten. Piaget selbst begann im Alter darüber zu spekulieren, ob die spezifischen Errungenschaften, die er als formale Operationen beschrieben hatte, nicht vielleicht eher auf einer bestimmten Art von (zum Teil schulischen) Ausbildung in den Naturwissenschaften beruhen, die Kinder erhalten, als auf der Entfaltung von biologisch vorgegebenen Entwicklungsstufen (Lourenço & Machado, 1996). Wygotskys Konzept der Internalisierung ist hilfreich, um den Einfluss der Kultur auf die kognitive Entwicklung zu erklären. Das Denken von Kindern entwickelt sich, um kulturell wertgeschätzte Funktionen zu erfüllen (Serpell, 2000; Serpell & Boykin, 1994). Piaget entwickelte beispielsweise Aufgaben, die seine eigenen Vorannahmen über angemessene und wertvolle kognitive Tätigkeiten widerspiegelten. Andere Kulturen ziehen es vor, wenn ihre Kinder sich in anderer Weise auszeichnen. Wären Piagets Kinder in Hinblick auf ihr Verständnis der kognitiven Feinheiten des Webens bewertet worden, hätte man im Vergleich zu den Kindern der Mayas aus Guatemala vermutlich angenommen, Piagets Kinder seien geistig zurückgeblieben (Rogoff, 1990). Kulturvergleichende Studien haben recht oft gezeigt, dass die Art der Beschulung eine große Rolle spielt, wenn es um die Leistung von Kindern in Piagets Aufgaben geht (Rogoff & Chavajay, 1995). Psychologen müssen diese Arten von Ergebnissen nutzen, um die Rollen von Erbe und Umwelt bei der kognitiven Entwicklung voneinander zu trennen. Die entwicklungsbedingten Veränderungen, die wir bisher beschrieben haben, sind sehr drastisch. Es ist leicht festzustellen, dass ein zwölfjähriges Kind alle möglichen kognitiven Fähigkeiten hat, die ein einjähriges Kind nicht hat. Wir verschieben unsere Aufmerksamkeit jetzt auf die subtileren Veränderungen, die sich während des Erwachsenenalters ereignen.
10.3.3 Kognitive Entwicklung im Erwachsenenalter Während wir die kognitive Entwicklung im Laufe der Kindheit bis hin zur Adoleszenz verfolgt haben, war „Veränderung“ eigentlich immer eine „Veränderung zum Besseren“. Wenn wir die Phase des späten Er-
Viele prominente Persönlichkeiten wie Nelson Mandela leisten auch während und jenseits ihres siebten Lebensjahrzehnts noch wichtige professionelle Beiträge. Wie können einige Aspekte der intellektuellen Leistung im späten Erwachsenenalter vor dem Verfall gerettet werden? wachsenenalters erreichen, lassen kulturelle Stereotypen vermuten, dass „Veränderung“ „Veränderung zum Schlechteren“ bedeutet (Parr & Siegert, 1993). Sogar wenn Menschen glauben, dass der Verlauf des Erwachsenenlebens einen allgemeinen Verfall mit sich bringt, erwarten sie doch bestimmte Gewinne in einer sehr späten Lebensphase (Dixon, 1999). Wir werden einen Blick auf Intelligenz und Gedächtnis werfen, um das Zusammenspiel von Gewinn und Verlust zu beobachten.
Intelligenz Es gibt wenig Belege, welche die Annahme stützen, dass allgemeine kognitive Fähigkeiten bei körperlich gesunden Senioren abnehmen. Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung erleiden größere Einbußen der geistigen Leistungsfähigkeit. Wenn es zu einem altersbedingten Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit kommt, ist diese meist auf nur wenige Fähigkeiten beschränkt. Wenn man die Intelligenz in diejenigen Komponenten aufteilt, welche die verbalen Fähigkeiten ausmachen (kristalline Intelligenz), und diejenigen Komponenten, die Teil der Fähigkeit zu schnellem und gründlichem Lernen (fluide Intelligenz) sind, dann zeigt sich, dass die fluide Intelligenz mit dem Alter stärker abnimmt (Baltes & Staudinger, 1993; Singer et al., 2003). Ein Großteil dieses Verlusts an fluider Intelligenz wird mit einer allgemeinen Verlangsamung der Verarbeitungsgeschwindigkeit begründet: Bei intellektuellen Aufgaben, die es erforderlich machen, dass geistige Prozesse in kurzer Zeit ablaufen, ist die Leistung von Senioren stark eingeschränkt (Salthouse, 1996).
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Tabelle 10.3
Merkmale von Weisheit Reichhaltiges Faktenwissen. Allgemeines und spezifisches Wissen über die Umstände des Lebens und seine Variationen. Reichhaltiges prozedurales Wissen. Allgemeines und spezifisches Wissen über Strategien zur Beurteilung und Ratschläge in Dingen des Lebens. Kontextualität über die Lebensspanne. Wissen über die Begleitumstände des Lebens und deren zeitliche (entwicklungsbedingte) Beziehungen zueinander. Unsicherheit. Wissen über die relative Unbestimmtheit und Unvorhersehbarkeit des Lebens und Wege, damit umzugehen.
Aber nicht alle Veränderungen gehen in die Richtung von schlechterer Leistungsfähigkeit. So untersuchen Psychologen jetzt beispielsweise altersbedingte Zugewinne an Weisheit – eine Expertise für die grundlegenden Abläufe des Lebens (Baltes & Kunzmann, 2003; Baltes & Staudinger, 2000). Tabelle 10.3 zeigt einige der Wissensarten, die Weisheit definieren (Smith & Baltes, 1990). Man sieht, dass jede Wissensart am besten im Laufe eines langen und reflektierten Lebens erworben wird. Individuen unterscheiden sich darüber hinaus beträchtlich in dem Ausmaß an geistiger Leistung, das sie im Alter erbringen. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Senioren, die ein hohes Maß an Stimulation durch die Umwelt anstreben, im Allgemeinen ein hohes Maß an kognitiven Fähigkeiten behalten.
AUS DER FORSCHUNG Eine Gruppe von 22 Professoren der Universität Berkeley, im Alter zwischen 60 und 71 Jahren, wurde hinsichtlich ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit mit ihren jüngeren Kollegen (im Alter von 30 bis 59 Jahren) und einer Kontrollgruppe älterer Erwachsener verglichen, die im selben Altersbereich lagen. Die Professoren bearbeiteten eine Reihe von Tests, die verschiedene Aspekte der kognitiven Leistungsfähigkeit prüften. Bei manchen Tests – beispielsweise dem Lernen von Paarassoziationen – zeigten die älteren Professoren typische Muster von altersbedingten Einschränkungen. Bei anderen blieben die älteren Professoren auf gleicher Höhe mit ihren jüngeren Kollegen. So waren sie beispielsweise ebenso gut in der Lage, Audiokassetten mit kurzen Geschichten zu hören und sich an Informationen aus diesen Geschichten zu erinnern. Bei der Kontrollgruppe älterer Erwachsener zeigten sich „typische“ altersbedingte Einbußen bei dieser Aufgabe. Wie
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kann man den Erhalt der Leistungsfähigkeit bei Professoren erklären? Die Forscher nehmen an, dass der Beruf der Universitätsprofessoren, der ihnen das Aufrechterhalten eines hohen Grades an geistiger Aktivität abverlangt, sie vor einigen der typischen altersbedingten Verluste schützt (Shimamura et al., 1995).
Weckt dieser Befund in Ihnen das Bedürfnis, Professor zu werden? Andere Studien lassen vermuten, dass Sie nicht so weit gehen müssen. Forschungen mit fMRTScans haben beispielsweise ergeben, dass ältere Erwachsene mit besserer Schulbildung den natürlichen Verfall in ihren alternden Gehirnen besser kompensieren können als weniger gebildete Altersgenossen (Springer et al., 2005). Hier haben wir noch einen guten Grund, weiterzulernen! Die allgemeinere Schlussfolgerung ist, dass Sie Ihr Gehirn beschäftigt und auf Trab halten sollten. Werner Schaie und seine Kollegen waren sogar in der Lage nachzuweisen, dass Trainingsprogramme bei älteren Menschen den Abbau einiger kognitiver Fähigkeiten umkehren können (Schaie, 2005). Es scheint, als sei mangelnder Gebrauch und nicht Verfall für die Defizite solcher intellektueller Leistungen verantwortlich, die nichts mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit zu tun haben (Hultsch et al., 1999). Wie versprochen sind wir wieder bei der Schlussfolgerung angelangt, dass „Wer rastet, rostet“ (oder sucht sich ein Trainingsprogramm, um wieder fit zu werden) ein geeignetes Motto für weise Senioren ist. Wie können Senioren erfolgreich mit den jeweiligen Veränderungen zurechtkommen, die mit zunehmendem Alter unweigerlich verbunden sind? Erfolgreiches Älterwerden besteht möglicherweise darin,
10.3 Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens
das Beste aus den Zugewinnen zu machen und gleichzeitig den Einfluss der normalen Verluste zu minimieren, die mit dem Älterwerden einhergehen. Diese Strategie zum erfolgreichen Älterwerden, welche die Psychologen Paul Baltes und die mittlerweile verstorbene Margaret Baltes vorgeschlagen haben, wird als selektive Optimierung mit Kompensation (Baltes et al., 1992; Freund & Baltes, 1998) bezeichnet. Selektiv bedeutet, dass Menschen die Zahl und das Ausmaß ihrer selbst gesteckten Ziele reduzieren. Optimierung bezieht sich darauf, dass Menschen in denjenigen Bereichen üben und trainieren, die ihnen am wichtigsten sind. Kompensation bedeutet, dass die Menschen alternative Wege suchen, um mit Verlusten umzugehen – beispielsweise durch die Wahl altersgerechter Umgebungen. Betrachten wir ein Beispiel: Als man den Konzertpianisten [Arthur] Rubinstein in einem Fernsehinterview fragte, wie er es schaffe, in seinem hohen Alter noch ein so erfolgreicher Pianist zu sein, erwähnte er drei Strategien: (1) im Alter spielte er weniger Stücke, (2) er übte jedes Stück jetzt häufiger und (3) er fügte mehr Ritardandos [Verlangsamungen des Tempos] vor schnellen Passagen in sein Spiel ein, so dass die Spielgeschwindigkeit schneller klang, als sie tatsächlich war. Dies sind Beispiele für Selektion (weniger Stücke), Optimierung (mehr Übung) und Kompensation (verstärkter Einsatz von Geschwindigkeitskontrasten). (Baltes, 1993, S. 590)
Gedächtnis Senioren klagen vielfach darüber, dass sie das Gefühl haben, sie könnten sich Dinge nicht mehr so gut merken wie früher. Bei mehreren Gedächtnistests zeigen Erwachsene über 60 schlechtere Leistungen als junge Erwachsene zwischen 20 und 30 (Hess, 2005). Menschen erfahren auch dann Gedächtnisdefizite, wenn sie sehr gebildet sind oder anderweitig gute geistige Fähigkeiten besitzen (Zelinski et al., 1993). Die Fähigkeit älterer Menschen, ihr Allgemeinwissen oder persönliches Wissen über lange zurückliegende Ereignisse abzurufen, wird durch das Älterwerden offenbar nicht verringert. In einer Studie zur Wiedererkennung von Namen und Gesichtern waren Erwachsene mittleren Alters in der Lage, 90 Prozent ihrer Klassenkameraden aus dem Abschlussjahr wiederzuerkennen, 35 Jahre nachdem sie den Abschluss gemacht hatten. Ältere Erwachsene waren nach 50 Jahren noch in der Lage, 70 bis 80 Prozent ihrer ehemaligen Klas-
senkameraden wiederzuerkennen (Bahrick et al., 1975). Das Älterwerden beeinflusst jedoch die Prozesse, mit deren Hilfe neue Informationen effektiv strukturiert, gespeichert und abgerufen werden (Craik, 1994; Giambra & Arenberg, 1993). Bisher ist es Forschern noch nicht gelungen, eine völlig adäquate Beschreibung der Mechanismen zu entwickeln, die der Gedächtnisschwäche bei älteren Menschen zugrunde liegen – vielleicht, weil die Gedächtnisschwäche mehrere Ursachen hat (Hess, 2005). Einige Theorien konzentrieren sich auf die Unterschiede, die zwischen älteren und jüngeren Menschen bestehen, wenn sie versuchen, Informationen zu strukturieren oder zu verarbeiten. Eine andere Gruppe von Theorien untersucht neurobiologische Veränderungen in denjenigen Systemen des Gehirns, welche die physikalischen Gedächtnisspuren produzieren. Wir befassen uns mit diesen Ideen ausführlicher im Kasten Psychologie im Alltag. Beachten Sie, dass diese Veränderungen im Gehirn etwas anderes sind als die abnormalen Knäuel neuralen Gewebes und Plaques, die den Gedächtnisverlust bei der Alzheimer’schen Krankheit verursachen (siehe Kapitel 7). Die Forscher glauben auch, dass die Leistung älterer Menschen möglicherweise dadurch verschlechtert wird, dass sie glauben, ihre Gedächtnisleistung werde gering sein (Hertzog et al., 1990; Levy & Langer, 1994). Sie sind weiterhin dabei, den relativen Beitrag der einzelnen Faktoren abzuschätzen. Verlagern wir jetzt den Schwerpunkt unserer Betrachtung von der allgemeinen kognitiven Entwicklung auf das spezifischere Gebiet des Spracherwerbs.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist in Piagets Theorie das Verhältnis zwischen
Assimilation und Akkomodation? 2 Was bedeutet es, wenn ein Kind eine Zentrierung über-
winden kann? 3
Wie hat die neuere Forschung Schlussfolgerungen über Objektpermanenz verändert?
4 Was war das Hauptanliegen von Lew Wygotskys Theo-
rie? 5 Was versteht man unter selektiver Optimierung mit
Kompensation? KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an das Experiment, das die Leistungsfähigkeit älterer Professoren untersuchte. Warum war es wichtig, jüngere Professoren als Vergleichsgruppe jüngerer Erwachsener einzusetzen?
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PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Funktioniert unser Gehirn mit zunehmendem Alter anders?
Wenn Sie schon mit älteren Erwachsenen zu tun hatten, haben Sie bestimmt auch schon Behauptungen wie „Mein Gehirn funktioniert einfach nicht mehr so gut“ gehört. Die Forschung geht schon lange davon aus, dass ältere Gehirne anders arbeiten als jüngere. Seitdem bildgebende Verfahren als Werkzeug der Forschung verfügbar sind, versteht man diese Veränderungen sehr viel besser. Abbildungen des arbeitenden Gehirns enthüllen durchgängige Unterschiede in Aktivitätsmustern im Verlaufe des Erwachsenenlebens. Betrachten wir die Hirnaktivität in Bezug auf zwei Aufgaben, die aus früheren Kapiteln ungefähr bekannt sein sollten. Eine Aufgabe erfasste die Fähigkeit von Probanden zur Nutzung des Arbeitsgedächtnisses: Sie versuchten, vier Wörter im Arbeitsgedächtnis abzuspeichern und gaben dann an, ob ein nachfolgendes Testwort dazu gehört hatte. Eine weitere Aufgabe erfasste die Fähigkeit zu visueller Aufmerksamkeit: Die Probanden beurteilten ein Videobild des Buchstabens B daraufhin, ob der Buchstabe während des Versuchs nie, ein Mal oder zwei Mal kurz verschwunden war. Beide Versuche wurden mit jüngeren Erwachsenen (Durchschnittsalter 22,6 Jahre) und älteren Erwachsenen (Durchschnittsalter 70,3 Jahre) durchgeführt. Beide Gruppen lösten die Aufgaben gleich korrekt, obwohl die jüngeren Erwachsenen schneller waren. Die Abbildung zeigt die Ergebnisse von fMRT-Scans, die während des Versuchs angefertigt wurden (Cabeza et al., 2004). Die farbig markierten Bereiche zeigen jene Hirnregionen, die während der jeweiligen Aufgabe am aktivsten waren. Wie man an den durch Pfeile gekennzeichneten Stellen sehen kann, zeigten die älteren Erwachsenen ein Aktivitätsmuster, bei dem beide Hirnhälften aktiver waren. Um diese Ergebnisse zu verstehen, denken Sie an die Erkenntnis aus Kapitel 3, dass beide Hirnhälften normalerweise verschiedene Arten von Prozessen ausführen. Die abgebildeten fMRT-Scans zeigen eine stärkere Symmetrie in den Gehirnen älterer Menschen im Hinblick auf jene Funktionen, in welchen sie eine Rolle spielen (Cabeza, 2002). Die Forschung hat dafür zwei mögliche allgemeine Erklärungen gefunden: Einige Forscher haben argumentiert, dass, wenn ältere Gehirne andere Areale zusätzlich zu denen jüngerer Gehirne einsetzen, dies eine Kompensation für andere altersbedingte Vorgänge im Gehirn darstelle. Andere Forscher sind der Ansicht, dass solche für Ältere typische Hirnaktivität Distraktion sei, also die Unfähigkeit, unnötige Aktivität zu verhindern.
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Tatsächlich haben die Forscher Hinweise darauf gefunden, dass im alternden Gehirn sowohl Kompensation als auch Distraktion stattfinden. Um Belege für Kompensation zu finden, untersuchte eine PETStudie die Beziehung zwischen individuellen Unterschieden in der Hirnaktivität und der Gedächtnisleistung beim Wiedererkennen (Grady et al., 2005). Wie auch in vorangegangenen Studien zeigten die älteren Gehirne Aktivitäten in Bereichen, die in jüngeren nicht aktiv waren. Außerdem gab es eine positive Korrelation insofern, als das Wiedererkennungsgedächtnis der älteren Menschen umso besser arbeitete, je aktiver diese Areale wurden. Dieses Ergebnis unterstützt die Vorstellung, dass der Gebrauch dieser Hirnareale für ältere Menschen einen Vorteil darstellt. Andererseits zeigen auch fMRT-Studien mit mehreren Gedächtnisaufgaben, dass es bestimmte Areale gibt, die das alternde Gehirn offenbar nicht mehr abschalten kann (Grady et al., 2006). Das konsistente Ergebnis zum Auftreten nicht relevanter Hirnaktivität deutet darauf hin, dass einige altersbedingte Unterschiede in der Hirnaktivität eine Distraktion von der gestellten Aufgabe bedeuten. Diese Forschungsergebnisse unterstützen die Schlussfolgerung, dass unser Gehirn mit zunehmendem Alter tatsächlich anders funktionieren wird. Die Funk tionsänderungen spiegeln Kompensation und Distraktion in Bezug auf die Aufgaben des Alltags wider.
Arbeitsgedächtnis
Visuelle Aufmerksamkeit
Jung
Alt
Nach Cabeza et al. (2004). Task-independent and task-specific age effects on brain activity during working memory, visual attention and episodic retrieval. Cerebral Cortex, 14, 372.
10.4 Spracherwerb
Tabelle 10.4
Die Struktur der Sprache Grammatik ist das Untersuchungsgebiet, in dem versucht wird, Struktur und Gebrauch einer Sprache zu beschreiben. Sie umfasst mehrere Bereiche: Phonologie – die Untersuchung der Laute, die zu Wörtern verbunden werden. Ein Phonem ist die kleinste Spracheinheit, die zwischen zwei Äußerungen unterscheidet. So unterscheiden b und p beispielsweise zwischen Bein und Pein. Ein Phonem ist somit die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit. Die Phonetik befasst sich mit der Untersuchung und Klassifikation der Sprachlaute. Sie richtet sich auf die physikalischen Aspekte der Laute, während die Phonologie die Rolle von Lautklassen im Sprachsystem untersucht. Syntax – die Art und Weise, in der Wörter aneinander gereiht werden, um Sätze zu bilden. Subjekt + Prädikat + Objekt (zum Beispiel „Der Hund beißt den Briefträger“) ist eine Standardwortfolge für deutsche Sätze. Ein Morphem ist die kleinste grammatische Einheit, die nicht weiter geteilt werden kann, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Ein Morphem ist somit die kleinste bedeutungstragende Einheit. Das Wort Kinder besteht aus zwei Morphemen: Kind und -er, wobei Letzteres den Plural anzeigt. Semantik – die Untersuchung der Bedeutung von Wörtern und deren Veränderung im Laufe der Zeit. Die lexikalische Bedeutung eines Wortes ist diejenige, die im Wörterbuch angegeben ist. Bedeutung wird manchmal durch den Kontext vermittelt, in dem ein Wort im Satz steht („Das Geld liegt auf der Bank“ vs. „Otto liegt auf der Bank“) oder durch die Intonation, mit der es gesprochen wird (versuchen Sie, in dem Satz „Soll ich das Hindernis umfahren?“ das Wort „um-fahren“ einmal auf der ersten, dann auf der zweiten Silbe zu betonen). Pragmatik – Regeln für die Beteiligung an Gesprächen; soziale Konventionen für die Kommunikation, die Aneinanderreihung von Sätzen und angemessene Reaktionen auf andere.
Spracherwerb
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Ein beeindruckende Tatsache: Im Alter von sechs Jahren sind Kinder in der Lage, Sprache in ihre Laut- und Bedeutungseinheiten zu zerlegen, die Regeln, die sie entdeckt haben, zu verwenden, um Laute zu Wörtern und diese Wörter zu sinnvollen Sätzen zu kombinieren und aktiv an einer kohärenten Unterhaltung teilzunehmen. Aufgrund der bemerkenswerten Sprachleistungen von Kindern sind die meisten Forscher übereinstimmend der Ansicht, dass die Fähigkeit, die Sprache zu erlernen, biologisch angelegt ist – dass Kinder mit einem angeborenen Sprachpotenzial zur Welt kommen (Pinker, 1994). Dennoch kann ein Kind in Abhängigkeit davon, wo es geboren wird, später eine von 4.000 verschiedenen Sprachen sprechen. Darüber hinaus sind Kinder darauf vorbereitet, sowohl gesprochene Sprachen als auch Gebärdensprachen zu erlernen; beispielsweise in Deutschland die Deutsche Gebärdensprache, in den USA die American Sign Language. Das heißt, dass die angeborene Prä-
disposition zum Spracherwerb zugleich sehr stark und sehr flexibel sein muss (Meier, 1991). Um zu erklären, wie es dazu kommt, dass Kleinkinder Experten im Lernen von Sprachen sind, werden wir die stützenden Belege für die Behauptung beschreiben, es gäbe ein angeborenes Sprachpotenzial. Wir werden jedoch auch die Rolle der Umwelt besprechen – schließlich lernen Kinder die jeweiligen Sprachen, die in ihrer Umwelt benutzt werden. Tabelle 10.4 gibt einen Überblick über die Wissensbereiche, die ein Kind für seine jeweilige Sprache lernen muss, gleich ob es sich um eine gesprochene oder eine Gebärdensprache handelt. Sie könnten eine Blick zurück auf den Abschnitt über den Gebrauch von Sprache in Kapitel 8 werfen, um sich in Erinnerung zu rufen, wie Erwachsene das Wissen über diese Bereiche in einem Gespräch einsetzen.
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10.4.1 Lautwahrnehmung und Wortwahrnehmung Stellen Sie sich vor, Sie seien ein neugeborenes Kind und hörten ein Summen von Geräuschen um Sie herum. Wie fangen Sie an zu begreifen, dass einige dieser Schallereignisse relevant für die Kommunikation mit anderen sind? Der erste Schritt eines Kindes beim Erwerb einer bestimmten Sprache besteht darin, jene Unterschiede von Schallereignissen zu bemerken, die in der jeweiligen Sprache Bedeutung transportieren. (Bei Gebärdensprachen muss das Kind beispielsweise auf Unterschiede zwischen Handstellungen achten.) Jede gesprochene Sprache nutzt einen Teil der Menge an möglichen Unterscheidungen, die der menschliche Vokaltrakt hervorbringen kann; keine Sprache nutzt alle Sprachlautunterschiede, die möglich wären. Die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer Sprache nennt man Phoneme. Es gibt im Deutschen etwa 40 distinkte Phoneme. Stellen Sie sich vor, Sie hören, wie jemand die Worte Rinde und Linde ausspricht. Wenn Sie Deutsch als Muttersprache sprechen, haben Sie keine Probleme, den Unterschied zu hören – /r/ und /l/ sind im Deutschen unterschiedliche Phoneme. Wenn Sie allerdings nur mit dem Japanischen vertraut wären, dann wären Sie nicht in der Lage, den Unterschied zwischen diesen beiden Wörtern zu hören, weil /r/ und /l/ im Japanischen keine distinkten Phoneme sind. Erwirbt jemand, der Deutsch spricht, die Fähigkeit, diese Unterscheidung zu treffen, oder verliert jemand, der Japanisch spricht, diese Fähigkeit? Um diese Art von Frage zu beantworten, müssen Forscher Methoden entwickeln, mit deren Hilfe sie sprachliche Informationen von Kindern gewinnen, die noch nicht sprechen.
AUS DER FORSCHUNG Unter Verwendung der in Kapitel 5 beschriebenen Techniken des operanten Konditionierens haben Forscher Säuglinge darauf konditioniert, ihren Kopf in Richtung einer Schallquelle zu drehen, wenn sie eine Veränderung von einem Sprachlaut zu einem anderen wahrnahmen. Die Belohnung, mit der dieses Verhalten verstärkt wird, ist eine beleuchtete Kiste, die ein klatschendes und trommelndes Spielzeugtier enthält. Das Verfahren stellt sicher, dass die Kinder sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Schallquelle umdrehen, wenn sie eine Veränderung bemerken. Die Forscher kontrollieren, wie oft die Kinder ihren Kopf auf eine Veränderung hin drehen, um die Fähigkeit der Kinder zum Erkennen des Unterschieds zu messen. Janet Werker und ihre Kollegen (Werker, 1991; Werker & Lalond, 1988) haben diese Technik benutzt, um die an-
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geborene Basis der Fähigkeit zur Sprachwahrnehmung zu untersuchen – eine Variante der /r/-/l/-Frage, mit der wir uns zuvor beschäftigt haben. Werker untersuchte Lautunterschiede, die in Hindi benutzt werden, aber nicht im Englischen – Unterschiede, die es Englisch sprechenden Erwachsenen schwer machen, Hindi zu lernen. Werker und ihre Kollegen maßen die Fähigkeiten zum Hören der Unterschiede zwischen den Hindi-Phonemen sowohl bei Hindi als auch bei Englisch lernenden Säuglingen sowie bei Erwachsenen, die Englisch beziehungsweise Hindi sprachen. Sie stellten fest, dass alle Säuglinge, ungeachtet der Sprache, die sie lernten, bis zum Alter von acht Monaten in der Lage waren, die Unterschiede zu hören. Bei den über acht Monate alten Säuglingen und den Erwachsenen konnten allerdings nur diejenigen die Unterschiede in Hindi hören, die Hindi sprachen oder es lernten.
Forschung dieser Art ist ein starker Beleg dafür, dass man mit einer angeborenen Fähigkeit zur Wahrnehmung von Lautunterschieden geboren wird, die für gesprochene Sprachen wichtig ist. Man verliert jedoch sehr schnell die Fähigkeit, Unterschiede wahrzunehmen, die in der Sprache, die man erwirbt, nicht vorkommen (Werker & Tees, 1999). Zusammen mit dem biologischen Vorsprung bei der Sprachwahrnehmung erhalten viele Kinder auch einen Vorsprung aufgrund ihrer Umwelt. Wenn Erwachsene aus vielen Kulturen mit Säuglingen und kleinen Kindern sprechen, dann benutzen sie eine spezielle Form der Sprache, die sich von der Sprache der Erwachsenen unterscheidet: eine überbetonte, besonders hohe Stimmlage, die als kindorientierte Sprache oder weniger formal auch als Mutterisch (motherese) oder Elterisch (parentese) bezeichnet werden kann. Die Merkmale, anhand derer das Mutterische definiert wird, tauchen in vielen, aber nicht allen Kulturen auf (Fernald & Morikawa, 1993; Kitamura et al., 2002). Mutterisch könnte Säuglingen auch helfen, eine Sprache zu erlernen, indem es dafür sorgt, dass sie sich für das interessieren, was ihre Eltern zu ihnen sagen, und ihre Aufmerksamkeit darauf richten. Die Sprachmuster des Mutterischen betonen auch den emotionalen Gehalt, der möglicherweise dabei hilft, eine emotionale Bindung zwischen Säuglingen und den für sie sorgenden Personen herzustellen (Trainor et al., 2000). In welchem Alter sind Kinder in der Lage, die Wiederholung von Lautmustern – Wörtern – innerhalb des an sie gerichteten Sprachflusses wahrzunehmen? Dies ist der erste große Schritt zum Erwerb einer Sprache: Man kann nicht lernen, dass Ball etwas mit dem runden Ding auf dem Rasen zu tun hat, solange man nicht erkennt, dass das Lautmuster Ball anscheinend
10.4 Spracherwerb
in Anwesenheit des runden Dinges häufiger vorkommt. Säuglinge scheinen im Durchschnitt irgendwann zwischen sechs und sieben Monaten zu erkennen, dass wiederholte Laute eine Bedeutung haben (Jusczyk, 2003; Jusczyk & Aslin, 1995). Bei einem besonderen Wort tritt dieser Durchbruch jedoch ein paar Monate früher ein: Man sieht anhand der Präferenz für ihren eigenen Namen, die Kinder im Alter von vier Monaten zeigen, dass sie diesen wiedererkennen (Mandel et al., 1995)!
10.4.2 Lernen von Wortbedeutungen Sobald man in der Lage ist, das gemeinsame Auftreten von Lauten und Erfahrungen zu bemerken, ist man bereit, die Bedeutung von Wörtern zu lernen. Es steht unzweifelhaft fest, dass Kinder ausgezeichnet im Lernen von Wörtern sind. Mit etwa 18 Monaten gibt es oft eine enorme Beschleunigung beim Erlernen von Wörtern. Forscher haben diese Phase als Wortschatzexplosion bezeichnet, weil die Kinder beginnen, neue Wörter, insbesondere Objektbezeichnungen, mit einer schnell zunehmenden Geschwindigkeit zu lernen ( Abbildung 10.8). Man geht davon aus, dass ein durchschnittliches Kind im Alter von sechs Jahren etwa 14.000 Wörter kennt (Templin, 1957). Wenn man davon ausgeht, dass die meisten dieser Wörter zwischen 18 Monaten und sechs Jahren gelernt werden, bedeutet dies, dass etwa neun Wörter pro Tag gelernt werden oder fast ein neues Wort pro Wachstunde (Carey, 1978). Wie ist das möglich? Stellen Sie sich eine gewöhnliche Situation vor, in der ein Kind mit seinem Vater durch einen Park geht und der Vater auf etwas zeigt und dabei sagt „Das ist ein Hund“. Das Kind muss entscheiden, auf welchen Ausschnitt der Realität sich das Wort Hund bezieht. Das ist nicht einfach (Quine, 1960). Vielleicht bedeutet Hund „ein Lebewesen mit vier Beinen“ oder „das Fell eines Tieres“ oder „der Rücken eines Tieres“ oder „das Gebell eines Tieres“ oder irgendeine andere der vielen Bedeutungen, die gemeint sein könnten, wenn jemand auf einen Hund zeigt. Wie schaffen es Kinder, die Bedeutung einzelner Wörter zu bestimmen, wenn es so viele Möglichkeiten gibt? Wir nehmen an, dass Kinder wie Wissenschaftler handeln – sie entwickeln Hypothesen darüber, was jedes neue Wort bedeuten könnte. Man kann beispielsweise den wissenschaftlich vorgehenden Verstand von Kindern bei der Arbeit beobachten, wenn man sieht, wie sie Wörter überdehnen, sie also fälschlicherweise auf eine Vielzahl von Objekten anwenden. Es
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Abbildung 10.8: Das Wachstum des Wortschatzes bei Kindern. Die Anzahl der Wörter, die ein Kind verwenden kann, nimmt zwischen 18 Monaten und sechs Jahren rapide zu. Diese Untersuchung zeigt den durchschnittlichen Wortschatz von Kindern in Intervallen von sechs Monaten. kommt vor, dass Kinder alle Tiere mit dem Wort Hund bezeichnen oder dass sie das Wort Mond für alle runden Objekte inklusive Uhren und Münzen verwenden. Manchmal überspezifizieren Kinder auch Wörter – wenn sie beispielsweise glauben, Hund beziehe sich nur auf den Haushund der Familie. Die Ansicht, dass Kinder Hypothesen aufstellen, erklärt allerdings nicht, wie Kinder bestimmte Bedeutungen in bestimmten Zusammenhängen begreifen. Forscher haben vorgeschlagen, dass die kindlichen Hypothesen von Prinzipien wie dem Kontrastprinzip bestimmt werden. Dieses Prinzip besagt, dass Unterschiede in der Form auch Unterschiede in der Bedeutung bezeichnen: Wenn Kinder neue Wörter hören, würden sie also nach Bedeutungen suchen, die mit den ihnen schon bekannten Wörtern kontrastieren (Clark, 2003). Angenommen etwa, dass ein Vater und seine Tochter im Fernsehen ein springendes Känguru sehen. Das Kind kennt das Wort springen, aber nicht das Wort Känguru. Angenommen, der Vater sagt „Känguru!“ Was könnte als Nächstes passieren? Weil das Kind springen kennt, nimmt es an, dass der Vater auch „springen“ sagen würde, wenn Känguru einfach springen bedeutete – verschiedene Formen sollten jedoch verschiedene Bedeutungen signalisieren. Das Kind kann also die Hypothese bilden, dass Känguru das Objekt und nicht die Handlung bezeichne. Es ist dabei, Känguru eine Bedeutung zuzuweisen. Wenn Sie mit kleinen Kindern zu tun hatten, haben Sie das Kontrastprinzip wahrscheinlich schon in Anwendung gesehen. So wird zum Beispiel ein Kind oft ungehalten, wenn die Mutter sein Feuerwehrauto einen Lastwagen nennt!
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10.4.3 Erwerb der Grammatik Um zu erklären, wie Kinder Bedeutungen lernen, haben wir Kinder als Wissenschaftler beschrieben, deren Hypothesen durch angeborene Prinzipien eingeschränkt werden. Wir können die gleiche Analogie heranziehen, um zu erklären, wie Kinder die Regeln lernen, nach denen Bedeutungseinheiten zu größeren Einheiten zusammengefasst werden – mit anderen Worten, die Regeln der Grammatik. Die Herausforderung für das Kind besteht darin, dass unterschiedliche Sprachen unterschiedlichen Regeln folgen. Im Deutschen ist beispielsweise die Subjekt-Prädikat-ObjektReihenfolge der Wörter typisch für einen Hauptsatz, wohingegen im Japanischen die typische Reihenfolge Subjekt-Objekt-Prädikat ist. Kinder müssen herausfinden, welche Reihenfolge in der Sprache vorliegt, die in ihrer Umgebung benutzt wird. Wie machen sie das? Die meisten Forscher glauben heute, dass ein großer Teil der Antwort im menschlichen Genom zu finden ist. Der Linguist Noam Chomsky (1965/1973, 1975) hat beispielsweise behauptet, dass Kinder mit mentalen Strukturen geboren werden, die das Verständnis und die Produktion von Sprache erleichtern. Einige der besten Belege für eine solche biologische Basis der Grammatik stammen von Kindern, die vollständige grammatische Strukturen entwickeln, ohne dass sie entsprechende wohlgeformte Informationen aufgenommen hätten. Forscher haben beispielsweise schwerhörige Kinder untersucht, deren Hörverlust so schwerwiegend war, dass sie keine gesprochene Sprache lernen konnten, deren Eltern ihnen aber keine vollwertige Gebärdensprache beibrachten (GoldinMeadow, 2003). Diese Kinder erfanden eigene Zeichensysteme, die – trotz des Mangels an Unterstützung für diese erfundenen Sprachen – eine regelhafte grammatische Struktur entwickelten: „Mit oder ohne die Führung durch eine bekannte Sprache scheinen Kinder ,bereit‘, zumindest auf Wort- und Satzebene eine Struktur anzustreben, wenn sie Systeme zur Kommunikation entwickeln“ (Goldin-Meadow & Mylander, 1990, S. 351). Wie können Forscher genau bestimmen, welches Wissen angeboren ist? Der produktivste Ansatz in dieser Richtung ist die Untersuchung des Spracherwerbs über viele Sprachen hinweg – sprachübergreifende und sprachvergleichende Untersuchungen. Indem man untersucht, welche Elemente in den vielen Sprachen der Welt schwer und welche leicht zu lernen sind, kann man herausfinden, welche Aspekte der Grammatik am wahrscheinlichsten von angeborenen Prädispositionen unterstützt werden.
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Damit kommen wir wieder zum Kind als Wissenschaftler. Kinder verfügen über angeborene Beschränkungen, die in die Aufgabe, eine bestimmte Sprache zu lernen, einfließen. Dan Slobin hat diese Richtlinien als Menge an Operationsprinzipien definiert, die zusammen die Spracherwerbsfähigkeit eines Kindes ausmachen. Nach Slobins Theorie (1985) haben die Operationsprinzipien für das Kind den Charakter von Handlungsanweisungen. Ein Operationsprinzip, das Kindern dabei hilft, die Wörter zu erkennen, die zusammen eine grammatische Einheit bilden, sieht beispielsweise so aus: „Speichere alle geordneten Sequenzen von Wortklassen und Funktionswortklassen, die im Ausdruck eines bestimmten Propositionstyps gemeinsam auftreten, zusammen mit einer Kennzeichnung des Propositionstyps“ (S. 1252). Einfacher ausgedrückt besagt dieses Arbeitsprinzip, dass Kinder den Zusammenhang zwischen der Reihenfolge, in der Wörter vorkommen, und der Bedeutung der Wörter im Auge behalten müssen. Slobin entwickelte die Operationsprinzipien, indem er die Daten zusammenfasste, die eine Vielzahl anderer Forscher bei der Untersuchung einer Vielzahl von Sprachen erhoben hatten. Wir werden jedoch deutsche Beispiele verwenden, um die Prinzipien in Aktion zu zeigen. Überlegen Sie einmal, was Deutsch sprechende Kinder für Möglichkeiten haben, wenn sie im Alter von zwei Jahren beginnen, Kombinationen von Wörtern zu verwenden – das Stadium der Zwei-Wort-Sätze. Man bezeichnet die Sprache der Kinder zu diesem Zeitpunkt oft als Telegrammstil, weil sie aus kurzen, einfachen Sequenzen besteht, in denen vorwiegend Nomen und Verben vorkommen. Der Telegrammstil enthält keine Funktionswörter wie der, und oder von, die helfen, den Zusammenhang zwischen Wörtern und Ideen auszudrücken. „Milch alle“ wäre beispielsweise eine telegrammartige Botschaft.
Kinder lernen eine Sprache, indem sie auf die Sprachmuster der sie umgebenden Personen achten. Welche Rolle spielen Anlage und Umwelt beim Erwerb der Grammatik?
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
Abbildung 10.9: Erwerb der Grammatik. Viele Kleinkinder würden meinen, „Maria verfolgte ihr Lamm“ und „Maria wurde von ihrem Lamm verfolgt“ hätten dieselbe Bedeutung. Damit Erwachsene die Zwei-Wort-Sätze verstehen können, müssen sie wissen, in welchem Zusammenhang der „Satz“ gesprochen wurde: „Tanja Ball“ könnte beispielsweise unter anderem heißen „Tanja will den Ball“ oder „Tanja wirft den Ball“. Dennoch gibt es Hinweise, dass Kinder im Stadium der Zwei-Wort-Sätze schon über ein gewisses Wissen über die Grammatik des Deutschen verfügen. Durch die Operationsprinzipien können sie entdecken, dass die Wortreihenfolge im Deutschen wichtig ist und dass die drei entscheidenden Elemente Handelnder-Handlung-Objekt (Subjekt-Prädikat-Objekt) sind – in dieser Reihenfolge. Ein Beleg für diese „Entdeckung“ ist die Tatsache, dass Kinder einen Satz wie „Maria wurde von ihrem Lamm verfolgt“ irrtümlich so verstehen, als ob Maria – in grammatischer Erstposition – die Handelnde wäre und nicht das Lamm, also als Maria (Handelnde) verfolgte (Handlung) ihr Lamm (Objekt) ( Abbildung 10.9). Mit der Zeit müssen Kinder andere Operationsprinzipien anwenden, um zu entdecken, dass es Ausnahmen von der Regel der Abfolge Handelnder-Handlung-Objekt gibt. Betrachten wir nun ein Operationsprinzip, das Slobin als Extension bezeichnet. Extension veranlasst Kinder zu dem Versuch, dieselbe Bedeutungseinheit (Morphem) zu verwenden, um ein bestimmtes Konzept zu bezeichnen. Beispiele für solche Konzepte sind Zahl, Teil-Ganzes-Relation und Vergangenheitsformen. Im Deutschen werden diese Konzepte (die sich in der Sprache beispielsweise als Numerus, Genitiv und Perfekt bemerkbar machen) durch Hinzufügung eines grammatischen Morphems wie -e (beispielsweise Hunde), -es (beispielsweise des Hauses) und ge- (beispielsweise gelaufen) an das Inhaltswort gebildet. Das Hinzufügen jedes dieser Morpheme an ein Nomen oder ein Verb verändert dessen Bedeutung.
Kinder verwenden die Operationsprinzipien wie beispielsweise die Extension, um Hypothesen über die Funktionsweise von Morphemen zu generieren. Weil das Prinzip jedoch verlangt, dass das Kind versucht, alle Wörter gleich zu behandeln, kommt es oft zu fehlerhafter Übergeneralisierung. Sobald ein Kind beispielsweise gelernt hat, das Präteritum durch Anhängen von -te zu bilden, werden alle Verben mit -te konjugiert, was zu Wörtern wie laufte und kommte führt. Im Englischen ist, anders als im Deutschen, die Pluralbildung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sehr regelmäßig; durch Übergeneralisierung kommt es dort bei den Ausnahmefällen zu Wortbildungen wie foots (statt feet) oder mouses (statt mice). Übergeneralisierung ist ein besonders interessanter Fehler, weil er normalerweise auftritt, nachdem Kinder die richtigen Formen von Verben und Nomen gelernt und gebraucht haben. Die Kinder verwenden zuerst die korrekten Formen der Verben (beispielsweise lief, kam), weil sie sie offenbar als eigenständige Teile des Wortschatzes gelernt haben. Wenn Kinder jedoch die allgemeine Regel zur Bildung des Präteritums lernen, wenden sie sie auch auf Wörter an, die Ausnahmen von dieser Regel sind und die sie zuvor schon richtig gebraucht hatten. Im Laufe der Zeit überwinden Kinder diese vorübergehende Übergeneralisierung mithilfe anderer Operationsprinzipien. Der Spracherwerb hat einen großen Einfluss auf die Fähigkeit von Kindern, an sozialen Interaktionen teilzunehmen. Sie sollten diese Interaktionen im Hinterkopf behalten, wenn wir unser Augenmerk jetzt auf die soziale Entwicklung im Laufe des Lebens richten.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche wichtigen Funktionen hat kindorientierte
Sprache (Mutterisch)? 2 Warum überdehnen Kinder Wortbedeutungen? 3 Wie unterstützt Forschung an gehörlosen Kindern die
Theorie, dass bestimmte Aspekte der Grammatik angeboren sind? 4
Wie würden Sie bemerken, dass ein Kind die Vergangenheitsformen deutscher Verben übergeneralisiert?
KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an die Studie zur Wahrnehmung von Lautunterschieden bei Kindern. Warum war es wichtig, englischsprachige Erwachsene mit Kindern zu vergleichen, die gerade zu Englischsprechern wurden?
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Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
10.5
Wir haben uns bisher damit befasst, wie radikal man sich sowohl in körperlicher als auch geistiger Hinsicht von der Geburt bis ins hohe Alter verändert. In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit der sozialen Entwicklung: Wie verändern sich die sozialen Interaktionen und Erwartungen im Laufe des Lebens? Wie wir sehen werden, interagiert die soziale und kulturelle Umwelt mit dem biologischen Alterungsprozess und schafft so in jedem Lebensabschnitt eigene Herausforderungen und Belohnungen. Wenn wir die soziale Entwicklung besprechen, ist es besonders wichtig, dass Sie sich Gedanken über die Art und Weise machen, in der Kultur und Umwelt bestimmte Aspekte unseres Lebens beeinflussen. Menschen in ökonomischen Schwierigkeiten durchleben beispielsweise Stressarten, die im „normalen“ Entwicklungsverlauf nicht vorkommen (Crockett & Silbereisen, 2000; Leventhal & Brooks-Gunn, 2000). Aktuelle Entwicklungen in den USA und anderen Ländern der Erde machen es zwingend notwendig, dass sich Entwicklungspsychologen mit den außergewöhnlichen Umständen vertraut machen, in denen viele Kinder, Adoleszenten und Erwachsene zwangsweise leben – Umstände, in denen ihre geistige Gesundheit, ihre Sicherheit und ihr Überleben ständig bedroht sind (Huston, 2005). Für die US-amerikanische Kultur ergeben sich auch unterschiedliche Ergebnisse bei Männern und Frauen und bei denjenigen, die einer Minderheit angehören. So sind weibliche Senioren häufiger sozial benachteiligt als männliche Senioren; afroamerikanischen weiblichen Senioren geht es sogar noch schlechter als weißen weiblichen Senioren (Carstensen & Pasupathi, 1993). Diese Unterschiede sind ein unmittelbares Ergebnis der strukturellen Ungleichheiten in der heutigen amerikanischen Gesellschaft. Wenn wir Schlussfolgerungen über den „durchschnittlichen“ Lebensverlauf ziehen, sollten wir bedenken, dass die Kultur vorschreibt, dass einige Personen von diesem Durchschnitt abweichen werden; wenn wir die psychischen Herausforderungen beschreiben, denen eine „gewöhnliche“ Person gegenübersteht, sollten Sie bedenken, dass viele Personen außergewöhnliche Herausforderungen zu meistern haben. Es ist Aufgabe der Forscher, die Auswirkungen aktueller Probleme zu dokumentieren – und Interventionsmaßnahmen zu entwickeln, welche die schlimmsten Konsequenzen dieser Probleme lindern. Psychologen
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werden eine Rolle spielen, wenn es darum geht festzulegen, was das Beste für Familien und Kinder ist (Scarr & Eisenberg, 1993). Während wir die soziale Entwicklung diskutieren, werden sich mehrere Gelegenheiten ergeben, den Einfluss der Kultur erneut zu berücksichtigen. Sie sollten beim Lesen des Rests dieses Kapitels bedenken, wie die Anforderungen des Lebens gleichermaßen von der biologischen Akkumulation der Jahre und der sozialen Akkumulation kultureller Erfahrungen bestimmt werden. Zu Anfang unserer Betrachtung der sozialen Entwicklung befassen wir uns mit Eriksons Theorie der Entwicklung über die Lebensspanne, welche die Herausforderungen und Belohnungen in den wichtigsten Lebensabschnitten deutlich macht.
10.5.1 Psychosoziale Stadien nach Erikson Erik Erikson, ein Schüler von Sigmund Freuds Tochter Anna Freud, nahm an, dass jedes Individuum eine Reihe von psychosozialen Stadien erfolgreich durchlaufen muss, von denen jedes einen bestimmten Konflikt oder eine Krise bereithält. Erikson identifizierte acht Stadien im Lebenszyklus. In jedem Stadium rückt eine bestimmte Krise in den Mittelpunkt, wie man in
Eriksons Modell der psychosozialen Stadien wird häufig herangezogen, um die menschliche Entwicklung im Laufe des Lebens zu verstehen. Welche der Krisen, die Erikson postuliert hat, ist für Menschen Ihres Alters maßgebend?
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
Tabelle 10.5
Psychosoziale Stadien nach Erikson Ungefähres Alter (Jahre) Krise
Angemessene Lösung
Unangemessene Lösung
0 – 1,5
Vertrauen vs. Misstrauen
Grundlegendes Gefühl der Sicherheit
Unsicherheit, Angst
1,5 – 3
Autonomie vs. Selbstzweifel
Wahrnehmung des eigenen Selbst als Person, die ihren Körper kontrolliert und Ereignisse verursacht
Gefühl der Unfähigkeit, Ereignisse zu kontrollieren
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Initiative vs. Schuldbewusstsein
Vertrauen auf eigene Initiative Mangelndes Selbstwertgefühl und Kreativität
6 – Pubertät
Kompetenz vs. Minderwertigkeit
Kompetenz in grundlegenden sozialen und intellektuellen Fertigkeiten
Mangelndes Selbstwertgefühl, Gefühl des Versagens
Adoleszenz
Identität vs. Rollendiffusion
Entspanntes Erleben des eigenen Selbst
Das eigene Selbst wird als bruchstückhaft, schwankend und diffus wahrgenommen
Frühes Erwachsenenalter
Intimität vs. Isolation
Fähigkeit zur Nähe und zur Bindung an andere
Gefühl der Einsamkeit, Trennung; Leugnung des Bedürfnisses nach Nähe
Über die eigene Person hinaus Sorge um Familie, Gesellschaft und zukünftige Generationen
Hedonistische Interessen; fehlende Zukunftsperspektive
Mittleres Erwachsenenalter Generativität vs. Stagnation
Seniorenalter
Ich-Integrität vs. Verzweiflung Gefühl der Ganzheit, grundlegende Zufriedenheit mit dem Leben
Tabelle 10.5 sehen kann. Obwohl jeder dieser Konflikte nie vollständig verschwindet, muss er in einem bestimmten Stadium hinreichend bewältigt werden, damit eine Person die Konflikte in den folgenden Stadien erfolgreich meistern kann. In Eriksons erstem Stadium muss ein Säugling durch die Interaktion mit Fürsorgepersonen ein grundlegendes Vertrauen in seine Umwelt entwickeln. Vertrauen ist eine natürliche Begleiterscheinung einer engen Bindung an ein Elternteil, das Nahrung, Wärme und das gute Gefühl körperlicher Nähe an das Kind weitergibt. Ein Kind, dessen Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, das wechselhafte Behandlung erfährt und einem Mangel an körperlicher Nähe und Wärme und der häufigen Abwesenheit elterlicher Fürsorge ausgesetzt ist, kann ein tief liegendes Gefühl von Misstrauen, Unsicherheit und Angst entwickeln.
Gefühl der Sinnlosigkeit, Enttäuschung
Sobald das Kind laufen lernt und beginnt, eine Sprache zu lernen, kommt es zu einer Erweiterung der Erkundung und Manipulation von Objekten (und manchmal auch von Menschen). Mit diesen Aktivitäten sollte sich auch ein angenehmes Gefühl von Autonomie, Kompetenz und Selbstwertgefühl entwickeln. Übermäßige Einschränkungen oder Kritik können in diesem zweiten Stadium zu Selbstzweifeln führen, wohingegen Anforderungen jenseits der Fähigkeiten des Kindes, wie etwa zu frühe oder zu strenge Sauberkeitserziehung, das Kind entmutigen könnten, das Meistern neuer Aufgaben entschlossen anzugehen. Gegen Ende des Vorschulalters kann ein Kind, das ein grundlegendes Vertrauen zunächst in seine unmittelbare Umgebung und dann in sich selbst entwickelt, sowohl geistige als auch körperliche Aktivitäten initiieren. Die Art und Weise, in der Eltern auf die vom
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Kind selbst initiierten Aktivitäten reagieren, fördert entweder das Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen, das für das nächste Stadium benötigt wird, oder verursacht Schuldgefühle und das Gefühl, ein unfähiger Eindringling in die Welt der Erwachsenen zu sein. Während der Grundschuljahre ist ein Kind, das die Krisen früherer Stadien erfolgreich bewältigt hat, bereit, über das zufällige Erkunden und Probieren hinauszugehen und seine Kompetenzen systematisch zu entwickeln. Schule und Sport bieten Bereiche für das Lernen geistiger und motorischer Fertigkeiten, die Interaktion mit Gleichaltrigen bietet einen Bereich für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten. Erfolgreiche Anstrengungen bei diesen Bemühungen führen zu Kompetenzgefühlen. Einige Kinder werden jedoch Zuschauer statt Akteure oder erleben genügend Misserfolg, um ein Gefühl der Minderwertigkeit zu entwickeln, was sie unfähig macht, den Anforderungen der nächsten Stadien gerecht zu werden. Erikson nahm an, dass die essenzielle Krise der Adoleszenz zur Entdeckung der wahren eigenen Identität führt, trotz der Verwirrung, die durch die Übernahme vieler unterschiedlicher Rollen für unterschiedliches Publikum in einer sich expandierenden sozialen Welt entsteht. Die Bewältigung dieser Krise hilft dem Individuum dabei, ein kohärentes Selbstbild zu entwickeln; wird die Krise nicht bewältigt, kann ein Selbstbild ohne stabilen Kern entstehen. Die essenzielle Krise, die ein junger Erwachsener zu bewältigen hat, ist die Lösung des Konflikts zwischen Intimität und Isolation – die Entwicklung der Fähigkeit, tiefe emotionale, moralische und sexuelle Bindungen an andere Menschen einzugehen. Das Eingehen solcher Bindungen erfordert vom Individuum den Verzicht auf einige persönliche Präferenzen, die Übernahme gewisser Verantwortungen und die Aufgabe eines gewissen Maßes an Privatsphäre und Unabhängigkeit. Wird diese Krise nicht angemessen bewältigt, dann führt dies zur Isolation und einer Unfähigkeit, mit anderen in psychologisch bedeutsamer Weise in Kontakt zu kommen. Die nächste größere Gelegenheit zum Wachstum, die sich im mittleren Erwachsenenalter ergibt, wird als Generativität bezeichnet. Menschen zwischen 30 und 50 Jahren konzentrieren sich nicht mehr so stark auf sich selbst und ihren Partner und erweitern ihre Bindungen an Familie, Arbeit, Gesellschaft und zukünftige Generationen. Menschen, die frühere Entwicklungsaufgaben nicht gelöst haben, sind immer noch mit sich selbst beschäftigt, stellen vergangene Entscheidungen und Ziele in Frage und streben nach Freiheit auf Kosten der Sicherheit.
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Die Krise im späten Erwachsenenalter ist der Konflikt zwischen der Ich-Integrität und der Verzweiflung. Eine Bewältigung der Krisen früherer Stadien bereitet einen älteren Erwachsenen darauf vor, ohne Bedauern zurückzublicken und ein Gefühl der Ganzheit zu genießen. Wenn frühere Krisen unbewältigt geblieben sind, gibt es nach wie vor unerfülltes Verlangen, und die Person hat Gefühle von Nichtigkeit, Verzweiflung und Selbstabwertung. Wie Sie noch sehen werden, ist Eriksons Rahmenmodell sehr hilfreich, wenn man die Fortschritte einer Person im Laufe des Lebens verfolgen möchte. Wir beginnen mit der Kindheit.
10.5.2 Soziale Entwicklung in der Kindheit Das Überleben von Kindern hängt von ihrer Fähigkeit ab, sinnvolle und funktionierende Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen. Sozialisation ist ein lebenslanger Prozess, in dem die Verhaltensmuster, Werte, Standards, Fertigkeiten, Einstellungen und Motive einer Person so geformt werden, dass sie mit denen übereinstimmen, die in einer bestimmten Gesellschaft als wünschenswert erachtet werden. An diesem Vorgang sind viele Personen (Verwandte, Freunde, Lehrer) und Institutionen (Schulen, Kirchen) beteiligt, die Druck auf das Individuum ausüben, sozial akzeptierte Werte und Verhaltensstandards zu übernehmen. Das wichtigste Formungs- und Regulierungselement der Sozialisation ist jedoch die Familie. Der Familienbegriff wird gegenwärtig verändert, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass viele Kinder mit weniger (ein alleinerziehender Elternteil) oder mehr (ein erweiterter Haushalt, beispielsweise eine Wohngemeinschaft) Menschen als Vater, Mutter und Geschwistern aufwachsen. Unabhängig von ihrer Zusammenstellung hilft die Familie einer Person dabei, grundlegende Muster der zwischenmenschlichen Interaktion zu entwickeln – und diese Muster werden ihrerseits zur Basis des lebenslangen Stils, mit dem eine Person zu anderen in Beziehung tritt.
Temperament Bereits am Beginn des Prozesses der Sozialisation gibt es Unterschiede zwischen Kindern: Sie treten mit unterschiedlichem Temperament ins Leben – mit biologisch bedingten unterschiedlichen emotionalen und verhaltensmäßigen Reaktionen auf die Umgebung (Thomas & Chess, 1977). Der Forscher Jerome Kagan und seine Kollegen haben gezeigt, dass manche Klein-
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
kinder „angeborene Schüchternheit“ und andere „angeborenen Vorwitz“ haben (Kagan & Snidman, 2004). Diese Kindergruppen unterscheiden sich in ihrer Empfindsamkeit hinsichtlich physischer und sozialer Anregung: Die schüchternen oder gehemmten Babys sind durchgängig „vorsichtig und emotional reserviert, wenn sie sich unbekannten Personen oder Situationen gegenüber sehen“; die vorwitzigen oder ungehemmten Babys sind durchgängig „gesellig, gefühlsmäßig spontan und kaum ängstlich, wenn sie in solche Situationen kommen“ (Kagan & Snidman, 1991, S. 40). In einer Stichprobe waren etwa 10 Prozent der Kleinkinder gehemmt und ungefähr 25 Prozent ungehemmt; der Rest fand sich zwischen diesen Extremen (Kagan & Snidman, 1991). Es konnte gezeigt werden, dass Unterschiede im Temperament sogar bereits im Mutterleib entdeckt werden können: Hohe fetale Aktivität steht mit größeren Schwierigkeiten in Zusammenhang, sobald die Kinder auf der Welt sind (DiPietro et al., 1996). Längsschnittstudien haben die Langlebigkeit frühen Temperaments gezeigt. Kinder, die mit 4 Monaten gehemmtes beziehungsweise ungehemmtes Verhalten zeigten, verhalten sich auch in der weiteren Entwicklung unterschiedlich (Kagan & Snidman, 2004). Im Alter von zwei Jahren zeigten die gehemmten Kinder allgemein die meiste Angst – und die ungehemmten Kinder die wenigste –, wenn sie mit unbekannten Ereignissen konfrontiert wurden. Im Alter von vier Jahren waren die ungehemmten Kinder generell geselliger, wenn sie mit unbekannten Kindern zusammentrafen. Allerdings verharren nicht alle Kinder, die an den extremen Punkten der Gehemmtheitsskala beginnen, dort – einige Kinder verlieren an Schüchternheit oder Vorwitz, wenn sie älter werden (Pfeifer et al., 2002). Andererseits wechseln sie selbst bei nachlassender Ausprägung selten von einer Veranlagung zur anderen. So kann etwa ein Kind, das ursprünglich gehemmt war, mit der Zeit weniger schüchtern werden, aber es wird sich kaum in ein vorwitziges Kind verwandeln. Das kindliche Temperament bereitet den Boden für spätere Aspekte der sozialen Entwicklung. Als Nächstes betrachten wir die Bindungen, die Kinder als erste soziale Beziehungen entwickeln.
Bindung Die soziale Entwicklung beginnt mit der Herstellung einer engen emotionalen Beziehung zwischen einem Kind und seiner Mutter, seinem Vater oder einer anderen Bezugsperson. Diese intensive, überdauernde, sozial-emotionale Beziehung wird als Bindung bezeichnet. Weil Säuglinge nicht in der Lage sind, sich zu
Konrad Lorenz, der Pionier der Forschung zur Prägung, zeigt anschaulich, was passieren kann, wenn Jungtiere auf ein anderes Wesen als ihre Mutter geprägt werden. Warum ist Prägung für viele Tierarten wichtig? versorgen oder zu schützen, ist die erste Funktion der Bindung die Sicherung des Überlebens. Bei manchen Arten werden Jungtiere automatisch auf das erste, sich bewegende Objekt geprägt, das sie sehen oder hören (Johnson & Gottlieb, 1981). Die Prägung vollzieht sich rasch während einer kritischen Phase der Entwicklung und ist nicht ohne weiteres veränderbar. Es kann gelegentlich problematisch sein, dass die Prägung automatisch vonstatten geht. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz wies nach, dass junge Gänse, die von einem Menschen aufgezogen werden, auf den Menschen geprägt werden statt auf ein Mitglied ihrer Art. In der freien Wildbahn bekommen junge Gänse glücklicherweise meist zuerst andere Gänse zu Gesicht. Sie werden nicht erleben, dass Kinder auf ihre Eltern geprägt werden. Dennoch hat John Bowlby (1973), ein einflussreicher Theoretiker menschlicher Bindungen, behauptet, dass Kleinkinder und Erwachsene biologisch vorbereitet sind, Bindungen einzugehen. Diese Bindungsbeziehung hat weit reichende Konsequenzen. Seit Bowlby (1973) haben Forscher die Theorie vertreten, dass die einer Bindungsbeziehung zu Grunde liegenden Erfahrungen den Menschen mit einem lebenslangen Schema für soziale Beziehungen versehen, das als internes Arbeitsmodell (internal working model) bezeichnet wird (Bretherton, 1996). Ein internes Arbeitsmodell ist eine Gedächtnisstruktur, in der die Interaktionen eines Kindes mit den Menschen, die es versorgen, zusammengefasst sind, jene Interaktionen, die ein besonderes Bindungsmuster ergaben. Das interne Arbeitsmodell bildet eine Schablone, anhand derer Erwartungen über zukünftige soziale Interaktionen gebildet werden.
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Unsicher gebunden-ambivalente Kinder sind sehr bestürzt und ängstlich, wenn die Mutter den Raum verlässt; während des Wiedersehens ist es nicht möglich, sie zu beruhigen, sie reagieren mit Wut und Widerstand auf die Mutter, zeigen aber gleichzeitig auch ein Bedürfnis nach Kontakt.
Warum ist es für ein Kind wichtig, eine sichere Bindung zu einem Elternteil oder einer Fürsorgeperson aufzubauen?
Eines der am häufigsten verwendeten Verfahren zur Erfassung von Bindung ist der Fremde-Situation-Test, den Mary Ainsworth und ihre Kollegen entwickelt haben (Ainsworth et al., 1978). Im ersten Abschnitt wird das Kind in einen unbekannten Raum gebracht, in dem es viel Spielzeug gibt. In Anwesenheit der Mutter wird das Kind ermutigt, den Raum zu erkunden und zu spielen. Nach einigen Minuten kommt eine fremde Person in den Raum, spricht mit der Mutter und nähert sich dem Kind. Als Nächstes verlässt die Mutter den Raum. Nach dieser kurzen Trennung kommt die Mutter zurück, es gibt ein Wiedersehen mit dem Kind, und die fremde Person verlässt den Raum. Die Forscher zeichneten das Verhalten des Kindes zum Zeitpunkt der Trennung und zum Zeitpunkt des Wiedersehens auf. Sie fanden heraus, dass die Reaktionen der Kinder in diesem Test in drei allgemeine Kategorien einzuordnen sind (Ainsworth et al., 1978): Sicher gebundene Kinder zeigen leichte Unruhe, wenn die Mutter den Raum verlässt; sie suchen beim Wiedersehen Nähe, Beruhigung und Kontakt; und fangen dann langsam wieder an zu spielen. Unsicher gebunden-vermeidende Kinder scheinen distanziert; gegebenenfalls vermeiden und ignorieren sie die Mutter bei ihrer Rückkehr aktiv.
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In Stichproben aus der Mittelschicht der Vereinigten Staaten wurden etwa 70 Prozent der Babys als sicher gebunden klassifiziert; 20 Prozent der Kinder wurden als vermeidend klassifiziert und 10 Prozent als ambivalent. Kulturvergleichende Studien zu Bindungsbeziehungen – in so unterschiedlichen Ländern wie Schweden, Israel, Japan und China – ergaben eine weitgehende Konsistenz in der Prävalenz der Bindungstypen (van IJzendoorn & Kroonenberg, 1988). In jedem Land ist die Mehrheit der Kinder sicher gebunden, die kulturellen Unterschiede ergeben sich vornehmlich bei den Prävalenzen der beiden Arten unsicherer Bindung. Man fand auch ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Bindungsklassifikationen, die sich aus dem Fremde-Situation-Test ergeben, und den Klassifikationen auf der Basis von natürlichen Beobachtungen von Kindern und Müttern in ihren häuslichen Umgebungen (Pederson & Moran, 1996). Kategorisierungen auf der Basis des Fremde-Situation-Tests erlauben sehr gute Vorhersagen über das spätere Verhalten des Kindes in einer Reihe unterschiedlicher Umgebungen – insbesondere die globale Unterscheidung zwischen sicher und unsicher gebundenen Kindern. So hat beispielsweise eine Längsschnittstudie belegt, dass Kinder, die mit 15 Monaten im Fremde-Situation-Test sicheres oder unsicheres Verhalten gezeigt hatten, sich im Alter von acht oder neun Jahren stark in ihrem schulischen Verhalten unterscheiden (Bohlin et al., 2000). Diejenigen Kinder, die mit 15 Monaten eine sichere Bindung aufgebaut hatten, waren beliebter und sozial weniger ängstlich als Gleichaltrige, die eine unsichere Bindung gezeigt hatten. Eine ähnliche Kontinuität von der Bindungsqualität zum späteren Leben konnte für Zehnjährige (Urban et al., 1991) und Adoleszenten (Weinfield et al., 1997) nachgewiesen werden. Scheinbar hat die Qualität der Bindung, so wie sie im Fremde-SituationTest zum Vorschein kommt, eine langfristige Bedeutung. Wir werden in Kapitel 16 sehen, dass man Maße der Bindung auch zur Vorhersage der Qualität von Liebesbeziehungen unter Erwachsenen verwendet. Wir wissen jetzt, dass Bindungsbeziehungen für kleine Kinder sehr wichtig sind. Eine sichere Bindung
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
an Erwachsene, die zuverlässig Unterstützung anbieten, ermöglicht es dem Kind, eine Vielzahl von prosozialen Verhaltensweisen zu erlernen, Risiken einzugehen, neue Situationen zu erkunden und Intimität in zwischenmenschlichen Beziehungen zu suchen und anzunehmen. Jetzt beschäftigen wir uns mit der Frage, was Eltern tun können, um diese entscheidenden sicheren Bindungen herzustellen.
Erziehungsstile und Erziehungspraktiken Wie bereits oben erwähnt, bringen Kinder ihr eigenes Temperament in die Interaktionen mit Erwachsenen ein. Das Temperament von Kindern kann dazu führen, dass die besten (und schlechtesten) Erziehungsbemühungen der Eltern unerwartete Konsequenzen haben. Forscher wissen, dass das Temperament der Kinder und das Verhalten der Eltern einander wechselseitig beeinflussen, was zu Entwicklungsergebnissen wie der Bindungsqualität führt: So sehr Eltern ihre Kinder beeinflussen, so sehr beeinflussen Kinder ihre Eltern (Collins et al., 2000). Trotzdem haben Forscher vor dem Hintergrund von Temperamentsunterschieden einen Erziehungsstil gefunden, der im Allgemeinen am vorteilhaftesten ist. Dieser Stil lässt sich am Schnittpunkt der beiden Dimensionen Anforderung und Reaktivität lokalisieren (Maccoby & Martin, 1983): „Anforderung bedeutet die Bereitschaft der Eltern, für die Sozialisation zu sorgen, wohingegen mit Reaktivität die Anerkennung der Individualität des Kindes durch die Eltern gemeint ist“ (Darling & Steinberg, 1993, S. 492). Wie Abbildung 10.10 zeigt, stellen autoritative Eltern angemes-
sene Anforderungen an ihre Kinder (sie verlangen, dass das Kind sich an angemessene Verhaltensregeln hält), reagieren aber auch auf ihr Kind (sie halten Kommunikationskanäle offen, um die Selbstregulierungsfähigkeit ihrer Kinder zu fördern) (Gray & Steinberg, 1999). Dieser autoritative Erziehungsstil führt mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer effektiven ElternKind-Beziehung. Er steht, wie aus Abbildung 10.10 ersichtlich ist, im Kontrast zu autoritären Erziehungsstilen (die Eltern disziplinieren das Kind und schenken seiner Autonomie wenig Aufmerksamkeit), zu Laisser-faire-Erziehungsstilen (die Eltern sind reaktiv, aber nicht in der Lage, den Kindern beim Erlernen der Struktur von sozialen Regeln, mit denen sie leben müssen, zu helfen) und zu vernachlässigenden Erziehungsstilen (die Eltern disziplinieren das Kind nicht und reagieren auch nicht auf seine Individualität). Eltern mit dem insgesamt gleichen Erziehungsstil setzen allerdings unterschiedliche Prioritäten bei der Erziehung, je nachdem, welche Sozialisationsziele sie für Kinder als wichtig erachten. Erziehungspraktiken entstehen in Reaktion auf bestimmte Ziele (Darling & Steinberg, 1993). So könnten Eltern mit einem autoritativen Erziehungsstil, denen der schulische Erfolg ihrer Kinder wichtig ist, eine häusliche Umgebung schaffen, in der die Kinder verstehen lernen, warum ihre Eltern dieses Ziel schätzen – und sich dann in der Schule mehr anstrengen, um gute Noten zu erhalten, weil sie entsprechend sozialisiert wurden (Noack, 2004). Weil aber nicht allen Eltern mit autoritativem Erziehungsstil schulischer Erfolg wichtig ist, lässt sich schulische Leistung nicht auf der Basis des Erziehungsstils der Eltern vorhersagen (Steinberg et al.,
Abbildung 10.10: Eine Klassifikation von Erziehungsstilen. Erziehungsstile können anhand der beiden Dimensionen Anforderung – der Bereitschaft der Eltern, für die Sozialisation zu sorgen – und Reaktivität – der Anerkennung der Individualität des Kindes durch die Eltern – kategorisiert werden. Der autoritative Erziehungsstil führt mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer funktionierenden Eltern-Kind-Beziehung.
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1992). Sowohl die allgemeinen Einstellungen als auch spezifische Verhaltensweisen der Eltern sind für die weitere Entwicklung der Kinder wichtig. Eine enge, interaktive Beziehung mit liebevollen Erwachsenen ist der erste Schritt eines Kindes zu gesundem körperlichem Wachstum und normaler Sozialisation. Wenn sich die ursprüngliche Bindung an die primäre Pflegeperson auf andere Familienmitglieder ausweitet, werden auch diese zu Modellen für neue Denk- und Handlungsweisen. Auf der Grundlage dieser ersten Bindungen entwickeln Kinder die Fähigkeit, auf ihre eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer einzugehen.
Körperliche Zuwendung und soziale Erfahrung Was haben Kinder von einer Bindungsbeziehung? Sigmund Freud und andere Psychologen waren der Ansicht, dass Babys deshalb an ihre Eltern gebunden werden, weil diese sie mit Nahrung versorgen – und so ihr grundlegendstes Bedürfnis befriedigen. Wenn diese Theorie richtig wäre, sollten Kinder gedeihen, solange sie angemessen ernährt werden. Klingt das vernünftig? Harry Harlow (1965) glaubte nicht, dass die Grundversorgungstheorie die Wichtigkeit der Bindung erklärt. Er machte sich daran, diese Annahme gegen seine eigene Hypothese zu testen, der zufolge Kleinkinder auch eine Bindung an diejenigen eingehen, von denen sie körperliche Zuwendung erhalten (Harlow & Zimmerman, 1958). Harlow trennte Rhesusaffen bei der Geburt von ihren Müttern und setzt sie in Käfige, in denen sie Zugang zu zwei künstlichen „Müttern“ hatten: eine Mutter aus Draht und eine aus Stoff. Harlow stellte fest, dass sich die Affenkinder eng an die Stoffmutter schmiegten und wenig Zeit bei der Drahtmutter verbrachten. Selbst wenn nur die Drahtmutter Milch gab, änderte sich daran nichts! Die Affenkinder nutzten die Stoffmutter auch als Zuflucht, wenn sie sich fürchteten, und als Operationsbasis für die Erkundung neuer Stimuli. Wenn ein Angst auslösender Stimulus präsentiert wurde, liefen die Affenkinder zur Stoffmutter. Wenn neue und interessante Stimuli präsentiert wurden, wagten sich die Affenkinder nach und nach zur Erkundung fort, kehrten dann aber zur Stoffmutter zurück, bevor sie wieder auf Erkundung gingen. In weiteren Untersuchungen fanden Harlow und seine Kollegen heraus, dass die enge Bindung, welche die Affenkinder zu dem Mutterersatz entwickelten, nicht ausreichend für eine gesunde soziale Entwicklung war. Zuerst dachten die Forscher, dass sich die Affenkinder, die mit Stoffmüttern aufgezogen worden
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Wie hat Harlow die Bedeutung von körperlicher Zuwendung für die normale soziale Entwicklung nachgewiesen? waren, normal entwickelten. Wenn es jedoch so weit war, dass die so erzogenen weiblichen Affen selbst Mütter werden konnten, zeigte sich ein ganz anderes Bild. Affen, denen in ihrer Kindheit die Möglichkeit vorenthalten wurde, mit anderen reaktiven Affen zu interagieren, hatten als Erwachsene Schwierigkeiten, normale soziale und geschlechtliche Beziehungen einzugehen. Der Primatenforscher Stephen Suomi (1999; Champoux et al., 1995) hat nachgewiesen, dass sich das Leben von emotional verletzlichen Affenkindern fast komplett verändert, wenn man sie bei liebevollen Müttern in Pflege gibt. Suomi stellte fest, dass Affen, die man in die Obhut von bekanntermaßen liebevollen und aufmerksamen Müttern gibt, von Außenseitern der Affenhorde zu mutigen, kontaktfreudigen jungen Männchen werden, die in der Pubertät unter den ersten sind, welche die Horde verlassen, um sich in einer anderen Horde einzuleben. Die Pflege durch die Adoptivmutter vermittelt ihnen die Bewältigungsstrategien und die Informationen, die notwendig sind, um sich die Unterstützung anderer Affen zu sichern und einen hohen sozialen Status innerhalb der Gruppe auf-
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Wie wirken sich Tagesstätten auf die Entwicklung von Kindern aus?
Wenn Sie sowohl Kinder als auch eine Karriere haben möchten, stehen Sie wahrscheinlich vor einer schwierigen Entscheidung: Ist es sinnvoll, die Kinder in eine Tagesstätte zu geben? Die Frage der Kinderbetreuung für berufstätige Eltern wird in der Presse kontrovers diskutiert. Um diese wichtige Entscheidung zu treffen, müssen Sie die überspitzte Schwarzweißmalerei „Kinderbetreuung ist gut“ beziehungsweise „Kinderbetreuung ist schlecht“ überwinden. Stattdessen sollten Sie spezifischere Fragen formulieren, mit denen Sie eine Perspektive für die Entscheidung gewinnen. Zwei dieser Fragen könnten etwa lauten: Inwiefern ist die Außer-Haus-Betreuung besser oder schlechter für das sich entwickelnde Kind? Welche Form der Betreuung ist optimal? Wir haben bereits den Kontext dargelegt, in dem Sie die erste Frage interpretieren können: Wenn die Bindungen zwischen Kindern und Müttern so entscheidend sind, sollte dann nicht alles, was die Bildung dieser Bindungen stört – wie beispielsweise institutionelle Betreuung – notwendigerweise schlecht für die Kinder sein? Die Antwort auf diese Frage lautet „Insgesamt gesehen, nein“ (Scarr, 1998). Um zu dieser Antwort zu kommen, vergleichen Forscher üblicherweise Kinder, die zu Hause geblieben sind, mit denen, die in Tagesstätten gegeben wurden, hinsichtlich unterschiedlicher Maße der geistigen und sozialen Entwicklung. Man hat herausgefunden, dass Kinder, die Tagesstätten besuchen, bei diesen Maßen oft besser abschneiden, vor allem weil sich dort mehr Möglichkeiten eröffnen (Burchinal et al., 1997; Clarke-Stewart, 1991, 1993). Die geistige Entwicklung kann von der größeren Spanne an Erziehungs- und Spielaktivitäten profitieren; die soziale Entwicklung kann von der im Vergleich zur häuslichen Umgebung größeren Vielfalt an sozialen Interaktionen profitieren. Es gibt jedoch zwei Gründe, aus denen die Antwort „Nein“ durch den Zusatz „Insgesamt gesehen“ eingeschränkt werden muss. Zum einen gibt es interindividuelle Unterschiede in der Reaktion von Kindern auf die Betreuung außerhalb des eigenen Hauses. Zum anderen gibt es viele Formen der Tagesbetreuung. Daher haben die Forscher ihre Aufmerksamkeit von der Frage „besser oder schlechter“ abgewandt und konzentrieren sich auf die Frage, worin für bestimmte Kinder hochwertige Tagesbetreuung besteht (Zaslow, 1991). Alison Clarke-Stewart (1993), eine Expertin für Ganztagsbetreuung, hat die Forschungsergebnisse zusammengefasst, um Richtlinien für hochwertige
Tagesstätten aufzustellen. Einige ihrer Empfehlungen betreffen das körperliche Wohlbefinden der Kinder: Die Tagesstätte sollte für körperliches Wohlbefinden sorgen und verletzungssicher sein. Für jeweils sechs oder sieben Kinder sollte eine Betreuungsperson vorhanden sein (bei Kindern unter drei Jahren entsprechend mehr). Andere Empfehlungen befassen sich mit den pädagogischen und psychologischen Aspekten des Tagesprogramms in der Einrichtung: Die Kinder sollten die Möglichkeit haben, selbst zu wählen, womit sie sich beschäftigen, vermischt mit expliziten Unterrichtseinheiten. Den Kindern sollten soziale Problemlösefähigkeiten vermittelt werden. Clarke-Stewart hat auch vorgeschlagen, dass die Betreuer in den Tagesstätten über die Eigenschaften guter Eltern verfügen sollten: Betreuungspersonen sollten bereit sein, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen und sich aktiv an den kindlichen Aktivitäten beteiligen. Betreuungspersonen sollten den Kindern keine übermäßigen Beschränkungen auferlegen. Betreuungspersonen sollten hinreichend flexibel sein, um Unterschiede zwischen den Bedürfnissen der einzelnen Kinder zu erkennen. Wenn man diesen Richtlinien folgt, kann man allen Kindern, deren Eltern außer Haus arbeiten, eine qualitativ hochwertige Tagesbetreuung bieten. Wenn Psychologen die Nachricht verbreiten, dass Tagesstätten nicht schädlich für die kindliche Entwicklung sind und diese sogar verbessern können, sollten Eltern weniger besorgt sein, wenn es notwendig wird, dass beide Elternteile erwerbstätig sind. Eine derartige Reduktion des Stresses für die Eltern könnte die gesamte psychische Entwicklung der Kinder nur verbessern. Wenn Sie versuchen, die Folgen für Kinder mit und ohne Betreuung zu vergleichen, welches wären die Kategorien, anhand derer Sie die Kinder miteinander vergleichen würden? Wie könnten Sie sich ein Bild darüber verschaffen, ob das Personal einer bestimmten Kinderbetreuungseinrichtung sich mit den Kindern in angemessener Weise beschäftigt?
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rechtzuerhalten. Befassen wir uns nun damit, welche Lektionen aus der Forschung an Affen auf die Deprivation bei Menschen angewendet werden können.
Deprivation bei Menschen Tragischerweise entstehen in menschlichen Gesellschaften immer wieder Umstände, in denen Kindern körperliche Zuwendung fehlt. Viele Studien haben nachgewiesen, dass ein Mangel an engen, liebevollen Beziehungen in der Kindheit das körperliche Wachstum und sogar das Überleben negativ beeinflusst. 1915 berichtete ein Arzt am Johns Hopkins Hospital, dass trotz angemessener körperlicher Versorgung 90 Prozent der Säuglinge in den Waisenhäusern von Baltimore innerhalb eines Jahres starben. In den folgenden 30 Jahren durchgeführte Untersuchungen an Kleinkindern in Waisenhäusern haben gezeigt, dass diese Kinder trotz angemessener Ernährung oft an Infektionen der Atemwege und Fiebern unbekannter Herkunft leiden, eine Gewichtszunahme ausbleibt und allgemeine Zeichen körperlichen Verfalls erkennbar sind (Bowlby, 1969; Spitz & Wolf, 1946). Auch neuere Studien zeigen durchgängig die Effekte der Entfremdung. So verglich etwa eine Studie den Bindungserfolg von Kindern, die zu Hause aufwuchsen, mit solchen, die einen großen Teil (90 Prozent) ihres Lebens in Heimen verbracht hatten (Zeanah et al., 2005). Die Forscher fanden, dass 74 Prozent der zu Hause aufgewachsenen Kinder feste Bindungen hatten; bei den Heimkindern waren es nur 20 Prozent. Darüber hinaus kann ein Mangel an normalen sozialen Kontakten einen lang anhaltenden Effekt auf die Gehirnentwicklung der Kinder haben. Eine Studie verglich eine Gruppe von Kindern, die etwa die ersten anderthalb Lebensjahre in Waisenhäusern verbracht hatten, mit solchen, die von ihren biologischen Eltern aufgezogen wurden (Wismer Fries et al., 2005). Mit 4 ½ Jahren interagierten beide Gruppen mit einem Fremden. Die Kinder, die in Waisenhäusern gewesen waren, zeigten nicht das für eine solche Gelegenheit normale Reaktionsmuster im Gehirn – erkennbar an den Werten von Hormonen im Gehirn. Unglücklicherweise gibt es ungeachtet der Umgebung, in der Kinder aufwachsen, immer die Gefahr der Misshandlung. In einer neueren Analyse konstatierte die US-amerikanische Regierung, dass etwa 170.000 Kinder in einem einzigen Jahr körperlich und etwa 90.000 sexuell misshandelt wurden (U.S. Department of Health & Human Services, 2005). In einer Stichprobe von 375 jungen Erwachsenen gaben fast elf Prozent an, in irgendeiner Weise misshandelt worden zu sein. Etwa
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80 Prozent der Personen in dieser Gruppe wiesen Symptome einer oder mehrerer psychiatrischer Störungen auf (Silverman et al., 1996). Fälle von Kindesmisshandlung stellen Psychologen vor eine besonders wichtige Aufgabe: herauszufinden, welche Interventionsformen für ein Kind am geeignetsten sind. In den USA wurden etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche aus ihrem Elternhaus herausgeholt und in irgendeine Form von staatlich finanzierter Umgebung gebracht (beispielsweise ein Pflegeheim oder eine Wohngruppe). Sind diese Kinder immer froh darüber, aus den Elternhäusern herausgeholt zu werden, in denen sie misshandelt wurden? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil sogar misshandelte Kinder oft eine Bindung an die sie versorgenden Personen entwickelt haben: Die Kinder bleiben unter Umständen loyal gegenüber ihrer Familie und hoffen, dass alles wieder in Ordnung kommen wird, wenn man ihnen erlaubt, zu ihrer Familie zurückzukehren. Das ist einer der Gründe, warum sich ein großer Teil der Forschungsbemühungen auf die Entwicklung von Interventionsprogrammen konzentriert, die Familien erhalten und wieder zusammenführen, indem sie die Umstände ändern, die zur Misshandlung geführt haben (Miller et al., 2006). In diesem Abschnitt haben wir uns damit beschäftigt, wie sich Erfahrungen während der Kindheit auf die spätere soziale Entwicklung auswirken. Wir konzentrieren uns jetzt auf spätere Lebensabschnitte und beginnen mit der Adoleszenz.
10.5.3 Soziale Entwicklung in der Adoleszenz Zu Beginn dieses Kapitels haben wir Adoleszenz anhand von körperlichen und geistigen Veränderungen definiert. In diesem Abschnitt werden wir diese Veränderungen als Hintergrund für soziale Erfahrungen betrachten. Weil das Individuum einen gewissen Grad an körperlicher und geistiger Reife erlangt hat, ergeben sich neue soziale und persönliche Herausforderungen. Wir befassen uns zunächst allgemein mit dem Erleben der Adoleszenz und widmen uns dann der sich wandelnden sozialen Umwelt eines Individuums.
Die Erfahrung der Adoleszenz Der traditionellen Sichtweise zufolge ist die Adoleszenz eine einzigartig turbulente Lebensphase, die durch extreme Stimmungsschwankungen und unvorhersehbares, problematisches Verhalten gekennzeichnet ist: „Sturm und Drang“. Dieses Konzept geht auf
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
die gleichnamige literarische Epoche im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zurück, die von Autoren wie Schiller („Die Räuber“) und Goethe („Werther“) geprägt wurde. Die etwas später folgende Epoche der Romantik in Deutschland und England (bis etwa 1835) hatte ebenfalls Einfluss auf das Konzept. In der Psychologie war G. Stanley Hall, der erste Psychologe der Neuzeit, der sich umfangreicher zur Entwicklung in der Adoleszenz äußerte, ein Verfechter der „Sturmund-Drang“-Sicht der Adoleszenz. In der Nachfolge von Hall waren es vor allem die psychoanalytisch orientierten Theoretiker in der Tradition von Freud, die diese Sichtweise befürworteten (beispielsweise Blos, 1965; Anna Freud, 1946, 1958). Einige von ihnen gingen sogar so weit zu behaupten, dass die extreme Turbulenz nicht nur ein normaler Teil der Adoleszenz sei, sondern dass das Ausbleiben solcher Turbulenzen ein Zeichen für Entwicklungsstillstand sei. Anna Freud schrieb: „Während der Adoleszenz normal zu sein, ist in sich anormal.“ (1958, S. 275). Zwei Pioniere der Kulturanthropologie, Margaret Mead (1928) und Ruth Benedict (1938), vertraten die Ansicht, dass die „Sturm-und-Drang“-Theorie auf viele nichtwestliche Kulturen nicht anwendbar ist. Sie beschrieben Kulturen, in denen Kinder nach und nach mehr und mehr Verantwortung übernahmen, ohne plötzliche belastende Übergänge oder Phasen der Ratlosigkeit und Turbulenz. Die gegenwärtige Forschung bestätigt, dass die Erfahrung des Erwachsenwerdens sich in verschiedenen Kulturen anders darstellt (Arnett, 1999). Diese interkulturellen Unterschiede sprechen gegen ausschließlich biologische Theorien des Erwachsenwerdens. Stattdessen konzentrieren sich die Forscher auf die Übergänge, die Kinder in den verschiedenen Kulturen bewältigen sollen. Erinnern Sie sich, dass in Eriksons Beschreibung des Lebensablaufs die wesentliche Aufgabe des Erwachsenwerdens darin besteht, seine eigene wahre Identität zu entdecken. In Kulturen wie derjenigen der Mehrheit in Deutschland ist eine Folge daraus, dass Kinder versuchen, Unabhängigkeit von ihren Eltern zu erlangen. Eltern und ihre erwachsen werdenden Kinder müssen eine Veränderung ihrer Beziehung von einem Zustand nicht hinterfragter Elternautorität zu einem Zustand durchstehen, in dem der oder die Jugendliche ein vernünftiges Maß an Unabhängigkeit erringt, um wichtige Entscheidungen selbst zu treffen (Allen & Land, 1999; Holmbeck & O‘Donnell, 1991). Betrachten wir die Ergebnisse einer Studie, die 1330 Jugendliche von ihrem 11. bis zum 14. Lebensjahr begleitete (McGue et al., 2005). Als Vierzehnjährige berichteten diese Kinder von mehr Konflikten mit ihren
Eltern, als sie diese mit elf Jahren hatten. Im Leben der Vierzehnjährigen spielten die Eltern eine geringere Rolle; die Jugendlichen sahen ihre Eltern weniger positiv und glaubten umgekehrt, dass ihre Eltern weniger von ihnen hielten. Diese Daten zeigen etwas von dem Preis, der zu zahlen ist, wenn Kinder nach mehr Unabhängigkeit streben. Wir wollen allerdings kein übermäßig negatives Bild zeichnen: Die meisten Jugendlichen können bei den meisten Gelegenheiten ihre Eltern immer noch als Quelle emotionaler und praktischer Unterstützung nutzen (Smetana et al., 2006). Andererseits erklärt vor diesem Hintergrund das Streben nach Identität und Unabhängigkeit, warum Menschen ein bestimmtes Maß an „Sturm und Drang“ empfinden. Nachdem wir jetzt die allgemeine Erfahrung des Erwachsenwerdens besprochen haben, wenden wir uns der steigenden Bedeutung von Gleichaltrigen (peers) in der sozialen Erfahrung Jugendlicher zu.
Soziale Beziehungen Ein Großteil der Forschung zur sozialen Entwicklung in der Adoleszenz konzentriert sich auf die sich wandelnden Rollen von Familie (oder erwachsenen Bezugspersonen) und Freunden (Smetana et al., 2006). Wir wissen bereits, dass Bindungen an Erwachsene kurz nach der Geburt entstehen. Kinder fangen auch früh an, Freunde zu haben. Die Adoleszenz ist jedoch der erste Lebensabschnitt, in dem Gleichaltrige mit den Eltern darum zu konkurrieren scheinen, die Einstellungen und Verhaltensweisen einer Person zu formen. Jugendliche haben an Beziehungen mit Gleichaltrigen (peer relations) auf den drei Ebenen von Freundschaft, Cliquen und Gruppen teil (Brown & Klute, 2003). Im Verlauf dieser Jahre zählen Jugendliche dabei mehr und mehr auf Freundschaften mit Einzelnen, um Hilfe und Unterstützung zu erhalten (Furman & Buhrmester, 1992). Cliquen sind Gruppen, die meist aus sechs bis zwölf Mitgliedern bestehen. Die Mitgliedschaft kann sich mit der Zeit verändern, richtet sich aber meist nach Kategorien wie Alter und ethnischem Hintergrund. Gruppen schließlich sind größere Zugehörigkeiten wie „Sportler“ oder „Streber“, nach denen Menschen dieser Altersgruppe lose eingeteilt werden. Durch Interaktion mit Gleichaltrigen auf diesen drei Ebenen definieren Jugendliche allmählich die soziale Komponente ihrer sich entwickelnden Identität, indem sie die Art von Mensch, die sie sein möchten, und die Art von Beziehungen, die sie eingehen möchten, wählen (Berndt, 1992; Hartup, 1996).
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Einzelne Teilnehmer Gruppe 0,6 0,5 Riskantes Fahrverhalten
Die Beziehungen zwischen Gleichaltrigen, die von Jugendlichen eingegangen werden, sind sehr wichtig für die soziale Entwicklung. Sie geben dem Individuum eine Möglichkeit zu lernen, wie man sich in oft anstrengenden sozialen Umständen erfolgreich verhält. In diesem Sinne spielen Beziehungen zwischen Gleichaltrigen eine positive Rolle bei der Vorbereitung von Jugendlichen auf ihre Zukunft. Gleichzeitig machen sich Eltern oft – berechtigterweise – Sorgen über negative Aspekte des Einflusses Gleichaltriger. So hat die Forschung beispielsweise ergeben, dass Jugendliche eher zu riskantem Verhalten neigen, wenn sie sich unter Gleichaltrigen befinden.
0,4 0,3 0,2 0,1 0 –0,1 –0,2 –0,3
AUS DER FORSCHUNG Um Veränderungen der Entwicklung unter dem Einfluss Gleichaltriger zu erforschen, rekrutierten Forscher drei Gruppen von Teilnehmern: Jugendliche (Alter 13 bis 16), junge Erwachsene (Alter 18 bis 22) und Erwachsene (Alter 24 und darüber) (Gardner & Steinberg, 2005). Die Teilnehmer jeder Altersgruppe spielten ein Videospiel namens „Chicken“. In diesem Spiel agieren die Spieler als Fahrer. Sie müssen entscheiden, wie schnell sie ihren Wagen anhalten, wenn ein Licht von Grün auf Gelb wechselt. Das Ziel ist, so viel Entfernung wie möglich zurückzulegen, bevor das Licht auf Rot umspringt und eine Mauer erscheint. Stoppen sie nicht rechtzeitig, rasen sie in die Mauer. Etwa die Hälfte der Teilnehmer spielte alleine. Die andere Hälfte spielte in Gruppen zu dritt – jeder Teilnehmer kam der Reihe nach dran, während die anderen beiden zusahen. Abbildung 10.11 zeigt die Ergebnisse dieses Experiments. Wie Sie sehen, fuhren die Jugendlichen weitaus öfter riskant (innerhalb des Videospiels), wenn sie sich in Gesellschaft Gleichaltriger befanden.
Diese Studie bestätigt eine generelle Tendenz bei Jugendlichen, dass der Einfluss Gleichaltriger eine Neigung zu riskantem Verhalten verstärkt. Allerdings unterliegen manche Jugendliche diesem Einfluss stärker als andere – und diese Beeinflussbarkeit hat Folgen. In einer Längsschnittstudie erwies sich, dass Schüler, die am Beginn der Untersuchung einem verstärkten Einfluss ihrer gleichaltrigen Freunde unterlagen, ein Jahr später mit größerer Wahrscheinlichkeit Alkohol- und Drogenprobleme hatten (Allen et al., 2006). Wir merken hier abermals an, dass Erwachsenwerden keine Zeit von Sturm und Drang sein muss. Andererseits weisen solche Studien auf Verhaltensmuster hin, die zeigen, dass manche Jugendliche gefährdet sind.
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–0,4
Jugendliche
Junge Erwachsene
Erwachsene
Abbildung 10.11: Einfluss Gleichaltriger auf Risikoverhalten. Jugendliche, junge Erwachsene und Erwachsene spielten ein Videospiel namens „Chicken“, entweder alleine oder in einer Gruppe. In diesem Spiel konnten die Spieler Risiken eingehen, während sie fuhren. Die y-Achse zeigt das Maß riskanten Fahrverhaltens: Höhere positive Werte zeigen größeres Risiko. Jugendliche zeigten den größten Effekt bei Anwesenheit Gleichaltriger.
10.5.4 Soziale Entwicklung im Erwachsenenalter Erikson definierte die beiden Aufgaben im Erwachsenenalter als Intimität und Generativität. Nach Freud sind die Bedürfnisse im Erwachsenenalter Lieben und Arbeiten. Nach Abraham Maslow (1968, 1970) sind die Bedürfnisse in dieser Lebensphase Liebe und ein Gefühl der Zugehörigkeit, die sich, wenn sie befriedigt werden, zu den Bedürfnissen nach Erfolg und Wertschätzung weiterentwickeln. Andere Theoretiker sprechen von den Bedürfnissen nach Geselligkeit oder sozialer Wertschätzung und den Bedürfnissen nach Erfolg und Kompetenzerleben. Der gemeinsame Kern dieser Theorien ist, dass das Erwachsenenalter eine Zeit ist, in der sozialen Beziehungen und persönlichen Erfolgen eine Sonderrolle zukommt. In diesem Abschnitt werden wir die Entwicklung dieser Themen im Verlauf des Erwachsenenalters verfolgen.
Intimität Erikson beschrieb Intimität als die Fähigkeit, gegenüber einer anderen Person eine vollständige Verbindlichkeit – sexueller, emotionaler und moralischer Art – einzugehen. Intimität kann sowohl in Freundschaften als auch in Liebesbeziehungen vorhanden sein und erfordert Offenheit, Mut, moralische Stand-
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
haftigkeit und für gewöhnlich Kompromisse hinsichtlich der eigenen Präferenzen. Eriksons Annahme, dass soziale Intimität eine notwendige Voraussetzung für ein Gefühl psychischen Wohlbefindens im Verlauf des Erwachsenenalters ist, wird übereinstimmend durch die Forschung bestätigt (Fernandez-Ballesteros, 2002; Ishii-Kuntz, 1990). Abbildung 10.12 zeigt, dass Interaktionen mit der Familie oder mit Freunden sich im Laufe der vielen Jahre ausbalancieren, was dazu führt, dass die Angaben, die zum eigenen Wohlbefinden gemacht werden, recht konstant sind. Die Veränderungen bei diesen Quellen sozialer Unterstützung spiegeln teilweise die Lebensereignisse wider, die üblicherweise mit einem bestimmten Alter korreliert sind. Werfen wir einen Blick auf diese Korrelationen. Das frühe Erwachsenenalter ist die Phase, in der viele Menschen eine Ehe oder eine andere stabile Beziehung eingehen. Insofern wird die Personengruppe, die man zur Familie rechnet, in der Regel größer werden. In der Vergangenheit konzentrierte sich ein Großteil der Forschung zu Beziehungen und Familien im Laufe des Erwachsenenalters auf die „normale“ Zusammensetzung aus Mutter, Vater und Kindern. Weil sich jedoch die realen Gegebenheiten in Familien geändert haben, haben Forscher versucht, die Folgen dieser Veränderungen zu erfassen und zu verstehen (Mason et al., 1998). So wird heute beispielsweise untersucht, wie homosexuelle Paare langfristige Beziehungen eingehen und aufrechterhalten (James & Murphy, 1998). Aufgrund der Forschungsergebnisse nimmt man an, dass die Strategien, die Homosexuelle und Heterosexuelle anwenden, um Beziehungen langfristig aufrechtzuerhalten, sehr viel gemeinsam haben: In beiden Fällen versuchen Paare, zusammenzublei-
ben, indem sie beispielsweise Aufgaben und Aktivitäten miteinander teilen (Haas, 2003; Haas & Stafford, 1998). Um dem Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz für schwule und lesbische Beziehungen zu begegnen, müssen homosexuelle Paare darüber hinaus auch besondere Maßnahmen ergreifen, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Eine solche Maßnahme ist das gemeinsame öffentliche Auftreten als Paar. Auch einige heterosexuelle Paare müssen sich gegen nach wie vor bestehende Hindernisse auf dem Weg zur sozialen Akzeptanz durchsetzen; Forschungsergebnisse lassen vermuten, dass Paare aus Mitgliedern zweier unterschiedlicher Ethnien ebenfalls bestimmten Vorurteilen ausgesetzt sind, welche die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Beziehung beeinträchtigen (Chan & Wethington, 1998; Gaines & Agnew, 2003). Jede der genannten Beziehungen vergrößert die Rolle, welche die Familie im Leben von Erwachsenen spielt. Familien wachsen auch, wenn man sich entschließt, das eigene Leben durch Kinder zu bereichern. Es überrascht Sie allerdings vielleicht zu hören, dass die Geburt von Kindern oft eine Bedrohung für das Glück eines Paares darstellen kann. Woran könnte das liegen? Die Forschung hat sich auf die unterschiedlichen Arten und Weisen konzentriert, auf die Männer und Frauen in heterosexuellen Beziehungen in die Elternrolle hineinwachsen (Cowan & Cowan, 1998, 2000). In heutigen westlichen Gesellschaften sind Ehen häufiger auf dem Prinzip der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau aufgebaut, als dass früher der Fall war. Die Geburt eines Kindes kann aber zur Folge haben, dass Männer und Frauen traditionellere Geschlechterrollen einnehmen. Die Frau hat möglicherweise das Gefühl, zu sehr mit der Kinderpflege
Hoch
Einfluss auf selbstberichtes Wohlbefinden
0,5
0,4 Familie
0,3 Freunde 0,2 0,0
Gering
10
20
30
40 Altersgruppe
50
60
70
Abbildung 10.12: Einflüsse von sozialer Interaktion auf das Wohlbefinden. Im Laufe des Lebens balancieren sich soziale Interaktionen mit der Familie und mit Freunden aus, was zu einem recht konstanten Ausmaß an selbst berichtetem Wohlbefinden führt.
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AUS DER FORSCHUNG
Welcher Ehepartner wird statistisch gesehen den anderen überleben? Welchen Effekt hat die Qualität der Ehe auf dieses Ergebnis? belastet zu sein; der Mann hat möglicherweise das Gefühl, zu sehr unter Druck zu stehen, die Familie zu ernähren. Im Endeffekt kann es passieren, dass nach der Geburt eines Kindes die Ehe in einer Weise verändert wird, die beide Partner als negativ empfinden (Cowan et al., 1985). Obwohl es weit weniger Forschung zu der Frage gibt, wie schwule und lesbische Paare Kinder aufziehen, lassen die vorliegenden Ergebnisse vermuten, dass, wie man es erwarten würde, die Geschlechterrollenproblematik im Zusammenhang mit der Elternrolle homosexuelle Beziehungen weniger negativ beeinflusst (Patterson, 2002). Bei vielen heterosexuellen Paaren nimmt die eheliche Zufriedenheit aufgrund der Konflikte während der Zeit, in der das Kind oder die Kinder die Adoleszenz durchleben, weiter ab. Im Gegensatz zum landläufigen Stereotyp freuen sich viele Eltern auf die Zeit, wenn ihr jüngstes Kind das Elternhaus verlässt und das Nest leer wird (White & Edwards, 1990). Eltern haben vielleicht die größte Freude an ihren Kindern, wenn sie nicht mehr unter einem Dach leben (Levenson et al., 1993). Haben wir Sie davon abgebracht, Kinder haben zu wollen? Hoffentlich nicht! Unser Ziel war es, Sie mit Forschungsergebnissen vertraut zu machen, die Ihnen dabei helfen, die Muster in Ihrem Leben vorherzusehen und zu interpretieren. Wenn Ehen aber insgesamt gesehen glücklicher sind, wenn die Ehepartner das späte Erwachsenenalter erreichen, sollte dann nicht jeder versuchen, bis ins hohe Alter verheiratet zu bleiben? In den Vereinigten Staaten endet etwa die Hälfte aller ersten Ehen mit einer Scheidung (Bramlett & Mosher, 2001). Die Forschung würde gerne bestimmen können, welche Paare grundlegend nicht zusammenpassen – etwa in Bezug auf ihre Muster sozialer Interaktion –, und welche Paare die Scheidung vermeiden könnten (Orbuch et al., 2002; Story & Bradbury, 2004).
400
1983 starteten Forscher eine Längsschnittstudie verheirateter Paare. Nachdem sie die Paare 14 Jahre lang begleitet hatten, konnten sie einige Verallgemeinerungen darüber formulieren, warum manche Paare verheiratet blieben, während andere geschieden worden waren (Gottman & Levenson, 2000). Während der anfänglichen Datenerhebung 1983 besuchten die Paare das Labor, um sich über ein neutrales Thema (Tagesereignisse) und ein konfliktreiches Thema (Bereich fortdauernder Auseinandersetzungen bei jedem Paar) zu unterhalten. Ausgebildete Forschungsassistenten sahen sich Aufzeichnungen dieser Gespräche an und bewerteten das Ausmaß positiver und negativer Affekte – emotionaler Inhalt –, die die Verheirateten einander zeigten. Einige Paare besprachen schwierige Themen mit Humor, während andere solche Themen mit Vorwürfen und Beschwerden diskutierten. Der affektive Inhalt dieser Gespräche war ein starker Indikator für das Schicksal der Paare. Von 79 untersuchten Paaren wurden 11 Prozent relativ schnell wieder geschieden – nach durchschnittlich 7,4 Jahren. Insgesamt hatten diese Paare einen hohen Grad negativer Affekte während der anfänglichen Diskussionen über kontroverse Themen gezeigt. Bei den 16 Prozent, die relativ spät geschieden wurden – nach durchschnittlich 13,9 Jahren – zeigte sich, dass sie einen niedrigen Grad positiver Affekte gegeneinander gezeigt hatten.
Warum bildete sich dieses Muster? Die Forscher vermuteten, dass „intensive Konflikte es schwierig machen, die Ehe lange aufrecht zu erhalten, aber das Fehlen solcher Konflikte die Ehe akzeptabler macht. Trotzdem fordert die Abwesenheit positiver Affekte ihren Preis“ (Gottman & Levensson, 2000, S. 743). Sie kennen aus eigener Beobachtung wahrscheinlich beide Typen von Beziehungen: diejenigen, in denen die Partner ständig streiten, und diejenigen, in denen sich die Partner in Ruhe lassen, aber auch nicht positiv aufeinander eingehen. Wenn Menschen bis ins Alter zusammenbleiben, muss einer der Partner sich meist irgendwann mit dem Tod des anderen auseinandersetzen. Wenn man über den Tod eines Ehe- oder Lebenspartners nachdenkt, ist man wieder bei einem Grund dafür angelangt, dass sich das Gleichgewicht der sozialen Interaktionen gegen Ende des Lebens von der Familie ein wenig zu den Freunden hin verschiebt (siehe Abbildung 10.12). Es gibt ein Stereotyp, demzufolge ältere Erwachsene sozial isolierter werden. Obwohl es richtig ist, dass ältere Personen zu weniger Personen soziale Kontakte haben, ist es doch so, dass sich die Beschaffenheit dieser Kontakte ändert, so dass die Bedürfnisse nach Intimität nach wie vor befriedigt werden. Dieser Ausgleich
10.5 Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens
wird von der Theorie der selektiven sozialen Interaktion erfasst. Der Theorie zufolge werden Menschen, wenn sie älter werden, auch selektiver bei der Wahl von sozialen Partnern, die ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen. Nach Laura Carstensen (1991, 1998) kann selektive Interaktion ein nützliches Mittel sein, mit dessen Hilfe Menschen ihrer emotionalen Erfahrungen regulieren und ihre Energien erhalten. Senioren pflegen nach wie vor tiefe Beziehungen zu einigen Menschen – insbesondere Familienmitgliedern und langjährigen Freunden. Schließen wir diesen Abschnitt mit dem Gedanken ab, mit dem er begann: Soziale Intimität ist eine notwendige Voraussetzung für psychisches Wohlbefinden. Am wichtigsten ist nicht die Quantität der sozialen Interaktion, sondern die Qualität (in den Vereinigten Staaten gilt dies vor allem für Frauen). Wenn wir uns dem späten Erwachsenenalter nähern, beginnen wir unser Bedürfnis nach Intimität dadurch zu schützen, dass wir diejenigen Personen auswählen, welche die unmittelbarste emotionale Unterstützung bieten. Wenden wir uns nun dem zweiten Aspekt der Entwicklung im Erwachsenenalter zu, der Generativität.
Generativität Menschen, die über eine ausreichende Basis an intimen Beziehungen verfügen, sind meist in der Lage, ihren Schwerpunkt auf Fragen der Generativität zu richten. Damit ist eine Verbindlichkeit gemeint, die über die eigene Person hinausgeht und sich auf die Familie, die Arbeitsumgebung, die Gesellschaft oder zukünftige Generationen richtet – üblicherweise ein entscheidender Schritt in der eigenen Entwicklung zwischen 30 und 50 Jahren (McAdams & de St. Aubin, 1998). Die Orientierung auf das Gemeinwohl ermöglicht es Erwachsenen, ein Gefühl psychischen Wohlbefindens zu etablieren, das die Sehnsucht nach der Jugend ausgleicht.
AUS DER FORSCHUNG George Vaillant hat die Persönlichkeitsentwicklung von 95 hoch intelligenten Männern anhand von Interviews und Beobachtungen über einen Zeitraum von 30 Jahren untersucht, angefangen mit ihrem Universitätsabschluss Mitte der 30er Jahre. Bei vielen Männern gab es drastische Veränderungen, und ihr späteres Verhalten unterschied sich oft merklich von ihrem Verhalten während der Studienzeit. In den Interviews wurden die Themen körperliche Gesundheit, soziale Beziehungen und beruflicher Erfolg
abgedeckt. Am Ende dieses Zeitraums von 30 Jahren wurden die 30 Männer mit dem größten Erfolg im Leben und die 30 Männer mit dem geringsten Erfolg identifiziert und miteinander verglichen ( Tabelle 10.6). Im mittleren Erwachsenenalter waren die Männer mit dem größten Erfolg mit Aufgaben aus dem Bereich der Generativität beschäftigt: Sie übernahmen Verantwortung für andere und trugen ihren Teil zur Welt bei. Ihre Reife schien sogar mit der Güte der Anpassung ihrer Kinder in Zusammenhang zu stehen – reifere Väter waren im Allgemeinen besser in der Lage, ihren Kindern die Hilfe zu geben, die sie brauchten, um mit der Welt zurechtzukommen (Vaillant, 1977).
Diese Untersuchung beschreibt die Voraussetzungen für Generativität: Bei den Männern mit dem größten Erfolg waren andere Aspekte ihres Lebens hinreichend stabil, was es ihnen ermöglicht hat, ihre Ressourcen nach außen, auf zukünftige Generationen, zu richten. Auf die Frage, was es bedeutet, gut zurechtzukommen, gaben Erwachsene mittleren Alters (im Durchschnitt 52 Jahre) und ältere Erwachsene (im Durchschnitt 74 Jahre) am häufigsten dieselbe Antwort. Beide Gruppen sind der Ansicht, dass das Zurechtkommen davon abhängt, dass man „für andere offen ist“ – dass man eine liebevoller, mitfühlender Mensch ist, der gute Beziehungen unterhält (Ryff, 1989). Das ist die Essenz der Generativität. Wir wollen auch festhalten, dass die meisten Senioren mit einem Ausmaß an Wohlbefinden auf ihr Leben zurückblicken, das sich gegenüber dem früherer Jahre nicht verändert hat (Carstensen & Freund, 1994). Wie schon bei den sozialen Beziehungen deutlich wurde, ist das Seniorenalter eine Zeit, in der sich Ziele verändern; die Prioritäten ändern sich, wenn die Zukunft nicht mehr unbegrenzt verfügbar erscheint. Durch diese Veränderungen hindurch bewahren Senioren jedoch ihren Sinn für den Wert ihres Lebens. Erikson definierte die letzte Krise des Erwachsenenalters als den Konflikt zwischen der Ich-Integrität und der Verzweiflung. Entsprechende Daten lassen vermuten, dass wenige Erwachsene mit Verzweiflung auf ihr Leben zurückblicken. Die meisten Senioren schauen mit einem Gefühl der Ganzheit und der Befriedigung auf ihr Leben zurück – und ihrer Zukunft entgegen. Wir haben uns unter Berücksichtigung der sozialen und persönlichen Aspekte von Kindheit, Adoleszenz und Erwachsenenalter mit der gesamten Lebensspanne beschäftigt. Um dieses Kapitel abzuschließen, werden wir zwei besondere Bereiche betrachten, in denen sich die Erfahrungen im Laufe der Zeit ändern. Die Rede ist von der Geschlechterentwicklung und der moralischen Entwicklung.
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Tabelle 10.6
Unterschiede zwischen den Teilnehmern mit dem größten und dem geringsten Erfolg im Leben in Bezug auf Faktoren der psychosozialen Reife
Größter Erfolg (30 Männer)
Geringster Erfolg (30 Männer)
Persönlichkeitsintegration in der Studienzeit im untersten Fünftel
0%
33 %
Als Erwachsene von der Mutter dominiert
0%
40 %
Trostloses Muster von Freundschaften mit 50 Jahren
0%
57 %
Mit 30 Jahren noch unverheiratet
3%
37 %
Pessimismus, Selbstzweifel, Passivität und Angst vor Sexualität mit 50 Jahren
3%
50 %
Ärmliches Elternhaus
17 %
47 %
Aktueller Arbeitsplatz mit geringer Leitungsverantwortung
20 %
93 %
Teilnehmer, deren Berufswahl eine Identifikation mit dem Vater widerspiegelt
60 %
27 %
Der Erfolg der eigenen Kinder wird als groß oder hervorragend beschrieben
66 %
23 %
ZWISCHENBILANZ 1 Welches Lebensalter setzte Erik Erikson für die Bewäl-
Unterschiede in Geschlecht und Geschlechterrollen
10.6
tigung in der Krise „Intimität vs. Isolation“ an? 2 Welche Langzeitfolgen haben sich hinsichtlich der
Qualität früher Bindungen bei Kindern gezeigt? 3 In welche Kategorien werden Erziehungsstile einge-
teilt? 4 Was sind die Ebenen der Beziehungen zwischen gleich-
altrigen Jugendlichen? 5 Was bedeutet selektive soziale Interaktion?
KRITISCHES DENKEN: Warum wurden die verheirateten Paare in der Längsschnittstudie zum Verlauf ihrer Partnerschaften am Anfang gebeten, sich über strittige Themen zu unterhalten?
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Die meisten Kinder erwerben schon früh die Information darüber, dass es zwei Sorten von Menschen in ihrer sozialen Umwelt gibt: Männer und Frauen. Mit der Zeit lernen Kinder, dass in vielerlei Hinsicht die psychologischen Erfahrungen von Männern und Frauen miteinander vergleichbar sind. Wenn allerdings Unterschiede auftreten, lernen die Kinder auch zu verstehen, dass manche davon biologisch und andere kulturell bedingt sind. Biologische Merkmale, anhand derer sich Männer von Frauen unterscheiden, bezeichnet man als biologische Geschlechtsunterschiede. Zu diesen Merkmalen gehören unterschiedliche Funktionen bei der Fortpflanzung sowie hormonelle und anatomische Unterschiede. Die ersten Unterschiede jedoch, die Kindern auffallen, sind rein sozial: Sie beginnen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu bemerken, bevor sie etwas über Anatomie wissen. Im Unterschied zum biologischen Geschlecht ist Gender
10.6 Unterschiede in Geschlecht und Geschlechterrollen
oder Geschlechterrolle ein psychologisches Phänomen, das sich auf gelernte geschlechtsbezogene Verhaltensweisen und Haltungen bezieht. In den einzelnen Kulturen ist Gender unterschiedlich stark im Alltag präsent und wird Gender übergreifendes Verhalten unterschiedlich stark toleriert. In diesem Abschnitt befassen wir uns sowohl mit biologischen Geschlechtsunterschieden als auch mit Genderentwicklung, mit Fragen von Anlage und Umwelt bei der Entwicklung der Konzepte von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ bei Kindern.
10.6.1 Geschlechtsunterschiede Ungefähr sechs Wochen nach der Empfängnis beginnen männliche Feten sich von weiblichen zu unterscheiden, wenn sich die Hoden entwickeln und das Hormon Testosteron produzieren. Das Vorhandensein von Testosteron spielt eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung, ob ein Kind mit männlicher oder weiblicher Anatomie geboren wird. Testosteron beeinflusst auch die Gehirnentwicklung: Tierversuche haben gezeigt, dass Geschlechtsunterschiede in der neuronalen Struktur hauptsächlich von diesem Hormon verursacht werden (Morris et al., 2004). Die genaue Rolle, die Testosteron in der Entwicklung des menschlichen Gehirns spielt, ist weniger klar. Scans des Gehirns haben allerdings durchgängige strukturelle Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen gezeigt (Goldstein et al., 2001). Männer haben normalerweise größere Gehirne als Frauen – aussagefähige Vergleiche zwischen den Geschlechtern berücksichtigen diesen Unterschied. Die Unterschiede, die nach dieser Korrektur noch verbleiben, sind interessant in Bezug auf Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen. So ergeben zum Beispiel MRT-Scans, dass die Bereiche der Frontallappen, die wichtig für die Steuerung sozialen Verhaltens und für das Gefühlsleben sind, bei Frauen vergleichsweise größer als bei Männern sind (Gur et al., 2002). Um zu belegen, dass Geschlechtsunterschiede dieser Art biologisch sind – und nicht das Ergebnis kultureller Erfahrungen in der Rolle als Mann oder Frau im Laufe des Lebens – haben Forscher entsprechende Studien auch an Kindern und Jugendlichen durchgeführt (De Bellis et al., 2001; Suzuki et al., 2005). Diese Studien bestätigen, dass Geschlechtsunterschiede im Gehirn als Teil der normalen biologischen Entwicklung entstehen. Andere Analysen von Geschlechtsunterschieden konzentrieren sich auf die unterschiedlichen Arten, wie männliche und weibliche Gehirne kognitive und
emotionale Aufgaben lösen (Kimura, 1999). Betrachten wir die Prozesse, die im Gehirn ablaufen, wenn Angehörige beider Geschlechter emotional aufgeladene Bilder betrachten.
AUS DER FORSCHUNG 12 Männer und 12 Frauen durchliefen MRT-Scans, während sie 96 Bilder betrachteten, deren Inhalte von neutral (zum Beispiel ein Buch oder eine Gabel) bis negativ (etwa ein Grabstein oder eine Autopsie) reichten (Canli et al., 2002). Während die Teilnehmer die Bilder betrachteten, bewerteten sie die Intensität ihrer emotionalen Erfahrung auf einer Skala von 0 („emotional überhaupt nicht intensiv“) bis 3 („emotional äußerst intensiv“). Drei Wochen nach dieser anfänglichen Sitzung absolvierten die Probanden einen Gedächtnistest zum Wiedererkennen dieser Bilder – sie waren beim ursprünglichen Betrachten der Bilder nicht über diesen Test unterrichtet worden. Die Experimentatoren erfassten die Beziehung zwischen der Hirnaktivität beim Enkodieren und der folgenden Gedächtnisleistung. Sie fanden deutlich unterschiedliche Aktivitätsmuster für Männer und Frauen. So ging zum Beispiel dem erfolgreichen Wiedererkennen bei Frauen eine größere Aktivität in der linken Amygdala (siehe Kapitel 3) voraus, bei Männern dagegen in der rechten Amygdala.
Weitere Studien des arbeitenden Gehirns bestätigen Geschlechtsunterschiede beim Enkodieren und Abrufen emotional erregender Stimuli (Cahill et al., 2004). Diese Studien legen nahe, dass einige der Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen eher auf biologische Unterschiede als auf kulturelle Rollenmuster zurückgeführt werden können. Die meisten Forschungsvorhaben über biologische Geschlechtsunterschiede zwischen Männern und Frauen konzentrieren sich auf die allgemeine Unterscheidung zwischen den Geschlechtern. Die Forschung hat allerdings inzwischen auch mit der Untersuchung feinerer Unterschiede zwischen einzelnen Individuen begonnen. Diese Studien befassen sich wieder mit dem Effekt von Testosteron auf die spätere Entwicklung. In diesem Fall bestimmten die Forscher den Testosteronanteil der amniotischen Flüssigkeit jedes einzelnen Probanden. Sie korrelierten diese fetalen Testosteronspiegel mit beispielsweise der Qualität der sozialen Beziehungen jedes der Jungen und Mädchen im Alter von 4 Jahren (Knickmeyer et al., 2005). Im Allgemeinen hatten Jungen einen höheren Anteil fetalen Testosterons als Mädchen. Vor diesem Hintergrund waren höhere Testosteronspiegel bei jedem einzelnen Individuum, sowohl Mädchen als auch
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Jungen, mit schlechteren sozialen Beziehungen verbunden. Diese Ergebnisse legen nahe, dass das Ausmaß, in dem Menschen den Erwartungen für männliches und weibliches Verhalten entsprechen, teilweise von ihrer pränatalen hormonellen Umgebung abhängen kann (Morris et al., 2004).
10.6.2 Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen Sie haben gerade gesehen, wie wichtige Aspekte des Verhaltens bei Männern und Frauen durch biologische Unterschiede bedingt werden. Allerdings haben auch kulturelle Erwartungen einen wichtigen Effekt auf die Geschlechtsidentität – das Gefühl eines Menschen, männlich oder weiblich zu sein. Geschlechtsidentität umfasst das Bewusstsein und die Akzeptanz des eigenen biologischen Geschlechts. Dieses Bewusstsein entwickelt sich früh: Zehn bis vierzehn Monate alte Kinder zeigen bereits Präferenzen für Videoaufnahmen, welche die abstrakten Bewegungen eines gleichgeschlechtlichen Kindes zeigen (Kujawski & Bower, 1993). Geschlechterrollen sind Verhaltensmuster, die in einer bestimmten Gesellschaft als angemessen für Männer und Frauen gelten. Sie sind die Basis der Definitionen von Maskulinität und Femininität.
Ein Großteil dessen, was jemand als maskulin oder feminin betrachtet, wird durch die Kultur geformt (Leaper, 2000). Viele Forscher gehen davon aus, dass die Sozialisation in Hinblick auf Geschlechterrollen mit der Geburt beginnt. In einer Untersuchung beschrieben Eltern ihre neugeborenen Töchter und verwandten dabei Wörter wie klein, zart, schön und schwach. Im Gegensatz dazu beschrieben Eltern ihre neugeborenen Söhne als kräftig, aufmerksam, stark und koordiniert. Zwischen den Babys bestanden keine Unterschiede in Größe, Gewicht und Gesundheitszustand (Rubin et al., 1974). Eltern kleiden ihre Söhne und Töchter unterschiedlich, sie geben ihnen unterschiedliches Spielzeug und kommunizieren unterschiedlich mit ihnen. Schon bei 18 Monate alten Kindern reagieren Eltern positiver, wenn das Kind mit Spielzeug spielt, das für die jeweilige Geschlechterrolle „angemessen“ ist. In einem Experiment reagierten Väter weniger positiv auf Jungen, die mit für Mädchen typische Puppen spielten (Fagot & Hagan, 1991). Im Allgemeinen werden Kinder von ihren Eltern darin bestärkt, geschlechtstypische Aktivitäten auszuüben (Lytton & Romney, 1991; Witt, 1997). Die Eltern sind nicht die Einzigen, die für die Sozialisation von Geschlechterrollen sorgen. Eleanor Maccoby (1998) behauptet beispielsweise, dass Eltern die Geschlechterrollen ihren Kindern nicht einfach aufprägen. Sie fand Belege, dass Spielstile und Spielzeugpräferenzen tatsächlich nicht hoch mit den elterlichen Präferenzen oder Rollen korrelieren. Kleine Kinder sind Separatisten – sie suchen Kontakt zu gleichgeschlechtlichen Kindern selbst dann, wenn sie nicht von Erwachsenen beaufsichtigt werden, oder trotz der Aufforderung von Erwachsenen, in einer gemischten Gruppe zu spielen. Maccoby glaubt, dass viele Unter-
Wie beeinflussen Eltern und Gleichaltrige den Erwerb von Geschlechterrollen?
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10.7 Moralische Entwicklung
schiede im Geschlechterrollenverhalten bei Kindern das Ergebnis von Beziehungen zu Gleichaltrigen sind. Tatsächlich zeigen Jungen und Mädchen durchgängige Unterschiede in ihren Mustern sozialer Interaktion. Einige Unterschiede betreffen die Struktur der Interaktionen. So bevorzugen Jungen zumindest ab einem Alter von 6 Jahren die Interaktion in Gruppen, während Mädchen eher zu zweit interagieren (Benenson et al., 1997; Benenson & Heath, 2006). Andere Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen betreffen den Inhalt ihrer Spiele (Rose & Rudolph, 2006). Mädchen werden eher als Jungen gesellige Gespräche führen und Informationen über sich selbst geben. Jungen raufen eher oder toben herum. Diese Unterschiede werden augenfälliger, wenn die Kinder älter werden, und liefern so Hinweise für die Entwicklung der Geschlechterrollen. Interaktion mit ihren Eltern und mit Gleichaltrigen gibt Kindern einer Vielzahl an Möglichkeiten, sich Geschlechterrollen anzueignen. Trotzdem scheinen kleine Kinder selbst zu glauben, dass das Schicksal biologisch festgelegt ist.
AUS DER FORSCHUNG Gruppen von Kindern im Alter von vier, fünf, acht, neun und zehn Jahren sollten Vorhersagen über ein fiktives zehnjähriges Kind machen, das Chris oder Pat genannt wurde (beides Namen, die Jungen und Mädchen tragen können). Alle Kinder glaubten, das fiktive Kind sei auf einer wunderschönen Insel aufgewachsen. Einigen Kindern wurde jedoch gesagt, dass Chris oder Pat auf dieser abgelegenen Insel nur von Angehörigen des gleichen Geschlechts aufgezogen wurde (beispielsweise wurde der Junge Chris nur von männlichen Bezugspersonen aufgezogen) oder dass das fiktive Kind nur von Angehörigen des anderen Geschlechts aufgezogen wurde (beispielsweise wurde der Junge Chris nur von weiblichen Bezugspersonen aufgezogen). Wie wirkte sich die Umgebung auf die Vorhersagen über Chris und Pats geschlechterrollenstereotypes Verhalten aus, welche die Vier- bis Zehnjährigen abgaben? Bis zum Alter von neun Jahren glaubten die Kinder, das dem Geschlechtsstereotyp entsprechende Verhalten würde unabhängig vom sozialen Kontext auftreten. Beispielsweise hielten es die jüngeren Kinder unabhängig davon, wer das fiktive Kind aufzog, für wahrscheinlich, dass der Junge Chris Feuerwehrmann werden wollte und das Mädchen Chris Krankenschwester. Die Vorhersagen der älteren Kinder nahmen dagegen Rücksicht auf den Kontext, in dem das fiktive Kind aufwuchs: Jetzt hing die Berufswahl von Chris ebenso sehr vom Geschlecht seiner oder ihrer Bezugspersonen ab wie von seinem oder ihrem eigenen Geschlecht (Taylor, 1996).
Diese Ergebnisse legen nahe, dass Kinder den Einfluss unterschätzen, den die Umwelt auf die Arten und Weisen hat, in denen Jungen und Mädchen unterschiedlich werden. Die Ergebnisse passen auch zu dem Befund, dass Kinder zwischen zwei und sechs Jahren offenbar eine extremere und unflexiblere Sicht auf das soziale Geschlecht haben als Erwachsene (Stern & Karraker, 1989). Wenn man ihnen einen Säugling in neutraler Kleidung zeigt, werden Kinder dieses Alters in ihren Urteilen über den Säugling weit konsistenter durch die willkürliche Zuschreibung von „männlich“ oder „weiblich“ beeinflusst als Erwachsene. Die extremen Reaktionen jüngerer Kinder könnten mit der Tatsache in Verbindung stehen, dass sie in einem Alter sind, in dem sie versuchen, ihre eigene Geschlechtsidentität zu etablieren. Sie scheinen insgesamt weitaus stärker im Einklang mit den „Skripts“ für geschlechterrollenspezifisch angemessenes Verhalten zu stehen als ihre älteren Geschwister (Levy & Fivush, 1993). Wir haben uns kurz damit befasst, wie und warum Jungen und Mädchen die soziale Entwicklung unterschiedlich erleben. Im nächsten Abschnitt werden Sie feststellen, dass einige Forscher auch glauben, das soziale Geschlecht habe Einfluss auf die moralische Entwicklung.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist der Unterschied zwischen Geschlechtsunter-
schieden und Genderunterschieden? 2 Was sagt die Forschung über Geschlechtsunterschiede
hinsichtlich der Verarbeitung emotionaler Stimuli? 3 Inwiefern sind kleine Kinder Separatisten“?
KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an das Experiment zur Untersuchung des Verständnisses von Kindern für Geschlechtsunterschiede. Warum wurde Chris oder Pat ausdrücklich als „10 Jahre alt“ bezeichnet?
Moralische Entwicklung
10.7
Wir haben bisher festgestellt, wie wichtig es ist, im Laufe des Lebens enge soziale Beziehungen zu knüpfen. Befassen wir uns nun mit einem anderen Aspekt, der damit einhergeht, dass man als Teil einer sozialen Gruppe lebt: Bei vielen Gelegenheiten muss man sein Verhalten anhand der Bedürfnisse der Gesellschaft statt nur anhand der eigenen Bedürfnisse beurteilen. Das ist die Grundlage moralischen Verhaltens. Moral
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ist ein System aus Überzeugungen, Werten und zugrunde liegenden Urteilen über richtiges und falsches menschliches Handeln. Die Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass aus Kindern Erwachsene werden, die ein System von moralischen Werten akzeptieren und deren Verhalten von moralischen Prinzipien geleitet wird (Killen & Hart, 1999). Bekannterweise kann die Frage, was in einer bestimmten Situation moralisch richtiges und falsches Verhalten ist, zu hitzigen öffentlichen Debatten führen. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass die Untersuchung der moralischen Entwicklung ebenfalls zu Kontroversen führte. Die Kontroverse beginnt mit der grundlegenden Forschungsarbeit von Lawrence Kohlberg.
10.7.1 Stufen des moralischen Urteils nach Kohlberg Lawrence Kohlberg (1964, 1981) basierte seine Theorie der moralischen Entwicklung auf die Untersuchung des moralischen Urteils – die Urteile, die Menschen darüber abgeben, welche Verhaltensweisen in einer bestimmten Situation richtig oder falsch sind. Kohlbergs Theorie wurde durch die vorherigen Erkenntnisse von Jean Piaget (1932/1972) beeinflusst, der die Entwicklung des moralischen Urteils mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung von Kindern verknüpfen wollte. Nach Piagets Meinung weist ein Kind den Konsequenzen einer Handlung und den Intentionen des Handelnden unterschiedliche relative Gewichte zu, während es die Stadien der kognitiven Entwicklung durchläuft. So ist beispielsweise für ein präoperatorisches Kind jemand, der unbeabsichtigt zehn Tassen zerbricht, „unartiger“ als jemand, der eine Tasse mit Absicht zerbricht. Je älter das Kind wird, desto schwerer wiegen die Absichten des Handelnden für das moralische Urteil.
AUS DER FORSCHUNG Kinder im Alter von drei, vier und fünf Jahren wurden gebeten, moralische Urteile über das Verhalten von Personen abzugeben. Die Situationen unterschieden sich anhand der drei Dimensionen: Handlung, Ergebnis und Absichten. Die Handlungen wurden innerhalb einer Situation als positiv oder negativ definiert (beispielsweise ein Tier streicheln oder schlagen), genauso wie die Ergebnisse (beispielsweise klagten oder freuten sich die Tiere). Um die Absichten zu variieren, beschrieben die Forscher einige Verhaltensweisen als absichtlich und andere als zufällig (beispielsweise schlug die handelnde Person das Tier entweder mit Absicht
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oder aus Versehen). Die Kinder wurden gebeten, durch die Wahl eines von fünf Gesichtern, die für Werte von „ganz, ganz böse“ bis zu „ganz, ganz brav“ standen, anzugeben, für wie akzeptabel sie das entsprechende Verhalten hielten. Bei den jüngeren Kindern hing die Bewertung fast ausschließlich vom Ergebnis ab; nur die Fünfjährigen berücksichtigten die Absicht. Wenn die Kinder aber gefragt wurden, ob die handelnde Person bestraft werden sollte, berücksichtigten mehr jüngere Kinder die Absichten der handelnden Person (Zelazo et al., 1996).
Diese Ergebnisse legen nahe, dass Kindern in dem Maße, in dem ihre kognitive Komplexität zunimmt, auch in die Lage versetzt werden, ihre Aufmerksamkeit von der reinen Berücksichtigung der Ergebnisse auf die gemeinsame Berücksichtigung von Ergebnissen und Absichten zu richten. Der Unterschied zwischen den Urteilen darüber, wie akzeptabel etwas ist, und den Urteilen darüber, ob jemand bestraft werden sollte, lässt vermuten, dass Kinder bei einigen Arten von moralischen Urteilen schon früher in der Lage sind, mehrere Faktoren zu berücksichtigen. Wie wir schon weiter oben in diesem Kapitel gesehen haben, hängt es von der spezifischen Frage- und Aufgabenstellung ab, wie reif sie erscheinen. Kohlberg erweiterte Piagets Ansicht, um Stufen der moralischen Entwicklung zu definieren. Jede Stufe ist durch eine andere Grundlage für moralische Urteile gekennzeichnet ( Tabelle 10.7). Auf der untersten Stufe werden moralische Urteile auf der Basis des eigenen Vorteils getroffen, wohingegen auf höheren Stufen das Gemeinwohl unabhängig vom persönlichen Vorteil entscheidend ist. Um diese Stufen zu erfassen, benutzte Kohlberg eine Reihe von Dilemmata, bei denen unterschiedliche moralische Prinzipien im Widerspruch zueinander stehen: In einer untersuchten Dilemma-Situation versucht ein Mann namens Heinz, seiner Frau dabei zu helfen, ein bestimmtes Medikament zu erhalten, das zur Behandlung ihrer Krebserkrankung notwendig ist. Ein skrupelloser Apotheker ist nur bereit, das Medikament an Heinz zu verkaufen, wenn dieser das Zehnfache des Einkaufspreises zahlt. Das ist viel mehr Geld, als Heinz hat oder auftreiben kann. Heinz verzweifelt, bricht in die Apotheke ein und stiehlt das Medikament für seine Frau. Hätte Heinz das tun sollen? Warum? Ein Interviewer befragt den Versuchsteilnehmer zu den Gründen seiner Entscheidung und wertet dann die Antworten aus.
10.7 Moralische Entwicklung
Tabelle 10.7
Stufen des moralischen Urteils nach Kohlberg
Niveau/Stufe
Gründe für moralisches Verhalten
I. Präkonventionelle Moral Stufe 1 Bestrafungsorientierung
Negative Folgen vermeiden (Schmerz, erwischt werden)
Stufe 2 Kosten-Nutzen-Orientierung; Reziprozität – Auge um Auge
Belohnung bekommen
II. Konventionelle Moral Stufe 3 Braves-Kind-Orientierung
Akzeptanz erhalten, Ablehnung vermeiden
Stufe 4 Autoritäts-Orientierung
Regeln befolgen, keine Rüge von Autoritäten bekommen
III. Postkonventionelle Moral Stufe 5 Orientierung am sozialen Vertrag
Etwas fürs Wohlergehen der Gesellschaft tun
Stufe 6 Orientierung an ethischen Prinzipien
Gerechtigkeit herstellen, Selbstverurteilung vermeiden
Stufe 7 Kosmische Orientierung
Universellen Prinzipien gerecht werden; sich als Teil einer kosmischen Ordnung zu fühlen, die soziale Normen transzendiert
Die Auswertung basiert auf den Gründen, welche die Person für ihre Entscheidung angibt, nicht auf der Entscheidung selbst. Beispielsweise wird jemand, der sagt, dass Heinz das Medikament stehlen sollte, weil er seiner sterbenden Frau gegenüber dazu verpflichtet ist, oder dass er das Medikament nicht stehlen sollte, weil er verpflichtet ist, sich an das Gesetz zu halten (trotz seiner persönlichen Gefühle), der Stufe 4 zugeordnet, weil er das Einhalten bestehender Verpflichtungen in den Mittelpunkt seiner Antwort rückt. Kohlbergs Stufenmodell wird durch vier Prinzipien bestimmt: (1) Eine Person kann zu einer bestimmten Zeit nur auf einer Stufe stehen; (2) jeder durchläuft die Stufen in der festgelegten Reihenfolge; (3) jede Stufe ist umfassender und komplexer als die vorhergehende; und (4) die gleichen Stufen treten in jeder Kultur auf. Kohlberg übernahm einen Großteil seiner Stufen-Philosophie von Piaget, und der Fortschritt von Stufe 1 zu Stufe 3 passt scheinbar tatsächlich zur normalen kognitiven Entwicklung. Die Stufen werden der Reihe nach durchlaufen, und jede Stufe kann als kognitiv komplexer als die vorhergehende angesehen werden. Fast alle Kinder erreichen bis zum Alter von dreizehn Jahren Stufe 3. Ein Großteil der Kontroverse um Kohlbergs Theorie findet jenseits von Stufe 3 statt. Nach Kohlbergs ursprünglicher Ansicht sollten Menschen sich jenseits von Stufe 3 gleichmäßig weiterentwickeln. Allerdings errei-
chen nicht alle Menschen die Stufen 4 bis 7. Es ist sogar so, dass viele Erwachsene Stufe 5 nie erreichen und nur wenige darüber hinauswachsen. Der Inhalt der späteren Stufen Kohlbergs erscheint subjektiv, und es ist schwer, jede folgende Stufe als umfassender und komplexer als die vorhergehende zu sehen. Beispielsweise ist die „Vermeidung einer Selbstverurteilung“, die Basis für moralisches Urteil auf Stufe 6, nicht unbedingt komplexer als die „Vermehrung des Wohlergehens der Gesellschaft“ auf Stufe 5. Darüber hinaus finden sich die höheren Stufen nicht bei allen Kulturen (Eckensberger & Zimba, 1997). Wir wenden uns nun ausführlicheren aktuellen Kritiken an Kohlbergs Theorie zu, die sich aus der Berücksichtigung von Geschlecht und Kultur ergeben.
10.7.2 Geschlechterperspektive und kulturelle Perspektiven auf das moralische Urteil Die meisten Kritiken an Kohlbergs Theorie entzünden sich an seinem Universalitätsanspruch: Kohlbergs spätere Stufen wurden kritisiert, weil sie nicht berücksichtigen, dass die moralischen Urteile Erwachsener andere, aber ebenso moralische Prinzipien reflektieren können. In einer bekannten Kritik hat Carol Gilligan (1982) darauf hingewiesen, dass Kohl-
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bergs ursprüngliche Arbeit nur aus Beobachtungen an Jungen entwickelt wurde. Sie behauptete, dass sein Forschungsansatz mögliche Unterschiede zwischen den üblichen moralischen Urteilen von Männern und Frauen übersehen habe. Gilligan schlug vor, dass die moralische Entwicklung von Frauen auf der Fürsorge für andere beruhe und sich auf eine Stufe der Selbstverwirklichung hin entwickle, wohingegen Männer ihr moralisches Urteil auf einen Gerechtigkeitsstandard gründen. Hier erweitert Gilligans Theorie die Ideen von Kohlberg bezüglich der Vielfalt der Überlegungen, die für das moralische Urteil jenseits der Kindheit relevant sein können. Obwohl wir diesen Beitrag wertschätzen können, haben Forschungsergebnisse erkennen lassen, dass Gilligan falsch liegt, wenn sie spezielle moralische Urteilsstile für Männer und Frauen annimmt. Betrachten wir die Befunde. Einige Studien wiesen darauf hin, dass Frauen ihre moralischen Entscheidungen anpassen, um Harmonie in ihren sozialen Beziehungen zu wahren, wohingegen Männer sich mehr an Fairness orientieren (Lyons, 1983). Trotzdem diskutieren Forscher nach wie vor, ob es überhaupt Geschlechterunterschiede beim moralischen Urteil gibt (Jaffee & Hyde, 2000). Obwohl Männer und Frauen durch unterschiedliche Prozesse zu ihrer moralischen Entwicklung auf Erwachsenenniveau kommen mögen, sind die Urteile, die sie tatsächlich abgeben, sehr ähnlich (Boldizar et al., 1989). Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Geschlechterunterschiede in Wirklichkeit Folgen der unterschiedlichen Arten von sozialen Situationen sind, die sich im Leben von Männern und Frauen ergeben. Wenn sie dieselben moralischen Dilemmata beurteilen sollen, geben Männer und Frauen ein sehr ähnliches Muster von Antworten in Bezug auf Fürsorge und Gerechtigkeit (Clopton & Sorell, 1993). Wir können also das moralische Urteil von Erwachsenen bei moralischen Dilemmata als Mischung aus der Berücksichtigung von Gerechtigkeit und Fürsorge beschreiben. Diese Mischung wird über einen Großteil der Lebensspanne hinweg erhalten bleiben. Wie zu erwarten, wird das moralische Urteil durch allgemeine Veränderungen in der Kognition im Erwachsenenalter beeinflusst. Eine relevante Veränderung im späten Erwachsenenalter besteht darin, dass Personen die Begründungen ihrer Urteile weg von den Details spezieller Situationen hin zu allgemeinen Prinzipien verlagern. Infolgedessen werden moralische Urteile mehr und mehr auf der Basis allgemeiner gesellschaftlicher Fragen gefällt – beispielsweise „Was ist bestehendes Recht?“ – statt auf Basis bestimmter Dilemmata – beispielsweise „Sollte in diesem Fall eine Ausnahme gemacht werden?“ (Pratt et al., 1988).
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Man muss beachten, dass die Debatten über Geschlechterunterschiede beim moralischen Urteil immer noch vorwiegend vor dem Hintergrund des moralischen Urteils in westlichen Kulturen geführt wurden. Kulturvergleichende Forschungen haben zu einer wichtigen Kritik dieses ganzen Forschungsbereichs geführt: Vergleiche zwischen Kulturen lassen erkennen, dass es nicht einmal möglich ist, universelle Behauptungen über die Menge an Situationen aufzustellen, in denen moralische Urteile relevant sind. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sehen einen Fremden am Straßenrand, der eine Reifenpanne hat. Sollten Sie anhalten und helfen? Angenommen, Sie sagen „Nein“ – ist das unmoralisch? Wenn Sie in den USA aufgewachsen sind, sind Sie vermutlich der Meinung, dass die Hilfeleistung unter diesen Umständen eine Frage der freien Wahl ist – und insofern ist es nicht unmoralisch, nicht anzuhalten. Wenn Sie andererseits als Hindu in Indien aufgewachsen wären, in einer Kultur, die weitaus mehr Wert auf Interdependenz und wechselseitige Hilfeleistung legt, dann würden Sie es vermutlich als unmoralisch empfinden, nicht zu helfen (Miller et al., 1990). Betrachten wir eine Untersuchung, in der moralisches Urteilen kulturvergleichend untersucht wurde.
AUS DER FORSCHUNG Für eine Untersuchung über moralische Urteile wurden an zwei Orten Teilnehmer angeworben: in New Haven im USBundesstaat Connecticut und in Mysore im südlichen Indien. Die Repräsentanten der westlichen und der Hindu-Kultur wurden gebeten, auf Szenarien zu reagieren, die einen Kontrast zwischen Gerechtigkeit und zwischenmenschlicher Verantwortung herstellten. Angenommen, die einzige Möglichkeit, die Hochzeitsringe rechtzeitig zur Heirat Ihres besten Freundes zu bringen, bestünde darin, Geld für ein Zugticket zu stehlen. Das Gerechtigkeitsprinzip sagt, dass man nicht stehlen soll; das Prinzip zwischenmenschlicher Verantwortung sagt, dass man seine persönlichen Verpflichtungen einhalten soll. Wenn Sie in einer westlichen Kultur aufgewachsen sind, denken Sie vermutlich nicht in moralischen Begriffen über zwischenmenschliche Verantwortung nach: Es wäre schlecht, aber nicht unmoralisch, die Ringe nicht rechtzeitig hinzubringen. Wie wir jedoch gerade eben festgestellt haben, betrachten Mitglieder der Hindu-Kultur in Indien im Allgemeinen zwischenmenschliche Verpflichtungen als moralische Angelegenheiten. Infolgedessen sagten die Forscher voraus, dass Teilnehmer aus Indien mit größerer Wahrscheinlichkeit zugunsten der zwischenmenschlichen Verantwortung entscheiden würden. Wie Abbildung 10.13 zeigt, wählten die Teilnehmer aus Indien in drei verschiedenen Altersstufen mit größerer Wahrscheinlichkeit jene Option, die zwischenmenschliche Verantwortung berücksichtigte (Miller & Bersoff, 1992).
10.8 Erfolgreich älter werden
Abbildung 10.13: Kulturspezifische Antworten auf moralische Dilemmata. Schulkinder und Erwachsene in Indien und den Vereinigten Staaten sollten auswählen, welchen Handlungsweg die Charaktere in einem moralischen Dilemma ihrer Meinung nach einschlagen sollten. Die Teilnehmer aus Indien wählten mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit Handlungsoptionen, die sich an zwischenmenschlicher Verantwortung orientierten, als Handlungsoptionen, die sich an Gerechtigkeit orientierten.
Daran sieht man, welche Rolle die Kultur bei der Festlegung dessen spielt, was moralisch oder unmoralisch ist. Wenn Sie in einer westlichen Kultur aufgewachsen sind, sind Sie wahrscheinlich überrascht, wie sehr Menschen aus Indien davon überzeugt sind, die Verpflichtung gegenüber einem Freund müsse eingehalten werden – es ist besser zu stehlen, als die Ringe nicht rechtzeitig abzuliefern. Dieser Unterschied in den kulturellen Normen trifft mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur auf die beiden untersuchten Länder USA und Indien zu. Die Vereinigten Staaten und Indien sind im Hinblick auf ihre Betonung des individuellen Wohls gegenüber dem kollektiven Wohl typische Vertreter westlicher und nichtwestlicher Länder, worauf in einem späteren Kapitel vertiefend eingegangen wird.
ZWISCHENBILANZ 1 Welches sind die drei wesentlichen Stufen des morali-
schen Urteils nach Kohlberg? 2 Welcher Unterschied ist nach Carol Gilligan für die
verschiedenen moralischen Urteile von Männern und Frauen verantwortlich? 3 Welcher kulturelle Unterschied erklärt, warum einige
moralische Urteile von Gruppen in den USA und Indien sich voneinander unterscheiden? KRITISCHES DENKEN: Betrachten Sie noch einmal die Studie, in der die Auswirkungen von Handlungen, Ergebnissen und Absichten auf das moralische Urteil bei Kindern untersucht wurden. Warum mögen Kinder sensibler auf die Kategorie Absichten geachtet haben, wenn es darum ging, bestrafbares von akzeptablem Verhalten zu unterscheiden?
Erfolgreich älter werden
10.8
Lassen Sie uns jetzt ein paar Themen aus diesem Kapitel erneut aufgreifen, um ein Rezept für erfolgreiches Altern zu entwickeln. Zu Anfang des Kapitels haben wir Sie gebeten, sich Entwicklung als Veränderung vorzustellen, die immer Gewinne und Verluste mit sich bringt. Aus dieser Sicht besteht die Kunst, im Laufe des Lebens zu gedeihen, darin, die eigenen Gewinne zu sichern und die Verluste zu minimieren. Wir haben gesehen, dass die Regel „Wer rastet, rostet“ sowohl auf körperliche wie auch auf geistige Lebensbereiche zutrifft. Viele Veränderungen, die stereotyp mit dem Altern assoziiert werden, sind Folgen des mangelnden Gebrauchs, nicht des Verfalls. Unser erster Ratschlag ist ziemlich einfach: Bleiben Sie dran! Wir haben auch dargestellt, dass ein Teil des erfolgreichen Alterns darin besteht, selektive Optimierung mit Kompensation einzusetzen (Baltes et al., 1992; Freund & Baltes, 1998). Wie Sie sich vielleicht erinnern, ist mit selektiv gemeint, dass Menschen für sich selbst die angemessensten Ziele finden. Optimierung meint, dass man in den Bereichen, die subjektiv am wichtigsten sind, übt und trainiert. Kompensation bezieht sich auf die Alternativen, die man zur Bewältigung von Verlusten heranzieht. In diesem Kapitel haben wir ein weiteres gutes Beispiel für diesen Prozess kennen gelernt, als wir uns mit den Veränderungen sozialer Beziehungen im Erwachsenenalter befasst haben. Ältere Erwachsene machen es sich zum Ziel, Freunde zu haben, die optimale emotionale Unterstützung bieten; die Wahl der Freunde muss sich im Laufe
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der Zeit ändern, um Todesfälle und andere Unterbrechungen zu kompensieren (Carstensen, 1998; Lang & Carstensen, 1994). Obwohl die Sichtweise der selektiven Optimierung im Rahmen der Forschung zum Alterungsprozess entstanden ist, ist sie ein gutes Mittel, um die Entscheidungen, die man im Laufe seines Lebens treffen muss, zu beschreiben. Sie sollten immer versuchen, die Ziele zu wählen, die Ihnen am wichtigsten sind, Ihre Leistung in Hinblick auf diese Ziele zu optimieren und Kompensationsmöglichkeiten finden, wenn Ihr Fortschritt in Richtung des Ziels blockiert wird. Das ist unser letzter Ratschlag zur Entwicklung im Laufe des Lebens. Wir hoffen, Sie altern weise und wohlbehalten.
Inwieweit tragen Freunde zu einem erfolgreichen Altern bei?
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Erforschung der Entwicklung Forscher erheben normative Längsschnitt- und Querschnittdaten, um Veränderungen zu dokumentieren. Körperliche Entwicklung im Laufe des Lebens Umweltfaktoren können die körperliche Entwicklung eines Kindes im Mutterleib beeinflussen. Neugeborene und Säuglinge verfügen über bemerkenswerte Fähigkeiten: Sie sind auf Überleben programmiert. Durch die Pubertät erzielen Jugendliche sexuelle Reife. Einige körperliche Veränderungen im Seniorenalter entstehen infolge von mangelndem Gebrauch, nicht infolge unvermeidlichen Verfalls. Kognitive Entwicklung im Laufe des Lebens Die wichtigsten Ideen Piagets zur kognitiven Entwicklung sind die Entwicklung von Schemata, Assimilation, Akkommodation und die Vier-Stadien-Theorie der diskontinuierlichen Entwicklung. Die vier Stadien sind: sensumotorisch, präoperatorisch, konkret-operatorisch und formal-operatorisch. Viele von Piagets Theorien werden heutzutage durch kreative Forschungsparadigmen verändert, die zeigen, dass Säuglinge und kleine Kinder kompetenter sind, als Piaget annahm. Forscher nehmen an, dass Kinder in unterschiedlichen psychischen und physischen Bereichen grundlegende Theorien entwickeln, die sich im Laufe der Zeit verändern.
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Kulturvergleichende Studien haben die Universalität von Theorien zur kognitiven Entwicklung in Frage gestellt. Ein altersbedingter Abbau der kognitiven Funktionen tritt üblicherweise nur bei einigen Fähigkeiten auf. Die Forschung lässt vermuten, dass einige kognitive Defizite infolge mangelnden Gebrauchs, nicht infolge unvermeidlichen Verfalls entstehen. Erfolgreiches kognitives Altern kann definiert werden als die Optimierung der eigenen Leistung in ausgewählten Bereichen, die am wichtigsten sind, verbunden mit dem Ausgleich von Verlusten, indem ein Ersatz gefunden wird. Spracherwerb Viele Forscher glauben, dass Menschen eine angeborene Fähigkeit zum Spracherwerb besitzen. Trotzdem ist die Interaktion mit erwachsenen Sprechern essenzieller Bestandteil des Spracherwerbsprozesses. Genauso wie Wissenschaftler entwickeln auch Kinder Hypothesen über die Bedeutungen und die Grammatik ihrer Sprache. Diese Hypothesen werden oft durch angeborene Prinzipien eingeschränkt. Soziale Entwicklung im Laufe des Lebens Soziale Entwicklung findet in einem bestimmten kulturellen Kontext statt. Erik Erikson beschrieb die Lebensspanne als eine Reihe von Krisen, die bewältigt werden müssen. Kinder besitzen bereits zu Beginn des Prozesses der sozialen Entwicklung ein unterschiedliches Temperament.
Schlüsselbegriffe
Sozialisation beginnt mit der Bindung des Säuglings an die Bezugsperson.
Menschen bewerten ihr Leben teilweise nach ihrer Fähigkeit, positiv zum Leben anderer beizutragen.
Scheitert diese Bindung, so führt dies zu zahlreichen körperlichen und psychischen Problemen.
Unterschiede in Geschlecht und Geschlechterrollen Forschungsergebnisse belegen die biologische Basis von Geschlechtsunterschieden zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen.
Ein Mangel an fürsorglichen Beziehungen in der Kindheit kann die soziale Entwicklung beeinträchtigen.
Die Sozialisation von Geschlechterrollen beginnt mit der Geburt. Eltern und Gleichaltrige tragen zur Sozialisation über Geschlechterrollen bei.
Jugendliche müssen eine eigene Identität entwickeln, indem sie angenehme soziale Beziehungen mit Eltern und Gleichaltrigen knüpfen und ihre Ziele für die Zukunft wählen.
Moralische Entwicklung Kohlberg definierte Stufen der moralischen Entwicklung.
Die wichtigsten Sorgen des Erwachsenenalters kreisen um die Bedürfnisse nach Intimität und Generativität.
Weitere Forschung hat sich mit Geschlechterund Kulturunterschieden bei moralischen Urteilen befasst.
Menschen werden im Alter weniger sozial aktiv, weil sie selektiv nur noch die Beziehungen aufrechterhalten, die ihnen emotional am wichtigsten sind.
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Unterschiedliche Kulturen besitzen unterschiedliche Standards, welche Situationen und Verhaltensweisen als moralisch oder unmoralisch gelten.
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SCHLÜSSELBEGRIFFE Akkommodation (S. 373) Alzheimer’sche Krankheit (S. 381) Anlage-Umwelt-Debatte (S. 373) Assimilation (S. 373) Bindung (S. 391) Biologisches Geschlecht (S. 402) Egozentrismus (S. 374) Entwicklungsalter (S. 363) Entwicklungspsychologie (S. 362) Erziehungspraktiken (S. 393) Erziehungsstile (S. 393) Generativität (S. 401) Geschlechterrollen (Gender) (S. 403) Geschlechterunterschiede (S. 402) Geschlechtsidentität (S. 404) Grundlegende Theorien (S. 377) Internalisierung (S. 378) Intimität (S. 398) Invarianzprinzip (Prinzip der Erhaltung) (S. 375) Kindorientierte Sprache (Mutterisch) (S. 384)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
Kognitive Entwicklungspsychologie (S. 372) Körperliche Entwicklung (S. 365) Körperliche Zuwendung (S. 394) Längsschnittplan (S. 363) Lebensalter (S. 363) Menarche (S. 370) Moral (S. 405) Normative Untersuchungen (S. 363) Objektpermanenz (S. 374) Phoneme (S. 384) Prägung (S. 391) Psychosoziale Stadien (S. 388) Pubertät (S. 370) Querschnittplan (S. 360) Reifung (S. 370) Schema (S. 373) Selektive Optimierung mit Kompensation (S. 381) Soziale Entwicklung (S. 388) Sozialisation (S. 390) Spracherwerbsfähigkeit (S. 386) Temperament (S. 390) Theorie der selektiven sozialen Interaktion (S. 401) Übergeneralisierung (S. 387) Weisheit (S. 386) Zentrierung (S. 374) Zygote (S. 365)
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Motivation 414 414 415 420
11.2 Essen
................................................... 11.2.1 Die Physiologie des Essens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Die Psychologie des Essens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Gene und Übergewicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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...................................... 11.1.1 Die Funktionen verschiedener Motivationskonzepte . . . . . . . . 11.1.2 Motivationsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Eine Bedürfnishierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.3 Sexualverhalten 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5
......................................... Sexuelles Verhalten bei Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Erregung und Reaktionen beim Menschen . . . . . . . . . Die Evolution des Sexualverhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexuelle Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homosexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.4 Leistungsmotivation
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..................................... 11.4.1 Das Leistungsmotiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Attribution von Erfolg und Misserfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.3 Arbeits- und Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Wie beeinflusst Motivation den akademischen Erfolg?. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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Ü B E R B L I C K
11.1 Was ist Motivation?
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ls heute Morgen Ihr Wecker klingelte, hätten Sie eigentlich gern auf die Schlummertaste gedrückt, um noch ein paar Minuten weiterzuschlafen, aber dann haben Sie sich doch lieber gleich aus dem Bett gequält. Warum? Hatten Sie großen Hunger? Mussten Sie eine wichtige Aufgabe erledigen? Hatten Sie eine Verabredung mit jemandem, den Sie sehr mögen? Wenn Sie darüber nachdenken, warum Sie heute Morgen aufgestanden sind, sind Sie direkt beim Kernproblem der Motivation: Was veranlasst uns, so zu handeln, wie wir es tun? Was bringt Sie dazu, hartnäckig bestimmte Ziele zu verfolgen, trotz der großen Anstrengungen, Beschwerden und Kosten, die damit verbunden sind? Und warum schieben Sie bei anderen Zielen die Dinge zu lange vor sich her oder geben zu früh auf? Es ist die Aufgabe psychologischer Forschung, theoretische Strenge in solche Beispiele von Motiven zu bringen. Wie können motivationale Zustände den Ausgang von Sportwettkämpfen oder Prüfungen beeinflussen? Warum leiden manche Menschen an Übergewicht und andere hungern sich zu Tode? Ist unser Sexualverhalten genetisch vorbestimmt? In diesem Kapitel werden Sie erfahren, dass menschliche Handlungen durch verschiedene Bedürfnisse motiviert sind – von fundamentalen physiologischen Bedürfnissen wie Hunger und Durst bis hin zu psychologischen Bedürfnissen wie persönliches Leistungsstreben. Aber Sie werden sehen, dass physiologische und psychologische Bedürfnisse häufig nur sehr schwer zu trennen sind. Selbst ein scheinbar biologischer Trieb wie Hunger steht im Wettstreit mit den psychologischen Bedürfnissen einer Person nach persönlicher Kontrolle und sozialer Akzeptanz des Individuums, die das Essverhalten bestimmen.
Wir beginnen dieses Kapitel mit einem Rahmen für das allgemeine Verständnis des Wesens der Motivation und ihrer Untersuchung. Im zweiten Teil des Kapitels werden wir anschließend drei Motive eingehender betrachten, die auf jeweils unterschiedliche Weise von großer Bedeutung sind und sich in dem Ausmaß unterscheiden, in dem verschiedene biologische und psychologische Faktoren zum Tragen kommen. Bei diesen dreien handelt es sich um Hunger, Sexualität und Leistungsstreben.
Was ist Motivation?
11.1
Motivation ist der allgemeine Begriff für alle Prozesse, die der Initiierung, der Richtungsgebung und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten dienen. Das Wort Motivation stammt vom Lateinischen movere, was so viel bedeutet wie „bewegen“. Alle Organismen bewegen sich auf bestimmte Reize und Aktivitäten zu und von anderen weg, je nach Ausprägung ihrer Vorlieben und Abneigungen. Motivationstheorien erklären sowohl die allgemeinen Muster der „Bewegungen“ von verschiedenen Spezies, einschließlich jener der Spezies Mensch, als auch die persönlichen Vorlieben und Verhaltensweisen der individuellen Mitglieder jeder Spezies. Wir wollen zu Beginn unserer Untersuchung der Motivation die verschiedenen Perspektiven betrachten, unter denen Motivation in der wissenschaftlichen Psychologie herangezogen wurde, um das Verhalten einer Spezies und das Verhalten von Individuen zu erklären und vorherzusagen.
11.1.1 Die Funktionen verschiedener Motivationskonzepte Psychologen verwenden das Konzept der Motivation für fünf grundlegende Zwecke:
Welche verschiedenen Fragen zur Motivation können im Hinblick auf das Verhalten dieser Person auftauchen?
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Um Biologie mit Verhalten zu verbinden. Als biologischer Organismus verfügen Sie über komplexe innere Mechanismen, die Ihre körperlichen Funktionen regulieren und Ihr Überleben sichern. Warum sind Sie heute Morgen aufgestanden? Sie waren vielleicht hungrig oder durstig, oder Ihnen war kalt. In jedem Fall lösen innere Zustände der Deprivation (damit bezeichnet man Mangelzustände) Reaktionen des Körpers
11.1 Was ist Motivation?
aus, welche Sie zu einer Handlung motivieren, um das Gleichgewicht des Körpers wieder herzustellen.
rie dazu in der Lage sein, zwischen verschiedenen potenziellen Ursachen von Verhalten zu unterscheiden.
Zur Erklärung von Verhaltensvariabilität. Warum kann es sein, dass Ihnen eine Sache an einem Tag gut gelingt und das gleiche Vorhaben am nächsten Tag überhaupt nicht glücken will? Warum schneidet ein Kind bei einem Wettbewerb weit besser ab als ein anderes, obwohl es über vergleichbare Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt? Psychologen verwenden motivationale Erklärungen, wenn unterschiedliche Leistungen einer Person in derselben Situation nicht auf Unterschiede in Fähigkeiten, Fertigkeiten, Übung oder auf zufällige Gegebenheiten der äußeren Umstände zurückgeführt werden können. Wenn Sie heute Morgen früh aufstehen wollten, um zusätzliche Zeit für das Lernen aufzuwenden, Ihr Freund jedoch nicht, wären wir damit zufrieden, Ihnen als Erklärung für diesen Unterschied einen anderen motivationalen Zustand zuzuschreiben als Ihrem Freund.
Zur Erklärung von Beharrlichkeit trotz Widrigkeiten. Psychologen wollen mit der Untersuchung der Motivation schließlich erklären, warum Lebewesen bestimmte Handlungen ausführen, obwohl es leichter wäre, diese zu unterlassen. Motivation sorgt dafür, dass Sie pünktlich an Ihrem Arbeitsplatz oder in Ihrem Seminar erscheinen, auch wenn Sie erschöpft sind. Motivation hilft uns dabei, unbeirrt und mit besten Kräften weiterzuspielen, auch wenn wir verlieren und erkennen, dass wir wahrscheinlich nicht mehr gewinnen können.
Um von äußeren Handlungen auf innere Zustände zu schließen. Sie gehen spazieren und sehen jemanden kichernd auf einer Parkbank sitzen. Wie können Sie sein Verhalten erklären? Psychologen und Laien gleichen sich darin, typischerweise von sichtbarem Verhalten auf innere Ursachen zu schließen. Menschen interpretieren Verhalten ständig dahingehend, aus welchem Grund es wahrscheinlich genau in dieser Weise gezeigt wurde. Dieselbe Regel gilt für unser eigenes Verhalten. Wir versuchen häufig zu entdecken, ob sich unser Verhalten am besten durch innere oder äußere motivationale Einflüsse erklären lässt. Um Handlungen Verantwortung zuzuweisen. Vor Gericht, in Religion, in Wissenschaft und Ethik ist das Konzept persönlicher Verantwortlichkeit von grundlegender Bedeutung. Die persönliche Verantwortlichkeit setzt innere Motivation und die Fähigkeit, seine Handlungen zu kontrollieren, voraus. Menschen werden als eingeschränkt verantwortlich beurteilt, (1) wenn sie mit ihrem Handeln keine negativen Folgen beabsichtigten, (2) wenn äußere Kräfte stark genug waren, um das Verhalten auszulösen, oder (3) wenn das Handeln unter dem Einfluss von Drogen, Alkohol oder starken Emotionen erfolgte. Demnach muss eine kohärente Motivationstheo-
Sie haben nun einen allgemeinen Eindruck von den Umständen, unter welchen in der Psychologie das Konzept der Motivation zum Einsatz kommt, um Verhalten zu erklären oder vorherzusagen. Bevor wir uns nun bestimmten Themenbereichen zuwenden, lassen Sie uns kurz allgemeine Quellen der Motivation betrachten.
11.1.2 Motivationsquellen 1987 startete die australische Schauspielerin und Popsängerin Kylie Minogue ihre internationale Karriere durch ihre Zusammenarbeit mit den britischen Musikproduzenten Stock, Aitken und Waterman. Sie feierte in den folgenden Jahren großartige Erfolge, sowohl musikalisch als auch mit ihren Bühnenshows, und erhielt 2004 den Grammy Award (Best Dance Recording) für „Come into my world“. 2005 wurde bei Kylie Minogue Brustkrebs diagnostiziert und sie musste ihre laufende Australientournee abbrechen, um sich einer entsprechenden Operation und einer körperlich sehr belastenden Chemotherapie zu unterziehen. Sie überwand all diese Strapazen in erstaunlich kurzer Zeit und setzte bereits Ende 2006 ihre abgebrochene Tournee mit einem fulminanten Comeback fort. Bis heute füllt sie die größten Säle und gilt als eine der talentiertesten Performer im Musikbusiness überhaupt. Könnten Sie dasselbe tun wie Kylie Minogue? Könnten Sie nach einer schweren Erkrankung Ihren Körper erneut vor solche Herausforderungen stellen? Denken Sie, dass das, was sie zu diesem Verhalten motiviert hat, eine innere Eigenschaft von ihr war? Sind bestimmte Lebenserfahrungen notwendig, um so
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Welche Kombination innerer und äußerer Faktoren hat der Popsängerin Kylie Minogue dabei geholfen, den Krebs zu besiegen und das internationale Publikum erneut zu begeistern? beharrlich zu agieren? Oder ist es etwas Externales, etwas, das in der Situation begründet liegt? Würden viele Menschen dieses Verhalten zeigen, wenn man sie in die entsprechende Situation brächte? Oder zeigt sich in diesem Verhalten eine Interaktion zwischen Eigenschaften der Person und Charakteristika der Situation? Um Sie beim Nachdenken über die Quellen der Motivation zu unterstützen, werden wir die Unterscheidung zwischen internalen und externalen Kräften weiter untersuchen. Lassen Sie uns mit jenen Theorien beginnen, welche die Entstehung bestimmter Verhaltensweisen mithilfe internaler biologischer Triebe erklären. Triebe und Anreize Manche Motivationsformen scheinen sehr grundlegend zu sein: Wenn wir hungrig sind, essen wir etwas; wenn wir durstig sind, trinken wir. Die Theorie, dass viele wichtige Verhaltensweisen durch innere Triebe motiviert sind, wurde am umfassendsten durch Clark Hull (1943, 1952) entwickelt. Nach Hull sind Triebe internale Zustände, die als Reaktion auf die physiologischen Bedürfnisse des Lebewesens entstehen. Organismen versuchen, den Zustand des Gleichgewichts oder der Homöostase bezüglich biologischer Bedin-
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gungen wie Körpertemperatur oder Energieversorgung beizubehalten (siehe Kapitel 3). Triebe werden angeregt, wenn Deprivation im Körper ein Ungleichgewicht oder eine Spannung auslöst. Diese Triebe aktivieren den Organismus zur Spannungsreduktion; wenn die Triebe befriedigt oder abgebaut sind – und somit der Zustand der Homöostase wieder hergestellt wurde stellt der Organismus seine Handlungen ein. Demnach wird bei einem Tier, wenn es über einen längeren Zeitraum nicht gefüttert wurde, der Zustand von Hunger ausgelöst, der zur Futtersuche oder zur Nahrungsaufnahme motiviert. Die Reaktionen des Tieres, die es zur Nahrungsquelle führten, werden verstärkt, da sie mit der erfolgten Spannungsreduktion durch die Nahrungsaufnahme assoziiert werden. Kann Spannungsreduktion jede motivierte Verhaltensweise erklären? Offensichtlich nicht. Betrachten Sie eine Gruppe von Ratten, die über einen längeren Zeitraum weder Futter noch Wasser erhielten. Die Theorie der Spannungsreduktion würde vorhersagen, dass sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fressen oder trinken würden. Wenn man diese Ratten jedoch in eine neue Umgebung bringt, mit zahlreichen Möglichkeiten zu fressen oder zu trinken, entscheiden sie sich zuerst dafür, die neue Umgebung genau zu erkunden. Erst nachdem sie ihre Neugier befriedigt haben, befriedigen sie ihr Bedürfnis nach Futter und Wasser (Berlyne, 1960; Fowler, 1965; Zimbardo & Montgomery, 1957). In einer anderen Versuchsreihe verwendeten junge Affen viel Zeit und Energie darauf, an Apparaten und anderen neuen Objekten in ihrem Umfeld herumzuspielen, ohne irgendwelche externalen Belohnungen (Harlow et al., 1950). Diese Experimente zeigen, dass Verhalten nicht nur durch innere Triebe motiviert wird: Verhalten wird ebenso durch Anreize motiviert – äußere Reize oder Belohnungen, die keinen direkten Bezug zu biologischen Bedürfnissen haben. Als sich die Ratten und Affen eher auf die Objekte in ihrem Umfeld einließen, anstatt ihre internalen Bedürfnisse zu befriedigen, zeigten sie, dass ihr Verhalten durch Anreize gesteuert wurde. Auch menschliches Verhalten wird durch eine Reihe von Anreizen kontrolliert. Warum surfen Sie bis spät in die Nacht im Internet, anstatt zu schlafen? Warum schauen Sie sich einen Film an, der Ihnen Angst und Schrecken einjagt? Warum essen Sie auf einer Party Junkfood, obwohl Sie sich bereits satt fühlen? In jedem dieser Fälle dienen Elemente der Umwelt als Anreize, die Ihr Verhalten motivieren. Sie können jetzt schon erkennen, dass die Ursachen von Verhaltensweisen in einer Mischung aus internalen und externalen Quellen zu finden sind. Obwohl
11.1 Was ist Motivation?
Ratten vielleicht den biologischen Druck zu fressen oder zu trinken empfinden, geben sie ebenso dem Impuls nach, eine neue Umwelt zu erkunden. Wir wenden uns nun einem moderneren Ansatz der Motivation zu, der sich speziell mit widersprüchlichen motivationalen Zuständen auseinander setzt, der Reversal-Theorie. Reversal-Theorie In den letzten Jahren haben Michael Apter (1989, 2001) und seine Kollegen eine neue Theorie entwickelt, die ebenfalls das Konzept von Motivation als
Mittel der Spannungsreduktion ablehnt. Stattdessen basiert ihre Theorie auf der Annahme von vier Paaren metamotivationaler Zustände: Zustände, die verschiedene Motivationsmuster auslösen. Wie Tabelle 11.1 zeigt, stehen die Paare in Opposition zueinander. Die Theorie behauptet, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt jeweils nur einer der beiden gepaarten Zustände wirksam sein kann. Wenn Sie die Tabelle durcharbeiten, werden Sie sehen, wie jedes Paar motivationale Zustände definiert, die nicht miteinander vereinbar sind. Stellen Sie sich beispielsweise eine Situation in Ihrem Arbeitskontext vor. Sind Sie in dieser Situation motiviert, sich anzupassen oder unabhängig zu sein? Sind
Tabelle 11.1
Allgemeine Charakteristika der vier Paare metamotivationaler Zustände Telisch
Paratelisch
Ernst
Verspielt
Zielorientiert
Tätigkeitsorientiert
Zieht es vor, vorauszuplanen
Lebt für den Augenblick
Vermeidet Angst
Sucht Erregung
Wünscht sich Fortschritt und Leistung
Wünscht sich Spaß und Freude
Konformistisch
Negativistisch
Fügsam
Rebellierend
Will Regeln einhalten
Will Regeln brechen
Konventionell
Unkonventionell
Freundlich
Verärgert
Möchte sich anpassen
Möchte unabhängig sein
Beherrschung
Sympathie
Machtorientiert
Fürsorglich
Betrachtet das Leben als Kampf
Betrachtet das Leben als Kooperation
Hart
Sensibel
Bedürfnis nach Kontrolle
Bedürfnis nach Freundlichkeit
Strebt nach Dominanz
Wünscht sich Zuwendung
Autozentrisch
Allozentrisch
In erster Linie um sich selbst besorgt
In erster Linie um andere besorgt
Selbstzentriert
Identifiziert sich mit anderen
Konzentriert auf die eigenen Gefühle
Konzentriert auf die Gefühle anderer
Die Begriffe „telisch“ und „paratelisch“ stammen von dem altgriechischen Wort „telos“ ab, was „Ziel“ bedeutet. Die Begriffe „autozentrisch“ und „allozentrisch“ basieren auf den griechischen Wörtern für „selbst“ und „andere“.
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11
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Sie motiviert, sich auf sich selbst oder auf andere zu konzentrieren? Die Theorie wird Reversal-Theorie genannt, weil sie versucht, menschliche Motivation mit Hilfe der Reversion – der Umkehr – vom einen in den anderen der jeweils entgegengesetzten Zustände zu erklären. Betrachten Sie den Gegensatz zwischen telischen und paratelischen Zuständen. Sie befinden sich in einem paratelischen Zustand, wenn Sie sich mit einer Aktivität beschäftigen, ohne ein spezifisches Ziel zu verfolgen, außer sich an dieser bestimmten Aktivität zu erfreuen; Sie befinden sich in einem telischen Zustand, wenn die Aktivität, mit der Sie sich gerade befassen, eine Bedeutung hat, die über jene des aktuellen Augenblicks hinausgeht. Sie sind beispielsweise jetzt gerade wahrscheinlich in einem telischen Zustand, wenn Sie dieses Buch lesen – Sie möchten sich die Inhalte aneignen, um bei einer Prüfung gut abzuschneiden. Wenn Sie jedoch eine Pause einlegen, um etwas zu essen oder sich eine neue CD anzuhören, sind Sie mit großer Wahrscheinlichkeit in einen paratelischen Zustand übergewechselt. Die Reversal-Theorie geht davon aus, dass man sich immer in einem der Zustände befindet, jedoch nie in beiden gleichzeitig. Vielleicht haben Sie die Formen der Umkehrung, die durch diese Theorie vorhergesagt werden, gelegentlich selbst erlebt. Eine besonders dramatische Form der Umkehrung zeigt sich bei Menschen, die Aktivitäten mit hohem Risiko, wie beispielsweise Fallschirmspringen, ausüben.
AUS DER FORSCHUNG Warum sollten Menschen freiwillig aus einem Flugzeug springen – und behaupten, sie täten dies aus Spaß? Aus der Perspektive der Theorie der Spannungsreduktion ist dieses Verhalten schwer zu verstehen, da die Antizipation des Sprungs die Spannung eher erhöht, als sie zu reduzieren. Die Reversal-Theorie nimmt hier an, dass die Erfahrung des Fallschirmsprungs einen Wechsel von einem telischen Zustand zu einem paratelischen Zustand bedeutet. Im telischen Zustand führt hohe Erregung – wie Sie sie empfinden würden, wenn Sie es in Betracht zögen, aus einem Flugzeug zu springen – zu Angst; im paratelischen Zustand wird starke Erregung dagegen als aufregend empfunden. Demnach würde bei einer Umkehrung von einem telischen in einen paratelischen Zustand bei demselben Erregungsniveau direkt ein Wechsel von großer Angst zu großer Freude erfolgen. Um die Existenz dieses sofortigen Wechsels zu belegen, erhoben Forscher Daten in zwei Fallschirmspringervereinen. Die Mitglieder berichteten über ihre Gefühle von Angst und positiver Erregung vor, während und nach den Sprüngen. Die Daten zeigen eine klare Reversion: In den Augenblicken vor dem Sprung empfanden sie Angst
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(jedoch keine positive Erregung); einen kurzen Moment, nachdem sich der Fallschirm geöffnet hat, sind sie sehr freudig erregt (jedoch nicht mehr ängstlich). Die Erregung verschwand nicht – sie erhielt lediglich eine andere Bedeutung, nachdem der Fallschirmspringer einen telischen in einen paratelischen Zustand umkehrte (Apter & Batler, 1997).
Können Sie erkennen, wie die Reversal-Theorie die Eigenbeobachtungen der Fallschirmspringer erklärt? Die Reversal-Theorie bietet einen interessanten, allgemeinen Ansatz zur Erklärung von Motivation. Wir gehen nun weiter zu einer anderen Forschungstradition im Bereich der Motivation, die sich auf die für eine Spezies typischen instinktiven Verhaltensweisen konzentriert. Instinktverhalten und Lernen Warum verhalten sich Lebewesen in einer bestimmten Art und Weise? Ein Teil der Antwort liegt darin, dass bestimmte Aspekte des Verhaltens einer Spezies durch Instinkte gesteuert werden. Instinkte sind vorprogrammierte Verhaltenstendenzen, die für das Überleben der Art von grundlegender Bedeutung sind. Instinkte bieten ein Verhaltensrepertoire, das im Genmaterial jedes Lebewesens verankert ist. Lachse schwimmen Tausende von Kilometern zu genau jenem Fluss zurück, in dem sie aus ihren Eiern schlüpften, springen Wasserfälle hoch, bis sie am richtigen Platz angekommen sind, an dem die überlebenden weiblichen und männlichen Fische ihr ritualisiertes Werbe- und Paarungsverhalten ausführen. Die befruchteten Eier werden abgelegt, die Elterntiere sterben, und nach einiger Zeit schlüpfen die jungen Fische und schwimmen flussabwärts, um im Ozean zu leben. Sie leben dort, bis sie einige Jahre später zurückkehren, um ihre Rolle in diesem sich stetig wiederholenden Naturschauspiel zu übernehmen. Ähnlich bemerkenswerte Verhaltensweisen können von den meisten Tierarten berichtet werden. Bienen teilen anderen Bienen mit, an welchen Plätzen sich Nahrung befindet, Ameisenkolonien führen hoch synchronisierte Jagdexpeditionen durch, Vögel bauen Nester, Spinnen weben ihr kompliziertes Netz – genau so, wie es vor ihnen ihre Eltern und ihre Vorfahren taten. In frühen Theorien über menschliches Verhalten wurde die Bedeutung von Instinkten überschätzt. 1890 schrieb William James über seine Annahme, dass sich Menschen sogar stärker auf ihre Instinkte verlassen als andere Lebewesen (obwohl menschliche Instinkte gewöhnlich nicht nach festen Handlungsmustern ablaufen). Zu den biologischen Instinkten, die Menschen
11.1 Was ist Motivation?
Instinktive Verhaltensweisen wie die Nestbaumethode des Maskenwebers (Ploceus velatus) sind durch genetische Vererbung motiviert. Welche Instinkte sprechen Wissenschaftler der Spezies Mensch zu? mit anderen Lebewesen gemein haben, treten noch soziale Instinkte wie Sympathie, Anstand, Geselligkeit und Liebe hinzu. Für James sind sowohl menschliche als auch tierische Instinkte zweckgerichtet – sie dienten wichtigen Zwecken oder Funktionen bei der Anpassung des Organismus an seine Umwelt. Sigmund Freud (1915) nahm an, dass Menschen Triebzustände erfahren, die aus Lebensinstinkten (hierzu zählt die Sexualität) und Todesinstinkten (hierzu zählt die Aggression) entstehen. Er glaubte, dass der Drang jener Instinkte psychische Energie zur Befriedigung körperlicher Bedürfnisse lieferte. Spannung entsteht, wenn diese Energie nicht abgebaut werden kann. Diese Spannung drängt Menschen zu Objekten oder Handlungen, die zum Spannungsabbau führen. Freud glaubte beispielsweise, dass Lebens- und Todesinstinkte unterhalb der Bewusstseinsgrenze agieren. Ihre Konsequenzen für bewusste Gedanken, Gefühle und Handlungen sind jedoch aufgrund der Art und Weise, in der Instinkte Menschen zu wichtigen Lebensentscheidungen motivieren, tiefgreifend. (Wir werden diese Vorstellungen in Kapitel 13 weiter ausführen.) Bis 1920 hatten Psychologen eine Liste mit über 10.000 menschlichen Instinkten aufgestellt (Bernhard, 1924). Zum gleichen Zeitpunkt jedoch begann die Vor-
stellung, dass Instinkte die universelle Erklärung für alle menschlichen Verhaltensweisen sind, unter dem Gewicht kritischer Angriffe zu wanken. Kulturanthropologen wie Ruth Benedict (1959) und Margaret Mead (1939) fanden enorme Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen. Ihre Beobachtungen widersprechen den Theorien, die angeborene Instinkte als universell betrachten. Am abträglichsten für die frühen Annahmen über Instinkte waren jedoch empirische Belege, die zeigten, dass wichtige Verhaltensweisen eher erlernt als angeboren sind. Diese Art der Belege kennen Sie vielleicht noch aus Kapitel 6. Wir sahen dort, dass menschliche und andere Lebewesen sehr sensibel auf Kombinationen von Reizen und Reaktionen in ihrer Umwelt reagieren. Wenn Sie erklären möchten, warum ein Tier eine bestimmte Verhaltensweise zeigt und ein anderes nicht, ist es unter Umständen völlig ausreichend zu wissen, dass eines der Tiere für diese Verhaltensweise verstärkt wurde und das andere nicht. Unter diesen Bedingungen brauchen Sie keine separaten Annahmen über Motivation (das heißt, es wäre ein Fehler zu behaupten, ein Tier sei „motiviert“ und das andere nicht). Erinnern Sie sich jedoch, dass wir in Kapitel 6 ebenso gesehen haben, dass die Verhaltensweisen, die Lebewesen am leichtesten lernen, teilweise durch artspezifische Instinkte vorbestimmt sind. Das heißt, jedes Lebewesen zeigt eine Kombination von erlernten und instinktiven Verhaltensweisen. Wenn Sie demnach danach gefragt werden, das Verhalten von Lebewesen zu erklären oder vorherzusagen, werden Sie zwei Dinge wissen wollen: erstens etwas über die Geschichte der Spezies (Welche adaptiven Verhaltensweisen sind Bestandteil der Gene des Organismus?) und zweitens etwas über die persönliche Geschichte des Lebewesens (Welche einmalige Kombination von Umweltfaktoren hat es in seinem Leben erfahren?). In solchen Fällen liegt die Motivation in den Einflüssen vergangener Erfahrungen auf aktuelle Verhaltensweisen. Ein letzter Blick zurück auf Kapitel 6: Wir haben gesehen, dass kognitiv orientierte Wissenschaftler die Überzeugung in Frage gestellt haben, dass Instinkte und Verstärkung ausreichend sind, um alle Details tierischen Verhaltens zu erklären. Wenden wir uns nun der Rolle von Erwartungen und Kognitionen bei der Motivation zu. Erwartungen und kognitive Ansätze der Motivation Betrachten Sie den Zauberer von Oz als eine psychologische Motivationsstudie. Dorothy und ihre drei Freunde strengen sich sehr an, um in die Smaragd-
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stadt zu kommen. Sie überwinden alle Barrieren und bestehen gegen alle Feinde. Sie handeln so, weil sie erwarten, dass der Zauberer ihnen gibt, was ihnen fehlt. Stattdessen jedoch macht ihnen der wunderbare (und weise) Zauberer bewusst, dass nicht er, sondern immer schon sie selbst die Macht besessen haben, ihre Wünsche zu erfüllen. Für Dorothy ist Zuhause nicht einfach nur ein Ort, sondern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit bei Menschen, die sie liebt; es ist dort, wo ihr Herz ist. Der Mut, den sich der Löwe wünscht, die Intelligenz, nach der die Vogelscheuche strebt, und die Gefühle, von denen der blecherne Holzfäller träumt, sind Eigenschaften, die sie bereits besitzen. Sie dürfen sich diese Eigenschaften nicht als innere Voraussetzungen vorstellen, sondern als positive Aspekte ihrer existierenden Beziehungen zu anderen. Haben sie diese Eigenschaften nicht bereits auf ihrer Reise nach Oz gezeigt, einer Reise, die durch kaum mehr als eine Erwartung, eine Idee von einer zukünftigen Chance motiviert war, etwas zu bekommen, das sie sich wünschten? Der Zauberer von Oz war offensichtlich einer der ersten kognitiven Psychologen. Er erkannte die Bedeutung der menschlichen Denkprozesse bei der Bestimmung ihrer Ziele und der Verhaltensweisen, die sie zeigen, um sie zu erreichen. Heutige Psychologen untersuchen mithilfe kognitiver Analysen die Kräfte, die eine Vielzahl von persönlichen und sozialen Verhaltensweisen motivieren. Diese Psychologen teilen die Ansicht des Zauberers von Oz, dass bedeutsame menschliche Motivation nicht aus den objektiven Realitäten der externalen Welt entsteht, sondern aus der subjektiven Interpretation der Realität. Der verstärkende Effekt einer Belohnung bleibt aus, wenn Sie nicht erkennen, dass Ihr Verhalten der Auslöser war. Was Sie heute tun, ist oft durch Ihre Annahmen und Gedanken darüber gesteuert, wer oder was für vergangene Erfolge oder Misserfolge verantwortlich war, was Sie überhaupt tun können oder nicht und welchen Ausgang einer Handlung Sie erwarten. Kognitive Ansätze erklären, warum Menschen häufig durch Erwartungen zukünftiger Ereignisse motiviert werden. Die Bedeutung von Erwartungen bei der Motivation von Verhalten wurde von Julian Rotter (1954) in seiner sozialen Lerntheorie entwickelt (wir haben den Bereich des sozialen Lernens bei unserer Diskussion des Beobachtungslernens in Kapitel 6 gestreift). Für Rotter wird die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine bestimmte Verhaltensweise zeigen (für eine Prüfung zu lernen, statt auf eine Party zu gehen), durch Ihre Erwartungen bestimmt, das angestrebte Ziel (eine gute Note zu erhalten), das auf das Verhalten folgt, zu errei-
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chen, und durch Ihre persönliche Bewertung dieses Ziels. Eine Diskrepanz zwischen Erwartungen und der Realität kann eine Person dazu motivieren, ihr Verhalten zu korrigieren (Festinger, 1957; Lewin, 1936). Wenn Sie beispielsweise feststellen, dass Ihr Verhalten nicht den Normen einer Gruppe entspricht, der Sie gerne angehören möchten, sind Sie vielleicht motiviert, Ihre Verhaltensweisen zu ändern, um besser in diese Gruppe zu passen. Sie könnten zum Beispiel motiviert werden, Ihren Kleidungsstil oder die Musik, die Sie sich anhören, zu verändern, um die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität zu verringern. In welcher Beziehungstehen Erwartungen zu den internalen und externalen motivationalen Kräften? Fritz Heider (1958) postulierte, dass das Ergebnis Ihres Verhaltens (beispielsweise eine schlechte Note) entweder dispositionalen Faktoren, wie beispielsweise fehlender Anstrengung und ungenügender Intelligenz, oder situationalen Faktoren, wie beispielsweise einem unfairen Test oder einer voreingenommenen Lehrkraft, zugeschrieben (attribuiert) werden kann. Diese Attributionen beeinflussen, wie Sie sich verhalten werden. Sie werden sich das nächste Mal vermutlich mehr anstrengen, wenn Sie annehmen, dass die schlechte Note ein Ergebnis Ihrer fehlenden Anstrengung war; Sie werden jedoch vielleicht aufgeben, falls Sie annehmen, sie wäre das Resultat eine ungerechten Beurteilung oder fehlender Kompetenz (Dweck, 1975). Die Identifikation einer Motivationsquelle als internal oder external kann demnach teilweise von Ihrer subjektiven Interpretation der Realität abhängen. Lassen Sie uns die verschiedenen Quellen der Motivation noch einmal zusammenfassen. Wir haben mit der Beobachtung begonnen, dass Wissenschaftler zwischen internalen und externalen Faktoren, die Verhalten auslösen, differenzieren. Triebe, Instinkte und Lernerfahrungen sind alles internale Quellen der Motivation, die sich beim Vorliegen passender externaler Reize auf das Verhalten auswirken. Wenn Lebewesen beginnen, über ihr Verhalten nachzudenken – wozu vor allem Menschen neigen entsteht Motivation auch durch Erwartungen darüber, was wohl passieren oder auch nicht passieren wird. Denkende Lebewesen können entscheiden, manche Formen der Motivation sich selbst zuzuschreiben und andere der Umwelt.
11.1.3 Eine Bedürfnishierarchie Wir haben jetzt mehrere Motivationsquellen besprochen. Als Vorschau auf den Rest des Kapitels kehren wir nun zu einem umfassenderen Blick auf die Be-
11.1 Was ist Motivation?
reiche zurück, auf die Motivationskonzepte anwendbar sind. Unsere Intention ist es, Ihnen eine allgemeine Sensibilität für jene Kräfte zu vermitteln, die Ihr Leben leiten. Der humanistische Psychologe Abraham Maslow (1970) formulierte die Theorie, dass grundlegende Bedürfnisse eine Bedürfnishierarchie bilden, wie sie in Abbildung 11.1 dargestellt ist. Nach Maslows Ansicht müssen die Bedürfnisse jeder Hierarchieebene befriedigt sein, bevor die nächste Ebene erreicht werden kann – die Bedürfnisse sind in einer Folge von primitiv bis fortgeschritten angeordnet. Auf der untersten Ebene befinden sich die biologischen Bedürfnisse, wie Hunger und Durst. Sie müssen erfüllt sein, bevor ein anderes Bedürfnis zum Tragen kommt. Wenn biologische Bedürfnisse nach Befriedigung drängen, hän-
Selbstverwirklichung Bedürfnisse, das eigene Potenzial auszuschöpfen, sinnvolle Ziele zu haben
Wertschätzung Bedürfnisse nach Vertrauen und dem Gefühl, etwas wert und kompetent zu sein, Selbstwertschätzung und Anerkennung anderer
Bindung Bedürfnisse nach Zusammengehörigkeit, Bindung, zu lieben und geliebt zu werden
Sicherheit Bedürfnisse nach Sicherheit, Behaglichkeit, Ruhe, Angstfreiheit
biologisch Bedürfnisse nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Erholung, Sexualität, Entspannung
Abbildung 11.1: Maslows Bedürfnishierarchie. Nach Maslow dominieren die Bedürfnisse der niederen Hierarchieebenen die Motivation einer Person, so lange sie unbefriedigt bleiben. Wenn diesen Bedürfnissen adäquat entsprochen wurde, dann ziehen die Bedürfnisse der höheren Ebenen die Aufmerksamkeit auf sich.
Wo findet sich in Maslows Bedürfnishierarchie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, dem Aufbau von Bindungen und der Erfahrung von Liebe? gen andere Bedürfnisse in der Warteschleife, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie Ihre Handlungen beeinflussen. Wenn sie weitestgehend befriedigt sind, sind es die Bedürfnisse der nächsten Ebenen – Sicherheitsbedürfnisse –, die Sie motivieren. Wenn Sie sich nicht mehr länger Sorgen um Gefahren machen, dann werden Sie durch Zusammengehörigkeitsbedürfnisse motiviert – Bedürfnisse nach Bindung, zu lieben und geliebt zu werden. Sind Sie gut genährt, fühlen sich sicher und haben ein Gefühl der Zugehörigkeit, dann bewegen Sie sich aufwärts zu dem Bedürfnis nach Wertschätzung – hierzu gehört das Bedürfnis, sich selbst zu mögen, sich als kompetent und wirkungsvoll wahrzunehmen und das zu tun, was notwendig ist, um die Wertschätzung anderer zu erhalten. An der Spitze der Hierarchie befinden sich Menschen, die satt, sicher, geliebt und liebend, selbstsicher, denkend und kreativ sind. Diese Menschen haben sich in ihrem Streben nach der vollen Entfaltung ihres Potenzials oder ihrer Selbstverwirklichung über die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse hinaus entwickelt. Ein Mensch, der sich selbst verwirklicht, ist – neben anderen positiven Attributen – selbstbewusst, akzeptiert sich selbst und reagiert sozial; er ist kreativ, spontan und Veränderungen und Herausforderungen gegenüber aufgeschlossen. Maslows Theorie ist eine besonders optimistische Sichtweise menschlicher Motivation. Das Herz der Theorie bildet das Bedürfnis jedes Individuums, sich zu entwickeln und sein größtmögliches Potenzial zu verwirklichen. Können wir eine solche nie versagende positive Sichtweise aufrechterhalten? Die Gegebenheiten sprechen dagegen. Neben den Bedürfnissen, die Maslow aufführte, zeigt sich, dass Menschen Macht, Dominanz und Aggression zum Ausdruck bringen. Sie wissen ebenso aus Ihrer eigenen Erfahrung, dass sich die strikte Hierarchie, wie sie Maslow
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aufstellt, nicht halten lässt. Es ist beispielsweise sehr wahrscheinlich, dass Sie schon einmal Ihren Hunger ignoriert haben, um die Erfüllung höherer Bedürfnisse zu verfolgen. Trotz dieser Einschränkungen hoffen wir, dass Maslows Schema Sie in die Lage versetzt, eine gewisse Ordnung in verschiedene Aspekte Ihres motivationalen Erlebens zu bringen. Wir haben nun einen allgemeinen Rahmen für das Verständnis von Motivation gegeben. Im restlichen Kapitel werden wir drei verschiedene Formen von Verhaltensweisen, die durch die Interaktion von Motiven beeinflusst werden, näher betrachten: Nahrungsaufnahme, Sexualität und Leistung.
ZWISCHENBILANZ 1 Während Sie auf einer Bank sitzen, sehen Sie einen
anderen Studenten vorbei joggen. Welche Funktion von Motivationskonzepten ist auf Ihre Interpretation der Situation anwendbar? 2 Was bedeutet es, wenn ein Organismus Homöostase
aufrechterhält? 3 Welche beiden wichtigen Instinkte sind Elemente der
Theorie Sigmund Freuds? 4 Welche Unterscheidung traf Fritz Heider in Bezug auf
Erklärungen für Ergebnisse?
ten Sie gerne Informationen über externale Faktoren (Schmeckt die Pizza gut? Sind Freunde da, mit denen er die Pizza teilen und sich unterhalten kann?). Sie können sehen, dass es mit einigem Aufwand verbunden ist, jene Kräfte zu erklären, die ein einfaches Ergebnis wie beispielsweise, ob jemand ein Stück Pizza essen wird, beeinflussen. Lassen Sie uns mit den physiologischen Prozessen beginnen, welche die Evolution für die Regulierung der Nahrungsaufnahme bereitstellt.
11.2.1 Die Physiologie des Essens Wann sagt Ihnen Ihr Körper, dass es Zeit ist zu essen? Sie wurden mit einer Vielzahl von Mechanismen ausgestattet, die zu Ihrer Wahrnehmung von Hunger oder Sättigung beitragen (Logue, 1991). Um die Nahrungsaufnahme wirkungsvoll zu regulieren, muss der Organismus mit Mechanismen ausgestattet sein, die die folgenden vier Aufgaben erfüllen: (1) Erkennung des Bedürfnisses nach Nahrung, (2) Initiierung und Organisation der Nahrungsaufnahme, (3) Überwachung der Nahrungsmenge und ihrer Qualität und (4) Erkennen, wann ausreichend Nahrung aufgenommen wurde, um die Nahrungsaufnahmen zu beenden. Forscher haben versucht, diese Prozesse zu verstehen, indem sie sie entweder peripheren Mechanismen in verschiedenen
5 Was verstand Abraham Maslow unter Bindungsbe-
dürfnissen? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an das Experiment mit den Fallschirmspringern zurück. Was könnte passieren, nachdem sie das Flugzeug verlassen haben, um den paratelischen Zustand wieder in den telischen zurückzuverwandeln?
Essen
11.2
Wir bitten Sie um eine Vorhersage: Wir wollen einem Studierenden in einem psychologischen Einführungskurs ein Stück Pizza anbieten. Wie wahrscheinlich ist es wohl, dass er das Stück Pizza essen wird? Sind Sie für Ihre Schätzung bereit? Wahrscheinlich werden Sie sagen, dass Sie dafür mehr Informationen brauchten. Im vorigen Abschnitt haben wir Ihnen Möglichkeiten aufgezeigt, wie Sie die zusätzlich benötigten Informationen strukturieren können, bevor Sie eine solche Vorhersage machen: Sie würden etwas über internale Faktoren wissen wollen (Wie viel hat der Studierende bereits gegessen? Hält er gerade eine Diät?). Ebenso hät-
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Warum neigen Menschen dazu, mehr zu essen, wenn eine Vielzahl von Geschmacksrichtungen zur Verfügung steht?
11.2 Essen
Körperteilen, wie beispielsweise Magenkontraktionen, oder zentralen Gehirnmechanismen, wie beispielsweise Funktionen des Hypothalamus, zuordneten. Lassen Sie uns diese Prozesse im Detail betrachten. Periphere Reaktionen Woher kommt die Empfindung von Hunger? Sendet Ihr Magen unangenehme oder schmerzhafte Signale, um anzuzeigen, dass er leer ist? Ein Pionier auf diesem Gebiet, der Physiologe Walter Cannon (1934), nahm an, dass die gastrischen Aktivitäten eines leeren Magens die alleinige Grundlage des Hungers seien. Um diese Hypothese zu überprüfen, trainierte sein unerschrockener Student A. L. Washburn, einen ungefüllten Ballon zu schlucken, der an einem Gummischlauch hing. Am oberen Ende des Schlauchs war ein Gerät zu Messung von Luftdruckveränderungen befestigt. Cannon füllte den Luftballon in Washburns Magen mit Luft. Mit jeder Magenkontraktion entwich aus dem Ballon Luft und bewegte den Stift des Aufzeichnungsgerätes. Die Zeitpunkte, an denen Washburn quälenden Hunger berichtete, korrelierten mit denjenigen Zeitpunkten, an denen sich sein Magen zusammenzog, jedoch nicht mit jenen, in denen er sich ausdehnte. Cannon glaubte bewiesen zu haben, dass Magenkrämpfe für Hunger verantwortlich waren (Cannon & Washburn, 1912). Obwohl Cannon und Washburns Verfahren sehr erfinderisch war, zeigte sich in späteren Forschungsarbeiten, dass Kontraktionen noch nicht einmal eine notwendige Bedingung für den Zustand von Hunger sind. Die Injektion von Zucker in den Blutkreislauf stoppt die Magenkontraktionen, jedoch nicht den Hunger eines Lebewesens. Menschliche Patienten, denen der Magen komplett entfernt wurde, empfinden immer noch quälenden Hunger (Janowitz & Grossman, 1950), und Ratten ohne Magen erlernen immer noch ein Labyrinth, wenn sie mit Futter belohnt werden (Penick et al., 1963). Obwohl also Empfindungen, die im Magen entstehen, eine Rolle bei der Art und Weise spielen können, in der Menschen normalerweise Hunger erfahren, erklären sie nicht vollständig, wie der Körper sein Bedürfnis nach Nahrung erkennt und motiviert wird zu essen. Vielleicht ist ein leerer Magen keine Voraussetzung für Hunger, aber wird bei „vollem“ Magen die Nahrungsaufnahme beendet? Forschungsergebnisse zeigen, dass eine Ausdehnung des Magens durch die Aufnahme von Nahrung – aber nicht durch das Aufblasen eines Ballons – bei einem Menschen zur Been-
digung der Nahrungsaufnahme führt (Logue, 1991). Demnach ist der Körper für die Quelle des Magendrucks empfindlich. Die orale Erfahrung von Nahrung bildet ebenso eine periphere Quelle für Hinweise auf Sättigung. Sie haben vielleicht schon bemerkt, dass Sie sogar auf den Geschmack Ihres Lieblingsessens im Verlauf einer Mahlzeit weniger enthusiastisch reagieren. Man nennt dieses Phänomen sinnesspezifische Sättigung (Raynor & Epstein, 2001). Nahrungsmittel mit vielen Kalorien oder einem hohen Proteinanteil führen zu einer stärkeren Sättigung als Nahrungsmittel mit einem geringen Kalorien- und Proteingehalt (Johnson & Vickers, 1993; Vandewaters & Vickers, 1996). Diese sofortige Verringerung des „Mögens“ bei dieser Art von Nahrungsmitteln könnte eine mögliche Form der Regulation der Nahrungsaufnahme sein. Die „Spezifität“ der sinnesspezifischen Sättigung liegt darin, dass sie unmittelbar für die konkreten Nahrungsmittel gilt, die gerade gegessen werden. Wenn Menschen die Möglichkeit erhalten, eine Reihe von Nahrungsmitteln unterschiedlicher Geschmacksrichtungen zu sich zu nehmen, statt bei einem einzelnen, wenn auch vielleicht bevorzugten Geschmack zu bleiben, dann essen sie mehr (Romer et al., 2006). Dementsprechend kann eine Vielfalt an Geschmacksrichtungen – wie dies gewöhnlich bei mehrgängigen Menüs der Fall ist – den körperlichen Indikatoren entgegenwirken, die anzeigen, dass Sie bereits genug gegessen haben. Wenden wir uns nun den Gehirnmechanismen zu, die am Essverhalten beteiligt sind und wo die Informationen der peripheren Quellen zusammenlaufen. Zentrale Reaktionen Wie es oft der Fall ist, wurden einfache Theorien über die Gehirnzentren für die Initiierung und Beendigung der Nahrungsaufnahme durch komplexere Theorien abgelöst. Die frühesten Theorien über die Kontrolle der Nahrungsaufnahme durch das Gehirn entstanden aufgrund von Beobachtungen des lateralen Hypothalamus (LH) und des ventromedialen Hypothalamus (VMH). (Die Position des Hypothalamus können Sie Abbildung 3.18 entnehmen.) Forschungsarbeiten haben belegt, dass eine Läsion des VMH (oder eine Stimulation des LH) bei einem Tier zu einer Steigerung der Nahrungsaufnahme führt. Kehrte man die Prozedur um, führte also am LH eine Läsion durch (oder stimulierte den VMH), verringerte das Tier die Nahrungsaufnahme. Diese Beobachtung führte zur Entwicklung des Zwei-Zentren-Modells, das den LH als „Hungerzentrum“ und den VMH als „Sättigungszentrum“ betrachtete.
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Diese Theorie ließ sich jedoch im Lauf der Zeit nicht durch entsprechende Daten belegen (Martin et al., 1991; Rolls, 1994). Wurde beispielsweise bei Ratten eine Läsion des VMH durchgeführt, dann nahmen sie ausschließlich solches Futter vermehrt zu sich, das ihnen schmeckte, vermieden jedoch Futter, das ihnen nicht schmeckte. Der VMH konnte demnach nicht einfach ein Zentrum sein, das „iss mehr“ oder „iss weniger“ signalisiert – das Signal hängt von der Art des Futters ab. Tatsächlich kann eine Zerstörung des VMH teilweise dazu führen, dass normale reflexartige Reaktionen auf Futter übertrieben werden (Powley, 1977). Besteht die normale Reaktion auf gut schmeckendes Futter darin, es zu essen, ist die übertriebene Reaktion übermäßiges Fressen. Vermeidet die Ratte reflexartig schlecht schmeckendes Futter, indem sie würgt oder sich erbricht, kann sie als übertriebene Reaktion unter Umständen der Nahrung gänzlich fernbleiben. Konzentrieren wir uns darauf, wie LH und VMH die ihnen vom Gehirn zugewiesenen Aufgaben erfüllen. Die bedeutendsten Informationen, mit deren Hilfe LH und VMH die Nahrungsaufnahme regulieren, kommen aus der Blutbahn (Woods et al., 1998). Zucker (in Form von Glukose im Blut) und Fett sind die Energiequellen für den Stoffwechsel. Die beiden grundlegenden Signale, welche die Nahrungsaufnahme initiieren, kommen von jenen Rezeptoren, die den Zucker- und Fettspiegel im Blut überwachen. Wenn der Anteil gespeicherter Glukose niedrig ist oder dem Stoffwechsel keine Glukose zur Verfügung steht, senden Leberzellenrezeptoren Signale an den LH. Als Reaktion auf diese Information verändern Neurone, die als Glukosedetektoren dienen, ihre Aktivität. Andere Neurone des Hypothalamus erkennen Veränderungen des Insulinspiegels oder des Gehalts an freien Fettsäuren im Blut. Gemeinsam scheinen diese Neurone appetitive Systeme im lateralen Bereich des Hypothalamus zu aktivieren und die Nahrungsaufnahme zu initiieren. Signale, dass im Blut ausreichend Glukose und Fettsäuren vorhanden sind, führen im VMH dazu, die Nahrungsaufnahme zu beenden. Wir haben bis hierhin gesehen, dass wir über Körpersysteme verfügen, die dazu dienen, Beginn und Ende unserer Nahrungsaufnahme zu steuern. Allerdings wissen Sie sicherlich aufgrund zahlreicher persönlicher Erfahrungen, dass das Bedürfnis nach Nahrung nicht nur von Hinweisen abhängt, die unser Körper sendet. Betrachten wir nun die psychologischen Faktoren, die uns dazu motivieren, mehr oder weniger Nahrung zu uns zu nehmen.
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11.2.2 Die Psychologie des Essens Sie wissen nun, dass der Körper mit einer Reihe von Mechanismen ausgestattet ist, welche die Menge an Nahrungsmitteln regulieren, die wir zu uns nehmen. Aber essen Sie nur, wenn Sie hungrig sind? Sie werden wahrscheinlich antworten: „Natürlich nicht!“ Wenn Sie sich die letzten Tage in Erinnerung rufen, können Sie sich wahrscheinlich an verschiedene Gelegenheiten erinnern, bei denen die Tatsache, dass Sie etwas gegessen haben und was Sie gegessen haben, nur wenig mit Hunger zu tun hatte. In diesem Abschnitt über die Psychologie des Essens beginnen wir mit einer Betrachtung über den Einfluss der Kultur darauf, was und wie viel man isst. Danach konzentrieren wir uns darauf, wie Menschen versuchen, ihr Essverhalten zu kontrollieren, um Einfluss auf Form und Gewicht des Körpers zu nehmen – wir betrachten einige Ursachen und Folgen von Fettleibigkeit und Diäten. Danach beschreiben wir, wie Essstörungen als extreme Reaktion auf Sorgen um das körperliche Erscheinungsbild und das Gewicht entstehen können. Der Einfluss der Kultur auf das Essverhalten Wie entscheiden Sie, wann und was Sie essen sollten? Um diese Frage zu beantworten, denken Sie zunächst an den Einfluss der Kultur. In unserer Kultur beispielsweise essen die Menschen in der Regel drei Mahlzeiten am Tag zu festgelegten Zeiten; die Zeitpunkte dieser Mahlzeiten sind mehr an sozialen Normen orientiert als an körperlichen Hinweisen. Außerdem wählen Menschen ihre Nahrungsmittel auch häufig auf Grundlage sozialer und kultureller Normen aus. Was würden Sie sagen, wenn man Ihnen zum Abendessen kostenlos Hummer servieren würde? Ihre Antwort würde beispielsweise davon abhängen, ob Sie ein praktizierender Jude sind (in diesem Fall würden Sie mit „nein“ antworten) oder Vegetarier (in diesem Fall würde Ihre Antwort auch noch davon abhängen, ob Sie zu jenen Vegetariern gehören, die Meerestiere essen). Dieses Beispiel zeigt sofort, warum es bei der Nahrungsaufnahme nicht nur darum geht, Körpersignalen Beachtung zu schenken. Sehen wir uns die Esskultur in den Vereinigten Staaten genauer an. Eine wichtige Informationsquelle dafür ist die US-Regierung, die mehrere Funktionen erfüllt. Erstens schreibt die Regierung die Größe von „Servierportionen“ und die Art der Nährwertangaben vor, die Lebensmittelhersteller ihren Kunden offen legen müssen. Zweitens erteilt die Regierung regelmäßig Ratschläge über die Zusammensetzung einer gesun-
11.2 Essen
den Ernährung. So gibt etwa das U. S. Department of Agriculture (Landwirtschaftsministerium) (2005) Publikationen wie die Dietary Guidelines for Americans (Diätrichtlinien für Amerikaner) heraus. Diese Veröffentlichung gibt allgemeine Ratschläge über Gewichtskontrolle und körperliche Aktivitäten wie auch spezifische Empfehlungen, wie man seine Ernährung gesund gestaltet. Die Veröffentlichungen der Regierung spiegeln jeweils den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft wider: Die Empfehlungen ändern sich mit Fortschritten in der Forschung. Sie können davon ausgehen, dass sich die Ernährungsempfehlungen innerhalb Ihrer Lebenszeit verändern werden. Wie bei jeder anderen Beratung, die sich auf Forschungsdaten stützt, ist es wichtig zu verstehen, wie die Daten die Empfehlungen und ihre Veränderungen beeinflussen. Unglücklicherweise wirken andere Aspekte der USamerikanischen Kultur den Empfehlungen für gesunde Ernährung entgegen. So ist zum Beispiel ungesundes Essen im Vergleich zu gesundem relativ preiswert. Menschen mit begrenzten finanziellen Mitteln können sich eine gesunde Ernährung vielleicht gar nicht leisten. Diese Beobachtung hat zu dem Vorschlag geführt, dass sich die Ernährung der Bevölkerung verbessern würde, wenn das Preisverhältnis zwischen gesunden und ungesunden Nahrungsmitteln verändert würde (Epstein et al., 2006). Es gab zum Beispiel eine Studie, in der Forscher mit einem Lebensmittelhändler in Alabama zusammenarbeiteten, um die Preise für gesunde Nahrungsmittel zu senken (Horgen & Bronwell, 2002). Als die gesunden Lebensmittel weniger kosteten, wurden sie auch eher gekauft. Forschung in dieser Richtung deutet darauf hin, dass einige Hindernisse für gesunde Ernährung auf ökonomische Beschränkungen zurückzuführen sind. Es bleibt allerdings trotzdem ein Problem, dass die US-Kultur ungesunder Ernährung entschieden förderlich ist. Im Vergleich zu anderen Kulturen fällt hier besonders die Größe US-amerikanischer Portionen auf. So haben etwa Forscher die relative Größe von Essportionen in Frankreich und den Vereinigten Staaten verglichen, um eine Erklärung dessen zu versuchen, was sie das Französische Paradoxon nannten (Rozin et al., 2003): Obwohl die Franzosen normalerweise einen höheren Fettanteil in der Ernährung haben als die Menschen in den USA, sind sie durchschnittlich sehr viel weniger übergewichtig. Um dieses Paradoxon zu untersuchen, maßen die Forscher die Portionsgrößen von Restaurants in Philadelphia und in Paris. Im Durchschnitt erwiesen sich die Portionen in Philadelphia als um 25 Prozent größer. Außerdem wurden die Zutatenangaben in Kochbuchrezepten un-
tersucht: Amerikanische Rezepte gaben mehr Fleisch an, französische dagegen mehr Gemüse. Denken Sie bei unserer folgenden Betrachtung von Fettleibigkeit und Diäten an die Folgen: Relativ gesehen gibt es in Frankreich nur ein Drittel so viele übergewichtige Menschen wie in den Vereinigten Staaten (Rozin et al., 2003). Übergewicht und Diäten Psychologen haben bereits ziemlich viel Zeit zur Klärung der Umstände verwandt, was als eine „Epidemie“ von Fettleibigkeit bezeichnet wird. Um zu bestimmen, wer übergewichtig und wer fettleibig ist, bedient sich die Forschung oft einer Messgröße namens Body Mass Index (BMI). Um den BMI zu berechnen, teilt man das Gewicht eines Menschen in Kilogramm durch das Quadrat seiner Größe in Metern. So hat etwa jemand, der 69,8 kg wiegt und 1,70 m groß ist, 2 einen BMI von 24,2, nämlich 69,8/(1,70) . (Sie können mit Hilfe von Google leicht einen BMI-Rechner im Internet finden.) In den meisten Fällen gelten Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 29,9 als übergewichtig, solche mit einem BMI von 30 und mehr als fettleibig. Nach diesen Maßstäben sind etwa 71 Prozent der männlichen und 62 Prozent der weiblichen Erwachsenen in den Vereinigten Staaten übergewichtig oder fettleibig (Ogden et al., 2006). Bei Kindern und Jugendlichen sind 18,2 Prozent der Jungen und 16,0 Prozent der Mädchen übergewichtig oder fettleibig. Diese Zahlen zeigen eine gewisse Dringlichkeit zur Beantwortung der Frage auf, warum Menschen übergewichtig werden. Warum werden manche Menschen übergewichtig? Es wird Sie nach der bisherigen Lektüre dieses Buches wahrscheinlich nicht überraschen, dass die Ursachen teilweise in der Vererbung und teilweise in der Umwelt liegen. Der Kasten Psychologie im Alltag in diesem Kapitel beschreibt den Extremfall des Einflusses der Vererbung. Manche Menschen haben eine genetische Veranlagung zu Übergewicht. Aber selbst eine biologische Prädisposition reicht vielleicht nicht aus, um bei einer bestimmten Person Übergewicht zu „verursachen“. Zusätzlich ist von Bedeutung, wie eine Person über Nahrungsmittel und Essverhalten denkt. Frühe Forschungsarbeiten zu den psychologischen Aspekten des Übergewichts konzentrierten sich auf das Ausmaß an Aufmerksamkeit, das übergewichtige Personen internalen Hinweisen des Körpers auf Hunger im Vergleich zu Nahrungsmitteln in ihrer externalen Umwelt schenken (Schachter, 1971a). Eine Annahme war hier, dass übergewichtige Personen die Hinweise ihres Körpers ignorieren, wenn Nahrungs-
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PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Gene und Übergewicht?
Studierende fragen sich oft, ob sie gegen ihre Gene ankämpfen, um ein gesundes Gewicht zu halten. Tatsächlich liegen manche von ihnen vermutlich richtig, wenn sie bei sich selbst eine genetische Veranlagung zu Übergewicht vermuten. Wissenschaftler haben Belege für die Annahme gefunden, dass Menschen mit einer angeborenen Neigung versehen sind, mehr oder weniger zu wiegen. Studien haben beispielsweise eine große Ähnlichkeit im Gewicht von Zwillingspaaren aufgezeigt (Allison et al., 1994; Stunkard et al., 1990). Teilweise kann diese Ähnlichkeit durch die Erkenntnis erklärt werden, dass die Verbrennungsrate des Körpers, das heißt die Menge an Kalorien, die er verbraucht, um grundlegende Köperfunktionen aufrechtzuerhalten, der individuelle Grundumsatz des Stoffwechsels – erblich ist (Bouchard et al., 1989). Demnach sind manche Menschen erblich bedingt prädisponiert, bereits durch normale, alltägliche Aktivitäten zahlreiche Kalorien zu verbrennen; andere dagegen nicht. Letztere tragen ein höheres Risiko einer Gewichtszunahme. In jüngerer Zeit haben Forscher einige genetische Mechanismen entdeckt, die Menschen unter Umständen anfällig für Übergewicht machen (Gura, 2000; Marx, 2003). So wurde beispielsweise ein Gen isoliert, das anscheinend jene Signale an das Gehirn kontrolliert, die darüber informieren, dass im Verlauf einer Mahlzeit genug Fett im Körper gespeichert wurde – so dass die Person nun aufhören sollte zu essen (Zhang et al., 1994). Das Gen beeinflusst die Produktion eines Hormons namens Leptin. Erinnern Sie sich an Kapitel 5, dass Cannabinoïde in Ihrem Gehirn eine Rolle bei der Appetitanregung spielen (Kirkham, 2005). Leptin wirkt antagonistisch zu diesen Cannbinoïden, um den Appetit unter Kontrolle zu halten (Jo et al., 2005). Wenn kein Leptin vorhanden ist, um diese Cannabinoïde auszubalancieren, werden die Betroffenen wahrscheinlich weiteressen. Das Gen, das die Leptinproduktion reguliert, scheint einen entscheidenden Einfluss auf Gewichtsregulierung und das Potenzial für Übergewicht zu haben. Wissenschaftler haben tatsächlich eine kleine Gruppe von Menschen entdeckt, die an einer Mutation dieses Gens leiden; diese Mutation scheint ihr Übergewicht zu erklären (Jackson et al., 1997; Montague et al., 1997). Da diese Mutationen jedoch sehr selten vorkommen, können sie nicht für
mittel verfügbar und augenfällig sind. Diese Theorie erwies sich jedoch als nicht zufriedenstellend, weil Übergewicht als solches nicht immer das Essverhalten vorhersagen kann (Rodin, 1981). Das heißt, nicht
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die große Mehrheit der Fälle von Übergewicht verantwortlich sein. Trotz dieser Tatsache führte die Entdeckung, dass Leptin eine Rolle bei der Gewichtsregulation spielt, dazu, nach weiteren gewichtsbezogenen Genen zu suchen und sie zu verstehen. So hat sich zum Beispiel die Aufmerksamkeit neuerdings auf ein Gen namens GAD2 gerichtet (Boutin & Frougel, 2005). GAD2 hilft, die Menge des Neurotransmitters GABA im Hypothalamus zu regulieren. Im Allgemeinen steigert sich der Appetit, wenn mehr GABA zur Verfügung steht. Aus diesem Grund unterliegen Menschen, die eine Form von GAD2 haben, die mehr GABA bereitstellt, möglicherweise dem Risiko, übermäßig zu essen. Wie Sie sehen, ist GAD2 nicht direkt ein Gen für Fettleibigkeit. Stattdessen übt es einen indirekten Einfluss auf das Gewicht aus, und zwar über seinen direkten Einfluss auf GABA. Die Forschung rechnet mit einer ganzen Anzahl von Genen, die einen solchen indirekten Einfluss auf Fettleibigkeit ausüben. Diese Genforschung verspricht innovative Lösungen für das Problem des Übergewichts. Forscher hoffen beispielsweise, dass ein Verständnis der Verbindung zwischen Genen und Gewicht es ihnen ermöglicht, neue medikamentöse Behandlungsformen zu entwickeln (Campfield et al., 1998; Gura, 2003). Manche der ersten Versuche waren entmutigend: Forschungsarbeiten konnten bisher durch experimentelle Manipulationen noch keinen großen Einfluss von Leptin auf Gewichtsverluste zeigen. Da sich allerdings ein ständiger Fortschritt im Verständnis der Genetik abzeichnet, stellen Wissenschaftler immer neue Hypothesen darüber auf, wie sie in die Körpermechanismen der Gewichtsregulation eingreifen können (Gura, 2000). Trotzdem äußern sich selbst die optimistischsten Forscher vorsichtig: „Innovative Medikamente werden dann am effektivsten sein, wenn sie als Ergänzung und nicht als Ersatz für eine Veränderung des Lebensstils, zur Verbesserung von Stoffwechselaktivität, Gesundheit und Lebensqualität fettleibiger Personen eingesetzt werden“ (Campfield et al., 1998, S. 1387). In anderen Worten: Gleich, wie gut wir die genetische Anlage verstehen, müssen wir uns darüber bewusst bleiben, dass immer noch die Umwelt eine entscheidende Rolle in unserem Leben spielt.
alle Menschen, die übergewichtig sind, haben dasselbe psychologische Profil hinsichtlich ihres Ernährungsverhaltens. Lassen Sie uns sehen, warum das so ist.
11.2 Essen
Keine Diät Durchschnittlich gegessene Menge (Gramm)
Janet Polivy und Peter Herman haben die Ansicht vertreten, dass gezügelte vs. ungezügelte Nahrungsaufnahme die kritische Dimension ist, die der Psychologie des Ernährungsverhaltens zugrunde liegt (Polivy & Herman, 1999). Gezügelte Esser setzen sich selbst eine konstante Obergrenze der Nahrungsmenge, die sie zu sich nehmen: Sie sind ständig auf Diät; sie machen sich ständig Gedanken über ihre Ernährung. Obwohl es bei übergewichtigen Menschen vielleicht wahrscheinlicher ist, dass sie solche Gedanken und Verhaltensweisen berichten, können Personen aller Gewichtsklassen gezügelte Esser sein. Wie nehmen Menschen zu, wenn sie ständig Diät halten? Forschungsergebnisse legen nahe, dass gezügelte Esser, wenn sie enthemmt werden – wenn die Lebensumstände sie dazu bringen, ihre Kontrolle zurückzunehmen dazu neigen, sich Fressattacken hinzugeben. Enthemmung scheint meistens dann aufzutreten, wenn die gezügelten Esser sich hinsichtlich ihrer eigenen Fähigkeiten und ihres Selbstwertgefühls belastet fühlen (Greeno & Wing, 1994; Tanofsky-Kraff et al., 2000). Tatsächlich ist eine Art von Stress bereits die Erwartung einer strengen Diät.
Diät 70 60 50 40 30 20 10 0
Zügelnd
Nicht zügelnd Kontrolle
Abbildung 11.2: Die Effekte einer erwarteten Diät. Zügelnde und nicht zügelnde Esserinnen probierten Kekse, um ihren Geschmack zu bewerten. Die Hälfte der Frauen in jeder Gruppe hatte einer einwöchigen kalorienarmen Diät zugestimmt. Bei nicht zügelnden Esserinnen war die Menge (in Gramm) der Kekse, die sie aßen, nicht davon beeinflusst, ob sie eine Diät erwarteten oder nicht. Dagegen aßen die zügelnden Esserinnen, die eine Diät erwarteten, mehr als doppelt so viele Kekse wie diejenigen, die keine erwarteten.
AUS DER FORSCHUNG Ausgehend von einer Selbsteinschätzung ihres Verhaltens und ihrer Einstellung zum Essen und zu Diäten wurden College-Studentinnen im Hinblick auf ihr Kontrollverhalten als entweder zügelnde (17 Frauen) oder nicht zügelnde (24 Frauen) Esserinnen eingestuft. Den Studentinnen wurde mitgeteilt, sie nähmen an einer Studie zur „Untersuchung der Effekte von Nahrungsentzug auf das Geschmacksempfinden“ teil (Urbszat et al., 2002, S. 398). Zu Beginn des Versuchs wurde die Hälfte der Studentinnen gebeten, eine Woche lang eine kalorienarme Diät – empfohlen von „der kanadischen Regierung und der Universität Toronto“ – einzuhalten. Sowohl die Diät- als auch die Nicht-Diät-Teilnehmerinnen sollten dann Geschmackstests an drei Tellern mit Keksen durchführen. Die Teilnehmerinnen glaubten, diese Geschmackstests seien die Basisdaten für die Studie zur Geschmacksempfindung. In Wirklichkeit maßen die Forscher die Gesamtmenge an Keksen in Gramm, die jede Teilnehmerin zu sich nahm. Die Ergebnisse dieser Studie zeigt Abbildung 11.2. Bei den nicht zügelnden Esserinnen machte es keinen Unterschied, ob sie eine strenge Diät erwarteten. Bei den zügelnden allerdings führte die Erwartung einer Diät zu einem mehr als verdoppelten Kekskonsum.
Dieses Ergebnis weist darauf hin, warum Diäten für zügelnde Esserinnen und Esser oft erfolglos bleiben. Wie die Forscher bemerken, kann bei ihnen bereits
„die Aussicht, verbotenes Essen nicht mehr essen zu dürfen, zum Bruch der Diätvorschriften führen“ (Urbszat et al., 2002, S. 399). Sie können nun sehen, warum es für Menschen schwierig sein könnte, Gewicht zu verlieren, wenn sie einmal übergewichtig wurden. Viele übergewichtige Menschen berichten, dass sie ständig Diät halten – sie sind häufig gezügelte Esser. Wenn belastende Ereignisse eintreten, die diese Esser enthemmen, dann können Essgelage leicht zur Gewichtszunahme führen. Die psychischen Folgen dieses andauernden Diäthaltens können demnach paradoxerweise Umstände herbeiführen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Gewichtszunahme statt zu einer Gewichtsabnahme führen. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, wie dieselben psychischen Kräfte zu gesundheits- und lebensbedrohlichen Essstörungen führen können. Essstörungen und Körperschema Wir begannen diesen Abschnitt mit der Feststellung, dass mehr Menschen glauben, übergewichtig zu sein, als es tatsächlich sind. Wenn die Wahrnehmung des eigenen Körperschemas zu stark vom tatsächlichen Gewicht abweicht, besteht für die betroffenen Personen das Risiko einer Essstörung. Anorexia nervosa
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wird diagnostiziert, wenn eine Person unterhalb einer Grenze von 85 Prozent des erwarteten Normalgewichts liegt und dennoch ihre Angst zum Ausdruck bringt, zu dick zu werden (DSM–IV-TR, 2003). Das Verhalten von Personen mit Bulimia nervosa ist gekennzeichnet durch „Fressattacken“ – Perioden intensiven, unkontrollierten Essens – gefolgt von Maßnahmen, welche die überschüssigen Kalorien wieder abführen. Dazu gehören selbst verursachtes Erbrechen, der Missbrauch
Was lassen diese beiden Fotos von Nicole Richie und Marilyn Monroe über den Wandel der Idealfigur einer Frau im Verlauf der Zeit erkennen? Wie dünn muss eine Frau sein, um in den Medien als sexy zu gelten?
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von Abführmitteln, Hungern und so weiter (DSM–IVTR, 2003). Personen, die an Anorexia nervosa leiden, können gleichzeitig bulimisch sein. Sie können sich „überfressen“ und anschließend wieder abführen, um die Anzahl der vom Körper aufgenommenen Kalorien zu minimieren. Da bei beiden Syndromen der Körper systematisch ausgehungert wird, haben beide ernste medizinische Konsequenzen. Längerfristig betrachtet, hungern sich die Betroffenen zu Tode. Die Prävalenz für Essstörungen liegt bei Frauen im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter bei ungefähr 0,5 Prozent (DSM–IV-TR, 2003; Hoek & Van Hoeken, 2003). Ein bis drei Prozent der Frauen dieser Altersgruppe leiden an Bulimie (DSM–IV-TR, 2003, Rand & Kuldau, 1992). Frauen leiden an beiden Krankheiten etwa zehnmal so häufig wie Männer. Warum fangen Menschen an, sich zu Tode zu hungern, und warum sind die meisten dieser Menschen Frauen? Es gibt einige Belege dafür, dass ein Hang zu Essstörungen genetisch begründet sein könnte (Kortegaard et al., 2001). Viel Aufmerksamkeit hat die Forschung jedoch darauf verwendet, die Erwartungen der Frauen an ihr eigenes Idealgewicht, wie sie durch die Gesellschaft und die Medien generiert werden, zu untersuchen (Durkin & Paxton, 2002; Wertheim et al., 1997). Zahlreiche Frauenzeitschriften betonen stark
11.2 Essen
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Abbildung 11.3: Einschätzung von Körperproportionen. Welches Bild repräsentiert Ihrer Ansicht nach das Ideal für eine Frau? Und für einen Mann?
Abbildung 11.4: Kulturübergreifende Wahrnehmung der Körperproportionen. Studierende der Universität von Vermont und der Universität von Ghana gaben an, welche der Figuren von Abbildung 11.3 am besten repräsentierten, was sie für den idealen männlichen oder weiblichen Körper halten. Die männlichen Figuren wurden von Frauen und Männern und auch in den verschiedenen Ländern relativ konsistent eingeschätzt. Die Einschätzungen der weiblichen Figuren unterschied sich jedoch in den USA und in Ghana um beinahe einen vollen Punkt. Ghanaische Männer nahmen hier sogar höhere Einstufungen vor als ghanaische Frauen.
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das Thema Gewichtsverlust. Bei Männerzeitschriften ist dies nicht der Fall (Andersen & DiDomenico, 1992), beziehungsweise beginnt es sich gerade entsprechend zu ändern. Frauen erhalten demnach vielleicht mehr kulturelle Unterstützung als Männer für ihre Annahme, sie seien übergewichtig. Die Überzeugung, dass Essstörungen teilweise auf kulturelle Einflüsse zurückzuführen sind, wurde durch eine Vielzahl von Untersuchungen, die bedeutsame kulturelle Unterschiede aufzeigen, unterstützt.
AUS DER FORSCHUNG Eine Stichprobe von 219 Studierenden der Universität von Vermont und 349 Studierenden der Universität von Ghana sollte einige Fragen über ihre Essgewohnheiten und ihre Diätmethoden beantworten. Die Befragung ergab, dass zwar in etwa dieselbe Anzahl der männlichen Studierenden beider Länder bereits einmal eine Diät gemacht hatte (USA, 5,3 Prozent; Ghana, 6,1 Prozent), jedoch haben wesentlich mehr US-amerikanische Frauen (43,5 Prozent) als ghanaische Frauen (13,3 Prozent) bereits Diäten durchgeführt. Die Studierenden sollten ebenfalls auswählen, welche der in Abbildung 11.3 dargestellten Figuren den idealen männlichen oder weiblichen Körper darstellt. Die durchschnittlichen Einschätzungen der Studierenden sind in Abbildung 11.4 wiedergegeben. Wie Sie an diesen Einschätzungen erkennen können, werden die männlichen Figuren sowohl von Frauen und Männern als auch in den verschiedenen Ländern relativ konsistent eingeschätzt. Vergleichen Sie die durchschnittlichen Einschätzungen mit den Figuren in Abbildung 11.3. Der „ideale“ Mann liegt zwischen M5 und M6, aber eher bei M5. Die Einschätzungen der weiblichen Figuren unterschieden sich jedoch in den USA und in Ghana um beinahe einen vollen Punkt. Studierende in den USA schätzen den „idealen“ weiblichen Körper etwas schlanker als F5; ghanaische Teilnehmer wählten Proportionen in der Nähe von F6 (Cogan et al., 1996).
Wie könnten diese Unterschiede erklärt werden? Wissenschaftler nehmen an, dass sich in Ghana, ebenso wie in anderen afrikanischen Ländern, nicht jeder finanziell leisten kann, übergewichtig zu sein: „Fett wird assoziiert mit Reichtum und Überfluss“ (Cogan et al., 1996, S. 98). Wie Sie in Abbildung 11.4 erkennen können, zeigt sich die positive Assoziation von Gewicht und Wohlstand im Speziellen bei Frauen und hier insbesondere in der Einschätzung ghanaischer Männer. Innerhalb der USA ist es ähnlich einfach, Gruppenunterschiede bei der Einschätzung von Körperproportionen zu finden. So erwiesen sich zum Beispiel in einer Studie weiße College-Studenten als weniger zu-
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frieden mit ihren Körpern als ihre dunkelhäutigen Kommilitonen. Außerdem wählten sie, wenn sie aus einer Reihe von Zeichnungen diejenige mit ihrem bevorzugten Gewicht auswählen sollten, schlankere Figuren als dunkelhäutige Studierende (Aruguete et al., 2005). Ähnliche Ergebnisse zeigten sich, wenn afroamerikanische und weiße Studentinnen Fotos dünner, durchschnittlicher und dicker Models einschätzen sollten. Nur die weißen Frauen vergaben geringere Wertungen für die dickeren Models (verglichen mit den dünnen und durchschnittlichen Models) auf Dimensionen wie Attraktivität, Intelligenz und Popularität (Hebl & Heatherton, 1998). Vor diesem Hintergrund sind Sie nun wahrscheinlich auch nicht überrascht zu erfahren, dass weiße Frauen auch mit höherer Wahrscheinlichkeit an einer Essstörung erkranken als afroamerikanische. Eine Studie umfasste 985 weiße Frauen und 1.061 afroamerikanische Frauen, alle im Alter von etwa 21 Jahren (Striegel-Moore et al., 2003). In diesen Gruppen waren etwa 1,5 Prozent der weißen Frauen bereits einmal an Anorexia nervosa erkrankt, aber keine der Afroamerikanerinnen. 2,3 Prozent der weißen Frauen waren von Bulimia nervosa betroffen, aber nur 0,4 Prozent der Afroamerikanerinnen. Wenige Studien haben andere Rassen oder ethnische Gruppen untersucht, aber zum aktuellen Zeitpunkt finden sich Belege, dass unter Amerikanerinnen asiatischer Abstammung Essstörungen weniger häufig vorkommen als unter weißen Amerikanerinnen, unter Amerikanerinnen lateinamerikanischer Abstammung dagegen ebenso häufig. Bei jedem dieser Ergebnisse versuchen Forscher eine Verbindung zwischen kulturellen Wertvorstellungen und dem Diätverhalten herzustellen. Noch eine abschließende Anmerkung: Sie sind wahrscheinlich Mitglied einer bestimmten Kultur, die Essstörungen fördert. Frauen in höheren Schulklassen oder im Studium neigen eher dazu, an Anorexie oder Bulimie zu erkranken, als Personen, die nicht studieren. Im Studium lösen Frauen die Spannungen, die durch den Wunsch entstehen, einerseits attraktiv zu sein und andererseits mit Freunden zu essen und zu trinken, vielleicht durch die Sequenz Essen und Trinken in Mengen (Party feiern) – und Finger in den Hals stecken (die Kalorien wieder loswerden) (Rand & Kuldau, 1992). Sie sollten sich dieser potenziellen Gefahr bewusst sein.
11.3 Sexualverhalten
ZWISCHENBILANZ 1 Was versteht man unter Sättigung einer spezifischen
Sinnesmodalität? 2 Was deutet darauf hin, dass der VMH (ventromediale
Hypothalamus) eine andere Rolle beim Essen spielt als das Zwei-Zentren-Modell nahelegt? 3 Welchen Essgewohnheiten folgen zügelnde Esser für
gewöhnlich? 4 Worin bestehen die Symptome von Bulimia nervo-
sa? KRITISCHES DENKEN: Warum wurden in der Studie zum Einfluss bevorstehender Diäten auf das Essverhalten die Teilnehmerinnen glauben gemacht, die Studie diene der Erforschung der Geschmacksempfindung?
Sexualverhalten
11.3
Die Physiologie unseres Körpers macht es erforderlich, dass wir uns jeden Tag Gedanken übers Essen machen. Aber wie ist das mit Sex? Es ist leicht, die biologische Funktion von Sex zu bestimmen – Fortpflanzung; aber erklärt dies die Häufigkeit, mit der wir uns mit sexuellen Verhaltensweisen beschäftigen? Wenn man Menschen fragt, wie häufig sie an Sex denken, antworten 54 Prozent der erwachsenen Männer und 19 Prozent der erwachsenen Frauen, dass sie mindestens einmal am Tag an Sex denken (Michael et al., 1994). Wie lässt sich die Häufigkeit erklären, mit der Menschen an Sex denken? In welcher Beziehung stehen sexuelle Gedanken zu sexuellen Aktivitäten? Die Frage nach der Motivation ist wieder einmal die Frage danach, warum Menschen in bestimmten Verhaltensbereichen aktiv werden. Wir haben bereits eingeräumt, dass sexuelle Aktivität nur für die Fortpflanzung biologisch notwendig ist. Somit ist zwar die Nahrungsaufnahme für das Überleben einer Person entscheidend, nicht aber der Sex. Manche Tiere und Menschen leben ihr ganzes Leben lang zölibatär, ohne offensichtlichen Schaden für ihre alltägliche Funktionsfähigkeit. Aber die Fortpflanzung ist entscheidend für die Spezies insgesamt. Um sicherzustellen, dass hinsichtlich der Fortpflanzung genügend Anstrengungen unternommen werden, hat die Natur sexuelle Stimulation sehr angenehm gestaltet. Ein Orgasmus dient als ultimativer Verstärker für die bei der Paarung eingesetzte Energie.
Dieses Vergnügungspotenzial gibt sexuellen Verhaltensweisen eine motivierende Kraft, die über das Erfordernis der Fortpflanzung hinausgeht. Personen legen eine Vielzahl sexueller Verhaltensweisen an den Tag, um sexuelle Befriedigung zu erreichen. Aber manche Quellen der sexuellen Motivation kommen von außen. Kulturen stellen bestimmte Normen und Standards auf, die festlegen, welche sexuellen Verhaltensweisen zu erwarten und akzeptabel sind. Während die meisten Menschen zu solchen Verhaltensweisen motiviert sind, die innerhalb dieser Normen liegen, erreichen manche Menschen ihre sexuelle Befriedigung in erster Linie durch die Verletzung dieser Normen. In diesem Abschnitt werden wir zuerst den Sexualtrieb und das Paarungsverhalten von Tieren betrachten. Dann lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf ausgewählte Aspekte der menschlichen Sexualität.
11.3.1 Sexuelles Verhalten bei Tieren Die primäre Motivation sexueller Verhaltensweisen von Tieren ist die Fortpflanzung. Für Spezies, die Sex als Methode der Fortpflanzung verwenden, hat die Evolution im Allgemeinen zwei sexuelle Ausprägungsformen bereitgestellt: männliche und weibliche Exemplare. Die weiblichen Tiere produzieren relativ große Eier (die den Energievorrat für das Wachstum des Embryos enthalten), und die männlichen Tiere produzieren Spermien mit hoher Beweglichkeit (die in die Eier eindringen). Die beiden Geschlechter müssen ihre Aktivitäten synchronisieren, damit Spermium und Eizelle unter optimalen Bedingungen zueinander finden, was zur Empfängnis führt. Sexuelle Erregung wird primär durch physiologische Prozesse bestimmt. Tiere werden in erster Linie als Reaktion auf Hormone paarungsbereit, deren Ausschüttung durch die Hypophyse gesteuert wird und durch die Keimdrüsen, die Sexualorgane, erfolgt. Bei den männlichen Tieren bezeichnet man diese Hormone als Androgene; und sie sind ständig in ausreichender Menge vorhanden, so dass männliche Tiere hormonell gesehen beinahe jederzeit paarungsbereit sind. Bei den weiblichen Tieren zahlreicher Spezies jedoch wird das Geschlechtshormon Östrogen nur periodisch nach einer bestimmten Anzahl von Tagen oder Monaten oder zu bestimmten Jahreszeiten ausgeschüttet. Dementsprechend sind weibliche Tiere hormonbedingt nicht immer paarungsbereit. Diese Hormone wirken sowohl auf das Gehirn als auch auf die Geschlechtsorgane und führen häufig zu
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vorhersehbaren, stereotypen sexuellen Verhaltensmustern bei allen Mitgliedern einer Spezies. Wenn Sie beispielsweise ein Rattenpaar bei der Paarung beobachten, haben Sie alle gesehen. Die paarungsbereite weibliche Ratte flitzt um das Männchen herum, bis sie seine Aufmerksamkeit erregt hat. Dann läuft sie davon, und er verfolgt sie. Dann stoppt sie plötzlich und hebt ihr Hinterteil, und er dringt in sie ein, stößt zu und zieht seinen Penis wieder heraus. Sie entkommt ihm kurzfristig, und die Jagd geht weiter – unterbrochen von 10 bis 20 Stößen, bis die männliche Ratte ejakuliert, kurz ausruht und die Sexjagd wieder aufnimmt. Auch Affen kopulieren nur kurz (etwa 15 Sekunden lang). Zobel dagegen kopulieren langsam und lange, über einen Zeitraum von etwa 8 Stunden. Raubtiere, wie beispielsweise Löwen, können es sich leisten, sich langsamen und langen Kopulationsritualen hinzugeben – alle dreißig Minuten über einen Zeitraum von vier aufeinander folgenden Tagen. Ihre Beute jedoch, wie beispielsweise die Antilopen, kopuliert nur wenige Sekunden, häufig im Lauf (Ford & Beach, 1951). Sexuelle Erregung wird häufig durch Umweltreize ausgelöst. Bei vielen Spezies sind der Anblick bestimmter Farbmuster oder das Hören bestimmter Klänge, die von dem potenziellen Partner gezeigt oder produziert werden, eine notwendige Bedingung für sexuelle Reaktionen. Des Weiteren ist es bei unterschiedlichen Spezies wie Schafen, Kühen und Ratten der Fall, dass das Neue an einem weiblichen Partner das Verhalten des männlichen Tieres beeinflusst. Ein Männchen, das bei einer Partnerin sexuelle Befriedigung erreicht hat, wird beim Auftauchen eines neuen Weibchens vielleicht erneut sexuell aktiv (Dewsburry, 1981). Berührungen, Geschmack und Gerüche können
Welche Faktoren bestimmen das Sexualverhalten der meisten Spezies?
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ebenso als Reize für sexuelle Erregung dienen. Wie wir bereits in Kapitel 4 beschrieben haben, scheiden einige Tierarten chemische Signale aus, die Pheromone. Pheromone erregen Freier manchmal über eine große Distanz hinweg (Carazo et al., 2004; DeCock & Matthysen, 2005). Bei vielen Tierarten gibt das Weibchen die Pheromone dann ab, wenn es auf dem Höhepunkt seiner Fruchtbarkeit ist (und der Hormonspiegel sowie das sexuelle Interesse am höchsten sind). Diese Sekrete sind unkonditionierte Stimuli für die Erregung und die Anziehung männlicher Tiere der Spezies, welche die Neigung ererbt haben, auf diese Reize mit Erregung zu reagieren. Wenn in Gefangenschaft lebende männliche Rhesusaffen den Geruch fruchtbarer Affenweibchen in einem angrenzenden Käfig riechen, reagieren sie mit einer Vielzahl sexueller physiologischer Veränderungen, beispielsweise mit der Vergrößerung ihrer Hoden (Hopson, 1979). Obwohl sexuelle Reaktionen von Tieren zum Großteil durch angeborene biologische Faktoren determiniert sind, bleibt dennoch Raum für „kulturelle“ Aspekte, welche die Partnerwahl beeinflussen. Sehen wir uns den Breitflossenkärpfling (Poecilia latipinna) an.
AUS DER FORSCHUNG Unter den meisten Umständen zeigen die Weibchen des Breitflossenkärpflings aus dem Comal River in Texas eine Vorliebe für die Paarung mit größeren Männchen. Was aber passiert, wenn ein Weibchen ein anderes dabei beobachtet, wie es ein kleineres Männchen bevorzugt? Um diese Frage zu beantworten, wurden mehrere Aquarien so nebeneinander gestellt, dass die Weibchen in einem größeren Aquarium schwammen, das an jedem Ende an ein kleineres stieß (Witte & Noltemeier, 2002). In der ersten Phase des Experiments wurde in das eine kleine Aquarium ein kleines, in das andere ein großes Männchen gesetzt. Wie Abbildung 11.5 zeigt, verbrachten die Weibchen sehr viel mehr Zeit in der Nähe der größeren Männchen. In der zweiten Phase wurde ein zweites Weibchen in ein zusätzliches kleines Aquarium gesetzt, so dass es vom großen Aquarium aus schien, als schwimme es in der Nähe des kleineren Männchens. Das ursprüngliche Weibchen hatte 20 Minuten Zeit, um das zweite Weibchen in der Gesellschaft des kleineren Männchens zu beobachten. In der Endphase schließlich entfernten die Experimentatoren das zweite Weibchen wieder und beobachteten erneut die Vorliebe des ursprünglichen Weibchens. Abbildung 11.5 zeigt, dass sich im zweiten Vorliebentest das ursprüngliche Muster insgesamt umgekehrt hatte. Das Breitflossenkärpfling-Weibchen verbrachte jetzt die meiste Zeit nahe dem kleineren Männchen.
Durchschnittszeit bei einem Männchen (Sekunden)
11.3 Sexualverhalten
Kleinere Männchen Größere Männchen
700 600 500 400 300 200 100 0 Erster Vorliebentest
Zweiter Vorliebentest
Abbildung 11.5: Partnerwahl bei den Weibchen des Breitflossenkärpflings (Poecilia latipinna). Die Forscher berechneten, wie lange die Weibchen in der Nähe größerer oder kleinerer Männchen schwammen. Im ersten Vorliebentest verbrachten die Weibchen sehr viel mehr Zeit nahe dem größeren Männchen. Danach beobachteten die ursprünglichen Weibchen 20 Minuten lang ein anderes Weibchen, das sich nahe dem kleineren Männchen aufhielt. Im zweiten Präferenztest, der anschließend stattfand, kehrten die ursprünglichen Weibchen ihr Verhaltensmuster um und verbrachten jetzt mehr Zeit in der Nähe des kleineren Männchens. Sind Sie überrascht, dass unschuldige Zierfische, die in Aquarien herumschwimmen, ihre Aufmerksamkeit darauf richten, welche anderen Fische als begehrenswert oder nicht begehrenswert eingeschätzt wurden? Dieses Experiment bildet den Übergang zu unserer Diskussion der menschlichen Sexualität. Wir werden bald sehen, dass nach Auffassung der Forscher menschliche sexuelle Verhaltensweisen ebenfalls durch unsere evolutionäre Entwicklung und durch die Vorlieben der Menschen um uns herum beeinflusst werden.
züglich der Häufigkeit und der Qualität sexueller Aktivitäten. Bei Männern ist das Hormon Testosteron für sexuelle Erregung und die Durchführung sexueller Aktivitäten notwendig. Die meisten gesunden Männer im Alter von 18 bis mindestens 60 Jahren verfügen über ausreichend Testosteron, um einen normalen Sexualtrieb zu erleben. Auch hier haben individuelle Unterschiede des Niveaus, in normalen Bereichen, keinen Einfluss auf das sexuelle Verhalten. Sexuelle Erregung beim Menschen ist ein motivationaler Zustand von Aufregung und Spannung, erzeugt durch physiologische und kognitive Reaktionen auf erotische Reize. Erotische Reize, körperlicher oder psychischer Natur, führen zu sexueller Erregung und Gefühlen der Leidenschaft. Durch erotische Reize hervorgerufene sexuelle Erregung wird durch sexuelle Aktivitäten, die von der Person als befriedigend wahrgenommen werden, verringert, insbesondere wenn sie zu einem Orgasmus führen. Forscher haben über Jahrzehnte hinweg sexuelle Praktiken und Verhaltensweisen bei Tieren untersucht, aber viele Jahre lang waren Studien ähnlicher Verhaltensweisen beim Menschen undenkbar. William Masters und Virginia Johnson (1966, 1970, 1979) haben erstmals mit diesem Tabu gebrochen. Sie legitimierten die Untersuchung der menschlichen Sexualität durch direkte Beobachtung und Aufzeichnung der physiologischen Muster menschlichen Sexualverhaltens unter Laborbedingungen. Dadurch untersuchten sie nicht, was Menschen über Sex aussagten, sondern wie Personen in sexueller Hinsicht tatsächlich reagierten und wie sie sich verhielten. Für ihre direkte Untersuchung der menschlichen Reaktionen auf sexuelle Reize führten Masters und Johnson kontrollierte Laborstudien durch und beobachteten Tausende freiwilliger Männer und Frauen während Zehntausender sexueller Reaktionszyklen
11.3.2 Sexuelle Erregung und Reaktionen beim Menschen Die hormonelle Aktivität, so wichtig sie bei anderen Spezies zur Steuerung sexueller Verhaltensweisen auch ist, hat bei den meisten Männern und Frauen wenig Einfluss auf ihre sexuelle Bereitschaft und Befriedigung (LeVay & Valente, 2002). Bei Frauen spielen Hormone eine wichtige Rolle bei der Steuerung des Eisprungs und der Menstruation. Individuelle Unterschiede im Hormonspiegel, innerhalb einer normalen Spannbreite, haben jedoch keine Vorhersagekraft be-
Wie legitimierten William Masters und Virginia Johnson die Erforschung der menschlichen Sexualität?
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von Geschlechtsverkehr und Masturbation. Vier der bedeutendsten Erkenntnisse dieser Forschung sind: (1) Männer und Frauen verfügen über ähnliche sexuelle Reaktionsmuster; (2) obwohl die Abfolge der Phasen innerhalb des sexuellen Reaktionszyklus bei beiden Geschlechtern ähnlich ist, sind Frauen variabler, neigen dazu, langsamer zu reagieren, bleiben jedoch länger erregt; (3) viele Frauen können mehrere Orgasmen erleben, was bei Männern im vergleichbaren Zeitraum selten vorkommt; (4) die Penisgröße hat im Allgemeinen keinen Bezug zu irgendeinem Aspekt sexueller Leistungsfähigkeit (außer auf die männliche Einstellung bezüglich eines großen Penis). Der menschliche sexuelle Reaktionszyklus ist durch vier Phasen charakterisiert: Erregung, Plateau, Orgasmus und Rückbildung ( Abbildung 11.6). In der Erregungsphase (die wenige Minuten oder länger als eine Stunde dauern kann) kommt es zu Blutgefäßerweiterungen in der Beckenregion. Der Penis erigiert und die Klitoris schwillt an; Blut und andere Körperflüssigkeiten werden in der Vagina und den Hoden angesammelt. Eine Errötung des Körpers, eine Hitzewallung, tritt ein. Während der Plateauphase wird ein maximales (jedoch variierendes) Erregungsniveau erreicht. Pulsrate, Atemfrequenz und Blutdruck erhöhen sich schnell, auch steigen die Abgabe von Drüsensekreten sowie die Muskelspannung der willkürlichen und der unwillkürlichen Muskulatur des gesamten Körpers. Die Menge an Vaginalflüssigkeit steigt und die Brüste schwellen an.
Während der Orgasmusphase empfinden Männer und Frauen ein intensives, angenehmes Gefühl der Befreiung von der sexuellen Spannung, die sich aufgebaut hat. Ein Orgasmus ist gekennzeichnet durch rhythmische Kontraktionen, die etwa alle 0,8 Sekunden im Genitalbereich auftreten. Atemfrequenz und Blutdruck erreichen sowohl bei Frauen als auch bei Männern ein sehr hohes Niveau, der Puls kann sich verdoppeln. Bei Männern führen pochende Kontraktionen zur Ejakulation, einer „Explosion“ der Samenflüssigkeit. Während der Rückbildungsphase kehrt der Körper allmählich auf das Erregungsniveau vor der Erregungsphase zurück. Puls und Blutdruck sinken. Nach einem Orgasmus gelangen Männer in eine Refraktärphase, die zwischen wenigen Minuten und mehreren Stunden andauern kann und während der kein weiterer Orgasmus möglich ist. Bei anhaltender Erregung sind manche Frauen zu mehreren Orgasmen in ziemlich kurzen Zeitabständen fähig. Obwohl sich die Forschung von Masters und Johnson auf die Physiologie sexueller Reaktionen konzentrierte, ist ihre vielleicht wichtigste Entdeckung die zentrale Bedeutung psychischer Prozesse sowohl für die Erregung als auch für die Befriedigung. Sie wiesen nach, dass Probleme im Bereich sexueller Reaktionen oft eher psychische denn körperliche Ursachen haben, die durch eine Therapie verändert oder überwunden werden können. Von spezieller Bedeutung ist die Unfähigkeit, den Reaktionszyklus zu beenden und zur Befriedigung zu gelangen. Oft liegt die Quelle dieser
Abbildung 11.6: Phasen menschlicher sexueller Reaktion. Die Phasen sexueller Reaktion beim Menschen zeigen bei Männern und Frauen einen ähnlichen Verlauf. Unterschiede liegen vor allem in der Zeit, die Männer und Frauen benötigen, um jede Phase zu erreichen, und in der größeren Wahrscheinlichkeit, mit der Frauen mehrere Orgasmen erreichen.
434
11.3 Sexualverhalten
Unfähigkeit in der Belastung durch persönliche Probleme, Angst vor den Folgen der sexuellen Handlung, Angst vor der Bewertung der sexuellen Leistungsfähigkeit durch den Partner, unbewusste Schuldgefühle oder negative Gedanken. Mangelhafte Ernährung, Ermüdung, Stress und exzessiver Genuss von Alkohol oder Drogen können den sexuellen Trieb und die sexuelle Leistungsfähigkeit jedoch ebenso vermindern. Wir haben nun einen Überblick über die körperlichen Aspekte menschlicher Sexualität und menschlicher Erregung gegeben. Wir haben jedoch noch nicht jene Kräfte betrachtet, die zur Entstehung unterschiedlicher sexueller Ausdrucksformen beitragen. Wir beginnen mit der Annahme, dass das Ziel der Fortpflanzung unterschiedliche sexuelle Verhaltensmuster bei Männern und Frauen bedingt.
11.3.3 Die Evolution des Sexualverhaltens Bei Tieren wurde, wie wir bereits gesehen haben, das sexuelle Verhaltensmuster weitgehend durch die Evolution bestimmt. Das Hauptziel ist die Fortpflanzung – die Arterhaltung – und das Sexualverhalten ist in starkem Maß ritualisiert und stereotypisiert. Kann das Gleiche von den allgemeinen sexuellen Verhaltensmustern der Menschen behauptet werden? Evolutionspsychologen haben die Vorstellung untersucht, dass dem Sexualverhalten von Männern und Frauen evolutionsbedingt unterschiedliche Strategien zugrunde liegen (Buss, 2004). Um diese Strategien zu beschreiben, wollen wir Ihnen zunächst einige Gegebenheiten der menschlichen Fortpflanzung ins Gedächtnis zurückrufen. Männer könnten sich Hunderte Male pro Jahr fortpflanzen, sofern sie nur genügend bereite Partner finden. Um ein Kind zu zeugen, benötigen sie nicht mehr als einen Teelöffel voll Samenflüssigkeit und ein paar Minuten Geschlechtsverkehr. Frauen können sich höchstens ungefähr einmal pro Jahr fortpflanzen, und jedes Kind benötigt dann in hohem Maß Zeit und Energie. (Tatsächlich liegt der Weltrekord der Geburtenzahl einer Frau bei knapp 50, Männer jedoch haben bereits viel mehr Kinder gezeugt. Ein marokkanischer Despot, König Ismail der Blutrünstige, hatte über 700 Kinder, und vom ersten Kaiser Chinas wird gesagt, er sei der Vater von über 3.000 Kindern gewesen; beide hatten große Harems.) Wenn demnach die Fortpflanzung das Ziel ist, sind die Eier die begrenzte Ressource, und Männer konkurrieren um Gelegenheit, sie befruchten zu dürfen. Das größte Problem, dem ein männliches Lebewesen ge-
genübersteht, besteht darin, die Anzahl seiner Nachkommenschaft zu maximieren, indem es sich mit der größtmöglichen Anzahl an Weibchen paart. Das größte Problem eines weiblichen Lebewesens ist jedoch, ein qualitativ hochwertiges Männchen zu finden, das den besten, gesündesten Nachwuchs aus ihrem begrenzten Eiervorrat garantiert. Zusätzlich brauchen menschliche Nachkommen so lange, um sich zu entwickeln, und sind in dieser Zeit so hilflos, dass ein erhebliches Maß elterlicher Fürsorge notwendig ist (Bell, 2001; Wright, 1994). Mütter und Väter müssen Zeit und Energie aufbringen, um den Nachwuchs groß zu ziehen – anders als Fische und Spinnen, die einfach ihre Eier ablegen und verschwinden. Frauen haben dementsprechend das Problem, nicht nur den größten, stärksten, schönsten, aufregendsten Mann mit dem höchsten Status auszuwählen, sondern ebenso den treuesten und engagiertesten Partner, der ihnen beim Großziehen ihrer Kinder hilft. Ein Evolutionspsychologe, David Buss (2004), hat vorgeschlagen, dass Frauen und Männer unterschiedliche Strategien, Gefühle und Motivationen für kurzfristige und langfristige Paarbindung entwickelten. Die männliche Strategie des Verführens und Verlassens – zuerst Treue und Hingabe signalisieren und dann verschwinden – ist eine kurzfristige Strategie. Die männliche Strategie, eine Beziehung mit einer Frau einzugehen und in den Nachwuchs zu investieren, ist eine langfristige Strategie. Die weibliche Strategie, einen treuen Mann an sich zu binden, der bleibt und beim Aufziehen der Kinder hilft, ist eine langfristige Strategie. Die weibliche Strategie zum Erwerb von Ressourcen oder von Männern mit hohem Status ist eine kurzfristige. Weil diese Behauptungen über die unterschiedlichen Strategien von Männern und Frauen auf evolutionären Analysen beruhen, hat die Forschung versucht, sie mit interkulturellen Vergleichsdaten zu stützen. So umfasste
Obwohl Sex die biologische Funktion der Fortpflanzung erfüllt, haben die meisten Menschen weit häufiger Sex, als sie sich fortpflanzen. Wie erklärt die evolutionäre Perspektive dennoch die heutigen sexuellen Strategien?
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AUS DER FORSCHUNG Um die Vorhersagen der Evolutionstheorie hinsichtlich der Eifersuchtserfahrungen bei Männern und Frauen zu überprüfen, bat ein Forscher männliche und weibliche Probanden, sich eine feste heterosexuelle Partnerschaft vorzustellen oder sich daran zu erinnern (Schützwohl, 2006). Die Teilnehmer sollten sich dann in folgendes Szenario versetzen (mit den jeweils auf das Geschlecht zutreffenden Begriffen): „Stellen Sie sich vor, dass Ihr Partner / Ihre Partnerin neuerdings oft spät nach Hause kommt. Auf Ihre Fragen hin gibt er/sie zu, dass er/sie sich mit einer anderen Frau / einem anderen Mann trifft.“ Die Teilnehmer erstellten dann eine Liste mit Fragen, die sie unter diesen Umständen Ihren Partnern stellen würden. Die Fragen der Probanden fielen unter mehrere Kategorien. Tabelle 11.2 zeigt die für die Evolutionstheorie relevanten Kategorien: Fragen nach dem emotionalen Einlassen und solche nach der sexuellen Untreue. Abbildung 11.7 zeigt den Prozentsatz an Männern und Frauen, die jeweils Fragen dieser Kategorie stellen wollten. Wie Sie sehen, dachten sich Frauen viel häufiger Fragen nach dem emotionalen Einlassen aus, Männer dagegen solche nach der sexuellen Untreue.
Scheint Ihnen dieses Muster von Ihren eigenen Erfahrungen mit Eifersucht her vertraut? Dieses Forschungsvorhaben demonstriert, wie wichtige Aspekte
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Tabelle 11.2
Fragen an eine untreue Partnerin / einen untreuen Partner Fragen zum emotionalen Einlassen partnerbezogen
Liebst du ihn/sie? Hast du dich in ihn/sie verliebt?
selbstbezogen
Liebst du mich noch? Liebst du mich nicht mehr?
Fragen zur sexuellen Hattet ihr Sex? Untreue Hast du mit ihm geschlafen? Adaptiert nach Achim Schützwohl: „Sex differences in jealousy: Information search and cognitive preoccupation“. Personality and Individual Differences, Science Direct online.
menschlichen Lebens von unserer Evolutionsgeschichte bestimmt werden können. Obwohl Forschungsarbeiten viele der Annahmen eines evolutionären Ansatzes des menschlichen Sexualverhaltens stützen, glauben andere Wissenschaftler, dass dieser Ansatz den Einfluss der Kultur bei weitem unterschätzt (Angier, 1999; Baumeister & Twenge, 2002). Frauen zeigen beispielsweise in der Erotik eine
Frauen Männer Prozentsatz der potenziellen Fragesteller
eine Studie beispielsweise über 16.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 52 Nationen (Schmitt, 2003). Die Männer und Frauen in dieser Studie machten Angaben über ihr Interesse an kurzzeitigen Sexualbeziehungen. Insgesamt zeigten die Männer dabei durchgängig ein größeres Interesse an sexueller Abwechslung als die Frauen. Dieses Ergebnis unterstützt die evolutionär begründete Behauptung, dass die verschiedenen Rollen von Männern und Frauen bei der Fortpflanzung ihr Sexualverhalten beeinflussen. Forscher führten vielfältige Arten von Belegen an, um die Vorhersagen der Evolutionstheorie zu unterstützen. Überlegen Sie, wie die unterschiedlichen Paarungsstrategien von Männern und Frauen verschiedene Erfahrungen mit Eifersucht erzeugen könnten. Nach der Evolutionstheorie sollte eine Frau eifersüchtig werden, wenn sie ihren Partner verdächtigt, nicht mehr länger bereit zu sein, die notwendige Versorgung zum Aufziehen der Kinder bereitzustellen – diese Sorgen konzentrieren sich auf das emotionale Einlassen. Im Gegensatz dazu sollte ein Mann eifersüchtig werden, wenn er den Verdacht hegt, mit Kindern belastet zu werden, die genetisch nicht von ihm abstammen – diese Sorgen konzentrieren sich auf die sexuelle Untreue.
60 50 40 30 20 10 0
Partnerbezogen
Selbstbezogen
Sexuelle Untreue
Emotionales Einlassen Abbildung 11.7: Geschlechtsunterschiede bei Eifersucht. Heterosexuelle Männer und Frauen schrieben Fragen auf, die sie bei Untreue ihren Partnern stellen würden. Frauen dachten sich eher Fragen aus, die mit dem emotionalen Einlassen zu tun hatten, Männer dagegen eher solche über sexuelle Untreue. Adaptiert nach Achim Schützwohl: „Sex differences in jealousy: Information search and cognitive preoccupation“. Personality and Individual Differences, Science Direct online.
11.3 Sexualverhalten
Tabelle 11.3
Sexuelle Erfahrungen der Abschlussjahrgänge 1950, 1975 und 2000 Wie intensiv haben Sie in der Highschool-Zeit Geschlechtsverkehr, Empfängnisverhütung, Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaft mit Ihren Eltern/Ihrer Familie besprochen? 1950
1975
2000
Wir haben nie über Sex gesprochen.
65 %
50 %
15 %
Wir haben gelegentlich über Sex gesprochen.
25 %
41 %
45 %
Wir haben oft/regelmäßig über Sex gesprochen.
10 %
9%
40 %
Welche Aussage beschreibt Ihre sexuelle Erfahrung in der High School am besten? 1950
1975
2000
Ich habe nicht an Sex gedacht.
25 %
2%
6%
Ich habe jemanden geküsst.
41 %
9%
3%
Ich habe mit jemandem „geknutscht und gefummelt“. 10 %
24 %
22 %
Ich hatte ein- bis dreimal Sex.
8%
13 %
11 %
Ich hatte öfter als dreimal Sex.
16 %
52 %
58 %
52,32* χ²
88,24* χ²
*p << 0,01 Adaptiert nach Sandra L. Caron and Eilean G.Moskey: „Changes over time in teenage sexual relationships: Comparing the high school class of 1950, 1975, and 2000“. University of Maine.
größere Flexibilität als Männer: Sie variieren in ihren sexuellen Reaktionen und Verhaltensweisen stärker als Männer (Baumeister, 2000). Diese Variationen scheinen zu einem großen Teil die Folge kultureller Einschränkungen zu sein (Hyde & Durik, 2000). Denken Sie an die „sexuelle Revolution“ der 60er Jahre: Veränderungen des Sexualverhaltens wurden durch die wachsende Bereitschaft der Frauen, sich auf flüchtige sexuelle Beziehungen einzulassen, ausgelöst. Hier hatte sich selbstverständlich nicht die evolutionäre Geschichte der Frauen geändert, sondern die kulturellen Haltungen gegenüber dem Ausdruck von Sexualität. Obwohl der evolutionäre Ansatz manche Aspekte des menschlichen Sexualverhaltens erklärt, fordern Kritiker mehr Aufmerksamkeit für die kulturbedingte Variabilität. Normen sexueller Verhaltensweisen sind sehr empfindlich gegenüber Raum und Zeit. Wir wenden uns nun den sexuellen Normen zu.
11.3.4 Sexuelle Normen Wie sieht das durchschnittliche Sexleben aus? Wissenschaftliche Untersuchungen des menschlichen Se-
xualverhaltens erhielten ihren ersten wichtigen Impuls durch die Arbeit von Alfred Kinsey und seinen Kollegen, die in den 1940ern (1948, 1953) begann. Sie führten 17.000 Interviews mit Amerikanern über ihr Sexualverhalten durch und entdeckten – zum allgemeinen Entsetzen der Öffentlichkeit –, dass bestimmte Verhaltensweisen, die bisher als selten oder sogar abweichend betrachtet wurden, eigentlich ziemlich weit verbreitet waren – zumindest, wenn man den Angaben Glauben schenkt. Die Normen für sexuelles Verhalten haben sich über die Jahre geändert, teilweise auch wegen des wissenschaftlichen Fortschritts. So gab zum Beispiel die Einführung der Pille zur Empfäng-nisverhütung in den frühen sechziger Jahren den Frauen mehr sexuelle Freiheit, weil sie die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft verringerte. Die Einführung von Viagra 1998 ermöglichte es Männern, den Zeitraum ihrer sexuellen Aktivität zu verlängern. Neben dem Einfluss der Wissenschaft gibt es einen allgemeinen Trend in vielen Kulturen zu einer offeneren Diskussion sexueller Fragen. Tabelle 11.3 listet die Daten einer Studie auf, in der Angehörige der Abschlussjahrgänge 1950, 1975 und 2000 derselben Highschool im Nordosten der Vereinigten
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Staaten über ihre sexuellen Erfahrungen an der Highschool befragt wurden (Caron & Moskey, 2002). Sie sehen, dass es generelle Trends gibt, sich offener mit der Familie über sexuelle Fragen zu besprechen, während sich gleichzeitig die tatsächlichen sexuellen Erfahrungen vermehrt haben. Solche sexuellen Normen sind Teile dessen, was wir als Mitglieder einer Kultur erwerben. Wir haben bereits angenommen, dass manche „männlichen“ und „weiblichen“ Aspekte des Sexualverhaltens Ergebnisse der Evolution der menschlichen Spezies sein könnten. Dennoch definieren unterschiedliche Kulturen die Bandbreite des Verhaltens, das als passend für den Ausdruck sexueller Impulse empfunden wird. Skripte des Sexualverhaltens sind sozial vermittelte Programme sexueller Reagibilität, welche unausgesprochene Vorschriften enthalten, wie man sich verhalten soll; wann, wo und wie es getan werden soll; mit wem oder womit; warum und aus welchem Anlass (Gagnon, 1995; Mahay et al., 2001). Im Laufe Ihres Lebens werden verschiedene Aspekte dieser Skripte durch soziale Interaktionen angesammelt. Die in Ihrem sexuellen Skript niedergelegten Einstellungen und Werte stellen eine externale Quelle sexueller Motivation dar: Das Skript schlägt jene Verhaltensweisen vor, die Sie ausführen könnten oder sollten. Skripte sind Kombinationen von Vorschriften, entwickelt anhand sozialer Normen (was passend und akzeptiert ist), persönlicher Erwartungen und präferierter Verhaltenssequenzen vergangener Lernerfahrungen. Ihr sexuelles Skript umfasst Szenarien dessen, was Sie Ihrerseits als angemessen empfinden, wie auch Szenarien Ihrer Erwartungen an einen Sexualpartner. Wenn sie nicht erkannt, besprochen oder aufeinander abgestimmt werden, können unterschiedliche Skripte zu Anpassungsproblemen zwischen den Partner führen. Lassen Sie uns unsere Aufmerksamkeit spezifischer auf das Sexualverhalten von Studierenden richten. Wissenschaftler haben sich schon oft für das Verständnis sexuellen Risikoverhaltens interessiert – Bedingungen, unter denen sich Personen auf sexuelle Kontakte einlassen und dabei das Risiko einer Schwangerschaft oder einer sexuell übertragbaren Krankheit ignorieren. Nach unserer Diskussion der Evolution von Unterschieden im Sexualverhalten sind Sie wahrscheinlich nicht überrascht, dass insgesamt mehr Männer als Frauen dieses Risikoverhalten zeigen (Poppen, 1995). In einer Stichprobe von Studierenden haben mehr Männer als Frauen berichtet, dass sie zum Kennenlernen möglicher Sexualpartner in Kneipen gehen (77 vs. 14 Prozent) und dass sie Sex mit
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jemandem hatten, den sie gerade erst kennen gelernt hatten (47 vs. 24 Prozent). Zusätzlich haben etwas mehr Männer als Frauen über Geschlechtsverkehr berichtet, ohne dass sie Maßnahmen der Schwangerschaftsverhütung ergriffen hätten (78 vs. 64 Prozent). Das Studium der sexuellen Erfahrung von Collegestudierenden hat noch ein anderes Gebiet gezeigt, auf dem männliche und weibliche Skripte des Sexualverhaltens in einen verheerenden Konflikt treten: Vergewaltigung. In einer Studie wurden 4.446 Frauen an 2- und 4-Jahres-Colleges und Universitäten über ihre Erfahrungen mit sexueller Aggression in 7 Monaten eines Schuljahres befragt (Fisher et al., 2000). In diesem Bezugszeitraum hatten 1,1 Prozent der befragten Frauen eine versuchte und 1,7 Prozent eine vollendete Vergewaltigung erlebt. Die Forscher rechneten diese Zahlen hoch, um die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit der eine Frau während ihrer Collegezeit eine versuchte oder vollendete Vergewaltigung erleben würde: Sie schlossen, dass der Anteil der Opfer auf 20 bis 25 Prozent steigen könnte. Die Forscher beschäftigten sich auch mit einer speziellen Form der Vergewaltigung, dem so genannten date rape. Date rape liegt vor, wenn jemand vom Begleiter einer Verabredung zu sexueller Aktivität gezwungen wird. In der gegebenen Beispielgruppe von Frauen ereigneten sich 12,8 Prozent der vollendeten und 35,0 Prozent der versuchten Vergewaltigungen während einer Verabredung (date). Danach befragt, wer für ein date rape die Verantwortung trage, neigten Männer eher als Frauen dazu, dem Opfer (das heißt, der vergewaltigten Frau) die Verantwortung anzulasten (Bell et al., 1994; Ryckman et al., 1998). Studien über Vergewaltigungen bei Verabredungen zeigen, dass sich die sexuellen Skripte von Frauen und Männern in starkem Maß hinsichtlich der Interpretation scheinbaren Widerstands unterscheiden – jenes schwachen Widerstands, den eine Frau trotz ihrer Intention, letztendlich dem Geschlechtsverkehr zuzustimmen, gegenüber sexueller Annäherung zeigt. Sehr wenige Frauen – etwa 5 Prozent – geben an, scheinbaren Widerstand zu zeigen, aber 60 Prozent der Männer sagen, dass sie zumindest einmal mit scheinbarem Widerstand konfrontiert waren (Marx & Gross, 1995). Der Unterschied zwischen diesen beiden Zahlen beinhaltet wahrscheinlich zahlreiche Vorfälle von erzwungener Sexualität bei Verabredungen. Forschungsergebnisse legen nahe, dass manche Männer die Auffassung vertreten, scheinbarer Widerstand sei Teil des sexuellen Spiels; Widerstand signalisiere kein tatsächliches Unbehagen seitens der Frau. Es ist wichtig für Männer zu begreifen, dass Frauen tatsächlich
11.3 Sexualverhalten
Wie können Fälle sexueller Belästigung durch konfligierende Skripte des Sexualverhaltens entstehen? nur sehr selten angeben, dieses Spiel zu spielen – der Widerstand ist echt. Im Verlauf unserer bisherigen Darstellung sexueller Motivation haben wir eine wichtige Kategorie sexueller Erfahrung ignoriert: Homosexualität. Wir schließen diesen Abschnitt über die sexuelle Motivation mit einer Diskussion über homosexuelle Männer und Frauen ab. Diese Diskussion gibt uns eine weitere Gelegenheit zu sehen, in welcher Weise das Sexualverhalten durch das Zusammenspiel von internalen und externalen motivationalen Kräften kontrolliert wird.
11.3.5 Homosexualität Unsere Diskussion hat sich bisher auf jene Motivation konzentriert, die bei Menschen die Ausführung bestimmter sexueller Verhaltensweisen verursacht. In demselben Kontext können wir die Existenz der Homosexualität behandeln. Wir werden Homosexualität nicht als eine Reihe von Verhaltensweisen darstellen, die durch eine Abweichung von der Heterosexualität „verursacht“ wird. Vielmehr sollte unsere Diskussion der sexuellen Motivation erkennen lassen, dass jede Form sexuellen Verhaltens „verursacht“ ist. Aus dieser Perspektive heraus resultieren Homosexualität
und Heterosexualität aus ähnlichen motivationalen Kräften. Keine der beiden sexuellen Präferenzen repräsentiert eine motivierte Abweichung von der jeweils anderen. In den meisten Überblicksarbeiten zu sexuellen Verhaltensweisen wurde versucht, das Vorkommen von Homosexualität möglichst genau zu schätzen. In seinen ersten Forschungsarbeiten hat Alfred Kinsey herausgefunden, dass 37 Prozent der Männer in seiner Stichprobe zumindest homosexuelle Erfahrungen gemacht hatten und dass etwa 4 Prozent ausschließlich homosexuell lebten (die Prozentzahlen der Frauen waren etwas niedriger). Eine größere Studie fand heraus, dass etwa 4 Prozent der Frauen in ihrer Stichprobe sich von Personen desselben Geschlechts sexuell angezogen fühlten. Jedoch hatten nur 2 Prozent der Stichprobe im vergangenen Jahr tatsächlich Sex mit einer anderen Frau. Ähnlich sah es bei den Männern aus. Sechs Prozent der Männer in ihrer Befragung fühlten sich von anderen Männern sexuell angezogen, aber auch hier hatten nur 2 Prozent der Stichprobe im vergangenen Jahr Sex mit einem anderen Mann (Michael et al., 1994). In einer aktuellen Studie an über 2.000 Erwachsenen in den Vereinigten Staaten berichteten 3,2 Prozent der Männer und 2,5 Prozent der Frauen von gleichgeschlechtlicher Aktivität im vergangenen Jahr (Turner et al., 2005). Sind diese Zahlen korrekt? Solange es gesellschaftliche Ressentiments gegen das Ausleben homosexueller Wünsche gibt, können, bedingt durch die Abneigung der Menschen, sich den Forschern anzuvertrauen, keine genauen Schätzungen des Vorkommens von Homosexualität erhalten werden. In diesem Abschnitt betrachten wir die Ursprünge von Homosexualität und Heterosexualität. Ebenso geben wir einen Überblick über die Forschungsarbeiten zu gesellschaftlichen und persönlichen Einstellungen gegenüber homosexuellen Verhaltensweisen. Anlage und Umwelt bei Homosexualität Nach unserer Diskussion der Evolution und des Sexualverhaltens sollte es Sie nicht überraschen, dass die sexuelle Präferenz, nach Lage der Forschungsergebnisse, eine genetische Komponente besitzt. Wie es häufig der Fall ist, kommen Forscher zu dieser Annahme aufgrund von Studien über die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen (die genetisch identisch sind) und zweieiigen Zwillingen (die, wie normale Geschwister auch, die Hälfte ihrer Gene teilen). Wenn beide Zwillinge dieselbe sexuelle Orientierung aufweisen – homosexuell oder heterosexuell – bezeichnet
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man sie als konkordant. Ist einer der Zwillinge homosexuell und der andere heterosexuell, dann sind sie diskordant. Studien sowohl über schwule Männer als auch über lesbische Frauen zeigten, dass es eine wesentlich höhere Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen gibt als bei zweieiigen Zwillingen (Rahman & Wilson, 2003). So stimmten in einer Gruppe von etwa 750 Zwillingspaaren 32 Prozent der eineiigen Zwillinge, aber nur 8 Prozent der zweieiigen Zwillinge hinsichtlich ihrer gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung überein (Kendler et al., 2000). Obwohl es stimmen kann, dass eineiige Zwillinge auch in einander ähnlicheren Umgebungen als zweieiige Zwillinge aufwachsen – also von ihren Eltern „gleicher“ behandelt werden –, legt dieses Muster doch stark nahe, dass Sexualität teilweise genetisch bedingt sein kann. Mit diesem Wissen versehen haben Forscher begonnen, nach den Gensequenzen zu suchen, die möglicherweise die Entwicklung von Homo- oder Heterosexualität kontrollieren (Hyde, 2005). Bestimmt demnach die Biologie unser sexuelles Schicksal? Weiterführende Forschung kann diese Ansicht stärken oder schwächen, aber es scheint klar, dass manche Aspekte der Homosexualität und der Heterosexualität als Reaktion auf rein biologische Faktoren auftreten.
Der Sozialpsychologe Daryl Bem (1996, 2000) hat vorgeschlagen, dass sich die Biologie nicht direkt auf die sexuelle Orientierung auswirkt, sondern über die Beeinflussung der Temperamente und Tätigkeiten junger Kinder eher indirekt eingreift. Erinnern Sie sich an Kapitel 10. Dort wurde von Forschern darauf hingewiesen, dass Jungen und Mädchen sich für unterschiedliche Aktivitäten interessieren – Spielaktivitäten von Jungen beispielsweise sind tendenziell rauer und wilder. Nach Bems Theorie hängt es davon ab, inwieweit Kinder ein Spielverhalten aufweisen, das für ihr Geschlecht typisch oder eher atypisch ist, ob sie sich ihrem eigenen Geschlecht oder dem Gegengeschlecht unähnlich fühlen. In Bems Theorie wird „exotisch zu erotisch“: Gefühle der Unähnlichkeit führen zu emotionaler Erregung; im Laufe der Zeit wird diese Erregung in erotische Anziehung transformiert. Wenn beispielsweise ein junges Mädchen sich anderen Mädchen nicht ähnlich fühlt, weil es nicht an Aktivitäten teilhaben möchte, die typisch für Mädchen sind, wird sich im Laufe der Zeit diese Erregung in homosexuelle Gefühle umwandeln. Beachten Sie, dass Bems Theorie die Annahme unterstützt, dass Homosexualität und Heterosexualität durch dieselben ursächlichen Faktoren entstehen: In beiden Fällen wird jenes Geschlecht im Laufe der Zeit erotisiert, welches das Kind als unähnlich wahrnimmt. Gesellschaft und Homosexualität
Welche Befunde tragen zu der Annahme bei, dass die sexuelle Orientierung eine genetische Komponente besitzt?
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Nehmen wir an, Bem läge mit seiner Annahme richtig, dass Kindheitserfahrungen einen enormen Einfluss haben. Folgt jeder den Bedürfnissen, deren Ursprung in der Kindheit liegt? Was Homosexualität vielleicht am meisten von Heterosexualität abgrenzt, ist die fortdauernde Feindlichkeit gegenüber homosexuellen Verhaltensweisen in vielen Bereichen der Gesellschaft. In einer Studie wurden 1.335 heterosexuelle Männer und Frauen befragt, wie unwohl sie sich in Gesellschaft eines „Mannes, der homosexuell ist“ oder „einer Frau, die lesbisch ist“ fühlen würden (Herek, 2002). Abbildung 11.8 zeigt den Prozentsatz, der mit „ein bisschen“ oder „sehr“ unwohl antwortete. Sie sehen, dass sowohl Männer als auch Frauen mehr Unbehagen in der Gegenwart von Homosexuellen des eigenen Geschlechts erwarten. Wissenschaftler bezeichnen eine starke negative Einstellung gegenüber homosexuellen Menschen als Homophobie. Die meisten Homosexuellen realisieren, dass ihre Motivation zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen in einem feindlichen gesellschaftlichen Umfeld der Homophobie stattfindet. Die Forschung hat gezeigt, dass
11.3 Sexualverhalten
Männliche Befragte Weibliche Befragte 50
Prozent
40 30 20 10 0
Schwuler Mann
Lesbische Frau
Abbildung 11.8: Einstellungen zur Homosexualität. Die Teilnehmer wurden gefragt, wie unwohl sie sich in Gesellschaft „eines Mannes, der homosexuell ist“ oder „einer Frau, die lesbisch ist“ fühlen würden. Die Grafik zeigt den Prozentsatz von Männern und Frauen, die antworteten, dass sie sich „ein bisschen“ oder „sehr“ unwohl fühlen würden (nach Herek 2002).
viele Menschen beginnen, diese Gefühle bereits im frühen Alter zu erkennen. So fragten Forscher zum Beispiel Studierende aus dem Südosten der Vereinigten Staaten, die an einer Konferenz schwuler, lesbischer, bisexueller und transsexueller Jugendlicher teilnahmen, nach dem Alter, in dem sie sich ihrer sexuellen Orientierung bewusst geworden waren (Maguen et al., 2002). Unter den schwulen Männern war das Durchschnittsalter 9,6 Jahre, bei den Lesbierinnen betrug es 10,9 Jahre. Die Männer berichteten von gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakten mit 14,9 Jahren und die Frauen mit 16,7 Jahren. Diese Daten weisen darauf hin, dass viele Menschen sich einer gleichgeschlechtlichen Orientierung bereits in einem Alter bewusst werden, in dem sie sich noch in einer schulischen Umgebung behaupten müssen, die der Homosexualität oft ziemlich feindselig gegenüber steht (D‘Augelli et al., 2002). Darüber hinaus müssen homosexuelle Jugendliche oft die schwierige Entscheidung treffen, ob sie ihre Orientierung den Eltern offenbaren. Die meisten Heranwachsenden sind von ihren Eltern sowohl emotional als auch finanziell abhängig; sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen, bedeutet, möglicherweise beide Arten von Unterstützung zu verlieren. Tatsächlich hängt Ablehnung durch die Eltern mit vermehrten Selbstmordversuchen zusammen (D‘Augelli et al., 2001). Diese Ergebnisse für Heranwachsende unterstreichen die Tatsache, dass die meisten homosexuellen Männer und Frauen Homophobie als psychisch belastender empfinden als die Homosexualität selbst. 1973 votierte die American Psychiatric Association dafür,
Homosexualität von der Liste psychischer Störungen zu streichen; die American Psychological Association folgte 1975 (Morin & Rothblum, 1991). Diese Entscheidung wurde durch Forschungsergebnisse vorangetrieben, dass die meisten homosexuellen Männer und Frauen tatsächlich glücklich und produktiv sind. Die heutige Forschung legt nahe, dass ein Großteil des mit Homosexualität verbundenen Stresses nicht von der sexuellen Ausrichtung selbst verursacht wird – Homosexuelle sind glücklich mit ihrer Orientierung –, sondern davon, wie andere Menschen auf die Enthüllung dieser sexuellen Ausrichtung reagieren. Die mit ihrer Homosexualität verbundenen Ängste der Betroffenen werden zum großen Teil nicht von der Homosexualität hervorgerufen, sondern von dem andauernden Entscheidungszwang, ihre sexuelle Identität vor Familie, Freunden und Kollegen entweder zu offenbaren („Coming-out“) oder zu verheimlichen („Stay in the closet“) (D‘Augelli et al., 2005). Allgemein gesagt leiden Homosexuelle, weil sie nicht offen über ihr Leben sprechen können (Lewis et al., 2006). Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, verbringen homosexuelle ebenso wie heterosexuelle Menschen viel Zeit damit, sich darum zu sorgen, wie sie liebevolle Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten können. Der Bereitschaft homosexueller Männer und Frauen, ihre sexuelle Orientierung zu enthüllen (man denke zum Beispiel an „Ich bin schwul, und das ist gut so“), kann ein erster Schritt zur Verringerung der gesellschaftlichen Feindseligkeit sein. Forschungsergebnisse zeigen, dass die Einstellungen der Menschen gegenüber homosexuellen Männern und Frauen wesentlich weniger negativ sind, wenn sie tatsächlich Menschen dieser Gruppierungen kennen; tatsächlich ist es so, dass die Einstellung einer Person im Durchschnitt umso positiver ist, je mehr homosexuelle Männer und Frauen sie kennt (Herek & Capitanio, 1996). (Wenn wir uns in Kapitel 17 mit Vorurteilen beschäftigen, werden wir ein weiteres Mal sehen, dass Erfahrungen mit Mitgliedern einer Minderheit zu positiveren Einstellungen führen können.) Kennen Sie homosexuelle oder bisexuelle Menschen? Sind Sie selbst homosexuell oder bisexuell? Wie haben sich die Einstellungen Ihrer Mitmenschen verändert oder wie würden sie sich wahrscheinlich verändern, wenn sie wüssten, dass Sie homosexuell sind? Dieser kurze Überblick über die Homosexualität erlaubt uns, unsere wichtigste Schlussfolgerung über die Motivation menschlicher Sexualität zu bestärken. Manche Antriebe sexueller Verhaltensweisen sind internal – Vererbung und Evolution bieten internale Modelle sowohl heterosexuellen als auch homosexuellen
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Verhaltens. Aber auch externale Umwelteinflüsse tragen zur sexuellen Motivation bei. Wir lernen, bestimmte Reize als verlockend und manche Verhaltensweisen als kulturell akzeptabel wahrzunehmen. Im Fall der Homosexualität können äußere gesellschaftliche Normen in Konflikt mit den inneren Vorgaben der Natur stehen. Kommen wir nun zu einem dritten Beispiel wichtiger Motivation: den Kräften, die einer Person den Weg zu relativem Erfolg oder Misserfolg bahnen.
ZWISCHENBILANZ 1 Was versteht man unter stereotypem Sexualverhalten?
nur vom Ufer aus beklagenswert hinterherwinken? Sie werden wahrscheinlich manche dieser Unterschiede auf genetische Faktoren wie die Körperform zurückführen, und Sie liegen damit richtig. Aber Sie werden ebenso wissen, dass manche Menschen ein viel größeres Interesse daran haben als andere, den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Also sind wir wieder bei einem der wichtigsten Gründe unserer Untersuchung der Motivation angelangt. Wir möchten an dieser Stelle die motivationalen Faktoren verstehen, die bei unterschiedlichen Menschen dazu führen, dass sie unterschiedliche Niveaus persönlicher Leistung anstreben. Betrachten wir zunächst das Konstrukt, das „Leistungsmotiv“ genannt wird.
2 Welche vier Phasen unterschieden Masters und Johnson
in der menschlichen Sexualreaktion? 3 Warum streben Männer laut den Theorien zur Evolution
nach mehr sexueller Abwechslung als Frauen? 4 Was sind Skripte des Sexualverhaltens? 5 Was ergibt die Zwillingsforschung hinsichtlich der Erb-
lichkeit von Homosexualität? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie über Eifersucht bei Männern und Frauen. Warum war es wichtig, die Fragenkategorie über emotionales Einlassen in kleinere Kategorien aufzuteilen, die sich auf einen selbst und den Partner bezogen?
Leistungsmotivation
11.4
Warum sind manche Menschen erfolgreich, während andere, relativ betrachtet, versagen? Warum sind beispielsweise manche Menschen dazu in der Lage, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, während andere
Diese Menschen nehmen an den Paralympics teil. Wie kann Motivation die Variabilität zwischen Menschen erklären – beispielsweise die Tatsache, dass manche Menschen in Wettkämpfen besser abschneiden als andere?
442
11.4.1 Das Leistungsmotiv Bereits 1938 postulierte Henry Murray ein Leistungsmotiv, das bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist und ihre Neigung beeinflusst, Erfolg anzustreben und ihre eigene Leistung zu bewerten. David McClelland und seine Kollegen (1953) entwickelten ein Messinstrument, das die Stärke dieses Motivs erfasst. Sie untersuchten, inwieweit die Ausprägung des Leistungsmotivs in unterschiedlichen Gesellschaften mit den Umständen zusammenhängt, die seine Entstehung unterstützten, und inwieweit sich Auswirkungen in der Arbeitswelt zeigen. Um die Stärke des Leistungsmotivs abschätzen zu können, nutzte McClelland die Phantasie der Teilnehmenden. Bei der Durchführung des Thematischen Apperzeptionstests (TAT) werden die Teilnehmenden aufgefordert, als Reaktion auf eine Reihe von mehrdeutigen Zeichnungen Geschichten zu erfinden. Den Teilnehmenden wurden Bilder vorgelegt und sie sollten Geschichten über sie entwickeln – sie sollten erzählen, was auf dem Bild passiert, und mögliche Ergebnisse beschreiben. Vermutlich projizierten sie in die Szenen Reflexionen ihrer eigenen Werte, Interessen und Motive. Nach McClelland: „Wenn Sie wissen möchten, was im Kopf eines Menschen vor sich geht, fragen Sie ihn nicht, denn er kann es Ihnen nicht immer genau sagen. Studieren Sie seine Phantasien und Träume. Wenn Sie diese über einen längeren Zeitraum untersuchen, werden Sie jene Themen entdecken, mit denen er sich immer und immer wieder beschäftigt. Diese Themen könnten dazu verwendet werden, seine Handlungen zu erklären ...“ (McClelland, 1971, S. 5). Aus den Antworten der Teilnehmenden zu einer Reihe von TAT-Bildern erarbeitete McClelland Maße verschiedener menschlicher Motive wie das Macht-
11.4 Leistungsmotivation
motiv, das Anschlussmotiv und das Leistungsmotiv. Das Leistungsmotiv wurde als nAch (need for achievement) bezeichnet. Es gibt interindividuelle Unterschiede dafür an, welche Bedeutung Planung und das Anstreben eines persönlichen Ziels haben. Abbildung 11.9 zeigt ein Beispiel, wie eine Person mit einem hohen und eine Person mit einem niedrigen nAchWert ein TAT-Bild interpretieren könnten. Die Nützlichkeit des Messverfahrens wurde sowohl in Laboruntersuchungen als auch in realen Kontexten bestätigt. Personen mit einem hohen nAch-Wert weisen beispielsweise eine höhere vertikale Mobilität auf als jene
mit einer geringen Ausprägung; bei Söhnen mit einem hohen nAch-Wert ist es wahrscheinlicher, dass sie einen höheren beruflichen Status als ihr Vater erreichen, als dies bei Söhnen mit niedrigem nAch-Wert der Fall ist (McClelland et al., 1976). Männer und Frauen im Alter von 31 Jahren mit einem hohen nAch-Wert haben tendenziell ein höheres Gehalt als Männer und Frauen im Alter von 41 Jahren mit einem geringen nAch-Wert (McClelland & Franz, 1992). Weisen diese Befunde darauf hin, dass Personen mit einem hohen nAch-Wert immer bereit sind, härter zu arbeiten? Nicht wirklich. Wenn sie eine Aufgabe bewältigen sollen, von der man sie glauben lässt, sie sei schwierig, geben sie schneller auf (Feather, 1961). Was Menschen mit einem hohen nAch-Wert tatsächlich auszeichnet, ist ein Bedürfnis nach Effizienz – ein Bedürfnis, mit geringerem Aufwand dasselbe Ergebnis zu erzielen. Wenn sie mehr verdienen als andere Personen ihrer Altersklasse, könnte das daran liegen, dass sie viel Wert auf eine konkrete Rückmeldung legen, wie gut sie ihre Aufgabe erfüllen. Als Maßeinheit für Fortschritt ist das Gehalt sehr konkret (McClelland, 1961; McClelland & Franz, 1992). Wie entsteht ein starkes Leistungsmotiv? Forscher haben untersucht, ob der elterliche Erziehungsstil zu einem hohen oder niedrigen Leistungsmotiv führen kann. Die Daten entstammen einer Längsschnittstudie an einer Gruppe von Kindern aus der Umgebung von Boston.
AUS DER FORSCHUNG
Abbildung 11.9: Alternative Interpretationen eines TATBildes. Eine Geschichte, die einen hohen nAch-Wert zeigt: Der Junge hat gerade seine Geigenstunde beendet. Er freut sich über seine Fortschritte und beginnt zu glauben, dass seine Fortschritte die Opfer wert sind. Um ein Konzertviolinist zu werden, wird er vieles von seinem sozialen Leben aufgeben müssen, um täglich viele Stunden zu üben. Obwohl er weiß, dass er mehr Geld verdienen würde, wenn er das Geschäft seines Vaters übernähme, interessiert es ihn mehr, ein großer Geiger zu werden und den Menschen mit seiner Musik Freude zu bringen. Er steht zu seiner persönlichen Verpflichtung, alles zu tun, was dafür notwendig ist. Eine Geschichte, die einen niedrigen nAch-Wert zeigt: Dieser Junge hält die Geige seines Bruders und wünscht sich, er könnte spielen. Aber er weiß, dass dies weder die Zeit, die Mühe noch das Geld für die Stunden wert ist. Sein Bruder tut im Leid, denn er hat all die schönen Dinge in seinem Leben aufgegeben, um zu üben, üben, üben. Es wäre toll, eines Tages aufzuwachen und ein erstklassiger Musiker zu sein, aber so funktioniert es nicht. Die Wirklichkeit bedeutet langweiliges Üben, kein Spaß und die große Wahrscheinlichkeit, irgendwann einmal nicht mehr zu sein als einer von vielen Musikern in einer kleinstädtischen Musikgruppe.
David McClelland und Carol Franz (1992) verglichen verschiedene Erziehungsstile. Die Daten wurden 1951 erhoben, als die Kinder etwa fünf Jahre alt waren. Später wurden nAch-Werte und Einkommen der Personen im Alter von 41 Jahren erfasst. 1951 wurden die Eltern gebeten, über ihre Erziehungsmethoden hinsichtlich der Sauberkeitserziehung und der Ernährung zu berichten. McClelland und Franz beurteilten Kinder als in hohem Maß mit Leistungsdruck erzogen, wenn ihre Eltern sie nach strengen Regeln sowohl ernährten als auch zur Sauberkeit erzogen. Insgesamt zeigte sich eine positive Korrelation zwischen dem frühen elterlichen Leistungsdruck und dem späteren nAch-Wert der Erwachsenen. Zusätzlich zeigte sich, dass Kinder, die in hohem Maß Leistungsdruck erfuhren, etwa 10.000 Dollar im Jahr mehr verdienten als jene, die einen solchen Druck nur in geringem Maß erfuhren.
Diese Daten legen nahe, dass das Ausmaß Ihres Leistungsmotivs bereits in Ihren ersten Lebensjahren festgelegt wird.
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11.4.2 Attribution von Erfolg und Misserfolg Das Leistungsmotiv ist nicht die einzige Variable, die einen Einfluss auf die Motivation von persönlichem Erfolg hat. Lassen Sie uns mit einem hypothetischen Beispiel beginnen, um den Grund dafür zu erkennen. Angenommen, Sie haben zwei Freunde, die mit Ihnen im selben Semester studieren. In der Klausur zur Semestermitte erhalten beide die Note 3. Glauben Sie, sie wären beide gleichermaßen motiviert, hart für die Klausur zum Semesterende zu arbeiten? Zum Teil wird die Antwort davon abhängen, wie diese beiden sich selbst die Note erklären. Betrachten wir beispielsweise die Bedeutung der Kontrollorientierung (Rotter, 1954). Die Kontrollorientierung beinhaltet die Überzeugung, ob das erzielte Ergebnis Ihrer Handlung dadurch bedingt ist, was Sie tun (internale Kontrollorientierung), oder ob es durch Umweltfaktoren bedingt ist (externale Kontrollorientierung). Im Fall der Note 3 könnten Ihre Freunde ihre Leistung entweder auf eine externale Ursache (Baulärm während der Prüfung) oder auf eine internale Ursache (schlechtes Gedächtnis) attribuieren. Attributionen sind Beurteilungen der Ursachen von Ergebnissen. (Wir werden die Attributionstheorie ausführlich in Kapitel 16 herleiten.) In diesem Fall können Attributionen einen Einfluss auf die Motivation haben. Wenn Ihre Freunde glauben, ihre Leistung auf den Baulärm attribuieren zu können, ist es wahrscheinlich, dass sie sich intensiv auf die nächste Prüfung vorbereiten werden. Wenn sie annehmen, das Problem läge in ihrem schlechten Gedächtnis, ist es wahrscheinlicher, dass sie in ihren Anstrengungen nachlassen. Die Kontrollorientierung ist nicht die einzige Dimension, auf der sich Attributionen unterscheiden können (Peterson & Seligman, 1984). Wir können ebenso fragen: „In welchem Maß ist ein kausaler Faktor wahrscheinlich über die Zeit hinweg stabil (konsistent) oder instabil (variabel)?“ Die Antwort ergibt die Dimension von Stabilität vs. Instabilität. Oder wir können fragen: „In welchem Maß ist ein kausaler Faktor hoch spezifisch, beschränkt auf eine bestimmte Aufgabe oder Situation, oder global, breit anwendbar in zahlreichen Kontexten?“ Dies ergibt die Dimension von Globalität vs. Spezifität. Abbildung 11.10 zeigt ein Beispiel, wie Kontrollorientierung und Stabilität interagieren können. Bleiben wir bei unserem Beispiel der Attribution von Prüfungsnoten. Ihre Freunde können die Note als Ergebnis internaler Faktoren attribuieren, wie Fähigkeit (ein
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Abbildung 11.10: Ursachenattributionen für Konsequenzen von Verhaltensweisen. Aus zwei Quellen für Attributionen von Verhalten – der Kontrollorientierung und der Situation, in der das Verhalten gezeigt wird – ergeben sich vier mögliche Resultate. Fähigkeitsattributionen werden bei der Kombination internal-stabil vorgenommen, Attributionen auf Anstrengung bei der Kombination internal-variabel, auf die Schwierigkeit einer Aufgabe (eines Tests), wenn externale-stabile Kräfte angenommen werden, und auf Glück für die externale-variable Kombination. stabiles Persönlichkeitsmerkmal) oder Anstrengung (eine variable persönliche Eigenschaft). Oder sie sehen die Verursachung ihrer Noten in externalen Faktoren, wie der Schwierigkeit der Aufgabe oder der Handlungen anderer (ein stabiles situationales Problem) oder Glück (ein variables externales Merkmal). Abhängig von der Art ihrer Attribution, die sie für Erfolg oder Misserfolg vornehmen, wird eine von mehreren emotionalen Reaktionen, wie sie in Tabelle 11.4 dargestellt sind, wahrscheinlicher. Hier ist es wichtig anzumerken, dass die Art Ihrer Interpretation sowohl Ihre Gefühle als auch die darauf folgende Motivation beeinflussen wird – härter zu arbeiten oder die Arbeit aufzugeben unabhängig von den tatsächlichen Gründen Ihres Erfolgs oder Misserfolgs. Bislang haben wir jene Möglichkeiten betrachtet, die implizieren, dass Ihre Freunde ihre Note auf die gleiche Weise erklären. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass sie zu unterschiedlichen Erklärungen kommen. Der eine nimmt vielleicht eine externale Ursache an („Der Professor hat unfair geprüft“); der andere glaubt vielleicht an eine internale Ursache („Ich bin nicht gut genug für dieses Seminar“). Wissenschaftler haben gezeigt, dass die Art und Weise, in der Menschen Ereignisse in ihrem Leben erklären – vom Gewinnen eines Kartenspiels bis zum Erhalten eines Korbs bei einer Verabredung –, sich zu lebenslangen gewohnheitsmäßigen Attributionsstilen entwickeln
11.4 Leistungsmotivation
Tabelle 11.4
Emotionale Reaktionen auf Attributionsprozesse Was Sie als Reaktion auf Erfolg und Misserfolg empfinden, hängt von der Art der Attributionen ab, die Sie hinsichtlich der Ursachen der Resultate vornehmen. Sie sind beispielsweise stolz auf Ihren Erfolg, wenn Sie ihn auf Ihre Fähigkeiten attribuieren, jedoch depressiv, wenn Sie fehlende Fähigkeiten als Ursache von Misserfolg wahrnehmen. Oder Sie sind dankbar, wenn Sie Ihren Erfolg auf die Handlungen anderer attribuieren, aber ärgerlich, wenn jene Handlungen zu Ihrem Misserfolg beitragen. Emotionale Reaktion Attribution
Erfolg
Misserfolg
Fähigkeit
Kompetenz
Inkompetenz
Zuversicht
Resignation
Stolz
Depression
Erleichterung
Schuld
Zufriedenheit
Scham
Entspannung
Furcht
Anerkennung
Ärger
Dankbarkeit
Wut
Überraschung
Überraschung
Schuld
Erstaunen
Anstrengung
Handlungen anderer
Glück
kann (Haines et al., 1999). Die Art, in der Sie Ihre Erfolge und Misserfolge erklären, kann Ihre Motivation, Ihre Stimmung und sogar Ihre Fähigkeit, eine angemessene Leistung zu zeigen, beeinflussen. Mehrere Jahre lang untersuchte der Wissenschaftler Martin Seligman, inwieweit der Erklärungsstil von Menschen – das Ausmaß an Optimismus oder Pessimismus – sich auf Aktivität und Passivität auswirkt – ob die Personen durchhalten oder leicht aufgeben, Risiken eingehen oder vermeiden (Seligman, 1991). In Kapitel 14 werden wir sehen, dass ein internaler, globaler und stabiler Attributionsstil („Ich mache niemals etwas richtig“) bei den betroffenen Menschen das Risiko erhöht, an einer Depression zu erkranken (und eines der Symptome der Depression ist fehlende Motivation). Nun lassen Sie uns jedoch betrachten, in welcher Weise der Attributionsstil dazu beitragen kann, dass einer Ihrer Freunde in der nächsten Prüfung eine 1 erzielt und der andere eine 6. Seligman hat sich mit dem Problem der Erklärung beschäftigt, warum manche Menschen fähig und andere unfähig sind, Misserfolgen standzuhalten. Die geheime Zutat erwies sich als bekannt und scheinbar einfach: Optimismus vs. Pessimismus. Bemerkenswerterweise beeinflussen
die beiden unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven der Welt Motivation, Stimmung und Verhalten. Der pessimistische Attributionsstil konzentriert sich darauf, dass den Ursachen von Misserfolg internale Faktoren zugrunde liegen. Zusätzlich werden negative Situationen und die Rolle der Person bei deren Verursachung als stabil und global eingeschätzt – „Es wird sich nie ändern und das wird sich auf alles auswirken“. Der optimistische Attributionsstil sieht die Ursachen von Misserfolg in externalen Faktoren – „Der Test war unfair“ – und die Ereignisse als variabel oder veränderbar und spezifisch – „Wenn ich mich das nächste Mal mehr anstrenge, wird es mir besser gelingen, und dieser eine Rückschlag hat keinen Einfluss darauf, welche Leistungen ich bei irgendeiner anderen wichtigen Aufgabe erbringen werden“. Diese kausalen Erklärungen kehren sich um, wenn sich die Frage nach dem Erfolg stellt. Optimisten attribuieren Erfolg vollständig internal, stabil und global. Pessimisten attribuieren ihren Erfolg dagegen nach externalen, variablen und spezifischen Faktoren. Da Pessimisten glauben, zum Misserfolg verdammt zu sein, leisten sie weniger, als man entspre-
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chend einer objektiven Einschätzung ihrer Fähigkeiten erwarten würde. Eine Vielzahl von Forschungsarbeiten unterstützt diese Verallgemeinerungen über Optimisten und Pessimisten. Eine Studie beispielsweise erfasste die Attributionsstile von 130 männlichen Vertriebsmitarbeitern einer führenden britischen Versicherung (Corr & Gray, 1996). Die Ergebnisse zeigten, dass die Mitarbeiter mit einem positiveren Attributionsstil mit größerer Wahrscheinlichkeit eine höhere Verkaufsrate aufwiesen. Im Alltag wirken sich die Interpretationen von Ereignissen sowohl bei Optimisten als auch bei Pessimisten auf das Motivationsniveau für zukünftige Leistungen aus. Zum Abschluss dieses Abschnitts lassen Sie uns ein Beispiel aus der Forschung betrachten, das den machtvollen Einfluss von Kausalattributionen im akademischen Kontext verdeutlicht.
AUS DER FORSCHUNG Wenn Sie das Studium beendet haben, werden Sie den bestmöglichen Arbeitsplatz haben wollen. Aber wie wird dies geschehen? Werden Sie aufgrund Ihrer Kompetenzen und Ihrer Initiative eine gute Stelle finden (internale Attribution) oder bedingt durch zufällige Umstände und Glück (externale Attribution)? Forschungsergebnisse legen nahe, dass Studierende, die davon überzeugt sind, die Kontrolle über ihre berufliche Laufbahn zu haben, mit höherer Wahrscheinlichkeit ihre gesteckten beruflichen Ziele erreichen. Was kann in diesem Zusammenhang getan werden, um die Studierenden dazu zu ermutigen, ihre Attributionsstile von einer externalen Attribution zu einer internalen Attribution zu verändern? Ein Forschungsteam entwickelte eine Intervention zur Veränderung des Attributionsstils. Gruppen von Studierenden, die der Ansicht waren, nur wenig Kontrolle über ihre berufliche Laufbahn zu haben, sahen die Videoaufnahme einer Konversation zwischen einem Studenten und einer Studentin ihrer Universität. In der Experimentalgruppe bezogen sich Teile dieser Konversation auf das Treffen berufsbezogener Entscheidungen: „Ich erkannte, als ich erwachsen wurde, dass alles, was für meine berufliche Laufbahn lohnenswert war, große Anstrengung und harte Arbeit erforderte“ (Luzzo et al., 1996, S. 417). Die Kontrollgruppe bekam diese Art von Information nicht zu hören. Nach dieser kurzen Intervention zeigten die Mitglieder der Experimentalgruppe in höherem Maß eine internale Kontrollorientierung bezüglich ihrer Berufswahl und beschäftigten sich im Laufe der Zeit intensiver mit Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit der Erkundung verschiedener Berufsfelder standen. Die Kontrollgruppe zeigte diese Veränderungen nicht (Luzzo et al., 1996).
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Durch die Art und Weise, in der Attributionen die Motivation beeinflussen, hatte eine kleine Information über die Berufswahl tiefgreifenden Einfluss auf die Vorstellungen der Studierenden über ihre Zukunft. Wir glauben, dass dieser Strang psychologischer Forschung von großem Wert ist. Sie können daran arbeiten, einen optimistischen Attributionsstil für Ihre Erfolge und Misserfolge zu entwickeln. Sie können vermeiden, Ihre Misserfolge negativ, stabil und dispositional zu attribuieren, indem Sie nach möglichen kausalen Faktoren in der Situation suchen. Und schließlich sollten Sie sich Ihre Motivation nicht durch kurzfristige Rückschläge untergraben lassen. Sie können diesen auf Forschungsergebnissen basierenden Rat anwenden, um Ihr Leben besser zu gestalten – ein immer wiederkehrendes Thema in diesem Buch.
11.4.3 Arbeits- und Organisationspsychologie Angenommen, Ihre positive Einstellung hätte Ihnen geholfen, eine gute Stelle in einem großen Unternehmen zu bekommen. Können wir aufgrund unseres Wissens über Sie als Person – Ihres nAch-Werts oder Ihres Attributionsstils – Vorhersagen darüber machen, wie motiviert Sie sein werden? Ihr individuelles Motivationsniveau wird teilweise von Ihren Kollegen und Ihrem Arbeitsumfeld anhängen. Organisationspsychologen erkannten, dass Arbeitsplätze komplexe soziale Systeme sind. Sie untersuchen verschiedenste Aspekte menschlicher Beziehungen, wie beispielsweise die Kommunikation zwischen den Mitarbeitern, die Sozialisation und Inkulturation der Arbeitskräfte, Führungsstile, Einstellungen und Identifikation bezüglich des Jobs und/oder eines Unternehmens, Arbeitszufriedenheit, Stress und Burn-out und die Gesamtqualität des Arbeitslebens. In beratender Funktion für Geschäftsunternehmen können Organisationspsychologen bei der Rekrutierung, der Auswahl und dem Training von Beschäftigten hilfreich sein. Sie erstellen auch Empfehlungen zur Neustrukturierung von Arbeitsplätzen, um den Arbeitsplatz auf die jeweilige Person zuzuschneiden. Die Organisationspsychologen wenden Führungs-, Entscheidungs- und Entwicklungstheorien an, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Betrachten wir zwei organisationspsychologische Theorien, die entwickelt wurden, um die Motivation am Arbeitsplatz zu verstehen. Die Equity-Theorie und das Erwartungsmodell versuchen zu erklären und
11.4 Leistungsmotivation
vorherzusagen, wie Menschen auf bestimmte Arbeitsbedingungen reagieren werden. Diese Theorien nehmen an, dass Mitarbeiter bestimmte kognitive Aktivitäten ausführen, wie beispielsweise die Abschätzung von Fairness durch soziale Vergleiche mit anderen Mitarbeitern oder die Einschätzung zukünftiger Gehaltserhöhungen im Zusammenhang mit ihrer Arbeitsleistung. Die Equity-Theorie geht davon aus, dass Mitarbeiter dazu motiviert sind, faire oder gerechte Beziehungen zu anderen relevanten Personen aufrechtzuerhalten (Adams, 1965). Mitarbeiter merken sich ihre Beiträge (in den Job Eingebrachtes und Geleistetes) und ihre Ergebnisse (das aus dem Job Erhaltene) und vergleichen diese mit den Beiträgen und Ergebnissen ihrer Kollegen. Wenn das Verhältnis von Ergebnis zu Beitrag von Mitarbeiter A jenem von Mitarbeiter B entspricht (Ergebnis A / Beitrag A = Ergebnis B / Beitrag B), dann ist Mitarbeiter A zufrieden. Unzufriedenheit entsteht, wenn diese Verhältnisse nicht gleich sind. Da dieses Gefühl der fehlenden Gleichheit unangenehm ist, sind die Mitarbeiter motiviert, die Gleichheit wieder herzustellen, indem sie die relevanten Ergebnisse oder Beiträge verändern. Diese Veränderungen können in den gezeigten Verhaltensweisen liegen (beispielsweise in der Verminderung des Beitrags durch weniger Arbeitsleistung oder in der Bitte um eine Gehaltserhöhung), oder sie können psychischer Natur sein (beispielsweise durch eine Neubewertung des eigenen Beitrags – „Meine Arbeit ist nicht wirklich gut“ – oder des erzielten Ergebnisses – „Ich hab’ Glück, jeden Monat meinen Gehaltsscheck zu erhalten, auf den ich mich verlassen kann“). Haben Sie schon einmal die Folgen von Gleichheit oder Ungleichheit in Ihrer Arbeitssituation bemerkt? Stellen Sie sich eine Situation vor, in der ein Mitarbeiter das Unternehmen für einen besseren Job verlässt. Wie fühlen Sie sich dabei? Die Equity-Theorie würde annehmen, dass Sie sich vielleicht unfairerweise in einem schlechten Job zurückgelassen fühlen. Tatsächlich ist es so, dass, wenn Mitarbeiter unter Bedingungen gehen, über die sie vorher Unzufriedenheit geäußert haben, die verbleibenden Mitarbeiter dazu neigen, weniger produktiv in ihrem Job zu sein – sie verringern die Produktivität, um nach ihrem Verständnis die Gerechtigkeit wieder herzustellen (Sheehan, 1993). Wenn Sie sich einmal in einer Führungsposition befinden, sollten Sie versuchen, dieses Muster zu verhindern, indem sie den psychischen Bedürfnissen ihrer Mitarbeiter hinsichtlich der Gerechtigkeit Aufmerksamkeit widmen. Behalten Sie beispielsweise den Nutzen „angemessener Erklärungen“ im Hinterkopf.
Das Erwartungsmodell nimmt an, dass Mitarbeiter dann motiviert sind, wenn sie erwarten, dass ihre Anstrengung und ihre Leistung am Arbeitsplatz zu den gewünschten Ergebnissen führen (Harder, 1991; Porter & Lawler, 1968; Vroom, 1964). In anderen Worten, Menschen werden sich für Arbeiten engagieren, die sie als attraktiv (zu positiven Ergebnissen führend) und erreichbar wahrnehmen. Das Erwartungsmodell betont drei Komponenten: Erwartung, Instrumentalität und Valenz. Erwartung bezieht sich auf die wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, dass die Anstrengung einer Arbeitskraft zu einer bestimmten Leistungsgüte führen wird. Instrumentalität bezieht sich auf die Wahrnehmung, dass die Leistung bestimmte Folgen nach sich zieht, beispielsweise eine Belohnung. Valenz bezieht sich auf die wahrgenommene Attraktivität eines bestimmten Ergebnisses. Hinsichtlich bestimmter Arbeitssituationen kann man sich für diese drei Komponenten unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten vorstellen. Sie könnten beispielsweise an einem Arbeitsplatz arbeiten, an dem die Wahrscheinlichkeit, eine Belohnung zu erhalten, wenn die Leistung erfolgreich erbracht wird, hoch ist (hohe Instrumentalität), jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass die Leistung tatsächlich erbracht werden kann, eher gering ist (geringe Erwartung), oder die Wahrscheinlichkeit, dass die Belohnung auch tatsächlich die Mühen wert ist, eher
Wie erklärt das Erwartungsmodell die Strategie mancher Baseballspieler, lieber einen Home-run anzustreben als auf einen höheren Schlagdurchschnitt abzuzielen?
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gering ist (geringe Valenz). Entsprechend des Erwartungsmodells erfassen die Mitarbeiter die Wahrscheinlichkeiten dieser drei Komponenten und kombinieren sie durch Multiplikation mit ihren individuellen Werten. Das höchste Maß an Motivation wird demnach erzielt, wenn alle drei Komponenten hohe Wahrscheinlichkeiten besitzen, das geringste Maß an Motivation dagegen, wenn eine der Komponenten null beträgt. Können Sie erkennen, inwieweit eine Analyse anhand des Erwartungsmodells Ihnen helfen kann, wenn Sie sich in einer Führungsposition befinden? Sie sollten sich Erwartungen, Instrumentalität und Valenz klarer machen können. Sie sollten dazu in der Lage sein festzustellen, ob ein Teil des Bildes nicht im Gleichgewicht ist. Angenommen, Ihre Mitarbeiter kommen zu dem Schluss, dass es keine ausreichende Beziehung zwischen ihrer Anstrengung und dem Ausmaß ihrer Belohnung gibt. Was könnten Sie tun, um den Arbeitsplatz so zu verändern, dass der Faktor der Instrumentalität wieder einen hohen Wert aufweist? Können Sie in der aktuellen Diskussion über das Beamtentum oder die leistungsbezogene Mittelvergabe an Schulen und Hochschulen die Komponenten des Erwartungsmodells erkennen? Zum Abschluss dieses Abschnitts haben wir noch eine warnende Anmerkung zu Leistung und Motivation im Arbeitskontext. Wenn Sie Ihre persönliche Wahl darüber treffen, wie hart Sie für Ihre berufliche Laufbahn arbeiten können, behalten Sie die anderen Aspekte Ihres Lebens im Auge. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, kann das aggressive Streben
nach Erfolg in mancher Hinsicht dem Ziel, ein langes und gesundes Leben zu führen, entgegenwirken. Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, seit wir Sie gefragt haben, warum Sie heute Morgen eigentlich aufgestanden sind. Wir haben die Biologie und Psychologie des Hungers und Essens sowie die evolutionären und sozialen Dimensionen der menschlichen Sexualität beschrieben. Wir haben uns die individuellen Unterschiede im Leistungsmotiv angesehen. In dieser ganzen Darstellung konnten Sie das komplexe Zusammenwirken von Anlage und Umwelt sowohl auf der Ebene der Spezies als auch auf der des Individuums beobachten. Nachdem Sie jetzt all diese Informationen zur Verfügung haben, fragen wir erneut: Warum sind Sie denn nun heute Morgen aufgestanden?
ZWISCHENBILANZ 1 Worin besteht das Leistungsmotiv? 2 Auf welchen Dimensionen findet die Ursachenattribu-
tion für Erfolg und Misserfolg statt? 3 Wie erklärt das Erwartungsmodell die Motivation am
Arbeitsplatz? KRITISCHES DENKEN: Vergegenwärtigen Sie sich die Studie, die den Einfluss von Ursachenattributionen auf Karriereerwartungen demonstrierte. Warum könnten die Forscher in der Experimentalgruppe zur Veränderung des Attributionsstils eine Videoaufzeichnung eines Gesprächs zwischen Studierenden dargeboten haben, anstatt zum Beispiel Material zum Lesen auszugeben?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Wie beeinflusst Motivation den akademischen Erfolg?
Angenommen, Sie haben sich zusammen mit zwei Freunden, Angela und Thomas, für Ihr Einführungsseminar in Psychologie angemeldet. Am ersten Veranstaltungstag sagt Angela: „Ich will die beste Note im Seminar haben.“ Thomas antwortet: „Ich bin schon glücklich, wenn ich keine 6 kriege.“ Sehen Sie, wie Angelas und Thomas’ Ziele sie zu sehr verschiedenen Verhaltensweisen motivieren? Einer von beiden wird sich wahrscheinlich sehr viel länger mit diesem Text beschäftigen! Betrachten wir den Unterschied zwischen Angela und Thomas näher, um einen allgemeineren Blick auf die Forschungsergebnisse über den Effekt der Zielsetzungen Studierender auf ihre Motivation und ihre Leistungen im Seminar zu ge-
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winnen. Der Sinn dieser Betrachtung ist, dass Sie sich danach kritisch mit Ihrer eigenen Zielsetzung und Motivation auseinandersetzen können. Analysen der Leistungen von Studierenden haben drei generelle Arten von Zielsetzungen ergeben (Meece et al., 2006). Angela ist repräsentativ für Studierende mit einer leistungsorientierten Zielsetzung (englisch: performance-approach goal). Sie konzentriert sich darauf, fachkundiger als andere Studierende zu wirken. Thomas repräsentiert eine leistungsvermeidende Zielsetzung (englisch: performance-avoidance goal). Er möchte es vermeiden, als weniger kompetent als andere eingestuft zu werden. Der dritte Typ von Zielsetzung ist die Aneignungszielsetzung (eng-
11.4 Leistungsmotivation
lisch: mastery goal). Studierende, die hiervon motiviert werden, möchten neue Fähigkeiten meistern: „Der Erfolg wird nach der Verbesserung der eigenen Fähigkeiten bewertet, und die Studierenden gewinnen Befriedigung aus den inhärenten Eigenschaften der Aufgabe, wie etwa daraus, dass sie interessant ist und eine Herausforderung darstellt“ (Meece et al., S. 490). Forscher erfassen die Zielorientierung Studierender, indem sie sie nach ihrer Übereinstimmung mit Aussagen wie „Ich möchte den Unterrichtsstoff vollständig beherrschen“ und „Ich will in diesem Seminar nur nicht allzu schlecht sein“ befragen (McGregor & Elliott, 2002, S. 381). Im Allgemeinen sind Studierende mit Aneignungszielsetzung am meisten motiviert, sich so zu verhalten, dass sie in der akademischen Welt Erfolg haben. Eine Studie erfasste das Verhalten der Studierenden zwei Wochen vor einem Examen in Grundlagen der Psychologie und dann unmittelbar vor dem Examen (McGregor & Elliott, 2002). Die Studenten mit leistungsvermeidender Zielsetzung vermieden auch das Lernen: Zwei Wochen vor dem Examen gaben sie an, dass sie noch nicht viel für die Vorbereitung getan hatten; unmittelbar vor der Prüfung gaben sie an, sich eigentlich nicht bereit dafür zu fühlen. Die Studierenden mit Aneignungszielsetzung und leistungsorientierter Zielsetzung begannen alle früh vor dem Examen mit der Vorbereitung. Die Studierenden mit Aneignungszielsetzung zeichneten sich allerdings durch die Gelassenheit aus, mit der sie die Prüfung erwarteten: In den letzten zwei Wochen davor wünschten sie sich immer weniger, sie zu vermeiden. Wenn Sie überprüfen, welche Zielsetzung Ihrer eigenen akademischen Leistung zu Grunde liegt, denken Sie auch an Ihre Erfahrungen mit dem Unterricht: Lehrer unterscheiden sich darin, welche Zielsetzungen sie inspirieren (Meece et al., 2006). Sie können Aneignungszielsetzungen fördern, indem sie die Bemühungen der Studierenden und die Befriedi-
gung über neue Fähigkeiten honorieren; sie können auch leistungsorientierte Zielsetzungen fördern, indem sie die Studierenden mit den besten Testergebnissen loben und solche mit schlechten Ergebnissen ignorieren. Im Allgemeinen neigen die Zielsetzungen der Studierenden dazu, sich denen der Lehrer anzupassen. Vielleicht haben die Studierenden also gar nicht immer die Möglichkeit, Aneignungszielsetzungen zu entwickeln. Außerdem stellen die Lehrenden anhand des von ihnen beobachteten Verhaltens der Studierenden Vermutungen über deren Motivation an. Angenommen, Sie schneiden in einer Prüfung schlecht ab. Wie im Text erläutert, können Sie Ihre Leistung in solchen Kategorien wie Stabilität und Kontrollierbarkeit erklären. Lehrende benutzen dieselben Dimensionen, um auf ihre Studierenden zu reagieren (Reyna & Weiner, 2001; Weiner, 2006). Nehmen wir die Kontrollierbarkeit. Angenommen, ein Dozent glaubt, dass Thomas in einem Examen durchgefallen sei, weil er nie arbeitet, während Angela durchgefallen sei, weil sie erst spät in das Seminar übergewechselt war. Der Dozent wird wahrscheinlich für Angela viel mehr Verständnis als für Thomas haben. Es wird Thomas zum Vorteil gereichen, die Attributionen seines Dozenten zu ändern! Wenn Studierende in unseren Seminaren mangelnde Leistungen zeigen, ermutigen wir sie, ihre Zielsetzungen, die sie ins Seminar mitbringen, und die Art, wie diese Zielsetzungen ihr Verhalten motivieren, zu überprüfen. Wir hoffen, dass Sie erkennen, wie wichtig das ist. Warum werden möglicherweise Studierende mit Aneignungszielsetzungen immer gelassener, je näher ein Examen rückt? Was könnten Studierende tun, um die Attributionen der Dozenten hinsichtlich ihrer Leistung zu verändern?
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Essstörungen sind lebensbedrohliche Erkrankungen, die durch kulturellen Druck oder durch eine fehlerhafte Wahrnehmung des eigenen Körperschemas entstehen können.
Analysen motivationaler Vorgänge tragen zur Erklärung bei, wie biologische Prozesse und gezeigte Verhaltensweisen in Beziehung zueinander stehen und warum Menschen trotz Hindernissen und Widrigkeiten ihre Ziele verfolgen.
Sexualverhalten Aus einer evolutionären Perspektive betrachtet, ist Sexualität ein Mechanismus zur Produktion von Nachkommen.
Die Triebtheorie konzeptualisiert Motivation als Spannungsreduktion.
Bei Tieren wird der Sexualtrieb in starkem Maß durch Hormone gesteuert.
Menschen werden auch durch Anreize motiviert, externale Reize, die nicht im Zusammenhang mit körperlichen Bedürfnissen stehen.
Die Arbeiten von Masters und Johnson ergaben die ersten harten Daten über den sexuellen Reaktionszyklus von Männern und Frauen.
Die Reversal-Theorie postuliert gegensätzliche Paare metamotivationaler Zustände. Die Instinkttheorie nimmt an, dass Motivation auf innere stereotype Reaktionen zurückzuführen ist.
Evolutionspsychologen nehmen an, dass ein Großteil des menschlichen Sexualverhaltens unterschiedliche Paarungsstrategien von Männern und Frauen widerspiegelt.
Sozialpsychologen und kognitive Psychologen betonen die persönliche Wahrnehmung, die Interpretation einer Situation und die Reaktion auf sie.
Unterschiede in den Skripten des Sexualverhaltens können zu schwerwiegenden Missverständnissen und sogar zu sexueller Gewalt führen.
Abraham Maslow nahm an, dass sich menschliche Bedürfnisse hierarchisch anordnen lassen.
Homosexualität und Heterosexualität werden sowohl durch genetische als auch durch persönliche und gesellschaftliche Faktoren bestimmt.
Obwohl die menschliche Motivation in der Realität komplexer ist, bietet Maslows Theorie einen nützlichen Rahmen zur Zusammenfassung motivationaler Kräfte.
Leistungsmotivation Menschen unterscheiden sich in ihrem Leistungsstreben. Die Leistungsmotivation wird davon beeinflusst, wie Menschen Erfolge und Misserfolge interpretieren.
Essen Der Körper verfügt über eine Vielzahl von Mechanismen zur Regulation der Initiierung und Beendigung des Essens.
Zwei Attributionsstile, Optimismus und Pessimismus, führen zu unterschiedlichen Einstellungen zu Leistung und beeinflussen die Motivation.
Kulturelle Normen haben eine Auswirkung darauf, wie viel Menschen essen.
Organisationspsychologen untersuchen die mensch liche Motivation im Arbeitskontext.
Wenn übergewichtige Personen zu gezügelten Essern werden, dann können ihre Diäten zur Ge-
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wichtszunahme anstatt zur Gewichtsreduktion führen.
Was ist Motivation? Motivation ist ein dynamisches Konzept, um jene Prozesse zu beschreiben, die das Verhalten steuern.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Anorexia nervosa (Anorexie) (S. 427) Anreize (S. 416) Attributionen (S. 444) Bedürfnishierarchie (S. 421) Bulimia nervosa (Bulimie) (S. 428) Elterliche Fürsorge (S. 435) Equity-Theorie (S. 447) Erwartungsmodell (S. 447) Homöostase (S. 416) Instinkte (S. 418) Leistungsmotiv (S. 443) Motivation (S. 414) Organisationspsychologen (S. 446) Reversal-Theorie (S. 418)
Sexuelle Erregung (S. 433) Sexuelle Gewalt bei einer Verabredung (date rape) (S. 438) Skripte des Sexualverhaltens (S. 438) Soziale Lerntheorie (S. 420) Thematische Apperzeptionstests (TAT) (S. 442) Triebe (S. 416)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Emotionen, Stress und Gesundheit 12.1.1 Grundlegende Emotionen und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.3 Funktionen von Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Warum sind manche Menschen glücklicher als andere? . . . . . . . . . . . . . . . .
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12.2 Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4
Physiologische Stressreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Stressreaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stresscoping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positive Effekte von Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12.3 Gesundheitspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
468 469 472 478 485
12.3.1 Das biopsychosoziale Modell der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . 12.3.2 Gesundheitsförderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
486 486 487 491
Kritisches Denken im Alltag: Kann die Gesundheitspsychologie Ihnen helfen, bis 2010 ein gesunder Mensch zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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12.3.4 Persönlichkeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.5 Burn-out im Beruf und das Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . 12.3.6 Ein Lob der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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12.1 Emotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ngenommen, wir fragten Sie in diesem Moment: „Wie fühlen Sie sich gerade?“ Wie würden Sie antworten? Es gibt mindestens drei verschiedene Arten von Informationen, die Sie uns geben könnten. Zum einen werden Sie uns vielleicht die Stimmung mitteilen, in der Sie sich befinden – die Emotionen, die Sie fühlen. Sind Sie froh, weil Sie wissen, dass Sie beizeiten mit dem Lesen dieses Kapitels fertig sein werden, um auf eine Party gehen zu können? Sind Sie wütend, weil Ihr Chef Sie gerade am Telefon angeschrien hat? Zweitens werden Sie uns vielleicht etwas allgemeiner über das Ausmaß an Stress berichten, das Sie erleben. Fühlen Sie sich allen Ihren Anforderungen gewachsen? Oder fühlen Sie sich ein wenig überfordert? Drittens werden Sie vielleicht etwas über Ihre psychische und körperliche Gesundheit erzählen. Ist eine Krankheit im Anzug? Oder fühlen Sie sich rundum gesund? Dieses Kapitel wird die Interaktionen zwischen diesen drei Arten, die Frage „Wie fühlen Sie sich gerade?“ zu beantworten, untersuchen – in Bezug auf Emotionen, Stress und Gesundheit. Emotionen sind die Prüfsteine menschlicher Erfahrung. Sie bereichern unsere Interaktionen mit Mensch und Natur und verleihen unseren Erinnerungen Bedeutung. In diesem Kapitel werden wir das Erleben und die Funktionen von Emotionen behandeln. Doch was geschieht, wenn diese emotionalen Anforderungen an unser biologisches und psychisches Funktionieren zu groß sind? Man ist überfordert und unfähig, mit den Stressoren des Lebens zurechtzukommen. Dieses Kapitel wird ebenso untersuchen, wie uns Stress beeinflusst und wie wir ihn bekämpfen können. Schließlich werden wir unsere Perspektive erweitern und die Beiträge der Psychologie zur Erforschung von Gesundheit und Krankheit betrachten. Gesundheitspsychologen erforschen die Art und Weise, wie Umweltprozesse sowie soziale und psychische Prozesse zur Entwicklung von Krankheiten beitragen. Gesundheitspsychologen nutzen auch psychologische Prozesse und Prinzipien, um Krankheiten heilen und vermeiden zu helfen, und entwickeln gleichzeitig Strategien, das persönliche Wohlbefinden zu erhöhen. Zu Beginn betrachten wir den Inhalt und die Bedeutung von Emotionen.
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Emotionen
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Man stelle sich nur vor, wie das Leben aussehen würde, wenn man denken und handeln, aber nicht fühlen könnte. Würden Sie die Fähigkeit aufgeben wollen, Angst zu erleben, wenn Sie damit ebenso die Leidenschaft beim Küssen verlieren würden? Würden Sie die Traurigkeit auf Kosten der Freude aufgeben? Dies wäre sicherlich ein schlechter Handel, den wir schnell bedauern würden. Wir werden bald sehen, dass Emotionen eine Reihe wichtiger Funktionen erfüllen. Beginnen wir jedoch mit einer Definition von Emotion und mit der Beschreibung der Wurzeln unseres emotionalen Erlebens. Obwohl Sie vielleicht versucht sind, Emotion nur für ein Gefühl zu halten – „Ich bin glücklich“ oder „Ich bin wütend“ –, benötigen wir eine breitere Definition dieses wichtigen Konzeptes, die den Körper und den Geist mit einbezieht. Heutzutage definieren Psychologen Emotion als ein komplexes Muster körperlicher und mentaler Veränderungen, darunter physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Reaktionen im Verhalten als Antwort auf eine Situation, die als persönlich bedeutsam wahrgenommen wurde. Um zu erkennen, warum all diese Komponenten notwendig sind, stellen Sie sich eine Situation vor, die Sie sehr glücklich macht. Ein Teil Ihrer physiologischen Erregung mag ein leicht erhöhter Pulsschlag sein. Sie hätten ein positives Gefühl. Die damit verbundenen kognitiven Prozesse bestehen aus Interpretationen, Erinnerungen und Erwartungen, die es Ihnen ermöglichen, die Situation als glücklich einzustufen. Ihre sichtbaren Reaktionen liegen vielleicht im Ausdruck (lächeln) und/oder sind handlungsorientiert (einen geliebten Menschen umarmen). Bevor wir mit einer Beschreibung aufwarten können, die Erregung, Gefühle, Gedanken und Handlungen vereint, müssen wir eine Unterscheidung zwischen Emotionen und Stimmungen treffen. Wir haben Emotionen als spezifische Reaktionen auf spezifische Ereignisse definiert – in diesem Sinne sind Emotionen ziemlich kurzlebig und intensiv. Im Gegensatz dazu sind Stimmungen oft weniger intensiv und können mehrere Tage lang anhalten. Zwischen ihnen und den auslösenden Ereignissen besteht oft eine schwächere Beziehung. Man kann guter oder schlechter Stimmung sein, ohne genau zu wissen warum. Bedenken Sie diese Unterscheidung zwischen Emotionen und Stimmungen, wenn wir die Theorien zu ihrer Erklärung beschreiben.
12.1 Emotionen
12.1.1 Grundlegende Emotionen und Kultur Angenommen, Sie könnten in einem Raum Vertreter unterschiedlichster menschlicher Kulturen versammeln. Was wäre ihren Erfahrungen von Emotion gemein? Eine erste Antwort gibt uns Charles Darwins Buch Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (1872/2000). Darwin glaubte, dass sich Emotionen Hand in Hand mit anderen wichtigen Aspekten menschlicher und nichtmenschlicher Strukturen und Funktionen entwickelt haben. Er war an den adaptiven (auf Anpassung an die Umwelt gerichteten) Funktionen von Emotionen interessiert, die er nicht für vage, unvorhersehbare persönliche Zustände hielt, sondern für hoch spezifische, koordinierte Operationen des menschlichen Gehirns. Darwin sah Emotionen als angeborene, spezialisierte mentale Zustände an, die dem Zweck dienen, mit einer bestimmten Klasse wiederkehrender Situationen in der Welt umzugehen. Solange es unsere Spezies gibt, sind Menschen von Angreifern attackiert worden, haben sich verliebt, haben Kinder geboren, haben einander bekämpft, sahen sich mit der sexuellen Untreue ihrer Partner konfrontiert und erlebten den Tod von geliebten Menschen – unzählige Male. Wir wür-
den deshalb erwarten, dass gewisse Arten emotionaler Reaktionen bei allen Mitgliedern der menschlichen Spezies auftreten. Forscher haben diese Behauptung der Universalität der Emotionen überprüft, indem sie emotionale Reaktionen von Neugeborenen und auch die Konsistenz von Gesichtsausdrücken über Kulturen hinweg betrachteten.
Sind einige emotionale Reaktionen angeboren? Wenn die evolutionäre Sichtweise stimmt, würden wir erwarten, bei Kindern auf der ganzen Welt mehr oder weniger das gleiche Muster emotionaler Reaktionen zu finden (Izard, 1994). Silvan Tomkins (1962, 1981) war einer der ersten Psychologen, der die weit reichende Rolle von unmittelbaren, ungelernten affektiven (emotionalen) Reaktionen betonte. Er stellte heraus, dass Säuglinge ohne vorausgegangenes Lernen auf laute Geräusche mit Furcht oder mit Atemproblemen reagieren. Sie scheinen „vorverdrahtet“ zu sein, um bestimmte Reize mit einer emotionalen Reaktion zu beantworten, die allgemein genug ist, um auf eine breite Spanne von Umständen zu passen. Die kulturvergleichende Forschung hat die Erwartung bestätigt, dass einige emotionale Reaktionen bei Kindern sehr unterschiedlicher Kulturen ziemlich ähnlich sind.
Charles Darwin war einer der Ersten, der bei der Untersuchung der Emotion Fotografien einsetzte. Diese Bildtafeln sind aus Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (1872/2000). Warum glaubte Darwin, dass Emotionen das Ergebnis der Evolution waren?
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AUS DER FORSCHUNG Fünf und zwölf Monate alte Säuglinge aus den USA und Japan wurden zu Hause besucht. Die Versuchsleiter unterzogen jedes Kind einer Prozedur, bei der die Handgelenke der Kinder gefasst und über dem Bauch gefaltet wurden. Die Versuchsleiter zeichneten die Reaktionen der Kinder auf Video auf. Kinder beider Kulturen bewegten ihre Gesichtsmuskeln auf die gleiche Weise, was in einem sehr ähnlichen Ausdruck von Kummer resultierte. Japanische und amerikanische Säuglinge zeigten darüber hinaus ähnlich häufig negative lautliche Äußerungen und wanden sich gleich oft (Camras et al., 1992).
Obgleich diese Studie eine wichtige kulturübergreifende Konsistenz zeigt, hat die neuere Forschung einige Unterschiede dargelegt. In einer Studie waren 11-monatige Säuglinge aus China übereinstimmend weniger emotional in ihrem Ausdruck als Gleichaltrige aus Japan oder den USA (Camras, et al., 1998). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Kultur sehr früh im Leben auf angeborene emotionale Reaktionen auswirkt. Bedenken Sie zudem, dass Kinder auch eine angeborene Fähigkeit besitzen, Gesichtsausdrücke anderer Menschen zu interpretieren. In einem Experiment habituierten 4- bis 6-monatige Säuglinge bei wiederholten Darbietungen von Erwachsenengesichtern, die aus dem Set von Überraschung, Furcht und Ärger immer dieselbe Emotion zeigten (unter Habituation versteht man hier abnehmendes Interesse durch Gewöhnung; für Beispiele von Habituationsverfahren in der Säuglingsforschung siehe Kapitel 10). Zeigt man Kindern danach eine Abbildung mit einer anderen Emotion, reagieren sie mit erneutem Interesse – vermutlich sehen Überraschung, Furcht und Ärger für sie unterschiedlich aus, sogar in diesem sehr jungen Alter (Serrano et al., 1992). Zudem produzieren Säuglinge mehr positives Verhalten (zum Beispiel Annäherungsbewegungen und Lä-
cheln) als Reaktion auf glückliche Gesichtsausdrücke und mehr negatives Verhalten (zum Beispiel Vermeidungsverhalten und Stirnrunzeln) auf Gesichter, die Ärger ausdrücken. Dies lässt darauf schließen, dass die Kinder diese Ausdrücke nicht nur erkennen, sondern ein sehr frühes Verständnis der „Bedeutung“ dieser Ausdrücke haben (Serrano et al., 1995).
Ist der emotionale Ausdruck universell? Wir haben gesehen, dass Säuglinge emotionale Standardausdrücke produzieren und wahrnehmen. Wenn dies so ist, sollten wir auch Erwachsene völlig unterschiedlicher Kulturen finden, die in ihrer Annahme, wie Emotionen durch Gesichtsausdrücke kommuniziert werden, beträchtlich übereinstimmen. Nach Paul Ekman, dem führenden Forscher auf dem Gebiet der Gesichtsausdrücke, überschneidet sich die „Sprache des Gesichts“ bei allen Menschen (Ekman, 1984, 1994). Ekman und seine Kollegen haben gezeigt, was Darwin als Erster behauptete – dass ein Satz von emotionalen Ausdrücken universell für die menschliche Spezies ist, wahrscheinlich weil sie angeborene Komponenten unseres evolutionären Erbes sind. Betrachten Sie Abbildung 12.1, bevor Sie weiterlesen, und Sie werden sehen, wie gut Sie diese sieben universell bekannten Ausdrücke von Emotion identifizieren können (Ekman & Friesen, 1986). Es gibt einschlägige Belege dafür, dass diese sieben Gesichtsausdrücke weltweit als Ausdruck der Emotionen Freude, Überraschung, Ärger, Ekel, Furcht, Trauer und Verachtung erkannt und produziert werden. Kulturvergleichende Forscher haben Menschen unterschiedlicher Kulturen gebeten, Emotionen zu identifizieren, die mit den auf standardisierten Fotos abgebildeten Ausdrücken in Verbindung stehen. Menschen sind im Allgemeinen in der Lage, die den sieben Emotionen zugeordneten Gesichtsausdrücke zu identifizieren.
AUS DER FORSCHUNG
Warum glauben Forscher, dass einige emotionale Reaktionen angeboren sind?
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In einer Studie identifizierten Mitglieder einer analphabetischen Kultur Neu-Guineas (der Fore-Kultur), die vor diesem Experiment mit Menschen aus dem Westen und der westlichen Kultur nahezu keinen Kontakt gehabt hatten, Emotionen richtig, die von Weißen dargestellt wurden, wie Abbildung 12.1 zeigt. Sie taten dies, indem sie sich auf Situationen bezogen, in denen sie dieselben Emotionen erlebt hatten. Foto 5 (Furcht) beispielsweise legte nahe, von einem Eber gejagt zu werden, wenn man keinen Speer bei sich hat, und Foto 6 (Trauer) den Tod des eigenen Kindes. Die einzige Ver-
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wechslung ereignete sich in der Unterscheidung von Überraschung, Foto 2, und Furcht, vielleicht weil diese Menschen sehr furchtsam sind, wenn sie eine Überraschung erleben. Als Nächstes baten Forscher andere Angehörige dieser Kultur (die nicht an der ersten Studie teilgenommen hatten), die Gesichtsausdrücke darzustellen, mit denen sie sechs der Emotionen (ausgenommen Verachtung) kommunizieren. Als amerikanische Collegestudenten die Videoaufzeichnungen von den Gesichtsausdrücken der Fore sahen, konnten sie deren Emotionen richtig identifizieren – mit einer Ausnahme. Es überrascht nicht, dass die Amerikaner Schwierigkeiten hatten, zwischen den Fore-Darstellungen der Furcht und der Überraschung zu unterscheiden; dies sind die gleichen Emotionen, welche die Fore bei den westlichen Darstellungen in den Fotografien verwechselten hatten (Ekman & Friesen, 1971).
kulturellen Unterschieden, Rasse, Geschlecht oder Erziehung, grundlegende Emotionen in nahezu der gleichen Weise zum Ausdruck bringen sowie Emotionen identifizieren können, die andere erleben, indem sie ihren Gesichtsausdruck lesen. Der Anspruch auf Universalität richtet sich auf den Satz von sieben grundlegenden Emotionen! Ekman und Kollegen behaupten nicht, dass alle Gesichtsausdrücke universell sind oder dass Kulturen alle Emotionen auf die gleiche Weise ausdrücken (Ekman, 1994). In der Tat nannte Ekman (1972) seine Position der Universalität die neuro-kulturelle Theorie, um den gemeinsamen Beitrag von Gehirn (dem Produkt der Evolution) und Kultur im emotionalen Ausdruck widerzuspiegeln. Das Gehirn spezifiziert, welche Gesichtsmuskeln sich bewegen, um einen speziellen Ausdruck zu produzieren, wenn eine bestimmte Emotion aufgetreten ist. Unterschiedliche Kulturen jedoch setzen der universalen Biologie ihre eigenen Grenzen. Wir berichteten einige kulturelle Effekte in der Darstellung der Forschung, die Reaktionen der Mitglieder der ForeKultur und der amerikanischen Studierenden verglich. Der oben zitierte Sechs-Länder-Vergleich erbrachte ebenso einige Unterschiede zwischen den Ländern, entgegen der generell grundlegenden Übereinstimmung (Biehl et al., 1997). Japanische Erwachsene beispielsweise erkannten Ärger schlechter als Amerikaner, Ungarn, Polen und Vietnamesen. Vietnamesische Erwachsene erkannten hingegen Ekel schlechter als die Angehörigen aller anderen Nationen. Warum treten wohl diese Unterschiede in Erscheinung? Betrachten wir nun direkt die kulturellen Einflüsse auf die Emotionalität.
Wie schränkt die Kultur den emotionalen Ausdruck ein?
Abbildung 12.1: Beurteilung von emotionalen Gesichtsausdrücken. Ordnen Sie diese sieben Emotionsbegriffe den nebenstehenden Gesichtern zu: Furcht, Ekel, Freude, Überraschung, Verachtung, Ärger und Trauer. Die Antworten befinden sich am Ende des Kapitels. Die jüngere Forschung hat Beurteilungen von Gesichtsausdrücken zwischen Individuen in Ungarn, Japan, Polen, Sumatra, den USA und Vietnam verglichen – zwischen diesen unterschiedlichen Populationen wurde eine hohe Übereinstimmung gefunden (Biehl et al., 1997). Die generelle Schlussfolgerung ist, dass Menschen in der ganzen Welt, unabhängig von
Menschen auf der ganzen Welt teilen vermutlich ein genetisches Erbe, das einen bestimmten Umfang des emotionalen Ausdrucks festlegt. Doch haben unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Standards, wie mit Emotion umgegangen werden soll. Einige Formen emotionaler Reaktionen, sogar beim Gesichtsausdruck, sind in jeder Kultur einzigartig. Kulturen erstellen soziale Regeln dafür, wann welche Emotionen gezeigt werden, sowie Regeln für die soziale Angemessenheit bestimmter emotionaler Ausdrücke von bestimmten Menschen in bestimmten Situationen (Mesquita & Frijda, 1992; Ratner, 2000). Sehen wir uns drei Beispiele von Kulturen an, die Emotionen anders ausdrücken, als es der westlichen Norm entspricht. Beginnen wir mit einer afrikanischen Kultur.
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Die Wolof aus dem Senegal leben in einer Gemeinschaft, in der Status und Machtunterschiede zwischen den Menschen strikt definiert sind. Von Mitgliedern der hohen Kaste dieser Kultur wird erwartet, dass sie den Ausdruck von Emotionalität in sehr engen Grenzen halten; Individuen niedriger Kasten dürfen und sollen impulsiver sein, besonders die Mitglieder einer Kaste, die Griots genannt wird. Die Griots werden tatsächlich oft dafür herangezogen, die „unwürdigen“ Emotionen der besser Gestellten auszudrücken. Eines Nachmittags stand eine Gruppe von Frauen (etwa fünf Ehrwürdige und zwei Griots) in der Nähe eines Brunnens am Rande der Stadt, als eine weitere Frau zum Brunnen schritt und sich hinabstürzte. Alle Frauen waren vom offensichtlichen Selbstmordversuch schockiert, aber die vornehmen Frauen waren im Stillen schockiert. Nur die Griot-Frauen schrien, und zwar im Namen aller. (Irvine, 1990, S. 146) Können Sie sich vorstellen, wie Sie in dieser Situation reagieren würden? Wahrscheinlich ist es einfacher, an der Stelle der Griots als an jener der vornehmen Frauen zu sein: Wie könnte man nicht aufschreien? Die Antwort liegt natürlich darin, dass die vornehmen Frauen kulturelle Normen für den emotionalen Ausdruck verinnerlicht haben, die verlangen, dass sie keine offenen Reaktionen zeigen. Ein zweites Beispiel kultureller Variation im emotionalen Ausdruck entstand im Leben eines der Autoren dieses Buches. Beim Begräbnis eines amerikanischen Freundes syrischer Abstammung überraschte es ihn, eine Gruppe Frauen jammern und klagen zu sehen und zu hören, wenn ein Besucher die Leichenhalle betrat. Dann hörten sie wieder ganz unvermittelt auf, bis der nächste Besucher eintraf und sie abermals in der Gruppe jammerten. Welche Erklärung gibt es für dieses Verhalten? Weil es für die Familienangehörigen des Ver-
storbenen schwierig ist, über die drei Tage und Nächte der Totenwache einen hohen Grad an Emotion aufrechtzuerhalten, mieten sie diese professionellen Klageweiber, die an ihrer Stelle jedem neu Hinzukommenden angemessen starke Emotionen demonstrieren. Diese Praktiken werden bei einigen mediterranen Kulturen und Kulturen aus dem Nahen Osten erwartet. Für unser drittes Beispiel wenden wir uns einem interkulturellen Unterschied bezüglich der Normen für den Ausdruck schmerzlicher Gefühle zu. Erinnern Sie sich an Kapitel 4, in dem wir dargestellt haben, dass der psychologische Kontext einen entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß hat, in dem Menschen Schmerz empfinden. Ähnlich groß ist der Einfluss des kulturellen Kontexts auf das als angemessen empfundene Ausmaß, in dem Schmerz gezeigt werden darf. So zeigte etwa eine Studie den Kontrast zwischen dem, was Menschen in Japan und in den USA als angemessenes Verhalten zum Ausdruck von Schmerz empfinden (Hobara, 2005). Probanden aus beiden Kulturen füllten Fragebögen zu diesem Thema (Appropriate Pain Behavior Questionnaire, APBQ) mit Aussagen aus wie „Frauen sollten in den meisten Fällen in der Lage sein, Schmerzen zu ertragen“ und „Es ist für Männer akzeptabel, bei Schmerz zu weinen“. Im Allgemeinen erhielten die japanischen Teilnehmer niedrigere Punktzahlen auf dem APBQ: Sie stimmten dem offenen emotionalen Ausdruck von Schmerz weniger zu. Außerdem fand emotionales Verhalten der Frauen in beiden Gruppen mehr Zustimmung als das der Männer. Die Forscher schrieben den kulturellen Unterschied dem „traditionellen Stoïzismus … vieler asiatischer Kulturen“ zu (Hobara, 2005, S. 392). Wenn man an die emotionalen Muster denkt, die sich im Laufe der menschlichen Erfahrung entwickelt haben dürften, sollte man immer im Kopf behalten, dass die Kultur das letzte Wort behält. Westliche Ansichten darüber, was beim emotionalen Ausdruck notwendig oder unvermeidlich ist, haften an der ame-
Auf welche Weise beschränken Kulturen den emotionalen Ausdruck in Situationen wie Beerdigungen?
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rikanischen oder an der deutschen Kultur genauso wie die Ansichten von anderen Gesellschaften an jenen Kulturen. Wird damit deutlich, wie unterschiedliche Standards für den emotionalen Ausdruck Missverständnisse zwischen Menschen unterschiedlichen kulturellen Ursprungs verursachen können? Bis hierhin haben wir gesehen, dass einige physiologische Reaktionen auf emotionale Situationen – wie Lächeln oder bestimmte Grimassen – angeboren sein können. Wenden wir uns nun Theorien zu, welche die Verbindung weiterer physiologischer Reaktionen mit ihren psychologischen Interpretationen betrachten.
12.1.2 Emotionstheorien Emotionstheorien versuchen im Allgemeinen, die Beziehung zwischen physiologischen und psychischen Aspekten des Erlebens von Emotion zu erklären. Dieser Abschnitt beginnt mit der Diskussion der Reaktionen, die unser Körper in emotional relevanten Situationen produziert. Es schließt sich ein Überblick über Theorien an, die untersuchen, wie diese physiologischen Reaktionen zum psychischen Erleben von Emotionen beitragen.
Physiologie der Emotionen Was passiert, wenn man eine starke Emotion erlebt? Das Herz rast, die Atmung wird schneller, der Mund wird trocken, die Muskeln spannen sich an und vielleicht zittert man sogar. Neben diesen merklichen Veränderungen ereignen sich viele unterhalb der Oberfläche. All diese Reaktionen dienen dazu, den Körper zum Handeln zu mobilisieren, um mit der Quelle der Emotion umgehen zu können. Werfen wir einen Blick auf ihre Ursprünge. Das autonome Nervensystem bereitet durch die Aktivität seines sympathischen und parasympathischen Teils (siehe Kapitel 3) den Körper auf emotionale Reaktionen vor. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Teilen hängt von der Qualität und Intensität der erregenden Stimulation ab. Bei leicht unangenehmer Stimulation ist der sympathische Teil aktiver, bei leicht angenehmer Stimulation der parasympathische. Bei intensiverer Stimulation der einen wie der anderen Art sind beide Teile zunehmend involviert. Physiologisch betrachtet aktivieren starke Emotionen wie Furcht oder Ärger das Notfallreaktionssystem des Körpers, das den Körper schnell und unauffällig auf eine potenzielle Gefahr vorbereitet. Das sympathische Nervensystem leistet seinen Beitrag, indem es die Aus-
schüttung von Hormonen (Adrenalin und Noradrenalin) aus den Nebennieren dirigiert, die wiederum die inneren Organe veranlassen, Blutzucker abzugeben, den Blutdruck zu erhöhen und Schwitzen und Speichelproduktion zu steigern. Damit man nach der Notfallsituation wieder zur Ruhe kommt, hemmt das parasympathische Nervensystem die Ausschüttung der aktivierenden Hormone. Man bleibt vielleicht auch einige Zeit nach dem Erleben einer starken emotionalen Aktivation noch erregt, weil sich einige Hormone weiterhin in der Blutbahn befinden. Wie wir bei der Beschreibung spezifischer Emotionstheorien sehen werden, haben Forscher die Frage kontrovers diskutiert, ob durch bestimmte emotionale Erfahrungen unterscheidbare Aktivationsmuster im autonomen Nervensystem entstehen. Die kulturvergleichende Forschung nimmt an, dass diese Frage bejaht werden kann. Ein Forscherteam maß autonome Reaktionen wie Herzfrequenz und Hauttemperatur, während sich in Männern und Frauen aus den Vereinigten Staaten und Minangkabau-Männer aus Westsumatra Emotionen entwickelten und sie diese zeigten. Die Mitglieder der Minangkabau-Kultur sind sozialisiert, keine negativen Emotionen zu zeigen. Ob sie wohl dieselben zugrunde liegenden autonomen Muster negativer Reaktionen zeigen – auch wenn sie wenig Erfahrung mit dem Zeigen von Emotionen hatten? Die Daten zeigten einen hohen Grad an Ähnlichkeit zwischen den beiden Kulturen. Dies ließ die Forscher annehmen, dass die Muster autonomer Aktivität „ein wichtiger Teil unseres gemeinsamen, aus der Evolution hervorgegangenen biologischen Erbes“ sind (Levenson et al., 1992, S. 986). Gehen wir jetzt vom autonomen Nervensystem zum Zentralnervensystem über. Die Integration hormoneller und neuronaler Aspekte der Erregung wird vom Hypothalamus und dem limbischen System gesteuert, den Kontrollsystemen für Emotionen und für Angriffs-, Verteidigungs- und Fluchtmuster. Die neuroanatomische Forschung hat ihr Augenmerk im Besonderen auf die Amygdala als einen Teil des limbischen Systems gerichtet, das als ein Tor für Emotionen und als ein Filter für das Gedächtnis fungiert. Die Amygdala lässt den Informationen, die sie von den Sinnen erhält, Bedeutung zukommen. Eine besonders große Rolle kommt ihr zu, wenn negativen Erfahrungen eine Bedeutung verliehen wird. Betrachtet man beispielsweise Bilder angsterfüllter Gesichtsausdrücke, dann weist die linke Amygdala (jede Seite unseres Gehirns hat eine eigene Amygdala) eine steigende Aktivität auf, wenn die Intensität der Ausdrücke anwächst; im Gegensatz dazu produzieren fröhliche Gesichtsaus-
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drücke in dieser Struktur weniger Aktivität, je fröhlicher das Gesicht aussieht (Morris et al., 1996). In Kapitel 10 haben wir Forschungsergebnisse beschrieben, die zeigen, dass die linke und die rechte Amygdala verschiedene Rollen in der Verarbeitung übernehmen, wenn Männer und Frauen emotionsgeladene Bilder betrachten oder sich daran erinnern (Cahill et al., 2004; Canli et al., 2002). Neue PET-ScanErgebnisse haben ergeben, dass die Gehirne von Männern und Frauen, was Emotionen angeht, unterschiedlich organisiert sind, auch wenn sie gerade nicht mit einer bestimmten Aufgabe befasst sind (Kilpatrick et al., 2006). Parallel zu den Ergebnissen für das emotionale Erinnern zeigen Männer eine größere Ruheaktivität in der rechten Amygdala, Frauen dagegen in der linken Amygdala. Männer und Frauen unterscheiden sich allerdings auch in den Verbindungsmustern zu anderen Hirnregionen. Bei Männern kommuniziert die rechte Amygdala intensiv mit Gehirnbereichen wie dem motorischen und visuellen Cortex, die auf die äußere Umgebung ausgerichtet sind. Bei Frauen dagegen kommuniziert die linke Amygdala intensiv mit Hirnbereichen wie dem Hypothalamus, die auf den eigenen Körper ausgerichtet sind. Diese Daten deuten darauf hin, dass Männer und Frauen biologisch prädisponiert sein könnten, unterschiedlich auf emotionale Ereignisse zu reagieren. Der Cortex ist über sein internes neuronales Netzwerk und seine Verbindungen mit anderen Bereichen des Körpers am emotionalen Erleben beteiligt. Der Cortex stellt die Assoziationen, Gedächtnisinhalte und Bedeutungen bereit, die psychische Erfahrungen und biologische Reaktionen integrieren. Die Forschung mit bildgebenden Verfahren hat begonnen, bestimmte Reaktionen unterschiedlichen Emotionen zuzuordnen. So stellen beispielsweise positive und negative Emotionen nicht einfach nur gegensätzliche Reaktionen desselben Bereiches des Cortex dar. Diese gegensätzlichen Emotionen führen vielmehr in völlig unterschiedlichen Bereichen des Gehirns zur größten Aktivität. Betrachten wir eine Studie, in der die Teilnehmer fMRT-Scans unterzogen wurden, während sie sich positive Bilder (zum Beispiel Welpen, Brownies und Sonnenuntergänge) und negative (zum Beispiel wütende Menschen, Spinnen und Feuerwaffen) betrachteten. Die Scans zeigten bei positiven Bildern eine größere Aktivität in der linken Hirnhälfte und bei negativen Bildern in der rechten Hirnhälfte (Canli et al., 1998). Tatsächlich haben Forscher vorgeschlagen, dass es im Gehirn zwei unterschiedliche Systeme für annäherungsbezogene und rückzugsbezogene emotionale Reaktionen gebe (Davidson et al., 2000a). Neh-
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In welcher Weise reagiert das Gehirn unterschiedlich auf den Anblick von Welpen und Spinnen? men wir Welpen und Spinnen als Beispiele: Sehr wahrscheinlich würden sich die meisten Menschen den Welpen nähern, sich aber von den Spinnen entfernen wollen. Die Forschung legt nahe, dass verschiedene Schaltkreise im Gehirn – unterschiedlichen Hirnhälften zugeteilt – diese Reaktionen auslösen. Bis jetzt haben wir erfahren, dass unser Körper eine Vielzahl von Reaktionen auf Situationen zur Verfügung stellt, in denen Emotionen wichtig sind. Aber wie wissen wir, welche Gefühle mit welchen physiologischen Reaktionen einhergehen? Verschaffen wir uns nun einen Überblick über drei Theorien, die den Versuch unternehmen, diese Frage zu beantworten.
Die James-Lange-Theorie der Körperreaktion Sie denken vielleicht zunächst, es gäbe eine große Übereinstimmung darin, dass Emotionen den Reaktionen vorausgehen: Sie schreien beispielsweise jemanden an (Reaktion), weil Sie wütend sind (Emotion). Vor über 100 Jahren jedoch behauptete William James, genauso wie schon viel früher Aristoteles, dass die Abfolge umgekehrt ist – man fühlt, nachdem der Körper reagiert. Wie James es formulierte: „Wir sind traurig, weil wir weinen, wütend, weil wir zuschlagen, wir haben Angst, weil wir zittern“ (James, 1890/1950, S. 450). Die Sichtweise, dass die Emotion vom körperlichen Feedback herrührt, wurde als James-LangeTheorie der Emotion bekannt (Carl Lange war ein dänischer Wissenschaftler, der im selben Jahr wie James ähnliche Ideen vertrat). Nach dieser Theorie verursacht die Wahrnehmung eines Stimulus autonome Erregung und andere Körperaktionen, die zum Erleben einer speziellen Emotion führen ( Abbildung 12.2). Die James-Lange-Theorie gilt als peripheriebetonende Theorie, weil sie die wichtigste Rolle in der Emotions-
12.1 Emotionen
Gehirnaktivierung und Verarbeitung
Abbildung 12.2: Ein Vergleich dreier Emotionstheorien. Diese klassischen Theorien der Emotion schlagen unterschiedliche Komponenten der Emotion vor. Auch geben sie unterschiedliche Prozessfolgen an, durch die ein Ereignis im Erleben einer Emotion resultiert. Nach der James-Lange-Theorie lösen Ereignisse zwei Reaktionen – autonome Erregung und Verhalten (Aktion) – aus, die wahrgenommen werden und anschließend in einer spezifischen emotionalen Erfahrung resultieren. Nach der Cannon-Bard-Theorie werden Ereignisse zuerst in verschiedenen Zentren im Gehirn verarbeitet, die dann simultane Reaktionen von Erregung, Verhalten und emotionaler Erfahrung in Gang setzen. Nach der Theorie der kognitiven Bewertung werden Stimulusereignis und physiologische Erregung gemäß der situativen Hinweise und Kontextfaktoren gleichzeitig kognitiv bewertet; emotionale Erfahrung resultiert aus der Interaktion von Erregungsniveau und Art der Einschätzung. kette den viszeralen Reaktionen zuschreibt, jenen Aktionen des autonomen Nervensystems, die sich in der Peripherie des Zentralnervensystems befinden.
Die Cannon-Bard-Theorie der zentralen neuronalen Prozesse Der Physiologe Walter Cannon (1927, 1929) wies die peripheriebetonende Theorie zugunsten eines zentralistischen Fokus auf die Aktivität des Zentralnervensystems zurück. Cannon und andere Kritiker erhoben eine Menge von Einwänden gegen die James-LangeTheorie (Leventhal, 1980). Sie merkten beispielsweise an, dass die viszerale Aktivität für emotionales Erleben irrelevant sei – Versuchstiere reagierten immer noch emotional, nachdem ihr viszerales System operativ von Zentralnervensystem abgetrennt wurde. Sie behaupteten zudem, dass Reaktionen des autonomen Nervensystems typischerweise zu langsam sind, um als Quelle für in Sekundenbruchteilen auftretende Emotionen in Frage zu kommen. Cannon zufolge erfordern Emotionen, dass das Gehirn zwischen der Stimulation durch den Input und der Reaktion (als Output) vermittelt. Signale aus dem Thalamus werden zu dem einen Bereich des Cortex gelenkt, um ein emotionales Gefühl hervorzurufen, und zu einem anderen, um die emotionale Expressivität zu bewirken. Ein anderer Physiologe, Philip Bard, kam ebenfalls zum Schluss, dass viszerale Reaktionen in der Emotionskette nicht vorrangig sind. Stattdessen hat ein
Emotionen erregender Stimulus zwei gleichzeitige Effekte, die sowohl eine körperliche Erregung über das sympathische Nervensystem als auch das subjektive Erleben von Emotion über den Cortex verursachen. Die Ansichten dieser beiden Physiologen wurden in der Cannon-Bard-Theorie der Emotion zusammengefügt. Diese Theorie behauptet, dass ein emotionaler Stimulus zwei gleichzeitige Reaktionen, Erregung und das Erleben von Emotion, hervorruft, die einander nicht bedingen (siehe Abbildung 12.2). Ärgert man sich über etwas, steigt die Pulsfrequenz im selben Moment, in dem man denkt „Ich bin sauer!“ – aber weder Körper noch Geist geben dem jeweils anderen vor, wie er reagiert. Die Cannon-Bard-Theorie sagt eine Unabhängigkeit von körperlichen und psychischen Reaktionen voraus. Wir werden als Nächstes sehen, dass gegenwärtige Theorien der Emotion die Behauptungen zurückweisen, dass diese Reaktionen zwingend unabhängig voneinander sind.
Emotionstheorien der kognitiven Bewertung Weil Erregungssymptome und interne Zustände bei vielen verschiedenen Emotionen ähnlich sind, kann man sie in mehrdeutigen oder neuen Situationen leicht verwechseln. Nach Stanley Schachter (1971b) ist das Erleben von Emotion ein gemeinsamer Effekt von physiologischer Erregung und kognitiver Bewertung; beides ist für das Auftreten einer Emotion not-
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wendig. Jegliche Erregung wird für allgemein und undifferenziert gehalten, und Erregung ist der erste Schritt in der Emotionskette. Man schätzt seine körperliche Erregung ein, um zu entdecken, was man gerade fühlt, welche emotionale Bezeichnung am besten passt und was die eigene Reaktion in der entsprechenden Situation bedeutet, in der sie erfahren wird. Richard Lazarus (1991, 1995; Lazarus & Lazarus, 1994), ein weiterer führender Verfechter der Sichtweise der kognitiven Bewertung, behauptet, dass „emotionales Erleben nicht ausschließlich hinsichtlich dessen verstanden werden kann, was sich im Individuum oder im Gehirn ereignet, sondern aus fortwährenden Auseinandersetzungen mit der Umwelt, die bewertet werden, erwächst“ (Lazarus, 1984a, S. 124). Lazarus betonte auch, dass die Bewertung oft unbewusst vonstatten geht. Wenn vergangene Erfahrungen Emotionen mit Situationen verbinden – hier kommt der Kerl, mit dem ich früher schon aneinander geraten bin! –, muss man nicht explizit in der Umwelt nach einer Interpretation der Erregung suchen. Diese Position wurde als Emotionstheorie der kognitiven Bewertung bekannt (siehe Abbildung 12.2). Um diese Theorie zu prüfen, haben Forscher bisweilen Situationen geschaffen, in denen Hinweisreize aus der Umwelt eine Einordnung für die individuelle Erregung liefern konnten.
AUS DER FORSCHUNG Eine weibliche Forscherin interviewte männliche Versuchsteilnehmer, die soeben eine von zwei Brücken in Vancouver, Kanada, überquert hatten. Eine Brücke war sicher und solide, die andere wackelig und unsicher. Die Forscherin gab vor, an den Auswirkungen der Szenerie auf die Kreativität interessiert zu sein, und bat die Männer, eine kurze Geschichte über ein mehrdeutiges Bild mit einer Frau zu schreiben. Sie bot ihnen zudem an, sie anzurufen, wenn sie mehr über die Untersuchung wissen wollten. Diejenigen Männer, die gerade die gefährliche Brücke überquert hatten, schrieben Geschichten mit mehr sexuellen Vorstellungsbildern und riefen die Forscherin viermal so häufig an als die Männer, welche die sichere Brücke überquert hatten. Um zu zeigen, dass die Erregung die unabhängige Variable war, welche die emotionale Fehlinterpretation beeinflusste, interviewte das Forschungsteam eine andere Gruppe von Männern zehn oder mehr Minuten nach dem Überqueren der gefährlichen Brücke; Zeit genug, damit ihre körperlichen Erregungssymptome zurückgegangen waren. Diese nicht erregten Männer zeigten keine Anzeichen sexueller Vorstellungsbilder wie die erregten Männer (Dutton & Aron, 1974).
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In dieser Situation trafen die männlichen Probanden ein emotionales Urteil („Ich bin an dieser Frau interessiert“), das auf einer Fehlinterpretation der Quelle der Erregung (der Frau und nicht der Gefahr der Brücke) basierte. In einem ähnlichen Experiment berichteten Studierende, die zwei Minuten lang Aerobic-Übungen machten, unmittelbar nach den Übungen weniger extreme Emotionen – als sie ihre Erregung leicht auf die Übungen anstatt auf einen emotionalen Zustand attribuieren konnten – als im Vergleich zu den Emotionen, die sie nach einer kurzen Pause berichteten, welche die Übungen für die anhaltende Erregung weniger relevant erscheinen ließen (Sinclair et al., 1994). Einige der spezifischen Aspekte der Theorie der kognitiven Bewertung stehen auf dem Prüfstand. Wie oben erwähnt, sind zum Beispiel die Erregungszustände – die Aktivität des autonomen Nervensystems –, welche die unterschiedlichen Emotionen begleiten, nicht identisch (Levenson et al., 1992). Deshalb bedarf es für die Interpretationen von zumindest einigen emotionalen Erfahrungen keiner kognitiven Bewertung. Des Weiteren führt das Erleben starker Erregung ohne einen offensichtlichen Grund nicht zu einem neutralen, undifferenzierten Zustand, wie die Theorie annimmt. Halten wir einen Moment lang inne und stellen uns vor, dass genau jetzt unser Herz plötzlich zu rasen beginnt, unsere Atmung schnell und flach wird, sich unsere Brustmuskeln zusammenziehen und unsere Handflächen schweißnass werden. Wie würde man diese Symptome interpretieren? Überrascht es, dass Menschen im Allgemeinen unerklärliche körperliche Erregung als negativ, als ein Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung ist, interpretieren? Zudem scheint sich die Suche der Menschen nach einer Erklärung bevorzugt auf Stimuli zu richten, die diese negative Interpretation erklären oder rechtfertigen können (Marshall & Zimbardo, 1979; Maslach, 1979). Eine weitere Kritik an der Emotionstheorie der kognitiven Bewertung führt der Forscher Robert Zajonc an, der Bedingungen aufzeigt, unter denen es möglich ist, Vorlieben ohne Schlussfolgerungen zu haben, und zu fühlen, ohne zu wissen warum (Zajonc, 2000, 2001). In einer ausgedehnten Reihe von Experimenten zum Effekt der Darbietungshäufigkeit wurden Probanden ganz vielfältige Stimuli wie beispielsweise Wörter aus fremdem Sprachen, japanische Schriftzeichen, eine Reihe von Zahlen oder fremde Gesichter gezeigt, die so kurz eingeblendet wurden, dass sie nicht bewusst erkannt werden konnten. Einige Zeit später wurden die Teilnehmer befragt, wie sehr sie bestimmte Stimuli mögen, von denen einige alt (das heißt, diese Stimuli waren unterhalb der Wahrnehmungsschwelle kurz gezeigt worden), andere dagegen neu waren. Die Teilneh-
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Welche Emotionen würden Sie wahrscheinlich empfinden, wenn die Leute um Sie herum Ihrer Lieblingsmannschaft wild zujubeln würden? mer neigten dazu, den alten Stimuli höhere Werte zu geben. Weil die Befragten diese positiven Emotionen ohne bewusstes Erkennen ihrer Gründe empfanden, konnte die emotionale Reaktion nicht aus einem kognitiven Bewertungsprozess stammen. Vielleicht ist die Schlussfolgerung am sichersten, dass die kognitive Bewertung einen wichtigen Prozess emotionaler Erfahrung darstellt, sie ist jedoch nicht der einzige (Izard, 1993). Unter gewissen Umständen achtet man in der Tat auf die Umwelt (zumindest unbewusst), in dem Versuch zu interpretieren, warum man sich fühlt, wie man sich fühlt. Unter anderen Umständen jedoch mögen die emotionalen Erfahrungen unter der Kontrolle angeborener, aus der Evolution entstandener Verbindungen stehen. Die physiologische Reaktion bedarf dann keiner eigenen Interpretation. Diese unterschiedlichen Routen emotionaler Erfahrungen lassen den Schluss zu, dass Emotionen eine ganze Reihe von Funktionen erfüllen. Wenden wir uns nun diesen Funktionen zu.
12.1.3 Funktionen von Emotionen Warum haben wir Emotionen? Welche Funktionen erfüllen Emotionen für uns? Um über diese Fragen nachzudenken, mag es hilfreich sein, wenn Sie Ihren Tag noch einmal Revue passieren lassen und sich vorstellen, wie anders er gewesen wäre, wenn Sie keine Emotionen erleben oder verstehen könnten. Lassen Sie uns einige der Funktionen von Emotionen näher betrachten, die nach Meinung der Forscher eine Rolle in unserem Leben spielen.
Motivation und Aufmerksamkeit Sie tragen zum ersten Mal ein neues Sweatshirt, und die Naht an der Schulter reißt. Warum stürmen Sie
wahrscheinlich zurück ins Geschäft und fordern Ihr Geld zurück? Aus Kapitel 11 wissen wir, dass dies eine Frage der Motivation ist. Wollten Sie antworten „Weil ich verärgert wäre“ oder „Weil ich enttäuscht wäre“, so können Sie sehen, dass Emotionen oftmals den Antrieb für eine Handlung darstellen. Emotionen erfüllen eine motivationale Funktion, indem sie uns anregen, in Bezug auf ein erlebtes oder vorgestelltes Ereignis zu handeln. Emotionen geben unserem Verhalten eine Richtung auf ein spezifisches Ziel hin und erhalten es aufrecht. Für die Liebe eines anderen Menschen tun wir wahrscheinlich alles, was in unserer Macht steht, um anziehend zu sein, um diesem Menschen nahe zu sein und ihn oder sie zu beschützen. Aus Liebe zu Prinzipien oder zum Vaterland opfern wir vielleicht unser Leben. Betrachten wir die spezifischen Umstände, unter denen emotionale Reaktionen einen Einfluss darauf haben, wie wir unsere Aufmerksamkeit ausrichten. Wie bereits in Kapitel 4 erörtert, können wir uns jeweils nur auf einen kleinen Teil der Objekte und Ereignisse in unserer Umgebung auf einmal konzentrieren. Die Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Emotionen die Aufmerksamkeit auf eine Art konzentriert, die eine bessere Gedächtnisleistung ergibt.
AUS DER FORSCHUNG Probanden betrachteten Fotografien, die entweder neutral waren (zum Beispiel ein Flugzeug oder ein Barometer) oder negative Emotionen erweckten (zum Beispiel eine Granate oder eine Injektionsnadel) (Kensinger et al., 2006). Die Präsentationsdauer betrug dabei entweder 250 Millisekunden (¼ Sekunde) oder 500 Millisekunden (½ Sekunde). Die Versuchsteilnehmer beurteilten jeweils, ob die Objekte auf den Bildern in einen Schuhkarton passen würden – zuvor hatten sie einen Schuhkarton als Referenzobjekt betrachtet. Zwei Tage später kehrten die Probanden ins Labor zurück, um einen Gedächtnistest zu absolvieren, den sie nicht erwartet hatten. Sie sollten eine weitere Reihe Fotografien betrachten und jeweils sagen, ob es sich um ein „neues“ Bild (eines, das sie zuvor noch nicht gesehen hatten), ein „ähnliches“ Bild (eine andere Abbildung eines bereits gezeigten Objekts – zum Beispiel ein anderes Flugzeug) oder ein um „identisches“ (also dieselbe Fotografie, die sie bereits zuvor gesehen hatten) handele. Wenn die Teilnehmer die ursprünglichen Fotografien 500 Millisekunden lang gesehen hatten, waren sie bei den emotional aufgeladenen Objekten besser im Stande, „ähnliche“ von „identischen“ Abbildungen zu unterscheiden: Die von den Objekten hervorgerufenen Emotionen halfen dabei, die Aufmerksamkeit auf visuelle Einzelheiten zu lenken.
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Bei einer Betrachtungsdauer von nur 250 Millisekunden prägten sich die emotional aufgeladenen Fotografien allerdings nicht besser ein, was darauf hindeutet, dass eine bestimmte Verarbeitungszeit nötig ist, bevor Emotionen den Aufmerksamkeitsfokus beeinflussen können.
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Soziale Funktionen von Emotionen Vom sozialen Standpunkt aus erfüllen Emotionen eine breit gefächerte Funktion des Regulierens sozialer Interaktionen. Als sozial anziehender Pol binden sie uns an einige unserer Mitmenschen; als sozial abstoßender Pol distanzieren sie uns von anderen. Wir gehen einen Schritt zurück, wenn jemand vor Wut kocht, und wir kommen näher, wenn ein anderer Mensch mit einem Lächeln, erweiterten Pupillen und einem „Komm-her“Blick Kontaktbereitschaft signalisiert. Man unterdrückt vielleicht heftige negative Emotionen wegen des Status oder der Macht einer anderen Person. Betrachten wir D. R., eine Frau, die die Funktion ihrer Amygdala verlor – und damit die Fähigkeit, Ärger und Angst wahrzunehmen (Scott et al., 1997). Stellen Sie sich vor, wie das Leben aussehen würde, wenn wir nicht verstehen könnten, wenn Menschen negative Emotionen kommunizieren. Was wäre beispielsweise, wenn wir nicht von anderen erfahren könnten, dass eine Situation gefährlich ist? Oder dass unser Handeln Anlass zu Ärger gegeben hat? Mit dem Verlust der Funktion ihrer Amygdala verlor D. R. auch die Fähigkeit, in ihrer sozialen Welt umfassend zu funktionieren. Die Emotionen, die wir erleben, wirken sich stark auf unser Funktionieren in sozialen Gefügen aus. Betrachten wir die Konsequenzen der positiven und negativen Stimmungen von Menschen auf die Art und Weise, wie sie um etwas baten.
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Abbildung 12.3: Die Effekte der Stimmung auf die Höflichkeit beim Auffordern. Probanden in einer fröhlichen, neutralen oder traurigen Stimmung forderten einen Fremden zu etwas auf. Beurteiler ordneten die Höflichkeit jeder Aufforderung auf einer Skala von 1 (unhöflich) bis 7 (höflich) ein. Probanden in trauriger Stimmung trugen ihre Aufforderungen im Vergleich höflicher vor (beispielsweise „Würden Sie mir bitte die Stimulusliste aushändigen?“ vs. „Ich brauche die Stimulusliste“). Denken wir an unser eigenes Leben: Sind wir in sozialen Situationen risikofreudiger, wenn unsere Stimmung gut ist? Sind wir vorsichtiger, wenn wir traurig sind?
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer an einem Experiment sahen kurze Filme, die sie in fröhliche, neutrale oder traurige Stimmung versetzten. Sobald die Stimmung hergestellt war, bat der Versuchsleiter jeden Probanden, ihm einen Gefallen zu tun: Er oder sie sollte bitte eine Stimulusliste von einem Forschungsassistenten im Nebenraum holen. Die Worte, mit denen die Probanden die Aufforderung vortrugen, wurden aufgezeichnet. Beurteiler (die nicht wussten, welcher Proband sich in welcher Stimmung befand) bewerteten die Höflichkeit jeder Aufforderung. Wie Abbildung 12.3 zeigt, wirkt sich die Stimmung deutlich auf die Höflichkeit aus: Traurige Probanden waren am höflichsten. Menschen in trauriger Stimmung scheinen vorsichtiger zu sein, wenn sie direkte – möglicherweise unhöfliche – Forderungen an andere Personen richten (Forgas, 1999).
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Hat eine starke Emotion wie Ärger Sie jemals dazu gebracht, sich irrational oder destruktiv zu verhalten?
12.1 Emotionen
Die Forschung weist darüber hinaus auf die Auswirkung von Emotionen auf die Anregung prosozialen Verhaltens hin (Hoffman, 1986; Isen, 1984; Schroeder et al, 1995). Wenn Menschen dazu gebracht werden, sich gut zu fühlen, dann zeigen sie mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Vielzahl von Hilfeverhalten (Carlson et al., 1988). Fühlen Probanden sich schuldig an einem Vorfall, dann helfen sie in einer künftigen Situation eher freiwillig, um möglicherweise ihre Schuld zu schmälern (Carlsmith & Gross, 1969). In ähnlicher Weise hängt die Stimmung von Menschen davon ab, wie prosozial sie waren. Erinnerten sie sich zum Beispiel an Ereignisse, in denen sie es ablehnten, anderen zu helfen, gerieten sie in eine negativere Stimmung (Williamson et al., 1996). Dies traf im Besonderen zu, wenn die Person, der sie nicht helfen wollten, ein guter Freund, ein Familienmitglied oder ein Beziehungspartner war. Wie wir uns fühlen, ist zum großen Teil davon beeinflusst, wie gut wir in der Lage sind, unseren sozialen Verpflichtungen nachzukommen.
Die Wirkung der Emotionen auf kognitive Funktionen Emotionen dienen kognitiven Funktionen, indem sie beeinflussen, worauf wir achten, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen und wie wir verschiedene Merkmale von Lebenssituationen interpretieren und erinnern. Forscher haben gezeigt, dass emotionale Zustände Lernen, Erinnern, soziale Urteile und Kreativität beeinflussen können (Bradley, 1994; Forgas, 1995, 2000). Unsere emotionalen Reaktionen spielen bei der Organisation und Kategorisierung unserer Lebenserfahrungen eine wichtige Rolle. Die Forschung zur Rolle der Emotion bei der Informationsverarbeitung begann mit Gordon Bower (1981, 1991) und seinen Studierenden. Bowers Modell nimmt an, dass eine Emotion, die eine Person in einer bestimmten Situation erfährt, zusammen mit den begleitenden Ereignissen als Teil des gleichen Kontextes im Gedächtnis gespeichert wird. Dieses Muster von Gedächtnisrepräsentationen führt zu stimmungskongruenter Verarbeitung und zu stimmungsabhängigem Erinnern. Stimmungskongruente Verarbeitung tritt auf, wenn Menschen selektiv dafür sensibel sind, solche Informationen zu verarbeiten und abzurufen, die zu ihrer gegenwärtigen Stimmung passen. Material, das mit der vorherrschenden Stimmung eines Menschen kongruent ist, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit bemerkt, mit Aufmerksamkeit versehen und tiefer und mit stärkeren elaborativen
Assoziationen verarbeitet (Gilligan & Bower, 1984). Beim stimmungsabhängigen Erinnern fällt es Menschen leichter, sich an Informationen zu erinnern, wenn ihre Stimmung beim Abruf mit der Stimmung beim erstmaligen Einspeichern dieser Informationen übereinstimmt (Eich, 1995; Eich & Macaulay, 2000). Hier ist ein Beispiel für Stimmungskongruenz, das Ihnen vielleicht selbst schon aufgefallen ist: Menschen, die positiv gestimmt sind, erinnern sich eher an positive Ereignisse aus ihrem Leben als Menschen in negativer Stimmung (Eich et al., 1994). Die Forschung interessiert sich auch für das Verständnis der Umstände, unter denen Emotionen einen Einfluss auf das Urteilen und Schlussfolgern ausüben (Adolphs & Damasio, 2001). Betrachten Sie die zwei Argumentationsaufgaben in Tabelle 12.1. Wie würden Sie die Fragen am Ende jeder Aufgabe beantworten? Wenn Sie die Situation sorgfältig analysieren und sich dabei nur auf das Ergebnis konzentrieren, sehen Sie, dass jeweils eine Person stirbt, damit fünf andere überleben. Trotzdem reagieren die meisten Menschen unterschiedlich auf die beiden Szenarien: Sie finden es zwar angemessen, den Schalter umzulegen, aber kaum vorstellbar, einen Fremden auf die Schienen zu stoßen. Eine Hypothese zur Erklärung dieses Unterschieds lautet, dass der erste Problemtyp emotionale Verarbeitungsprozesse in Gang setzt: Bei der Vorstellung, jemanden tatsächlich auf die Schienen zu stoßen, kann man nur schwer emotional unbeteiligt bleiben. Die Argumente für diese Hypothese kommen direkt aus dem Gehirn. In einer Studie sollten die Probanden moralische Argumentationssaufgaben abwägen, während fMRT-Scans von ihren Gehirnen aufgezeichnet wurden (Greene et al., 2001). Wie im ersten Beispiel waren manche Probleme persönlich – es sollten Handlungen erwogen werden, die direkte persönliche Beteiligung erforderten. Dagegen waren andere Aufgaben, wie im zweiten Beispiel, eher unpersönlich. Beide Arten von Aufgaben riefen im Gehirn unterschiedliche Reaktionen hervor. Insbesondere zeigten die fMRT-Scans bei den persönlichen Problemen bedeutend mehr Aktivitäten in den Hirnarealen, die durch frühere Untersuchungen mit Emotionsverarbeitung in Beziehung gesetzt worden waren. Diese Studie weist stark darauf hin, dass der Inhalt der Probleme, denen man sich im Leben gegenüber sieht, die Art bestimmt, auf die Kognition und Emotion zur Lösungsfindung zusammenwirken. Eine Anmerkung noch zur Beziehung zwischen Stimmung und Kognition. Forscher haben übereinstimmend gezeigt, dass positive Gefühle – angenehme Stimmungen – effizienteres und kreativeres Denken
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Tabelle 12.1
Moralische Argumentationsprobleme 1. Ein außer Kontrolle geratenes Schienenfahrzeug rollt auf den Schienen auf fünf Arbeiter zu, die es überfahren und töten wird, wenn es nicht aufgehalten wird. Sie befinden sich auf einer Fußgängerbrücke über den Schienen, zwischen dem nahenden Fahrzeug und den Arbeitern. Neben Ihnen steht ein Fremder, der zufällig ziemlich dick ist. Der einzige Weg, die fünf Arbeiter zu retten, ist, den Fremden von der Brücke auf die Schienen zu stoßen, wo sein massiver Körper das Fahrzeug stoppen wird. Der Fremde wird dabei zwar sterben, aber die fünf Arbeiter dadurch gerettet werden. Ist es gerechtfertigt, den Fremden auf die Schienen zu stoßen, um die fünf Arbeiter zu retten? 2. Sie befinden sich am Steuer eines außer Kontrolle geratenen Schienenfahrzeugs, das sich schnell einer Weiche nähert. Auf dem linken Gleis befindet sich eine Gruppe von fünf Bahnarbeitern, auf dem rechten Gleis dagegen nur ein einzelner Bahnarbeiter. Wenn Sie nichts unternehmen, wird das Fahrzeug auf das linke Gleis schwenken und die fünf Arbeiter töten. Der einzige Weg, ihren Tod zu vermeiden, ist, einen Schalter auf dem Armaturenbrett umzulegen, der das Fahrzeug nach rechts umlenkt, so dass der einzelne Arbeiter überfahren und getötet wird. Ist es gerechtfertigt, den Schalter umzulegen, um die fünf Arbeiter zu retten?
ZWISCHENBILANZ und Problemlösen zur Folge haben (Isen et al., 1987). In einer Studie sollten Ärzte Aufgaben bearbeiten, die ein gewisses Maß an Kreativität erfordern. Diejenigen, die in eine leicht angenehme Stimmung versetzt wurden (die Versuchsleiter schenkten den Ärzten eine kleine Süßigkeit), schnitten beim Kreativitätstest zuverlässig besser ab als diejenigen der Kontrollgruppe (ohne vorheriges Geschenk) (Estrada et al., 1994). Sie können diese Befunde unmittelbar in die Praxis umsetzen: Sie erledigen wahrscheinlich Ihre Arbeit effizienter und kreativer, wenn Sie eine gute Stimmung aufrechterhalten können. Sie mögen denken: „Wie soll ich fröhlich bleiben bei all dieser Arbeit, die erledigt werden muss?“ Wenn wir nun zum Thema Stress übergehen und dazu, wie man mit Stress umgeht, werden Sie erfahren, wie man kognitive Kontrolle darüber erhalten kann, wie man sich „fühlt“.
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1 Was hat die interkulturelle Forschung über das Erken-
nen von Gesichtsausdrücken ergeben? 2 Welche Rolle spielt das autonome Nervensystem beim
Erleben von Emotionen? 3 Was ist die grundlegende Behauptung der Cannon-
Bard-Theorie der Emotionen? 4 Welche allgemeine Beziehung besteht zwischen Stim-
mung und Höflichkeit in sozialen Situationen? 5 Was versteht man unter stimmungsabhängiger Erin-
nerung? KRITISCHES DENKEN: Wozu diente bei dem Versuch mit emotional aufgeladenen und neutralen Fotografien die Beurteilung, ob der gezeigte Gegenstand in einen Schuhkarton passen würde?
12.1 Emotionen
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Warum sind manche Menschen glücklicher als andere?
Sie denken vielleicht, dass diese Frage leicht zu beantworten ist: Sind manche Leute nicht einfach deshalb glücklicher als andere, weil ihnen Besseres widerfährt? Das stimmt zwar zum Teil, aber Sie werden vielleicht überrascht sein, dass die Erbanlagen eine große Rolle dabei spielen, wie glücklich Menschen auf ihrem Lebensweg sind. In einer Studie, die sich der klassischen Vorgehensweise der Verhaltensgenetik bediente, untersuchten die Forscher das Ausmaß, in dem eineiige (monozygote = MZ) Zwillinge, die genetisch identisch sind, und zweieiige (dizygote = DZ) Zwillingspaare, die wie andere Geschwister nur eine Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben, sich gleichermaßen glücklich fühlten (Lykken & Tellegen, 1996). Das Glücksniveau der Zwillinge wurde mit Fragebögen erfasst, die Fragen wie etwa „Alles in allem gesehen, wie glücklich und zufrieden sind Sie durchschnittlich jetzt, verglichen mit anderen Menschen?“ enthielten. Die Forscher werteten zwei Reihen Antworten von MZ und DZ Zwillingen aus, die etwa im Alter von 20 und 30 Jahren entstanden waren. Wie die Grafik zeigt, stellten sie eine Über-Kreuz-Analyse hinsichtlich Lebensalter und Person, also eine Kombination aus Querschnitt- und Längsschnittanalyse, an: Sie berechneten, in wie weit Glück und Zufriedenheit eines Zwillings im Alter von 30 mit demjenigen seines oder ihres Zwillingsgeschwisters im Alter von 20 Jahren korrelierten. Es stellte sich heraus, dass eine solche Korrelation für DZ Zwillinge praktisch nicht existierte. Bei den MZ Zwillingen konnten allerdings 80 Prozent der Beziehungen in den Bewertungen für die Altersstufen 20 und 30 Jahre durch diese Über-Kreuz-Analyse dargelegt werden. Die Forscher erklärten dieses Muster bei MZ Zwillingen damit, dass der grundlegende Glückszustand – also die durchschnittliche Menge an Glück, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens erfährt – eine ausgeprägte genetische Komponente besitzt. Das bedeutet natürlich nicht, dass es ein Gen (oder mehrere Gene) ausschließlich für Glück gäbe. Denken Sie an Kapitel 2, „Korrelation ist nicht gleich Kausalität“. Es könnte der Fall sein, dass andere Aspekte des Verhaltens oder der Erfahrungen eines Menschen den genetischen Einfluss auf das Glücksempfinden modifizieren. Es könnte zum Beispiel Gene geben, die getrennten Einfluss auf Erfahrungen positiver und negativer Emotionen nehmen – mit einem Gesamteinfluss auf das durchschnittliche Wohlbefinden (Hamer, 1996). Hat die Behauptung, dass das durchschnittliche Glücksempfinden von Erbfaktoren beeinflusst wird,
Sie überrascht? Wie wir am Anfang bemerkt haben, haben Sie vielleicht gedacht, dass Ihr Glücksgefühl eher von der Umgebung abhängt: Sind Sie gerade verliebt? Wie schwierig sind Ihre Seminare? Welche Hindernisse müssen Sie überwinden? Die Forscher vermuten, dass solche Umgebungsfaktoren Variationen eines durchschnittlichen Glücksniveaus verursachen, das bei der Geburt bereits „eingestellt“ war. Als Analogie können Sie sich den Thermostaten in Ihrer Wohnung vorstellen. Nehmen wir an, er sei auf 20° eingestellt – Ereignisse in der Außenwelt können die Temperatur zwar leicht schwanken lassen, aber im Durchschnitt sollte sie bei 20° bleiben. Die Glücksforschung hält es für möglich, dass jede und jeder von uns ein voreingestelltes „Glücksniveau“ hat – entsprechend etwa einem Thermostat, der auf 10°, 20° oder 30° eingestellt ist –, der in den Höhen und Tiefen des Lebens als Durchschnitt erhalten bleibt. Natürlich werden einige Erlebnisse im Leben – wie etwa eine Heirat oder der Tod des Ehepartners – Abweichungen im Glücksempfinden hervorrufen, genau wie auch ein Thermostat unter extremen Bedingungen unzuverlässig wird (Lucas et al., 2003). In einem größeren als dem individuellen Rahmen wird unser Glücksempfinden auch durch den Kontext beeinflusst, in dem wir als Spezies inzwischen leben. David Buss (2000) hat vorgeschlagen, dass dem menschlichen Glück durch die „Diskrepanzen zwischen der modernen und der ursprünglichen Umwelt“ Grenzen gesetzt sind (S. 15). Obwohl sich beispielsweise der Mensch als Kleingruppenwesen entwickelt hat, leben viele Menschen heute in großstädtischer Umgebung, wo sie meistens von einer großen Zahl völlig Fremder umgeben sind. Wir haben keine engen Bindungen mehr zur Gruppe, die unsere unmittelbare Umgebung bevölkert – die Art von Bindungen, mit denen sich Krisen überwinden lassen könnten, um unser Leben glücklicher zu machen. Was kann man dagegen tun? Obwohl man die Uhr der kulturellen Evolution, die diese Veränderungen mit sich gebracht hat, nicht zurückdrehen kann, kann man versuchen, diesen Tendenzen entgegenzuwirken, indem man einen engeren Kontakt zu Familie und Freunden sucht (Buss, 2000). mit 20 Jahren
Korreliert?
mit 30 Jahren
Glücksniveau Zwilling A
Glücksniveau Zwilling A
Glücksniveau Zwilling B
Glücksniveau Zwilling B
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12.2
Stress
Angenommen, wir bäten Sie aufzuschreiben, wie Sie sich im Verlauf eines Tages „fühlen“. Sie berichten vielleicht, dass Sie für kurze Zeit Glück, Trauer, Angst, Erstaunen und so weiter empfanden. Es gibt jedoch ein Gefühl, das Menschen oft als eine Art Hintergrundrauschen für viele ihrer täglichen Erfahrungen angeben, und das ist Stress (Sapolsky, 1994). Die moderne Industriegesellschaft fordert ein schnelles, hektisches Leben. Menschen nehmen sich oft für ihre zur Verfügung stehende Zeit zu viel vor, machen sich über die Zukunft Sorgen und haben für Familie und Hobby wenig Zeit. Aber würde es uns ohne Stress besser gehen? Ein stressfreies Leben würde keine Herausforderungen an uns richten – keine Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, keine neuen Bereiche, die man sich aneignet, und keine Gründe, unseren Verstand zu schärfen oder unsere Fähigkeiten zu verbessern. Jeder Organismus sieht sich den Herausforderungen seiner
externen Umwelt und seiner persönlichen Bedürfnisse gegenüber. Der Organismus muss diese Probleme lösen, um zu überleben und zu gedeihen. Stress ist das Reaktionsmuster eines Organismus auf Stimulusereignisse, die dessen Gleichgewicht stören und dessen Fähigkeit, die Einflüsse zu bewältigen, stark beansprucht oder übersteigt. Die Stimulusereignisse umfassen eine große Bandbreite an externen und internen Bedingungen, die zusammen genommen Stressoren genannt werden. Ein Stressor ist ein Ereignis, das von einem Organismus eine Art von Anpassungsreaktion erfordert: Ein Radfahrer biegt vor Ihrem Auto ein, Ihr Professor verlegt den Abgabetermin für Ihre Semesterarbeit vor, Sie werden gebeten, für das Amt des Semestersprechers zu kandidieren. Die Reaktion eines Individuums auf die Notwendigkeit einer Veränderung besteht in einer unterschiedlichen Kombination von Reaktionen auf unterschiedlichen Ebenen, dies umfasst physiologische, behaviorale, emotionale und kognitive Reaktionen. Wie würden Sie auf jeden der oben genannten Stressoren reagieren? Die
Kognitive Bewertung
Kognitive Bewertung Stressor Typ Umwelt Psychisch Sozial Dimensionen Intensität Dauer Häufigkeit Vorhersagbarkeit
Ressourcen Person Physiologische Charakteristiken Körperliche Gesundheit Konstitutionelle Stabilität Psychische Charakteristiken Mentale Gesundheit Temperament Selbstkonzept, Gefühl der Selbststeuerung, Selbstwert
Materiell Geld Medizinische Versorgung Personlich Fertigkeiten Copingstil Sozial Unterstützende Netzwerke Professionelle Hilfe
Kulturelle Charakteristiken Kulturelle Festlegungen und Bedeutungen Erwartete Reaktionsweise
Mögliche Reaktionen
Physiologisch (z. B. Michael leidet an Schlafstörungen)
Behavioral (z. B. Paula macht Überstunden)
Emotional (z. B. Johanna kann ihren Ärger nur schwer kontrollieren)
Kognitiv (z. B. Rick kann sich nicht auf die Semesterarbeit konzentrieren)
Abbildung 12.4: Ein Stressmodell. Kognitive Bewertungen der Stresssituation interagieren mit dem Stressor und den physischen, sozialen und persönlichen Ressourcen, die für den Umgang mit dem Stressor zur Verfügung stehen. Individuen reagieren auf Bedrohungen auf verschiedenen Ebenen: der physiologischen, behavioralen, emotionalen und kognitiven Ebene. Einige Reaktionen führen zu guter, andere zu schlechter Anpassung oder sogar zum Tode.
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12.2 Stress
nommen werden als die inneren und äußeren Ressourcen, die für die Bewältigung zur Verfügung stehen. Ein Beispiel für chronischen Stress kann eine andauernde Frustration über die Unmöglichkeit sein, Zeit für all das zu finden, was man gerne tun würde. Sehen wir uns an, wie unser Körper auf diese verschiedenen Arten von Stress reagiert.
Notfallreaktionen auf akute Bedrohungen
Ob im Beruf oder in der Freizeit, Menschen leben in der heutigen Gesellschaft in einer recht stresserfüllten Umgebung. Welche Situationen in Ihrem Leben empfinden Sie als besonders stressreich? meisten Menschen assoziieren Stress mit Distress und nehmen dabei an, jeglicher Stress sei schlecht. Es gibt allerdings auch Eustress, positiven Stress also (das Adverb eu bedeutet im Altgriechischen „gut, wohl“.) Wie Sie am Ende dieses Abschnittes gelernt haben werden, kann Stress in vielen Fällen auch positive Änderungen im Leben hervorrufen. Abbildung 12.4 stellt die Elemente des Stressprozesses in einem Diagramm dar. Unser Ziel in diesem Abschnitt besteht darin, alle Bestandteile dieser Abbildung klar verständlich zu machen. Wir beginnen mit der Betrachtung allgemeiner physiologischer Reaktionen auf Stressoren. Dann beschreiben wir die speziellen Wirkungen verschiedener Kategorien von Stressoren. Schließlich untersuchen wir unterschiedliche Methoden, mit deren Hilfe man den Stress bewältigen kann.
12.2.1 Physiologische Stressreaktionen Wie würden Sie reagieren, wenn Sie zu einem Seminar kommen, wo gleich eine unangekündigte Klausur stattfinden soll? Wahrscheinlich stimmen Sie zu, dass dies gewissen Stress in Ihnen erzeugen würde, aber was bedeutet das für Ihre Körperreaktionen? Viele der physiologischen Reaktionen, die wir bei emotionalen Zuständen beschrieben haben, sind bei alltäglichen Stresszuständen ebenso relevant. Solche vorübergehenden Erregungszustände mit typischerweise klarem Anfangs- und Endmuster sind Beispiele für akuten Stress. Chronischer Stress hingegen ist ein Zustand anhaltender Erregung, die sich über eine gewisse Zeit erstreckt und in der Anforderungen als größer wahrge-
In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfasste Walter Cannon die erste wissenschaftliche Beschreibung, wie Tiere und Menschen auf Gefahr reagieren. Er fand heraus, dass eine Abfolge von Aktivitäten in den Nerven und Drüsen in Gang gesetzt wird, die den Körper befähigen, entweder sich selbst zu verteidigen und zu kämpfen oder die Flucht zu ergreifen, um sich in Sicherheit zu bringen. Cannon bezeichnete diese duale Stressreaktion als Kampf-oder-FluchtReaktion (motiviert durch die Tatsache, dass sich „fight or flight“ im Englischen reimt). Im Zentrum dieser Stressreaktion steht der Hypothalamus, der an einer Reihe von emotionalen Reaktionen beteiligt ist. Der Hypothalamus wird aufgrund seiner Doppelfunktion in Notfallsituationen bisweilen als Stresszentrum bezeichnet: (1) Er steuert das autonome Nervensystem und (2) er aktiviert die Hirnanhangdrüse. Das autonome Nervensystem reguliert die Aktivitäten der Körperorgane. In Stressumständen wird die Atmung schneller und tiefer, das Herz schlägt schneller, die Blutgefäße ziehen sich zusammen und der Blutdruck steigt. Zusätzlich zu diesen inneren Veränderungen öffnen Muskeln die Luftwege von Rachen und Nase, um mehr Luft in die Lungen einströmen zu lassen; Muskeln erzeugen zudem Gesichtsausdrücke starker Emotion. Botschaften werden an glatte Muskeln gesendet, um Körperfunktionen wie die Verdauung auszusetzen, die zur Vorbereitung auf Notfallsituationen nicht gebraucht werden. Eine weitere Funktion des autonomen Nervensystems während des Stress ist die Anregung des Adrenalinflusses. Es signalisiert dem inneren Teil der Nebennieren, dem Nebennierenmark, zwei Hormone, Adrenalin und Noradrenalin, auszuschütten, die wiederum einer Anzahl anderer Organe signalisieren, ihre spezialisierten Funktionen auszuführen. Die Milz entlässt mehr rote Blutkörperchen (zur Blutgerinnung im Falle einer Verletzung) und das Knochenmark wird stimuliert, mehr weiße Blutkörperchen zu produzieren (zur Bekämpfung möglicher Infektionen). Die Leber wird dazu angeregt, mehr Zucker herzustellen, um Energie für den Körper zu erzeugen.
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Die Hirnanhangdrüse antwortet auf die Signale aus dem Hypothalamus mit der Sekretion zweier Hormone, die für Stressreaktionen lebenswichtig sind. Das Thyreotropin (TSH) stimuliert die Schilddrüse, die für den Körper mehr Energie freisetzt. Das adrenocorticotrope Hormon (ACTH), bekannt als „Stresshormon“, stimuliert den äußeren Teil der Nebennieren, die Nebennierenrinde, was zur Freisetzung von Hormonen, die Kreislaufprozesse kontrollieren, und zur Freisetzung von Zucker aus der Leber ins Blut führt. ACTH signalisiert zudem verschiedenen Organen, etwa 30 andere Hormone auszuschütten; jedes von ihnen ist wichtig, um den Körper für die Notfallreaktion zu wappnen. Eine Zusammenfassung dieser physiologischen Stressreaktionen ist in Abbildung 12.5 dargestellt. Eine neuere Analyse der Gesundheitspsychologin Shelley Taylor und ihrer Kollegen (2000) lässt darauf schließen, dass diese physiologischen Reaktionen auf Stress wahrscheinlich unterschiedliche Folgen für Frauen und Männer nach sich ziehen. Taylor et al. nehmen an, dass Frauen keine Kampf-oder-Flucht-Reaktion erleben. Nach Meinung dieser Forscherinnen lassen Stressoren Frauen vielmehr eine ganz andere Art von Reaktionen erleben, die auf Fürsorge und Befriedung gerichtet ist: In Stresszeiten sorgen Frauen
für die Sicherheit ihrer Nachkommen, indem sie sich um deren Bedürfnisse kümmern; Frauen freunden sich mit anderen Mitgliedern ihrer sozialen Gruppe an, wieder mit dem Ziel, die Verwundbarkeit ihrer Nachkommen zu reduzieren. Man kann erkennen, wie dieses Ergebnis zu Geschlechterunterschieden in Stressreaktionen mit unserer vorangegangenen Diskussion über evolutionäre Perspektiven menschlichen Verhaltens übereinstimmt. Als wir zum Beispiel das menschliche Sexualverhalten in Kapitel 11 diskutierten, bemerkten wir, dass sich die Paarungsstrategien von Männern und Frauen unterscheiden, zum Teil aufgrund der unterschiedlichen Rollen, die Männer und Frauen – im Verlauf der Evolution – in der Kindererziehung spielten. Der Gedanke hier ist sehr ähnlich: Wegen der unterschiedlichen evolutionären Nischen von Männern und Frauen hinsichtlich der Versorgung der Nachkommen erzeugen die gleichen anfänglichen physiologischen Reaktionen auf Stress am Ende völlig unterschiedliche Verhaltensweisen. Leider ist weder die Kampf-oder-Flucht-Reaktion noch die auf Fürsorge und Befriedung gerichtete Reaktion für das heutige Leben gänzlich nützlich. Viele Stressoren, die Männer und Frauen im Alltag erfahren, machen die physiologischen Stressreaktionen ziemlich ungeeignet. Stellen Sie sich beispielsweise vor,
Die Blutgefäße in Haut, Skelettmuskeln, Gehirn und im viszeralen System ziehen sich zusammen. Die Pupillen erweitern und die Ziliarmuskeln. Erhöhtes Schwitzen Die Bronchien erweitern. Haut und Körperhaare erzeugen eine „Gänsehaut“.
Nebennieren stimulieren die Adrenalinsekretion und erhöhen Blutzucker, Blutdruck und Herzrate. Der anale Schließmuskel schließt sich. Der urinale Schließmuskel schließt sich.
Das Herz schlägt schneller, die Herzrate steigert die Stärke der Kontraktion. Der Verdauungstrakt verringert die Peristaltik. Die Leber schüttet Zucker in die Blutbahn aus. Die Bauchspeicheldrüse sondert weniger Sekrete ab. Die Sekretion von Verdauungssäften nimmt ab. Die Blutgefäße in den äußeren Genitalien erweitern. Die Blase entspannt sich.
Abbildung 12.5: Die Reaktion des Körpers auf Stress. Stress erzeugt vielfältige physiologische Veränderungen im Körper.
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12.2 Stress
Stufe I: Alarmreaktion (im Laufe des Lebens unzählige Male wiederholt)
Stufe II: Widerstand (im Laufe des Lebens unzählige Male wiederholt)
Stufe III: Erschöpfung
• Erweiterung der Nebennierenrinde • Erweiterung des Lymphsystems • Steigende Hormonspiegel • Reaktionen auf spezifische Stressoren • Ausschüttung von Ephinephrin, verbunden mit höherer physiologischer Erregung und negativem Affekt • Größere Anfälligkeit für steigende Intensität des Stressors • Erhöhte Anfälligkeit für Krankheit
• Schrumpfung der Nebennierenrinde • Rückkehr der Lymphknoten zu normaler Größe • Gleichbleibende Hormonspiegel • Hohe physiologische Erregung • Gegensteuern des parasympathischen Teils des autonomen Nerven systems • Anhaltender Stressor; Widerstand gegen weitere schwächende Effekte • Erhöhte Anfälligkeit für Stress
• Vergrößerung/Fehlfunktion der Lymphstrukturen • Anstieg der Hormonspiegel • Erschöpfung der adaptiven Hormone • Sinkende Fähigkeit, ursprünglichen oder neuen Stressoren zu begegnen • Affektives Erleben – oft Depression • Erkrankung • Tod
(Falls anhaltend, dann treten die langsameren Komponenten von Stufe II in Aktion.)
(Wenn starker Stress anhält, dann erschöpfen sich die Hormonreserven, Ermüdung tritt ein und das Individuum betritt Stufe III.)
Zeit Ebene normalen Widerstands
Erfolgreicher Widerstand Erkrankung/Tod
Alarmreaktion
Widerstand
Erschöpfung
Abbildung 12.6: Das allgemeine Adaptationssyndrom. Ist man einem Stressor ausgesetzt, dann ist die Widerstandsfähigkeit des Körpers vermindert, bis die physiologischen Veränderungen der entsprechenden Alarmreaktion sie wieder auf das normale Niveau zurückbringen. Bleibt der Stressor bestehen, dann verschwinden die für die Alarmreaktion charakteristischen Körpersignale nahezu; die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem speziellen Stressor steigt über das normale Maß an, doch fällt sie für andere Stressoren ab. Diese adaptive Widerstandfähigkeit bringt den Körper auf sein normales Funktionsniveau zurück. Ist man dem Stressor länger ausgesetzt, bricht die Adaptation zusammen; die Zeichen der Alarmreaktion erscheinen wieder, die Auswirkungen des Stressors sind irreversibel, und der Mensch wird krank oder stirbt gar. Sie nehmen an einem schwierigen Test teil, und die Zeit verrinnt. Die erhöhte Aufmerksamkeitsfähigkeit aufgrund Ihrer Stressreaktion mögen Sie schätzen, der Rest der physiologischen Veränderungen ist jedoch nicht gut für Sie: Da ist niemand, den man bekämpfen oder dem man sich zuwenden könnte und so weiter. Die Reaktionen, die sich in der Spezies als adaptive Vorbereitungen für das Zurechtkommen mit externen Gefahren entwickelt haben, sind für das Zurechtkommen mit vielen heutigen Arten psychologischer Stressoren kontraproduktiv. Wie wir gleich sehen werden, trifft dies besonders auf den Umstand zu, dass viele Leute ihr Leben unter Bedingungen chronischen Stresses leben.
Das allgemeine Adaptationssyndrom und chronischer Stress Der erste moderne Forscher, der die Auswirkungen von andauerndem schwerem Stress auf den Körper untersuchte, war Hans Selye, ein kanadischer Endokrinologe. Seit den späten 30er Jahren des letzten Jahrhunderts berichtete Selye komplexe Reaktionen von Labortieren auf schädigende Einflüsse wie bakterielle Infektionen, Gifte, Traumata, erzwungene Bewegungs-
einschränkungen, Hitze, Kälte und so weiter. Nach Selyes Stresstheorie können viele Stressoren dieselbe Reaktion oder allgemeine körperliche Folgen hervorrufen. Alle Stressoren verlangen nach Anpassung beziehungsweise Adaptation: Ein Organismus muss Unversehrtheit und Wohlbefinden erhalten oder zurückgewinnen, indem er das Äquilibrium, oder die Homöostase, wiederherstellt. Die Reaktion auf Stressoren wurde von Selye als das allgemeine Adaptationssyndrom beschrieben. Es umfasst drei Stufen: eine Alarmreaktion, ein Widerstandsstadium und eine Stufe der Erschöpfung (Selye, 1976a, 1976b). Alarmreaktionen sind kurze Perioden körperlicher Erregung, die den Körper für energische Aktionen bereitmachen. Dauert ein Stressor an, tritt der Körper in ein Stadium des Widerstands ein – ein Zustand moderater Erregung. Während dieser Stufe kann der Organismus weitere schwächende Effekte der anhaltenden Stressoren ertragen und ihnen widerstehen. Dauert der Stressor jedoch hinreichend lange an oder ist intensiv genug, gehen die Ressourcen des Körpers zur Neige und der Organismus geht in die Stufe der Erschöpfung über. Die drei Stufen sind in Abbildung 12.6 dargestellt und erklärt.
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12.2.2 Psychische Stressreaktionen Unsere physiologischen Stressreaktionen sind autonome, vorhersagbare, eingebaute Reaktionen, über die wir normalerweise keine bewusste Kontrolle haben. Viele psychische Reaktionen hingegen sind gelernt. Sie hängen von Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt ab. In diesem Abschnitt diskutieren wir psychische Reaktionen auf unterschiedliche Kategorien von Stressoren, wie beispielsweise größere Lebensveränderungen und traumatische Ereignisse.
Größere Lebensereignisse
Was sind die physiologischen Folgen von chronischem Stress? Selye identifizierte einige Gefahren, die mit der Stufe der Erschöpfung einhergehen. Erinnern wir uns, dass ACTH eine Rolle in der kurzfristigen Reaktion auf Stress spielt. Langfristig schmälert jedoch seine Aktivität die Fähigkeit natürlicher Killerzellen, Krebszellen und andere lebensbedrohliche Infektionen zu zerstören. Ist der Körper chronisch gestresst, gefährdet die gesteigerte Produktion von „Stresshormonen“ das Funktionieren des Immunsystems. Das allgemeine Adaptationssyndrom hat sich bei der Erklärung psychosomatischer Störungen – Erkrankungen, die nicht zur Gänze körperlich erklärt werden konnten – als wertvoll erwiesen und hat Ärzte verblüfft, die zuvor Stress nie als Ursache für Erkrankungen angesehen haben. Was den Körper bei der Anpassung an akuten Stress gesund erhält, beeinträchtigt ihn bei chronischem Stress. Selyes Forschung zufolge scheint Krankheit eine unvermeidbare Reaktion auf Stress zu sein. Wir werden jedoch sehen, dass sich unsere psychischen Interpretationen dessen, was Stress erzeugt und was nicht – die Art, wie wir potenziell stressbehaftete Ereignisse einschätzen –, auf unsere physiologischen Reaktionen auswirken. Um der Wirkung von Stress auf unseren Körper im Ganzen Rechnung zu tragen, werden wir Selyes grundlegende physiologische Theorie mit jüngerer Forschung zu psychischen Faktoren kombinieren müssen.
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Größere Veränderungen in Lebenssituationen sind bei vielen Leuten die Wurzel von Stress. Sogar Ereignisse, die uns gefallen, wie ein Lottogewinn oder eine Beförderung, ziehen größere Veränderungen im Alltag und eine Anpassung an neue Anforderungen nach sich. Man denke beispielsweise an das Muster ehelicher Zufriedenheit aus Kapitel 10. Obwohl die Geburt eines Kindes eine der ersehntesten Veränderungen im Leben eines verheirateten Paares ist, ist sie auch eine Quelle großen Stresses, was die eheliche Zufriedenheit verringert (Cowan & Cowan, 1988; Levenson et al., 1993). Also sollten wir positive und negative Veränderungen in Betracht ziehen, wenn wir Stress auf Veränderungen in unserem Leben beziehen wollen. Der Einfluss von Lebensereignissen auf die nachfolgende mentale und körperliche Gesundheit war das Ziel vieler Forschung. Sie begann in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung der „Lebensereignis-Skala“, einer einfachen Methode zur Einschätzung des Ausmaßes der Anpassung, die verschiedene Lebensveränderungen, angenehme und unangenehme, erfordern, wie sie viele Menschen erfahren. Die Skala wurde aus den Antworten Erwachsener aller Lebensverläufe erstellt, die gebeten wurden, aus einer Liste jene Lebensveränderungen auszuwählen, die auf sie zutrafen. Diese Erwachsenen bewerteten die Höhe der Wiederanpassung, die nach jeder Veränderung nötig war, indem sie jede Veränderung mit einer Heirat verglichen, ein Ereignis, das mit einem willkürlichen Wert von 50 Lebensveränderungseinheiten angesetzt wurde. Im Anschluss berechneten die Forscher die Gesamtzahl der Lebensveränderungseinheiten (life-change units, LCUs), die ein Individuum durchlebt hat, und nutzten die Einheiten als Maß für die Menge an Stress, die einem Individuum widerfahren ist (Holmes & Rahe, 1967). Die Lebensereignis-Skala wurde in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts aktualisiert. Die Forscher verwendeten dieselbe Methode und baten die Proban-
12.2 Stress
Abbildung 12.7: Die gesundheitlichen Kosten des Aufschiebens. Forscher identifizierten Studierende, die im Allgemeinen Dinge aufschieben (Aufschieber) oder nicht aufschieben (Nichtaufschieber). Die Studierenden sollten am Anfang und gegen Ende des Semesters angeben, wie viele Symptome körperlicher Krankheit sie erlebten. Gegen Ende des Semesters zeigten alle Studierenden einen Anstieg der Symptomanzahl. Jedoch – als alle ihre Arbeiten fällig wurden – berichteten die Aufschieber über noch mehr Symptome als ihre nichtaufschiebenden Kommilitonen.
den wieder, den Stress von Lebensereignissen im Vergleich zur Heirat zu bewerten (Miller & Rahe, 1997). In dieser neuen Untersuchung stiegen die LCU-Werte 45 Prozent über die ursprünglichen Werte hinaus an – das heißt, die Teilnehmer in den 90er Jahren gaben an, dass sie im Durchschnitt viel höhere Stresslevels erleben als Gleichaltrige in den 60er Jahren. Zudem berichteten Frauen in den 90er Jahren, mehr Stress im Leben zu erfahren als Männer.
AUS DER FORSCHUNG Angenommen, ein Dozent stellt Ihnen eine Hausarbeit – ein Stress erzeugendes Ereignis im Leben jedes Studierenden. Versuchen Sie, die Aufgabe so bald wie möglich anzugehen, oder schieben Sie sie bis zu letzten Minute auf? Psychologen haben ein Messinstrument entwickelt, die General Procrastination Scale (Lay, 1986), um Menschen, die gewöhnlich Dinge aufschieben – Aufschieber –, von denen zu unterscheiden, die dies nicht tun – Nichtaufschieber. Ein Forscherpaar wandte diese Skala an Studierenden eines Seminars über Gesundheitspsychologie an, die gegen Ende des Semesters eine Arbeit abgeben mussten. Die Studierenden sollten zudem gegen Anfang und gegen Ende des Semesters angeben, wie viele Symptome körperlicher Krankheit sie hatten. Erwartungsgemäß gaben die Aufschieber im Durchschnitt ihre Arbeit später ab als die Nichtaufschieber; die Aufschieber erhielten darüber hinaus schlechtere Noten auf ihre Arbeit. Abbildung 12.7 verdeutlicht die Wirkung vom Aufschieben auf die körperliche Gesundheit. Wie zu erkennen ist, berichteten die Aufschieber zu Beginn des Semesters weniger Krankheitssymptome, am Ende hingegen gaben sie mehr Symptome an als die nicht aufschiebenden Kommilitonen (Tice & Baumeister, 1997).
Tabelle 12.2 stellt eine Abwandlung dieser Skala für Studierende dar. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, Ihr Stresslevel auf der Studierendenskala zu testen, bevor Sie weiterlesen. Wie hoch ist Ihr LCU-Wert? Es steht Ihnen Platz zur Verfügung, diesen Test dreimal durchzuführen. So können Sie Ihr Stresslevel über das Semester hinweg aufzeichnen. Die Forscher fanden eine Vielzahl von Wegen, um die Beziehung zwischen Lebensereignissen und gesundheitlichen Folgen zu untersuchen. In einer Studie setzten sich Freiwillige Viren aus, die eine gewöhnliche Erkältung hervorrufen. Diejenigen Teilnehmer, die mehr negative Lebensereignisse als der Durchschnitt berichteten, erkrankten mit einer etwa 10 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit an einem grippalen Infekt (Cohen et al., 1993). Betrachten wir eine andere Studie (siehe Kasten links) die eine unmittelbare Bedeutung für die Organisation Ihrer Arbeit haben sollte. Aus dieser Studie ist zu erkennen, dass nicht alle Lebensereignisse die gleichen Auswirkungen auf alle Menschen haben. Die Nichtaufschieber machen sich rechtzeitig an die Arbeit und erlebten so den Stress mit seinen Symptomen früher im Semester. Die Folge für die Aufschieber, den Stress früh im Semester zu vermeiden, war ein starker Anstieg körperlicher Beeinträchtigung gegen Ende des Semesters. So fühlten sie sich mit höherer Wahrscheinlichkeit just zu dem Zeitpunkt im Semester krank, an dem sie bei guter Gesundheit sein müssten, um die Arbeit, die sie aufgeschoben hatten, ganz fertig zu stellen! Denken Sie an diese Ergebnisse, wenn Sie Ihren eigenen Plan für jedes Semester erstellen. Wenn Sie glauben, dass Sie gewöhnlich Dinge aufschieben, sollten Sie zur Verän-
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Tabelle 12.2
Studentische Stress-Skala (Student Stress Scale)
Die Student Stress Scale stellt eine Adaption der Social Readjustment Rating Scale (Lebensereignis-Skala) von Holmes und Rahe dar. Jedes Ereignis erhält einen Wert, der das Ausmaß an Wiederanpassung darstellt, die eine Person infolge einer Veränderung im Leben leisten muss. Menschen mit Werten von 300 und mehr sind einem hohen Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Menschen mit Werten zwischen 150 und 300 Punkten erleben in den nächsten zwei Jahren mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein schwere gesundheitliche Veränderung. Menschen mit Werten unter 150 erleben mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 3 ein schwere gesundheitliche Veränderung. Berechnen Sie Ihre gesamten LCUs dreimal während des Semesters und setzen Sie diese Werte dann mit jedweden Veränderungen Ihres Gesundheitszustandes in Verbindung. Ereignis Tod eines engen Familienmitgliedes Tod eines engen Freundes Scheidung der Eltern Aufenthalt im Gefängnis Größere eigene Verletzung oder Erkrankung Heirat Entlassung Nichterreichen eines wichtigen Scheines Gesundheitliche Veränderungen von Familienmitgliedern Schwangerschaft Probleme beim Sex Tiefgreifende Auseinandersetzung mit einem engen Freund Veränderung im finanziellen Status Wechsel des Vorgesetzten Ärger mit den Eltern Neuer Partner, neue Partnerin Gestiegenes Arbeitspensum im Studium Herausragende persönliche Leistung Erstes Semester an der Universität Veränderungen der Lebensbedingungen Heftiger Streit mit Lehrpersonal Schlechtere Noten als erwartet Veränderungen der Schlafgewohnheiten Veränderungen der sozialen Gewohnheiten Veränderungen der Essgewohnheiten Dauernder Ärger mit dem Auto Veränderung der Häufigkeit von Familientreffen Zu viele verpasste Seminare Wechsel der Universität Zu hohe Fehlzeiten bei Seminaren Kleinere Verkehrsverstöße Meine erste Gesamtzahl
_________ Datum: _________
Meine zweite Gesamtzahl _________ Datum: _________ Meine dritte Gesamtzahl
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_________ Datum: _________
LCUs 100 73 65 63 63 58 50 47 45 45 44 40 39 39 39 38 37 36 35 31 30 29 29 29 28 26 26 25 24 23 20
12.2 Stress
derung Ihres Verhaltens in Betracht ziehen, einen Psychologen oder Studienberater zu konsultieren. Ihre Noten und Ihre Gesundheit stehen auf dem Spiel!
Traumatische Ereignisse Ein Ereignis, das negativ und dazu noch unkontrollierbar, unvorhersehbar oder mehrdeutig ist, erzeugt besonders viel Stress. Das gilt insbesondere im Falle traumatischer Ereignisse. Einige traumatische Ereignisse, wie etwa eine Vergewaltigung oder ein Autounfall, betreffen Individuen. Andere dagegen, wie Erdbeben (beispielsweise der Tsunami im Dezember 2004 mit mehr als 230.000 Toten) oder Tornados, haben weit umfassendere Wirkungen. Für US-Bürger hat wahrscheinlich in den letzten Jahren kein traumatisches Ereignis so weit reichende Konsequenzen gehabt wie der 11. September 2001. An diesem Tag führten Angriffe mit Verkehrsflugzeugen auf das World Trade Center und das Pentagon zum Tode von fast 3.000 Menschen. Die Forschung hat keine Zeit verloren, die psychischen Nachwirkungen dieser Angriffe auszuwerten, um den Betroffenen ausreichende psychologische Hilfe bieten zu können. Ein besonderer Schwerpunkt dabei war das Vorherrschen der posttraumatischen Belastungsstörung (PBS). Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine Stressreaktion, bei der Menschen unter dem beständigen Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form von beispielsweise Rückblenden oder Albträumen leiden (DSM-IV-TR, 2003). Die an PBS Leidenden erleben in Bezug auf alltägliche Ereignisse eine emotionale Abgestumpftheit und fühlen sich von anderen Menschen entfremdet. Schließlich kann das emotionale Erleiden dieser Reaktion in einem Anstieg verschiedener Symptome wie Schlafproblemen, Schuldgefühlen wegen des eigenen Überlebens, Konzentrationsschwierigkeiten und einer gesteigerten Schreckreaktion resultieren. Im Oktober und November 2001 führte ein Forscherteam im Internet eine Umfrage mit 2.273 Erwachsenen aus allen Teilen der Vereinigten Staaten durch (Schlenger et al., 2002). Die Umfrage erfasste sowohl, wie weit die Teilnehmer den Ereignissen ausgesetzt worden waren, als auch, welche Auswirkungen dies auf ihre psychische Gesundheit hatte. Wie in Tabelle 12.3 zu sehen ist, machte eine unmittelbarere Betroffenheit das Auftreten von PBS wahrscheinlicher. Die am meisten betroffene Gruppe waren die Einwohner des Großraums New York City; diese Menschen waren am wahrscheinlichsten persönlich von der Tragödie betroffen. Wie aus der Tabelle ebenfalls zu ersehen ist, hatten die Ereignisse keinen zusätzlichen Effekt auf
die Einwohner von Washington, D. C. Die Forscher vermuteten, dass der Unterschied zwischen New York und Washington hier den Unterschied zwischen dem Angriff auf ein ziviles (das World Trade Center) und ein militärisches Ziel (das Pentagon) widerspiegele. Die Tabelle zeigt auch, dass diejenigen Menschen, die am meisten von den Ereignissen im Fernsehen mitbekamen, auch stärkere PBS-Symptome zeigten. Die Forschung wird die psychischen Nachwirkungen des 11. Septembers weiter verfolgen: Es werden allgemeine Schlussfolgerungen über die Reaktion der Menschen auf Katastrophen angestrebt, so dass die schlimmsten Folgen vermieden werden können, wenn sich neue Vorkommnisse ergeben. Wie wir bereits bemerkt haben, haben auch individuelle traumatische Ereignisse einen negativen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden. Beispielsweise zeigen Vergewaltigungsopfer oft viele Zeichen posttraumatischer Belastung (Kilpatrick et al., 2003). Bei Untersuchungen zwei Wochen nach der Vergewaltigung wurde bei 94 Prozent der Opfer PBS diagnostiziert; 12 Wochen später waren es noch 51 Prozent, auf die die diagnostischen Kriterien zutreffen (Foa & Riggs, 1995). Der folgende Auszug einer Diskussion zweier Studierender über den Schock nach einer Vergewaltigung verdeutlicht die starken und anhaltenden Emotionen.
Warum könnte Fernsehen einen Einfluss darauf haben, wie stark Menschen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden?
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Alice: Ich hatte eine ziemlich lange Zeit einen Schock. Ich konnte darüber sprechen, dass ich ein Vergewaltigungsopfer war, aber die Emotionen kamen erst einen Monat später an die Oberfläche. Beth: Während der ersten zwei Wochen gab es Menschen, denen ich es gesagt hatte, die mir eine sehr große Hilfe waren; doch nach zwei Wochen sagten sie so was wie „In Ordnung, sie ist darüber hinweg, wir können jetzt wieder weitermachen“. Aber je mehr Zeit vergeht, desto mehr Hilfe brauchst du, weil dir im Verlauf der Zeit deine Emotionen und das Bedürfnis, mit ihnen umzugehen, bewusst werden. Alice: Es gibt einen Punkt, wo du nicht wahrhaben willst, dass es passiert ist. Du verdrängst es völlig. Beth: Es ist so unwirklich, dass du nicht glauben willst, dass es wirklich passiert ist oder passieren kann. Dann gehst du durch eine lange Phase von Angst und Wut. Alice: Ich habe schreckliche Angst, joggen zu gehen. [Alice wurde vergewaltigt, als sie joggen war.] Ich hörte ganz damit auf, irgendeiner körperlichen Aktivität nachzugehen, nachdem ich vergewaltigt wurde. In diesem Vierteljahr habe ich wieder damit angefangen, aber ich habe jedes Mal beim Joggen eine ständige Angst. Mein Puls wird doppelt so schnell.
Natürlich gehe ich nicht mehr alleine joggen, doch die Angst ist immer noch ständig da. Beth: Du fühlst dich auch, als hätten dich all deine Freunde betrogen. Ich habe geträumt, ich wurde vor meiner Wohnung vergewaltigt. Im Traum sah jeder aus dem Fenster – die Gesichter waren so klar –, alle meine Freunde standen in einer Reihe am Fenster und schauten hinaus, und andere waren nur knapp einen halben Meter von mir weg. Sie sahen alle, was passierte, und niemand von ihnen tat etwas dagegen. Ich wachte auf und hatte ein Gefühl extremer Einsamkeit. (Stanford Daily, 1982) Die emotionalen Reaktionen der posttraumatischen Belastungsstörung können in einer akuten Form unmittelbar nach einem traumatischen Vorkommnis auftreten und im Laufe mehrerer Monate zurückgehen. Wir werden zum Thema posttraumatische Belastungsstörung zurückkehren, wenn wir in Kapitel 14 Angststörungen besprechen.
Chronische Stressoren Bei unserer Diskussion der physiologischen Reaktionen auf Stress unterschieden wir akute Stressoren mit einem klaren Beginn und Ende und chronische – das heißt solche, die lange Zeit andauern. Bei psychischen Stressoren kann man nicht immer eine scharfe Trennung vollziehen. Stellen Sie sich vor, Ihr Fahrrad wur-
Tabelle 12.3
Die psychischen Auswirkungen vom Miterleben der Ereignisse des 11. September 2001 PBS-Wahrscheinlichkeit Nähe zu den Einschlagorten Großraum New York City
11,2
Großraum Washington, D.C.
2,7
Andere Großstadt
3,6
Übrige USA
4,0
Täglicher Fernsehkonsum (Stunden) Weniger als 4
0,8
4 bis 7
3,9
8 bis 11
4,2
12 oder mehr
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10,1
12.2 Stress
de gestohlen. Zunächst ist dies eine akute Stressquelle. Doch wenn Sie sich ständig Sorgen machen, dass auch das neue Fahrrad gestohlen wird, kann der Stress, der mit diesem Ereignis assoziiert wird, chronisch werden. Forscher fanden dieses Muster bei Menschen, die an einer schweren Krankheit wie Krebs leiden (Andersen et al., 1994; Kangas et al., 2005). Der chronische Stress, mit der Angst vor der Krebsdiagnose und -behandlung umzugehen, beeinträchtigt die Gesundheit möglicherweise mehr als die Krankheit selbst. Bei vielen Menschen entsteht chronischer Stress aus Bedingungen in Gesellschaft und Umwelt. Welchen kumulativen Effekt haben Überbevölkerung, Verbrechensrate, wirtschaftliche Verhältnisse, Umweltverschmutzung, AIDS und Terrorismus auf uns? Wie beeinflussen diese und andere Stressoren in der Umwelt unser mentales Wohlbefinden? Einige Menschen leiden aufgrund ihres sozioökonomischen Status oder ihrer Rassenzugehörigkeit unter chronischem Stress, mit schwer wiegenden Konsequenzen für das allgemeine Wohlbefinden (Gallo & Matthews, 2003; Stone, 2000). Betrachten wir eine Studie, die wirtschaftliche Schwierigkeiten bei mehr als tausend Teilnehmern über drei Jahrzehnte erfasste (Lynch et al., 1997). Ökonomische Not wurde als Haushaltseinkommen von weniger als 200 Prozent der Armutsgrenze definiert. Das Ergebnis 1994 war: Je häufiger Erwachsene Phasen ökonomischer Not zwischen 1965 und 1983 erfahren hatten, desto größere Schwierigkeiten hatten sie mit körperlichen Aktivitäten des täglichen Lebens und den zugehörigen physischen Funktionen, wie beispielsweise beim Kochen, Einkaufen und Baden. Ähnliche Effekte fand man für das psychische und kognitive Funktionieren. Verglichen mit Menschen, die zu keinem Zeitpunkt ökonomische Not erlitten hatten, war bei Menschen, die drei Armutsphasen durchlebten, die Wahrscheinlichkeit drei Mal größer, Symptome klinischer Depression aufzuweisen. Die Wahrscheinlichkeit war fünf Mal größer, als zynisch feindselig und pessimistisch eingeschätzt zu werden, und mehr als vier Mal größer, Probleme mit dem kognitiven Funktionieren zu schildern. Um zu belegen, dass diese Folgen aus der ökonomischen Not und nicht aus einem anfänglichen schlechten Gesundheitszustand entstanden, wiesen die Forscher vergleichbare Schwierigkeiten bei denjenigen Teilnehmern nach, die bei der ersten Messung im Jahre 1965 bei guter oder exzellenter Gesundheit waren. Angesichts dieser Forschungsergebnisse überrascht es nicht, dass chronischer Stress auch die intellektuelle Entwicklung von Kindern beeinflussen kann. Betrachten wir eine Studie, bei der man den Stresslevel in
Diese Einwohner von Detroit, die sich lautstark für einen Arbeitsplatz bei der Post bewerben, haben wahrscheinlich aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung chronischen Stress erlebt. Welche Folgen sind für ihre körperliche und psychische Gesundheit wahrscheinlich?
einer Gruppe von 6- bis 16-jährigen Kindern bestimmte und zudem ihre Intelligenz mit einem IQ-Test maß (siehe Kapitel 9). Es zeigte sich eine negative Korrelation zwischen Stress und den IQ-Maßen bei verbaler Intelligenz und Textverständnis: Je höher der Stresslevel im Leben der Kinder war, desto geringer waren im Durchschnitt ihre Werte dieses Maßes (Plante & Sykora, 1994). Offensichtlich wirkt sich ein hohes Niveau an chronischem Stress störend auf die kognitive Leistung der Kinder aus. Diese Daten spiegeln die Ergebnisse zum Einfluss der Umgebung auf die Intelligenz wider, die wir in Kapitel 9 dargestellt haben. Die Forschung schließt daraus, dass die Sozialprogramme zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern die ganze Bandbreite der chronischen Stressfaktoren berücksichtigen müssen, die mit Armut zusammenhängen.
Alltagsprobleme Sie stimmen wahrscheinlich zu, dass das Ende einer Beziehung, ein Erdbeben oder Vorurteile Stress verursachen können, doch was ist mit kleineren Stressoren, wie Sie Ihnen im Alltag widerfahren? Was ist Ihnen gestern passiert? Wahrscheinlich wurden Sie nicht geschieden oder haben eine Flugzeugkatastrophe überlebt. Viel wahrscheinlicher ist, dass Sie Ihre Notizen oder Ihr Lehrbuch irgendwo liegen gelassen haben. Vielleicht sind Sie auch zu spät zu einem wichtigen Treffen gekommen, oder Sie haben einen Strafzettel bekommen, oder ein lauter Nachbar hat Ihnen den Schlaf geraubt. Dies sind im Alltag wiederkehrende Stressoren, welche die meisten Leute sehr oft erleben. Im Zuge einer Tagebuchstudie hielt eine Gruppe weißer Männer und Frauen der Mittelklasse und mitt-
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leren Alters ihre Alltagsprobleme über einem Zeitraum von einem Jahr fest (zusammen mit einer Aufzeichnung größerer Lebensveränderungen und körperlicher Symptome). Es zeigte sich eine klare Beziehung zwischen Alltagsproblemen und Gesundheitsproblemen: Je häufiger und intensiver die berichteten Alltagsprobleme waren, desto schlechter war die körperliche und mentale Gesundheit der Menschen (Lazarus, 1981; 1984b). Mit abnehmenden Alltagsproblemen nahm das Wohlbefinden zu (Chamberlain & Zika, 1990). Betrachten wir eine Studie, die den Einfluss täglicher Ärgernisse am Arbeitsplatz untersuchte.
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer an der Studie hatten Vollzeitstellen in der Universitätsverwaltung, wobei ihre Arbeit hauptsächlich mit der Qualität des Studienalltags zu tun hatte (Luong & Rogelberg, 2005). Sie fertigten fünf Tage lang ein Verzeichnis aller Meetings an, an denen sie teilnahmen. Eine Besprechung zählte als Meeting, wenn zwei oder mehr Menschen beteiligt waren und es sich um mehr als einen kurzen Schwatz oder ein fünfminütiges Telefongespräch handelte. Die Teilnehmer machten des Weiteren tägliche Angaben zu ihrem Wohlbefinden: Einmal das Ausmaß ihrer Erschöpfung, zum anderen die subjektive Arbeitsbelastung (also das Ausmaß, in dem sie sich beschäftigt oder gehetzt fühlten). Die Ergebnisse zeigten positive Korrelationen zwischen der Anzahl der Meetings und diesen beiden Indikatoren: Mehr Meetings hingen mit größerer Erschöpfung und vermehrter subjektiver Arbeitsbelastung zusammen.
Wenn Sie schon einmal in einem Büro gearbeitet haben, klingen diese Ergebnisse wahrscheinlich vertraut: Je öfter Meetings die Arbeit unterbrechen, umso mehr werden Sie sich von Ihrer Arbeit abgehalten fühlen. Wir haben nun hauptsächlich die Alltagsprobleme betrachtet. Doch muss man erwähnen, dass bei vielen Menschen die Alltagsprobleme durch alltägliche positive Erfahrungen aufgewogen werden können (Lazarus & Lazarus, 1994). Die relative Balance zwischen positiven und negativen Erfahrungen hat wahrscheinlich
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gesundheitliche Konsequenzen. Beispielsweise sollten in einer Studie 96 Männer für jeden Tag die positiven und negativen Ereignisse angeben. Zudem wurde täglich die Stärke des Immunsystems der Männer getestet. Die Ergebnisse zeigten, dass wünschenswerte Lebensereignisse mit einer stärkeren Immunreaktion assoziiert waren, nicht wünschenswerte mit einer schwächeren (Stone et al., 1994). Wenn wir also den Gang unseres Lebens aus unseren Alltagsproblemen vorhersagen wollen, dann müssen wir auch etwas über die täglichen Freuden wissen, die das Leben für uns bereithält (Lyubomirsky et al., 2005). Wir haben uns nun einen Überblick über viele Stressquellen im Leben von Menschen verschafft. Psychologen haben seit langem erkannt, dass die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Stressoren in weiten Teilen davon abhängen, wie effektiv man mit ihnen umgehen kann. Betrachten wir nun, wie man erfolgreich oder erfolglos mit Stress umgehen kann.
12.2.3 Stresscoping Wenn zum Leben Stress unausweichlich dazugehört und wenn chronischer Stress unser Leben beeinträchtigen und uns sogar töten kann, dann sollten wir wissen, wie man mit Stress umgeht. Der englische Begriff Coping (im Deutschen etwa „zurechtkommen mit ...“) bezieht sich auf den Prozess, mit inneren oder äußeren Anforderungen umzugehen, welche als einschränkend erlebt werden oder welche die Ressourcen eines Menschen übersteigen (Lazarus & Folkman, 1984). Das Coping kann behaviorale, emotionale oder motivationale Reaktionen und Gedanken umfassen. Wir beginnen diesen Abschnitt mit der Beschreibung, wie die kognitive Bewertung unser Erleben von Stress beeinflusst. Dann befassen wir uns mit verschiedenen Formen von Copingreaktionen; wir beschreiben die allgemeinen Prinzipien der Stressbewältigung sowie spezifische Interventionen. Schließlich betrachten wir einige individuelle Unterschiede in der Fähigkeit, mit Stress zurechtzukommen.
12.2 Stress
Kognitive Bewertung von Stress Wenn wir mit stressigen Situationen umgehen, müssen wir zunächst feststellen, auf welche Weise diese Situationen tatsächlich Stress erzeugen. Kognitive Bewertung (siehe oben) ist die kognitive Interpretation und Beurteilung eines Stressors. Die kognitive Bewertung spielt bei der Definition der Situation eine zentrale Rolle – was ist gefordert, wie groß ist die Bedrohung und welche Ressourcen stehen zur Verfügung (Lazarus, 1993; Lazarus & Lazarus, 1994)? Einige Stressoren wie eine körperliche Verletzung oder ein Brand im eigenen Haus werden von fast jedem als sehr bedrohlich erlebt. Viele andere Stressoren jedoch können auf verschiedene Weise definiert werden, abhängig von der persönlichen Lebenssituation, der Relation einer bestimmten Anforderung zu den zentralen Zielen im Leben, der Kompetenz, mit der Anforderung zurechtzukommen, und der Selbsteinschätzung dieser Kompetenz. Was für einen anderen Menschen eine akut Sorgen auslösende Situation darstellt, kann für Sie stressfrei zum Alltag gehören. Versuchen Sie, die Lebensereignisse zu bemerken und zu verstehen, die für Sie und Ihre Freunde und Familie unterschiedlich sind: Einige Situationen rufen bei Ihnen Stress hervor, jedoch nicht bei Ihren Freunden oder Ihrer Familie; andere Ereignisse stressen diese Menschen, aber nicht Sie. Warum? Richard Lazarus, dessen allgemeine Theorie der kognitiven Bewertung wir in unserer Diskussion der Emo-
tionen besprochen haben, unterscheidet zwei Stufen der kognitiven Bewertung von Anforderungen. Die primäre Bewertung beschreibt die anfängliche Beurteilung der Schwere einer Anforderung. Diese Bewertung beginnt mit den Fragen „Was passiert gerade?“ und „Ist dies gut für mich, erzeugt es Stress oder hat es keine Bedeutung für mich?“. Lautet die Antwort auf die zweite Frage „erzeugt Stress“, dann schätzt man die potenzielle Wirkung des Stressors ab, indem man feststellt, ob es zu einem Schaden gekommen ist oder kommen kann und welches Verhalten erforderlich ist ( Tabelle 12.4). Sobald entschieden ist, dass etwas getan werden muss, beginnt die sekundäre Bewertung. Man beurteilt die persönlichen und sozialen Ressourcen, die für den Umgang mit dem Stressor zur Verfügung stehen, und zieht die benötigten Verhaltensoptionen in Betracht. Auch wenn die Copingreaktionen bereits im Gange sind, werden die Bewertungen weiter durchgeführt; führt die erste Reaktion nicht zum Erfolg und hält der Stress an, dann werden neue Reaktionen initiiert, und ihre Effektivität wird bewertet. Kognitive Bewertung ist ein Beispiel für eine Stressmoderatorvariable. Stressmoderatorvariablen sind Variablen, welche die Auswirkung eines Stressors auf eine bestimmte Stressreaktion verändern. Moderatorvariablen filtern oder modifizieren die üblichen Effekte von Stressoren auf die Reaktion des Individuums. Müdigkeit und die allgemeine Gesundheit sind Beispiele für Moderatorvariablen, die unsere Reaktion
Tabelle 12.4
Phasen des stabilen Entscheidens / der stabilen kognitiven Bewertung Phase
Schlüsselfragen
1. Bewertung der Anforderung
Muss ich schwerwiegende Risiken erwarten, wenn ich nichts ändere?
2. Überschauen der Alternativen
Ist diese Alternative für das Angehen der Anforderung akzeptabel? Habe ich die verfügbaren Alternativen gründlich genug betrachtet?
3. Gewichten der Alternativen
Welche Alternative ist die beste? Könnte die beste Alternative die wichtigsten Anforderungen erfüllen?
4. Erwägung der Verpflichtung
Sollte ich die beste Alternative umsetzen und es meine Mitmenschen wissen lassen?
5. Am Ball bleiben trotz negativem Feedback
Muss ich schwerwiegende Risiken erwarten, wenn ich nichts ändere? Muss ich schwerwiegende Risiken erwarten, wenn ich etwas ändere?
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auf einen gegebenen psychischen oder physischen Stressor beeinflussen. In einer guten Verfassung können wir mit einem Stressor besser umgehen als in einer schlechteren. Kognitive Bewertung trifft ebenso die Definition einer Moderatorvariablen. Die Art, wie wir einen Stressor einschätzen, wird bestimmen, welche Copingreaktionen wir dem Stressor entgegenbringen müssen. Nun zu einigen allgemeinen Formen von Copingreaktionen.
Formen von Copingreaktionen Stellen Sie sich vor, eine wichtige Prüfung steht Ihnen bevor. Sie haben darüber nachgedacht – Sie haben die Situation bewertet – und Sie sind sich ziemlich sicher, dass dies eine Stress erzeugende Situation ist. Was können Sie tun? Es ist wichtig zu wissen, dass Coping einer potenziell stressigen Situation in Form von antizipatorischem Coping vorausgehen kann (Folkman, 1984). Wie gehen Sie mit dem Stress einer bevorstehenden Prüfung um? Wie erzählen Sie Ihren Eltern, dass Sie das Studium aufgeben, oder Ihrem Freund oder Ihrer Freundin, dass Sie nicht mehr verliebt sind? Die Antizipation einer Stress erzeugenden Situation führt zu vielen Gedanken und Gefühlen, die ihrerseits
Stress induzieren können, wie beispielsweise vor Interviews, Reden oder Blind Dates. Sie müssen wissen, wie sich das bewältigen lässt. Die zwei Hauptwege des Coping definieren sich danach, ob das Problem direkt angegangen werden soll – problemorientiertes Coping – oder ob das mit dem Stress verbundene Unbehagen reduziert werden soll – emotionsorientiertes Coping (Billings & Moos, 1982; Lazarus & Folkman, 1984). In Tabelle 12.5 sind verschiedene Unterkategorien dieser beiden grundlegenden Ansätze aufgeführt. Beginnen wir mit dem problemorientierten Coping. „Den Stier bei den Hörnern packen“, so charakterisieren wir üblicherweise die Strategie, eine Problemsituation anzugehen. Diese Methode umfasst alle Strategien des direkten Umgangs mit dem Stressor, ob durch sichtbare Handlung oder durch realistische Aktivitäten der Problemlösung. Man tritt einem brutalen Kerl entgegen oder rennt davon; man versucht, ihn oder sie mit Bestechungsgeldern oder anderen Geschenken für sich einzunehmen. Das Augenmerk liegt auf dem Problem, das es anzugehen gilt, und auf dem Akteur, der den Stress induzierte. Wir kommen dem Aufruf zum Handeln nach, bewerten die Situation und unsere Ressourcen, damit zurechtzukommen, und wir
Tabelle 12.5
Taxonomie der Copingstrategien Art der Copingstrategie
Beispiel
Problemorientiertes Coping Verändere den Stressor oder den Bezug dazu mithilfe direkter Handlungen und/oder problemlösender Aktivitäten.
Kampf (die Bedrohung zerstören, beseitigen oder abschwächen) Flucht (sich von der Bedrohung entfernen) Suche nach Kampf- oder Fluchtmöglichkeiten (leugnen, verhandeln, Kompromisse schließen) Künftigen Stress vermeiden (sich so verhalten, dass die eigene Widerstandsfähigkeit wächst oder die Stärke des erwarteten Stresses abnimmt)
Emotionsorientiertes Coping Verändere dich selbst mithilfe von Aktivitäten, durch die man sich besser fühlt, ohne jedoch den Stressor zu verändern.
Aktivitäten, die am Körper ansetzen (Einsatz von Medikamenten gegen die Angst, von Entspannung und Biofeedback) Aktivitäten, die an der Psyche ansetzen (geplante Ablenkung, Fantasien, Gedanken über sich selbst) Therapie zu Regulierung der bewussten und unbewussten Prozesse, die zu zusätzlicher Angst führen
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12.2 Stress
nehmen eine geeignete Handlung auf, um die Bedrohung zu entfernen oder zu vermindern. Solche Problemlösebemühungen sind nützlich, um kontrollierbare Stressoren zu bewältigen – Stressoren, die man durch das eigene Handeln verändern oder eliminieren kann, wie beispielsweise anmaßende Vorgesetzte oder schwache Noten. Die emotionsorientierte Methode ist nützlich, wenn es gilt, die Auswirkung von eher unkontrollierbaren Stressoren zu bewältigen. Man stelle sich vor, für das Wohl eines an Alzheimer erkrankten Elternteils verantwortlich zu sein. In dieser Situation gibt es keinen fiesen Kerl, den man aus der Umwelt entfernen kann. Man kann nicht nach Wegen Ausschau halten, die externe Stresssituation zu verändern. Stattdessen kann man versuchen, die eigenen Gefühle und Gedanken darüber zu verändern, indem man an einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Alzheimerpatienten teilnimmt oder Entspannungstechniken erlernt. Diese Herangehensweise gehört ebenfalls zu den Copingstrategien, denn man erkennt, dass diese Situation die eigene Gesundheit gefährdet, und unternimmt Schritte, um diese Gefährdung zu modifizieren. Je mehr unterschiedliche Strategien zur Verfügung stehen, desto besser gelingt das Coping (Taylor & Clark, 1986). Damit das Coping erfolgreich verläuft, müssen die Ressourcen den wahrgenommenen Anforderungen angemessen sein. So trägt die Verfügbarkeit multipler Copingstrategien zur Anpassung bei, weil man mit höherer Wahrscheinlichkeit das Passende findet und das Stressereignis bewältigen kann. Nehmen wir eine Studie, in der untersucht wurde, wie israelische Bürgerinnen und Bürger die ständige Bedrohung durch Terrorismus bewältigen (Bleich et al., 2003). Eine Stichprobe von 742 Erwachsenen enthüllte, dass sie durchschnittlich 6,4 Bewältigungsstrategien benutzten. Dazu gehören die Überprüfung des Aufenthaltsorts von Familienmitgliedern, Gespräche mit anderen über mögliche Maßnahmen, Glaube an Gott sowie Vermeidung von Radio- und Fernsehsendungen. In vielen Stresssituationen kann es Ihre tatsächlichen Fähigkeiten zur Bewältigung verbessern, wenn Sie wissen, dass mehrere Strategien dafür zur Verfügung stehen. Selbstvertrauen kann einen Menschen von der vollen Einwirkung vieler Stressfaktoren abschirmen; die Überzeugung, Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung zu haben, vermeidet die selbst Stress auslösende, chaotische Reaktion „Was soll ich nur tun?“. Forscher, die sich mit Stressbewältigung beschäftigen, haben herausgefunden, dass einige Menschen Stressfaktoren mit einem besonderen Grad an Widerstandsfähigkeit begegnen – sie sind im Stande, trotz
Warum sind vielfache Bewältigungsstrategien nützlich für Menschen wie etwa Pflegepersonal von Alzheimerpatienten? ernsthafter Bedrohung ihres Wohlbefindens positive Ergebnisse zu erzielen (Masten, 2001). Die Forschung konzentriert sich auf die Arten von Bewältigungsstrategien, die widerstandsfähige Menschen erworben haben, sowie darauf, wie sie sie erworben haben. Ein wichtiger Teil der Antwort ist, dass Kinder, die später widerstandsfähig werden, von erzieherisch befähigten Eltern aufgezogen wurden, die zu ihnen standen (siehe Kapitel 10). Außerdem scheinen widerstandsfähige Kinder Bewältigungsstrategien entwickelt zu haben, die sich auf die Regulation des eigenen Verhaltens beziehen (Buckner et al., 2003). Sie können sich fortgesetzt auf Aufgaben konzentrieren (was problemorientierte Stressbewältigung ermöglicht) und ihre emotionalen Reaktionen kontrollieren (was emotionsorientierte Stressbewältigung erlaubt), und zwar derart, dass sich ihre Chancen im Leben verbessern. Bis hierher haben wir allgemeine Methoden im Umgang mit Stressoren diskutiert. Betrachten wir nun spezifische kognitive und soziale Methoden des erfolgreichen Copings.
Die Modifikation kognitiver Strategien Ein effektiver Weg, um sich auf Stress einzustellen, ist die Veränderung der Bewertung von Stressoren und der unproduktiven Kognitionen darüber, wie mit den Stressoren umzugehen ist. Man muss anders über eine
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gegebene Situation, die eigene Rolle darin und über die Kausalattributionen denken, mit denen man unerwünschte Ergebnisse erklärt. Zwei mentale Arten des Copings sind die Neubewertung der Art der Stressoren selbst und die Restrukturierung der eigenen Kognitionen über die eigenen Stressreaktionen. Wir haben bereits den Gedanken beschrieben, dass Menschen die Erfahrung von Stress im Leben teilweise dadurch kontrollieren, wie sie die Lebensereignisse bewerten (Lazarus & Lazarus, 1994). Anders über bestimmte Stressoren denken zu lernen, sie neu zu benennen oder sie sich in einem weniger bedrohlichen (vielleicht sogar lustigen) Kontext vorzustellen, ist eine Form von kognitiver Neubewertung, die Stress reduzieren kann. Angst, vor einer großen, bedrohlichen Zuhörerschaft zu sprechen? Eine Neubewertungstechnik besteht darin, sich die potenziellen Kritiker dort nackt sitzend vorzustellen – dies nimmt ihnen gewiss einen Großteil ihrer Angst erregenden Macht. Angst, bei einer Party schüchtern aufzutreten? Suchen Sie jemanden, der noch schüchterner ist als Sie, und initiieren Sie ein Gespräch, um dessen soziale Angst zu reduzieren. Stress kann man auch durch eine Veränderung dessen bewältigen, wie man ihn bewertet und wie man damit umgeht. Der kognitive Verhaltenstherapeut Donald Meichenbaum (1977, 1985, 1993) hat einen Prozess aus drei Phasen vorgeschlagen, der eine solche Stressimpfung ermöglicht. In Phase 1 arbeitet man daran, ein größeres Bewusstsein des eigenen tatsächlichen Verhaltens zu entwickeln, was es in Gang setzt und was dabei herauskommt. Zu den besten Möglichkeiten hierfür gehört das Führen eines Tagebuchs. Diese Aufzeichnungen können das Gefühl von Kontrolle erhöhen, indem sie Menschen dabei helfen, die Probleme hinsichtlich ihrer Ursachen und Folgen neu zu definieren. Vielleicht entdecken Sie beispielsweise, dass Ihre Noten schlecht sind (ein Stressor), weil Sie sich immer zu wenig Zeit lassen, um eine gute Arbeit zu schreiben. In Phase 2 beginnt man, neue Verhaltensweisen zu identifizieren, die die schlecht angepassten, unergiebigen Verhaltensweisen löschen. Vielleicht gestalten Sie eine feste „Zeit zum Studieren“ oder beschränken Ihre Telefonate auf zehn Minuten pro Abend. In Phase 3, wenn man adaptives Verhalten zeigt, bewertet man die Folgen des neuen Verhaltens und vermeidet den inneren Dialog des Sich-nieder-Machens. Statt zu sich selbst zu sagen: „Ich hatte Glück, dass mich der Professor aufrief, als ich den Text ausnahmsweise gelesen hatte“, sagt man: „Ich war froh, auf die Frage des Professors vorbereitet zu sein. Es fühlt sich gut an, in einem Seminar eine intelligente Antwort geben zu können.“
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Diese Drei-Phasen-Methode bringt Reaktionen und Selbst-Aussagen hervor, die mit den früheren unproduktiven Kognitionen nicht kompatibel sind. Befinden sich Menschen einmal auf diesem Weg, dann nehmen sie wahr, dass sie sich verändern – und sie können diese Veränderungen in vollem Umfang nutzen, um weiteren Erfolg voranzutreiben. In Tabelle 12.6 sind einige Beispiele für neue Arten von Selbstaussagen aufgeführt, die beim Umgang mit Stress erzeugenden Situationen helfen. Stressimpfungstraining wurde auf vielen Gebieten erfolgreich eingesetzt.
AUS DER FORSCHUNG An der Studie waren 22 Jurastudierende am Beginn des ersten Semesters beteiligt (Sheehy & Horan, 2004). Die Studierenden erhielten ein Stressimpfungsstraining, das speziell auf die Stressfaktoren zugeschnitten war, denen sie im Jurastudium ausgesetzt waren. So konzentrierte sich das Training beispielsweise auf die Ängste der Studierenden bei der Interaktion mit ihren Dozenten und im Wettbewerb mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen. Außerdem erlernten die Studierenden kognitive Restrukturierungstechniken, um negative Selbsteinschätzungen und irrationale Ansichten zu bekämpfen. Obwohl letztlich alle Studierenden das Training erhielten, begann etwa die Hälfte unmittelbar beim Start der Studie, während die anderen mehrere Wochen warteten. Diese Art der Durchführung gab den Forschern die Gelegenheit, die positiven Auswirkungen des Stressimpfungsstrainings zu bestimmen (indem sie die erste mit der zweiten Gruppe verglichen), ohne dass einigen Studierenden die positiven Tainingseffekte verweigert worden wären. Tatsächlich berichteten die Teilnehmer der ersten Gruppe von einem niedrigeren Stresslevel, als ihre Mitstudierenden aus der anderen Gruppe, die gerade mit dem Training begannen. Darüber hinaus übertrafen einige der Absolventen des Trainings die auf ihren LSAT-Bewertungen (Law School Admission Test; Eingangstest für Jurastudenten) basierten Erwartungen, als die Endnoten des Semesters ausgehängt wurden.
Der ganze Studienjahrgang von 158 Jurastudierenden hatte die Möglichkeit erhalten, an diesem Stressimpfungstraining teilzunehmen. Nur diese kleine Gruppe unter ihnen war klug genug, die Chance zu nutzen. Eine weitere wichtige Komponente des erfolgreichen Copings ist der Aufbau der wahrgenommenen Kontrolle über den Stressor, der Überzeugung, den Verlauf oder die Folgen eines Ereignisses oder einer Erfahrung verändern zu können (Endler et al., 2000; Roussi, 2002). Wenn man glaubt, dass man den Verlauf einer Krankheit oder die täglichen Symptome einer
12.2 Stress
Tabelle 12.6
Beispiele für Selbstaussagen zur Stressbewältigung Vorbereitung Ich kann einen Plan entwickeln, um damit zurechtzukommen. Denke nur darüber nach, was ich in dieser Sache tun kann. Das ist besser, als Angst zu haben. Keine negativen Selbstaussagen, denke einfach rational. Konfrontation Ein Schritt nach dem anderen; ich kann diese Situation bewältigen. Dies ist die Angst, die ich laut meinem Therapeuten empfinden würde; sie erinnert mich daran, meine Copingübungen einzusetzen. Entspann dich; ich habe mich unter Kontrolle. Atme langsam und tief. Coping Mach eine Pause, wenn Angst in dir hochsteigt. Konzentriere dich auf die Gegenwart; was muss ich im Moment tun? Versuche nicht, die Angst völlig zu eliminieren; lass sie nur nicht zu groß werden. Das ist nicht das Schlimmste, was passieren kann. Denke einfach an etwas anderes. Selbstverstärkung Es funktionierte; ich konnte es tun. Es war nicht so schlimm, wie ich es erwartet habe. Mich freut wirklich, welchen Fortschritt ich gemacht habe.
Krankheit beeinflussen kann, stellt man sich wahrscheinlich gut auf die Krankheit ein. Glaubt man jedoch, dass die Ursache des Stresses in einer anderen Person liegt, deren Verhalten man nicht beeinflussen kann, oder in einer Situation, die man nicht verändern kann, dann wachsen die Chancen für eine geringe psychische Anpassung an den chronischen Zustand. Menschen, die wahrgenommene Kontrolle sogar angesichts tödlicher Krankheiten wie AIDS aufrechterhalten können, ernten mentale und körperliche Gesundheitsvorteile (Thompson et al., 1994). Merken Sie sich bitte diese Kontrollstrategien für die Zukunft! Wir wenden uns nun einem letzten Aspekt des Umgangs mit Stress zu – der sozialen Dimension.
Coping und soziale Unterstützung Soziale Unterstützung bezeichnet hier Ressourcen, die andere Menschen bereitstellen, indem sie die Botschaft vermitteln, dass man geliebt, umsorgt, wertgeschätzt und mit anderen Menschen in einem Netz von Kommunikation und gegenseitiger Verpflichtung ver-
bunden ist (Cohen & Syme, 1985). Über diese Formen der sozioemotionalen Unterstützung hinaus geben Menschen vielleicht auch materielle Unterstützung (Geld, Fortbewegung, Wohnung) und informationale Unterstützung (Rat, persönliches Feedback, Informationen). Jeder, mit dem wir eine wichtige soziale Beziehung unterhalten – wie beispielsweise Familienmitglieder, Freunde, Kollegen und Nachbarn –, kann in Zeiten der Not Teil des Netzwerks sozialer Unterstützung sein. Viele Forschungsergebnisse weisen auf die Macht der sozialen Unterstützung bei der Milderung der Stressanfälligkeit (Holahan et al., 1997) hin. Wer andere Menschen hat, an die er sich wenden kann, kann beruflichen Stress, Arbeitslosigkeit, Scheidung, schwere Krankheit und andere Katastrophen sowie seine Alltagsprobleme besser bewältigen. Denken wir an Menschen, die bei den Friedenstruppen in den Unruhegebieten der Welt Dienst tun. Die vom Aufenthalt in Kampfgebieten verursachten Traumata führen oft zu einer posttraumatischen Belastungsstörung. Allerdings hat eine Studie an Angehörigen der niederländischen Friedenstruppe im Libanon ergeben, dass
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diejenigen, die mehr positive soziale Interaktion erlebten, weniger PBS-Symptome zeigten (Dirkzwager et al., 2003). Die Forschung versucht herauszufinden, welche Formen der Unterstützung bei bestimmten Ereignissen am hilfreichsten sind. Eine Studie untersuchte den Einfluss informationeller und emotionaler Unterstützung auf Männer und Frauen, die sich einer Gesichtsoperation unterzogen (Krohne & Slangen, 2005). Insgesamt sahen Menschen mit mehr sozialer Unterstützung ihrer Operation mit weniger Angst entgegen, benötigten während der Operation weniger Anästhetika und blieben weniger lange im Krankenhaus. Allerdings unterschieden sich die Ergebnisse im Detail bei Männern und Frauen. Obgleich sowohl Patientinnen als auch Patienten von informationeller Unterstützung profitierten, wirkte sich die emotionale Unterstützung nur bei Frauen merklich aus. Allgemein gesagt scheint es darauf anzukommen, dass jedes Individuum die Art von Unterstützung bekommt, die es auch braucht. Wie in Abbildung 12.8 gezeigt, gibt es vier Kombinationen, wie Erfordernis und Wirklichkeit sich zueinander verhalten können (Reynolds & Perrin, 2004). Den Menschen geht es am besten, wenn das, was sie brauchen, mit dem übereinstimmt, was sie bekommen. Bei einer Gruppe von Frauen mit Brustkrebs ergaben sich die schlechtesten Resultate, wenn sie unerwünschte Unterstützung erhielten („aufgezwungene Unterstützung“) (Reynolds & Perrin, 2004). Dieses Muster könnte daher stammen, dass die unerwünschte Unterstützung es den Frauen erschwerte, die emotionale Hilfe zu erhalten, die sie wirklich brauchten. Forscher versuchen auch festzustellen, wann Quellen von Unterstützung sogar Angst erregen (Holahan et al., 1997). Wenn jemand beispielsweise darauf besteht, eine Person zum Arzt oder zu einer mündlichen Prüfung zu begleiten, wenn diese lieber allein sein möchte, erfährt sie möglicherweise in dieser Situation zusätzliche Angst. In gleicher Weise fühlen sich PatiUnterstützung wird empfangen
nicht empfangen
gewünscht
nicht gewünscht
positive übereinstimmende Unterstützung
aufgezwungene Unterstützung
fehlende Unterstützung
keine Unterstützung
Abbildung 12.8: Übereinstimmungskombinationen für soziale Unterstützung. Wenn Menschen schwierige Situationen bewältigen müssen, kann es Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zwischen der benötigten und der gegebenen Unterstützung geben (nach Reynolds & Perrin, 2004).
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Warum sind manche Formen sozialer Unterstützung willkommener als andere? enten mit einer schweren Krankheit möglicherweise unfähig, die Erwartungen der Menschen in ihrem sozialen Umfeld zu erfüllen.
AUS DER FORSCHUNG Eine Gruppe von Forschern untersuchte, wie die Wahrnehmungen der Patienten von Erwartungen seitens ihrer Mitmenschen ihre Anpassung an ihre Krankheit beeinflusst. Die Patienten befanden sich in der letzten Phase eines Nierenleidens; alle benötigten die Dialyse. Die Patienten sollten Aussagen wie beispielsweise „Ich denke manchmal, dass meine Familie und Freunde erwarten, dass ich besser mit meiner Krankheit zurechtkomme, als ich tatsächlich kann“ und „Ich denke manchmal, dass meine Familie und Freunde erwarten, dass ich mehr Verantwortung für meine Behandlung übernehme, als ich vermag“ auf einer Skala von völliger Ablehnung bis völliger Zustimmung einstufen. Darüber hinaus erhoben die Forscher Maße, wie gut die Patienten mit ihrer Krankheit zurechtkamen. Die Ergebnisse zeigten konsistente positive Korrelationen zwischen Erwartungen und den Stressmaßen. Patienten, die beispielsweise die Erwartungen ihrer Familie und Freunde als übertrieben wahrnahmen, berichteten mit einer größeren Wahrscheinlichkeit von Depression und geringer Lebensqualität (Hatchett et al., 1997).
12.2 Stress
Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass diese Freunde und Familienangehörigen der Patienten ihr Bestes gaben, um Unterstützung zu leisten. Dennoch steigerten ihre Erwartungen den Stress der Patienten. Teil eines effektiven sozialen Netzes der Unterstützung zu sein beinhaltet die Überzeugung, dass andere für einen da sind, wenn man sie braucht – auch, wenn man sie in einer Stresssituation nicht tatsächlich um Hilfe bittet. Dies ist eine der wichtigsten Botschaften dieses Buches: Sie sollten immer daran arbeiten, Teil eines sozialen Netzes der Unterstützung zu sein und sich niemals sozial isolieren.
12.2.4 Positive Effekte von Stress In diesem Abschnitt haben wir uns hauptsächlich auf das Potenzial von Stress konzentriert, das Leben negativ zu beeinflussen. Diese Konzentration spiegelt die großen Anstrengungen der Forschung wider, um Menschen zu helfen, diese Effekte zu verhindern und zu überwinden. In den letzten Jahren hat die Psychologie allerdings verstärkte Aufmerksamkeit an die möglichen positiven Effekte von Stress im Leben verwendet. Diese Veränderung erfolgte teilweise im Zuge der Entwicklung der positiven Psychologie, einer neuen wichtigen Richtung in der Wissenschaft. Die positive Psychologie geht von folgender Fragestellung aus: „Können Psychologen ihre wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisse aus der Behandlung psychischer Erkrankungen zur Entwicklung einer Methode nutzen, mithilfe derer die Menschen dauerhaft glücklicher gemacht werden können?“ (Seligman et al., 2005, S. 410). Das Ziel der positiven Psychologie ist es, Menschen mit dem Wissen und den Fähigkeiten zu versehen, die ihnen erlauben, ein erfülltes Leben zu führen. Betrachten wir jetzt Stress und Stressbewältigung aus der Perspektive der positiven Psychologie. In unserer ursprünglichen Definition von Stress haben wir Distress und Eustress unterschieden. Wahrscheinlich können Sie sich leicht Umstände vorstellen, in denen Sie unter Distress litten – aber wie ist das mit Eustress? Denken Sie an das letzte Mal, als Sie beispielsweise einen Wettkampf verfolgten. Haben Sie die Erfahrung genossen, den Sieg eines Wettkämpfers zu sehen? Hatten Sie Herzklopfen, als die Läufer sich der Ziellinie näherten? Die Forschung hat gezeigt, dass Eustress – die Erfahrung von Aufregung und Angst – oft ein wichtiges Motiv ist, sich Sportveranstaltungen anzusehen (Wann et al., 1999, 2002). Wenn Ihr Team oder der Sportler, dem Sie die Daumen drücken, am Ende verliert, erleben Sie vielleicht etwas Distress.
Davor allerdings haben Sie wahrscheinlich eine positivere emotionale Erfahrung, wenn der Wettkampf Eustress hervorruft. Schauen Sie, ob es in Ihrem Leben noch andere Umstände gibt, unter denen das Erleben von Stress Ihnen tatsächlich Vergnügen macht. Hier noch ein Beispiel: Warum fühlen Sie sich während einer Achterbahnfahrt glücklich? Bei einigen Arten von Stresserlebnissen könnte es schwierig werden, sich irgendwelche positiven Effekte vorzustellen. Dennoch hat die Forschung gezeigt, dass man auch aus entschieden negativen Erlebnissen positive Erfahrungen ziehen und persönlich daran wachsen kann. Eine Richtung der Forschung konzentriert sich auf benefit finding – die Fähigkeit von Betroffenen, positive Aspekte negativer Lebenserfahrungen auszumachen (Tennen & Affleck, 2002). Betrachten wir eine Studie an Frauen, die an Brustkrebs im Frühstadium litten.
AUS DER FORSCHUNG Forscher gewannen eine Gruppe von Frauen zur Mitarbeit, bei denen durchschnittlich ein halbes Jahr zuvor Brustkrebs diagnostiziert worden war. Die Frauen wurden gefragt: „Hat es irgendwelche positiven Auswirkungen Ihrer Erfahrung mit Brustkrebs gegeben?“ (Sears et al., 2003, S. 491). Von den 92 beteiligten Frauen konnten 83 Prozent tatsächlich positive Auswirkungen angeben. Die Frauen nannten Dinge wie „Mein Mann und ich stehen uns viel näher, seit das passiert ist“ oder „Wenn man dem Tode nahekommt, erscheint einem das Leben plötzlich viel wirklicher.“ Die Forscher beobachteten die Frauen ein Jahr lang, um zu sehen, wie sich ihre psychische und körperliche Gesundheit entwickelte. Im Allgemeinen ging es denjenigen am besten, die solche einmal erkannten positiven Aspekte in der Folge für ein so genanntes positive reappraisal coping einsetzen konnten, das heißt, für eine Bewältigung durch kognitive Neubewertung unter den erkannten positiven Aspekten. Einige der Frauen konnten also die Folgen ihrer Krankheit bewältigen, indem sie versuchten, die Situation im Hinblick auf positive Auswirkungen neu zu bewerten.
Wir haben bereits früher bemerkt, dass kognitive Neubewertung, ein wichtiges Mittel der Stressbewältigung ist. In diesem Fall hilft die Fähigkeit von Menschen, positive Aspekte negativer Ereignisse zu sehen, bei diesem Vorgang der Neubewertung. Manchmal erleben Menschen auch posttraumatisches Wachstum – positive psychische Veränderungen – als Reaktion auf schwere Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen und andere traumatische Erlebnisse. Posttraumatisches Wachstum lässt sich fünf Bereichen zuordnen (Cryder et al., 2006; Tedeschi & Calhoun, 2004):
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Neue Möglichkeiten: „Ich habe neue Interessengebiete.“ Beziehungen zu anderen Menschen: „Ich fühle mich anderen Menschen näher als zuvor.“ Innere Stärke: „Ich habe gelernt, mir selbst zu vertrauen.“ Wertschätzung des Lebens: „Ich habe gelernt, dass das Leben wichtig ist.“ Spirituelle Veränderung: „Ich habe ein tieferes Verständnis für religiöse Vorstellungen.“ Dieses Wachstum ist kein Regelfall. So konzentrierte sich z. B. eine Studie auf 6 bis 15 Jahre alte Kinder, die den Wirbelsturm „Floyd“ in North Carolina überlebt hatten (Cryder et al., 2006). Die Kinder mit dem stärksten Erlebnis eines posttraumatischen Wachstums waren jene, die sich selbst als am besten mit Strategien zur Problembewältigung versehen glaubten (der Art, wie wir sie weiter oben beschrieben haben). Allgemeiner ausgedrückt, scheinen Menschen am ehesten dann posttraumatisches Wachstum zu erfahren, wenn sie die auslösenden traumatischen Ereignisse oft in ihrer Vorstellung nachvollziehen, um sie zu verstehen und einzuordnen. An vielen Punkten in der Diskussion von Stress haben wir auf den Effekt von Stress auf das körperliche oder psychische Wohlbefinden aufmerksam gemacht. Kommen wir nun zu den Wegen, wie Psychologen ihr Wissen aus der Forschung auf Fragen von Krankheit und Gesundheit anwenden.
ZWISCHENBILANZ 1 Was sind die drei Stadien des allgemeinen Adaptati-
onssyndroms? 2 Wie haben sich die Werte von Lebensveränderungs-
einheiten (LCUs) von den 60er zu den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verändert? 3 Wie beeinflussen alltägliche Ärgernisse und Freuden
das Wohlbefinden? 4 Was bedeutet es, emotionsorientiertes Coping anzu-
streben? 5 Warum ist wahrgenommene Kontrolle im Zusammen-
hang der Stressbewältigung wichtig? 6 Was bedeutet benefit finding?
KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie, die den Nutzen von Stressimpfungsstraining demonstrierte. Warum eignen sich Jurastudierende als Teilnehmer besonders gut, um den Effekt dieser Art Training zu zeigen?
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Gesundheitspsychologie
12.3
Wie viel tragen unsere psychischen Prozesse zum Erleben von Krankheit und Gesundheit bei? Wir haben schon Gründe dafür angeführt, dass die richtige Antwort „ziemlich viel“ lauten muss. Diese Erkenntnis über die Wichtigkeit psychischer und sozialer Faktoren bei der Gesundheit ließ ein neues Gebiet entstehen, die Gesundheitspsychologie. Gesundheitspsychologie ist der Zweig der Psychologie, der sich damit beschäftigt, wie Menschen gesund bleiben, warum sie krank werden und wie sie sich verhalten, wenn sie krank werden. Gesundheit bezieht sich auf die generelle Verfassung von Körper und Geist, was Stabilität und Energie betrifft. Es ist nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit oder Verletzung, sondern es geht vielmehr darum, wie gut alle Körperteile zusammenarbeiten. Beginnen wir unsere Diskussion der Gesundheitspsychologie mit der Beschreibung, wie die dem Gebiet zugrunde liegende Philosophie von einem traditionellen westlichen medizinischen Krankheitsmodell abweicht. Anschließend betrachten wir den Beitrag der Gesundheitspsychologie zur Prävention und Behandlung von Krankheit und Dysfunktion.
12.3.1 Das biopsychosoziale Modell der Gesundheit Gesundheitspsychologie wird von einem biopsychosozialen Modell der Gesundheit dominiert. Die Wurzeln dieser Perspektive lassen sich in vielen nichtwestlichen Kulturen finden. Um zu einer Definition des biopsychosozialen Modells zu kommen, werden wir mit einer Beschreibung einiger dieser nicht-westlichen Traditionen beginnen.
Traditionelle Gesundheitspraktiken Seit Menschengedenken fanden psychologische Prinzipien bei der Behandlung von Krankheit und dem Streben nach Gesundheit Anwendung. Viele Kulturen begreifen gemeinsame Gesundheits- und Entspannungsrituale als wichtig zur Steigerung der Lebensqualität. Bei den Navajo beispielsweise wurden Krankheit und Wohlbefinden der sozialer Harmonie und den Interaktionen zwischen Geist und Köper zugeschrieben. Der Begriff Hozho (ausgesprochen: „woa-so“) der Navajo bedeutet Harmonie, geistigen Frieden, Güte, ideale Familienbeziehungen, Schönheit in Kunst und Handwerk und Gesundheit von Körper und Geist.
12.3 Gesundheitspsychologie
Wie auch in vielen anderen Kulturen auf der Welt, legen die Navajo einen hohen Wert auf Ästhetik, familiäre Harmonie und körperliche Gesundheit. Was sind nach Meinung der Navajo die Ursachen für Krankheit? Krankheit wird als Zeichen einer Disharmonie angesehen, die durch Böses aufgrund von Tabuverletzungen, Hexerei, Maßlosigkeit oder schlechten Träumen verursacht wird. Traditionelle Heilungszeremonien versuchen, Krankheiten zu bannen und Gesundheit wiederherzustellen – nicht nur mithilfe der Medizin des Schamanen, sondern auch durch die gemeinsamen Bemühungen aller Familienmitglieder, die mit der kranken Person zusammenarbeiten, um wieder den Zustand des Hozho zu erlangen. Die Krankheit eines Stammesmitglieds wird nicht als dessen oder deren individuelle Verantwortung (oder Verschulden) angesehen, sondern vielmehr als ein Zeichen größerer Disharmonie, die durch gemeinsame Heilungszeremonien beseitigt werden muss. Diese kulturelle Orientierung garantiert, dass einem Leidenden automatisch ein starkes Netz sozialer Unterstützung zu Hilfe kommt.
Die Hinwendung zum biopsychosozialen Modell Wir haben gerade gesehen, dass Heilungspraktiken in nicht-westlichen Kulturen oft eine Verbindung zwischen Körper und Geist annehmen. Im Gegensatz dazu hat sich das moderne westliche wissenschaftliche Denken fast ausschließlich auf ein biomedizinisches Modell mit einem dualistischen Konzept von Körper und Geist verlassen. Nach diesem Modell behandelt die Medizin den Körper als von der Psyche getrennt; der Geist ist nur für Emotionen und Einstellungen wichtig und hat wenig mit der Realität des Körpers zu tun. Mit der Zeit haben Forscher jedoch begonnen, die Arten von Interaktionen aufzuzeigen, die durch ein strikt biomedizinisches Modell nicht erklärt werden können. Wir führten bereits einige Belege an: Gute und schlechte Lebensereignisse können das Immunsystem beeinflussen; Menschen sind hinsichtlich der negativen Folgen von Stress mehr oder weniger resilient;
angemessene soziale Unterstützung kann die Sterbewahrscheinlichkeit senken. Diese Erkenntnisse führten zu den drei Komponenten des biopsychosozialen Modells. Das bio erkennt die Realität einer biologischen Krankheit an; psycho und sozial zielen auf die psychischen und sozialen Komponenten von Gesundheit. Das biopsychosoziale Modell verbindet die körperliche Gesundheit mit dem seelischen Zustand und der Umwelt. Gesundheitspsychologen betrachten Gesundheit als ein dynamisches, multidimensionales Erleben. Optimale Gesundheit, oder Wohlbefinden, umfasst körperliche, intellektuelle, emotionale, spirituelle, soziale und Umweltaspekte unseres Lebens. Wenn man etwas unternimmt, um Erkrankungen vorzubeugen oder sie zu entdecken, bevor sie ausbrechen, dann zeigt man Gesundheitsverhalten. Das allgemeine Ziel der Gesundheitspsychologie ist der Einsatz psychologischen Wissens, um Wohlbefinden und Gesundheitsverhalten zu fördern. Werfen wir nun einen Blick auf die für dieses Ziel relevanten Theorien und Forschungen.
12.3.2 Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung bedeutet die Entwicklung allgemeiner Strategien und spezifischer Taktiken zur Elimination oder Verringerung des Risikos von Erkrankungen. Die Prävention von Krankheit im 21. Jahrhundert stellt eine ganz andere Herausforderung dar als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Jahre 1900 waren Infektionskrankheiten die vornehmliche Todesursache. Zu jener Zeit starteten praktizierende Ärzte die erste Revolution des amerikanischen öffentlichen Gesundheitswesens. Durch den Einsatz von Forschung, öffentlicher Aufklärung, die Entwicklung von Impfstoffen und Veränderungen der öffentlichen Gesundheitsstandards (wie Müllabfuhr und Abwassersystem) konnten sie mit der Zeit die Todesfälle substanziell reduzieren, die mit Krankheiten wie Grippe, Tuberkulose, Kinderlähmung, Masern und Pocken in Verbindung standen. Wollen Forscher zum Trend hin zu einer verbesserten Lebensqualität beitragen, dann müssen sie versuchen, Todesfälle zu verringern, die mit Faktoren des Lebensstils zusammenhängen ( Tabelle 12.7). Rauchen, Übergewicht, fett- und cholesterinreiches Essen, übermäßiger Alkoholgenuss, Fahren ohne Sicherheitsgurt und stresserfülltes Leben spielen bei Herzerkrankungen, Krebs, Schlaganfällen, Unfällen und Suiziden eine Rolle. Die Veränderung der Verhaltensweisen, die mit diesen Zivilisationskrankheiten verbunden sind, wird viele Krankheiten vermeiden und einen vorzeitigen Tod verhindern.
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Tabelle 12.7
Häufigste Todesursachen, USA, 2006 Rang
% der Todesfälle
Todesursachen
Mitverursacher*
1.
27,3
Herzkrankheiten
E/R
2.
22,9
Krebs
E/R
3.
6,3
Schlaganfälle
E/R
4.
5,2
Lungenerkrankungen
R
5.
4,5
Unfälle gesamt
A/DM
6.
3,0
Diabetes
E
7.
2,7
Alzheimer‘sche Krankheit
8.
2,6
Lungenentzündung und Grippe
R
9.
1,8
Nierenleiden
E
10.
1,4
Blutvergiftung
A/DM
* E = Ernährung; R = Rauchen; A = Alkohol, DM = Drogenmissbrauch
Tabelle 12.8
Zehn Schritte zum persönlichen Wohlbefinden 1. Treibe regelmäßig Sport. 2. Ernähre dich bewusst und ausgewogen (viel Gemüse, Früchte und Getreide; wenig Fett und Cholesterin). 3. Halte ein für dich geeignetes Gewicht. 4. Schlafe 7 bis 8 Stunden jede Nacht; ruhe dich täglich aus, entspanne dich täglich. 5. Lege den Sicherheitsgurt an beziehungsweise trage einen Helm, auch auf dem Fahrrad. 6. Rauche nicht und konsumiere keine Drogen. 7. Trinke Alkohol, wenn überhaupt, dann in Maßen. 8. Treffe beim Sex geeignete Sicherheitsmaßnahmen. 9. Lasse dich regelmäßig von Haus- und Zahnarzt untersuchen; befolge medizinische Anordnungen. 10. Entwickle eine optimistische Sichtweise und pflege Freundschaften.
Auf der Basis dieses Wissens kann man leicht einige Empfehlungen geben. Man bleibt mit größerer Wahrscheinlichkeit gesund, wenn man gute gesundheitsfördernde Gewohnheiten wie die in Tabelle 12.8 genannten praktiziert. Viele dieser Ratschläge sind Ihnen wahrscheinlich bereits bekannt. Doch Gesund-
488
heitspsychologen setzen gerne psychologische Prinzipien ein, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass wir tatsächlich die Dinge auch tun, die bekanntermaßen gut für uns sind. Um darzustellen, wie dies funktioniert, betrachten wir zwei konkrete Gebiete genauer: Rauchen und AIDS.
12.3 Gesundheitspsychologie
Rauchen Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass jemand, der dieses Buch liest, nicht weiß, dass Rauchen extrem gefährlich ist. In Deutschland sterben jährlich rund 120.000 Menschen an Krankheiten, die mit dem Rauchen in Zusammenhang stehen (Frankfurter Rundschau, 14.5.2003); in den USA liegt die Zahl dieser Fälle bei 438.000 (Armour et al., 2005). Und doch rauchen in den USA immer noch 60 Millionen Menschen (Substance Abuse and Mental Health Services Administration, 2003). Gesundheitspsychologen würden gerne verstehen, warum Menschen mit dem Rauchen anfangen – so dass die Psychologen helfen können, es zu verhindern – und wie man Menschen beim Aufhören unterstützt, damit sie die beträchtlichen Vorteile eines Exrauchers genießen. Untersuchungen darüber, warum Menschen zu rauchen beginnen, haben sich auf die Wechselwirkungen zwischen Anlage und Umwelt konzentriert. So verglich beispielsweise eine Studie eineiige und zweieiige Zwillingspaare auf die Ähnlichkeiten ihres Tabakkonsums hin (Kendler et al., 2000). (Erinnern Sie sich, dass eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, während zweieiige Zwillinge einander genetisch nicht mehr gleichen als normale Geschwister.) Die aus dem Schwedischen Zwillingsregister gezogenen Daten umfassten Zwillinge, die in verschiedenen Jahrzehnten geboren worden waren. Wie in Tabelle 12.9 zu sehen ist, hatte die Alterskohorte einen großen Einfluss auf die Schätzwerte für Erblichkeit bei Frauen, aber nicht bei Männern. Bei Männern war der genetische Einfluss auf das Rauchverhalten groß – je näher der Wert an 1,0 liegt, desto mehr genetische Faktoren sagen das Verhalten voraus – und stabil über Gruppengrenzen hinweg. Für die Frauen stieg der Wert allerdings mit der Zeit dramatisch an. Wie könnte das kommen? Die Forscher vermuteten, dass „die Verringerung sozialer Restriktionen des Rauchens im Schweden des 20. Jahrhunderts genetischen Faktoren zunehmend erlaubte, sich auszudrücken“ (S. 891). Als die sozialen Beschränkungen, denen Frauen unterlagen, sich verringerten, konnten diejenigen Frauen, die genetisch prädisponiert waren zu rauchen, das dann auch tun. Um die Verbindung zwischen Vererbung und Rauchen zu verstehen, haben sich die Forscher oft auf Persönlichkeitsunterschiede konzentriert, die vorhersagen, welche Menschen anfangen werden zu rauchen. Ein Persönlichkeitstyp, der mit dem Beginnen des Rauchens in Zusammenhang gebracht wird, zeigt die Disposition der Stimulationssuche (auch Sensati-
Tabelle 12.9
Der Einfluss sozialer Restriktionen auf Einschätzungen der Erblichkeit regelmäßigen Tabakkonsums Geburtsjahrgänge Männer
Frauen
1910 – 1924
0,53
0,00
1925 – 1939
0,58
0,21
1940 – 1958
0,51
0,64
onssuche als Analogie zu sensation seeking; Zuckerman, 1988). Individuen, die als Stimulationssuchende charakterisiert werden, unternehmen mit größerer Wahrscheinlichkeit riskante Aktivitäten. In einer Studie verglich man Persönlichkeitseinschätzungen von Männern und Frauen Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (1964 –1967) mit ihrem Raucheroder Nichtraucherverhalten in den späten 80er Jahren (1987–1991). Männer und Frauen, die sich in den 60er Jahren als Sensationssuchende erwiesen hatten, rauchten mit größerer Wahrscheinlichkeit 20 bis 25 Jahre später (Lipkus et al., 1994). Gesundheitspsychologen haben erkannt, dass erfolgreiche Interventionen, die den Beginn des Rauchens verhindern sollen, das Rauchen in eine „uncoole“ Aktivität umwandeln müssen. Der beste Umgang mit dem Rauchen ist, niemals damit anzufangen. Doch was entdeckte die Forschung für diejenigen, die mit dem Rauchen schon begonnen haben? Obgleich viele Menschen, die versucht haben aufzuhören, Rückschläge verzeichnen, haben es schätzungsweise 35 Millionen Amerikaner geschafft. 90 Prozent haben es alleine, ohne professionelle Behandlungsprogramme, geschafft. Die Forschung hat Phasen ausgemacht, die Menschen mit zunehmender Bereitschaft, mit dem Rauchen aufzuhören, durchlaufen (Norman et al., 1998, 2000): Präkontemplation. Der Raucher denkt noch nicht an das Aufhören. Kontemplation. Der Raucher denkt bereits über das Aufhören nach, hat sein Verhalten aber noch in keiner Weise geändert. Vorbereitung. Der Raucher ist nun bereit aufzuhören.
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Aktion. Der Raucher unternimmt Schritte zum Aufhören, indem er sich Ziele für sein Verhalten setzt. Aufrechterhaltung. Der Raucher ist nun ein Nichtraucher und versucht, dies zu bleiben. Diese Analyse deutet darauf hin, dass nicht alle Raucher die gleiche psychische Bereitschaft aufweisen, mit dem Rauchen aufzuhören. Es können Interventionen entwickelt werden, welche die Raucher auf der Bereitschaftsskala nach oben bringen, bis sie schließlich psychisch so weit vorbereitet sind, dass sie sich gesundheitsfördernd verhalten. Eine erfolgreiche Behandlung zum Einstellen des Rauchens erfordert, dass die physiologischen und psychischen Bedürfnisse des Rauchers befriedigt werden (Tsoh et al., 1997; U.S. Department of Health and Human Services, 2000). Auf der physiologischen Seite ist es für die Raucher am besten, eine effektive Form der Nikotin-Ersatz-Therapie, wie Nikotinpflaster oder -kaugummi, anzuwenden. Auf der psychischen Seite müssen Raucher verstehen, dass es sehr viele Ex-Raucher gibt; sie müssen realisieren, dass man aufhören kann. Des Weiteren müssen Raucher Strategien erlernen, mit den starken Versuchungen umzugehen, die ihr Mühen um das Aufhören begleiten. Behandlungen beziehen oft die Arten von kognitiven Copingtechniken mit ein, die wir oben beschrieben haben. Durch sie können die Effekte einer Vielzahl von Stressoren gemildert werden. Im Hinblick auf das Rauchen werden die Menschen dazu ermutigt, Wege zu finden, um Situationen zu vermeiden oder zu entkommen, die ein erneutes Verlangen nach der Zigarette mit sich bringen könnten.
schätzten Millionen HIV-Infizierten nicht an AIDS (einer medizinischen Diagnose) erkrankt sind, müssen sie doch mit dem beständigen Stress leben, dass diese lebensbedrohliche Krankheit plötzlich ausbrechen könnte. Zurzeit stehen Behandlungen zur Verfügung, die den Ausbruch des AIDS-Vollbildes hinauszögern, doch gibt es weder eine Heilung von AIDS noch einen Impfstoff, um seine Ausbreitung zu verhindern. Das HIV-Virus wird nicht durch die Luft übertragen; es benötigt einen direkten Zugang zum Blutkreislauf, um eine Infektion hervorzurufen. Das HIV-Virus wird im Allgemeinen auf zwei Wegen von einer Person auf eine andere übertragen: (1) durch Austausch von Samenflüssigkeit oder Blut während des Geschlechtsverkehrs und (2) durch das gemeinsame Benutzen von intravenösen Nadeln und Spritzen für die Injektion von Drogen. Das Virus wurde auch durch Bluttransfusionen und medizinische Eingriffe übertragen, bei denen unbeabsichtigt gesunden Menschen infiziertes Blut verabreicht oder ein infiziertes Organ eingepflanzt wurde. Viele Menschen, die an der Bluterkrankheit leiden, sind auf diese Weise an AIDS erkrankt. Ein AIDS-Risiko besteht jedoch für jeden Menschen. Der einzige Weg, sich selbst vor einer Infektion mit dem AIDS-Virus zu schützen, besteht darin, riskante Lebensgewohnheiten zu verändern. Dies bedeutet eine dauerhafte Veränderung des Sexualverhaltens und des Gebrauchs von Drogenutensilien. Der Gesundheitspsychologe Thomas Coates ist Mitglied eines multidisziplinären Forscherteams, das eine Reihe psychologischer Prinzipien in einer konzertierten Bemü-
AIDS AIDS ist ein Akronym für acquired immune deficiency syndrome (erworbenes Immundefizitsyndrom). Zwar sterben Hunderttausende an dieser Viruserkrankung, doch leben derzeit viel mehr Menschen mit der HIV-Infektion. HIV (Akronym für human immunodeficiency virus) ist ein Virus, das die weißen Blutkörperchen (T-Lymphozyten) des Menschen angreift und so das Immunsystem schädigt und die Fähigkeit des Körpers schwächt, andere Krankheiten zu bekämpfen. Der Mensch wird anfällig für Infektionen durch eine Menge anderer Viren und Bakterien, die lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs, Hirnhautentzündung und Lungenentzündung verursachen können. Die Zeit von der Infektion mit dem Virus bis zum Auftreten der Symptome (Inkubationszeit) kann fünf Jahre oder mehr betragen. Obwohl die meisten der ge-
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Warum ist regelmäßiges Fitnesstraining ein wichtiger Baustein in einem lebenslangen Plan, Stress zu reduzieren und die Gesundheit zu erhalten?
12.3 Gesundheitspsychologie
hung einsetzt, um die weitere Ausbreitung von AIDS zu verhindern (Coates & Szekeres, 2004). Das Team beschäftigt sich mit vielen Aspekten der angewandten Psychologie, wie beispielsweise der Erfassung psychosozialer Risikofaktoren, der Entwicklung von Verhaltensinterventionen, dem Training von Meinungsführern, um Menschen zu gesünderem Sexual- und Drogenverhalten zu erziehen, dem Assistieren bei der Gestaltung von Anzeigen und Informationskampagnen und der systematischen Evaluierung von Veränderungen relevanter Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen. Eine erfolgreiche AIDS-Intervention bedarf dreier Komponenten (Starace et al., 2006): Information. Die Menschen müssen mit Wissen darüber versorgt werden, wie AIDS übertragen wird und wie die Übertragung verhindert werden kann; ihnen sollte zu sicherem Sex (zum Beispiel dem Gebrauch von Kondomen während des Sexualkontakts) und zum Gebrauch steriler Nadeln geraten werden. Motivation. Menschen müssen dazu motiviert werden, AIDS-Prävention zu betreiben. Verhaltensfertigkeiten. Man muss Menschen vermitteln, wie sie das Wissen umsetzen. Warum sind all diese Komponenten notwendig? Menschen sind vielleicht hoch motiviert, aber uninformiert, oder umgekehrt. Sie besitzen vielleicht ausreichendes Wissen und genügend Motivation, doch es mangelt an den erforderlichen Fertigkeiten. Vielleicht wissen sie beispielsweise nicht genau, wie die soziale Barriere, den Partner um die Benutzung eines Kondoms zu bitten, zu überwinden ist (Leary et al., 1994). In psychologischen Interventionen können sie Erfahrungen im Rollenspiel oder andere Fertigkeiten im Verhalten erlangen, die diese Barriere kleiner erscheinen lassen.
12.3.3 Behandlung Die Behandlung konzentriert sich darauf, Menschen zu helfen, sich auf ihre Krankheit einzustellen und davon zu genesen. Wir werden drei Aspekte von Behandlung betrachten. Als Erstes betrachten wir die Rolle von Psychologen bei der Ermutigung der Patienten, den Anordnungen und Verschreibungen von Ärzten und anderen Gesundheitspraktikern Folge zu leisten. Im Anschluss wenden wir uns jenen Techniken zu, die Menschen ermöglichen, psychologische Techniken explizit einzusetzen, um Kontrolle über die
Köperreaktionen zu gewinnen. Schließlich werden wir untersuchen, wie der Geist zu Heilung des Körpers beitragen kann.
Compliance Unter dem englischen Begriff „compliance“ versteht man die kooperative und zuverlässige Mitarbeit eines Patienten bei der Durchführung eines Behandlungsplans. Ein Behandlungsplan kann beispielsweise Medikamente, Änderungen der Ernährung, vorgeschriebene Ruhe- und Aktivitätszeiten sowie Nachuntersuchungen, Rehabilitationstraining und Chemotherapie beinhalten. Dass sich Patienten nicht an den erstellten Behandlungsplan halten, ist eines der schwerwiegendsten Probleme in der Gesundheitspflege (Clark & Becker, 1998). Bei einigen Behandlungsplänen halten sich schätzungsweise nahezu 50 Prozent der Patienten nicht an die Vereinbarungen. Die neuere Forschung konzentriert sich auf die individuellen Unterschiede, aufgrund derer einige Menschen die Vereinbarungen erfüllen, andere hingegen nicht.
AUS DER FORSCHUNG Eine Gruppe von Forschern untersuchte die Bedeutung des Aufmerksamkeitsstils im Hinblick auf die Patientencompliance. Einige der erkrankten Menschen richten ihre ganze Aufmerksamkeit auf alle Aspekte der Krankheit – man könnte sie als Hochregistrierer bezeichnen. Im Gegensatz dazu richten Niedrigregistrierer weniger Aufmerksamkeit auf ihre Krankheit. Anfangs mag es nicht gefährlich scheinen, ein Hochregistrierer zu sein. Doch aufgrund ihres engen Aufmerksamkeitsfokus neigen Hochregistrierer dazu, die Schwere ihrer Krankheit zu überschätzen. Eine Folge davon ist, dass Hochregistrierer über eine geringere wahrgenommene Kontrolle über ihre Krankheit verfügen – was der Vermutung der Forscher zufolge ihre Compliance untergraben könnte. In der vorliegenden Studie schätzten die Forscher eine Gruppe von Patienten hinsichtlich ihres Aufmerksamkeitsstils, ihrer wahrgenommenen Kontrolle und ihrer Compliance ein. Die Ergebnisse entsprachen den von den Forschern vermuteten Mustern. Im Vergleich zu Niedrigregistrierern nahmen Hochregistrierer weniger Kontrolle über ihre Krankheit wahr und hielten sich weniger an die von den Ärzten getroffenen Anordnungen (Christensen et al., 1997).
Vor dem Lesen dieser Studie haben Sie vielleicht angenommen, dass Menschen, die ihre Krankheit sehr genau unter die Lupe nehmen, wahrscheinlich besser mit sich selbst umgehen. Die Daten lassen jedoch vermuten, dass ein zu enger Fokus auf eine Krankheit
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diese sogar schlimmer erscheinen lässt, als sie tatsächlich ist – dies kann zu einer Hoffnungslosigkeit bei Patienten führen, so dass sie nicht mehr den Mut haben, das Notwendige zu tun. Die Forschung hat gezeigt, dass professionelle Gesundheitsexperten etwas unternehmen können, um die Compliance der Patienten zu verbessern. Patienten sind zufriedener mit ihrer Gesundheitspflege, wenn sie glauben, dass die Wirkung der Behandlung größer ist als ihre Kosten. Sie erfüllen auch besser ihren Behandlungsplan, wenn Ärzte sich verständlich ausdrücken, sich rückversichern, dass ihre Patienten verstehen, was gesagt wurde, sich höflich den Patienten gegenüber verhalten und das Gefühl von Fürsorge und Unterstützung vermitteln. Darüber hinaus müssen Gesundheitsexperten um die Rolle der kulturellen und sozialen Normen im Behandlungsprozess wissen und Familie und Freunde einbeziehen, wo es notwendig ist. Einige Kritiker der veralteten Hinwendung der Ärzteschaft zum biomedizinischen Modell behaupten, dass Ärzte lernen müssen, sich um die Patienten zu kümmern, um zu heilen (Siegel, 1988). Die aus der psychologischen Forschung entwickelten Strategien
zur Erlangung von Compliance werden ebenfalls dazu eingesetzt, um die mangelnde Kooperation zwischen Patienten und Ärzten zu verbessern (Putnam et al., 1994; Zimbardo & Leippe, 1991).
Übungen des Geistes zur Heilung des Körpers Immer öfter enthalten Behandlungen, denen sich Patienten unterziehen, eine psychologische Komponente. Viele Forscher glauben mittlerweile, dass psychologische Strategien das Wohlbefinden verbessern können. Beispielsweise reagieren viele Menschen auf Stress mit Anspannung, die sich in verkrampften Muskeln und hohem Blutdruck äußert. Glücklicherweise können viele Spannungsreaktionen durch psychologische Techniken wie Entspannung und Biofeedback kontrolliert werden. Entspannung durch Meditation hat uralte Wurzeln in vielen Teilen der Welt. In östlichen Kulturen gibt es jahrhundertealte Praktiken zur Beruhigung des Geistes und Entspannung des Körpers. Heutzutage sind Zenund Yogaübungen aus Japan und Indien für viele Menschen Teil des täglichen Lebens, sowohl in den Ur-
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Kann die Gesundheitspsychologie Ihnen helfen, bis 2010 ein gesunder Mensch zu werden?
Wenn Sie in den Vereinigten Staaten leben, hat Ihre Regierung in den nächsten Jahren einiges mit Ihnen vor: Das amerikanische Gesundheitsministerium rief ein Programm ins Leben, das den Titel Healthy People 2010 (Gesunde Menschen im Jahr 2010) trägt. In diesem Programm werden konkrete Empfehlungen für Verhaltensweisen gegeben, die der persönlichen und sozialen Gesundheit dienen. Das Programm nennt zwei große Ziele: (1) Die Reduktion von Unterschieden des Gesundheitszustandes zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Armen, Minderheiten und Kindern und (2) eine Verlängerung der Zeitspanne eines gesunden Lebens. Psychologen werden ihren Teil zur Erreichung beider Ziele beitragen: Im Hinblick auf das erste Ziel wurde mentales Wohlbefinden in die Kategorie „Gesundheitszustand“ mit aufgenommen. Seit nunmehr einigen Jahren haben Psychologen viel Energie in die Forschung und Anwendung investiert, um die Gesundheitspflege für verschiedene Gemeinschaften zu verbessern. Das zweite Ziel steht in direktem Zusammenhang mit der Expertise, die Gesundheitspsychologen zur Förderung der Gesundheit einbringen. Das Programm Gesunde Menschen im
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Jahr 2010 will die Menschen dazu veranlassen, ihr gesundheitsrelevantes Verhalten zu verändern. Wie wir gesehen haben, stellt dies ein wichtiges Anliegen der gesundheitspsychologischen Forschung dar. Um dies zu verdeutlichen, betrachten wir zwei konkrete Ziele von Gesunde Menschen im Jahr 2010: Eine Reduktion des Anteils Erwachsener, die in der Freizeit keiner körperlichen Aktivität nachgehen, von 40 auf 20 Prozent. Eine Erhöhung des Anteils Erwachsener, die regelmäßig einer leichten körperlichen Aktivität (30 Minuten an den meisten Tagen) nachgehen, von 15 auf 30 Prozent. Sie wissen wahrscheinlich, warum Gesunde Menschen im Jahr 2010 zu regelmäßigen körperlichen Aktivitäten anhält: Bewegungsaktivitäten wie beispielsweise Rad fahren, Schwimmen, Laufen oder sogar schnelles Gehen führen zu einer starken Verbesserung der Gesundheit. Diese Aktivitäten führen zu besserer Fitness des Herz- und Atmungssystems, Verbesserung des Muskeltonus und der Muskelkraft und bringen viele weitere Gesundheitsvorteile mit sich.
12.3 Gesundheitspsychologie
Wie kann Ihr Wissen in Bezug auf Gesundheitspsychologie dazu beitragen, dass Menschen diese Vorteile zugute kommen? Die Forschung untersucht die Fragen, wer regelmäßig trainiert und warum, und sie versucht herauszufinden, welche Programme oder Strategien am effektivsten sind, um Menschen dazu zu bringen, mit dem Training zu beginnen oder es aufrechtzuerhalten (Dishman & Buckworth, 1997). In der Tat greift das gleiche Modell, das wir im Zusammenhang mit dem Aufhören des Rauchens vorgestellt haben, für das Beginnen des Trainierens (Myers & Roth, 1997). In der Phase der Präkontemplation konzentriert sich ein Individuum noch immer auf die Hindernisse, die es vom Training abhalten (beispielsweise zu wenig Zeit, kein Trainingspartner), statt auf die Vorzüge (hilft zu entspannen, bringt den Körper in Form). Wenn das Individuum die Phasen der Kontemplation und Aufrechterhaltung durchlaufen hat und in der Phase des Trainings angekommen ist, dann verlagert sich die Betonung von den Hindernissen hin zu den Vorzügen. Wenn Sie bislang noch nicht regelmäßig trainieren, wie können Sie über die Phase der Präkontemplation hinausgelangen? Die Forschung belegt, dass Individuen Strategien erlernen können, die erlauben,
sprungsländern als zunehmend auch im Westen. Eine wachsende Anzahl von Belegen führt zur Vermutung, dass vollständige Entspannung eine wirkungsvolle Antistressreaktion ist (Deckro et al., 2002). Die Entspannungsreaktion zeichnet sich dadurch aus, dass die Muskelspannung, die kortikale Aktivität, die Pulsfrequenz und der Blutdruck sinken und die Atmung sich verlangsamt (Benson & Stuart, 1992; Friedman et al., 1996). Die elektrische Aktivität im Gehirn ist reduziert, und das Zentralnervensystem erhält weniger Input aus der Umwelt. Auf diesem geringen Erregungsniveau kann eine Erholung vom Stress stattfinden. Für die Herstellung einer Entspannungsreaktion werden vier Bedingungen als notwendig erachtet: (1) eine ruhige Umgebung, (2) geschlossene Augen, (3) eine bequeme Haltung und (4) ein mentales Hilfsmittel wie beispielsweise das ständige Wiederholen einer kurzen Phrase. Die ersten drei Bedingungen vermindern den Input in das Nervensystem, während die vierte die interne Stimulation absenkt. Biofeedback ist eine Technik der Selbstregulation, die auf vielerlei Arten angewandt wird, so zum Beispiel zur Kontrolle des Blutdrucks, zur Entspannung der Stirnmuskeln (die an Spannungskopfschmerzen beteiligt sind) und sogar zur Verminderung extremen Errötens. Vom Psychologen Neal Miller (1978) auf den Weg gebracht, ist das Biofeedback eine Vorgehenswei-
Hindernisse beim Trainieren zu überwinden (Simkin & Gross, 1994). Sie können die Trainingssituation genauso behandeln wie jede andere Situation, in der Sie kognitive Bewertungen einsetzen, um mit Stress umzugehen. Versuchen Sie, Ihr Leben so zu strukturieren, dass das Training ein gesundheitsförderndes Vergnügen darstellt. Sie sollten sich auch bewusst sein, dass viele Ihrer Kommilitonen „Rückschläge“ im Essverhalten und im Trainingsverhalten erleben: Wenn die Zeiten des akademischen Stresses vorüber sind, dann kehren sie vom ungesunden Essen und minimalen Trainieren zu gesünderem Verhalten zurück (Griffin et al., 1993). Wie müssten Sie Ihre Gedanken umstrukturieren, um dieses Muster zu vermeiden? Man muss nicht in den USA leben, um zur Erreichung der Ziele von Gesunde Menschen im Jahr 2010 beizutragen! Warum könnte das Annehmen gesunder Gewohnheiten und das Überwinden ungesunder Gewohnheiten in denselben Stadien ablaufen? Warum bedeutet es Stress, über das Annehmen gesunder Gewohnheiten – etwa regelmäßig Sport zu treiben – nachzudenken?
se, die einem Menschen die gewöhnlich schwachen oder internen Reaktionen über klare externe Signale bewusst macht. Der Patient kann die eigenen körperlichen Reaktionen „sehen“; sie werden von einer Apparatur überwacht, verstärkt und in Licht oder Töne unterschiedlicher Intensität umgewandelt. Der Patient hat nun die Aufgabe, die Stärke der externen Signale zu kontrollieren.
Warum wirkt sich Entspannung durch Meditation positiv auf die Gesundheit aus?
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Psychoneuroimmunologie In den frühen 80er Jahren machten Forscher eine Reihe von Entdeckungen, die eine weitere Weise bestätigten, in der die Psyche Einfluss auf den Körper nehmen kann: Psychische Zustände können sich auf das körperliche Immunsystem auswirken. Die historische Sichtweise bestand darin, dass Immunreaktionen – die schnelle Produktion von Antikörpern, um eindringende oder den Organismus schädigende Substanzen zu bekämpfen – als automatische, biologische Prozesse verstanden wurden, die ohne jegliche Beteiligung des zentralen Nervensystems ablaufen. Konditionierungsexperimente wie jene, die wir in Kapitel 6 beschrieben haben, zeigten jedoch, dass diese Auffassung nicht zutreffend ist.
AUS DER FORSCHUNG Bahnbrechende Arbeiten stammen von Robert Ader und Nicholas Cohen (1981), die eine Gruppe von Ratten auf eine Assoziation von dem süß schmeckenden Saccharin (CS) mit Cyclophosphamid (CY) trainierten. Cyclophosphamid ist eine Substanz, welche die Immunreaktion abschwächt. Eine Kontrollgruppe erhielt lediglich das Saccharin. Als dann später beiden Gruppen ausschließlich Saccharin gegeben wurde, produzierten jene Tiere, die zuvor auf eine Assoziation zwischen Saccharin und dem CY konditioniert wurden, signifikant weniger Antikörper gegen fremde Zellen als die Ratten der Kontrollgruppe. Dadurch reichte die erlernte Assoziation allein aus, eine Unterdrückung des Immunsystems hervorzurufen, wodurch die Ratten der Experimentalgruppe anfälliger für eine ganze Bandbreite von Krankheiten wurden. Der Lerneffekt war so stark, dass im späteren Verlauf der Studie einige Ratten starben, nachdem sie nur die Saccharinlösung getrunken hatten.
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Ergebnisse wie diese lassen hoffen, dass klassisches Konditionieren genutzt werden kann, um die Funktion des Immunsystems zu beeinflussen. Es ist ein neues Forschungsgebiet entstanden, die Psychoneuroimmunologie, um diese Art von Ergebnissen im Schnittfeld von Psychologie, zentralem Nervensystem und Immunsystem zu untersuchen (Ader & Cohen, 1993; Coe, 1999). Die Forschung der letzten 25 Jahre hat bestätigt, dass Stressfaktoren – und wie Menschen sie bewältigen – einen durchgängigen Einfluss auf die effektive Funktion des Immunsystems haben (Kiecolt-Glaser et al., 2002). Betrachten wir eine der Grundfunktionen des Immunsystems, die Fähigkeit, kleine Hautwunden zu heilen. In einer Studie brachte ein Forscherteam unter Janet Kiecolt-Glaser 13 Pflegepersonen von Alzheimer-Patienten (siehe Kapitel 7) und 13 Probanden einer Kontrollgruppe standardisierte kleine Hautwunden bei. Im Durchschnitt brauchten diese Wunden bei Alzheimerpflegern, die unter chronischem Stress stehen, 9 Tage länger um zu heilen (Kiecolt-Glaser et al., 1995)! Anschließende Untersuchungen befassten sich mit den physiologischen Mechanismen, die diesem Effekt zu Grunde liegen. So hatten zum Beispiel, wie in Abbildung 12.9 zu sehen ist, Patienten, die ein erhöhtes Maß an Stress empfanden, einen niedrigeren Pegel der Substanzen, die für die Wundheilung entscheidend sind 500
400 Menge an IL-1α
Sehen wir uns eine Anwendung des Biofeedback an. Probanden, die entweder an zu hohem oder zu niedrigem Blutdruck litten, wurden in ein Labor gebracht (Rau et al., 2003). Feedbackdaten aus einem Gerät, das bei jedem Pulsschlag den Blutdruck maß, wurden auf einem Bildschirm dargestellt, so dass wachsende grüne Balken eine Veränderung in der richtigen Richtung und wachsende rote Balken eine solche in der falschen Richtung anzeigten. Außerdem lieferten die Experimentatoren noch eine verbale Verstärkung: „Sie haben es richtig gemacht!“ Nach drei Trainingssitzungen konnten die Probanden ihren Blutdruck je nach Wunsch senken oder steigern. Wenn Sie sich also jemals über hohen Blutdruck Sorgen machen, sollten Sie komplementär zu einer medikamentösen Behandlung einen Kurs für Biofeedback besuchen.
300
200
100
0
0–8
9–13
14–18
19–29
Stresswert (Selbsteinschätzung)
Abbildung 12.9: Gefühlter Stress und Immunsystemfunktion. Forscher brachten Probanden standardisierte Wunden auf dem Unterarm bei. 24 Stunden später gaben die Probanden eine Selbsteinschätzung ihres alltäglichen Stresses ab (hohe Werte bezeichnen mehr empfundenen Stress). Die Forscher entnahmen außerdem Proben aus den Wunden, um die Menge der Substanz IL-1α, welche die Immunfunktion reguliert, festzustellen. Die Daten zeigten, dass die Teilnehmer mit dem höchsten Stresswert die niedrigsten IL-1α-Werte aufwiesen.
12.3 Gesundheitspsychologie
Wirkungen der Psyche auf die Gesundheit Nach der Besprechung der Psychoneuroimmunologie können Sie jetzt das Potenzial psychischer Faktoren, die körperliche Gesundheit zu beeinflussen, verstehen. Tatsächlich sind von der Forschung sogar Stressmanagementprogramme ausgearbeitet worden, die, wie ihre Autoren hoffen, Patienten mit den Stressbewältigungsressourcen versehen, die zur Abmilderung der Folgen ihrer Krankheit beitragen. Denken wir an unsere Schilderung sozialer Unterstützung als Bewältigungsressource zurück. Einige Forscher haben herausgefunden, dass Patienten, die an Unterstützungsgruppen teilnehmen, bei schweren Krankheiten längere Überlebenszeiten aufweisen. So überlebten zum Beispiel in einer Gruppe von Frauen mit metastasierendem Brustkrebs Teilnehmerinnen einer Gruppentherapie durchschnittlich 36,6 Monate, verglichen mit 18,9 Monaten in der Kontrollgruppe (Spiegel et al., 1989). Obwohl nicht alle Studien bestätigen, dass soziale Unterstützung zu längeren Überlebenszeiten führt, sind Teilnehmer an Stressmanagementprogrammen jedoch während ihrer Krankheit insgesamt psychisch stabiler und haben eine höhere Lebensqualität (Claar & Blumenthal, 2003). Eine letzte Anmerkung zur Behandlung. Hatten Sie schon einmal ein Geheimnis, das Ihnen zu peinlich war, um es jemandem zu erzählen? Wenn Sie doch darüber sprechen, könnte es Ihre Gesundheit enorm verbessern. Dies ist die Schlussfolgerung aus einem Großteil der Forschung des Gesundheitspsychologen James Pennebaker (1990, 1997; Petrie et al., 1998). Er zeigte, dass das Unterdrücken von Gedanken und Gefühlen, die mit persönlichen Traumata, Fehlern, eigener Schuld oder peinlichen Erfahrungen verbunden sind, einen verheerenden Tribut von der geistigen und körperlichen Gesundheit fordert. Gedanken und Gefühle dieser Art zu hemmen ist psychische Schwerstarbeit und untergräbt mit der Zeit die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Krankheiten. Anderen zu vertrauen neutralisiert
die negativen Effekte der Hemmung. Die Erfahrung, aus sich herauszugehen, zieht oft über Wochen oder Monate hinweg eine bessere körperliche und psychische Gesundheit nach sich. Sehen wir uns die Auswirkungen emotional aufgeladener Enthüllungen auf die Gesundheit von HIV-Infizierten an.
AUS DER FORSCHUNG 37 HIV-infizierte Erwachsene nahmen an dieser Studie teil. Ungefähr die Hälfte der Patienten wurde einer EmotionalWriting-Gruppe zugeteilt, in der sie in vier dreißigminütigen Sitzungen an aufeinanderfolgenden Tagen über die „traumatischsten und emotionalsten Erfahrungen in Ihrem Leben“ (Petrie et al., 2004, S. 273) schrieben. Die Kontrollgruppe verbrachte dieselbe Zeit mit einer neutralen Aufgabe, etwa damit, die Tätigkeiten des vergangenen Tages niederzuschreiben. Um den Einfluss des emotional writing zu bestimmen, maßen die Forscher die HIV-Belastung – die Anzahl von HI-Viren in einem Milliliter Blut. Abbildung 12.10 zeigt den dramatischen Effekt des emotional writing. Patienten, die daran teilgenommen hatten, zeigten zwei Wochen, drei Monate und sechs Monate später durchgängig eine geringere Virusbelastung.
Dieses Ergebnis stimmt mit anderen Daten überein, die darauf hin deuten, dass der Stresslevel eines Menschen einen Einfluss auf den Verlauf einer HIV-Infektion hat. Das emotional writing half den Teilnehmern bei der Bewältigung einiger der negativen psychischen Konsequenzen der Infektion.
3,9 Log10 HIV-1-RNA (Exemplare/ml)
(Glaser et al., 1999). An diesen Daten können Sie erkennen, wie kleine Unterschiede im Stresslevel die Geschwindigkeit beeinflussen können, mit der selbst kleine Wunden oder Kratzer vom Körper geheilt werden können. Mit dieser grundlegenden Einsicht können Sie verstehen, warum die Forschung davon ausgeht, dass Stressreaktionen beim Fortschreiten ernsthafter Erkrankungen wie Infektionen und Krebs eine noch wichtigere Rolle spielen. Die Forschung versucht dahinterzukommen, wie die Psyche die Immunfunktion beeinflusst, so dass diese Kraft gegen schwere Erkrankungen wie die genannten eingesetzt werden kann.
3,7 3,5
Kontrollgruppe
3,3 3,1
Emotional-Writing-Teilnehmer
2,9 2,7 2,5
Baseline
2 Wochen
3 Monate
6 Monate
Abbildung 12.10: Der Effekt von Emotional Writing auf eine HIV-Infektion. Die Probanden nahmen an vier Sitzungen entweder emotionsgeladenen oder gefühlsneutralen Schreibens teil. Ihre HI-Virusbelastung wurde zwei Wochen, drei Monate und sechs Monate danach gemessen. Die Teilnehmer an den Emotional-Writing-Sitzungen wiesen eine durchgängig niedrigere Virusbelastung auf (nach Petrie et al., 2004).
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Kennen Sie so einen Menschen: Jemanden, der von Erfolg getrieben ist, was auch immer sich ihm in dem Weg stellt; jemanden, über den schon in der Schule alle witzelten, dass er noch vor dem 20. Lebensjahr einen Herzinfarkt erleiden könnte? Sind Sie diese Person? Beim Blick darauf, wie einige Leute durchs Leben stürmen, während andere es eher ruhig angehen lassen, haben Sie sich vielleicht gefragt, ob diese unterschiedlichen Persönlichkeiten die Gesundheit beeinflussen. Die Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Gesundheitspsychologie lassen den Schluss zu, dass die Antwort „Ja“ lautet. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts berichteten Meyer Friedman und Ray Rosenman, was seit alters her vermutet wurde: Es ergab sich eine Beziehung zwischen einer Konstellation von Persönlichkeitszügen und der Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen, besonders von koronaren Herzerkrankungen (Friedman & Rosenman, 1974). Diese Forscher identifizierten zwei Verhaltensmuster, die sie als Typ A und Typ B bezeichneten. Das Verhaltensmuster Typ A ist ein komplexes Muster von Verhalten und Emotionen; darunter fällt, besonders konkurrenzorientiert, aggressiv, ungeduldig, hektisch und feindselig zu sein. Menschen vom Typ A sind oft mit einigen zentralen Aspekten ihres Lebens unzufrieden, leben in großem Konkurrenzkampf, sind ehrgeizig und oft einsam. Das Verhaltensmuster Typ B ist das Gegenteil von Typ A – die Menschen sind weniger konkurrenzorientiert, weniger feindselig und so weiter. Friedman und Rosenman berichteten, dass Menschen, die Verhaltensmuster nach Typ A zeigten, öfter an koronaren Herzkrankheiten leiden als Menschen in der allgemeinen Bevölkerung. Weil das Typ-A-Verhaltensmuster zahlreiche Komponenten aufweist, konzentriert sich die Forschung darauf, diejenigen spezifischen Typ-A-Elemente zu identifizieren, die das größte Risiko für die Betroffenen darstellen. Der Persönlichkeitszug, der als am „giftigsten“ erschien, ist Feindseligkeit.
AUS DER FORSCHUNG Eine Längsschnittstudie begann 1986 mit einer Gruppe von 774 Männern, die damals keine Anzeichen kardiovaskulärer Krankheiten aufwiesen (Niaura et al., 2002). 1986 wurde auch der Feindseligkeitswert (hostility level) jedes Patienten gemessen, und zwar mithilfe einiger Fragen aus dem Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI, ein Hilfsmittel, das wir in Kapitel 13 kennenlernen werden). Feindseligkeit ist als das Ausmaß definiert, in dem
496
Menschen die Welt und andere Menschen in zynischer und negativer Weise betrachten. Um die Beziehung zwischen Feindseligkeit und Herzkranzgefäßerkrankungen aufzuzeigen, teilten die Forscher die Feindseligkeitswerte in mehrere Prozentbereiche auf. Wie in Abbildung 12.11 zu sehen ist, zeigten die Probanden, deren Feindseligkeitswerte in den oberen 20 Prozent lagen, in den folgenden Jahren eine dramatisch höhere Rate von akuten kardiovaskulären Episoden. In dieser Gruppe von Männern war die Feindseligkeit tatsächlich ein besserer Indikator zukünftiger Herzerkrankungen als verschiedene Verhaltens-Risikofaktoren wie Tabak- und Alkoholkonsum.
Anzahl akuter kardiovaskulärer Episoden
12.3.4 Persönlichkeit und Gesundheit
20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 < 20%
20–39% 40–59% 60–79%
> 80%
Prozentgruppen der Feindseligkeitswerte
Abbildung 12.11: Feindseligkeit als Indikator für Herzkranzgefäßerkrankungen. Die Teilnehmer einer Studie wurden gemäß ihrer Feindseligkeits-Selbsteinschätzung in Prozentgruppen eingeteilt. Männer, die in die oberen 20 Prozent der Skala eingeordnet wurden (also die Gruppe mit mehr als 80 Prozent) wiesen den höchsten Wert an Herzkranzgefäßerkrankungen auf. Feindseligkeit beeinflusst die Gesundheit möglicherweise sowohl aus physiologischen Gründen – sie führt zu chronischer Übererregung der Stressreaktion des Körpers – als auch aus psychischen Gründen – sie führt dazu, dass feindselige Menschen weniger gesund leben und soziale Unterstützung vermeiden. Die gute Nachricht ist, dass Verhaltenstherapien zur Reduzierung des Reaktionsmusters nach Typ A in den meisten Fällen erfolgreich waren (Smith & Ruiz, 2002; Thoresen & Powell, 1992). So richtete sich beispielsweise eine Interventionsmaßnahme an Männer mit hohem Feindseligkeitswert, bei denen eine Herzkranzgefäßerkrankung diagnostiziert worden war (Gidron et al., 1999). Als Teil der Maßnahme lernten die Männer, wie man problemorientierte Bewältigungsstrategien einsetzt, um Wut zu reduzieren; außerdem lernten sie kognitive Restrukturierung, um ihren Zynismus herabzusetzen. Nach acht Wochen berichteten die Männer in der so behandelten Gruppe von durchgängig geringerer Feindseligkeit als ihre Altersgenossen in
12.3 Gesundheitspsychologie
der Kontrollgruppe (ohne Intervention). Außerdem wiesen die Angehörigen der Interventionsgruppe einen geringeren durchschnittlichen Blutdruck auf als ihre Kontrollpersonen. Erkennen Sie sich selbst in der Definition von Feindseligkeit wieder? Wenn ja, schützen Sie Ihre Gesundheit, indem Sie entsprechende Therapieangebote annehmen. Um diesen Abschnitt über Persönlichkeit und Gesundheit abzuschließen, möchten wir Sie an das Konzept des Optimismus erinnern, das wir in Kapitel 11 eingeführt haben. Wir haben gesehen, dass optimistische Menschen Fehler externen, instabilen und veränderbaren Ursachen zuschreiben (Seligman, 1991). Dieser Copingstil übt auf das Wohlbefinden des Optimisten einen großen Einfluss aus. Forscher zeigten, dass Optimismus die Funktion des Immunsystems entscheidend beeinflusst (Segerstrom et al., 1998). Optimistische Menschen zeigen weniger körperliche Symptome von Krankheit, werden schneller gesund, sind generell gesünder und leben länger (Hegelson, 2003; Peterson et al., 1988). Eine positive Sichtweise reduziert möglicherweise das körperliche Erleben chronischen Stresses und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man gesünder lebt.
fühlen sich mit sich selbst nicht wohl und haben Angst, Fehlbesetzungen zu sein. Burn-out geht mit höheren Fehlzeiten am Arbeitsplatz, mit häufigerem Ressortwechsel, schlechteren Leistungen im Beruf, eingeschränkten Beziehungen zu Mitarbeitern, familiären Problemen und schlechter persönlicher Gesundheit einher (Maslach et al., 2001; Schaufeli et al., 1993). Im heutigen Arbeitskräftepotenzial erreicht der Burnout aufgrund der Auswirkungen von Arbeitsplatzabbau, Arbeitsplatzumstrukturierungen und größerem Interesse am Profit denn an der Moral und Loyalität der Beschäftigten ein immer höheres Niveau. Burn-out geht nicht allein Ärzte, Betreuungs- und Beratungspersonal an, es zeugt vielmehr von einer Fehlfunktion in der Organisation, die durch ein Überdenken von Zielen, Werten, Arbeitspensum und Belohnungsstrukturen korrigiert werden muss (Leiter & Maslach, 2005). Welche Empfehlungen können ausgesprochen werden? Verschiedene soziale und situative Faktoren beeinflussen das Auftreten und den Level des Burn-outs und weisen folglich Wege, um ihn zu verhindern oder zu minimieren (Leiter & Maslach, 2005; Prosser et al., 1997). Die Qualität der Patient-Arzt-Interaktion beispielsweise wird durch die Anzahl der Patienten entscheidend beeinflusst, die der Arzt betreut – je größer
12.3.5 Burn-out im Beruf und das Gesundheitssystem Ein weiterer Schwerpunkt der Gesundheitspsychologie ist es, Empfehlungen zur Gestaltung des Gesundheitssystems abzugeben. Forscher haben zum Beispiel den Stress untersucht, der mit Berufen im Gesundheitswesen verbunden ist. Selbst die enthusiastischsten Beschäftigten haben mit dem emotionalen Stress zu kämpfen, intensiv mit vielen Menschen zu arbeiten, die an einer Reihe persönlicher, körperlicher und sozialer Probleme leiden. Die spezielle Art von emotionalem Stress derer, die sich professionell um Gesundheit und Wohlergehen kümmern, wurde von Christina Maslach, einer führenden Forscherin an diesem weit verbreiteten Problem, als Burn-out bezeichnet. Burn-out im Beruf ist ein Syndrom aus emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und reduziertem persönlichem Engagement; es wird oft von Menschen erlebt, die in Berufen arbeiten, die ein hohes Maß an sehr intensivem persönlichem Kontakt mit Patienten, Klienten oder der Öffentlichkeit erfordern. Beschäftige im Gesundheitssystem beginnen, ihre Sorge um und ihr Interesse an Patienten zu verlieren, und behandeln sie vielleicht auf distanzierte und sogar unmenschliche Weise. Sie
Warum sind im Gesundheitssystem Beschäftigte besonders prädestiniert für den Burn-out im Beruf?
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die Anzahl, desto größer die kognitive, sensorische und emotionale Überlastung. Ein weiterer Faktor in der Qualität dieser Interaktion ist die Menge direkter Kontakte mit Patienten. Eine längere Arbeitszeit in dauerndem direktem Kontakt mit Patienten ist mit einem größeren Burn-out verbunden. Dies trifft besonders dann zu, wenn der Kontakt von schwieriger und aufwühlender Natur ist, wie beispielsweise der Kontakt mit Sterbenden (Catalan et al., 1996). Die emotionale Belastung eines solch anhaltenden Kontakts kann durch eine Reihe von Maßnahmen reduziert werden. Ärzte können zum Beispiel ihren Arbeitsplan in der Weise modifizieren, dass sie sich zeitweilig aus solch stark Stress erzeugenden Situationen zurückziehen. Sie können individuelle Kontakte durch Gruppenkontakte ersetzen und sie können Gelegenheiten arrangieren, um für ihre Bemühungen positives Feedback zu erhalten.
4 Entwickle ein Gefühl für eine ausgeglichene
12.3.6 Ein Lob der Gesundheit
6 Wenn du das Gefühl hast, die Kontrolle über
Es ist Zeit für einige abschließende Ratschläge. Statt darauf zu warten, dass Stress oder Krankheit auftritt, und dann zu reagieren, sollte man sich Ziele setzen und das Leben so strukturieren, dass eine gesunde Basis aufgebaut werden kann. Die folgenden neun Schritte zu einer größeren Zufriedenheit und einer besseren mentalen Gesundheit stellen einen Leitfaden dar, der dazu ermutigen soll, eine aktivere Rolle im eigenen Leben einzunehmen und eine positivere psychologische Umwelt für sich selbst und andere zu schaffen. Diese Schritte sind als Vorsätze für das ganze Jahr hindurch gedacht. 1 Rede niemals schlecht über dich selbst. Suche
nach den Ursachen deiner Unzufriedenheit in Dingen, die in künftigen Handlungen verändert werden können. Übe an dir und anderen nur konstruktive Kritik – was kann das nächste Mal anders getan werden, um das zu erreichen, was du willst? 2 Vergleiche deine Reaktionen, Gedanken und Ge-
fühle mit denen deiner Freunde, Mitarbeiter, Familienmitglieder und anderer Menschen, so dass du die Angemessenheit und Relevanz deiner Reaktionen an einer geeigneten sozialen Norm messen kannst. 3 Pflege einige enge Freundschaften, damit du Ge-
fühle, Freude und Sorgen teilen kannst. Arbeite daran, dein Netzwerk sozialer Unterstützung aufzubauen, zu erhalten und zu erweitern.
498
Zeitperspektive, in der du dein Augenmerk flexibel auf die Anforderungen einer Aufgabe, einer Situation und deiner Bedürfnisse richten kannst; orientiere dich an der Zukunft, wenn Arbeit zu erledigen ist, an der Gegenwart, wenn das Ziel erreicht ist und Vergnügen an der Reihe sind, und an der Vergangenheit, um mit deinen Wurzeln in Verbindung zu bleiben. 5 Genieße immer deinen Erfolg und dein Glück
(und teile deine positiven Gefühle mit anderen). Notiere all die Qualitäten, die dich besonders und einzigartig machen – die Qualitäten, die du anderen anbieten kannst. Eine schüchterne Person kann beispielsweise einer gesprächigen Person ein aufmerksamer Zuhörer sein. Sei dir deiner Quellen persönlicher Stärke und deiner verfügbaren Copingressourcen bewusst.
deine Emotionen zu verlieren, distanziere dich von der Situation, indem du sie körperlich verlässt, indem du in einem Rollenspiel die Position einer anderen Person in der Situation oder dem Konflikt einnimmst, indem du dir die Zukunft vorstellst, um eine neue Perspektive darüber zu gewinnen, was gerade als überwältigendes Problem erscheint, oder indem du mit einer mitfühlenden Person sprichst. Erlaube dir selbst, deine Emotionen zu fühlen und auszudrücken. 7 Denke daran, dass Fehler und Enttäuschung
manchmal ein Segen sind. Sie sagen dir vielleicht, dass deine Ziele für dich nicht die richtigen sind, oder bewahren dich vor größeren Enttäuschungen zu einem späteren Zeitpunkt. Lerne aus jedem Fehler. Erkenne Rückschläge mit dem Satz „Ich habe einen Fehler gemacht“ an und mache weiter. Jeder Vorfall, jedes Unglück, jede Verletzung deiner Erwartungen birgt möglicherweise eine wunderbare Gelegenheit in sich. 8 Stellst du fest, dass du dir oder einer anderen
Person in einer Notlage nicht helfen kannst, konsultiere einen ausgebildeten Spezialisten in deiner Umgebung. In einigen Fällen ist ein Problem, das psychisch zu sein scheint, tatsächlich körperlich, und umgekehrt. Erkundige dich nach Anlaufstellen für mentale Gesundheit, bevor du sie brauchst, und nutze sie, ohne dir Sorgen zu machen, stigmatisiert zu werden.
12.3 Gesundheitspsychologie
9 Kultiviere gesunde Freuden und Lüste. Nimm
dir Zeit zu entspannen, zu meditieren, dich massieren zu lassen, einen Drachen steigen zu lassen und Hobbys und Aktivitäten zu pflegen, die du allein betreiben kannst und mit deren Hilfe du dir selbst näher kommst und deine eigene Wertschätzung steigerst. Wie fühlen Sie sich jetzt? Wenn die Stressoren in Ihrem Leben das Potenzial besitzen, Sie in eine schlechte Stimmung zu versetzen, dann können Sie hoffentlich die kognitive Neubewertung anwenden, um deren Auswirkungen zu minimieren. Wenn Sie krank sind, können Sie hoffentlich die heilenden Fähigkeiten Ihres Geistes nutzen, um schneller wieder gesund zu werden. Unterschätzen Sie niemals die Macht dieser unterschiedlichen Arten von „Gefühlen“, um Kontrolle über Ihr Leben auszuüben. Nutzen Sie diese Macht!
ZWISCHENBILANZ 1 Was hat die Forschung über die genetischen Grund-
lagen des Rauchens ergeben? 2 Welches sind die drei Komponenten einer erfolgrei-
chen AIDS-Intervention? 3 Welche Bedingungen sind notwendig, um die Entspan-
nungsreaktion hervorzurufen? 4 Was ist das wichtigste Ziel von Forschern in der Psycho-
neuroimmunologie? 5 Worin besteht der „toxische“ Aspekt von Typ-A-Per-
sönlichkeiten? 6 Wie definiert man Burn-out im Beruf?
KRITISCHES DENKEN: Warum sollten die Kontrollgruppenprobanden in der Studie über den Einfluss emotionaler Enthüllungen auf die Gesundheit Texte niederschreiben?
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Emotionen Emotionen sind komplexe Muster von Veränderungen aus physiologischer Erregung, kognitiver Bewertung und offenem Verhalten.
Kognitive Neubewertung und Restrukturierung kann eingesetzt werden, um mit Stress umzugehen.
Als ein Ergebnis der Evolution teilen wahrscheinlich alle Menschen ein grundlegendes Set emotionaler Reaktionen.
Soziale Unterstützung ist ein weiterer bedeutender Stressmoderator, solange sie den Umständen angemessen ist.
Kulturen variieren jedoch in ihren Regeln, wie Emotionen angemessen gezeigt werden.
Stress kann auch positive Auswirkungen, wie etwa posttraumatisches Wachstum, haben.
Klassische Theorien betonen unterschiedliche Elemente emotionaler Reaktionen, wie die peripheren Körperreaktionen oder die zentralen neuronalen Prozesse.
Gesundheitspsychologie Gesundheitspsychologie widmet sich der Behandlung und der Prävention von Krankheit.
Neuere Theorien betonen die Bewertung der Erregung.
Das biopsychosoziale Modell der Gesundheit und Krankheit richtet sich auf die Verbindungen zwischen körperlichen, emotionalen und die Umwelt betreffenden Faktoren bei Erkrankungen.
Emotionen erfüllen motivationale, soziale und kognitive Funktionen.
Krankheitsprävention im 21. Jahrhundert konzentriert sich auf Faktoren des Lebensstils wie beispielsweise Rauchen, Ernährung, sportliche Betätigung und AIDS-Risikoverhalten.
Stress Stress kann aus negativen oder positiven Ereignissen entstehen. Die Wurzel des Stresses ist meist eine Veränderung und das Bedürfnis, sich an die Umgebung und an die biologischen, physikalischen und sozialen Anforderungen anzupassen.
Psychische Faktoren haben Einfluss auf das Immunsystem. Die psychosoziale Behandlung von Krankheit fügt eine weitere Dimension des Umgangs mit Patienten hinzu.
Physiologische Stressreaktionen werden vom Hypothalamus und einer komplexen Interaktion des hormonalen und nervösen Systems gesteuert.
Menschen, die mit Typ A (insbesondere als feindselig), Typ B oder optimistischen Verhaltensmustern charakterisiert werden, erkranken mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit.
Abhängig von der Art des Stressors und seinen langfristigen Auswirkungen kann Stress eine geringfügige Störung sein oder zu gesundheitsbedrohlichen Reaktionen führen.
Die Beschäftigten im Gesundheitswesen sind dem Risiko eines Burn-outs ausgesetzt, welches durch geeignete situative Veränderungen in ihrer helfenden Umgebung minimiert werden kann.
Kognitive Bewertung stellt eine wichtige Moderatorvariable bei Stress dar.
Lösungen zu Abbildung 12.1 Obere Reihe: Freude, Überraschung, Ärger Mittlere Reihe: Ekel, Furcht, Trauer Untere Reihe: Verachtung
Copingstrategien fokussieren entweder die Probleme (die direkte Aufnahme von Handlungen) oder versuchen, die Emotionen zu regulieren (indirekt oder vermeidend).
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE AIDS (S. 490) Akuter Stress (S. 469) Allgemeines Adaptationssyndrom (S. 471) Amygdala (S. 459) Antizipatorisches Coping (S. 480) Biofeedback (S. 493) Biopsychosoziales Modell (S. 487) Burn-out im Beruf (S. 497) Cannon-Bard-Theorie der Emotion (S. 461) Chronischer Stress (S. 469) Coping (S. 478) Emotion (S. 454) Emotionstheorie der kognitiven Bewertung (S. 462) Entspannungsreaktion (S. 493) Gesundheit (S. 486) Gesundheitsförderung (S. 487) Gesundheitspsychologie (S. 486) HIV (S. 490) James-Lange-Theorie der Emotion (S. 460) Kampf-oder-Flucht-Reaktion (S. 469)
Kognitive Bewertung (S. 461) Lebensveränderungseinheiten (S. 472) Posttraumatische Belastungsstörung (S. 475) Psychosomatische Störungen (S. 472) Psychoneuroimmunologie (S. 494) Soziale Unterstützung (S. 483) Stress (S. 468) Stressmoderatorvariablen (S. 479) Stressor (S. 468) Verhaltensmuster Typ A (S. 496) Verhaltensmuster Typ B (S. 496) Wahrgenommene Kontrolle (S. 482) Wohlbefinden (S. 487)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Die menschliche Persönlichkeit
Die Kategorisierung anhand von Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beschreibung anhand von Traits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traits und Vererbung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sagen Traits Verhalten vorher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bewertung von Typologien und Trait-Theorien . . . . . . . . .
504 505 507 510 511 513
Psychologie im Alltag: Warum sind manche Menschen schüchtern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.1.5
13.2 Psychodynamische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.1 Freud’sche Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.2 Bewertung der Freud’schen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2.3 Erweiterungen psychodynamischer Theorien . . . . . . . . . . . . . .
515 515 520 521
13.3 Humanistische Theorien
522 522 524
13.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien
525 526 528 529
.................................. 13.3.1 Merkmale humanistischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.2 Bewertung humanistischer Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4
............... Mischels kognitiv-affektive Persönlichkeitstheorie. . . . . . . . . . Banduras sozial-kognitive Lerntheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cantors Theorie der sozialen Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der sozialen Lerntheorien und der kognitiven Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.5 Theorien des Selbst
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...................................... Dynamische Aspekte von Selbstkonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwertgefühl und Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die kulturelle Konstruktion des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der Theorien des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
531 531 532 534 536
Kritisches Denken im Alltag: Das Selbst im Internet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
536
13.6 Vergleich der Persönlichkeitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
537
13.7 Persönlichkeitsdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
538 538 541
13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4
13.7.1 Objektive Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.7.2 Projektive Tests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
13
............................................
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.............................................
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Ü B E R B L I C K
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die men sc h l i c h e P er sön l i c h kei t
A
ngenommen, Sie sollten Ihre beiden besten Freunde miteinander vergleichen und kontrastieren. Inwieweit ähneln sie einander? Wie unterscheiden sie sich? Sehr wahrscheinlich wird Ihre Analyse sich rasch auf die Persönlichkeit Ihrer Freunde konzentrieren. Sie könnten zum Beispiel feststellen, dass einer freundlicher als der andere ist oder mehr Selbstvertrauen hat. Aussagen dieser Art legen nahe, dass Sie Ihre eigene Persönlichkeitstheorie auf Ihre Beziehungen anwenden – Sie haben ein eigenes System der Persönlichkeitsbewertung. Sie haben mit diesem System versucht herauszufinden, wer in Ihrem neuen Kurs Freund und wer Feind sein würde; Sie haben Techniken entwickelt, um mit Ihren Eltern und Lehrern umzugehen, die darauf beruhten, wie Sie deren Persönlichkeit eingeschätzt haben. Psychologen definieren Persönlichkeit auf viele unterschiedliche Weisen, aber allen gemeinsam sind zwei grundlegende Konzepte: Einzigartigkeit und charakteristische Verhaltensmuster. Wir definieren Persönlichkeit als eine komplexe Menge von einzigartigen psychischen Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg beeinflussen. Persönlichkeitstheorien sind hypothetische Aussagen über die Struktur und die Funktionsweise individueller Persönlichkeiten. Mit ihrer Hilfe nähert man sich zwei wesentlichen Zielen der Psychologie: (1) einem Verständnis des Aufbaus, der Ursprünge und der Korrelate der Persönlichkeit; und (2) einer Vorhersage von Verhaltens-
weisen und Lebensereignissen auf der Basis dessen, was wir über die Persönlichkeit wissen. Unterschiedliche Theorien treffen unterschiedliche Vorhersagen über die Art und Weise, in der Menschen auf bestimmte Bedingungen reagieren und sich an diese anpassen werden. Bevor wir uns mit den wichtigsten theoretischen Ansätzen befassen, sollten wir uns fragen, warum es so viele unterschiedliche (und oft konkurrierende) Theorien gibt. Theoretiker unterscheiden sich in ihren Ansätzen zur Persönlichkeit hinsichtlich ihrer Ausgangspunkte, ihrer Datenquellen und darin, dass sie unterschiedliche Phänomene zu erklären versuchen. Einige interessieren sich für die Struktur der einzelnen Persönlichkeit, andere dafür, wie diese Persönlichkeit entstanden ist und wie sie sich weiterentwickeln wird. Einige interessieren sich für das, was Menschen tun, entweder in Hinblick auf spezifische Verhaltensweisen oder auf wichtige Lebensereignisse. Andere hingegen untersuchen, wie es den Menschen mit ihrem Leben geht. Schließlich versuchen einige Theorien, die Persönlichkeiten von Menschen mit psychischen Problemen zu erklären, während sich andere Theorien auf gesunde Personen konzentrieren. Insofern kann man aus jeder Theorie etwas über die Persönlichkeit lernen, und aus allen zusammen erfährt man viel über die menschliche Natur. Wir verfolgen in diesem Kapitel das Ziel, Ihnen einen Rahmen zu vermitteln, in welchen Sie Ihre alltägliche Erfahrung mit Persönlichkeit einordnen können. Bevor wir damit beginnen, sollten Sie über eine Reihe von Fragen nachdenken: Wenn Sie von Psychologen untersucht würden, welches Bild Ihrer Persönlichkeit würden diese zeichnen? Welche Ihrer frühen Erfahrungen spielten wohl nach Ansicht der Psychologen für Ihr gegenwärtiges Denken und Handeln eine Rolle? Welche Bedingungen in Ihrem heutigen Leben haben starken Einfluss auf Ihre Gedanken und Handlungsweisen? Was unterscheidet Sie von anderen Individuen, die in vielen ähnlichen Situationen wie Sie stehen? Dieses Kapitel sollte Ihnen dabei helfen, spezifische Antworten auf diese Fragen zu formulieren.
Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits Welche unerwarteten Folgen können sich aus individuellen Persönlichkeitsunterschieden ergeben? (© The New Yorker Collection 1946 Charles Addams from cartoonbank.com. All Rights Reserved.)
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13.1
Zwei der ältesten Ansätze zur Beschreibung der Persönlichkeit umfassen die Klassifikation von Menschen nach einer begrenzten Anzahl klar unterscheid-
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits
barer Typen und die Skalierung des Ausmaßes, in dem sie durch unterschiedliche Eigenschaften (traits) beschrieben werden können. Es scheint eine natürliche Tendenz bei Menschen zu geben, das eigene Verhalten und das Verhalten anderer in unterschiedliche Kategorien einzuordnen. Sehen wir uns die formalen Theorien an, die Psychologen entwickelt haben, um diese Unterschiede anhand von Typen und Traits zu erfassen.
13.1.1 Die Kategorisierung anhand von Typen Wir kategorisieren Menschen immer nach Merkmalen, anhand derer sie sich unterscheiden. Dazu gehören z. B. Studiengang, Schulabschluss, Geschlecht und Hautfarbe. Einige Persönlichkeitstheoretiker unterteilen Menschen ebenfalls in klar umgrenzte, nicht überlappende Kategorien, die man als Persönlichkeitstypen bezeichnet. Persönlichkeitstypen sind Alles-oderNichts-Phänomene, keine Frage der Abstufung: Wenn eine Person einem Typ zugeordnet wird, kann sie keinem anderen Typ aus demselben Klassifikationssystem angehören. Viele Leute verwenden im Alltag gerne Persönlichkeitstypen, weil sie dazu beitragen, den komplizierten Prozess des Verstehens anderer Menschen zu vereinfachen. Eine der ersten Typologien wurde im 5. Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Arzt Hippokrates vorgeschlagen, dem die Medizin den hippokratischen Eid verdankt. Er nahm an, dass der Körper vier wesentliche Flüssigkeiten enthält, die so genannten Körpersäfte, die jeweils mit einem bestimmten Temperament, einem Muster von Emotionen und Verhaltensweisen, in Verbindung stehen. Im 2. Jahrhundert nach Christus entwarf der spätantike griechische Arzt Galenos (auch Galen) eine Theorie, nach der die Persönlichkeit eines Menschen davon abhänge, welcher Körpersaft vorherrsche. Galen kombinierte Hippokrates’ Körpersäfte nach folgendem Schema mit bestimmten Persönlichkeitstypen: Blut: Sanguinisches Temperament: fröhlich und aktiv Schleim: Phlegmatisches Temperament: apathisch und träge Schwarze Galle: Melancholisches Temperament: traurig und grüblerisch Gelbe Galle: Cholerisches Temperament: aufbrausend und reizbar
Hippokrates nahm an, dass der Körper vier wesentliche Flüssigkeiten enthielte, die so genannten Körpersäfte, von denen jede mit einem bestimmten Temperament assoziiert sei. Im Uhrzeigersinn: ein melancholischer Patient leidet an einem Übermaß an schwarzer Galle; Blut bringt einen sanguinischen Lautenspieler zum Spielen; eine Jungfer, bei der das Phlegma (Schleim) vorherrscht, reagiert nur zögerlich auf ihren Geliebten; ein Choleriker ist ein strenger Herr und hat zu viel gelbe Galle. Glauben Sie, dass Hippokrates’ Persönlichkeitstypen auf Ihre Bekannten zutreffen? Galens Theorie wurde jahrhundertelang geglaubt, bis gegen Ende des Mittelalters, obwohl sie der modernen kritischen Prüfung nicht standhielt. (Wir werden jedoch ein modernes Echo von Hippokrates’ Temperamenten kennen lernen, wenn wir uns weiter unten mit der Trait-Theorie von Hans Eysenck befassen.) Im letzten Jahrhundert hat William Sheldon (1942) eine Typologie erstellt, die den Körperbau in Verbindung mit dem Temperament brachte und die auch heute noch in den Unterhaltungsmedien verbreitet und diskutiert wird. Er unterteilte Menschen auf der Basis ihres Körperbaus in drei Kategorien: endomorph (fett, weich, rund), mesomorph (muskulös, athletisch, stark) oder ektomorph (dünn, groß, anfällig). Sheldon glaubte, dass endomorphe Menschen entspannt und gesellig sind und gerne essen. Mesomorphe Menschen sind körperbetont und voll Energie, Mut und Durchsetzungswillen. Ektomorphe Menschen sind intellektuell, künstlerisch begabt und introvertiert; sie denken über das Leben nach, statt es zu genießen oder etwas daraus zu machen. Eine Zeit lang war Sheldons Theorie einflussreich genug, um Fotografien von Tausenden Studierenden an den Universitäten Yale und Wellesley zu begründen, damit Forscher die Zusam-
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Abbildung 13.1: Geburtsreihenfolge und Unterstützung der wissenschaftlichen Innovation. Frank Sulloway untersuchte 23 innovative wissenschaftliche Theorien und stellte die Position innerhalb der Geburtsreihenfolge bei 1.218 Wissenschaftlern fest, welche diese Theorien angenommen oder abgelehnt hatten. Unabhängig von der Familiengröße nahmen Nachgeborene die innovative Theorie mit größerer Wahrscheinlichkeit an als Erstgeborene.
menhänge zwischen Körpertyp und anderen Variablen untersuchen konnten. Genauso wie Hippokrates’ Theorie zuvor stellte sich auch Sheldons Idee von den Körpertypen als wenig brauchbar für die Vorhersage des Verhaltens einer Person heraus (Tyler, 1965). In jüngerer Zeit hat Frank Sulloway (1996) eine aktuelle Typologie erstellt, die auf der Geburtsreihenfolge basiert. Sind Sie das erstgeborene (oder einzige) Kind in Ihrer Familie, oder wurden Sie später geboren? Da man nur eine Position in der Geburtsreihenfolge einnehmen kann, erfüllt Sulloways Theorie die Kriterien für eine Typologie. (Für Menschen mit ungewöhnlichen Familienkonstellationen – beispielsweise ein sehr großer Altersabstand zwischen zwei Kindern – bietet Sulloway ebenfalls Mittel an, sie zu kategorisieren.) Sulloway macht Vorhersagen anhand der Geburtsreihenfolge, die auf Darwins Idee zurückgehen, dass Organismen sich spezialisieren, um Nischen zu finden, in denen sie überleben können. Nach Sulloways Theorie finden Erstgeborene eine vorbereitete Nische vor: Sie verfügen sofort über die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern; sie versuchen, diese anfängliche Bindung zu erhalten, indem sie sich mit ihren Eltern identifizieren und ihnen gehorchen. Im Gegensatz dazu müssen Nachgeborene eine andere Nische finden – eine, in der sie nicht so offensichtlich
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dem Beispiel ihrer Eltern folgen. In Folge dessen bezeichnet Sulloway Nachgeborene als „geborene Rebellen“: „Sie streben danach, sich in den Bereichen auszuzeichnen, in denen ältere Geschwister noch keine Überlegenheit etabliert haben. Nachgeborene kultivieren üblicherweise ihre Offenheit für neue Erfahrungen – eine nützliche Strategie für jemanden, der eine neue und erfolgreiche Strategie im Leben sucht“ (S. 353). Um die Vorhersage zu prüfen, dass Nachgeborene Innovation bevorzugen, während Erstgeborene den Status quo vorziehen, untersuchte Sulloway wissenschaftliche, historische und kulturelle Revolutionen und stellte die Geburtsreihenfolgen einer großen Anzahl von historischen und gegenwärtigen Personen fest, welche diese Revolutionen unterstützt oder bekämpft hatten. Abbildung 13.1 zeigt die Daten über das Ausmaß, in dem erstgeborene und nachgeborene Wissenschaftler 23 innovative Theorien in der Wissenschaft unterstützt haben. Wie Sie sehen können, unterstützen Nachgeborene mit größerer Wahrscheinlichkeit die innovative Theorie als Erstgeborene, unabhängig von der Größe der Familie. Haben Sie Brüder oder Schwestern? Können Sie dieses Muster in Ihrer eigenen Familie wiederfinden? Kennen Sie Menschen, die Sie als bestimmten „Typus“ beschreiben würden? Schließt dieser „Typus“
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits
Wenn kein Testergebnis aus einem Persönlichkeitstest vorliegt, können Traits aus beobachtetem Verhalten erschlossen werden. Beispielsweise würde man annehmen, dass Martin Luther King Jr. den gewaltfreien Widerstand gegen Ungerechtigkeit als kardinalen Trait besitzt; Ehrlichkeit wäre einer von Abraham Lincolns zentralen Traits, und Madonnas Vorliebe für wechselnde Stile wäre ein sekundärer Trait. Was halten Sie für Ihre kardinalen, zentralen und sekundären Traits beziehungsweise, im positiven Fall, Tugenden? alles ein, was es über die betreffende Person zu sagen gibt? Typologien scheinen die unauffälligeren Aspekte der menschlichen Persönlichkeit oft nicht zu erfassen. Wenden wir uns nun Theorien zu, die etwas mehr Flexibilität ermöglichen, indem sie die Individuen nach Traits und nicht nach Typen unterscheiden.
13.1.2 Die Beschreibung anhand von Traits Typologien gehen davon aus, dass es getrennte, diskontinuierliche Kategorien gibt, in die sich Menschen einordnen lassen, wie beispielsweise Erstgeborene und Nachgeborene. Im Gegensatz dazu gehen Trait-Theorien von kontinuierlichen Dimensionen aus, wie Intelligenz oder Freundlichkeit. Traits sind überdauernde Merkmale und Eigenschaften, die eine Person dazu prädisponieren, sich über verschiedene Situationen hinweg konsistent zu verhalten. Beispielsweise zeigt sich Ehrlichkeit an einem Tag darin, dass man eine verloren gegangene Brieftasche abgibt, und an einem anderen Tag darin, dass man bei einem Test nicht betrügt. Für einige Trait-Theoretiker sind Traits Prädispositionen, die Verhalten verursachen, aber konserva-
tivere Theoretiker verwenden den Begriff „Trait“ nur für deskriptive Dimensionen, die einfach Muster von beobachtetem Verhalten beschreibend zusammenfassen. Befassen wir uns mit bekannten Trait-Theorien. Allports trait-theoretischer Ansatz Gordon Allport (1937, 1961, 1966) hielt Traits für die Bausteine der Persönlichkeit und die Quelle der Individualität. Nach Allport machen Traits das Verhalten kohärent, weil sie die Reaktionen einer Person mit einer Vielzahl von Stimuli in Verbindung bringen und vereinigen. Traits können als intervenierende Variablen fungieren, welche ganz unterschiedliche Ausprägungen von Reizen und Reaktionen miteinander in Zusammenhang bringen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben ( Abbildung 13.2). Allport identifizierte drei Arten von Traits: kardinale, zentrale und sekundäre Traits. Kardinale Traits sind Traits, um die herum eine Person ihr Leben aufbaut. Für Mutter Theresa könnte ein kardinaler Trait die Selbstaufopferung zum Wohle anderer gewesen sein. Aber nicht alle Menschen entwickeln solche umfassenden kardinalen Traits. Zentrale Traits sind Traits, welche die wesentlichen Charakteristika einer Person
Abbildung 13.2: Schüchternheit als Trait. Traits können als intervenierende Variablen fungieren, die Mengen von Reizen und Reaktionen miteinander in Zusammenhang bringen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben.
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repräsentieren, wie Ehrlichkeit oder Optimismus. Sekundäre Traits sind spezifische, persönliche Merkmale, die dazu beitragen, das Verhalten einer Person vorherzusagen, aber weniger hilfreich sind, um die Persönlichkeit eines Individuums zu verstehen. Nahrungs- oder Kleidungspräferenzen sind Beispiele für sekundäre Traits. Allport versuchte, die einzigartige Kombination dieser drei Arten von Traits zu entdecken, die jeden Menschen zu einem besonderen Wesen macht, und war ein Verfechter von Fallstudien zur Untersuchung dieser einzigartigen Traits. Allport hielt Persönlichkeitsstrukturen, nicht Umweltbedingungen, für die entscheidenden Determinanten individuellen Verhaltens. „Dasselbe Feuer, das die Butter schmelzen lässt, verfestigt das Ei“ – war ein Ausdruck, den er verwandte, um zu zeigen, dass die gleichen Reize unterschiedliche Auswirkungen auf unterschiedliche Personen haben können. Viele aktuelle Theorien sind Allports Tradition gefolgt. Die Identifikation universaler Trait-Dimensionen
1936 fanden Gordon Allport und sein Kollege H. S. Odbert in Websters Lexikon der Englischen Sprache über 18.000 Adjektive, die individuelle Unterschiede beschreiben. Seit damals haben Forscher versucht, die grundlegenden Dimensionen zu identifizieren, die diesem enormen Wortschatz für Traits zugrunde liegen. Sie haben versucht festzustellen, wie viele Dimensionen es gibt und welche es den Psychologen ermöglichen, nützliche, universelle Charakterisierungen aller Personen zu erstellen. Raymond Cattell (1979) nutzte die Adjektivliste von Allport und Odbert als Ausgangspunkt für seine Suche nach der richtigen Menge an grundlegenden Trait-Dimensionen. In Folge seiner Forschungen schlug er vor, dass die menschliche Persönlichkeit auf 16 Faktoren beruht. Cattell bezeichnete diese 16 Faktoren als Source-Traits, weil er glaubte, dass sie die Quelle (englisch: source) für das Verhalten an der Oberfläche sind, das wir für die Persönlichkeit halten. Cattells 16 Faktoren enthielten wichtige Gegensatzpaare auf Verhaltensebene, wie beispielsweise zurückhaltend vs. offen, vertrauend vs. misstrauisch und entspannt vs. angespannt. Trotzdem sind heutige Trait-Theoretiker der Meinung, dass sogar weniger als 16 Dimensionen die wichtigsten Unterscheidungen zwischen den Persönlichkeiten von Menschen erfassen. Hans Eysenck (1973, 1990) leitete aus den Daten von Persönlichkeitstests nur drei breite Dimensionen ab: Extraversion (nach innen vs. nach außen orien-
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Labil launisch empfindlich ängstlich unruhig rigide aggressiv bedrückt reizbar pessimistisch wechselhaft zurückhaltend impulsiv ungesellig optimistisch schweigsam aktiv Melancholisch Cholerisch Introvertiert Extravertiert Phlegmatisch Sanguinisch gesellig passiv aus sich sorgsam herausgehend nachdenklich gesprächig friedlich teilnehmend beherrscht lässig zuverlässig lebhaft ausgeglichen sorglos ruhig tonangebend Stabil
Abbildung 13.3: Die vier Quadranten von Eysencks Persönlichkeits-Kreis. Die beiden Dimensionen Extraversion und Neurotizismus ergeben zusammen ein kreisförmiges Diagramm. Eysenck brachte jeden Quadranten des Kreises in Beziehung zu einem der vier Persönlichkeitstypen, die Hippokrates definiert hatte. Eysencks Trait-Theorie lässt jedoch Raum für individuelle Variation innerhalb dieser Kategorien.
tiert), Neurotizismus (emotional stabil vs. emotional instabil) und Psychotizismus (freundlich und rücksichtsvoll vs. aggressiv und asozial). Wie Abbildung 13.3 zeigt, kombinierte Eysenck die beiden Dimensionen Extraversion und Neurotizismus, um eine kreisförmige Anordnung zu erhalten. Er schlug vor, dass jeder Quadrant des Kreises einen der vier Persönlichkeitstypen repräsentiere, die Hippokrates identifiziert hatte. Eysencks Trait-Theorie lässt jedoch Raum für individuelle Variation innerhalb dieser Kategorien. Individuen können irgendwo in diesem Kreis verortet werden, von sehr introvertiert bis sehr extravertiert und von sehr instabil (neurotisch) bis sehr stabil. Die im Kreis aufgeführten Eigenschaften beschreiben Menschen mit Kombinationen dieser beiden Dimensionen. Beispielsweise ist eine sehr extravertierte Person, die auch leicht instabil ist, mit großer Wahrscheinlichkeit impulsiv. Das Fünf-Faktoren-Modell Belege aus der Forschung stützen viele Aspekte von Eysencks Theorie. In den letzten Jahren hat sich jedoch ein Konsens herausgebildet, dass fünf Faktoren, die sich nicht vollständig mit Eysencks drei Dimensionen decken, am besten geeignet sind, um die Struktur der Persönlichkeit zu charakterisieren. Diese fünf Di-
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits
mensionen sind sehr breit, weil jede Dimension viele Eigenschaften mit einzigartiger Konnotation, aber einem gemeinsamen Thema zu einer großen Kategorie zusammenfasst. Diese fünf Dimensionen der Persönlichkeit werden heute als Fünf-Faktoren-Modell bezeichnet, oder informell auch als Big Five (McCrae & Costa, 1999). Die fünf Faktoren sind in Tabelle 13.1 zusammengefasst. Ihnen wird auffallen, dass alle Dimensionen bipolar sind – Begriffe, die in ihrer Bedeutung dem Namen der Dimension ähnlich sind, beschreiben eine hohe Ausprägung, Begriffe mit gegensätzlicher Bedeutung beschreiben eine niedrige Ausprägung. Die Entwicklung hin zum Fünf-Faktoren-Modell ist eine Folge der Versuche, Struktur in die lange Liste von Eigenschaften zu bringen, die Allport und Odbert (1936) aus dem Lexikon extrahiert hatten. Diese Eigenschaften wurden auf etwa 200 SynonymCluster heruntergebrochen, mit deren Hilfe bipolare Eigenschafts-Dimensionen gebildet wurden: Dimensionen, die zwischen einem hohen und einem geringen Ausprägungspol variieren, wie beispielsweise verantwortungsbewusst vs. verantwortungslos. Als Nächstes sollten Personen sich selbst und andere anhand dieser Dimensionen beurteilen, und diese Beurteilungen wurden dann statistischen Verfahren unterzogen, um herauszufinden, wie die Synonym-Cluster zusammenhängen. Mit Hilfe dieser Methode kamen mehrere unabhängige Forschungsteams zur gleichen Schlussfolgerung: Es gibt nur fünf grundlegende Dimensionen, die den Eigenschaftsbegriffen zugrunde liegen,
mit welchen Menschen sich und andere beschreiben (Norman, 1963, 1967; Tupes & Christal, 1961). Seit den 1960er Jahren wurden auch in Persönlichkeitsfragebögen, Checklisten für Interviewer und anderen Daten ähnliche Dimensionen gefunden (Costa & McCrae, 1992a; Digman, 1990; Wiggins & Pincus, 1992). Um die Universalität des Fünf-Faktoren-Modells nachzuweisen, haben die Forscher ihre Untersuchungen über die englische Sprache hinaus erweitert: Die FünfFaktoren-Struktur wurde in einer Reihe anderer Sprachen repliziert, darunter Deutsch, Portugiesisch, Hebräisch, Chinesisch, Koreanisch und Japanisch (McCrae & Costa, 1997). Die fünf Faktoren sind nicht dazu gedacht, die vielen spezifischen Begriffe für Traits zu ersetzen, die alle ihre eigenen Nuancen und Bedeutungsabstufungen besitzen. Vielmehr sollen die fünf Faktoren eine Taxonomie – ein Klassifikationssystem – darstellen, mit deren Hilfe man alle Menschen, die man kennt, so beschreiben kann, dass die wichtigsten Dimensionen, auf denen sie sich unterscheiden, berücksichtigt sind. Wir haben betont, dass das Fünf-Faktoren-Modell aus einer statistischen Analyse von Clustern aus Eigenschaftsbegriffen entstammt und nicht aus einer Theorie, die vorgibt, „Das sind die Faktoren, die es geben muss“ (Ozer & Reise, 1994). Die Forschung hat allerdings zu zeigen begonnen, dass es Unterschiede in der Funktion des Gehirns einzelner Menschen gibt, die mit Trait-Unterschieden im Fünf-Faktoren-Modell korrespondieren.
Tabelle 13.1
Das Fünf-Faktoren-Modell Faktor
Bipolare Definition
Extraversion
Gesprächig, energiegeladen und durchsetzungsfähig vs. ruhig, zurückhaltend und schüchtern
Verträglichkeit
Mitfühlend, freundlich und herzlich vs. kalt, streitsüchtig und unbarmherzig
Gewissenhaftigkeit
Organisiert, verantwortungsbewusst und vorsichtig vs. sorglos, leichtsinnig und verantwortungslos
Neurotizismus
Stabil, ruhig und zufrieden vs. ängstlich, instabil und launisch
Offenheit für Erfahrungen
Kreativ, intellektuell und offen vs. einfach, oberflächlich und nicht intelligent
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AUS DER FORSCHUNG Aus Kapitel 12 wissen Sie, dass eine als Amygdala bezeichnete Hirnstruktur eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung emotionaler Stimuli spielt. Die Forschung vermutet allerdings inzwischen, dass nicht alle Amygdalae – und daher nicht alle Menschen – in derselben Weise auf Stimuli reagieren. Um diese Hypothese zu testen, warb ein Forscherteam 15 Probanden an, die sich in ihrem Extraversionsgrad unterschieden (Canli et al., 2002). Die Forscher sagten vorher, dass die Extraversion einen Einfluss auf die emotionale Verarbeitung ausüben würde, weil dieser Trait wichtige Aspekte des emotionalen Lebens einer Person beschreibt. Um die individuellen Unterschiede festzustellen, ließen die Experimentatoren die Probanden ängstliche, fröhliche und ausdruckslose Gesichter betrachten, während fMRT-Scans aufgezeichnet wurden. Abbildung 13.4 zeigt die Korrelation zwischen den Extraversions-Selbsteinschätzungen der Teilnehmer und der Aktivität in der linken und rechten Amygdala: Die rot markierten Bereiche sind diejenigen, für die hohe Extraversionslevel mit hoher Gehirnaktivität assoziiert waren. Wie Sie sehen, war die Extraversion nicht mit der Reaktion des Hirns auf ängstliche Gesichter korreliert (das heißt es gibt keine roten Bereiche). Tatsächlich aktivierten ängstliche Gesichter sowohl die linke als auch die rechte Amygdala, aber für alle Extraversionslevel ungefähr gleichmäßig. Im Gegensatz dazu zeigten die hochgradig extravertierten Versuchspersonen bei fröhlichen Gesichtern ausgeprägte Aktivität in der linken Amygdala.
Sie erinnern sich vielleicht aus Kapitel 12, dass Forscher Emotionen in annäherungsbezogene und rückzugsbezogene einteilen. Diese Studie legt nahe, dass Menschen, die ohne Zögern auf andere zugehen – das ist es, was sie extravertiert macht – mehr Aktivierung in Hirnregionen zeigen, die annäherungsbezogene Emotionen unterstützen. Unterstützer des Fünf-Faktoren-Modells haben des Weiteren zu erklären versucht, warum sich genau diese fünf Dimensionen herausbilden, indem sie die Evolutionstheorie heranzogen: Sie versuchen die fünf Dimensionen zu durchgängigen Kategorien von Interaktionen in Bezug zu setzen, die Menschen miteinander und mit der Außenwelt seit dem Beginn der menschlichen Entwicklung erleben (Costa & McCrae, 1992a; McCrae et al., 2000). Eine evolutionäre Basis wäre hilfreich, um die Universalität der fünf Faktoren über unterschiedliche Kulturen hinweg zu erklären. Wenn diese Erklärung zutrifft, würden wir erwarten, dass Traits, so wie andere Aspekte der menschlichen Erfahrung, die von der Evolution geformt wurden, von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können. Mit dieser Behauptung werden wir uns jetzt befassen.
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Ängstlich
Fröhlich
Abbildung 13.4: Extraversion beeinflusst die Funktion der linken Amygdala. Probanden betrachteten ängstliche und fröhliche Gesichter. Die Abbildung zeigt diejenigen Gebiete in Rot, für die eine positive Korrelation zwischen Extraversion und der Aktivität der Amygdala bestand. Bei den ängstlichen Gesichtern gab es keine solche Korrelation; bei den fröhlichen allerdings zeigten die extravertiertesten Versuchsteilnehmer auch die höchsten Aktivitätslevel in der linken Amygdala.
13.1.3 Traits und Vererbung Sie haben wahrscheinlich schon einmal gehört, dass jemand so etwas sagt wie: „Thomas ist künstlerisch begabt, wie seine Mutter“ oder „Andrea ist so stur wie ihr Großvater“. Vielleicht waren Sie aber auch schon selbst frustriert, weil die Eigenschaften, die Sie bei Ihren Geschwistern stören, jene sind, die Sie gerne bei sich selbst verändern würden. Sehen wir uns die Fakten an, die für die Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften sprechen. Wie Sie sich erinnern werden, untersucht die Verhaltensgenetik das Ausmaß, in dem Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensmuster vererbt werden. Um den Einfluss der Gene auf die Persönlichkeit zu bestimmen, untersuchen Forscher die Persönlichkeitseigenschaften von Familienmitgliedern, die unterschiedliche Anteile von Genen teilen und die im selben oder in unterschiedlichen Haushalten aufgewachsen sind. Wenn beispielsweise eine Persönlichkeitseigenschaft wie Geselligkeit genetisch weitergegeben wird, dann sollte die Geselligkeit zwischen eineiigen Zwillingen (die 100 Prozent der Gene gemeinsam haben) höher korrelieren als zwischen zweieiigen Zwillingen oder anderen Geschwistern (die im Durchschnitt 50 Prozent der Gene gemeinsam haben).
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits
beispielsweise Korrelationen zwischen den Zwillingen von 0,52 (eineiig) im Vergleich zu 0,23 (zweieiig). Unter Verwendung von Selbstauskünften und Daten von Peers haben die Forscher substanzielle Erblichkeitsziffern für jeden der Faktoren nachgewiesen, die durch das Fünf-FaktorenModell definiert werden (Riemann et al., 1997).
Werfen Sie noch einen Blick zurück auf Tabelle 13.1. Welche Endpunkte der fünf Faktoren scheinen am besten auf Sie zuzutreffen? Können Sie Ähnlichkeiten zwischen sich und Ihren Eltern entdecken? Forschung mit eineiigen Zwillingen belegt die Erblichkeit von Persönlichkeitseigenschaften. Gibt es Persönlichkeitseigenschaften, die Sie in Ihrer Familie für charakteristisch halten?
Erblichkeitsstudien zeigen, dass fast alle Persönlichkeitseigenschaften durch genetische Faktoren beeinflusst werden (Loehlin et al., 1998). Die Ergebnisse fallen bei vielen unterschiedlichen Messmethoden gleich aus, ob nun breite Traits wie Extraversion und Neurotizismus oder spezifische Traits wie Selbstkontrolle oder Geselligkeit gemessen werden. Betrachten wir eine Beispielstudie.
AUS DER FORSCHUNG Wir haben Ihnen gerade das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit vorgestellt. Forscher haben ihre Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet, ob es eine genetische Basis für die durch dieses Modell spezifizierten Faktoren gibt. In einer Studie hat ein Forscherteam aus Deutschland und Polen Persönlichkeitsmaße von 660 eineiigen Zwillingspaaren und 304 zweieiigen Zwillingspaaren erhoben. Die Daten entstanden sowohl durch Selbstauskünfte (mit anderen Worten, die Zwillinge füllten Persönlichkeitstests der später in diesem Kapitel besprochenen Art aus) als auch durch Fremdberichte (mit anderen Worten, Freunde und Familienangehörige beurteilten den einen oder den anderen Zwilling). In der vorangegangenen Forschung wurden im Allgemeinen nur Daten aus Selbstauskünften verwendet. Kritiker der Erblichkeitsforschung gaben zu bedenken, dass eineiige und zweieiige Zwillinge möglicherweise voreingenommen sind in der Art und Weise, in der sie sich mit ihrem Zwilling vergleichen, im Gegensatz zum Vergleich mit anderen Personen. Die Hinzunahme von Berichten von Peers schließt die Möglichkeit aus, dass die hohen Erblichkeitsschätzungen eine reine Folge von Verzerrungen der Zwillinge bei den Selbstauskünften sind. Tatsächlich wurden die Persönlichkeiten der eineiigen Zwillinge in allen Fällen als ähnlicher beurteilt als die Persönlichkeiten der zweieiigen Zwillinge. Die Selbstbeurteilungen zeigten
13.1.4 Sagen Traits Verhalten vorher? Angenommen, Sie sollten einige Trait-Begriffe auswählen, von denen Sie glauben, dass sie besonders gut auf Sie zutreffen. Sie könnten uns beispielsweise erzählen, dass Sie sehr freundlich sind. Was wissen wir jetzt? Wenn es uns Persönlichkeitstheorien ermöglichen, Vorhersagen über Verhaltensweisen zu treffen, was können wir dann vorhersagen, wenn wir wissen, dass Sie sich selbst als sehr freundlich einschätzen? Wie können wir die Gültigkeit Ihrer Überzeugung bestimmen? Untersuchen wir diese Frage. Vielleicht denken Sie, dass das Wissen um einen bestimmten Trait, durch den eine Person charakterisiert werden kann, Sie in die Lage versetzt, das Verhalten dieser Person über verschiedene Situationen hinweg vorherzusagen. Insofern würden wir erwarten, dass Sie in allen Situationen freundliches Verhalten an den Tag legen. In den 20er Jahren haben jedoch einige Forscher, die trait-bezogene Verhaltensweisen in verschiedenen Situationen beobachten wollten, überrascht festgestellt, dass es wenig Belege dafür gibt, dass das Verhalten über unterschiedliche Situationen hinweg konsistent ist. So korrelieren beispielsweise zwei Verhaltensweisen, die mutmaßlich mit dem Trait der Ehrlichkeit zusammenhängen – Lügen und Schummeln bei Tests – bei Schulkindern nur schwach (Hartshorne & May, 1928). Ähnliche Ergebnisse wurden von anderen Forschern gefunden, welche die situationsübergreifende Konsistenz bei anderen Traits wie Introversion oder Pünktlichkeit untersuchten (Dudycha, 1936; Newcomb, 1929). Wenn trait-bezogene Verhaltensweisen situationsübergreifend nicht konsistent sind – mit anderen Worten, wenn das Verhalten von Menschen sich in verschiedenen Situationen verändert –, warum nehmen Sie dann Ihre eigene Persönlichkeit und die anderer als relativ stabil wahr? Noch verwirrender und rätsel-
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AUS DER FORSCHUNG Die Forscher baten die Teilnehmer, sich eine Collegestudentin namens Jane vorzustellen (Kammrath et al., 2005). Verschiedene Probandengruppen stellten sich Jane allerdings jeweils als einen freundlichen, sich einschleimenden, koketten, schüchternen oder unfreundlichen Menschen vor. Nachdem sie sich Jane einige Augenblicke lang mit der jeweiligen Disposition vorgestellt hatten, mutmaßten die Probanden, wie viel Herzlichkeit Jane in den folgenden sechs Situationen zeigen würde: bei Interaktionen mit Gleichaltrigen oder mit Dozenten, mit Frauen oder mit Männern, mit Menschen, die sie zum ersten Mal traf, oder mit solchen, die sie seit langem kannte. Abbildung 13.5 zeigt die Herzlichkeitsvoraussagen der Probanden für den Kontrast zwischen neuen Bekanntschaften (unvertraut) und alten Bekannten (vertraut). Sie sehen, dass die Beteiligten sehr verschiedene Voraussagen für verschiedene Situationen abgaben. So erwarteten sie zum Beispiel, dass, wenn Jane schüchtern sei, sie dann sehr viel weniger herzlich auf unvertraute als auf vertraute Menschen reagieren würde.
Betrachten Sie bitte in diesem Zusammenhang auch den Rest der Daten in Abbildung 13.5. Sie sollten sich selbst überzeugen können, dass Sie ebenfalls eine Menge über Wenn-dann-Beziehungen wissen, die die Wechselwirkung zwischen Dispositionen und Situationen erklären. Freundlich Sich einschleimend Kokett Schüchtern Unfreundlich
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Erwartete Herzlichkeit
hafter ist, dass die Persönlichkeitsurteile von Beobachtern, die ein Individuum aus einer Situation kennen, mit den Beurteilungen von Beobachtern, die das Individuum aus einer anderen Situation kennen, korrelieren. Die Feststellung, dass Persönlichkeitsbeurteilungen über die Zeit und unterschiedliche Beobachter hinweg konsistent sind, während situationsübergreifende Verhaltensbeurteilungen nicht konsistent sind, wurde als Konsistenzparadox bekannt (Mischel, 1968). Die Entdeckung des Konsistenzparadoxons hat zu umfangreichen Forschungen geführt (Mischel, 2004). Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein Konsens, dass der Anschein der Inkonsistenz auf Verhaltensebene großteils dadurch entstanden war, dass Situationen falsch kategorisiert worden waren: Das Paradox verschwindet, sobald die Theoretiker eine angemessene Beschreibung der psychologischen Merkmale von Situationen geben können (Mischel & Shoda, 1995, 1999). Angenommen, Sie wollten versuchen, die Konsistenz auf Verhaltensebene zu erfassen, indem Sie feststellen, ob eine Freundin sich auf jeder Party, zu der sie geht, im Wesentlichen gleich verhält. Sie werden wahrscheinlich feststellen, dass ihr Verhalten sehr variabel ist, wenn Sie Ihre Analyseeinheit nur als „Partys“ definieren. Sie müssen herausfinden, welche psychologisch relevanten Merkmale Partys in unterschiedliche Kategorien unterteilen. Vielleicht fühlt sich Ihre Freundin in Situationen, in denen von ihr erwartet wird, persönliche Informationen an Fremde preiszugeben, nicht wohl. In Folge dessen ist sie vielleicht auf einigen Partys sehr unfreundlich (wo von ihr erwartet wird, persönliche Informationen an Fremde preiszugeben), aber auf anderen Partys sehr freundlich (wo dies nicht erwartet wird). Darüber hinaus könnten andere Situationen, in denen von ihr die Preisgabe von Informationen verlangt wird – wie beispielsweise bei Einstellungsgesprächen –, ebenfalls zu negativen Verhaltensweisen führen. Insofern lässt sich eine Konsistenz feststellen in der Art und Weise, in der Merkmale der Situation die verschiedenen Reaktionen einer Person auslösen. Forscher haben das Wissen, das Menschen von den Beziehungen zwischen Dispositionen und Situationen haben, als Wenn-dann-Persönlichkeitssignaturen beschrieben: Wenn ein Mensch eine bestimmte Disposition in eine spezifische Situation mitbringt, dann wird er oder sie sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten (Mischel, 2004). Betrachten wir eine Studie, mit der die Reichhaltigkeit des Wenn-dann-Wissens der Teilnehmer demonstriert wurde.
3 2 1 0 –1 –2 –3 –4 –5 Unvertraut
Vertraut
Abbildung 13.5: Das Wissen von Studierenden über Wenndann-Persönlichkeitssignaturen. Die Teilnehmer stellten sich eine Studentin namens Jane als einen freundlichen, sich einschleimenden, koketten, schüchternen oder unfreundlichen Menschen vor. Sie sollten sich dann vorstellen, wie herzlich Jane sich auf einer Skala von – 5 (allgemein kühl und gleichgültig) bis + 5 (ehrlich herzlich und verbindlich) verhalten würde. Die Vorhersagen der Teilnehmer, wie herzlich jede Version der imaginären Studentin sich verhalten würde, unterschieden sich stark, je nachdem, ob sie mit unvertrauten oder vertrauten Menschen interagieren sollte (nach Kammrath et al., 2005).
13.1 Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits
Angenommen, Sie könnten sich das eine wie das andere leisten: Welches dieser Urlaubziele würden Sie bevorzugen? Was könnte uns dies über die Art und Weise verraten, in der Persönlichkeitseigenschaften mit den Merkmalen von Situationen interagieren?
13.1.5 Die Bewertung von Typologien und Trait-Theorien Wie wir gesehen haben, ermöglichen Typologien und Trait-Theorien den Forschern, genaue Beschreibungen der Persönlichkeiten unterschiedlicher Menschen anzufertigen. Diese Theorien wurden jedoch kritisiert, weil sie im Allgemeinen nicht erklären, wie Verhalten entsteht oder wie sich die Persönlichkeit entwickelt; sie identifizieren und beschreiben lediglich Charakteristika, die mit dem Verhalten korrelieren. Obwohl moderne Trait-Theoretiker begonnen haben, diese Probleme anzugehen, zeichnen Trait-Theorien in der Regel ein statisches, oder zumindest stabilisiertes Bild der Persönlichkeitsstruktur zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Im Gegensatz dazu betonen die psychodynamischen Theorien, mit denen wir uns als Nächstes
befassen, die im Konflikt stehenden Kräfte innerhalb einer Person, die zu Veränderung und Entwicklung führen.
ZWISCHENBILANZ 1 Wie werden Persönlichkeitstypen definiert? 2 Was sind die Endpunkte der Trait-Dimension „Neuro-
tizismus“? 3 Wie erfasst die Forschung die Erblichkeit von Traits? 4 Was ist das Konsistenzparadoxon?
KRITISCHES DENKEN: Warum wurde in der Studie, mit der die Erblichkeit der fünf Faktoren untersucht wurde, jeder fremde Beurteiler (das heißt, die Freunde und Familienangehörigen) nur um Informationen über einen der Zwillinge gebeten?
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Warum sind manche Menschen schüchtern?
Neuere Umfragen zeigen, dass über 50 Prozent der Studierenden sich selbst für „momentan schüchtern“ halten (Carducci & Zimbardo, 1995). Die meisten von ihnen sagen, dass Schüchternheit ein unerwünschter Zustand ist, der mehr negative persönliche und soziale Konsequenzen als positive Effekte hat. Eine andere Gruppe von Studierenden meint, sie sei „situationsbedingt schüchtern“ und nicht „generell schüchtern“
wie die Mehrheit der Studierenden. Sie fühlen sich, „als ob“ sie schüchtern wären, wenn sie in bestimmten Situationen sind. Zu diesen Situationen gehören neue, unangenehme Situationen und solche, in denen sozialer Druck vorhanden ist, wie beispielsweise Blind Dates, Single-Bars oder wenn man ohne Vorbereitung ins Rampenlicht geworfen wird und vor Publikum etwas tun soll. Forscher, welche die Schüch-
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13
Die men sc h l i c h e P er sön l i c h kei t
ternheit bei Erwachsenen untersucht haben, waren überrascht festzustellen, dass die „nicht schüchterne“ Person in den Vereinigten Staaten und in allen anderen Ländern, in denen Befragungen durchgeführt wurden, der seltene, ungewöhnliche Fall ist (Zimbardo, 1991). Schüchternheit kann als Unbehagen und/oder Hemmung in zwischenmenschlichen Situationen definiert werden, was der Verfolgung der eigenen zwischenmenschlichen oder beruflichen Ziele im Weg steht. Schüchternheit kann chronisch sein und aus einer grundlegenden Disposition erwachsen und so den Rang einer Persönlichkeitseigenschaft einnehmen, die zentral für die eigene Selbstdefinition ist. Es kann sich um eine leichte Zögerlichkeit und ein Gefühl der Verlegenheit handeln, das viele von uns in neuen Situationen verspüren. Schüchternheit kann aber auch eskalieren und im Extremfall zu einer vollständig lähmenden Furcht vor Menschen werden (wir werden uns in Kapitel 14 mit dieser sozialen Phobie befassen). Viele schüchterne Menschen sind auch introvertiert; ihre persönlichen Präferenzen sind Aktivitäten und Umgebungen, in denen sie alleine und nicht in Gesellschaft sind. Andere sind „schüchterne Extravertierte“, die in der Öffentlichkeit gesellig sind, privat aber schüchtern. Diese Gruppe von Menschen nimmt gerne an sozialen Aktivitäten teil und hat auch die sozialen Fähigkeiten, dies mit Erfolg zu tun, zweifelt jedoch, dass andere sie wirklich mögen oder respektieren (Pilkonis & Zimbardo, 1979). Warum sind also einige Menschen schüchtern und andere nicht? Eine mögliche Erklärung liegt in den Erbanlangen. Forschungsdaten lassen vermuten, dass etwa zehn Prozent der Säuglinge „schüchtern geboren“ sind (Kagan, 1994). Von Geburt an sind diese Kinder ungewöhnlich vorsichtig und zurückhaltend, wenn sie mit Menschen oder Situationen interagieren, die ihnen nicht vertraut sind. Eine komplementäre Erklärung konzentriert sich auf die Umwelt. Manche Personen werden als Kind verspottet, ausgelacht oder wegen eines Fehlers öffentlich zur Schau gestellt; andere wachsen in Familien auf, in welchen „geliebt zu werden“ von Erfolg in einem Wettstreit um Aussehen und Leistung abhängt. Eine dritte Erklärung konzentriert sich auf die Kultur. Schüchternheit ist am verbreitetsten in einigen asiatischen Ländern, insbesondere Japan und Taiwan, und von neun untersuchten Ländern in Israel am wenigsten verbreitet (Zimbardo, 1991). Dieser Unterschied wird teilweise auf die kulturelle Betonung von Scham bei sozialem Versagen sowie Gehorsam gegenüber Autoritäten in den asiatischen Ländern und auf die Ermutigung zum Eingehen von Risiken und die Externalisierung von Schuld in Israel zurückgeführt (Pines & Zimbardo, 1978). Eine vierte
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Erklärung kann teilweise den in jüngster Zeit beobachteten Anstieg in der berichteten Schüchternheit in den USA erklären: Junge Menschen sind intensiv mit elektronischer Technik beschäftigt. Stundenlang und in der Regel alleine vor dem Fernseher zu sitzen, Videospiele zu spielen, im Internet zu surfen und E-Mails zu bearbeiten führt zu sozialer Isolation und reduziert den direkten zwischenmenschlichen Kontakt pro Tag. Die intensive Nutzung des Internet besitzt das Potenzial, Menschen einsamer, isolierter und schüchterner zu machen (Kraut et al., 1998; Nie & Erbring, 2000). Wenn die Schüchternheit extremer wird, dringt sie in immer weitere Bereiche des Lebens ein, minimiert die sozialen Freuden und maximiert das soziale Unbehagen und die Isolation. Es gibt ein paar einfache Konzepte und Taktiken für schüchterne Studierende, zu deren Überdenken und Erproben wir raten (siehe auch Zimbardo, 1991): Erkennen Sie, dass Sie nicht allein mit Ihrer Schüchternheit sind; jeder andere Mensch, dem Sie begegnen, ist in Hinblick auf seine Schüchternheit eher ähnlich wie Sie und nicht anders als Sie. Schüchternheit ist veränderbar, selbst wenn sie eine genetische Komponente besitzt, aber es erfordert Anstrengung und den Entschluss, sich zu ändern, genau wie bei allen anderen eingefahrenen Gewohnheiten, die man durchbrechen will. Üben Sie Lächeln und Blickkontakt mit den meisten Menschen, die Sie treffen. Reden Sie; sprechen Sie mit lauter, klarer Stimme, besonders, wenn Sie Ihren Namen nennen oder Informationen erfragen. Stellen Sie als Erste oder Erster in einer neuen Situation eine Frage oder geben Sie einen Kommentar ab. Bereiten Sie sich darauf vor, etwas Interessantes zu sagen, und sagen Sie es zuerst; jeder schätzt einen „Eisbrecher“, und niemand wird Sie dann noch für schüchtern halten. Machen Sie sich niemals selbst fertig. Denken Sie stattdessen darüber nach, was Sie das nächste Mal tun können, um das von Ihnen gewünschte Ergebnis zu erreichen. Konzentrieren Sie sich darauf, anderen Menschen ein angenehmes Gefühl zu vermitteln, besonders jenen, die ebenfalls schüchtern sind. Das lenkt Ihre Selbstaufmerksamkeit von Ihnen weg. Wenn Sie schüchtern sind, hoffen wir, dass Sie diese Vorschläge annehmen werden. Andere Studierende, die diesen Vorschlägen gefolgt sind, sind aus einem Gefängnis der Schüchternheit in ein Leben voll neu gewonnener Freiheiten ausgebrochen.
13.2 Psychodynamische Theorien
Psychodynamische Theorien
Triebe und die psychosexuelle Entwicklung
13.2
13.2.1 Freud‘sche Psychoanalyse
Freuds medizinische Ausbildung als Neurologe brachte ihn dazu, eine gemeinsame biologische Basis für die Verhaltensmuster zu behaupten, welche er bei seinen Patienten beobachtete. Er schrieb die Quelle der Motivation für menschliches Handeln der psychischen Energie zu, die in jedem Individuum zu finden ist. Er ging davon aus, dass jeder Mensch angeborene Instinkte und Triebe besitzt, die Spannungssysteme darstellen, die von den Körperorganen hergestellt werden. Diese Energiequellen können sich, wenn sie aktiviert werden, in vielen unterschiedlichen Arten ausdrücken. Freud postulierte ursprünglich zwei grundlegende Triebe. Einer davon war seiner Meinung nach mit der Selbsterhaltung verbunden (der Befriedigung von Bedürfnissen wie Hunger und Durst). Den anderen nannte er Eros, die treibende Kraft, die in Verbindung mit sexuellem Verlangen und der Erhaltung der Art steht. Von den beiden Trieben interessierte sich Freud mehr für den Sexualtrieb. Freud erweiterte das Konzept menschlicher sexueller Wünsche enorm, um nicht nur den Drang nach sexueller Vereinigung, sondern auch alle anderen Versuche einzuschließen, Lust zu erlan-
Gemäß der psychoanalytischen Theorie stehen im Kern der Persönlichkeit Ereignisse innerhalb des Geistes einer Person (innerpsychische Ereignisse), die das Verhalten motivieren. Oftmals sind sich Menschen dieser Motivationen bewusst, ein Teil der Motivation arbeitet jedoch auch auf einer unbewussten Ebene. Das psychodynamische Element dieses Ansatzes ergibt sich sowohl aus der Betonung dieser inneren Quellen des Verhaltens als auch aus dem Widerstreit dieser inneren Kräfte. Für Freud war jegliches Verhalten motiviert. Weder Zufall noch zufällig auftretende Ereignisse verursachen Verhalten; alle Handlungen sind durch Motive determiniert. Jede menschliche Handlung hat eine Ursache und einen Zweck, die entdeckt werden können durch die Analyse von Gedankenassoziationen, Träumen, Fehlern und anderen Verhaltenshinweisen auf die inneren Bewegkräfte. Die Daten für Freuds Hypothesen über die Persönlichkeit entstammten vorwiegend klinischen Beobachtungen und detaillierten Fallstudien einzelner Patienten in der Therapie. Er entwickelte eine Theorie der normalen Persönlichkeit aus diesem intensiven Studium von Menschen mit psychischen Störungen. Betrachten wir einige der wichtigsten Aspekte von Freuds Theorie.
Warum glaubte Freud, dass das Essen nicht nur durch den Selbsterhaltungstrieb zur Stillung des Hungers motiviert wird, sondern auch durch den „erotischen“ Drang nach oraler Befriedigung?
Allen psychodynamischen Persönlichkeitstheorien ist die Annahme gemeinsam, dass mächtige innere Kräfte die Persönlichkeit formen und das Verhalten motivieren. Sigmund Freud, der Urheber der psychodynamischen Theorien, wurde von seinem Biografen Ernest Jones als „Darwin des Geistes“ (1953) bezeichnet. Freuds Persönlichkeitstheorie unternimmt den kühnen Versuch, die Ursprünge und den Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung, die Natur des Geistes, Aspekte der abweichender Persönlichkeit und die Art und Weise, in der die Persönlichkeit durch Therapie verändert werden kann, zu erklären. Wir werden uns hier auf die normale Persönlichkeit konzentrieren; Freuds Ansichten zur Psychopathologie und deren Behandlung werden in den Kapiteln 14 und 15 besprochen. Nachdem wir uns mit Freuds Werk vertraut gemacht haben, werden wir uns mit einigen Kritiken und Modifikationen seiner Theorien befassen.
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Die men sc h l i c h e P er sön l i c h kei t
gen oder mit anderen in Körperkontakt zu kommen. Er verwendete den Begriff Libido zur Bezeichnung der Energiequelle des sexuellen Verlangens – eine psychische Energie, die uns dazu bringt, sinnliche Freuden und Lüste aller Art anzustreben. Sexuelle Triebe verlangen nach sofortiger Befriedigung, entweder durch direkte Handlungen oder durch indirekte Mittel wie Fantasien und Träume. Klinische Beobachtungen an Patienten, die im ersten Weltkrieg traumatische Erfahrungen erlitten hatten, führten Freud dazu, das Konzept des Thanatos (griechisch für: der Tod) oder Todesinstinktes seiner Sammlung von Trieben und Instinkten hinzuzufügen. Thanatos war eine negative Kraft, die Menschen zu aggressivem und zerstörerischem Verhalten trieb. Die betroffenen Patienten durchlebten ihre Kriegstraumata in Alpträumen und Halluzinationen immer wieder; diese Phänomene konnte Freud nicht in seine Selbsterhaltungs- und Sexualtriebtheorie integrieren. Er vermutete, dass dieser primitive Trieb ein Teil der Tendenz alles Lebendigen sei, in einen anorganischen Zustand zurückzusinken. Dieser Todesinstinkt sitzt allerdings in Freuds Theorievehikel, das hauptsächlich vom Eros gesteuert wird, sozusagen nur auf dem Rücksitz. Nach Freud tritt der Eros, als breit definierter sexueller Trieb, nicht plötzlich mit der Pubertät auf, son-
dern ist von Geburt an aktiv. Der Eros zeigt sich, so nimmt Freud an, in der Lust, die Säuglinge aus der physischen Stimulation ihrer Genitalien oder anderer empfindlicher Regionen, den so genannten erogenen Zonen, beziehen. Freuds fünf Phasen der psychosexuellen Entwicklung sind in Tabelle 13.2 wiedergegeben. Freud glaubte, dass sich die körperliche Quelle der sexuellen Lust in dieser Reihenfolge verändert. Eines der größten Hindernisse bei der psychosexuellen Entwicklung, zumindest für Knaben, tritt in der phallischen Phase auf. Hier muss das vier oder fünf Jahre alte Kind den Ödipuskomplex überwinden. Freud benannte diesen Komplex nach der Sagengestalt Ödipus, der, ohne es zu wissen, seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete. Freud glaubte, dass jeder kleine Junge einen angeborenen Impuls hat, seinen Vater als sexuellen Rivalen zu sehen, mit dem er um die Aufmerksamkeit der Mutter ringt. Weil der kleine Junge den Platz des Vaters nicht einnehmen kann, wird der Ödipuskomplex für gewöhnlich dadurch aufgelöst, dass der Junge sich mit der Macht des Vaters identifiziert. (Freuds theoretische Beschreibung der diesbezüglichen Erfahrungen junger Mädchen war inkonsistent.) Nach Freud führen sowohl übermäßige Befriedigung als auch übermäßige Frustration in den frühen
Tabelle 13.2
Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Freud
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Phase
Alter
Erogene Zonen
Wichtige Entwicklungsaufgabe (eine potenzielle Konfliktquelle)
Einige Charakteristika von Erwachsenen, die als Kind auf diese Phase fixiert blieben
Oral
0–1
Mund, Lippen, Zunge
Entwöhnung
Orales Verhalten wie beispielsweise Rauchen, übermäßiges Essen; Passivität und Leichtgläubigkeit
Anal
2–3
Anus
Sauberkeitserziehung
Ordentlichkeit, Gründlichkeit, Sturheit, oder das Gegenteil
Phallisch
4 –5
Genitalien
Ödipuskomplex
Eitelkeit, Rücksichtslosigkeit, oder das Gegenteil
Latenz
6 –12
Keine spezifische Zone
Entwicklung der Abwehrmechanismen
Keine; normalerweise kommt es in dieser Phase nicht zur Fixierung
Genital
13 –18
Genitalien
Reife sexuelle Intimität
Erwachsene, die frühere Phasen erfolgreich integriert haben, sollten mit aufrichtigem Interesse für andere und einer reifen Sexualität aus dieser Phase hervorgehen
13.2 Psychodynamische Theorien
Stadien der psychosexuellen Entwicklung zur Fixierung, einer Unfähigkeit, sich normal zur nächsten Phase weiterzuentwickeln. Wie Tabelle 13.2 zeigt, kann die Fixierung auf frühen Phasen eine Vielzahl von Charakteristika bei Erwachsenen hervorbringen. Das Konzept der Fixierung erklärt, weshalb Freud den frühen Erfahrungen so viel Bedeutung für die Kontinuität der Persönlichkeit beimaß. Er glaubte, dass die Erfahrungen in den frühen Phasen der psychosexuellen Entwicklung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung und die Verhaltensmuster im Erwachsenenalter haben. Psychologischer Determinismus Das Konzept der Fixierung gibt uns einen ersten Einblick in Freuds Überzeugung, dass Konflikte in jungen Jahren das spätere Verhalten mitbestimmen. Der psychologische Determinismus ist die Annahme, dass alle Reaktionen (Symptome) auf geistiger Ebene oder auf Verhaltensebene durch früher gemachte Erfahrungen determiniert sind. Freud glaubte, dass Symptome nicht willkürlich auftreten. Vielmehr sollten Symptome in sinnvoller Weise mit den entscheidenden Lebensereignissen zusammenhängen. Freuds Glaube an den psychologischen Determinismus brachte ihn dazu, das Unbewusste zu betonen – die Lagerstätte von Informationen, die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind ( Abbildung 13.6). Andere Autoren hatten dieses Konstrukt schon diskutiert, aber Freud brachte das Konzept der unbewussten Determinanten der menschlichen Gedanken, Gefühle und Handlungen auf die große Bühne des menschlichen Dramas. Nach Freud kann das Verhalten durch Triebe motiviert sein, die einer Person nicht bewusst sind. Wir können handeln, ohne zu wissen warum oder ohne direkten Zugang zu dem wahren Grund unserer Handlungen. Es gibt einen manifesten Inhalt unseres Verhaltens – was wir sagen, tun und wahrnehmen –, der uns völlig bewusst ist. Es gibt aber auch einen verborgenen, latenten Inhalt. Die Bedeutung von neurotischen (angstbasierten) Symptomen, Träumen, Verschreibern und Versprechern ist auf der unbewussten Ebene des Denkens und der Informationsverarbeitung zu finden. Viele Psychologen halten heute das Konzept des Unbewussten für Freuds wichtigsten Beitrag zur wissenschaftlichen Psychologie. Ein beträchtlicher Teil der modernen Literatur und des modernen Dramas befasst sich mit den Implikationen unbewusster Prozesse für das menschliche Verhalten. Nach Freud streben auch diejenigen Impulse, die wir für inakzeptabel halten, weiterhin nach Ausdruck.
Bewusstsein
Unbewusstes
Abbildung 13.6: Freuds Konzept der menschlichen Psyche. Freuds Theorie vergleicht die menschliche Psyche mit einem Eisberg. Die Spitze des Eisbergs, die man sehen kann, stellt das Bewusstsein dar. Das Unbewusste ist die Hauptmasse des Eisbergs, die unter dem Wasserspiegel verborgen bleibt.
Eine Freud‘sche Fehlleistung tritt auf, wenn ein unbewusster Wunsch durch unsere Worte oder unser Verhalten verraten wird. Einer der Autoren fühlte sich beispielsweise zu einem Dankesschreiben verpflichtet, obwohl er das Wochenende im Haus eines Freundes nicht besonders genossen hatte. (Wir geben das Beispiel hier in einer deutschen Analogie wider.) Er wollte schreiben: „Ich bin froh, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen konnten.“ In einem etwas angespannten Telefongespräch informierte ihn sein Freund jedoch, dass er tatsächlich geschrieben hatte: „Ich bin froh, dass wir so viel Leid miteinander verbringen konnten.“ Erkennen Sie, wie die Ersetzung von Zeit durch Leid der Ausdruck eines unbewussten Wunsches sein könnte? Das Konzept der unbewussten Motivation fügt der Persönlichkeit eine neue Dimension hinzu, indem es Raum für eine höhere Komplexität der Funktionsweise des Geistes schafft. Wir haben jetzt einige grundlegende Aspekte von Freuds Theorie besprochen. Betrachten wir nun, wie sie zur Struktur der Persönlichkeit beitragen.
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13
Die men sc h l i c h e P er sön l i c h kei t
Die Struktur der Persönlichkeit In Freuds Theorie entstehen Persönlichkeitsunterschiede aus den unterschiedlichen Arten und Weisen, in denen Menschen mit ihren Grundtrieben umgehen. Um diese Unterschiede zu erklären, beschrieb Freud einen immerwährenden Kampf zwischen zwei gegnerischen Instanzen der Persönlichkeit – dem Es und dem Über-Ich –, in dem durch einen dritten Aspekt des Selbst, das Ich, vermittelt wird. Obwohl wir über diese drei Aspekte so sprechen werden, als ob es eigenständige Geschöpfe wären, sollten Sie im Hinterkopf behalten, dass Freud sie alle nur für unterschiedliche mentale Prozesse hielt. Er lokalisierte das Es, das Ich und das Über-Ich beispielsweise nicht in bestimmten Gehirnregionen. Das Es ist die Lagerstätte der grundlegenden Triebe. Es handelt irrational, auf Impulse hin und drängt nach dem Ausdruck und der unmittelbaren Befriedigung, ohne zu berücksichtigen, ob das Gewünschte realistisch möglich, sozial wünschenswert oder moralisch akzeptabel ist. Das Es wird vom Lustprinzip beherrscht, dem unregulierten Drang nach Befriedigung – insbesondere sexueller, körperlicher und emotionaler Lüste, die hier und jetzt erfahren werden wollen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Das Über-Ich ist der Speicher der Werte eines Individuums, einschließlich der moralischen Einstellungen, die von der Gesellschaft gelernt wurden. Das Über-Ich entspricht in etwa der landläufigen Vorstellung vom Gewissen. Es entwickelt sich in dem Maße, in dem ein Kind nach und nach die Verbote der Eltern und anderer Erwachsener bezüglich gesellschaftlich unerwünschter Handlungen zu seinen eigenen Werten macht. Es ist die innere Stimme des Sollens und des Nicht-Sollens. Das Über-Ich schließt auch das IchIdeal ein, die Ansicht einer Person darüber, was für ein Mensch zu werden, sie versuchen sollte. Insofern steht das Über-Ich oft im Konflikt mit dem Es. Das Es will tun, was sich gut anfühlt, während das Über-Ich darauf besteht, das zu tun, was richtig ist. Das Ich ist der realitätsgebundene Aspekt des Selbst, der den Konflikt zwischen den Impulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ichs schlichtet. Das Ich repräsentiert die persönliche Sicht einer Person auf die materielle und soziale Realität – ihre bewussten Überzeugungen über die Ursachen und Konsequenzen von Verhalten. Ein Teil der Aufgabe des Ich besteht darin, Handlungen auszuwählen, welche die Impulse des Es befriedigen, ohne unerwünschte Konsequenzen zu haben. Das Ich wird vom Realitätsprinzip beherrscht, das vernünftige Entscheidungen über
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lustorientierte Begierden stellt. Insofern würde das Ich den Impuls, bei einer Prüfung zu schummeln, aufgrund von Bedenken über die Folgen des Erwischtwerdens unterdrücken und stattdessen den Entschluss fassen, das nächste Mal mehr zu lernen oder die Sympathie des Lehrers zu gewinnen. Wenn das Es und das Über-Ich im Konflikt stehen, arrangiert das Ich einen Kompromiss, der beide zumindest teilweise zufriedenstellt. Wenn sich jedoch der Druck durch das Es und das Über-Ich erhöht, wird es für das Ich zunehmend schwieriger, einen optimalen Kompromiss zu finden. Verdrängung und Ich-Abwehr Manchmal schließt dieser Kompromiss zwischen dem Es und dem Über-Ich ein, dass dem Es ein Riegel vorgeschoben wird. Extreme Begierden werden aus dem Bewusstsein in die Privatheit des Unbewussten gedrängt. Verdrängung ist der psychische Prozess, der das Individuum davor schützt, extreme Angst oder Schuld zu empfinden, weil seine Impulse, Vorstellungen und Erinnerungen inakzeptabel sind und/ oder weil ihr Ausdruck gefährlich wäre. Dem Ich bleibt sowohl der zensierte mentale Inhalt verborgen als auch der Prozess, mit dem die Verdrängung die Informationen aus dem Bewusstsein fernhält. Verdrängung gilt als die grundlegendste der verschiedenen Methoden, mit welchen sich das Ich vor einer Überwältigung durch bedrohliche Impulse und Vorstellungen schützt. Abwehrmechanismen des Ich sind mentale Strategien, mit denen sich das Ich gegen den täglichen Konflikt zwischen Impulsen des Es, die nach Ausdruck verlangen, und der Forderung des Über-Ich, diese zu verweigern, verteidigt ( Tabelle 13.3). In der psychoanalytischen Theorie werden diese Mechanismen als essenziell für die Bewältigung mächtiger innerer Konflikte durch ein Individuum betrachtet. Durch ihren Einsatz ist eine Person in der Lage, ein günstiges Selbstbild aufrechtzuerhalten und ein akzeptables soziales Erscheinungsbild zu wahren. Wenn ein Kind beispielsweise starke Hassgefühle gegen seinen Vater hegt – die gefährlich wären, wenn sie ausgelebt würden –, kann die Verdrängung einsetzen. Der feindselige Impuls strebt dann nicht länger bewusst danach, ausgelebt zu werden, er wird nicht einmal mehr als existent wahrgenommen. Obwohl der Impuls nicht mehr wahrgenommen wird, ist er dennoch nicht verschwunden; die Gefühle spielen weiterhin eine Rolle bei der Funktionsweise der Persönlichkeit. Indem es beispielsweise eine starke Identifikation mit seinem
13.2 Psychodynamische Theorien
Tabelle 13.3
Die wichtigsten Abwehrmechanismen des Ich Realitätsverleugnung
Schutz vor der unangenehmen Realität durch die Weigerung, sie wahrzunehmen
Verschiebung
Entladung aufgestauter Gefühle, üblicherweise feindseliger Natur, an Objekten, die weniger gefährlich sind als jene, welche die Emotion ursprünglich ausgelöst haben
Phantasie
Befriedigung frustrierter Begierden durch imaginäre Erfüllung („Tagträumen“ ist eine verbreitete Form)
Identifikation
Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls durch Identifikation mit einer anderen Person oder Institution, die oft eine herausragende Stellung innehat
Isolation
Abtrennung der emotionalen Erregung von schmerzhaften Situationen oder Abtrennung von unvereinbaren Einstellungen in logik-sichere Gefilde (die Aufrechterhaltung widersprüchlicher Einstellungen, die nie gleichzeitig oder in Beziehung zueinander reflektiert werden)
Projektion
Übertragung der Schuld für die eigenen Schwierigkeiten auf andere oder die Zuschreibung der eigenen „verbotenen“ Begierden an andere Personen
Rationalisierung
Der Versuch zu beweisen, dass das eigene Verhalten „rational“ und zu rechtfertigen und insofern wert ist, von einem selbst und von anderen Zustimmung zu erfahren
Reaktionsbildung
Vermeidung des Ausdrucks gefährlicher Begierden durch Unterstützung gegenteiliger Einstellungen und Verhaltensweisen, die als „Barriere“ dienen
Regression
Rückzug auf einen früheren Entwicklungsstand, was kindlichere Reaktionen und gewöhnlich auch niedrigere Ansprüche mit sich bringt
Verdrängung
Schmerzhafte oder gefährliche Gedanken werden aus dem Bewusstsein gedrängt und unbewusst gehalten; gilt als grundlegendster Abwehrmechanismus
Sublimierung
Befriedigung oder Abarbeitung frustrierter sexueller Begierden in nicht sexuellen Ersatzhandlungen, die in der eigenen Kultur sozial akzeptiert sind
Vater entwickelt, kann das Kind sein Selbstwertgefühl vergrößern und seine unbewusste Furcht vor der Enttarnung als feindselige Person verringern.
Warum könnte die Begeisterung eines Menschen für das Boxen den Ich-Abwehrmechanismus der Verschiebung nahelegen?
In der Freud’schen Theorie ist die Angst eine intensive emotionale Reaktion, die ausgelöst wird, wenn ein verdrängter Konflikt ins Bewusstsein einzutreten droht. Angst ist ein Gefahrensignal: Die Verdrängung funktioniert nicht! Alarm! Es sind weitere Abwehrmaßnahmen erforderlich! Jetzt ist es Zeit für die zweite Verteidigungslinie, ein oder mehrere Abwehrmechanismen, welche die Angst lösen und den beunruhigenden Impuls wieder in das Unbewusste zurück befördern. Eine Mutter, die ihren Sohn nicht mag und nicht für ihn sorgen will, könnte beispielsweise Reaktionsbildung einsetzen, die ihren inakzeptablen Impuls in sein Gegenteil verkehrt: „Ich hasse mein Kind nicht“ wird zu „Ich liebe mein Kind. Schau nur, wie ich das liebe kleine Wesen mit meiner Liebe erdrücke!“. Solche Verteidigungsmechanismen erfüllen die wichtige Bewältigungsfunktion der Angstreduktion.
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Wenn uns die Abwehrmechanismen vor Angst schützen, warum können sie dann immer noch negative Folgen haben? So nützlich sie auch sind, so sind Abwehrmechanismen letztlich doch Selbstbetrug. Wenn sie zu sehr beansprucht werden, verursachen sie mehr Probleme, als sie lösen. Es ist psychisch ungesund, große Mengen an Zeit und Energie darauf zu verwenden, inakzeptable Triebe abzuwehren, zu tarnen und in neue Bahnen umzulenken, um Angst zu reduzieren. Wenn man das tut, verbleibt wenig Energie für einen produktiven Lebenswandel und zufriedenstellende zwischenmenschliche Beziehungen. Wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden, entstehen einige Formen psychischer Störungen aus dem exzessiven Vertrauen auf Abwehrmechanismen zur Bewältigung von Angst.
13.2.2 Bewertung der Freud‘schen Theorie Wir haben viel Platz auf die Darstellung der essenziellen Bestandteile der psychoanalytischen Theorie verwendet, weil Freuds Ideen großen Einfluss auf die Art und Weise hatten, wie viele Psychologen über normale und abweichende Aspekte der Persönlichkeit denken. Es gibt aber wahrscheinlich mehr Psychologen, die Freuds Konzepte kritisieren, als solche, die sie unterstützen. Was ist die Grundlage der Kritik? Zunächst sind psychoanalytische Konzepte vage formuliert und nicht operational definiert. Insofern kann ein Großteil der Theorie nur unter Schwierigkeiten wissenschaftlich evaluiert werden. Weil einige zentrale Hypothesen nicht einmal prinzipiell widerlegt werden können, bleibt Freuds Theorie fragwürdig. Wie können die Konzepte der Libido, der Struktur der Persönlichkeit und der Verdrängung kindlicher sexueller Impulse auf direktem Wege untersucht werden? Ein zweiter, mit dem ersten verknüpfter Kritikpunkt besagt, dass Freuds Theorie zwar gute Geschichte, aber schlechte Wissenschaft ist. Sie macht keine reliablen Vorhersagen; sie wird retrospektiv angewandt – nachdem die Ereignisse schon eingetreten sind. Der Einsatz der psychoanalytischen Theorie zum Verständnis der Persönlichkeit führt zur historischen Rekonstruktion, nicht zur wissenschaftlichen Konstruktion von wahrscheinlichen Handlungen und vorhersehbaren Ergebnissen. Darüber hinaus lenkt die Theorie die Aufmerksamkeit von aktuellen Reizen ab, die das Verhalten auslösen oder aufrechterhalten könnten, indem sie die historischen Ursprünge dieses Verhaltens überbetont. Es gibt drei weitere wichtige Kritikpunkte an Freuds Theorie. Erstens ist es eine Entwicklungstheorie, die
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jedoch nie Beobachtungen oder Untersuchungen an Kindern umfasste. Zweitens spielt sie traumatische Erfahrungen (wie Kindesmissbrauch) herunter, indem sie Erinnerungen als Fantasien (basierend auf dem Verlangen des Kindes nach sexuellem Kontakt zu einem Elternteil) reinterpretiert. Drittens ist sie androzentrisch (auf den Mann konzentriert), weil sie ein männliches Modell als Norm verwendet, ohne den Versuch herauszufinden, ob und in welcher Weise Frauen vielleicht anders sind. Einige Aspekte von Freuds Theorie gewinnen jedoch nach wie vor an Anerkennung, je mehr sie durch empirische Prüfung modifiziert und verbessert werden. Wir haben beispielsweise in Kapitel 5 dargestellt, wie das Konzept des Unbewussten von heutigen Forschern systematisch untersucht wird (Baars & McGovern, 1996; Westen, 1998). Diese Forschung zeigt, dass ein Großteil der alltäglichen Erfahrungen von Prozessen geformt wird, die außerhalb unseres Bewusstseins liegen. Diese Ergebnisse stützen Freuds allgemeines Konzept, schwächen aber den Zusammenhang zwischen den unbewussten Prozessen und der Psychopathologie: Nur ein kleiner Teil unseres unbewussten Wissens wird Stress oder Unruhe auslösen. In ähnlicher Weise haben Forscher Belege für einige der Gewohnheiten des Geistes gefunden, die Freud als Abwehrmechanismen charakterisierte. Diese Hypothese wurde auf verschiedene Weisen überprüft.
AUS DER FORSCHUNG Eine Studie konzentrierte sich auf eine Gruppe von neun- bis elfjährigen Mädchen (Sandstrom & Cramer, 2003). Die Forscher führten Gespräche mit deren Altersgenossen, um herauszufinden, wer in dieser Gruppe von 50 Mädchen relativ beliebt und wer eher unbeliebt war. Jedes der 50 Mädchen erlebte im Labor eine Situation, in der es von einem anderen Mädchen zurückgewiesen wurde. Die Experimentatoren argumentierten, dass die unbeliebten Mädchen wegen ihrer Erfahrungen mit negativen sozialen Interaktionen ängstlicher als die beliebten Mädchen auf diese Zurückweisung reagieren würden. Die Forscher vermuteten, dass die unbeliebten Mädchen, um diese Angst zu verarbeiten, Anzeichen für häufigeren Einsatz von Abwehrmechanismen zeigen würden. Um diese Hypothese zu überprüfen, baten die Forscher die Mädchen, auf der Grundlage von Bildkarten des Thematischen Apperzeptions-Tests (siehe Kapitel 11) Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten wurden dann auf Hinweise auf die Abwehrmechanismen Realitätsverleugnung und Projektion (siehe Tabelle 13.3) hin analysiert. Die Analysen untermauerten die Hypothese: Die unbeliebten Mädchen setzten nach dem Zurückweisungserlebnis mehr Abwehrmechanismen als die beliebten ein.
13.2 Psychodynamische Theorien
Einige der Bewältigungsstile für Stress, die wir in Kapitel 12 beschrieben haben, fallen unter die allgemeine Kategorie von Abwehrmechanismen. Sie erinnern sich vielleicht, dass die Hemmung von Gedanken und Gefühlen, die mit persönlichen Traumata oder schuldhaften und schambehafteten Erfahrungen assoziiert sind, einen sehr hohen Preis von der psychischen und körperlichen Gesundheit fordern kann (Pennebaker, 1990; Petrie et al., 2004). Diese Befunde spiegeln Freuds Überzeugung wider, dass verdrängtes psychisches Material zu einer psychischen Belastung werden kann. Freuds Theorie ist die komplexeste, umfassendste und überzeugendste Sichtweise der normalen und abweichenden Funktionsweise der Persönlichkeit – selbst wenn ihre Vorhersagen sich als falsch erwiesen haben. Wie bei jeder anderen Theorie auch geht man mit Freuds Theorie am besten so um, dass man sie Stück für Stück bestätigt oder widerlegt. Freud hat nach wie vor Einfluss auf die heutige Psychologie, weil einige seiner Ideen weitgehend akzeptiert wurden. Andere wurden aufgegeben. Einige der ersten Revisionen von Freuds Theorie entstanden aus dem Kreis seiner ursprünglichen Schüler. Betrachten wir, wie diese versucht haben, Freuds Ansichten zu modifizieren.
13.2.3 Erweiterungen psychodynamischer Theorien Einige derjenigen, die nach Freud kamen, behielten seine grundlegende Darstellung der Persönlichkeit als Schlachtfeld bei, auf dem unbewusste primitive Triebe mit sozialen Werten kämpfen. Viele geistige Nachfahren Freuds nahmen aber auch umfangreiche Änderungen an der psychoanalytischen Sicht der Persönlichkeit vor. Im Allgemeinen führten die Theoretiker in der Tradition von Freud folgende Veränderungen ein: Sie legen größeren Wert auf die Ich-Funktionen, einschließlich der Abwehrmechanismen des Ich, der Entwicklung des Selbst, der bewussten Denkprozesse und der Selbststeuerung. Sie sind der Ansicht, dass die sozialen Variablen (Kultur, Familie und Peers) eine wichtigere Rolle bei der Formung der Persönlichkeit spielen. Sie legen weniger Wert auf die Bedeutung sexueller Triebe oder libidinöser Energie. Sie haben die Persönlichkeitsentwicklung über die Kindheit hinaus auf die gesamte Lebensspanne ausgeweitet.
Wir befassen uns mit den Kernelementen der Theorien von Alfred Adler, Karen Horney und Carl Jung. Alfred Adler (1920/2001) wies die Bedeutung des Eros und das Lustprinzip zurück. Adler glaubte, dass alle Menschen als hilflose, abhängige, kleine Kinder Gefühle der Minderwertigkeit erleben. Er behauptete, dass jedes Leben von der Suche nach Wegen zur Überwindung dieser Gefühle dominiert ist. Menschen kompensieren, um Gefühle der Gleichwertigkeit zu erlangen, oder – was häufiger der Fall ist – überkompensieren und versuchen, überlegen zu werden. Die Persönlichkeit ist um dieses grundlegende Streben herum organisiert; Menschen entwickeln Lebensstile auf der Basis bestimmter Mittel zur Überwindung ihrer grundlegenden, durchdringenden Gefühle der Minderwertigkeit. Ein Konflikt in der Persönlichkeit entsteht aus der Inkompatibilität zwischen externalem Druck aus der Umwelt und dem inneren Streben nach Gleichwertigkeit und nicht aus Trieben innerhalb der Person, die im Wettstreit miteinander liegen. Karen Horney wurde in der psychoanalytischen Schule ausgebildet, brach aber in mehreren Bereichen mit der orthodoxen Freud’schen Theorie. Sie zweifelte Freuds phallozentrische Betonung der Bedeutung des Penis an und stellte die Hypothese auf, dass der männliche Neid auf Schwangerschaft, Mutterschaft, Brüste und Saugen eine dynamische Kraft im Unbewussten von Jungen und Männern ist. Dieser „Gebärmutterneid“ bringt Männer dazu, Frauen abzuwerten, und zur Überkompensation in Form von unbewussten Impulsen zur kreativen Tätigkeit. Horney legte auch mehr Wert auf kulturelle Faktoren als Freud und konzentrierte sich auf die aktuelle Charakterstruktur statt auf die kindliche Sexualität (Horney, 1937, 1939). Weil Horney auch Einfluss auf die Entwicklung humanistischer Theorien hatte, werden wir uns im nächsten Abschnitt erneut mit ihren Ideen befassen. Carl Gustav Jung (1995) erweiterte das Konzept des Unbewussten beträchtlich. Für ihn war das Unbewusste nicht auf die einzigartigen Lebenserfahrungen des Individuums begrenzt, sondern mit fundamentalen psychischen Wahrheiten gefüllt, die von der ganzen Menschheit geteilt werden. Dieses kollektive Unbewusste erklärt unser intuitives Verständnis von primitiven Mythen, Kunstformen und Symbolen, welche die universellen Archetypen des Daseins sind. Ein Archetyp ist eine primitive symbolische Repräsentation einer bestimmten Erfahrung oder eines Objekts. Jeder Archetyp ist mit einer instinktiven Tendenz assoziiert, ihn in besonderer Weise zu erleben, über ihn nachzudenken oder ihn zu erfahren. Jung postulierte viele Archetypen aus der Geschichte und Mythologie: der Sonnengott,
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Humanistische Theorien
Jung betrachtete die Kreativität als ein Mittel, um Bilder aus dem persönlichen und dem kollektiven Unbewussten freizusetzen. Warum glaubte Jung an diese beiden Arten von Unbewusstem? der Held, die Erdmutter. Animus war der männliche Archetyp, Anima hingegen der weibliche, und alle Männer und Frauen erfahren beide Archetypen in wechselndem Ausmaß. Der Archetyp des Selbst ist das Mandala oder der magische Kreis; es symbolisiert das Streben nach Einheit und Ganzheit (Jung, 1973). Nach Jung hält eine gesunde, integrierte Persönlichkeit das Gleichgewicht zwischen widerstrebenden Kräften, wie etwa der männlichen Aggressivität und der weiblichen Empfindsamkeit. Diese Sichtweise der Persönlichkeit als Konstellation aus kompensatorischen inneren Kräften in dynamischer Balance wurde analytische Psychologie genannt. Darüber hinaus lehnte Jung die primäre Bedeutung der Libido ab, die so zentral für Freuds Theorie war. Jung fügte zwei ebenso mächtige unbewusste Instinkte hinzu: das Bedürfnis zu schaffen (kreativ zu sein) und das Bedürfnis, ein kohärentes, ganzes Individuum zu werden. Im nächsten Abschnitt über humanistische Theorien werden wir sehen, wie sich dieses zweite Bedürfnis im Konzept der Selbstverwirklichung widerspiegelt.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Verhaltensweisen könnten nach Freuds Theo-
rie aus einer Fixierung in der oralen Phase der Persönlichkeitsentwicklung resultieren? 2 Wie wird das „Ich“ vom Realitätsprinzip geleitet? 3 Obwohl Leon hochgradig aggressiv ist, sieht er die
Schuld für Raufereien stets bei anderen. Welcher IchAbwehrmechanismus könnte hier vorliegen? 4 Welcher Trieb motiviert nach Alfred Adlers Ansicht ei-
nen Großteil des menschlichen Verhaltens? KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an die Studie über den Einsatz von Ich-Abwehrmechanismen. Warum wurde gerade ein Zurückweisungserlebnis eingesetzt, um Angst hervorzurufen?
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13.3
Humanistische Ansätze zum Verständnis der Persönlichkeit zeichnen sich durch die besondere Betonung der Integrität der persönlichen und bewussten Erfahrungen einer Person und ihres Wachstumspotenzials aus. Die wesentliche Eigenschaft aller humanistischen Theorien ist die Betonung des Strebens nach Selbstverwirklichung (Selbstaktualisierung). Selbstverwirklichung ist ein konstantes Streben nach der Realisierung des eigenen innewohnenden Potenzials – die vollständige Entwicklung der eigenen Möglichkeiten und Talente. In diesem Abschnitt werden Sie sehen, wie humanistische Theoretiker das Konzept der Selbstverwirklichung entwickelt haben. Sie werden darüber hinaus auch lernen, welche zusätzlichen Merkmale humanistische Theorien von anderen Arten von Persönlichkeitstheorien abheben.
13.3.1 Merkmale humanistischer Theorien Humanistische Persönlichkeitstheoretiker wie Carl Rogers, Abraham Maslow und Karen Horney glaubten, dass die Motivation für das Verhalten aus den einzigartigen angeborenen und erlernten Tendenzen einer Person kommt, sich in eine positive Richtung zu entwickeln und zu verändern, mit dem Ziel der Selbstverwirklichung. Wie Sie aus Kapitel 11 wissen, stellte Maslow die Selbstverwirklichung an die Spitze seiner Bedürfnispyramide. Das Streben nach Selbsterfüllung ist eine konstruktive, lenkende Kraft, die jeden Menschen zu generell positiven Verhaltensweisen und einem Wachstum des Selbst hinführt. Das Streben nach Selbstverwirklichung kommt zuweilen in Konflikt mit dem Bedürfnis nach Akzeptanz durch sich selbst und andere; insbesondere dann, wenn eine Person das Gefühl hat, bestimmte Verpflichtungen und Bedingungen erfüllen zu müssen, um Akzeptanz zu erlangen. Carl Rogers (1947, 1951, 1977) betonte beispielsweise die Bedeutung der unbedingten positiven Wertschätzung bei der Erziehung von Kindern. Damit meinte er, dass Kinder immer das Gefühl haben sollten, geliebt und akzeptiert zu werden, trotz ihrer Fehler und ihres Fehlverhaltens – dass sie sich die Liebe ihrer Eltern nicht verdienen müssen. Er empfahl, dass Eltern bei Fehlverhalten ihres Kindes betonen, dass es das Verhalten ist und nicht das Kind, das sie missbilligen. Unbedingte positive Wertschätzung ist auch im Erwachsenenalter wichtig, weil die
13.3 Humanistische Theorien
Warum betonte Carl Rogers die unbedingte positive Wertschätzung von Eltern gegenüber ihren Kindern? Sorge um das Streben nach Akzeptanz mit der Selbstverwirklichung interferiert. Als Erwachsener müssen Sie den Menschen, die Ihnen nahe stehen, unbedingte positive Wertschätzung entgegenbringen und diese auch erhalten. Am wichtigsten ist aber, dass Sie ein Gefühl der unbedingten positiven Selbstwertschätzung empfinden, eine Akzeptanz Ihrer selbst, trotz der Schwächen, an denen Sie vielleicht noch arbeiten. Obwohl ihr Beitrag oft nicht ausreichend gewürdigt wird, war Karen Horney eine weitere wichtige Theoretikerin, deren Ideen die Grundlage der humanistischen Psychologie schufen (Frager & Fadiman, 1998). Horney kam zu der Überzeugung, dass Menschen ein „wahres Selbst“ besitzen, das günstige Umweltbedingungen für seine Verwirklichung braucht. Dazu gehört eine Atmosphäre der Wärme, das Wohlwollen anderer und elterliche Liebe für ein Kind als „besondere Person“ (Horney, 1945, 1950). Fehlen diese günstigen Umweltbedingungen, entwickelt das Kind eine grundlegende Angst, welche den spontanen Ausdruck echter Gefühle hemmt und tiefe Beziehungen zu anderen verhindert. Um mit dieser grundlegenden Angst fertig zu werden, greifen Individuen zu zwischenmenschlichen und innerpsychischen Abwehrmaßnahmen. Zwischenmenschliche Abwehrmaßnah-
men führen zur Bewegung auf andere zu (durch übermäßige Folgsamkeit und Selbstverleugnung), gegen andere (durch aggressive, arrogante oder narzisstische Lösungen) und von anderen weg (durch Absonderung). Innerpsychische Abwehrmaßnahmen wirken so, dass sich bei einigen Menschen ein unrealistisches Selbstbild entwickelt, welches eine „Suche nach Ruhm“ auslöst, um sich selbst zu rechtfertigen, und ein System des Stolzes, das nach starren Verhaltensregeln funktioniert, um einem grandiosen Selbstkonzept zu entsprechen. Solche Menschen leben oft unter der „Tyrannei des Sollens“, mit selbst auferlegten Verpflichtungen wie „Ich sollte perfekt, großzügig, attraktiv und tapfer sein“ und dergleichen mehr. Horney glaubte, dass das Ziel einer humanistischen Therapie darin bestünde, dem Individuum dabei zu helfen, die Freude an der Selbstverwirklichung zu erlangen und die innewohnenden konstruktiven Kräfte im Wesen des Menschen zu fördern, die ein Streben nach Selbsterfüllung unterstützen. Ein wichtiger Aspekt der Theorien von Maslow, Rogers und Horney ist die Betonung der Selbstverwirklichung als Fortschritt in Richtung des wahren Selbst. Darüber hinaus wurden humanistische Theorien auch noch als holistisch, dispositional, phänomenologisch und existenzialistisch beschrieben. Sehen wir uns an, weshalb. Humanistische Theorien sind deshalb holistisch, weil sie die einzelnen Handlungen von Personen in Begriffen der gesamten Persönlichkeit beschreiben; Menschen werden nicht als Summe diskreter Traits gesehen, die das Verhalten in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Maslow glaubte, dass Menschen intrinsisch motiviert sind, sich den weiter oben liegenden Teilen der Bedürfnispyramide (die wir in Kapitel 11 besprochen haben) zu widmen, wenn sie nicht durch Defizite auf den darunter liegenden Ebenen zurückgehalten werden. Humanistische Theorien sind dispositional, weil sie sich auf die angeborenen Eigenschaften innerhalb einer Person konzentrieren, die großen Einfluss auf die Richtung haben, die das Verhalten einschlagen wird. Situative Faktoren werden als Beschränkungen und Barrieren betrachtet (wie Schnüre, die einen Ballon am Boden festhalten). Sobald sie von negativen situativen Bedingungen befreit sind, sollte die Tendenz zur Selbstverwirklichung Menschen aktiv zur Wahl von lebenserweiternden Situationen führen. Humanistische Theorien sind jedoch nicht im selben Sinne dispositional wie Trait-Theorien oder psychodynamische Theorien. Bei diesen Theorien sind persönliche Dispositionen ein wiederkehrendes Thema,
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das sich immer wieder im Verhalten ausdrückt. Humanistische Dispositionen sind speziell auf Kreativität und Wachstum ausgerichtet. Jedes Mal, wenn eine humanistische Disposition zum Einsatz kommt, verändert sich eine Person geringfügig, so dass die Disposition nie zweimal auf die gleiche Weise zum Ausdruck kommt. Im Laufe der Zeit führen humanistische Dispositionen das Individuum zur Selbstverwirklichung, dem reinsten Ausdruck dieser Motive. Humanistische Theorien sind phänomenologisch, weil sie das individuelle Bezugssystem und die subjektive Sicht der Realität betonen – nicht die objektive Perspektive eines Beobachters oder eines Therapeuten. Insofern bemühen sich humanistische Psychologen immer darum, die besondere Sichtweise jedes Menschen zu verstehen. Diese Sichtweise ist auch eine auf die Gegenwart gerichtete Sichtweise; Einflüsse aus der Vergangenheit sind nur insofern relevant, als sie die Person in die momentane Situation gebracht haben, und die Zukunft repräsentiert die zu erreichenden Ziele. Insofern betrachten humanistische Theorien im Gegensatz zu psychodynamischen Theorien das momentane Verhalten nicht als etwas, das unbewusst von vergangenen Erfahrungen gelenkt wird. Die optimistische humanistische Sicht der Persönlichkeit war für viele Psychologen, die mit einer bitter schmeckenden Freud’schen Medizin aufgewachsen waren, ein willkommener Hochgenuss. Humanistische Ansätze konzentrieren sich unmittelbar auf die Verbesserung – darauf, das Leben angenehmer zu gestalten –, statt schmerzhafte Erinnerung ans Licht zu zerren, die manchmal besser verdrängt bleiben. Die humanistische Perspektive betont die Fähigkeit jedes Menschen, sein volles Potenzial zu verwirklichen.
13.3.2 Bewertung humanistischer Theorien Freuds Theorie wurde oft dafür kritisiert, eine zu pessimistische Sichtweise anzubieten, der zufolge sich die menschliche Natur aus Konflikten, Traumata und Ängsten entwickelt. Humanistische Theorien entstanden, um die gesunde Persönlichkeit zu feiern, die nach Glück und Selbstverwirklichung strebt. Es ist nicht leicht, Theorien zu kritisieren, die Menschen ermutigen und trotz ihrer Fehler wertschätzen. Trotzdem haben Kritiker beklagt, dass die humanistischen Konzepte unscharf und in der Forschung nur schwer erfassbar sind. Sie fragen: „Was genau ist Selbstverwirklichung?“, „Ist sie eine angeborene Tendenz oder wird sie auch aus dem kulturellen Kontext geschaf-
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fen?“ Humanistische Theorien konzentrieren sich traditionell nicht auf bestimmte Charakteristika von Individuen. Sie sind eher Theorien über die menschliche Natur und über die Eigenschaften, die allen Menschen gemeinsam sind, als Theorien über die individuelle Persönlichkeit oder die Grundlage der Unterschiede zwischen Menschen. Andere Psychologen weisen darauf hin, dass die humanistischen Psychologen durch die Betonung der Rolle des Selbst als einer Quelle der Erfahrung und Handlung die wichtigen Umweltvariablen vernachlässigen, die das Verhalten ebenfalls beeinflussen. Trotz dieser Einschränkungen kann eine heutige Forschungsrichtung, die sich direkt mit den individuellen Erzählungen oder Lebensgeschichten befasst, auf die humanistische Tradition zurückgeführt werden (McAdams, 2001). Die Tradition, eine psychologische Theorie heranzuziehen, um die Details des Lebens einer Person zu verstehen – eine Psychobiografie anzufertigen –, geht auf Freuds Analyse von Leonardo da Vinci zurück (Freud, 1910/1957; siehe auch Elms, 1988, für eine kritische Würdigung von Freuds Arbeit). Eine Psychobiografie ist als „systematischer Einsatz von psychologischen (insbesondere Persönlichkeits-) Theorien definiert, um ein Leben in eine kohärente und aufschlussreiche Geschichte umzuwandeln“ (McAdams, 1988, S. 2). Nehmen wir den großen Künstler Pablo Picasso. Picasso erlitt als kleines Kind eine Reihe von Traumata, darunter ein schweres Erdbeben und den Tod einer jüngeren Schwester. Eine Psychobiografie könnte versuchen, einen Teil von Picassos enormer künstlerischer Kreativität als lebenslanges Residuum seiner Reaktionen auf diese Traumata zu erklären (Gardner, 1993). Wenn eine bekannte oder historische Person Gegenstand einer Psychobiografie wird, kann ein Forscher veröffentlichte Arbeiten, Tagebücher und Briefe als Quellen relevanter Daten verwenden. Bei gewöhnlicheren Individuen können die Forscher direkt auf Erzählungen von Lebenserfahrungen zurückgreifen. Die Bitte könnte beispielsweise lauten, dass die Person über eine kürzlich zurückliegende, besonders starke Erfahrung spricht: „Was haben Sie gedacht und gefühlt? Was könnte diese Episode darüber aussagen, wer Sie sind, wer Sie waren, wer Sie sein könnten oder wie Sie sich im Laufe der Zeit entwickelt haben?“ (McAdams & de St. Aubin, 1992, S. 1010). Die charakteristischen Themen, die aus einer Reihe von Berichten dieser Art hervorgehen, unterstützen eine holistische und phänomenologische Version der Persönlichkeit, die von den frühen Humanisten vorangetrieben wurde: Menschen konstruieren ihre
13.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien
Identitäten, indem sie aus Erzählsträngen eine individuelle Lebensgeschichte weben. Persönliche Berichte sind ein Fenster zur Sichtweise von Menschen auf sich selbst und auf zwischenmenschliche Beziehungen. Humanistische Theoretiker betonten das Streben jedes Individuums nach Selbstverwirklichung. Diese Gruppe erkannte jedoch, dass der Fortschritt, der Menschen in Richtung auf dieses Ziel gelingt, teilweise von den Realitäten ihrer Umgebungen abhängt. Wir befassen uns jetzt mit Theoretikern, die direkt untersuchen, wie die Verhaltensweisen von Menschen durch ihre Umgebungen geformt werden.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist Selbstverwirklichung? 2 Inwieweit sind humanistische Theorien dispositional? 3 Was ist eine Psychobiografie?
Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien
13.4
Allen Theorien, die wir bisher besprochen haben, ist eine Betonung hypothetischer innerer Mechanismen gemeinsam – Traits, Instinkte, Impulse, Tendenzen zur Selbstverwirklichung –, die das Verhalten antreiben und die Grundlage für eine funktionierende Persönlichkeit bilden. Was den meisten dieser Theorien jedoch fehlte, war eine solide Verbindung zwischen der Persönlichkeit und bestimmten Verhaltensweisen. Psychodynamische und humanistische Theorien bieten beispielsweise Erklärungen für die gesamte Persönlichkeit, sagen jedoch keine spezifischen Handlungen vorher. Eine weitere Tradition von Persönlichkeitstheorien ging aus einer direkteren Konzentration auf interindividuelle Verhaltensunterschiede hervor. Sie werden sich aus Kapitel 6 noch erinnern, dass das Verhalten einer Person zu großen Teilen aus den Kontingenzen in der Umwelt vorhergesagt werden kann. Psychologen mit einer lerntheoretischen Orientierung interessieren sich für die Umstände in der Umwelt, die das Verhalten steuern. Die Persönlichkeit wird als Summe der offenen und verdeckten Reaktionen verstanden, die zuverlässig aufgrund der Verstärkungsgeschichte einer Person ausgelöst werden. Lerntheoretischen Ansätzen zufolge sind Menschen unterschiedlich, weil sie unterschiedliche Verstärkungsgeschichten haben.
Betrachten wir die behavioristische Konzeption der Persönlichkeit, die von einem Psychologenteam an der Universität Yale unter Führung von John Dollard und Neal Miller (1950) entwickelt wurde. Dollard und Miller führten Konzepte wie gelernte Triebe, Reaktionshemmung und gelernte Gewohnheitsmuster ein. Ähnlich wie Freud betonten sie die Rolle der motivierenden Kraft der Spannung und die verstärkenden (angenehmen) Konsequenzen der Spannungsreduktion. Organismen handeln, um die Spannung zu reduzieren, die aus unbefriedigten Trieben entsteht. Verhalten wird wiederholt, wenn es solche Spannungen erfolgreich reduziert, und wird gelegentlich zu einer gelernten Gewohnheit, welche durch die wiederholte Spannungsreduktion verstärkt wird. Dollard und Miller zeigten auch, dass man durch soziale Nachahmung lernen kann – durch Beobachtung des Verhaltens anderer –, ohne dass man selbst die Reaktion ausführen muss. Angenommen, ein kleines Kind sieht, wie seine ältere Schwester Süßigkeiten erhält, wenn sie losläuft, um ihren nach Hause kommenden Vater zu begrüßen; das jüngere Kind beginnt vielleicht, das gleiche Verhalten zu zeigen. Die Idee der Imitation vertiefte das Verständnis von Psychologen darüber, wie effektive und destruktive Gewohnheiten gelernt werden. Persönlichkeit entsteht aus der Summe dieser gelernten Gewohnheiten. Moderne soziale Lerntheorien und kognitive Theorien teilen oft die Überzeugung von Dollard und Miller, dass das Verhalten von Kontingenzen der Umwelt beeinflusst wird. Diese Theorien gehen jedoch einen Schritt weiter, um die Bedeutung kognitiver Prozesse ebenso zu betonen wie die von Verhaltensprozessen. Dadurch wird dem handelnden Körper sozusagen wieder ein denkender Geist verliehen. Die Proponenten kognitiver Theorien der Persönlichkeit weisen darauf hin, dass es wichtige interindividuelle Unterschiede in der Art und Weise gibt, in der Menschen über eine äußere Situation nachdenken und sie definieren. Kognitive Theorien betonen die geistigen Prozesse, durch die Menschen ihre Empfindungen und Wahrnehmungen in strukturierte Eindrücke der Realität umwandeln. Wie auch humanistische Theorien betonen die kognitiven Theorien, dass Sie an der Schaffung Ihrer Persönlichkeit teilhaben. Sie wählen beispielsweise Ihre eigene Umwelt weitestgehend selbst; Sie reagieren nicht nur passiv. Sie wägen Alternativen ab und wählen die Umgebungen, in denen Sie handeln und behandelt werden – Sie entschließen sich, sich in Situationen zu begeben, die Ihrer Meinung nach Verstärkung mit sich bringen, und Sie entschließen sich, Situationen zu vermeiden, die unbe-
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Johns einzigartige Persönlichkeit zeigt sich am deutlichsten darin, dass er immer sehr freundlich ist, wenn er jemanden kennen lernt, aber auch ziemlich sicher recht unfreundlich und kurz angebunden wird, sobald er mehr Zeit mit jemandem verbringt. Andererseits ist Jim insofern einzigartig, als er normalerweise schüchtern und ruhig ist, wenn er sich in Gesellschaft von Menschen befindet, die er nicht gut kennt. Sobald er aber jemanden besser kennen lernt, wird er sehr umgänglich. (Shoda et al., 1993a, S. 1023)
Angenommen, Ihre Eltern würden Ihnen immer Komplimente machen, wenn Sie mit einer neuen Frisur nach Hause kommen. Wie würde sich dies auf Ihr Vertrauen in Ihr Aussehen und in Ihre Körperpflege als Erwachsener auswirken? Angenommen, Ihre Eltern hätten immer etwas auszusetzen. Welchen Effekt hätte dies?
friedigend und unsicher sind. Sie entschließen sich beispielsweise, Restaurants erneut zu besuchen, in denen Sie schon einmal gut gegessen haben, anstatt jedes Mal ein neues Restaurant auszuprobieren. Betrachten wir nun konkretere Umsetzungen dieser Ideen. Wir befassen uns mit den Theorien von Walter Mischel, Albert Bandura und Nancy Cantor.
13.4.1 Mischels kognitiv-affektive Persönlichkeitstheorie Walter Mischel entwickelte eine einflussreiche Theorie der kognitiven Basis der Persönlichkeit. Mischel betont, dass Menschen aktiv an der kognitiven Organisation ihrer Interaktionen mit der Umwelt teilhaben. Sein Ansatz betont die Wichtigkeit des Verständnisses, wie Verhalten als Funktion der Interaktionen zwischen Personen und Situationen entsteht (Mischel, 2004). Nehmen wir folgendes Beispiel:
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Wenn wir aus Johns und Jims gesamter Freundlichkeit jeweils einen Mittelwert bilden würden, erhielten wir wohl in etwa denselben Wert für diesen Trait – wir würden aber wichtige Unterschiede in ihrem Verhalten nicht erfassen. Nach Mischel (1973, 2004) hängt unsere Reaktion auf einen bestimmten Input aus der Umwelt von den in Tabelle 13.4 definierten Variablen ab. Können Sie erkennen, wie jede der aufgeführten Variablen die Art und Weise beeinflussen würde, in der sich eine Person in einer bestimmten Situation verhält? Wir haben für jede Variable ein Beispiel angegeben. Versuchen Sie, eine Situation zu finden, in der Sie nicht das Verhalten der aufgelisteten Charaktere zeigen würden, da Sie auf dieser Variablen einen anderen Wert aufweisen. Sie fragen sich vielleicht, was die Beschaffenheit dieser Variablen für eine bestimmte Person festlegt. Mischel glaubt, dass sie sich aus der Geschichte von Beobachtungen und Interaktionen eines Individuums mit anderen Menschen und mit unbelebten Aspekten der Umgebung ergeben (Mischel, 1973). Mischel und seine Kollegen haben die Bedeutsamkeit von Verhaltensmustern in ihren Feldstudien über die Erfahrungen von Kindern in Ferienlagern nachgewiesen.
AUS DER FORSCHUNG Dieses Projekt wurde mit einer Gruppe von sechs bis zwölf Jahre alten Kindern durchgeführt, die an einem Ferienlager für Kinder mit sozialen Anpassungsproblemen teilnahmen. Die Studie befasste sich mit den Reaktionen der Kinder auf unterschiedliche psychologische Situationen, wie beispielsweise die Erstaufnahme positiven sozialen Kontakts durch ein anderes Kind oder die Aufforderung durch einen Erwachsenen, eine bestimmte Aktivität zu beenden. Die Reaktionen der Kinder wurden in Kategorien wie „äußerte sich auf prosoziale Weise“ oder „folgte oder gab nach“ erfasst. Darüber hinaus wurden die Betreuer des Ferienlagers
13.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien
Tabelle 13.4
Personenvariablen in der kognitiv-affektiven Persönlichkeitstheorie von Mischel Variable
Definition
Beispiel
Enkodierungen
Die Art und Weise, in der Sie Informationen über sich selbst, andere Menschen, Ereignisse und Situationen kategorisieren
Sobald Boris jemanden kennen lernt, versucht er herauszufinden, wie reich die Person ist.
Erwartungen und Überzeugungen
Ihre Überzeugungen über die soziale Welt und die wahrscheinlichen Ergebnisse bestimmter Handlungen in spezifischen Situationen; Ihre Überzeugungen über Ihre Fähigkeit, Ergebnisse hervorzurufen
Gregor lädt Freunde ins Kino ein, aber er erwartet nie, dass sie zusagen.
Affekte
Ihre Gefühle und Emotionen, einschließlich physiologischer Reaktionen
Nadja errötet leicht.
Ziele und Werte
Die Ergebnisse und die affektiven Zustände, die sie schätzen und nicht schätzen; Ihre Ziele und Lebenspläne
Peter will ASTA-Sprecher werden.
Kompetenzen und Pläne zur Selbstregulierung
Die Verhaltensweisen, die Sie erreichen können, und Pläne für die Erzeugung kognitiver und behavioraler Ergebnisse
Jan spricht Englisch, Französisch, Russisch und Japanisch und rechnet damit, für die UN arbeiten zu können.
am Ende des Aufenthalts der Kinder gebeten, einzelne Kinder als „aggressiv“, „zurückgezogen“ oder „freundlich“ zu beurteilen. Welche Informationen zogen sie für diese Beurteilungen heran? Nehmen wir als Verhalten das Folgen oder Nachgeben. Kinder, die letztlich als „freundlich“ bewertet wurden, waren in Situationen, in denen ein Erwachsener sie ermahnt hatte, folgsam. Kinder, die letztlich als „zurückgezogen“ bewertet wurden, hatten in Situationen nachgegeben, in denen sie von Gleichaltrigen gehänselt wurden (Shoda et al., 1993b).
Diese Ergebnisse legen nahe, dass das Wissen um die durchschnittliche Folgsamkeit eines Kindes nicht sehr viel über seine Persönlichkeit verrät. Man müsste wissen, in welchen Situationen die Folgsamkeit auftrat, um zu verstehen, weshalb ein Kind als freundlich beurteilt wurde und ein anderes als zurückgezogen. Mischel betont, dass unsere Überzeugungen über die Persönlichkeit anderer Menschen nicht aus der Bildung von Durchschnittswerten entstehen, sondern durch die Kenntnis, wie verschiedene Situationen unterschiedliche Verhaltensweisen hervorrufen.
Würden Sie sich zutrauen, auf der Grundlage dieses einen Fotos Urteile über die Persönlichkeit dieser Jungen abzugeben? Weshalb könnte Ihnen daran gelegen sein, etwas über ihre Verhaltensmuster in unterschiedlichen Arten von Situationen zu wissen?
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13.4.2 Banduras sozial-kognitive Lerntheorie Durch seine theoretischen Schriften und seine umfangreiche Forschung an Kindern und Erwachsenen war Albert Bandura (1986, 1999) ein wortgewaltiger Protagonist eines sozial-lerntheoretischen Ansatzes zum Verständnis der Persönlichkeit. (Sie werden sich aus Kapitel 6 noch an seine Untersuchungen zum aggressiven Verhalten bei Kindern erinnern.) Sein Ansatz kombiniert Lernprinzipien mit einer Betonung menschlicher Interaktionen in sozialen Umgebungen. Aus der Sicht der sozialen Lerntheorie werden Menschen nicht von inneren Kräften getrieben und sind auch keine hilflosen Spielzeuge der Umwelteinflüsse. Der Ansatz der sozialen Lerntheorie hebt die kognitiven Prozesse hervor, die an Erwerb und Aufrechterhaltung von Verhaltensmustern – und dadurch auch der Persönlichkeit – beteiligt sind. Banduras Theorie verweist auf die komplexe Interaktion zwischen individuellen Faktoren, Verhaltensweisen und Umweltreizen. Jede dieser Größen kann die anderen beeinflussen oder verändern, und die Änderung erfolgt selten nur in eine Richtung – sie ist reziprok. Ihr Verhalten kann durch Ihre Einstellungen, Ihre Überzeugungen oder Ihre bisherige Verstärkungsgeschichte ebenso wie durch die in der Umwelt vorhandenen Reize beeinflusst sein. Was Sie tun, kann Auswirkungen auf die Umwelt haben, und wichtige Aspekte Ihrer Persönlichkeit können durch die Umwelt oder durch Rückmeldungen Ihres eigenen Verhaltens beeinflusst werden. Dieses wichtige Konzept des
Abbildung 13.7: Reziproker Determinismus. Im Falle von reziprokem Determinismus interagieren das Individuum, das Verhalten des Individuums und die Umwelt so, dass sie einander wechselseitig beeinflussen und verändern.
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reziproken Determinismus impliziert, dass Sie alle Komponenten untersuchen müssen, wenn Sie das menschliche Verhalten, die Persönlichkeit und die soziale Ökologie vollständig verstehen wollen (Bandura, 1999; Abbildung 13.7). Wenn Sie beispielsweise übergewichtig sind, werden Sie sich vielleicht nicht dafür entscheiden, an Laufwettkämpfen teilzunehmen, aber Sie könnten sich dafür entscheiden, Schwimmen zu gehen. Wenn Sie gerne das Haus verlassen, können Sie sich im Schwimmbad mit anderen unterhalten und dadurch eine geselligere Atmosphäre schaffen, die das Schwimmbad wiederum zu einer angenehmeren Umgebung macht. Das ist ein Fall von reziprokem Determinismus zwischen Person, Ort und Verhalten. Sie erinnern sich vielleicht noch aus Kapitel 6, dass Banduras soziale Lerntheorie das Beobachtungslernen betont, bei dem eine Person ihre Verhaltensweisen aufgrund der Beobachtung des Verhaltens anderer verändert. Durch Beobachtungslernen erwerben Kinder und Erwachsene eine große Menge an Informationen über ihre soziale Umwelt. Durch Beobachtung können Sie lernen, was angemessen ist und belohnt wird und was bestraft oder ignoriert wird. Weil Sie Ihr Gedächtnis einsetzen und über externe Ereignisse nachdenken können, sind Sie in der Lage, die möglichen Konsequenzen Ihrer Handlungen vorauszusehen, ohne diese Konsequenzen wirklich selbst erlebt haben zu müssen. Sie können Fertigkeiten, Einstellungen und Überzeugungen erwerben, wenn Sie einfach nur zusehen, was andere tun und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Im Laufe der Entwicklung seiner Theorie hat Bandura (1997) die Selbstwirksamkeit als zentrales Konstrukt ausgearbeitet. Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung, dass man in einer bestimmten Situation angemessene Verhaltensresultate erzielen kann. Ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit beeinflusst Ihre Wahrnehmungen, Ihre Motivation und Ihre Leistung in vielfältiger Weise. Sie versuchen normalerweise nicht, etwas zu tun oder ein Risiko einzugehen, wenn Sie erwarten, dass Sie nichts ausrichten können. Sie vermeiden Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, nicht zurechtzukommen. Selbst wenn Sie tatsächlich die Fähigkeit und den Wunsch besitzen, werden Sie unter Umständen die für die erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe erforderlichen Handlungen nicht ausführen oder durchhalten, wenn Sie glauben, nicht das Zeug dazu zu haben. Außer dem tatsächlich Erreichten gibt es drei weitere Informationsquellen für die Bewertung der Selbstwirksamkeit:
13.4 Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien
Stellvertretende Erfahrung – Ihre Beobachtungen der Leistung anderer. Überzeugung – Andere könnten Sie überzeugen, dass Sie eine Sache schaffen können, oder Sie können sich selbst überzeugen. Überwachung Ihrer emotionalen Erregung, wenn Sie an eine Aufgabe denken oder sie angehen – Angst lässt auf geringe Erfolgsaussichten schließen, freudige Erregung dagegen eher auf Erfolg. Selbstwirksamkeitsurteile beeinflussen, wie viel Anstrengung Sie aufwenden und wie schnell Sie aufgeben, wenn Sie in unterschiedlichsten Situationen in Ihrem Leben auf Schwierigkeiten stoßen (Bandura, 1997; Cervone, 2000). So könnte die Gründlichkeit und Ausdauer, mit der Sie dieses Kapitel lesen, stärker von Ihrem Gefühl der Selbstwirksamkeit abhängen als von Ihrer tatsächlichen Fähigkeit (Zimmerman et al., 1992). Ein wichtiger Typ von Selbstwirksamkeitsannahmen spiegelt die Urteile von Menschen über ihre Fähigkeit wider, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Betrachten wir ein Beispiel für den Einfluss von Selbstregulationsvermögen auf die Wahrscheinlichkeit, mit der Jugendliche sich gewalttätig verhalten.
keitsraten aufwiesen, zeigten Mädchen wie auch Jungen denselben Einfluss des Selbstregulationsvermögens auf ihre Gewalttätigkeit.
Aus dieser Studie können Sie die starke Korrelation zwischen dem, was Menschen ihrer eigenen Meinung nach erreichen (oder verhindern) können, und dem, wozu sie tatsächlich im Stande sind, ersehen. Banduras Theorie der Selbstwirksamkeit berücksichtigt auch die Bedeutung der Umwelt. Erfolgs- und Misserfolgserwartungen – und die entsprechenden Entscheidungen, aufzugeben oder durchzuhalten – können neben der Wahrnehmung der eigenen Fähigkeit oder Unfähigkeit auch davon abhängen, ob die Umwelt als förderlich oder hemmend erlebt wird. Solche Erwartungen werden als ergebnisorientierte Erwartungen bezeichnet. Abbildung 13.8 zeigt, wie die Teile von Banduras Theorie zueinander passen. Die Verhaltensergebnisse hängen davon ab, wie Menschen die eigenen Fähigkeiten und wie sie die Umwelt wahrnehmen.
AUS DER FORSCHUNG Bandura und seine Kollegen (Caprara et al., 2002) sagten vorher, dass die Jugendlichen mit dem höchsten Grad an vermutetem Selbstregulationsvermögen sich mit der geringsten Wahrscheinlichkeit gewalttätig verhalten würden. Um diese Hypothese zu testen, warben die Forscher 350 Jugendliche (170 Jungen und 180 Mädchen) von Gymnasien in der Umgebung Roms an. Im Alter von 16 Jahren wurden die Anfangsdaten der Schüler erfasst. Zu diesem Zeitpunkt schätzten die Jugendlichen ihr Selbstregulationsvermögen ein, indem sie auf Fragen wie „Wie gut kannst Du Gruppendruck zum Drogengebrauch widerstehen?“ antworteten. Die Schüler schätzten sich ebenfalls auf ihrem Verhalten im Hinblick auf Gewalthandlungen ein durch Fragen wie „Hast Du Dich jemals an gewalttätigen Aktionen von ‘Gangs’ beteiligt?“ Im Alter von 18 Jahren wurden die Schüler erneut über gewalttätiges Verhalten befragt. Die Forscher untersuchten die Datenmuster, um zu sehen, wie gut die Eigenwahrnehmung des Selbstregulationsvermögens Gewalttätigkeit mit 16 beziehungsweise 18 Jahren vorhersagte. Diejenigen Schüler, die am meisten davon überzeugt waren, ihr eigenes Verhalten kontrollieren zu können, waren tatsächlich mit der geringsten Wahrscheinlichkeit gewalttätig geworden. Obwohl sowohl die 16 als auch die 18 Jahre alten Mädchen niedrigere Gewalttätig-
Abbildung 13.8: Banduras Modell der Selbstwirksamkeit. Dieses Modell positioniert Selbstwirksamkeitserwartungen zwischen die Person und ihr Verhalten; Ergebniserwartungen liegen zwischen dem Verhalten und den antizipierten Ergebnissen.
13.4.3 Cantors Theorie der sozialen Intelligenz Aufbauend auf frühere kognitive und soziale Theorien entwarfen Nancy Cantor und ihre Kollegen eine Theorie der sozialen Intelligenz der Persönlichkeit (Cantor & Kihlstrom, 1987; Kihlstrom & Cantor, 2000). Soziale Intelligenz bezieht sich auf die Expertise, die Menschen in ihre Erfahrungen mit Aufgaben des Lebens einbringen. Diese Theorie definiert drei Arten von interindividuellen Unterschieden: Wahl der Lebensziele. Menschen unterscheiden sich darin, welche Ziele und Aufgaben ihnen in
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ihrem Leben am wichtigsten sind. Studierende beschäftigen sich beispielsweise oft damit, „gute Noten zu bekommen“ oder „Freunde zu gewinnen und zu behalten“. Ist Ihnen eines dieser Ziele wichtiger als das andere? Die Ziele von Menschen können sich im Laufe der Zeit ändern. Ihre Ziele waren wahrscheinlich vor zehn Jahren andere als heute und werden auch in der Zukunft wieder andere sein. Wissen, das in sozialen Situationen relevant ist. Menschen unterscheiden sich im Hinblick auf die Expertise, die sie für das Lösen sozialer und persönlicher Probleme mitbringen. Strategien zur Umsetzung von Zielen. Menschen besitzen unterschiedliche charakteristische Problemlösungsstrategien. Können Sie erkennen, wie diese drei Dimensionen zusammenspielen, um die unterschiedlichen Verhaltensmuster hervorzubringen, die Sie am Ende als Persönlichkeit erkennen würden? Sie könnten beispielsweise zwei Freunde haben – von denen es einem mehr darauf ankommt, „Freundschaften zu schließen und zu erhalten“, während der andere mehr Wert darauf legt, „gute Noten zu bekommen“. Oder stellen Sie sich zwei andere Freunde vor, die beide großen Wert auf gute Noten legen. Je nachdem, was sie wissen und wie sie dieses Wissen einzusetzen in der Lage sind, könnten ihre einzelnen Entscheidungen über ihr Verhalten im Alltag sehr unterschiedlich ausfallen. Einer Person wurden vielleicht explizite Lernstrategien vermittelt, die andere schlägt sich ohne besondere Hilfe durch. Die Theorie der sozialen Intelligenz bietet eine neue Perspektive darauf, wie Persönlichkeit Konsistenz vorhersagt: Innerhalb einer bestimmten Zeitspanne sind die Ziele, das Wissen und die Strategien von Personen konsistent. Sehen wir uns konkrete Umstände an, in denen die unterschiedlichen Ziele von Menschen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen: Forscher haben gezeigt, dass Vertrautheitsziele die Beziehungszufriedenheit beeinflussen.
AUS DER FORSCHUNG Wenn Menschen Freundschaften schließen, unterscheiden Sie sich in dem Maß, in dem Vertrautheit ihr Ziel ist – einige Menschen sind darauf aus, gegenseitige Abhängigkeit zu fördern und sich füreinander zu öffnen, während andere keine solchen Ansprüche an eine Freundschaft stellen. Eine Studie mit 80 Teilnehmern (40 Männer und 40 Frauen)
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untersuchte, wie die Stärke der Vertrautheitszielsetzung die Art beeinflusst, in der Menschen Konflikte in engen gleichgeschlechtlichen Freundschaften regeln (Sanderson et al., 2005). Die Forscher stellten die Hypothese auf, dass diejenigen Menschen mit starker Zielsetzung von Vertrautheit auf Konflikte konstruktiver reagieren und damit ihre Freundschaften eher bewahren würden. Um die Wichtigkeit von Vertrautheit zu messen, baten die Forscher die Teilnehmer um Bewertungen von Aussagen wie „In einer engen Freundschaft möchte ich Gedanken und Gefühle teilen.“ Die Teilnehmer gaben an, wie sie mit Konflikten umgehen würden, indem sie Aussagen wie „Mein/e Freund/in und ich drücken unsere Gefühle immer offen und ehrlich aus, so dass kleine Probleme nicht zu großen werden“ bewerteten. In Übereinstimmung mit der zu Grunde liegenden Hypothese reagierten Studierende mit starker Zielsetzung von Vertrautheit am ehesten so auf Konflikte, dass diese möglichst schnell beigelegt wurden. Wegen solcher konstruktiven Reaktionen berichteten diese Studierenden im Durchschnitt auch von größerer Zufriedenheit in ihren Freundschaften.
Können Sie erkennen, wie dieses Muster aus den Zielen der einzelnen Personen entsteht? Menschen mit ausgeprägten Intimitätszielen sind stark motiviert, das meiste aus der Zeit herauszuholen, die sie mit ihren Partnern verbringen. In diesem Fall erkennt man die Persönlichkeit an der konsistenten Art und Weise, in der sich Menschen in engen Beziehungen verhalten.
13.4.4 Bewertung der sozialen Lerntheorien und der kognitiven Theorien Einige gegen die kognitiven Theorien und die sozialen Lerntheorien vorgebrachten Kritikpunkte bestehen darin, dass oft die Emotion als wichtige Komponente der Persönlichkeit übersehen wird. In den psychodynamischen Theorien spielen Emotionen wie Angst eine zentrale Rolle. In den sozialen Lerntheorien und den kognitiven Theorien werden Emotionen nur als Nebenprodukte von Gedanken und Verhalten gesehen oder einfach mit anderen Arten von Gedanken zusammengefasst, statt dass ihnen eine eigenständige Bedeutung zugewiesen wird. Für diejenigen, die der Ansicht sind, dass Emotionen zentral für das Funktionieren der Persönlichkeit sind, ist dies ein schwerwiegender Fehler. Kognitive Theorien werden auch dafür kritisiert, den Einfluss unbewusster Motivationen auf Verhalten und Gefühl nicht vollständig anzuerkennen. Ein zweiter Bereich von Kritikpunkten konzentriert sich auf die Ungenauigkeit der Erklärungen über die Art und Weise, wie Kompetenzen entstehen. Ko-
13.5 Theorien des Selbst
gnitive Theoretiker hatten oft wenig über die Entwicklungsursprünge der erwachsenen Persönlichkeit zu sagen; ihre Konzentration auf die Wahrnehmung der aktuellen Verhaltensumgebung durch das Individuum verdeckt die Geschichte des Individuums. Trotz dieser Kritiken haben kognitive Persönlichkeitstheorien Wesentliches zu unserem heutigen Verständnis beigetragen. Mischels Bewusstsein für die Situation hat zu einem besseren Verständnis der Interaktion zwischen dem, was eine Person in eine Verhaltensumgebung einbringt, und jenem, was die Umgebung aus der Person herausholt, geführt. Banduras Ideen haben zu Verbesserungen in der Art und Weise geführt, in der Lehrer ihre Schüler unterrichten und ihnen helfen, Erfolg zu haben. Darüber hinaus haben sich neue Interventionsmethoden in den Bereichen Gesundheit, Geschäftsleben und Sport ergeben. Schließlich hat Cantors Theorie die Suche nach der Konsistenz der Persönlichkeit auf die Ebene von Lebenszielen und sozialen Strategien verlagert. Verschaffen Ihnen diese kognitiven Persönlichkeitstheorien Einsichten in Ihre eigene Persönlichkeit und Ihre Verhaltensweisen? Sie können vielleicht erkennen, wie Sie sich selbst zum Teil durch Interaktionen mit der Umwelt definieren. Wir kommen jetzt zu Theorien, die noch stärker zur Definition Ihres Selbst beitragen.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche fünf Variablen erklären in Walter Mischels
Theorie individuelle Unterschiede?
rungen darauf, wie Sie über Ihr Selbst denken? Wir beginnen unsere Auseinandersetzung mit diesen Fragen mit einem kurzen historischen Überblick. Das Bedürfnis nach einer Analyse des Selbst hatte in William James (1890) seinen stärksten ersten Fürsprecher. James identifizierte drei Komponenten der Erfahrung des Selbst: das materielle Ich (das körperliche Selbst einschließlich materieller Objekte in der Umgebung), das soziale Ich (Ihr Bewusstsein dessen, wie andere Sie sehen) und das spirituelle Ich (das Selbst, das private Gedanken und Gefühle überwacht). James glaubte, dass alles, was Sie mit Ihrer Identität verknüpfen, in gewisser Weise Teil Ihres Selbst wird. Das erklärt, weshalb Menschen unter Umständen verteidigend reagieren, wenn ihre Freunde oder Familienmitglieder – ein Teil des Selbst – angegriffen wurden. Das Konzept des Selbst war auch für psychodynamische Theorien zentral. Selbst-Erkenntnis war ein wichtiger Teil der psychoanalytischen Heilung in Freuds Theorie, und Jung betonte, dass man alle Aspekte des eigenen bewussten und unbewussten Lebens integrieren und akzeptieren muss, um das Selbst vollständig zu entwickeln. Wie wurde das Selbst in aktuellen Theorien behandelt? Wir werden zunächst kognitive Aspekte des Selbst beschreiben: Selbstkonzepte und mögliche Alternativen des Selbst. Wir befassen uns dann mit der Art und Weise, in der Menschen ihr Selbst der Welt präsentieren. Schließlich werfen wir einen Blick auf die wichtige Frage, wie sich Sichtweisen des Selbst zwischen Kulturen unterscheiden.
2 Welche drei Komponenten spielen in Albert Banduras
Theorie des reziproken Determinismus eine Rolle? 3 Wie wird soziale Intelligenz definiert?
KRITISCHES DENKEN: Warum war es wichtig, die Studie über das Selbstregulationsvermögen als Längsschnittstudie anzulegen?
Theorien des Selbst
13.5
Wir sind jetzt bei Persönlichkeitstheorien angelangt, die am unmittelbarsten persönlich sind: Sie befassen sich direkt damit, wie jedes Individuum sein Selbstbild reguliert: Wie sieht Ihr Konzept Ihres Selbst aus? Sind Sie der Ansicht, dass Ihr Selbst konsistent auf die Welt reagiert? Versuchen Sie, Ihren Freunden und Ihrer Familie ein konsistentes Selbst zu präsentieren? Welchen Einfluss haben positive und negative Erfah-
13.5.1 Dynamische Aspekte von Selbstkonzepten Das Selbstkonzept ist eine dynamische geistige Struktur, die intra- und interpersonale Verhaltensweisen und Prozesse motiviert, interpretiert, strukturiert, vermittelt und reguliert. Das Selbstkonzept umfasst viele Komponenten. Dazu gehören Ihre Erinnerungen an sich selbst, Überzeugungen über Traits, Motive, Werte und Fähigkeiten; das ideale Selbst, das Sie am liebsten werden möchten; die möglichen Selbst, deren Verwirklichung Sie erwägen; positive und negative Bewertungen Ihrer selbst (Selbstwertgefühl); und Überzeugungen davon, was andere über Sie denken (Chen et al., 2006). In Kapitel 7 haben wir Schemata als „Wissenspakete“ besprochen, die komplexe Verallgemeinerungen über die Struktur der Umwelt repräsentieren. Ihr Selbstkonzept enthält Schemata über das Selbst – Selbstschemata –, die es Ihnen ermöglichen,
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Informationen über sich selbst zu strukturieren, so wie andere Schemata Ihnen ermöglichen, andere Aspekte Ihrer Erfahrung zu verwalten. Selbstschemata beeinflussen jedoch mehr als nur die Art und Weise, in der Sie Informationen über sich selbst verarbeiten. Es gibt aus der Forschung Hinweise darauf, dass diese Schemata, die Sie oft verwenden, um Ihr eigenes Verhalten zu interpretieren, auch die Art und Weise beeinflussen, in der Sie Informationen über andere Menschen verarbeiten (Krueger & Stanke, 2001; Mussweiler & Bodenhausen, 2002). Insofern interpretieren Sie die Handlungen anderer im Hinblick auf jenes, was Sie über sich selbst wissen und glauben. Eine weitere wichtige Komponente Ihres kognitiven Selbst-Bewusstseins könnten die anderen möglichen Selbst sein, mit denen Sie Ihr gegenwärtiges Selbstkonzept vergleichen. Hazel Markus und ihre Kollegen haben mögliche Selbst als „die idealen Selbst, die wir sehr gerne werden würden“ definiert. „Sie sind auch die Selbst, die wir werden könnten, und die Selbst, die wir zu werden fürchten“ (Markus & Nurius, 1986, S. 954). Mögliche Selbst spielen eine Rolle bei der Motivation von Verhalten – sie treiben Handlungen an, indem sie Ihnen die Betrachtung ermöglichen, welche Richtungen Ihr „Selbst“ einschlagen könnte, zum Besseren oder Schlechteren. Denken Sie an die Vorstellungen von Menschen darüber, ob sie bereit sind, Eltern zu werden.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forschungsteam entwickelte ein Beurteilungsinstrument, welches das Ausmaß messen sollte, in dem junge Erwachsene sich vorstellen konnten, Eltern zu werden (Bloom et al., 1999). Die 683 an der Studie teilnehmenden Studierenden antworteten auf einer Skala von trifft überhaupt nicht zu bis trifft vollständig zu auf Aussagen wie „In der Zukunft sehe ich mich als jemanden, der verheiratet sein wird, sich aber entscheidet, keine Kinder zu bekommen“. Um die Studierenden davon abzuhalten, den Zweck der Studie zu erraten, wurden die Items, die sich auf die Elternschaft bezogen, innerhalb eines umfangreicheren Fragebogens verteilt. Nach Bearbeitung des Fragebogens wurde jeder Person ein möglicher Eltern-Selbst-Wert (MESW) zugewiesen. Im Mittel unterschieden sich Männer und Frauen bezüglich dieses Wertes nicht. Die Forscher bildeten jedoch Untergruppen von Männern und Frauen mit besonders hohen oder niedrigen Werten auf der MESW-Skala. Die Personen in diesen Untergruppen beurteilten dann Videoaufnahmen von Kleinkindern, deren Verhalten von fröhlich bis quengelig reichte. Die Studierenden mit hohen MESW-Ausprägungen bewerteten die Kleinkinder konsistent positiver als die Studierenden mit niedrigen MESW-Ausprägungen.
Können Sie sich Gründe vorstellen, warum die Fähigkeit einer Person, sich selbst als Vater oder Mutter vorzustellen, einen Einfluss auf die Interpretation haben könnte, wie sich ein Kind verhält?
13.5.2 Selbstwertgefühl und Selbstdarstellung
Stellen Sie sich für einen Moment Ihre unterschiedlichen „möglichen Selbst“ vor. Welche Auswirkung könnte die Berücksichtigung dieser möglichen Selbst auf Ihr Verhalten haben?
532
Wir haben bereits davon gesprochen, dass manche Menschen ein negatives Selbstkonzept besitzen, das wir auch als geringes Selbstwertgefühl beschreiben könnten. Das Selbstwertgefühl einer Person ist eine generalisierte Bewertung des Selbst. Das Selbstwertgefühl kann starken Einfluss auf die Gedanken, Stimmungen und das Verhalten haben (Baumeister et al., 2003). Ein geringes Selbstwertgefühl zeichnet sich teilweise dadurch aus, dass weniger Sicherheit über das Selbst besteht. Als man Personen mit hohem und niedrigem Selbstwertgefühl bat, sich selbst anhand einer Reihe von Trait-Dimensionen zu bewerten (beispielsweise logisch, intellektuell und sympathisch), schrieben sich Teilnehmer mit geringem Selbstwertgefühl erwartungsgemäß insgesamt niedrigere Werte zu (Baumgardner, 1990). Wenn man die Teilnehmer jedoch bat, auch noch obere und untere Grenzen für ihre Schätzungen anzugeben, gaben Menschen mit ge-
13.5 Theorien des Selbst
ringerem Selbstwertgefühl größere Spannweiten an: Sie hatten ein weniger genaues Bewusstsein ihres Selbst als die Teilnehmer mit hohem Selbstwertgefühl. Insofern ist ein Teil des Phänomens „geringes Selbstwertgefühl“ vielleicht der Eindruck, man wisse nicht viel über sich selbst. Ein Mangel an Wissen über das eigene Selbst macht es schwer vorauszusagen, dass die eigenen Unternehmungen im Leben erfolgreich sein werden. Die vorhandenen Befunde legen nahe, dass die meisten Menschen alles tun werden, um ihr Selbstwertgefühl zu bewahren und die Integrität ihres Selbstkonzeptes aufrechtzuerhalten (Vignoles et al., 2006). Menschen nutzen eine Vielzahl von Formen der Selbstaufwertung. Wenn Sie beispielsweise an Ihrer Fähigkeit zur Lösung einer Aufgabe zweifeln, dann könnten Sie sich so verhalten, dass Sie Ihre Verhaltensmöglichkeiten selbst beeinträchtigen: Sie sabotieren absichtlich Ihre Leistung! Der Sinn dieser Strategie der Selbst-Beeinträchtigung (auch: Selbstbenachteiligung) liegt darin, eine vorgefertigte Ausrede für Misserfolg zu haben, die keinen Mangel an Fähigkeit impliziert (McCrea & Hirt, 2001). Wenn Sie also Angst haben herauszufinden, ob Sie die Voraussetzungen besitzen, um das Vordiplom zu schaffen, könnten Sie mit Ihren Freunden feiern, statt sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Auf diese Weise können Sie sich im Falle eines Misserfolgs auf mangelnde Anstrengung berufen, ohne herauszufinden, ob Sie wirklich das Zeug gehabt hätten, es zu schaffen.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscherpaar erhob bei Studierenden ihre Zustimmung zu Aussagen, welche die Selbst-Beeinträchtigung erfassen: „Ich wäre viel besser, wenn ich härter arbeiten würde“; „Ich denke, ich fühle mich öfter Unbill ausgesetzt als die meisten anderen“; „Ich neige dazu, Dinge bis zum letzten Moment aufzuschieben“. Vor ihrer ersten Prüfung wurden die Studierenden befragt, welche Note sie zufriedenstellen würde. Nach der Prüfung erhielten sie eine falsche Rückmeldung über das Ergebnis. Ihnen wurde gesagt, ihre Note sei um 0,3 schlechter als die Wunsch-Note (wenn sie beispielsweise eine Zwei wollten, wurde ihnen gesagt, sie hätten eine Zwei minus). An diesem Punkt maßen die Forscher das Selbstwertgefühl der Studierenden. Wenn Selbst-Beeinträchtigung das Selbstwertgefühl bewahrt, würde man erwarten, dass die Menschen, die zu starker Selbst-Beeinträchtigung neigen, durch die unbefriedigende Note am wenigsten in ihrer Selbstachtung beeinträchtigt würden. Genau dieses Muster zeigten die Männer in der Studie: Ein hohes Maß an Selbst-Beeinträchtigung war mit einem höheren Selbstwertgefühl verbunden. Bei den weib-
lichen Studierenden zeigte sich hingegen keine Korrelation zwischen Selbst-Beeinträchtigung und Selbstachtung. Die Forscher spekulierten, dass Männer vielleicht stärker dazu neigen, sich gegen Bedrohungen des Selbst zu schützen (Rhodewalt & Hill, 1995).
Sie sollten in Hinblick auf Ihr eigenes Verhalten über diese Studie nachdenken. Geben Sie sich der SelbstBeeinträchtigung hin? Selbst wenn es Ihr Selbstwertgefühl schützt (besonders, wenn Sie ein Mann sind), werden Ihre Noten trotzdem darunter leiden! (Nebenbei bemerkt: Nach Beendigung der Studie wurde mit den Teilnehmern ein ausführliches Abschlussgespräch geführt – in dem ihnen auch der Zweck der Täuschung erklärt wurde und ihnen ihre richtigen Noten genannt wurden.)
Selbstbeeinträchtigendes Verhalten in Aktion: Statt sich auf die morgige Prüfung vorzubereiten, schlafen Sie in der Bibliothek ein. Dadurch können Sie sagen: „Na ja, ich habe eigentlich gar nicht gelernt!“, wenn Sie in der Prüfung nicht so gut abschneiden. Gibt es Situationen, in denen Sie zur Selbstbeeinträchtigung greifen?
Das Phänomen der Selbst-Beeinträchtigung legt auch nahe, dass wichtige Aspekte der Selbstachtung im Zusammenhang mit der Selbstdarstellung stehen. Selbst-Beeinträchtigung ist wahrscheinlicher, wenn Menschen wissen, dass die Ergebnisse veröffentlicht werden (Self, 1990). Wie könnte auch jemand weniger gut von Ihnen denken, wenn die Beeinträchtigung und der Nachteil so offensichtlich sind? Ähnliche Aspekte der Selbstdarstellung sind bei der Erklärung von Verhaltensunterschieden zwischen Personen mit hoher und niedriger Selbstachtung hilfreich (Baumeister et al., 1989). Menschen mit hohem Selbstwertgefühl präsentieren sich der Welt als ehrgeizige, aggressive Personen, die Risiken eingehen. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl präsentieren sich als vorsichtig und behutsam.
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In diesem Abschnitt haben wir betont, dass Menschen sich in Verhaltensmuster wie Selbst-Beeinträchtigung flüchten, um ihr Selbstwertgefühl zu bewahren. Aus diesem Grund sind Sie vielleicht nicht überrascht zu erfahren, dass ein hohes Selbstwertgefühl unter vielen Umständen kein guter Indikator tatsächlicher Leistung ist (Baumeister et al., 2003). Tatsächlich ist es sicherer anzunehmen, dass hohes Selbstwertgefühl aus Erfolg resultiert. Es führt also nicht zu besseren schulischen Leistungen, wenn man den Schülern ein besseres Selbstwertgefühl gibt. Vielmehr entstammt dieses teilweise dem schulischen Erfolg.
13.5.3 Die kulturelle Konstruktion des Selbst Unsere Diskussion hat sich bisher auf die für das Selbst relevanten Konstrukte beschränkt, wie beispielsweise Selbstwertschätzung und mögliche Selbst, die über verschiedene Individuen hinweg anwendbar sind. Forscher auf diesem Themengebiet haben jedoch auch damit begonnen, die Art und Weise zu untersuchen, in der Selbstkonzepte und Selbstentwicklung von unterschiedlichen kulturellen Einschränkungen beeinflusst werden. Wenn Sie in einer westlichen Kultur aufgewachsen sind, kommen Sie wahrscheinlich gut mit den bisher vorgestellten Forschungsergebnissen zurecht. Die Theorien und Konstrukte passen zur Art und Weise, in der das Selbst in westlichen Kulturen begriffen wird. Die Art der Kultur, aus der das westliche Selbst entsteht – eine individualistische Kultur –, ist jedoch eine Minderheit im Verhältnis zur Weltbevölkerung die über 70 Prozent kollektivistische Kulturen umfasst. Individualistische Kulturen betonen die Bedürfnisse des Individuums, wogegen kollektivistische Kulturen die Bedürfnisse der Gruppe betonen (Triandis, 1994, 1995). Diese alles übergreifende jeweilige Hervorhebung hat wichtige Auswirkungen darauf, wie jedes Mitglied dieser Kulturen sein Selbst begreift: Hazel Markus und Shinobu Kitayama (1991; Kitayama et al., 1995; Markus et al., 1997) haben behauptet, dass jede Kultur ein unterschiedliches Konstruktionsprinzip des Selbst produziert. Individualistische Kulturen fördern ein eigenständiges (independentes) Verständnis des Selbst – „Um das kulturelle Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen, muss man sich selbst als Individuum verstehen, dessen Verhalten im Bezug auf das eigene innere Repertoire an Gedanken, Gefühlen und Handlungen organisiert ist
534
und Bedeutung erlangt, und nicht durch den Bezug auf die Gedanken, Gefühle und Handlungen anderer“ (Markus & Kitayama, 1991, S. 226). Kollektivistische Kulturen fördern ein wechselseitig abhängiges (interdependentes) Verständnis des Selbst – „Die Erfahrung der Interdependenz beinhaltet, dass man sich selbst als Teil einer umfassenden sozialen Beziehung sieht und erkennt, dass das eigene Verhalten dadurch bestimmt wird, davon abhängt und größtenteils dadurch strukturiert ist, was der Handelnde als die Gedanken, Gefühle und Handlungen anderer in der Beziehung wahrnimmt“ (Markus & Kitayama, 1991, S. 227). Forscher belegten die Realität und die Konsequenzen dieser Unterscheidungen auf mehrere Arten. Eine Art von kulturvergleichender Forschung zum Selbst hat ein Messinstrument namens Twenty Statements Test (TST) (Kuhn & McPartland, 1954) verwendet. Bei der Bearbeitung dieses Tests werden die Befragten gebeten, 20 unterschiedliche Antworten auf die Frage „Wer bin ich?“ zu geben. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um über die Tragweite dieser Frage nachzudenken. Wie Tabelle 13.5 zeigt, lassen sich die Antworten auf diese Frage üblicherweise einer von sechs Kategorien zuordnen. Die jeweilige Kultur hat starken Einfluss auf die Kategorie, in der mit großer Wahrscheinlichkeit geantwortet wird. Es gab beispielsweise eine Studie, in der etwa 300 Studierende aus Indien und den Vereinigten Staaten den TST bearbeitet haben (Dhawan et al., 1995). Im Einklang mit ihrem independenten Verständnis des Selbst gaben 65 Prozent der amerikanischen Frauen und 64 Prozent der amerikanischen Männer Selbstbewertungen ab. Bei den indischen Studierenden ließen sich nur 33 Prozent der Antworten von Frauen und 35 Prozent der Antworten von Männern dieser Kategorie zuordnen. Also gaben nur etwa halb so viele indische Studierende Selbstbewertungen ab wie amerikanische. Beachten Sie bitte auch, dass die Unterschiede zwischen Männern und Frauen insgesamt gering waren – die Kultur war entscheidender. Sie fragen sich vielleicht, wie der Export der westlichen Kultur die Selbstkonzepte von Mitgliedern kollektivistischer Kulturen beeinflusst. Eine Studie verglich die TST-Antworten von Menschen aus Kenia, die praktisch keinen Kontakt mit der westlichen Kultur hatten – Mitglieder der Hirtenstämme Samburu und Massai –, mit solchen Kenianern, die in die westlich geprägt Hauptstadt Nairobi gezogen waren. Etwa 82 Prozent der Antworten der Stammesmitglieder im
13.5 Theorien des Selbst
Tabelle 13.5
Kategorien der Antworten im Twenty Statements Test Kategorie
Beispiele
Soziale Identität
Ich bin ein Student. Ich bin eine Tochter.
Ideologische Überzeugungen
Ich glaube, dass alle Menschen gut sind. Ich glaube an Gott.
Interessen
Ich spiele gerne Klavier. Ich besuche gerne Orte, die ich noch nicht kenne.
Ambitionen
Ich will Arzt werden. Ich will mehr Psychologie lernen.
Selbstbewertungen
Ich bin ehrlich und arbeite hart. Ich bin groß. Ich mache mir Gedanke über die Zukunft.
Sonstiges
Meine Freunde machen immer Krach. Ich habe einen Hund.
TST waren soziale Antworten; Arbeiter aus Nairobi gaben nur zu 58 Prozent soziale Antworten, und Studierende an der Universität von Nairobi gaben nur 17 Prozent soziale Antworten (Ma & Schoeneman,
Auf welche Weise hängt das Bewusstsein des Selbst einer Person davon ab, ob sie einer Kultur mit einem independenten oder einem interdependenten Verständnis des Selbst angehört?
1997). Dieses Muster lässt vermuten, dass Nationen mit dem Import westlicher Produkte auch ein westliches Konzept des Selbst importieren. Diese Studien machen deutlich, dass die Zugehörigkeit von Menschen zu Kulturen großen Einfluss auf die Art und Weise hat, in der diese Menschen ihr Selbst verstehen. Sie haben in den vorangegangenen Kapiteln schon etwas über die Konsequenzen dieses Verständnisses des Selbst gelesen. In Kapitel 10 haben Sie erfahren, dass die Kultur das moralische Urteil beeinflusst (Miller & Bersoff, 1992). Weiter hinten in diesem Buch wird Ihnen diese Unterscheidung erneut begegnen, wenn wir uns mit der Frage befassen, ob Vorstellungen von Liebe durch das Verständnis des Selbst beeinflusst werden (siehe Kapitel 16). Für den Augenblick wollen wir uns mit einer Studie befassen, die besonders relevant für Theorien über das Selbst ist.
AUS DER FORSCHUNG Wir haben uns bereits die Hinweise darauf angesehen, dass Menschen Selbstförderung (englisch: self-enhancement) betreiben, also positive Veränderungen im Selbstwertgefühl anstreben. Allerdings haben die Angehörigen verschiedener Kulturen auch unterschiedliche Auffassungen des Selbst in Selbstförderung. Aus diesem Grund sagte ein Forscherteam vorher, dass Studierende aus den Vereinigten Staaten Selbstförderung eher mit individualistischen Verhaltensmustern betreiben würden, solche aus Japan aber eher kollektivistisches Verhalten zur Selbstförderung wählen würden (Sedikides et al., 2003). Um diese Idee zu überprüfen, baten die Forscher jeden ihrer Probanden aus Japan und den USA, sich zehn Minuten lang vorzustellen, er oder sie gehöre einer Task Force zur Lösung von Unternehmensproblemen an. Die Studenten sollten sich eine Reihe Probleme ansehen und ihre Lösungsideen aufschreiben. Nach dieser Übung sagten die Studierenden vorher, wie wahrscheinlich es sei, dass sie ihre (imaginären) Kollegen in der Task Force in bestimmten Verhaltensformen übertreffen würden. Einige dieser Verhaltensformen waren individualistisch: Würden sie „der Gruppe widersprechen, wenn sie annahmen, die Gruppe liege falsch“? Andere Verhaltensformen waren kollektivistisch: Würden sie „offene Konfrontation mit der Gruppe vermeiden“? Für jede Verhaltensform gaben die Studierenden Werte von –5 („viel weniger wahrscheinlich als das durchschnittliche Gruppenmitglied“) bis +5 („sehr viel wahrscheinlicher als das durchschnittliche Gruppenmitglied“) an. Wie in Tabelle 13.6 gezeigt ist, hielten die Studierenden es für wahrscheinlich, ihre Kollegen in denjenigen Verhaltensformen zu übertreffen, die mit ihrem Selbstbild übereinstimmten.
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Tabelle 13.6
Selbstförderung im interkulturellen Vergleich Verhalten Kultur
individualistisch kollektivistisch
amerikanisch
1,28
– 0,45
japanisch
0,06
0,63
Vielleicht haben Sie Lust, in den nächsten Tagen den Versuch zu unternehmen, beide Verständnisse des Selbst zu erfahren. Dazu müssen Sie darauf achten, wie die Ereignisse in Ihrem Umfeld Einfluss auf Ihr Selbst als Individuum und auf Ihr Selbst als Mitglied einer größeren sozialen Struktur haben.
Untersuchungen von kulturvergleichenden Verständnissen des Selbst großen Einfluss auf die Art und Weise, in der Psychologen ihre Theorien bewerten. Kritiker der Theorien des Selbst beklagen deren Unbegrenztheit. Weil so viele Dinge relevant für das Selbst und das Selbstkonzept sind, ist nicht immer klar, welche Faktoren am wichtigsten für die Vorhersage des Verhaltens sind. Hinzu kommt, dass die Betonung des Selbst als soziales Konstrukt nicht völlig konsistent ist mit den Belegen für die mögliche Vererbung einiger Facetten der Persönlichkeit. Wie auch die anderen von uns beschriebenen Theorien erfassen Theorien des Selbst einen Teil, aber nicht alles von dem, was wir unter Persönlichkeit verstehen.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Rolle spielen mögliche Selbst für die Moti-
vation? 2 Was ist Selbstbeeinträchtigung?
13.5.4 Bewertung der Theorien des Selbst Theorien des Selbst gelang es, das Konzept, das Menschen von ihrer eigenen Persönlichkeit haben, und die Art und Weise, in der sie gerne von anderen gesehen werden wollen, zu erfassen. Darüber hinaus hatten
3 Was bedeutet es, ein interdependentes Selbstbild zu
haben? KRITISCHES DENKEN: Warum fragten die Versuchsleiter der Studie über Selbstbeeinträchtigung bei Studierenden jeden der Probanden nach der Note, mit der er oder sie zufrieden wäre?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Das Selbst im Internet?
Angenommen, Sie hätten die Möglichkeit, etwas an Ihrem „Selbst“ zu ändern. Würden Sie es tun? Wie könnten Sie im Voraus abschätzen, welche Folgen das haben könnte? Forscher haben dokumentiert, dass viele Menschen das Internet nutzen, um „Identitätsexperimente“ durchzuführen (McKenna & Bargh, 2000; Valkenburg et al., 2005). Wenn jemand einen Chatroom betritt, könnte er beschließen, eine Frau statt ein Mann, italienischer statt deutscher Herkunft, 40 statt 18 zu sein und eine erfolgreiche Beamtin statt ein Student im zweiten Studienjahr. Das Internet bringt das Konzept der möglichen Selbst sehr anschaulich in das tägliche Leben vieler Menschen. Konzentrieren wir uns auf die möglichen Funktionen solcher Identitätsexperimente. Wir betrachten eine Studie der Internetnutzung durch 600 Schüler und Studierende im Alter von 9 bis
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18 Jahren (Valkenburg et al., 2005). Sie wurden gefragt, ob sie „jemals vorgegeben hatten, jemand anders zu sein, während sie über das Internet kommunizierten“. Unter den Neun- bis Zwölfjährigen sagten 72 Prozent „ja“. Diese Zahl fiel bei den 13- bis 14-Jährigen auf 53 Prozent und auf 28 Prozent bei den 15- bis 18Jährigen. Erinnern Sie sich aus Kapitel 10, dass Menschen ihre Identität während der Pubertät ausbilden. Diese Daten legen nahe, dass heutzutage das Internet eine Rolle im Ausprobieren von Identitäten spielt. Die Forscher fragten die Schüler und Studierenden auch, warum sie vorgegeben hatten, jemand anders zu sein. Das herausragende Motiv war tatsächlich Selbstentdeckung: Die Probanden gaben an, dass sie herausfinden wollten, wie es sich anfühlen könnte, jemand anders zu sein und wie andere auf sie reagieren würden, wenn sie jemand anderer wären.
13.6 Vergleich der Persönlichkeitstheorien
Obwohl „Identitätsexperimente“ im Laufe des Heranwachsens seltener werden, bleibt das Potenzial des Internets zur Selbstentdeckung auch im Erwachsenenalter attraktiv. Viele Menschen empfinden es im „wirklichen Leben“ als belastend, dass sie das Gefühl entwickeln, sie wären sehr stark festgelegt: Wiederholte Interaktionen mit der Familie, den Freunden und Kollegen machen es notwendig, dass sie in einer Weise konsistent sind, die vielleicht im Widerspruch zu der Person steht, die sie gerne wären. Unter den Einschränkungen, die sich aus dem alltäglichen sozialen Kontext ergeben, ist es für Menschen relativ schwer, in neue Erfahrungsbereiche vorzudringen. Das Internet lockert diesen sozialen Kontext (Bargh et al., 2003). Man kann die Anonymität des Internet nutzen, um neuen Interessen Ausdruck zu verleihen oder neue Ideen zu erkunden, ohne Konsequenzen für die wirkliche Welt befürchten zu müssen. Wenn keine radikalen Veränderungen (beispielsweise wenn ein Mann behauptet, eine Frau zu sein) vorgenommen werden, kann ein Mensch mögliche Selbst einüben, die möglicherweise näher am idealen Selbst liegen. Darüber hinaus ermöglicht die Anonymität des Internet den Menschen, mehr von ihrem Selbst zu offenbaren, als sie unter anderen Umständen zu zeigen bereit wären. Wie Sie sich aus Kapitel 12 noch erinnern werden, ist es für die Gesundheit von Menschen
Vergleich der Persönlichkeitstheorien
13.6
Es gibt keine einheitliche Persönlichkeitstheorie, die eine Mehrheit der Psychologen befürwortet. Etliche Unterschiede in den Grundannahmen sind bei unserem Überblick über die unterschiedlichen Theorien wiederholt zum Vorschein gekommen. Es könnte hilfreich sein, die fünf wichtigsten Unterschiede in den Annahmen zur Persönlichkeit sowie die Ansätze, welche die jeweilige Annahme befürworten, zu wiederholen. 1 Anlage vs. Umwelt. Was ist wichtiger für die
Persönlichkeitsentwicklung: genetische und biologische Faktoren oder Umwelteinflüsse? Trait-Theorien sind bezüglich dieser Frage uneins; Freudianische Theorien beziehen sich sehr stark auf die Vererbung; humanistische Theorien, soziale Lerntheorien, kognitive Theorien und Theorien des Selbst betonen alle die Umwelt als Determinante des Verhaltens oder
förderlich, sich emotional zu offenbaren (Pennebaker, 1990; Petrie et al., 2004). Das Internet bietet Menschen ein breites Spektrum an Möglichkeiten zur Offenbarung. Es ist möglich, spezialisierte Chatrooms oder Newsgroups zu finden, die explizit Foren für solche Offenbarungen und soziale Unterstützung für den Inhalt dieser Offenbarungen bereitstellen. Wir haben uns auf die positiven Aspekte des Internet konzentriert: Menschen haben die Möglichkeit, ihr Bewusstsein des Selbst und ihre Fähigkeit zur Selbstoffenbarung zu erweitern, was Konsequenzen für die Gesundheit und die Selbstakzeptanz hat. Es gibt natürlich auch einige Gefahren. Die Anonymität kann Menschen dazu bringen, ihr Leben in einer Weise aufzusplittern, die zu fehlangepassten Verhaltensweisen führt (Reid, 1998). Wir haben zuvor schon darauf hingewiesen, dass einige Forscher einen Anstieg in der Prävalenz der Schüchternheit mit der Verfügbarkeit des Internet in Verbindung bringen. Trotzdem können Sie, wenn Sie über Ihr „Selbst“ nachdenken, auch kritisch die Möglichkeiten in Erwägungen ziehen, die das Internet Ihnen, ganz buchstäblich, zur Selbst-Entdeckung bietet. Warum ist die Anonymität des Internets so wichtig für „Identitätsexperimente“? Wie könnte man aus Interaktion im Internet gewonnene Information im „wirklichen Leben“ einsetzen?
die Interaktion mit der Umwelt als Quelle der Persönlichkeitsentwicklung und der Persönlichkeitsunterschiede. 2 Lernprozesse vs. angeborene Gesetzmäßigkeiten
des Verhaltens. Sollte man die Sichtweise betonen, der zufolge die Persönlichkeit durch Lernen verändert wird, oder die Sichtweise, dass die Persönlichkeitsentwicklung einem inneren Fahrplan folgt? Trait-Theorien sind in dieser Frage erneut uneinheitlich; Freuds Theorie bevorzugt die Sichtweise der inneren Determination, wohingegen humanistische Theorien einer optimistischen Sichtweise anhängen, der zufolge Erfahrung den Menschen verändert; soziale Lerntheorien, kognitive Theorien und Theorien des Selbst unterstützen eindeutig die Vorstellung, dass Verhalten und Persönlichkeit sich infolge von Lernerfahrungen verändern. 3 Betonung von Vergangenheit, Gegenwart oder
Zukunft. Trait-Theorien betonen Ursachen in der Vergangenheit, unabhängig davon, ob es sich
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13
Die men sc h l i c h e P er sön l i c h kei t
um Angeborenes oder Gelerntes handelt; die Freud’sche Theorie betont vergangene Ereignisse in der frühen Kindheit; soziale Lerntheorien konzentrieren sich auf Verstärkung in der Vergangenheit und gegenwärtige Kontingenzen; humanistische Theorien betonen die gegenwärtige Realität und zukünftige Ziele; und kognitive Theorien sowie Theorien des Selbst betonen Vergangenheit und Gegenwart (und die Zukunft, wenn Zielsetzungen beteiligt sind). 4 Bewusstes vs. Unbewusstes. Die Freud’sche Theo-
rie betont unbewusste Prozesse; humanistische Theorien, soziale Lerntheorien und kognitive Theorien betonen bewusste Prozesse. Trait-Theorien schenken dieser Unterscheidung wenig Beachtung; Theorien des Selbst äußern sich zu dieser Frage nicht eindeutig.
ZWISCHENBILANZ 1 In welcher Weise unterscheiden sich die Persönlich-
keitstheorien voneinander hinsichtlich der Dimension „Anlage vs. Umwelt“? 2 Konzentriert sich Freuds Persönlichkeitstheorie am
stärksten auf die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft? 3 Welche Dimension der Persönlichkeitstheorien bezieht
sich auf die eigene Wahrnehmung verhaltensformender Kräfte
Persönlichkeitsdiagnostik
13.7
5 Innere Disposition vs. äußere Situation. Soziale
Lerntheorien betonen situative Faktoren; TraitTheorien betonen dispositionale Faktoren; und alle anderen Theorien lassen Raum für eine Interaktion von personenbasierten und situationsbasierten Variablen. Jeder Theorietyp leistet einen unterschiedlichen Beitrag zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit. Trait-Theorien bieten einen Katalog, der Teile und Strukturen beschreibt. Psychodynamische Theorien fügen einen kräftigen Motor und den Treibstoff hinzu, mit dem das Gefährt in Bewegung gesetzt wird. Humanistische Theorien setzen eine Person ans Steuer. Soziale Lerntheorien stellen das Lenkrad, Richtungssignale und andere Regulationsmechanismen zur Verfügung. Kognitive Theorien sorgen für die Erinnerung daran, dass die Art und Weise, in der die Fahrt geplant, organisiert und erinnert wird, von der mentalen Landkarte abhängen wird, die der Fahrer für die Fahrt auswählt. Zu guter Letzt erinnern die Theorien des Selbst den Fahrer daran, über den Eindruck nachzudenken, den seine Fahrkünste bei den Passagieren auf dem Rücksitz und den Fußgängern hinterlassen werden. Um unsere Diskussion der Persönlichkeit abzuschließen, werden wir uns jetzt mit der Persönlichkeitsdiagnostik befassen. Wir werden einige der Methoden beschreiben, mit denen Psychologen Informationen über die Spannweite an Persönlichkeitseigenschaften gewinnen, die jede Person einzigartig machen.
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Denken Sie an all die Arten und Weisen, in denen Sie sich von Ihrem besten Freund oder Ihrer besten Freundin unterscheiden. Psychologen stellen sich Fragen über die unterschiedlichen Eigenschaften, die ein Individuum charakterisieren, eine Person von der anderen unterscheidet oder Menschen einer Gruppe von jenen einer anderen Gruppe trennen (beispielsweise schüchterne Menschen von kontaktfreudigen oder paranoide von normalen Menschen). Zwei Annahmen sind grundlegend für diese Versuche, die menschliche Persönlichkeit zu verstehen und zu beschreiben: erstens, dass es persönliche Charakteristika von Individuen gibt, die ihrem Verhalten Kohärenz verleihen, und zweitens, dass diese Charakteristika erfasst oder gemessen werden können. Persönlichkeitstests müssen darüber hinaus den Standards von Reliabilität und Validität (siehe Kapitel 9) genügen. Persönlichkeitstests, die diese Annahmen beinhalten, können entweder als objektiv oder als projektiv klassifiziert werden.
13.7.1 Objektive Tests Objektive Persönlichkeitstests sind solche, bei denen die Auswertung und die Anwendung relativ einfach sind und einer Reihe wohl definierter Regeln folgen. Einige objektive Tests werden von Computerprogrammen ausgewertet oder sogar interpretiert. Das Endergebnis ist eine einzelne Zahl entlang einer einzelnen Dimension (wie etwa angepasst vs. unangepasst), oder eine Menge von Werten für unterschiedliche Traits (wie etwa Impulsivität, Abhängigkeit oder Extraver-
13.7 Persönlichkeitsdiagnostik
sion), die im Vergleich zu den Werten einer Stichprobe angegeben werden. Ein Selbstberichtsverfahren ist ein objektiver Test, in dem Personen eine Reihe von Fragen zu ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen beantworten. Eines der ersten Selbstberichtsverfahren, das Woodworth Personal Data Sheet (aus dem Jahre 1917), stellte Fragen wie „Haben Sie oft mitten in der Nacht Angst?“ (siehe DuBois, 1970). Heute liest eine Person, die einen Persönlichkeitstest bearbeitet, eine Reihe von Aussagen und gibt jeweils an, ob diese Aussage für sie wahr oder typisch ist. Der am häufigsten eingesetzte Persönlichkeitstest ist das Minnesota Multiphasic Personality Inventory, der MMPI (Dahlstrom et al., 1975; deutsch: MMPI-2, Engel, 2000). Er wird in vielen klinischen Anwendungsbereichen eingesetzt, um die Diagnostik von Patienten zu erleichtern und ihre Behandlung zu leiten. Nach einem Überblick über seine Merkmale und Anwendungsbereiche werden wir kurz das NEO Personality Inventory (NEO-PI, deutsch: NEO-PI-R, Ostendorf & Angleitner, 2004) besprechen, das im Umgang mit gesunden Menschen häufig eingesetzt wird. Der MMPI Der MMPI wurde während der 30er Jahre von dem Psychologen Starke Hathaway und dem Psychiater J. R. McKinley an der Universität von Minnesota entwickelt (Hathaway & McKinley, 1940, 1943). Sein ureigenster Zweck ist die Diagnostik von Personen anhand einer Menge von psychiatrischen Klassifikationen. Der erste Test bestand aus 550 Items, die von den Befragten entweder als für sie wahr oder falsch oder mit „weiß nicht“ beantwortet wurden. Aus diesem Itempool wurden Skalen entwickelt, die für die Arten von Problemen relevant waren, die Patienten in psychiatrischen Umgebungen zeigten. Die MMPI-Skalen waren anders als andere Persönlichkeitstests, weil sie anhand einer empirischen Strategie entwickelt wurden statt anhand des intuitiven, theoretischen Ansatzes, der zur damaligen Zeit vorherrschte. Items wurden nur dann in eine Skala aufgenommen, wenn sie klar zwischen den beiden Gruppen unterschieden – beispielsweise schizophrene Patienten von einer normalen Vergleichsgruppe. Jedes Item musste seine Validität dadurch beweisen, dass es von den Mitgliedern der einen Gruppe ähnlich beantwortet wurde, aber anders als von den Mitgliedern einer anderen Gruppe. Insofern wurden die Items nicht anhand einer theoretischen Grundlage ausgewählt (was ihr Inhalt nach Expertenmeinung zu besa-
gen scheint), sondern anhand einer empirischen Grundlage (diskriminieren die Items zwischen den Gruppen?). Der MMPI besteht aus zehn klinischen Skalen, die jeweils geschaffen wurden, um eine spezielle klinische Gruppe (wie beispielsweise an Schizophrenie leidende Personen) von einer normalen Vergleichsgruppe zu unterscheiden. Der Test enthält auch Validitätsskalen, die verdächtige Antwortmuster aufspüren, wie etwa offensichtliche Unehrlichkeit, Nachlässigkeit, Abwehr oder Ausweichen. Wenn ein MMPI interpretiert wird, prüft der Testleiter zuerst die Validitätsskalen, um sicherzustellen, dass der Test in diesem konkreten Fall valide ist, und betrachtet dann die restlichen Werte. Das Muster der Werte – welche sind am höchsten, wie unterscheiden sie sich – bildet das „MMPI-Profil“. Individuelle Profile werden mit den Profilen verglichen, die für bestimmte Gruppen, wie Verbrecher oder Glücksspieler, typisch sind. Mitte der 80er Jahre wurde der MMPI einer umfangreichen Revision unterzogen und heißt jetzt MMPI-2 (Butcher et al., 2001; deutsch: MMPI-2, Engel, 2000). Im MMPI-2 wurden die Sprache und der Inhalt auf den neuesten Stand gebracht, um aktuellen Fragestellungen besser gerecht zu werden und Daten neuer Populationen wurden zu den Normen hinzugefügt. Der MMPI-2 enthält auch 15 neue Inhaltsskalen, die teilweise anhand einer theoretischen Vorgehensweise entwickelt wurden. Zu jedem der 15 klinisch relevanten Themen (wie Angst oder familiäre Probleme) wurden Items anhand zweier Grundlagen ausgewählt: wenn sie theoretisch mit dem Themengebiet zusammenzuhängen schienen, und wenn sie statistisch eine homogene Skala bildeten, so dass jede Skala ein einziges, einheitliches Konzept misst. Die klinischen Skalen und die Inhaltsskalen des MMPI-2 sind in Tabelle 13.7 und Tabelle 13.8 wiedergegeben. Ihnen wird auffallen, dass die meisten klinischen Skalen mehrere verwandte Konzepte messen und dass die Namen der Inhaltsskalen sehr einfach und selbsterklärend sind. Zu den Vorteilen des MMPI-2 gehört die Leichtigkeit und Ökonomie der Anwendung und sein Nutzen für die Diagnose von Psychopathologie (Butcher, 2004; Butcher & Rouse, 1996). Darüber hinaus kann der Itempool für viele Zwecke eingesetzt werden. Sie könnten beispielsweise eine Kreativitätsskala konstruieren, indem sie kreative und unkreative Personengruppen finden und feststellen, welche MMPI-Items von ihnen unterschiedlich beantwortet werden. Im Laufe der Jahre haben Psychologen Hunderte von Skalen für spezielle Zwecke auf diese Weise entwickelt und validiert. Für Forscher sind die enormen Archive
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Tabelle 13.7
Klinische Skalen des MMPI-2 Hypochondrie (Hd): Anormale intensive Beschäftigung mit den Körperfunktionen Depression (D): Pessimismus; Hoffnungslosigkeit; Verlangsamung von Denken und Handeln Hysterie, Konversionsstörung (Hy): Unbewusster Einsatz mentaler Probleme zur Vermeidung von Konflikten oder Verantwortung Psychopathie (Pp): Missachtung sozialer Bräuche; flache Affekte; Unfähigkeit, aus Erfahrung zu lernen Maskulinität/Femininität (Mf): Unterschiede zwischen Männern und Frauen Paranoia (Pa): Misstrauen; Größen- oder Verfolgungswahn Psychasthenie (Pt): Obsessionen; Zwänge; Ängste; Schuldgefühle; Unentschlossenheit Schizophrenie (Sc): Bizarre, ungewöhnliche Gedanken oder Verhaltensweisen; Rückzug; Halluzinationen; Wahn Hypomanie (Ma): Emotionale Erregtheit; flüchtige Ideen; Hyperaktivität Soziale Introversion (Si): Schüchternheit; Desinteresse an anderen; Unsicherheit
Tabelle 13.8
Einige Inhaltsskalen des MMPI-2 Angst
Antisoziales Verhalten
Phobien
Typ A (Workaholic)
Zwanghaftigkeit
Negatives Selbstwertgefühl
Depression
Soziales Unbehagen
Körperbeschwerden
Familiäre Probleme
Bizarre Angaben
Berufliche Probleme
Ärger und Zynismus
Negative Behandlungsindikatoren (negative Einstellungen zu Ärzten und Therapien)
von MMPI-Profilen, die im Laufe von über 50 Jahren angelegt wurden, eine der attraktivsten Charakteristika des Tests. Weil all diese Menschen anhand derselben Items in standardisierter Weise getestet wurden, kann man sie entweder hinsichtlich der traditionellen klinischen Skalen oder hinsichtlich spezieller Skalen für bestimmte Zwecke (wie unsere neue Kreativitätsskala) vergleichen. Diese MMPI-Archive ermöglichen
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es Forschern, Hypothesen anhand von MMPIs zu testen, die schon viele Jahre früher bearbeitet wurden, vielleicht sogar, bevor das gemessene Konstrukt überhaupt erdacht war. Der MMPI-2 hat jedoch auch seine Kritiker. Die klinischen Skalen wurden beispielsweise kritisiert, weil sie heterogen sind (sie messen mehrere Dinge zugleich). Forscher haben auch vorgebracht, dass die
13.7 Persönlichkeitsdiagnostik
Veränderungen vom ursprünglichen MMPI zum MMPI-2 nicht ausreichend seien, um den Fortschritten im Bereich der Persönlichkeitstheorien Rechnung zu tragen; der Test bleibt seinen empirischen Wurzeln verhaftet (Helmes & Reddon, 1993). Kliniker fragen sich darüber hinaus, ob der MMPI-2 für alle ethnischen Gruppen gleichermaßen valide ist (Arbisi et al., 2002). Wie bei jedem diagnostischen Verfahren müssen die Forscher die Reliabilität und Validität jedes einzelnen Einsatzes des MMPI und des MMPI-2 sorgfältig kontrollieren (Greene et al., 1997). Diese Persönlichkeitsinventare wurden entwickelt, um Menschen mit klinischen Problemen zu untersuchen. In den nächsten beiden Abschnitten werden wir Verfahren beschreiben, die geeigneter sind, die Persönlichkeit in der allgemeinen Bevölkerung außerhalb von Behandlungskontexten zu erfassen. Das NEO-PI
Das NEO Personality Inventory (NEO-PI; deutsch: NEO-PI-R: NEO-Persönlichkeitsinventar nach Costa und McCrae, Revidierte Fassung, Ostendorf & Angleitner, 2004) wurde zur Messung von Persönlichkeitscharakteristika bei nichtklinischen Populationen von Erwachsenen entwickelt. Es misst das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit, das wir zuvor besprochen haben. Wenn Sie den NEO-PI bearbeiten würden, dann erhielten Sie ein Profilblatt, das Ihre standardisierten Werte im Vergleich zur einer Normstichprobe auf den fünf Hauptdimensionen zeigt: Neurotizismus, Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit (Costa & McCrae, 1985). Eine revidierte Fassung des NEO-PI erfasst 30 separate Traits, die in der Modellstruktur den fünf Hauptfaktoren untergeordnet sind (Mc Crae et al., 2005). Die Dimension Neurotizismus kann beispielsweise in sechs Facetten-Skalen heruntergebrochen werden: Ängstlichkeit, Reizbarkeit, Depression, Soziale Befangenheit, Impulsivität, Verletzlichkeit. Umfangreiche Forschungen haben gezeigt, dass die Dimensionen des NEO-PI homogen und hoch reliabel sind und eine gute Konstrukt- und Kriteriumsvalidität aufweisen (Furnham et al., 1997; McCrae et al., 2004). Der NEO-PI wird eingesetzt, um die Stabilität und Veränderung der Persönlichkeit über die Lebensspanne zu untersuchen und auch, um den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitscharakteristika und der körperlichen Gesundheit und verschiedenen Lebensereignissen wie beruflicher Erfolg oder Frühverrentung zu erfassen.
Ein neues Persönlichkeitsinventar, das auf dem FünfFaktoren-Modell aufbaut, der Big Five Questionnaire (BFQ), wurde entwickelt, um Validität auch über unterschiedliche Kulturen hinweg zu erzielen. Die Skala wurde in Italien entwickelt, weist aber für US-amerikanische und spanische Populationen ähnliche psychometrische Charakteristika auf. Entsprechende Normen für die französische, deutsche, tschechische, ungarische und polnische Übersetzung werden entwickelt (Barbaranelli et al., 1997; Caprara et al., 1993). Ein allgemein einsatzbereiter Test ist auf Deutsch derzeit jedoch noch nicht verfügbar. Der BFQ korreliert zwar hoch mit dem NEO-PI, unterscheidet sich aber in bedeutsamer Weise. Faktor 1 wird Energie oder Aktivität statt Extraversion genannt (um die Überschneidung mit den sozialen Aspekten der Verträglichkeit zu verringern). Der BFQ enthält eine Skala, die anzeigt, ob die Antworten eines Testteilnehmers durch eine Tendenz zu Antworten im Sinne sozialer Erwünschtheit verzerrt sind. Er ist insofern einfacher als der NEO-PI, als er für jeden der fünf Faktoren nur zwei Facetten besitzt. Energie beispielsweise setzt sich aus den Facetten Dynamik und Dominanz zusammen. Die erste ist intrapersonal, die zweite interpersonal. In dem Maße, in dem die Psychologie in Bezug auf ihre Themen globaler wird, werden diagnostische Instrumente, die über Sprach- und Landesgrenzen hinweg gleich gut funktionieren, essenziell für die Durchführung sinnvoller kulturvergleichender Forschung in der Persönlichkeitspsychologie und der Sozialpsychologie. Die auf Deutsch vorliegenden und lieferbaren Tests, sowohl im Bereich der Persönlichkeitsmessung als auch auf vielen anderen Gebieten der Psychodiagnostik, können über die Literaturdatenbank Psyndex plus Testfinder recherchiert werden.
13.7.2 Projektive Tests Haben Sie schon einmal eine Wolke betrachtet und ein Gesicht oder den Umriss eines Tieres gesehen? Wenn Sie Ihre Freunde gebeten hätten, ebenfalls hinzusehen, hätten diese vielleicht einen liegenden Menschen oder einen Drachen gesehen. Wenn Psychologen projektive Tests zur Persönlichkeitsdiagnostik einsetzen, stützen sie sich auf ein ähnliches Phänomen. Wie gerade besprochen, können objektive Tests zwei Formen annehmen: Entweder wird den Teilnehmern eine Reihe von Aussagen vorgelegt, auf die sie eine einfache Reaktion geben sollen (wie „richtig“, „falsch“ oder „weiß nicht“), oder die Teilnehmer sollen sich selbst bezüglich einer bestimmten Dimension
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(wie „ängstlich“ vs. „nicht ängstlich“) beurteilen. Insofern sind die Teilnehmer dahingehend eingeschränkt, dass sie nur eine der vorgegebenen Reaktionsalternativen wählen dürfen. Projektive Tests haben im Gegensatz dazu keine vorher festgelegte Spanne an Antwortmöglichkeiten. In einem projektiven Test wird einer Person eine Reihe von absichtlich mehrdeutigen Stimuli vorgelegt, wie beispielsweise abstrakte Muster, unvollständige Bilder oder mehrdeutige Zeichnungen. Die Person kann gebeten werden, die Muster zu beschreiben, die Bilder zu vervollständigen oder Geschichten zu den Zeichnungen zu erzählen. Projektive Tests wurden zuerst von Psychoanalytikern eingesetzt, die hofften, dass solche Tests die unbewusste Persönlichkeitsdynamik ihrer Patienten offen legen würden. Weil die Stimuli mehrdeutig sind, hängen die Antworten zum Teil davon ab, was die Person mit in die Situation einbringt – nämlich tief liegende Gefühle, persönliche Motive und Konflikte aus vorangegangenen Lebenserfahrungen. Diese persönlichen, idiosynkratischen Aspekte, die in die Stimuli projiziert werden, ermöglichen dem Persönlichkeitsdiagnostiker, verschiedene Interpretationen vorzunehmen. Projektive Tests gehören zu den diagnostischen Instrumenten, die am häufigsten von praktisch tätigen Psychologen eingesetzt werden (Butcher & Rouse, 1996). Sie wurden auch außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika häufiger eingesetzt als objektive Techniken wie der MMPI, beispielsweise in den Niederlanden, Hongkong und Japan (Piotrowski et al., 1993). Eine Schwierigkeit besteht darin, objektive Tests für neue Populationen angemessen zu standardisieren und zu normieren. Projektive Tests sind weniger anfällig für sprachliche Unterschiede. Weil projektive Tests jedoch so weit verbreitet sind, haben Kritiker oft Bedenken geäußert, dass sie nicht in valider Weise eingesetzt werden. Wenn wir uns mit den beiden gängigsten projektiven Tests, dem Rorschach-Test und dem Thematischen Apperzeptions-Test (TAT) befassen, werden wir diese Validitätsprobleme diskutieren. Der Rorschach-Test In dem vom Schweizer Psychiater Hermann Rorschach 1921 entwickelten Rorschach-Test werden Tintenkleckse als mehrdeutige Stimuli verwendet (Rorschach, 1942; aktuell 11. Auflage, 1992). Einige Kleckse sind schwarz-weiß, andere farbig ( Abbildung 13.9). Während des Tests wird einem Teilnehmer ein Tintenklecks gezeigt und die Frage gestellt „Was könnte das sein?“. Den Teilnehmern wird versichert, dass es keine richtigen oder falschen Antworten gibt
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Abbildung 13.9: Ein Tintenklecks ähnlich denen, die im Rorschach-Test verwendet werden. Was sehen Sie? Sagt Ihre Interpretation dieses Tintenkleckses etwas über Ihre Persönlichkeit aus? (Exner, 1974). Der Testleiter notiert wortwörtlich, was der Proband sagt, wie lange er braucht, um zu antworten, wie lange er insgesamt pro Tintenklecks braucht und wie er mit der Karte umgeht, auf der sich der Tintenklecks befindet. In einer zweiten Phase, der so genannten Befragungsphase, wird der Proband an seine Antworten erinnert und gebeten, sich näher dazu zu äußern. Die Antworten werden im Hinblick auf drei Hauptmerkmale ausgewertet: (1) den Erfassungsmodus, das heißt, welcher Teil der Karte in der Antwort erwähnt wird – ob sich der Proband auf den ganzen Stimulus oder einen Teil davon bezieht, und die Größe der erwähnten Details; (2) den Inhalt der Deutung – die Art des Objektes oder der Aktivitäten, die gesehen werden; und (3) die Determination – welcher Aspekt der Karte (wie Farbe oder Schattierung) die Antwort ausgelöst hat. Bei der Auswertung kann auch vermerkt werden, ob die Antworten originell und einzigartig sind oder populär und konventionell. Sie sind vielleicht der Meinung, dass mehrdeutige Tintenkleckse eine nicht interpretierbare Vielfalt von Antworten auslösen könnten. Tatsächlich haben Forscher ein umfassendes Bewertungsschema für Reaktionen im Rorschach-Test entwickelt, das sinnvolle Vergleiche zwischen verschiedenen Probanden erlaubt (Exner, 2003, 1993; Exner & Weiner, 1994). Dieses Bewertungssystem spezifiziert beispielsweise gängige Kategorien von Antwortinhalten, wie Ganzkörperantwort (die Antwort erwähnt oder impliziert eine vollständige menschliche Gestalt) und Blut (die Antwort erwähnt menschliches oder tierisches Blut). Antwortmuster wurden mit normalen Persönlichkeitscharakteristika wie auch mit psychopathologischen Kategorien erfolgreich in Verbindung gebracht. Trotzdem besteht weiterhin eine Kontroverse über die Validität des Bewertungssystems und des Rorschach-Tests als solchem (Exner, 2003; Garb et al., 2001).
13.7 Persönlichkeitsdiagnostik
Der TAT Im Thematischen Apperzeptions-Test, den Henry Murray 1938 entwickelt hat, werden den Probanden Bilder von mehrdeutigen Szenen gezeigt, zusammen mit der Bitte, Geschichten zu den Bilder zu erzählen, zu beschreiben, was die Menschen in den Szenen tun und denken, was zu diesem Punkt geführt hat und wie jede Situation enden wird ( Abbildung 13.10). Der Testleiter bewertet die Struktur und den Inhalt der Geschichten und auch das Verhalten der Person, welche die Geschichten erzählt. Dadurch versucht er, die wichtigsten Anliegen, Motive und Persönlichkeitscharakteristika dieser Person zu entdecken. Ein Testleiter könnte beispielsweise jemanden als gewissen-
haft beurteilen, wenn seine Geschichten sich um Menschen drehen, die ihre Verpflichtungen erfüllt haben, und wenn die Geschichten ernst und geordnet vorgetragen wurden. Sie werden sich aus Kapitel 11 noch daran erinnern, dass der TAT oft eingesetzt wurde, um interindividuelle Unterschiede bei den dominanten Bedürfnissen aufzudecken, wie den Bedürfnissen nach Macht, Zugehörigkeit und Erfolg (McClelland, 1961). Über mehrere Jahrzehnte der Forschung hinweg hat sich der TAT als valides Maß des Leistungsmotivs erwiesen (Spangler, 1992). Zum Schluss dieses Kapitels möchten wir Sie bitten, im Lichte dessen, was Sie gerade gelernt haben, einige Fragen zu beantworten: Wenn Sie von Psychologen untersucht würden, welches Bild Ihrer Persönlichkeit würden diese zeichnen? Welche Ihrer frühen Erfahrungen spielten wohl nach Ansicht der Psychologen für Ihr gegenwärtiges Denken und Handeln eine Rolle? Welche Bedingungen in Ihrem heutigen Leben haben starken Einfluss auf Ihre Gedanken und Handlungsweisen? Was unterscheidet Sie von anderen Individuen, die in ähnlichen Situationen wie Sie stehen? Jetzt sind Sie in der Lage zu erkennen, wie jede Art von Persönlichkeitstheorie einen Rahmen bietet, vor dem Sie beginnen können, Ihre Antworten auf diese Fragen zu formulieren. Angenommen, es wäre wirklich an der Zeit, dass Sie ein psychologisches Portrait von sich erstellen sollten. Wo würden Sie anfangen?
ZWISCHENBILANZ 1 Welchem Zweck dienen die zehn klinischen Skalen des
MMPI? 2 Welchem Zweck dient das NEO Personality Inventory
(NEO-PI)? Abbildung 13.10: Eine Beispielkarte aus dem TAT. Welche Geschichte wollen Sie erzählen? Was lässt diese Geschichte über Ihre Persönlichkeit erkennen?
3 Welche drei Hauptmerkmale benutzen Kliniker, um
Antworten im Rorschach-Test zu interpretieren?
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Persönlichkeitstheorien: Typen und Traits Einige Theoretiker kategorisieren Menschen anhand des Alles-oder-Nichts-Prinzips in Typen, wobei angenommen wird, dass diese mit bestimmten charakteristischen Verhaltensweisen verknüpft sind. Andere Theoretiker halten Traits – Merkmale entlang kontiiuierlicher Dimensionen – für die Bausteine der Persönlichkeit. Das Fünf-Faktoren-Modell ist ein deskriptives System der Persönlichkeit, das die Beziehung zwischen gängigen Trait-Begriffen, theoretischen Konzepten und Persönlichkeitsskalen aufzeigt. Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen, dass Persönlichkeitseigenschaften teilweise erblich sind. Menschen erscheinen dann in ihrem Verhalten konsistent, wenn die Situationen im Hinblick auf relevante psychologische Merkmale definiert werden. Psychodynamische Theorien Freuds psychodynamische Theorie betont instinktive biologische Energien als Quellen der menschlichen Motivation. Zu den grundlegenden Konzepten der Freud’schen Theorie gehören die psychische Energie als treibende und lenkende Kraft hinter dem Verhalten, frühe Erfahrungen als entscheidende Determinanten der lebenslangen Persönlichkeit, psychologischer Determinismus und mächtige unbewusste Prozesse. Die Persönlichkeitsstruktur besteht aus dem Es, dem Über-Ich und dem vermittelnden Ich. Inakzeptable Impulse werden verdrängt, und Abwehrmechanismen des Ich werden entwickelt, um Angst zu verringern und das Selbstwertgefühl zu stärken. Theoretiker in der Nachfolge Freuds wie Adler, Horney und Jung betonten Ich-Funktionen und soziale Variablen stärker und wiesen den sexuellen Trieben eine weniger entscheidende Rolle zu. Für sie ist die Persönlichkeitsentwicklung ein lebenslanger Prozess. Humanistische Theorien Humanistische Theorien konzentrieren sich auf die Selbstverwirklichung – das Wachstumspoten zial des Individuums. Diese Theorien sind holistisch, dispositional, phänomenologisch und existenzialistisch.
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Aktuelle Theorien in der humanistischen Tradition konzentrieren sich auf die Lebensgeschichten von Personen. Soziale Lerntheorien und kognitive Theorien Theoretiker aus dem Bereich der sozialen Lerntheorien konzentrieren sich darauf, interindividuelle Unterschiede in Verhalten und Persönlichkeit als Folge von unterschiedlichen Verstärkungsgeschichten zu verstehen. Kognitive Theoretiker betonen interindividuelle Unterschiede bei der Wahrnehmung und der subjektiven Interpretation der Umwelt. Walter Mischel untersuchte die Ursprünge von Verhaltensweisen als Interaktionen von Personen und Situationen. Albert Bandura beschrieb den reziproken Determinismus zwischen Menschen, Umwelten und Verhaltensweisen. Nancy Cantors Theorie betont den Einfluss von Zielen, Wissen und Strategien auf das Verhalten von Menschen. Theorien des Selbst Theorien des Selbst konzentrieren sich auf die Bedeutung des Selbstkonzepts für das vollständige Verständnis der menschlichen Persönlichkeit. Das Selbstkonzept ist eine dynamische mentale Struktur, die persönliches und zwischenmenschliches Verhalten und Prozesse motiviert, interpretiert, organisiert, vermittelt und reguliert. Menschen zeigen Verhaltensweisen wie Selbstbeeinträchtigung, um das Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Kulturvergleichende Forschungen legen nahe, dass individualistische Kulturen zu einem independenten Verständnis des Selbst führen, wohingegen kollektivistische Kulturen zu einem interdependenten Verständnis des Selbst führen. Vergleich der Persönlichkeitstheorien Persönlichkeitstheorien unterscheiden sich hinsichtlich der Bedeutung, die sie Anlage vs. Umwelt; Lernprozessen vs. angeborenen Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens; vorangegangenen Ursachen, gegenwärtigen Verhaltensweisen oder zukünftigen Zielen; Bewusstem vs. Unbewusstem und Dispositionen vs. Situationen zumessen.
Schlüsselbegriffe
Jede Theorie leistet unterschiedliche Beiträge zum Verständnis der menschlichen Persönlichkeit.
Der NEO-PI und der BFQ sind neuere objektive Persönlichkeitstests, welche die fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit messen.
Persönlichkeitsdiagnostik Persönlichkeitscharakteristika werden mit objektiven und projektiven Tests gemessen.
Projektive Persönlichkeitstests erfordern von den Probanden eine Reaktion auf mehrdeutige Stimuli.
Der gängigste objektive Test, der MMPI-2, wird zur Diagnose klinischer Probleme eingesetzt.
Zwei wichtige projektive Tests sind der Rorschach-Test und der TAT.
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SCHLÜSSELBEGRIFFE Abwehrmechanismen des Ich (S. 518) Analytische Psychologie (S. 522) Angst (S. 519) Archetyp (S. 521) Es (S. 518) Fixierung (S. 517) Fünf-Faktoren-Modell (S. 509) Ich (S. 518) Kollektives Unbewusstes (S. 521) Konsistenzparadox (S. 512) Libido (S. 516) Mögliche Selbst (S. 532) Persönlichkeit (S. 504) Persönlichkeitstest (S. 539) Persönlichkeitstypen (S. 505) Projektiver Test (S. 542) Psychobiografie (S. 524) Psychodynamische Persönlichkeitstheorien (S. 515) Psychologischer Determinismus (S. 517)
Reziproker Determinismus (S. 528) Schüchternheit (S. 514) Selbst-Beeinträchtigung (S. 533) Selbstkonzept (S. 531) Selbstverwirklichung (S. 522) Selbstwertgefühl (S. 532) Selbstwirksamkeit (S. 528) Soziale Intelligenz (S. 529) Traits (S. 507) Über-Ich (S. 518) Unbedingte positive Wertschätzung (S. 522) Unbewusstes (S. 517) Verdrängung (S. 518)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Psychische Störungen ................. Was ist abweichend? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klassifikation psychischer Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ätiologie der Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
548 549 550 551 555
14.2 Angststörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
558 558 558 559 560 561 562
14.1.1 14.1.2 14.1.3 14.1.4
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6
Generalisierte Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Panikstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phobien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angststörungen: Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.3 Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Major Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolare Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen: Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschlechterunterschiede bei der Depression . . . . . . . . . . . . . . Suizid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
565 565 566 567 570 571
Psychologie im Alltag: Wie können wir das Wechselspiel von Anlage und Umwelt erkennen?. . . . . .
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14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5
14.4 Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.1 Borderline-Persönlichkeitsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.5 Somatoforme und dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5.1 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.5.2 Dissoziative Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.6 Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
573 573 574 576 576 577
14.6.1 Die Hauptformen der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.6.2 Ursachen der Schizophrenie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
579 580 582
Kritisches Denken im Alltag: Ist der Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit wirklich eine gute Verteidigungsstrategie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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14.7 Psychische Störungen in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7.1 Aufmerksamkeits-Defizit-Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.7.2 Autistische Störung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.8 Das Stigma der psychischen Erkrankung
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.............................................
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
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Psychi sc h e St ör u n gen
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ir beginnen mit den Worten einer 30-jährigen Schizophreniepatientin:
Ich möchte Ihnen zeigen, wie es ist, heutzutage an einer funktionalen Schizophrenie zu leiden, und welchen Problemen man sich mit meiner psychischen Erkrankung gegenübersieht.… Ich lebe ganz normal, und niemand erkennt, dass ich psychisch krank bin, außer ich erzähle es… Bevor ich die Medizin bekam, haben die Täuschungen einfach eine Geschichte aufgegriffen und sie nach Belieben verändert. In der Zeit, bevor ich Hilfe bekam, hatte ich das Gefühl, die Krankheit übernimmt mein Gehirn, ich weinte und wollte die Kontrolle über meinen Geist und mein Leben zurück. Was waren Ihre Reaktionen, als Sie die Worte dieser jungen Frau gelesen haben, ein Auszug eines Briefes an die Autoren des vorliegenden Buches? Wenn Sie ähnlich empfinden wie wir, dann fühlten Sie eine Mischung aus Traurigkeit über ihre missliche Lage; Freude über ihre Bereitwilligkeit, alles zu tun, um mit all den Problemen zurechtzukommen, die ihre psychische Erkrankung hervorruft; Zorn auf alle jene, die sie stigmatisieren, weil sie sich manchmal anders verhält; Hoffnung, dass sich, mit Hilfe von Medikamenten und Therapie, ihr Zustand verbessert. Dies sind nur ein paar der Gefühle, die Psychologen in Klinik und Forschung empfinden, wenn sie versuchen, psychische Störungen zu verstehen und zu behandeln. Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Beschaffenheit und Ursachen psychischer Störungen: was sie sind, wie sie sich entwickeln und wie wir ihre Ursachen erklären können. Das nächste Kapitel baut auf dieses Wissen auf, um Maßnahmen zur Behandlung und Prävention psychischer Störungen zu beschreiben. Forschungsergebnisse zeigen, dass beinahe 50 Prozent aller Erwachsenen im jungen oder mittleren Alter im Verlauf ihres Lebens bereits einmal an einer psychischen Störung gelitten haben (Kessler et al., 2005a). Daher werden wahrscheinlich viele von Ihnen beim Lesen dieses Textes unmittelbar von dem Wissen über Psychopathologie profitieren können. Fakten allein können jedoch nicht vermitteln, welchen schwerwiegenden Einfluss psychische Störungen auf das alltägliche Leben von Individuen und Familien haben. Versuchen Sie, während wir im Verlauf des Kapitels Kategorien von psychischen Störungen diskutieren, sich wirkliche Menschen vorzustellen, die Tag für Tag mit einer solchen Störung leben. Wir werden Ihnen ihre Aussagen und ihr Leben vor Augen führen, so wie
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es bei der Einleitung zu diesem Kapitel bereits geschehen ist. Wir beginnen mit einer Diskussion des Konzepts abweichenden Verhaltens.
Die Beschaffenheit psychischer Störungen
14.1
Haben Sie sich schon einmal große Sorgen gemacht? Sich depressiv oder ängstlich gefühlt, ohne wirklich zu wissen, warum? Angst vor etwas gehabt, das Ihnen, rational betrachtet, nicht schaden konnte? An Suizid gedacht? Alkohol getrunken oder Drogen genommen, um vor einem Problem zu flüchten? Beinahe jeder wird mindestens eine dieser Fragen mit „Ja“ beantworten, was bedeutet, dass bei fast jedem schon einmal Symptome einer psychischen Störung aufgetreten sind. Dieses Kapitel betrachtet die Bandbreite psychischer Funktionsweisen, die als krank oder abweichend betrachtet werden können und die häufig als Psychopathologie oder psychische Störung bezeichnet werden. Psychische Störungen beinhalten Beeinträchtigungen in Emotionen, Verhalten oder Denkprozessen, die zu persönlichem Leidensdruck führen oder die Fähigkeit einer Person blockieren, wichtige Ziele zu erreichen. Die Klinische Psychologie ist der psychologische Forschungsbereich, der sich direkt mit dem Verständnis der Grundlagen individueller Pathologien des Geistes, der Emotionen und des Verhaltens beschäftigt. Zu Beginn dieses Abschnitts fragen wir nach einer präziseren Definition von abweichendem Verhalten und betrachten anschließend das Problem der Objektivität. Dann untersuchen wir, wie sich diese Definition im Verlauf von Hunderten von Jahren menschlicher Geschichte entwickelt hat.
Wie stellen Sie sich das Leben psychisch erkrankter Menschen vor?
14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
14.1.1 Was ist abweichend? Was bedeutet es zu sagen, jemand zeige abweichendes Verhalten oder leide an einer psychischen Störung? Wie entscheiden Psychologen und andere Personen in der klinischen Praxis, was nicht der Norm entspricht? Ist es immer klar erkennbar, wenn sich Verhalten vom Normalen ins Abweichende bewegt? Die Beurteilung, dass jemand an einer psychischen Störung leidet, basiert in der Regel auf der Bewertung des individuellen Verhaltens durch Personen mit bestimmter Autorität und Macht. Die Begriffe, die gewählt werden, um das Phänomen zu beschreiben – geistige Störung, Geisteskrankheit, abweichendes Verhalten oder Abnormität –, hängen von der speziellen Perspektive, der Ausbildung und dem kulturellen Hintergrund der bewertenden Person sowie von der Situation und dem Status der beurteilten Person ab. Betrachten wir sieben Kriterien, anhand derer man Verhalten als „abweichend“ kennzeichnen könnte (DSM-IV-TR, 2000; Rosenhan & Seligman, 1989). 1 Leidensdruck oder Behinderung. Eine Person
empfindet persönlichen Leidensdruck oder funktionale Einschränkungen in psychischer Hinsicht, die eine Verschlechterung des physischen oder psychischen Zustandes oder einen Verlust der Handlungsfreiheit hervorrufen. Beispielsweise könnte ein Mann, der sein Haus nicht verlassen kann, ohne anzufangen zu weinen, die Erfordernisse des alltäglichen Lebens nicht bewältigen. 2 Fehlanpassungen. Eine Person verhält sich so,
dass sie das Erreichen eigener Ziele verhindert, sich nicht um das eigene Wohlbefinden kümmert, andere vom Erreichen ihrer Ziele abhält oder den Bedürfnissen der Gesellschaft nicht gerecht wird. Eine Frau, die so viel trinkt, dass sie keiner geregelten Arbeit nachgehen kann oder andere durch ihre Trunkenheit gefährdet, zeigt schlecht angepasstes Verhalten. 3 Irrationalität. Eine Person redet oder verhält
sich derart, dass es anderen irrsinnig oder unverständlich erscheint. Ein Mann, der auf Stimmen antwortet, die in der Realität nicht existieren, verhält sich irrational. 4 Unberechenbarkeit. Eine Person verhält sich un-
berechenbar oder sprunghaft wechselnd von Situation zu Situation, so als hätte sie keine Kontrolle. Ein Kind, das ohne erkennbaren Grund mit der Faust eine Fensterscheibe einschlägt, verhält sich unberechenbar.
5 Außergewöhnlichkeit und statistische Selten-
heit. Eine Person zeigt Verhaltensweisen, die statistisch gesehen selten vorkommen und die sozialen Standards dessen, was akzeptabel oder wünschenswert ist, verletzen. Seltenes Vorkommen allein ist hier jedoch nicht ausreichend, um dieses Verhalten als abweichend zu beurteilen. Beispielsweise ist Genialität extrem selten, dennoch wird sie als wünschenswert betrachtet. Anderseits ist auch eine extrem geringe Intelligenz sehr selten, gilt jedoch nicht als wünschenswert und wird somit oft als abweichend bezeichnet. 6 Unbehagen bei Beobachtern. Eine Person ruft
Unbehagen bei anderen hervor, die sich durch ihr Verhalten in irgendeiner Form bedroht oder beunruhigt fühlen. Eine Frau, die mitten auf der Straße läuft und dabei laut mit sich selbst redet, ruft bei den anderen Verkehrsteilnehmern, die versuchen müssen, um sie herumzufahren, Unbehagen hervor. 7 Verletzung moralischer und gesellschaftlicher
Normen. Eine Person verletzt die Erwartungen, wie man sich hinsichtlich sozialer Normen zu verhalten hätte. Nach diesem Kriterium könnten Menschen als abweichend gelten, wenn sie beispielsweise nicht arbeiten wollen oder nicht an Gott glauben. Dieses Kriterium des abweichenden Verhaltens wird auch in juristischen Kontexten relevant, ein Themenbereich, den wir in dem Kasten Psychologie im Alltag weiter unten in diesem Kapitel behandeln werden. Erkennen Sie, warum die meisten dieser Indikatoren für abweichendes Verhalten nicht für alle Beobachter offensichtlich sind? Betrachten Sie das letzte Kriterium. Sind Sie psychisch gestört, wenn Sie nicht arbeiten wollen, selbst wenn dies nach den Normen der Gesellschaft nicht normal ist? Oder betrachten Sie ein ernsteres Symptom: In unserer Kultur gelten Halluzinationen als „schlecht“, weil sie als Zeichen einer psychischen Störung betrachtet werden. In anderen Kulturen, in denen Halluzinationen als mystische Visionen mit spiritueller Kraft betrachtet werden, sind sie „gut“. Wessen Beurteilung ist richtig? Am Ende dieses Kapitels werden wir einige negative Folgen und Gefahren solcher sozial regulierter Beurteilungen und damit verbundener Entscheidungen betrachten. Wir fühlen uns sicherer dabei, ein Verhalten als abweichend zu beurteilen, wenn mehr als nur einer der Indikatoren vorhanden ist. Je extremer und häufiger die Indikatoren auftreten, desto sicherer können wir
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Psychi sc h e St ör u n gen
sein, dass es sich um eine psychische Störung handelt. Keines dieser Kriterien ist eine notwendige Bedingung, die von allen psychischen Störungsbildern geteilt wird. Beispielsweise erschlug ein Student der Stanford Universität seinen Mathematikprofessor mit einem Hammer und befestigte anschließend ein Schild an der Tür mit der Aufschrift „Heute keine Sprechstunde“. Er zeigte während des Prozesses keinerlei Anzeichen von Schuldgefühlen oder Gewissensbissen. Dennoch würden wir auch ohne das Vorhandensein eines psychischen Leidensdrucks nicht zögern, sein Verhalten als psychisch gestört zu bezeichnen.
Ebenso ist es wahr, dass kein einzelnes Kriterium ausreichend ist, um in allen Fällen normales Verhalten von abweichendem Verhalten zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen Normalität und Abweichung ist weniger der Abstand zwischen zwei voneinander unabhängigen Verhaltensformen als vielmehr ein gradueller Unterschied, der das Ausmaß erfasst, in dem die Handlungen einer Person dem Kriterium einer psychischen Störung entsprechen. Psychische Störungen betrachtet man am besten als ein Kontinuum, das zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Erkrankung liegt, wie es in Abbildung 14.1 dargestellt ist. Wie wohl fühlen Sie sich mit dieser Vorstellung von Normabweichung? Obwohl die genannten Kriterien ziemlich klar erscheinen, stehen Psychologen immer noch vor dem Problem der Objektivität.
14.1.2 Das Problem der Objektivität
Abbildung 14.1: Das Kontinuum psychischer Gesundheit. Da die Unterscheidung zwischen normal und abweichend eher relativ als absolut ist, stellt man sich psychische Gesundheit am besten als Kontinuum vor. An einem Ende befinden sich Verhaltensweisen, die eine optimale psychische Gesundheit beschreiben; am anderen Ende stehen Verhaltensweisen, die eher eine geringe psychische Gesundheit kennzeichnen. Dazwischen liegen, schrittweise zunehmend, Ausprägungen fehlangepassten Verhaltens.
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Die Entscheidung, jemanden als psychisch gestört oder abweichend einzustufen, beruht immer auf einer Beurteilung von Verhalten: Viele Forscher sind bestrebt, solche Urteile objektiv und frei von Verzerrungen zu treffen. Bei manchen psychischen Störungen wie Depression oder Schizophrenie gelingt es oft leicht, die Diagnose so zu gestalten, dass sie der Norm der Objektivität genügt. Andere Fälle sind problematischer. Wie wir bei der Beschäftigung mit Psychologie immer wieder gesehen haben, ist die Bedeutung des Verhaltens von seinem Inhalt und seinem Kontext gemeinsam determiniert. Dieselbe Handlung kann in verschiedenen Kontexten eine sehr unterschiedliche Bedeutung besitzen. Nehmen wir beispielsweise einen Kuss zwischen zwei Männern. In Deutschland könnte man dies als Kennzeichen einer Beziehung zwischen zwei homosexuellen Männern interpretieren, in Frankreich vielleicht als eine Form der Begrüßung oder auf Sizilien als einen „Todeskuss“ der Mafia. Die Bedeutung eines Verhaltens hängt immer vom Kontext ab. Lassen Sie uns betrachten, warum Objektivität ein so wichtiges Thema ist. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen Personen andere als abweichend oder abnormal beurteilten, um ihre eigene moralische oder politische Macht zu erhalten. Nehmen wir einen Bericht aus einer medizinischen Fachzeitschrift des Jahres 1851 mit dem Titel „Die Krankheiten und körperlichen Besonderheiten der Negerrasse [The Diseases and Physical Peculiarities of the Negro Race]“. Der Autor des Artikels, Dr. Samuel Cartwright, wurde
14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
damals zum Vorsitzenden der „Louisiana Medical Asscociation“ ernannt, um die „seltsamen“ Bräuche der afroamerikanischen Sklaven zu untersuchen. „Nicht widerlegbare wissenschaftliche Beweise“ wurden angesammelt, um die Sklaverei zu rechtfertigen. Viele „Krankheiten“, die vorher den Weißen gänzlich unbekannt waren, wurden entdeckt. Ein Ergebnis war, dass Schwarze angeblich an einer Sinneskrankheit litten, die sie unempfindlich „gegenüber Schmerzen mache, wenn sie geschlagen wurden“ (es ist also nicht nötig, an Peitschenhieben zu sparen). Das Komitee erfand ebenso die Krankheit der Drapetomanie, des wahnhaften Verlangens nach Freiheit – eine geistige Krankheit, die bestimmte Sklaven dazu brachte, von ihren Besitzern wegzulaufen. Geflohene Sklaven mussten also wieder einfangen werden, damit ihre Krankheit angemessen behandelt werden konnte (Chorover, 1981)! Die Bezeichnung einer Person als „abweichend oder abnorm“ führt dazu, dass Menschen spätere Verhaltensweisen derart interpretieren, dass sich dieses Urteil bestätigt. David Rosenhan (1973, 1975) sowie seine Kollegen haben gezeigt, dass es unter bestimmten Umständen unmöglich ist, an einem „Ort psychisch Kranker“ als „psychisch gesund“ beurteilt zu werden.
AUS DER FORSCHUNG Rosenhan und sieben andere psychisch gesunde Personen erlangten Zugang zu verschiedenen psychiatrischen Kliniken, indem sie vorgaben, unter einem bestimmten Symptom zu leiden: Halluzinationen. Alle acht Pseudopatienten wurden bei ihrer Aufnahme entweder als paranoid, schizophren oder manisch-depressiv diagnostiziert. Einmal aufgenommen, verhielten sie sich in jeder Hinsicht normal. Rosenhan beobachtete jedoch, dass eine psychisch gesunde Person an einem Ort für psychisch Kranke mit hoher Wahrscheinlichkeit als psychisch gestört eingestuft wird und ihre Verhaltensweisen derart interpretiert werden, dass sie in diesen Kontext passen. Wenn die Pseudopatienten rational versuchten, ihre Situation mit den Mitarbeitern zu diskutieren, wurde über sie berichtet, sie zeigten ein „intellektualisiertes“ Abwehrverhalten. Das Aufschreiben ihrer Notizen über ihre Beobachtungen wurde dabei als reine „Schreibbeschäftigung“ eingestuft. Die Pseudopatienten blieben durchschnittlich beinahe drei Wochen in Behandlung, und keiner wurde von den Mitarbeitern als gesund erkannt. Als sie endlich entlassen wurden – nur mit Hilfe von Lebensgefährten oder Kollegen – war ihre Entlassungsdiagnose immer noch „Schizophrenie“, aber „in Remission“, das heißt, die Symptome waren nicht mehr aktiv.
Rosenhans Forschung belegt, wie sich die Beurteilung von abweichendem Verhalten auf Faktoren stützt, die hinter dem eigentlichen Verhalten liegen. Nach Ansicht des Psychiaters Thomas Szasz gibt es keine psychische Störung – sie ist ein „Mythos“ (1974, 2004). Szasz argumentiert, dass die Symptome, die als Belege für psychische Erkrankungen herangezogen werden, bloße medizinische Etiketten sind, die eine professionelle Einmischung bei sozialen Problemen erlauben, wenn etwa Personen soziale Normen verletzen. Einmal mit diesem Etikett versehen, kann man diese Personen hinsichtlich ihres Problems, „anders“ zu sein, entweder wohlwollend oder streng behandeln, ohne dabei die existierenden gesellschaftlichen Umstände in Frage zu stellen. Nur wenige Experten würden so weit gehen, denn in erster Linie liegt das Interesse von Forschung und Therapie im Verstehen und der Milderung persönlichen Leidens. Bei den meisten Störungen, die wir in diesem Kapitel beschreiben, erleben die Betroffenen selbst ihr eigenes Verhalten als abweichend oder fehlangepasst. Dennoch lässt diese Diskussion erkennen, dass es im Großen und Ganzen keine objektive Erfassung von abweichendem Verhalten geben kann. Wir werden die verschiedenen Typen psychischer Störungen nacheinander beschreiben, und Sie sollten dabei versuchen zu verstehen, warum Kliniker die Symptommuster nicht nur für Überschreitungen sozialer Normen halten, sondern als Verhaltensmuster mit ernsten Konsequenzen für das einzelne Individuum ansehen.
14.1.3 Die Klassifikation psychischer Störungen Warum ist es hilfreich, ein Klassifikationssystem für psychische Störungen zu haben? Welche Vorteile gewinnt man, wenn man gestörtes Verhalten nicht nur allgemein als solches einordnet, sondern zwischen verschiedenen Ausprägungen abweichenden Verhaltens unterscheidet? Eine psychologische Diagnose gibt einer bestimmten gestörten Verhaltensweise eine spezifische Benennung, indem sie das beobachtete Verhaltensmuster in ein bewährtes Diagnosesystem einordnet. Eine solche Diagnose ist in vielerlei Hinsicht schwieriger zu stellen als eine medizinische Diagnose. Ein Arzt kann sich bei seiner Diagnose auf körperliche Befunde verlassen, wie zum Beispiel Röntgenaufnahmen, Bluttests und Gewebeentnahmen, und die diagnostische Entscheidung damit stützen. Eine psychologische Diagnose dagegen erfolgt durch
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Psychi sc h e St ör u n gen
Interpretation der beobachtbaren Handlungen einer Person. Um die Übereinstimmung der Diagnosen verschiedener Therapeuten zu erhöhen, wurde ein Klassifikationssystem entwickelt, das präzise Symptombeschreibungen und andere bedeutsame Kriterien bereitstellt, die dem Therapeuten zu entscheiden helfen, ob das Verhalten einer Person als Beleg für eine bestimmte psychische Störung gelten kann. Um möglichst brauchbar zu sein, sollte ein Klassifikationssystem die drei folgenden Eigenschaften aufweisen: Eine klare Fachterminologie. Um eine schnelle und klare Kommunikation zwischen Praktikern oder Forschern im Bereich der klinischen Psychologie zu erleichtern, muss das System über eine eindeutige Terminologie verfügen, über deren Bedeutung sich alle Beteiligten einig sind. Eine diagnostische Kategorie, wie beispielsweise die Depression, fasst eine große und komplexe Menge an Informationen zusammen. Dazu gehören die charakteristischen Symptome der Krankheit ebenso wie ihr typischer Verlauf. In Kliniken und Krankenhäusern erlaubt ein diagnostisches Klassifikationssystem den Fachleuten einen effektiveren Informationsaustausch über die betroffenen Personen. Forschern ermöglicht es eine übereinstimmende Definition des Forschungsgegenstandes bei der Untersuchung bestimmter Aspekte psychischer Störungen oder der Evaluation von Behandlungsmethoden. Verständnis der Kausalität. Im Idealfall sollte die Diagnose einer spezifischen Störung die Ursache der Symptome verdeutlichen. Wie bei körperlicher Erkrankung auch können die gleichen Symptome von unterschiedlichen Ursachen hervorgerufen werden. Ein Ziel eines Klassifikationssystems besteht immer darin, Hinweise zu geben, warum spezifische Muster von Symptomen (Syndrome) in der klinischen Praxis als Indikator spezifischer Störungen interpretiert werden sollten. Behandlungsplan. Eine Diagnose sollte auch verschiedene Behandlungsmöglichkeiten nahe legen, die zur Behandlung einer spezifischen Störung in Betracht gezogen werden können. Forscher und Ärzte haben herausgefunden, dass bestimmte Therapieverfahren bei manchen Störungen bessere Erfolge erzielen als bei anderen. Bestimmte Medikamente, die beispielsweise sehr gut dazu geeignet sind, Schizophrenie zu
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behandeln, sind nicht hilfreich bei der Behandlung einer Depression und können hier sogar großen Schaden anrichten. Durch die Weiterentwicklung unseres Wissens über die Spezifität und Effektivität bestimmter Behandlungsmethoden wird eine schnelle und sichere Diagnose immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Historische Perspektiven In der Vergangenheit haben sich die Menschen durchweg vor psychischen Störungen gefürchtet und sie häufig in Verbindung mit dem Bösen gebracht. Diese Angst war die Ursache dafür, dass die Menschen aggressiv und entschieden auf jede Verhaltensweise reagierten, die ihnen seltsam oder bizarr erschien. Menschen, die solche Verhaltensweisen aufzeigten, landeten im Gefängnis oder wurden Opfer extremer medizinischer Behandlungsweisen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts betrachtete man in westlichen Zivilisationen psychisch erkrankte Personen als geistlose Bestien, die man nur durch Fesseln und körperliche Züchtigung bändigen konnte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tauchte eine neue Sichtweise der Ursachen abweichenden Verhaltens auf – die Menschen begannen, ihre Mitmenschen mit psychischen Problemen als krank wahrzunehmen. Sie wurden nicht mehr als besessen oder unmoralisch betrachtet. In Folge dessen wurden nach und nach Reformen im Bereich der Einrichtungen für psychisch Kranke durchgeführt. Philippe Pinel (1745–1826) war einer der ersten Ärzte, der – ausgehend von der Annahme, dass Denkstörungen, emotionale Störungen
Die Hexenprozesse von Salem waren ein verzweifelter Versuch der Schuldzuweisung für ein beängstigendes und seltsames Verhalten innerhalb einer Gemeinde puritanischer Siedler. Die Kolonisten gingen davon aus, dass die Symptome ein Werk des Teufels seien, der sich mithilfe der Machenschaften irdischer Hexen der Gedanken und Körper junger Frauen bemächtigt habe.
14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
oder Verhaltensstörungen in vielerlei Hinsicht ähnlich zu beurteilen sind wie organische Krankheiten – ein Klassifikationssystem psychischer Probleme entwickelte. Nach dieser Klassifikation war jede Störung durch spezifische Symptome gekennzeichnet, die eine klare Abgrenzung zu anderen Störungen und zu einem gesunden Geisteszustand ermöglichten. Störungen wurden anhand der Muster beobachteter Symptome, der den Beginn der Störung kennzeichnenden Umstände, des natürlichen Verlaufs der Störung und ihrer Reaktion auf Behandlungsmaßnahmen eingeordnet. Solche Klassifikationssysteme waren entsprechend der gängigen biologischen Klassifikationssysteme gestaltet, die Naturwissenschaftler verwenden, und waren dazu gedacht, Ärzten die Identifikation häufiger Störungen zu erleichtern. 1896 entwickelte der deutsche Psychiater Emil Kraepelin (1855–1926) das erste umfassende Klassifikationssystem psychischer Störungen. Er war davon überzeugt, dass psychische Probleme eine physische Ursache haben, und gestaltete den Prozess der Diagnose und Klassifikation einer psychischen Störung nach dem Muster medizinischer Diagnosen. Diese Analogie ist bis heute in dem diagnostischen System erhalten geblieben, dem wir uns nun zuwenden.
DSM-IV-TR Eines der weltweit verbreitetsten Klassifikationssysteme ist das von der American Psychiatric Association entwickelte Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM). Die im Jahr 2000 publizierte Ausgabe ist eine revidierte Version der vierten Auflage (DSM-IV, 1994). Sie ist bei Forschern und Ärzten unter dem Namen DSM-IV-TR bekannt („TR“ steht für „text revision“) und klassifiziert, definiert und beschreibt über 200 psychische Störungen. Die aktuellste deutsche Ausgabe heißt ebenfalls DSM-IV-TR und stammt aus dem Jahre 2003 (laut Ankündigung der zuständigen Organisation ist mit einer Neuauflage als DSM-V nicht vor 2011 zu rechnen). Neben dem DSM findet in vielen Ländern auch ein weiteres Klassifikationssystem Anwendung, dessen aktuelle deutschsprachige Ausgabe das ICD-10-GM Version 2004 ist. Das ICD ist weniger forschungs- und verhaltensorientiert als das DSM und klassifiziert neben psychischen Störungen auch körperliche Erkrankungen, weshalb es in Kliniken und anderen Institutionen weite Verbreitung besitzt. Im DSM-IV-TR finden sich die korrespondierenden Diagnoseschlüssel zum ICD-10. Um die diagnostischen Schwierigkeiten zu verringern, die durch unterschiedliche theoretische Ansätze
zu psychischen Störungen bedingt sind, konzentriert sich das DSM-IV-TR hauptsächlich auf die Beschreibung von Symptomen und Störungsverläufen und weniger auf die Theorien der Ätiologie oder Behandlungsmethoden. Die ausschließlich beschreibende Terminologie erlaubt Ärzten und Forschern die Verwendung einer gemeinsamen Sprache, um Probleme zu beschreiben. Gleichzeitig bleibt ausreichend Raum für unterschiedliche Auffassungen darüber, welche theoretischen Modelle die zugrunde liegenden Probleme am besten erklären. Die erste Version des DSM erschien 1952 (DSM-I) und nannte einige Dutzend psychische Störungen. DSM-II, das 1968 vorgestellt wurde, war in seinem Diagnosesystem überarbeitet worden, um eine bessere Passung mit dem bereits genannten, sehr verbreiteten Klassifikationssystem herzustellen, der von der Weltgesundheitsorganisation WHO entwickelten International Classification of Diseases (ICD). Die vierte Version des DSM (DSM-IV, 1994) erschien nach einigen Jahren intensiver Arbeit von Expertenkomitees. Bevor die Änderungen (gegenüber dem DSM-III-Revised, das 1987 erschien) vorgenommen wurden, überprüften die Mitglieder der Komitees große Bestände an Forschungsarbeiten im Bereich psychischer Störungen und prüften vorgeschlagene Veränderungen auf ihre Brauchbarkeit im klinischen Kontext. Das DSM-IV ist gleichzeitig kompatibel mit der zehnten Auflage des ICD. Die im Jahr 2000 erschienene englischsprachige Überarbeitung (deutsch 2003) des DSM-IV (DSM-IVTR) enthält neue Forschungsergebnisse und Revisionen des Textes, jedoch keine Veränderungen am Klassifikationssystem des DSM-IV. Um die Ärzte zu ermutigen, bei ihrer Diagnose die psychischen, sozialen und körperlichen Symptome, die im Zusammenhang mit den Störungen stehen könnten, zu berücksichtigen, verwendet das DSM-IVTR Achsen, die Informationen über all diese Faktoren darlegen ( Tabelle 14.1). Achse I enthält die bedeutsamsten klinischen Störungen. Sie beschreibt auch alle Störungen, die bereits in der Kindheit auftreten, mit Ausnahme von geistiger Behinderung. Auf Achse II werden geistige Behinderungen und Persönlichkeitsstörungen aufgeführt. Diese Probleme können zusammen mit Störungen, die auf Achse I genannt sind, auftreten. Achse III beinhaltet medizinische Begleitumstände, wie zum Beispiel Diabetes, die unter Umständen relevant für das Verstehen oder die Behandlung der Störungen sind, die auf Achse I oder Achse II aufgeführt sind. Achse IV und Achse V bieten zusätzliche Informationen, die für die Planung der Behandlung oder die Prognose des Krankheitsverlaufs
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Psychi sc h e St ör u n gen
Tabelle 14.1
Die fünf Achsen des DSM-IV-TR Achse
Informationsart
Beschreibung
Achse I
Klinische Störungen/andere klinisch Diese Störungen beinhalten Symptome oder Muster verhaltensbezogener relevante Probleme oder psychologischer Probleme, die im Allgemeinen entweder schmerzhaft oder funktionsbehindernd sind. Eingeschlossen sind Störungen, die im Kleinkindalter, der Kindheit oder der Jugend auftreten.
Achse II
Persönlichkeitsstörungen/geistige Behinderung
Hier handelt es sich um nicht angemessene Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster.
Achse III
Medizinische Krankheitsfaktoren
Diese Achse erfasst körperliche Probleme, die bedeutsam für das Verständnis oder die Behandlung der auf Achse I und Achse II eingeordneten Störung sein können.
Achse IV
Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme
Diese Achse erfasst psychosoziale oder umgebungsbedingte Stressoren, die einen Einfluss auf Diagnose und Behandlung und die Wahrscheinlichkeit der Genesung haben können.
Achse V
Globale Erfassung des Funktionsniveaus
Diese Achse erfasst die allgemeine Funktionsfähigkeit des Patienten im psychischen, sozialen und beruflichen Bereich.
(die Vorhersage zukünftiger Veränderungen) wichtig sein können. Achse IV erfasst Probleme, die sich aus den Beziehungen und dem Umfeld der Patienten ergeben können. Solche Probleme können dazu beitragen, deren Stressreaktionen zu erklären oder ihre Ressourcen bei der Stressbewältigung einzuschätzen. Auf Achse V erfolgt eine allgemeine Einschätzung des Patienten hinsichtlich seiner Funktionstüchtigkeit. Zu einer vollständigen Diagnose im Sinne des DSM-IV-TR-Systems gehört die Berücksichtigung jeder der fünf Achsen. In diesem Kapitel werden wir jeweils Schätzungen der Häufigkeit abgeben, mit welcher Menschen an bestimmten psychischen Erkrankungen leiden. Diese Schätzungen sind das Ergebnis von Forschungsprojekten, in welchen die Krankengeschichten großer Stichproben der Bevölkerung erhoben werden. Zahlen für die Prävalenz verschiedener Erkrankungen sind für Ein-Jahres- und Lebenszeit-Perioden erhältlich (Kessler et al., 2005a, 2005b). Die Werte, auf die wir meistens zurückgreifen, entstammen der National Comorbidity Study (NCS), für die 9.282 erwachsene USBürgerinnen und -Bürger über 18 Jahren befragt wurden (Kessler et al., 2005a). Es ist wichtig zu betonen, dass dieselben Menschen oft an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben gleichzeitig an mehr als einer Erkrankung litten; dieses Phänomen wird als Komorbidität bezeichnet. („Morbidität“ bezeichnet das Auftreten von Krankheiten; „ko-“ die Gleichzeitigkeit.)
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Die NCS ergab, dass 45 Prozent derjenigen, die an einer Krankheit litten, innerhalb eines Jahres tatsächlich an zwei oder mehr Störungen erkrankten. Die Forschung hat inzwischen begonnen, sich intensiv mit den Komorbiditätsmustern verschiedener psychischer Erkrankungen zu beschäftigen (Kessler et al., 2005b).
Die Entwicklung der diagnostischen Kategorien Die diagnostischen Kategorien und die Art und Weise, in der sie geordnet und dargeboten werden, veränderten sich mit jeder neuen Version des DSM. Gründe hierfür liegen in den Veränderungen der Mehrheit von Expertenmeinungen, was genau eine psychische Störung ausmacht und wo die Grenzen zwischen verschiedenen Formen von Störungen zu ziehen sind. Sie geben auch Veränderungen in der öffentlichen Meinung wieder, was die Einordnung eines Verhaltens als abweichend begründet. Mit jeder Überarbeitung des DSM wurden einige Kategorien entfernt und andere hinzugefügt. Mit der Einführung des DSM-III im Jahre 1980 wurde beispielsweise die Unterscheidung zwischen neurotischen und psychotischen Störungen aufgegeben. Neurotische Störungen, auch als Neurosen bezeichnet, wurden ursprünglich als relativ verbreitete psychische Probleme begriffen, bei denen eine Person keine Anzeichen einer Gehirnauffälligkeit aufwies,
14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
nicht durch stark irrationales Denken auffiel und nicht grundlegende gesellschaftliche Normen verletzte. Aber die Person stand unter subjektivem Leidensdruck, zeigte selbstschädigende Verhaltensweisen oder unangemessene Bewältigungsstrategien. Psychotische Störungen, auch als Psychosen bezeichnet, ließen sich von Neurosen hinsichtlich der Art ihrer Merkmale und des Schweregrades der mit ihnen verbundenen Probleme abgrenzen. Man glaubte, dass psychotisches Verhalten stark von den gesellschaftlichen Normen abweicht und von einer tiefen Störung des rationalen Denkens, der Emotionen und der Denkprozesse begleitet wird. Das für die Erstellung des DSM-III zuständige Beratungsgremium gelangte zu der Überzeugung, dass die Begriffe Neurose und Psychose in ihrem Bedeutungsgehalt zu allgemein geworden waren, um als diagnostische Kategorien noch sinnvoll zu sein. (Dennoch werden sie von vielen Psychiatern und Psychologen weiterhin verwendet, um den allgemeinen Störungsgrad einer Person festzulegen.) Über die verschiedenen Ausgaben des DSM hinweg wurden auch einzelne Diagnosen aufgenommen und wieder entfernt. Eines der besten Beispiele hierfür ist Homosexualität. Wie Sie sich vielleicht aus Kapitel 11 erinnern, stimmte die American Psychiatric Association 1973 für eine Streichung der Homosexualität von der Liste psychischer Störungen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde Homosexualität im DSM als echte psychische Störung aufgeführt. Die Meinung der Experten änderte sich, als Forschungsergebnisse die allgemein gute psychische Gesundheit von Schwulen und Lesben belegten. Homosexualität wird nun einfach als eine Variante sexueller Ausdrucksformen betrachtet. Sie ist für die Diagnose nach dem DSM-IV-TR nur noch relevant, wenn eine Person ein anhaltendes und merkliches Leiden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung aufzeigt. Dieses diagnostische Kriterium könnte natürlich genauso gut auch auf verzweifelte Heterosexuelle zutreffen. Ein Kritikpunkt an früheren Ausgaben des DSM bezog sich darauf, dass kulturellen Variationen im Vorkommen verschiedener psychischer Störungen keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Im DSM-IV-TR enthalten die Beschreibungen der meisten psychischen Störungen Informationen über kulturspezifische Charakteristika. Zusätzlich werden in einem Anhang 25 auf bestimmte Kulturbereiche begrenzte Syndrome beschrieben: „wiederholt auftretende, auf bestimmte Orte beschränkte abweichende Verhaltensweisen oder beunruhigende Erfahrungen, die mit bestimmten diagnostischen Kategorien von DSM-IV verbunden sein können oder auch nicht“ (DSM-IV-TR, 2003, S. 930). Hier sind einige Beispiele:
Bouffée delirante. „Dieser französische Ausdruck bezieht sich auf einen plötzlichen Ausbruch agitierten und aggressiven Verhaltens, ausgeprägter Verwirrung und psychomotorischer Erregtheit.“ (DSM-IV-TR, 2003, S. 932); berichtet aus Westafrika und Haiti. Koro. „Ein Begriff, wahrscheinlich malaiischer Herkunft, der Episoden plötzlicher und intensiver Furcht beschreibt, dass sich der Penis (bei Frauen Vulva und Brustwarzen) in den Körper zurückzieht und möglicherweise den Tod verursacht.“ (DSM-IV-TR, 2003, S. 933); berichtet aus dem Süden und Osten Asiens. Taijin kyofusho. „Dieses Syndrom bezieht sich auf die intensive Angst einer Person, dass ihr Körper, seine Teile oder seine Funktionen anderen Personen nicht gefallen, sie unbehaglich stimmen oder ihnen in Erscheinungsbild, Geruch, Gesichtsausdruck oder Bewegungen unangenehm sind.“ (DSM-IV-TR, 2003, S. 936); berichtet aus Japan. Wenn wir die wichtigsten Formen psychischer Störungen beschreiben, sollten wir uns daran erinnern, dass nicht alle Kulturen dieselben Verhaltensweisen als normal oder abweichend einstufen. Bevor wir uns den Ursachen psychischer Erkrankungen zuwenden, möchten wir auf einen Aspekt der Klassifikation hinweisen, der sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Früher wurden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft mit dem Namen ihrer Krankheit etikettiert. Kliniker sprachen etwa von „Schizophrenen“ oder „Phobikern“. Das war bei körperlichen Krankheiten nie der Fall – niemand bezeichnete Menschen, die an Krebs erkrankten, als „Krebser“. Entsprechend achten behandelnde wie forschende Ärzte inzwischen darauf, die Person von der Diagnose zu trennen. Menschen leiden an Schizophrenie oder Phobien, genau wie sie an Krebs oder der Grippe leiden. Dahinter steht die Hoffnung, dass nach der richtigen Behandlung die Diagnose nicht mehr auf den betroffenen Menschen zutrifft.
14.1.4 Die Ätiologie der Psychopathologie Der Begriff Ätiologie bezieht sich auf die Faktoren, die psychische oder medizinische Probleme verursachen oder zu ihrer Entwicklung beitragen. Wenn man weiß, warum eine psychische Störung auftritt, wo ihre Ursa-
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chen liegen und wie sie das menschliche Denken, Fühlen und Verhalten beeinflusst, hilft dies vielleicht, neue Behandlungswege zu finden und ihr, im Idealfall, vorzubeugen. Ein wichtiger Teil unserer Diskussion der einzelnen Störungen wird die Analyse kausaler Zusammenhänge sein. Hier stellen wir nun zwei allgemeine Kategorien kausaler Faktoren vor: biologische Faktoren und psychologische Faktoren.
Biologische Ansätze Aufbauend auf dem Erbe des medizinischen Modells nehmen Vertreter moderner biologischer Ansätze an, dass psychische Störungen direkt auf die ihnen zugrunde liegenden biologischen Faktoren zurückgeführt werden können. Sie untersuchen daher häufig Strukturen und biochemische Prozesse des Gehirns sowie die Einflüsse genetischer Faktoren. Das Gehirn ist ein komplexes Organ, dessen vielfach verknüpfte Komponenten in einem empfindlichen Gleichgewicht stehen. Bereits kleine Veränderungen in den chemischen Botenstoffen – den Neurotransmittern – oder im Gewebe können bedeutsame Effekte hervorrufen. Solche Veränderungen können beispielsweise durch genetische Faktoren, Hirnverletzungen oder Infektionen verursacht werden. In vorangegangenen Kapiteln haben wir gesehen, dass der technologische Fortschritt bei den bildgebenden Verfahren Experten erlaubt, die Struktur des Gehirns und bestimmte chemischen Prozesse beim lebenden Individuum auch ohne operative Eingriffe sehen zu können. Mithilfe dieser Techniken entdecken Forscher neue Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und spezifischen Anomalien des Gehirns. Zusätzlich können Forscher durch die Weiterentwicklung der Gentechnik in immer größerem Maß Verbindungen zwischen spezifischen Genen und dem Auftreten psychischer Störungen erkennen. Wir werden im Verlauf dieses Kapitels immer wieder einen Blick auf diese biologischen Erklärungsansätze werfen, um die verschiedenen Ausprägungen von Störungen zu verstehen.
Psychologische Ansätze Psychologische Ansätze konzentrieren sich auf den Einfluss psychischer und sozialer Faktoren auf die Entwicklung einer Störung. Diese Ansätze sehen die Wurzeln psychischer Störungen in persönlichen Erfahrungen, Traumata, Konflikten und Umweltfaktoren. Wir werden die vier dominierenden Modelle skizzieren: das psychodynamische Modell, das behaviorale
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Modell, das kognitive Modell sowie das soziokulturelle Modell. Psychodynamisches Modell. Ähnlich wie beim biologischen Ansatz geht auch das psychodynamische Modell davon aus, dass die Ursachen psychischer Störungen im Inneren einer Person zu finden sind. Allerdings sind nach Sigmund Freud, von dem das Modell entwickelt wurde, jene inneren Faktoren psychischer und nicht biologischer Natur. Wie wir in früheren Kapiteln bereits erwähnt haben, glaubte Freud, dass zahlreiche psychische Störungen lediglich Erweiterungen „normaler“ Prozesse von psychischen Konflikten und Ich-Abwehr darstellen, die alle Menschen erfahren. Im psychodynamischen Modell wird sowohl normales als auch gestörtes Verhalten durch Erfahrungen in der frühen Kindheit geprägt. Nach der psychodynamischen Theorie ist das Verhalten von Trieben und Wünschen geleitet, die den Menschen oft gar nicht bewusst sind. Psychische Störungen haben ihre Ursachen in unbewussten Konflikten und Gedanken. Wenn das Unterbewusstsein konflikt- und spannungsgeladen ist, werden die Betroffenen von Ängsten und anderen Störungen geplagt. Viele dieser Konflikte werden hervorgerufen durch den Kampf zwischen dem irrationalen, nach Triebbefriedigung strebenden Es und den internalisierten sozialen Normen, die durch das Über-Ich auferlegt werden. Das Ich ist gewöhnlich der Vermittler in diesem Kampf, aber seine Fähigkeit, dieser Aufgabe gerecht zu werden, kann durch gestörte Entwicklungsverläufe in der Kindheit geschwächt sein. Individuen versuchen den Schmerz, der durch konfligierende Motive oder durch Ängste verursacht wird, durch Abwehrmechanismen wie Verdrängung oder Verleugnung zu vermeiden. Werden die Abwehrmechanismen übermäßig beansprucht, kann es zu Realitätsverzerrungen oder zu selbstzerstörerischem Verhalten kommen. Die Person benötigt dann unter Umständen so viel psychische Energie, um ihre Konflikte und Ängste abzuwehren, dass nur wenig Energie übrig bleibt, um ein zufriedenes und lohnenswertes Leben zu führen. Behaviorales Modell. In der Verhaltenstheorie konzentriert man sich auf beobachtbare Reaktionen und weiß mit hypothetischen psychodynamischen Prozessen wenig anzufangen. Hier wird demgegenüber angenommen, dass gestörte Verhaltensweisen auf dieselbe Weise erworben werden wie normale Verhaltensweisen – nämlich durch Lernen und Verstärkung. Verhaltenstheoretiker lenken ihre Aufmerksamkeit nicht auf innere psychische Phänomene oder Kindheitserlebnisse. Stattdessen konzentrieren sie sich auf das gegenwärtige Verhalten und die gegenwärtigen Bedin-
14.1 Die Beschaffenheit psychischer Störungen
gungen und Verstärkungen, die das gezeigte Verhalten aufrechterhalten. Die Symptome psychischer Störungen treten auf, weil ungünstige oder selbstschädigende Verhaltensweisen erlernt wurden. Wenn ein Therapeut die Umstände erkennt, welche die gestörten Verhaltensweisen aufrechterhalten, kann er eine Veränderung der entsprechenden Situationsmerkmale empfehlen, die das unerwünschte Verhalten beseitigen. Behavioristen beziehen sich sowohl auf operante als auch auf klassische Konditionierungsmodelle (siehe Kapitel 6), um die Prozesse, aus denen fehlangepasstes Verhalten entsteht, zu verstehen. Kognitives Modell. Kognitive und behavioristische Perspektiven ergänzen sich häufig in ihrer Erklärung psychischer Störungen. Nach dem kognitiven Modell können die Ursachen psychischer Störungen nicht immer im objektiven Kontext von Reizen, Verstärkern und sichtbarem Verhalten gefunden werden. Von ebenso großer Bedeutung ist die Selbstwahrnehmung der Personen und die Wahrnehmung ihrer Beziehungen und ihrer Umwelt und wie sie darüber denken. Mögliche kognitive Faktoren, welche die Reaktionen einer Person leiten, aber auch fehlleiten können, sind die wahrgenommene Kontrolle über wichtige Verstärker, die Überzeugungen einer Person, bedrohliche Ereignisse bewältigen zu können, und ihre Interpretation von Ereignissen hinsichtlich situativer oder persönlicher Einflussfaktoren. Der kognitive Ansatz geht davon aus, dass psychische Probleme das Ergebnis einer fehlerhaften Wahrnehmung der Situationswirklichkeit, fehlerhafter Schlussfolgerungen oder schlechter Problemlösungen sind. Soziokulturelles Modell. Das soziokulturelle Modell betont die Rolle der Kultur bei der Diagnose und Ätiologie gestörter Verhaltensweisen. Wir haben Ihnen bereits einen Vorgeschmack von der Bedeutung der Kultur für die Diagnose gegeben, als wir das Problem der Objektivität besprochen haben. Wir wiesen darauf hin, dass Verhaltensweisen in verschiedenen Kulturen unterschiedlich interpretiert werden: Die Schwelle, ab der ein bestimmtes Verhalten ein Anpassungsproblem darstellt, hängt zumindest teilweise davon ab, wie das Verhalten im kulturellen Kontext beurteilt wird. Hinsichtlich der Ätiologie zeigt sich, dass bestimmte kulturelle Umstände, in denen die Menschen leben, die Entstehung bestimmter Formen oder Unterformen psychischer Störungen fördern können. Im nächsten Abschnitt über die Klassifikation psychischer Störungen werden wir Beispiele für solche kulturabhängigen Syndrome aufzeigen. Wir haben nun einen allgemeinen Einblick in die verschiedenen Erklärungsformen gegeben, die For-
scher für das Auftreten psychischer Störungen geltend machen. Dabei ist anzumerken, dass Forscher heutzutage zunehmend eine interaktionistische Perspektive auf psychische Störungen einnehmen. Sie sehen sie als das Produkt einer komplexen Interaktion biologischer und psychischer Faktoren. Eine bestimmte genetische Ausprägung macht beispielsweise eine Person anfällig für bestimmte psychische Störungen, indem sie die Produktion von Neurotransmittern oder Hormonen beeinflusst. Aber seelischer oder sozialer Stress, ebenso wie bestimmte erlernte Verhaltensweisen, können notwendig sein, damit die Störung sich letztlich vollständig entwickelt. Da wir nun über einen grundlegenden Rahmen, um über abweichendes Verhalten nachzudenken verfügen, können wir zum Kern kommen – den Ursachen und Konsequenzen wichtiger psychischer Störungen wie beispielsweise Angststörungen, Depression und Schizophrenie. Wir beginnen jeweils, indem wir Erfahrungen von Betroffenen und ihre Wirkung auf Beobachter schildern. Anschließend betrachten wir, wie die biologischen und psychologischen Erklärungsansätze die Ätiologie und die Entwicklung dieser Störungen jeweils erklären. Es gibt in der Psychopathologie viele weitere Störungsformen. Leider fehlt uns der Raum, hier alle ausführlich zu besprechen. Wir werden daher folgende Kategorien nicht ausführlicher behandeln: Substanzinduzierte Störungen umfassen sowohl Abhängigkeit als auch Missbrauch von Alkohol und Drogen (einschließlich Medikamente). Wir haben viele der hier relevanten Punkte bereits in Kapitel 5 im breiteren Kontext von Bewusstseinszuständen angesprochen. Unter sexuellen Störungen versteht man Probleme durch sexuelle Hemmungen sowie Fehlfunktionen und auch abweichende sexuelle Praktiken. Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie wurden bereits in Kapitel 11 besprochen. Wenn Sie über die Symptome und Erfahrungen lesen, die typisch für die verschiedenen psychischen Störungen sind, werden Sie vielleicht bemerken, dass einige dieser Merkmale auf Sie oder auch auf jemanden, den Sie kennen – zumindest zeitweise –, zuzutreffen scheinen. Manche der Störungen, die wir hier betrachten, sind nicht ungewöhnlich. Es wäre also überraschend, wenn Sie Ihnen völlig fremdartig erschienen. Viele Menschen haben Beschwerden, die auf der Liste der Kriterien einer psychischen Störung
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erscheinen. Dies zu erkennen, kann Ihr Verständnis von abweichendem Verhalten fördern. Sie sollten dabei aber immer berücksichtigen, dass die Diagnose einer psychischen Störung von zahlreichen Kriterien abhängt und die Beurteilung durch einen geübten Experten erfordert. Bitte widerstehen Sie der Versuchung, Ihr Wissen einzusetzen, um bei Ihren Freunden oder Familienmitgliedern eine psychische Störung zu diagnostizieren! Sollten Sie jedoch nach der Lektüre dieses Kapitels Unsicherheit über Aspekte Ihrer psychischen Gesundheit feststellen, dann denken Sie bitte daran, dass die meisten Universitäten über entsprechende Beratungsstellen verfügen, die Studierenden bei solchen Sorgen zur Verfügung stehen.
ZWISCHENBILANZ 1 Toms Angst vor Spinnen ist so ausgeprägt, dass er ei-
nen Raum erst dann betritt, wenn eine Person seines Vertrauens ihm versichert, dass der Raum spinnenfrei ist. Nach welchen Kriterien könnten wir Toms Verhalten als abweichend bezeichnen? 2 Was sind drei wichtige Vorteile der Klassifikation psy-
chischer Erkrankungen? 3 Warum spielt die Kultur eine Rolle in der psychopatho-
logischen Diagnostik? KRITISCHES DENKEN: Nennen Sie einen möglichen Grund, warum David Rosenhan und die sieben anderen Menschen, die sich für die Studie in psychiatrische Klinken einwiesen ließen, als ihr imaginäres Krankheitssymptom „Halluzinationen“ angaben.
Angststörungen
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Jeder von uns empfindet Angst oder Furcht in bestimmten Lebenssituationen. Für manche Menschen wird ihre Angst jedoch zu einem Problem, das ihre Fähigkeit, im alltäglichen Leben zurechtzukommen oder auch ihr Leben zu genießen, beeinträchtigt. Schätzungen haben ergeben, dass etwa 28,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens bereits einmal Symptome erlebt haben, die charakteristisch für eine der zahlreichen Angststörungen (Kessler et al., 2005a) sind. Angst spielt eine Schlüsselrolle bei jeder dieser Störungen. Sie unterscheiden sich jedoch im Umfang des Angsterlebens, im Schweregrad der erlebten Angst und in den Situationen, welche die Angst auslösen. In diesem Kapitel werden wir über die fünf wichtigsten Formen
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berichten: die generalisierte Angststörung, die Panikstörung, Phobien, Zwangsstörungen und die posttraumatische Belastungsstörung. Anschließend betrachten wir die Ursachen dieser Erkrankungen.
14.2.1 Generalisierte Angststörung Eine generalisierte Angststörung wird diagnostiziert, wenn eine Person über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten hinweg ein andauerndes Gefühl der Ängstlichkeit und der Besorgtheit erlebt, ohne dass dabei eine reale Bedrohung auszumachen wäre. Die Ängstlichkeit konzentriert sich meistens auf bestimmte Lebensumstände, wie beispielsweise unnötige Sorgen über die eigenen Finanzen oder den Gesundheitszustand einer geliebten Person. Die Art, wie die Angst zum Ausdruck kommt – die spezifischen Symptome also –, variiert sehr stark zwischen den einzelnen Betroffenen. Um die Diagnose der generalisierten Angststörung zu stellen, muss der Patient zusätzlich unter mindestens drei weiteren Symptomen leiden, wie beispielsweise Muskelspannung, leichte Ermüdbarkeit, Ruhelosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit oder Schlafstörungen. 5,7 Prozent der erwachsenen US-Bürgerinnen und -Bürger haben bereits einmal an einer generalisierten Angststörung gelitten (Kessler et al., 2005a). Die generalisierte Angststörung führt zu einer Beeinträchtigung der Lebenstüchtigkeit, da die Ängste durch die Person nicht kontrolliert oder beiseite geschoben werden können. Da die Person ihre volle Aufmerksamkeit auf die Quellen ihrer Angst richtet, ist sie nicht mehr dazu in der Lage, sozialen oder beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Erschwerend kommen noch die körperlichen Symptome hinzu, die mit dieser Störung einhergehen.
14.2.2 Panikstörung Im Gegensatz zur ständig präsenten Angst bei der generalisierten Angststörung erleben die Betroffenen einer Panikstörung unerwartete schwere Panikattacken, die jedoch nur wenige Minuten andauern. Die Attacken beginnen mit einem Gefühl starker Besorgnis, Furcht oder Schrecken. Begleitet werden diese Angstgefühle von körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Schwindel, Benommenheit oder Erstickungsgefühlen. Die Attacken sind unerwartet in der Hinsicht, dass es zumeist in der entsprechenden Situation keinen konkreten Auslöser gibt. Eine Panikstörung wird
14.2 Angststörungen
Warum kann Agoraphobie die Betroffenen zu „Gefangenen“ im eigenen Heim machen? diagnostiziert, wenn eine Person wiederholt unerwartet von Panikattacken befallen wird und sie beginnt, sich andauernd Sorgen darüber zu machen, dass sie möglicherweise weiterhin von solchen Attacken befallen wird. Die Forschung hat ergeben, dass 4,7 Prozent der Erwachsenen in den USA bereits eine Panikstörung erlebt haben (Kessler et al., 2005a). Nach dem DSM-IV-TR muss diagnostiziert werden, ob die Panikstörung einzeln oder gemeinsam mit einer Agoraphobie auftritt. Als Agoraphobie bezeichnet man die Angst vor öffentlichen Plätzen oder großen Räumen, wo ein Rückzug oder eine Flucht nur schwer möglich ist oder peinlich wäre. Personen, die an Agoraphobie leiden, vermeiden gewöhnlich Orte wie überfüllte Räume, Einkaufszentren, Busse oder Autobahnen. Häufig haben sie Angst, dass, falls sie außerhalb ihres Zuhauses in Schwierigkeiten geraten, zum Beispiel ihren Harndrang nicht mehr kontrollieren können oder von einer Panikattacke befallen werden, keine Hilfe verfügbar oder die Situation für sie peinlich wäre. Die Ängste schränken die Person in ihrer persönlichen Freiheit ein, und im Extremfall werden sie zu Gefangenen ihrer eigenen vier Wände. Erkennen Sie den Zusammenhang zwischen Panikstörung und Agoraphobie? Bei manchen (aber nicht allen) Menschen, die an Panikattacken leiden, kann die Angst vor der nächsten Attacke – und das Gefühl von Hilflosigkeit, das diese begleitet – ausreichen, um sich gänzlich in das eigene Zuhause zurückzuziehen. Eine Person, die an Agoraphobie leidet, verlässt die Sicherheit ihres Zuhauses vielleicht noch, aber beinahe immer voller Angst.
entweder zu Flucht oder zu einem Gegenangriff führen kann. Im Gegensatz dazu leidet eine Person mit einer Phobie an einer beständigen und irrationalen Angst vor einem spezifischen Objekt, einer bestimmten Aktivität oder einer bestimmten Situation, die angesichts der tatsächlichen Bedrohung stark übertrieben und unbegründet ist. Viele Menschen fühlen sich bei dem Gedanken an Spinnen oder Schlangen unwohl (manche sogar bei dem Gedanken an Multiple-Choice-Tests). Aber diese leichten Ängste halten die Menschen nicht davon ab, ihren alltäglichen Tätigkeiten nachzugehen. Phobien dagegen stören die Anpassung an die Erfordernisse des täglichen Lebens; sie verursachen Leiden und verhindern zielführendes Verhalten. Auch eine ausgesprochen eng umgrenzte Phobie, die augenscheinlich nur einen sehr eingeschränkten Lebensbereich betrifft, kann das Leben einer Person in großem Maß beeinflussen. Das DSM-IV-TR nennt zwei Kategorien von Phobien: soziale Phobien und spezifische Phobien ( Tabelle 14.2)
Tabelle 14.2
Häufig vorkommende Phobien Soziale Phobien (die Angst, beobachtet zu werden, wenn man etwas Beschämendes tut) Spezifische Phobien Phobien vor Tieren Katzen (Ailurophobie) Hunde (Cynophobie) Insekten (Insectophobie) Spinnen (Arachnophobie) Schlangen (Ophidiophobie) Nagetiere (Rodentophobie) Phobien vor Naturereignissen Stürme (Brontophobie) Höhen (Acrophobie) Phobien vor Blut – Spritzen – Verletzungen Blut (Hämaphobie) Nadeln/Spritzen (Belonephobie)
14.2.3 Phobien Furcht ist eine rationale Reaktion auf eine objektiv vorhandene und erkannte Gefahr (z. B. Feuer in der Wohnung oder ein Raubüberfall), die bei einer Person
Phobien vor bestimmten Situationen Geschlossene Räume (Claustrophobie) Züge (Siderodromophobie)
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14.2.4 Zwangsstörungen Manche Personen mit Angststörungen sind gefangen in bestimmten Denk- und Verhaltensmustern, wie folgender Fall illustriert.
Was verwandelt eine harmlose Ringelnatter in ein bedrohliches Objekt einer Phobie? Soziale Phobie ist die beständige, irrationale Angst, die bei der Antizipation öffentlicher Situationen entsteht, in denen eine Person von anderen beobachtet werden kann. Eine Person mit einer sozialen Phobie befürchtet, dass sie sich in einer peinlichen Art und Weise verhalten könnte. Sie erkennt, dass die Angst übertrieben und unbegründet ist, dennoch fühlt sie sich gezwungen, Situationen zu vermeiden, in denen sie möglicherweise einem prüfenden Blick der Öffentlichkeit standhalten muss. Zu einer sozialen Phobie gehören häufig Self-fulfilling Prophecies. Eine Person fürchtet sich möglicherweise so sehr vor prüfenden Blicken und vor Ablehnung durch andere, dass diese Angst tatsächlich ihre Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst. Auch wenn Personen mit sozialer Phobie in bestimmten sozialen Situationen erfolgreich waren, führt dies nicht zu einem positiveren Selbstbild (Wallace & Alden, 1997). Unter erwachsenen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern haben 12,1 Prozent bereits an Sozialphobie gelitten (Kessler et al., 2005a). Spezifische Phobien treten als Reaktion auf viele verschiedene Typen von Objekten und Situationen auf. Wie Tabelle 14.2 zeigt, lassen sie sich in verschiedene Untergruppen aufteilen. Eine Person beispielsweise mit einer spezifischen Phobie vor Tieren reagiert vielleicht phobisch auf Spinnen. In allen Fällen von diesem Typ tritt die phobische Reaktion entweder bei dem tatsächlichen Zusammentreffen mit dem angstbesetzten Objekt oder schon bei dessen Antizipation auf. Die Forschung geht davon aus, dass 12,5 Prozent der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten eine spezifische Phobie hatten (Kessler et al., 2005a).
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Noch vor einem Jahr schien der 17-jährige Jim ein ganz normaler Jugendlicher mit vielen Talenten und Interessen zu sein. Dann, beinahe über Nacht, wurde er zu einem einsamen Außenseiter, durch ein psychisches Gebrechen ausgeschlossen vom sozialen Leben. Er entwickelte eine fixe Idee, nämlich das Waschen. Verfolgt von der Auffassung, er sei schmutzig – entgegen dem, was seine Sinneswahrnehmungen ihm sagten –, begann er immer mehr Zeit darauf zu verwenden, sich von seinem eingebildeten Schmutz zu reinigen. Anfangs begrenzten sich seine rituellen Reinigungen auf die Abende oder das Wochenende, aber bald begannen sie, seine gesamte Zeit in Anspruch zu nehmen. Er war nicht mehr dazu in der Lage, zur Schule zu gehen. (Rapoport, 1989) Jim leidet an einer Zwangsstörung, die schätzungsweise 1,6 Prozent der Erwachsenen in den USA einmal in ihrem Leben befällt (Kessler et al., 2005a). Zwangsgedanken sind Ideen, Bilder oder Impulse (wie beispielsweise Jims Meinung, er sei schmutzig), die trotz der Versuche der betroffenen Person, sie zu unterdrücken, immer wieder auftreten oder beständig vorhanden sind. Zwangsgedanken werden als ungewollter Übergriff auf das Bewusstsein erlebt. Sie erscheinen sinnlos und widerwärtig und sind für die betroffene Person inakzeptabel. Wahrscheinlich haben Sie schon einmal eine leichte Form von Zwangsgedanken erlebt, eindringliche Gedanken geringfügiger Sorgen, wie zum Beispiel „Habe ich die Tür auch wirklich abgeschlossen?“ oder „Habe ich den Herd ausgeschaltet?“. Die Zwangsgedanken von Personen, die an einer Zwangsstörung leiden, sind viel bedrängender. Die Betroffenen leiden unter ihnen und sind nicht mehr dazu in der Lage, in sozialer und beruflicher Hinsicht einem geregelten Leben nachzugehen. Zwangshandlungen sind wiederholte, zweckorientierte Handlungen (wie beispielsweise Jims Reinigungen), die nach bestimmten Regeln oder in ritualisierter Art und Weise als Reaktion auf bestimmte Zwangsgedanken ausgeführt werden. Zwangshandlungen werden ausgeführt, um Unbehagen, das mit bestimmten gefürchteten Situationen einhergeht, zu verringern oder abzuwenden. Sie sind entweder
14.2 Angststörungen
Warum verfallen Menschen mit Zwangsstörungen in Verhaltensformen wie andauerndes Händewaschen? unvernünftig oder eindeutig übertrieben. Typische Zwangshandlungen sind beispielsweise ein unwiderstehlicher Drang zu reinigen, zu überprüfen, ob wirklich alle Lichter und Geräte ausgeschaltet sind, und Objekte oder Besitztümer zu zählen. Zumindest anfänglich gelingt es Personen mit Zwangsstörungen, dem Drang, bestimmte Handlungen auszuführen, zu widerstehen. In entspannten Situationen erkennen sie auch die Unsinnigkeit ihrer Zwangshandlungen. Aber wenn die Anspannung steigt, wird der Drang, genau jene Handlungen auszuführen, um die Spannungen zu lösen, unerträglich. Ein großer Teil des Leidens der Betroffenen besteht in ihrer Frustration, die Irrationalität ihres Verhaltens zwar zu erkennen, aber dennoch nicht dazu in der Lage zu sein, es zu unterlassen.
14.2.5 Posttraumatische Belastungsstörung In Kapitel 12 stellten wir Ihnen zwei Frauen vor, die immer noch mit den Nachwirkungen ihrer Vergewaltigung zu kämpfen hatten. Das Gespräch verdeutlichte ihre immer noch vorhandene Angst. Eine der Frauen berichtete von einer „langen Phase der Angst und Wut“ und von ihren Träumen, vor ihrer Wohnung vergewaltigt zu werden, ohne dass Freunde, die das Ganze beobachten, eingreifen, um ihr zu helfen. Die andere Frau, die beim Joggen überfallen und vergewaltigt wurde, hatte immer noch Angst davor, wieder Laufen zu gehen. „Ich habe jedes Mal beim Joggen eine ständige Angst. Mein Puls wird doppelt so schnell. Natürlich gehe ich nicht mehr alleine joggen, doch die Angst ist immer noch ständig da.“ Diese Frauen leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PBS). Diese Angststörung ist durch ständiges Wiedererleben
der traumatischen Ereignisse in Form von leidvollen Erinnerungen, Träumen, Halluzinationen und Flashbacks gekennzeichnet. Personen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung als Reaktion auf eine Vergewaltigung, andere lebensbedrohliche Ereignisse, schwere Verletzungen oder Naturkatastrophen. Personen können eine posttraumatische Belastungsstörung sowohl dann entwickeln, wenn sie selbst Opfer der traumatischen Ereignisse waren, als auch, wenn sie Zeugen wurden, wie andere Opfer solcher Ereignisse wurden. Menschen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, leiden sehr wahrscheinlich auch gleichzeitig an anderen psychischen Störungen, wie zum Beispiel Depressionen, Alkoholoder Drogenabhängigkeit oder sexuellen Fehlfunktionen (Kilpatrick et al., 2003). Die Forschung hat ergeben, dass etwa 6,8 Prozent der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten im Laufe ihres Lebens an PBS erkranken (Kessler et al., 2005a). Befragungen ergeben durchweg, dass etwa 80 Prozent der Erwachsenen schon ein Erlebnis gehabt haben, das als traumatisch bezeichnet werden kann, wie etwa einen schweren Unfall, einen tragischen Todesfall, körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch (Green, 1994; Vrana & Lauterbach, 1994). Eine Studie an 1.824 schwedischen Erwachsenen ergab für 80,8 Prozent mindestens ein traumatisches Erlebnis (Frans et al., 2005). In dieser Stichprobe hatten die Männer mehr traumatische Erlebnisse als die Frauen gehabt, aber die Frauen entwickelten mit doppelter Wahrscheinlichkeit eine PBS. Die Forscher vermuteten, dass die stärkere Stressreaktion von Frauen auf traumatische Ereignisse diesen Unterschied erklären helfen könnte. Große Aufmerksamkeit erfährt die Prävalenz von PBS als Nachwirkung von Traumata, die viele Menschen gleichzeitig betreffen. Beispielsweise untersuchte eine Studie Angestellte des Pentagons auf Symptome von PBS zwei Jahre nach dem terroristischen Angriff vom 11. September 2001 (Grieger et al., 2005). Von den befragten Angestellten zeigten 14 Prozent PBS-Symptome. Menschen, die selbst verletzt worden waren oder Leichen gesehen hatten, waren am meisten betroffen. Eine weitere Studie befasste sich mit den Soldaten, die im nachfolgenden Krieg gegen den Irak kämpften (Hoge et al., 2004). Vor dem Kampfeinsatz erfüllten 5,0 Prozent der Soldaten die diagnostischen Kriterien für PBS. Drei bis vier Monate nach der Rückkehr aus dem Irak litten 12,9 Prozent der Heeressoldaten und 12,2 Prozent der Marineinfanteristen an PBS. Posttraumatische Belastungsstörungen unterbrechen radikal das Leben der Betroffenen. Wie gehen
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Forscher bei der komplexen Aufgabe vor, die Ursachen der posttraumatischen Belastungsstörung oder anderer Angststörungen zu untersuchen? Ein Verständnis dieser Ursachen ließe hoffen, das psychische Leiden beseitigen zu können.
Forscher setzen auch bildgebende Verfahren ein, um die cortikalen Grundlagen dieser Störungen zu untersuchen. Sehen wir uns eine Studie über die posttraumatische Belastungsstörung an.
AUS DER FORSCHUNG
Biologische Ansätze Viele Forscher sind der Meinung, dass Angststörungen biologische Ursachen haben. Eine der Theorien versucht zu erklären, warum bestimmte spezifische Phobien, wie beispielsweise Spinnenphobie oder Höhenangst, häufiger vorkommen als andere, wie zum Beispiel eine Phobie vor Elektrizität. Da zahlreiche Ängste in vielen Kulturen vorkommen, vermutet man, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt unserer evolutionären Vergangenheit bestimmte Ängste die Überlebenschancen unserer Vorfahren erhöhten. Vielleicht werden Menschen mit prädisponierten Ängsten vor bestimmten Gefahrenquellen geboren, die für die Menschen der Vergangenheit eine starke Bedrohung darstellten. Diese Bereitschaftshypothese unterstellt, dass wir evolutionär bedingt eine Tendenz besitzen, auf ehemals bedrohliche Reize schnell und automatisiert zu reagieren (Öhman & Mineka, 2001). Jedoch liefert eine solche Hypothese keine Erklärung für Phobien, die sich gegenüber Objekten oder Situationen entwickeln, die zu früheren Zeitpunkten unserer Evolution keinen lebensbedrohlichen Charakter hatten, wie beispielsweise die Angst vor Spritzen, Autofahren oder Aufzügen. Die Fähigkeit bestimmter Substanzen, Angstsymptome zu dämpfen oder auch sie hervorzurufen, bietet Belege für die Rolle biologischer Faktoren bei Angststörungen (Nutt & Malizia, 2001). Erinnern Sie sich zum Beispiel an Kapitel 3, wo wir beschrieben haben, dass die Verringerung des GABA-Niveaus (ein Neurotransmitter) im Gehirn bei Menschen häufig zu Angstgefühlen führt. Wie wir in Kapitel 15 noch erfahren werden, werden Medikamente, die das GABA-Niveau im Gehirn beeinflussen, erfolgreich zur Behandlung von verschiedenen Angststörungen eingesetzt.
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Diese Studie demonstriert, warum bildgebende Verfahren in der Hirndiagnostik das Verständnis der biologischen Grundlagen von Angststörungen vertiefen können. Ähnliche Ergebnisse liegen für andere Störungsformen vor. Positronen-Emissions-Tomografien (PET) haben beispielsweise Unterschiede zwischen den GABA-Rezeptoren von Personen, die an einer Pa-
Trauma
Traurig
Angst erregend
Thalamus
Wie erklären Psychologen die Entwicklung von Angststörungen? Jedes der vier ätiologischen Modelle, die wir skizziert haben (biologisch, psychodynamisch, behavioristisch und kognitiv), hebt unterschiedliche Faktoren hervor. Lassen Sie uns analysieren, in welcher Weise jedes Modell etwas Einzigartiges zum Verständnis der Angststörungen beitragen kann.
Einige Menschen, die traumatische Erlebnisse haben, entwickeln eine PBS, andere dagegen nicht. Ein Forscherteam setzte fMRT-Scans ein, um die Unterschiede in Aktivitätsmustern des Gehirns bei Angehörigen beider Kategorien zu untersuchen (Lanius et al., 2003). Die Studie konzentrierte sich auf die Hirnaktivität beim Sicherinnern an traurige, Angst erregende und traumatische Ereignisse. Wie in Abbildung 14.2 gezeigt ist, wiesen diejenigen Probanden, die ein Trauma erlitten, aber keine PBS entwickelt hatten, gegenüber den traumatisierten Probanden, die an PBS litten, eine größere Aktivität in jenen Hirnbereichen (dem Thalamus und dem vorderen Cingulum) auf, die eine Rolle in der Emotionsverarbeitung spielen. Diese Unterschiede in der Hirnaktivität zeigten sich bei allen drei Arten von Erinnerung (traurig, Angst erregend und traumatisch). Dieser umfassende Unterschied legt nahe, dass die traumatischen Erfahrungen bei den PBS-Erkrankten zu einer allgemeinen Störung in der Emotionsverarbeitung des Gehirns geführt haben.
Vorderes Cingulum
14.2.6 Angststörungen: Ursachen
Abbildung 14.2: Hirnaktivität und emotionale Erinnerungen. Die Studie verglich Menschen, die infolge traumatischer Erlebnisse an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PBS) litten, mit solchen, die keine PBS entwickelten. Angehörige beider Kategorien erinnerten sich während eines fMRT-Scans an emotionale Erlebnisse. Die Grafik zeigt erhöhte Hirnaktivität bei der Gruppe ohne PBS, sowohl bei traumatischen als auch traurigen und Angst erregenden Erinnerungen.
14.2 Angststörungen
nikstörung litten, und Personen einer Kontrollgruppe aufgezeigt (Malizia, 1998). Diese Unterschiede erklären vielleicht den Beginn einer Panikstörung. Kernspintomografien zeigten bei Patienten, die an einer Zwangsstörung litten, verglichen mit normalen Gehirnen vielfältige Gehirnauffälligkeiten hinsichtlich eines sehr verringerten Ausmaßes an myelinisierten Nervenfasern (Jenike et al., 1996). Forscher versuchen bis heute, den Zusammenhang zwischen diesen Gehirnauffälligkeiten und den Symptomen der Zwangsstörung aufzuklären. Schließlich legen Familien- und Zwillingsstudien nahe, dass es eine genetische Basis der Prädisposition für Angststörungen gibt (Hettema et al., 2005). So war zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass ein männliches eineiiges Zwillingspaar an einer sozialen oder spezifischen Phobie litt, durchgängig größer als die Wahrscheinlichkeit für ein männliches zweieiiges Zwillingspaar (Kessler et al., 2001). Trotzdem ist es wichtig, im Auge zu behalten, dass Anlage und Umwelt immer miteinander wechselwirken. Erinnern Sie sich zum Beispiel aus Kapitel 13, dass viele Persönlichkeitszüge erblich sind. Die Forschung legt nahe, dass ein Teil des genetischen Einflusses auf die PBS sich daraus ergibt, dass Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeitszügen Lebensentscheidungen treffen, die die Wahrscheinlichkeit für zukünftige Traumata erhöhen oder vermindern (Stein et al., 2002).
Psychodynamisches Modell Das psychodynamische Modell beginnt mit der Annahme, dass die Symptome von Angststörungen durch zugrunde liegende psychische Konflikte oder Ängste ausgelöst werden. Die Symptome sind Versuche, die Person vor psychischem Schmerz zu bewahren. Panikattacken sind demzufolge das Ergebnis von Konflikten im Unbewussten, die plötzlich in das Bewusstsein einbrechen. Nehmen wir beispielsweise an, ein Kind unterdrückt seine unbewussten, miteinander in Widerspruch stehenden Gedanken über den Wunsch, den schwierigen Familienverhältnissen zu entkommen. In seinem späteren Leben kann dann die Aktivierung einer Phobie durch ein Objekt oder eine Situation ausgelöst werden, die eben diesen Konflikt symbolisiert. So könnte beispielsweise eine Brücke zu einem Symbol für den Weg werden, den diese Person beschreiten muss, um von ihrem Zuhause und ihrer Familie in eine andere Welt zu gelangen. Der Anblick einer Brücke würde dann den Konflikt im Unbewussten in das Bewusstsein bringen und damit einhergehend die Furcht und Angst, die zu einer Phobie gehört. Brücken
zu vermeiden wäre dann ein symbolischer Versuch, frei von Ängsten zu bleiben, die mit den Kindheitserfahrungen einhergehen. Bei Zwangsstörungen werden Zwangshandlungen als ein Versuch gesehen, die Ängste, die durch einen verwandten, jedoch wesentlich gefürchteteren Wunsch oder Konflikt ausgelöst werden, zu ersetzen. Der Ersatz durch zwanghafte Handlungen oder Gedanken, die in symbolischer Hinsicht den verbotenen Impuls auffangen, vermittelt der Person Erleichterung. Die obsessive Angst vor Schmutz von Jim, dem Jugendlichen, den wir in diesem Kapitel beschrieben haben, könnte zum Beispiel ihre Wurzeln in einem Konflikt zwischen dem Wunsch, sexuell aktiv zu werden, und der Furcht davor, seinen Ruf zu „beschmutzen“, haben. Zwanghafte Beschäftigung durch das Ausführen unbedeutender ritueller Aufgaben erlaubt der Person auch, das eigentliche Thema, das den unbewussten Konflikt hervorruft, zu vermeiden.
Behavioristisches Modell Behavioristische Erklärungsansätze der Angst konzentrieren sich auf die Art und Weise, in der Symptome der Angststörung verstärkt oder konditioniert werden. Die Forscher suchen nicht nach zugrunde liegenden unbewussten Konflikten oder Erfahrungen in der frühen Kindheit, da diese Phänomene nicht direkt beobachtbar sind. Wie wir schon in Kapitel 6 gesehen haben, werden behavioristische Theorien oft herangezogen, um die Entwicklung von Phobien zu erklären. Sie werden als klassisch konditionierte Ängste betrachtet: Erinnern Sie sich an den kleinen Albert, bei dem John Watson und Rosalie Rayner die Angst vor weißen Ratten hervorgerufen haben? Der behavioristische Ansatz geht davon aus, dass ein ehemals neutrales Objekt oder eine neutrale Situation zum Auslöser einer Phobie werden kann, indem das Objekt oder die Situation mit einer Angst auslösenden Erfahrung gepaart wird. Ein Kind, dessen Mutter einen Warnschrei ausstößt, wenn es sich einer Schlange nähert, entwickelt vielleicht eine Schlangenphobie. Nach dieser Erfahrung kann sogar das bloße Denken an eine Schlange Angst auslösend wirken. Phobien werden aufrechterhalten durch die Vermeidung der Angst auslösenden Situation. Nach behavioristischer Ansicht entstehen Zwangshandlungen durch ihre Angst reduzierende Wirkung. Sie verringern die Angst, die durch die zwanghaften Gedanken entsteht – und wirken so als Verstärker der Zwangshandlungen. Wenn zum Beispiel eine Frau Verseuchung durch die Berührung von Müll befürchtet,
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verringert das Waschen ihrer Hände ihre Ängste und wirkt dadurch als Verstärker. Äquivalent zu Phobien werden Zwangsstörungen durch die Angst reduzierende Wirkung der Zwangshandlungen aufrechterhalten.
Kognitives Modell Kognitive Ansätze zur Erklärung von Angst konzentrieren sich auf Wahrnehmungen und Einstellungen, welche die Einschätzung einer Gefahr durch eine Person verzerren. Eine Person kann entweder den gefährlichen Charakter einer Situation überschätzen, oder sie unterschätzt ihre eigenen Fähigkeiten, diese Situation erfolgreich zu bewältigen. Zum Beispiel kann eine Person mit einer sozialen Phobie, die eine Rede vor einer großen Gruppe halten soll, zu einer Vergrößerung ihrer bestehenden Ängste beitragen: Was, wenn ich vergesse, was ich eigentlich sagen wollte? Ich werde aussehen wie ein Narr vor all diesen Leuten. Dann werde ich noch nervöser, fange an zu schwitzen, meine Stimme wird zittern und ich werde noch dümmer aussehen. Wann immer mich diese Leute von heute an sehen werden, werden sie sich an mich als diese alberne Person erinnern, die versuchte, eine Rede zu halten. Menschen, die an einer Angststörung leiden, interpretieren ihr eigenes Leiden häufig als Anzeichen einer bevorstehenden Katastrophe. Ihre Reaktion kann einen Teufelskreis auslösen: Die Person befürchtet eine Katastrophe, ihre Angst nimmt zu und steigert damit die angstbezogenen Gefühle und Wahrnehmungen in der betreffenden Situation, was wiederum ihre ursprünglichen Befürchtungen bestätigt (Beck & Emery, 1985). Psychologen haben diesen kognitiven Ansatz durch Erfassung der Angstsensibilität getestet: Die Einschätzungen der Personen, dass körperliche Symptome – wie Kurzatmigkeit oder Herzklopfen – schädliche Auswirkungen haben könnten. Personen mit hoher Angstsensibilität äußerten häufig Zustimmung bei Aussagen wie: „Wenn ich bei mir ein starkes Herzklopfen bemerke, sorge ich mich, ich könnte einen Herzanfall bekommen.“ In einer Studie erfassten die Forscher die Angstsensibilität junger Kadetten der U.S. Air Force Academy in der Grundausbildung, bevor sie an einem anstrengenden Kurs teilnahmen. Etwa 20 Prozent der Kadetten, deren Angstsensibilität über dem neunzigsten Perzentil lag, erlitten während des fünfwöchigen Kurses Panikattacken, verglichen mit 6 Prozent der restlichen Gruppe (Schmidt et al., 1997). Die Ergebnisse legen nahe, dass manche Per-
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sonen Panikattacken erleiden, weil sie ihre körperliche Erregung in ängstlicher Weise interpretieren. Forschungsergebnisse zeigen ebenfalls auf, dass ängstliche Patienten zur Aufrechterhaltung ihrer Angst beitragen, indem sie durch kognitive Verzerrungen die Bedeutung des bedrohlichen Reizes hervorheben. Eine Studie untersuchte beispielsweise die Fähigkeit von Menschen, körperbezogene Wörter (wie etwa schwindlig, ohnmächtig und atemlos) gegenüber Kontrollwörtern (z. B. empfindlich, langsam und freundlich) zu erkennen und auszusprechen, wenn sie für lediglich eine Hundertstelsekunde auf einem Bildschirm gezeigt wurden. Menschen, die an einer Panikstörung litten, konnten die körperbezogenen Wörter viel besser erkennen als die Angehörigen einer gesunden Kontrollgruppe (Pauli et al., 1997). In einer ähnlichen Studie beobachteten Patienten mit einer auf Sauberkeit bezogenen Zwangsstörung einen Forscher, wie er eine Reihe Gegenstände mit einem „sauberen und unbenutzten“ oder einem „schmutzigen und gebrauchten“ Taschentuch berührte. In einem späteren Gedächtnistest erinnerten sich die Zwangsstörungspatienten besser daran, welche Objekte „schmutzig“ waren, als daran, welche „sauber“ waren (Ceschi et al., 2003). Studien dieser Art bestätigen, dass Menschen mit Angststörungen ihre Aufmerksamkeit auf Aspekte ihrer Umwelt konzentrieren, die helfen, ihre Angst aufrechtzuerhalten. Jedes dieser wichtigen Modelle zur Erklärung von Angststörungen trägt etwas zur Lösung des „ätiologischen Puzzles“ bei. Weiterführende Forschungsarbeiten werden die Ursachen aufklären und damit mögliche Wege einer erfolgreichen Behandlung aufzeigen. Nun, da Sie das Basiswissen über Angststörungen besitzen, möchten wir die nächste der drei großen Störungskategorien, die wir im Detail behandeln, betrachten – affektive Störungen.
ZWISCHENBILANZ 1 In welcher Beziehung stehen Furcht und Phobien? 2 Was ist der Unterschied zwischen Zwangsgedanken
und Zwangshandlungen? 3 Inwiefern kann man davon sprechen, dass wir bei Pho-
bien auf spezifische Inhalte „vorbereitet“ sind? 4 Welche Folgen hat eine große Angstneigung?
KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie, in der die Teilnehmer sich Gedächtnisinhalte ins Bewusstsein rufen sollten, während fMRT-Scans von ihnen angefertigt wurden. Warum könnten die Experimentatoren die drei Kategorien trauriger, Angst erregender und traumatischer Erinnerungen gewählt haben?
14.3 Affektive Störungen
Affektive Störungen
14.3
Es gibt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit Zeiten in Ihrem Leben, in denen Sie sich als schrecklich niedergeschlagen oder unglaublich glücklich beschrieben hätten. Bei manchen Menschen jedoch führen solche extremen Stimmungen zu einer Beeinträchtigung ihres normalen Lebens. Eine affektive Störung ist eine Störung des emotionalen Gleichgewichts, wie beispielsweise eine schwere Depression oder der abrupte Wechsel von einer Depression zu einer Manie. Die Forschung schätzt, dass 20,8 Prozent aller Erwachsenen schon von affektiven Störungen betroffen waren (Kessler et al., 2005a). Wir werden zwei Kategorien affektiver Störungen beschreiben: die Major Depression und die bipolare Störung.
sind nur ein Symptom, unter dem die Betroffenen einer Major Depression leiden ( Tabelle 14.3). Hier schildert ein Betroffener die Mühen ganz normaler alltäglicher Aufgaben in den Tiefen einer Depression: Die einfachsten Dinge schienen einen ungeheuren Aufwand zu erfordern. Ich erinnere mich, wie ich in Tränen ausbrach, weil das Seifenstück in der Dusche aufgebraucht war. Ich weinte, weil eine der Tasten meines Computers kurz klemmte. Alles erschien mir wahnsinnig schwierig, und die Aussicht, den Telefonhörer von der Gabel heben zu müssen, war wie Bankdrücken mit einem Gewicht von 200 kg. Die grimmige Wahrheit, nicht einen, sondern zwei Socken anziehen zu müssen, und anschließend noch zwei Schuhe, überwältigte mich dermaßen, dass ich zurück ins Bett wollte. (Solomon, 2001, S. 85–86)
14.3.1 Major Depression Die Depression wurde einmal als die „gewöhnliche Erkältung der Psychopathologie“ bezeichnet, weil sie einerseits sehr häufig auftritt und andererseits beinahe jeder im Verlauf seines Lebens einmal an einzelnen Symptomen der Störung leidet. Jeder hat zu dem ein oder anderen Zeitpunkt einmal den Kummer über den Verlust einer geliebten Person empfunden oder sich traurig oder besorgt gefühlt, wenn er ein angestrebtes Ziel nicht erreichen konnte. Solche traurigen Gefühle
Dieser Ausschnitt illustriert einige einschneidende Konsequenzen einer schweren depressiven Störung. Menschen, bei denen eine Depression diagnostiziert wurde, unterscheiden sich hinsichtlich des Schweregrades und der Dauer ihrer Symptomatik. Während viele Personen nur wenige Wochen lang zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens an einer klinischen Depression leiden, sind andere immer wieder episodisch oder auch chronisch über viele Jahre hinweg betroffen. Schätzungen der Prävalenz affek-
Tabelle 14.3
Kennzeichen einer Major Depression Kennzeichen
Beispiel
Dysphorische Stimmung
Traurig, bedrückt, hoffnungslos; Verlust von Interesse und Freude an beinahe jeder normalen Aktivität
Appetit
Appetitlosigkeit; starker Gewichtsverlust
Schlaf
Schlaflosigkeit oder Hypersomnie (zu viel Schlaf)
Motorische Aktivität
Ausgesprochen verlangsamte motorische Aktivität (motorische Retardierung) oder starke Erregung
Schuldgefühle
Gefühle der Wertlosigkeit; Selbstvorwürfe
Konzentration
Verringerte Fähigkeit zu denken oder sich zu konzentrieren; Vergesslichkeit
Suizid
Wiederkehrende Gedanken an den Tod; Suizidpläne oder Suizidversuche
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gibt. Die National Comorbidity Study ergab, dass nur 37,4 Prozent der Betroffenen im ersten Jahr nach einer Major Depression Episode ärztliche Behandlung suchten (Wang et al., 2005). Tatsächlich warteten die Betroffenen durchschnittlich acht Jahre, bis sie sich nach einer Major Depression Episode in Behandlung begaben.
14.3.2 Bipolare Störung
Wo liegen die Unterschiede zwischen den gelegentlichen Stimmungstiefs, welche die meisten Menschen einmal erleben, und den Symptomen der Major Depression?
tiver Störungen ergeben, dass etwa 21 Prozent aller Frauen und 17 Prozent aller Männer einmal in ihrem Leben an einer schweren Depression leiden (Kessler et al., 1994). Depressionen erfordern einen hohen Preis von den Gepeinigten, von ihren Familien und von der Gesellschaft. Eine im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation unternommene Studie schätzte den Verlust an gesunden Lebensjahren, der physischen und psychischen Krankheiten angelastet werden könnte (Murray & Lopez, 1996). In dieser Analyse rangierten schwere depressive Störungen hinsichtlich der Last, die sie den Betroffenen weltweit aufbürdeten, auf dem zweiten Platz (hinter den Herzkrankheiten). In den USA ist die Depression die häufigste Ursache von Einweisungen in eine psychiatrische Klinik, und man nimmt an, dass es eine hohe Dunkelziffer an nicht diagnostizierten oder nicht behandelten Betroffenen
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Bipolare Störungen sind durch einen Wechsel von Phasen schwerer Depression und manischen Episoden gekennzeichnet. Eine Person in einer manischen Episode erlebt eine ungewöhnlich gehobene Stimmung und verhält sich sehr expansiv. Manchmal ist die dominierende Stimmung aber auch eher gereizt als gehoben, insbesondere, wenn die Person sich in irgendeiner Weise eingeschränkt fühlt. Während einer manischen Episode empfindet die Person häufig ein übermäßiges Selbstwertgefühl und einen unrealistischen Glauben daran, über bestimmte Fähigkeiten und Kräfte zu verfügen. Sie hat ein stark verringertes Schlafbedürfnis und beschäftigt sich übermäßig mit Arbeit, sozialen Aktivitäten oder Freizeitaktivitäten. In einer manischen Stimmung gefangen, zeigt die Person unverhältnismäßigen Optimismus, geht unnötige Risiken ein, verspricht alles und gibt unter Umständen alles her, was sie besitzt. Hören wir diese Schilderung eines unmittelbar Betroffenen: Manische Depression ist, wenn man um vier Uhr morgens ein Dutzend Flaschen HeinzKetchup und alle acht vorrätigen Flaschen Windex-Glasreiniger im Food Emporium auf dem Broadway kauft; wenn man innerhalb von drei Tagen von Zürich auf die Bahamas und zurück fliegt, um das heiße und kalte Wetter auszubalancieren, [und] wenn man 20.000 Dollar in 100-Dollar-Scheinen in seinen Schuhen auf dem Rückflug aus Tokio ins Land schmuggelt … Es sind Ausbrüche und Anfälle von Wahnsinn, Augenblicke völliger Verwirrtheit, Seligkeit und unvernünftiger und gefährlicher Entscheidungen, die getroffen werden, um Vergnügen und Aufregung zu steigern und das Gefühl hervorzurufen, man habe alles unter Kontrolle. (Behrman, 2002) Wenn die Manie nachlässt, bleiben die Betroffenen in dem Versuch zurück, die Beseitigung des Schadens und der misslichen Lage, die während ihres Wahn-
14.3 Affektive Störungen
sinns entstanden sind, irgendwie zu bewerkstelligen. Manische Episoden werden so fast immer von solch schwerer Depression abgelöst. Dauer und Frequenz der Stimmungswechsel bei bipolaren Störungen variieren stark zwischen einzelnen Personen. Manche Menschen erleben lange Phasen eines normalen Lebens, unterbrochen von gelegentlichen kurzen manischen oder depressiven Episoden. Ein geringer Prozentsatz unglückseliger Personen wechselt kontinuierlich zwischen manischen Episoden und klinischer Depression, ein endloser Zyklus, zerstörerisch für sie selbst, ihre Familien, ihre Freunde und ihre Kollegen. In einer manischen Episode verschleudern sie ihre Ersparnisse oder machen Fremden verschwenderische Geschenke; Ereignisse, die später zu Schuldgefühlen führen, wenn sie sich in der depressiven Phase befinden. Bipolare Störungen sind seltener als Major Depression und kommen bei etwa 3,9 Prozent der Erwachsenen vor (Kessler et al., 2005a).
14.3.3 Affektive Störungen: Ursachen Welche Faktoren sind an der Entwicklung affektiver Störungen beteiligt? Wir werden diese Frage aus der biologischen, psychodynamischen, behavioristischen und kognitiven Perspektive betrachten. Beachten Sie, dass aufgrund der höheren Prävalenz die Major Depression intensiver untersucht wurde als die bipolare Störung. Unsere Übersicht spiegelt diese Konzentration in der Forschung wider.
et al., 2002). Zum Beispiel konnte mit fMRT-Scans gezeigt werden, dass die Gehirne der an bipolarer Störung Erkrankten in depressiven und manischen Zuständen unterschiedlich reagieren (Blumberg et al., 2003). Abbildung 14.3 zeigt die Daten von 36 Menschen mit bipolarer Störung. Zur Zeit der Studie waren elf in Hochstimmung, zehn depressiv und 15 in euthymischer, also ausgeglichener, Stimmung. Alle Teilnehmer führten dieselbe kognitive Aufgabe durch – Benennen der Farben, in denen Beispielwörter gedruckt waren –, während die fMRT-Scans angefertigt wurden. Abbildung 14.3 zeigt, dass bestimmte Areale des Cortex abhängig von der jeweils durchlaufenen Phase der bipolaren Störung mehr oder weniger aktiv waren. Der Beitrag der Biologie zur Ätiologie affektiver Störungen wird durch Hinweise verstärkt, dass deren Auftretenswahrscheinlichkeit durch genetische Faktoren beeinflusst wird (Johnson et al., 2002). Zwillingsstudien zeigen: Wenn ein eineiiger Zwilling an einer affektiven Störung erkrankt ist, wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent auch der zweite Zwilling erkranken. Bei zweieiigen Zwillingen, deren Gene nicht identisch sind, liegt diese Zahl bei nur 20 Prozent (Ciaranello & Ciaranello, 1991; Gershon et al., 1987). Im Kasten Psychologie im Alltag berichten wir Fortschritte aus der Forschung, die einzelnen Gene zu identifizieren, die einen Einfluss auf die Prädisposition des Einzelnen für affektive Störungen haben. Lassen Sie uns nun betrachten, was die drei wichtigen psychologischen Ansätze zum Verständnis des Ausbruchs affektiver Störungen beitragen können. Steigerung
Biologische Ansätze Zahlreiche Forschungsmethoden liefern Hinweise auf einen Beitrag biologischer Faktoren zur Entstehung affektiver Störungen. Die Tatsache, dass manische und depressive Symptome durch unterschiedliche Medikamente gelindert werden, belegt beispielsweise, dass den beiden Extremen der bipolaren Störung unterschiedliche Zustände des Gehirns zugrunde liegen. Ein zu geringes Niveau der chemischen Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin wird mit Depression in Verbindung gebracht; ein zu hohes Niveau dieser Neurotransmitter wird mit Manie assoziiert. Die genauen biochemischen Mechanismen der affektiven Störungen wurden bislang jedoch noch nicht entdeckt (Nestler et al., 2002). Die Hirnforschung setzt inzwischen bildgebende Verfahren ein, um die Ursachen und Folgen affektiver Störungen zu verstehen (Liotti et al., 2002; Strakowski
A
B
Abnahme
Abbildung 14.3: Gehirnaktivität und bipolare Störung. Menschen mit bipolarer Störung unterzogen sich fMRT-Scans, während sie eine kognitive Aufgabe lösten. Die Reaktion des Gehirns war unterschiedlich in einer Region namens kaudaler ventraler präfrontaler Cortex (cVPFC), und zwar abhängig davon, ob die Testpersonen gerade in ausgeglichener, gehobener oder depressiver Stimmung waren. Wie in A gezeigt, war gesteigerte Aktivität im linken cVPFC bei Menschen in depressiver Stimmung im Vergleich zu denen in ausgeglichener Stimmung zu beobachten. Wie aus B ersichtlich, zeigten Menschen in gehobener Stimmung reduzierte Aktivität im rechten cVPFC im Vergleich zu denen in ausgeglichener Stimmung.
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Psychodynamisches Modell
Kognitives Modell
Im psychodynamischen Ansatz spielen unbewusste Konflikte und feindselige Gefühle, die ihre Ursprünge in der frühen Kindheit haben, eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Depressionen. Freud war beeindruckt vom Ausmaß der Selbstkritik und von den Schuldgefühlen, die depressive Patienten aufwiesen. Er glaubte, dass die Quelle dieser Selbstvorwürfe Zorn war, der ursprünglich jedoch auf jemand anderen gerichtet war und sich nun nach innen gegen das Selbst richtete. Der Zorn, so nahm Freud an, hängt eng mit einer besonders intensiven und abhängigen Beziehung in der Kindheit zusammen, wie beispielsweise einer Eltern-Kind-Beziehung, die den Bedürfnissen oder Erwartungen der Person nicht gerecht wurde. Verluste, reale oder symbolische, reaktivieren im Erwachsenenalter feindselige Gefühle, die nun auf das eigene Ich gerichtet werden und jene Selbstvorwürfe hervorrufen, die charakteristisch für die Depression sind.
Im Zentrum des kognitiven Ansatzes zur Depression stehen zwei Theorien. Eine Theorie nimmt an, dass negative kognitive Schemata – Schablonen, die als Muster für die Wahrnehmung der Welt dienen – dazu führen, dass Personen Ereignisse, für die sie sich verantwortlich fühlen, auf eine negative Art und Weise betrachten. Die zweite Theorie, die Theorie der erlernten Hilflosigkeit, geht davon aus, dass Depressionen durch den Glauben hervorgerufen werden, wenig oder gar keine persönliche Kontrolle über bedeutsame Lebensereignisse zu haben. Jedes der Modelle erklärt verschiedene Aspekte depressiver Erfahrungen. Lassen Sie uns sehen, in welcher Weise. Aaron Beck (1983, 1985, 1988), einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Depression, entwickelte die Theorie der kognitiven Schemata. Er nahm an, dass depressive Menschen drei Arten kognitiver Verzerrungen aufweisen, die er als die kognitive Triade der Depression bezeichnet: ein negatives Selbstkonzept, eine negative Sicht ihrer aktuellen persönlichen Erfahrungen und eine negative Einschätzung der Zukunft. Depressive Menschen tendieren dazu, sich selbst als unzulänglich und fehlerhaft wahrzunehmen, und zu glauben, dass die Zukunft weiterhin nur Leiden und Schwierigkeiten bringen wird. Dieses negative Denkmuster überdeckt alle Erfahrungen und ruft so die anderen charakteristischen Kennzeichen der Depression hervor. Eine Person, die immer mit einem negativen Ergebnis rechnet, ist wahrscheinlich wenig motiviert, ein Ziel anzustreben. Dies führt zu jener Lähmung des Willens, die so bekannt ist bei der Depression. Nach der Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Martin Seligman (siehe Kapitel 11) glauben Personen, ob das nun stimmt oder auch nicht, dass sie zukünftige Ereignisse, die für sie von Bedeutung sind, nicht beeinflussen können. Seligmans Theorie entwickelte sich aus Forschungsarbeiten, die depressionsähnliche Symptome bei Hunden (und später auch bei anderen Tierarten) aufzeigten. Seligman und Maier (1967) setzten Hunde schmerzhaften, nicht vermeidbaren Schocks aus: Gleich, was die Hunde taten, es gab keine Möglichkeit, den Schocks zu entkommen. Die Hunde entwickelten, was Seligman und Maier erlernte Hilflosigkeit nannten. Erlernte Hilflosigkeit ist durch drei Arten von Defiziten gekennzeichnet: motivationale Defizite – die Hunde brauchten lange, um bekannte Verhaltensweisen abzurufen; emotionale Defizite – sie reagierten versteinert, lustlos, verängstigt und stresserfüllt; kognitive Defizite – sie zeigten wenig Lern-
Behavioristisches Modell Der behavioristische Ansatz konzentriert sich weniger auf das Unbewusste, um dort nach den Wurzeln der Depression zu suchen, als vielmehr auf das Ausmaß positiver Verstärkung und Bestrafung, die eine Person erfährt (Lewinsohn, 1975, Lewinsohn et al., 1985). Nach dieser Sichtweise entstehen depressive Gefühle, wenn eine Person, nach einem großen Verlust oder nach anderen einschneidenden Veränderungen in ihrem Leben, von ihrer Umwelt nicht in ausreichendem Maß positiv verstärkt wird und viele Bestrafungen erlebt. Ohne ausreichende positive Verstärkung beginnt eine Person, sich bedrückt zu fühlen, und zieht sich zurück. Dieser Zustand der Bedrücktheit wird anfänglich durch ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit und Sympathie von anderen verstärkt (Biglan, 1991). Typischerweise finden Freunde, die zuerst mit Unterstützung reagierten, die negativen Stimmungen und Einstellungen der Person irgendwann ermüdend, und sie beginnen, sie zu meiden. Diese Reaktion eliminiert eine weitere Quelle positiver Verstärkung und stürzt die Person tiefer in die Depression. Forschungsergebnisse zeigen auch, dass depressive Personen dazu tendieren, positives Feedback zu unterschätzen und negatives Feedback zu überschätzen (Kennedy & Craighead, 1988; Nelson & Craighead, 1977).
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14.3 Affektive Störungen
et al., 2006). Die Teilnehmer wurden einer strukturierten Befragung unterzogen, in der sie versuchten, die glücklichsten und die traurigsten Ereignisse ihres Lebens zu erzählen. Die Befrager gaben den Probanden so viel Zeit für das Aufrufen der Erinnerungen, wie sie brauchten. Die Befragungen wurden auf Video aufgezeichnet. Die Stimmungskongruenz-Hypothese geht davon aus, dass Menschen mit Depressionen besondere Schwierigkeiten haben würden, sich an glückliche Ereignisse zu erinnern. Forschungsassistenten, denen der Depressionsstatus (gegenwärtig depressiv, früher depressiv, Kontrollgruppe) der Befragten nicht bekannt war, bewerteten jedes Video danach, wie viel Anstrengung es für den Befragten erforderte, glückliche und traurige Erinnerungen aufzurufen. Wie in Abbildung 14.4 gezeigt, hatten die zum Zeitpunkt der Untersuchung Depressiven besondere Schwierigkeiten beim Aufrufen glücklicher Erinnerungen. Weitere Analysen zeigten, dass depressive Teilnehmer darüber hinaus glückliche Erinnerungen erwähnten, die mit dem geringsten konkreten Gehalt verbunden waren.
4
Glücklichste Ereignisse Traurigste Ereignisse
3,5 Erinnerungsschwierigkeit
erfolg in neuen Situationen. Auch wenn man sie in eine Situation brachte, in der sie die Möglichkeit hatten, die Schocks zu vermeiden, lernten sie es nicht (Maier & Seligman, 1976). Seligman war der Ansicht, dass auch depressive Menschen sich in einem Zustand erlernter Hilflosigkeit befinden: Sie haben die Erwartung, dass nichts von dem, was sie tun können, von Bedeutung ist (Abramson et al. 1978; Peterson & Seligman, 1984; Seligman, 1975). Das Aufkommen dieses Zustandes hängt jedoch stark damit zusammen, wie Personen Ereignisse in ihrem Leben erklären (attribuieren). Wie wir in Kapitel 11 besprochen haben, lässt sich der Attributionsstil einer Person auf drei Dimensionen erfassen: internal – external, global – spezifisch und stabil – instabil. Angenommen, Sie hätten gerade eine schlechte Note in einer Psychologieprüfung erhalten. Sie attribuieren das negative Ergebnis internal („Ich bin dumm“) und fühlen sich dementsprechend bedrückt. Attribuierten Sie das Ergebnis stattdessen external („Die Prüfung war wirklich schwer“), hätten Sie sich wohl eher geärgert. Sie hätten ein weniger stabiles internales Merkmal als Intelligenz wählen können, um Ihre Leistung zu erklären („Ich war an diesem Tag sehr müde“). Anstatt Ihre Leistung auf einen internalen stabilen Faktor mit globalem, weit reichendem Einfluss (Dummheit) zu attribuieren, hätten Sie Ihre Ursachenzuschreibung auf die Psychologieprüfung einschränken können („Ich bin nicht gut in Psychologie“). Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit geht davon aus, dass insbesondere Personen, die ein Scheitern internal, stabil und global attribuieren, anfällig für Depressionen sind. Diese Annahme wurde wiederholt bestätigt (Peterson & Vaidya, 2001; Seligman, 1991). Wenn Menschen einmal in die negativen Affekte geraten, die mit einer Major Depression verbunden ist, machen es die normalen kognitiven Prozesse schwieriger für sie, diesen Affekten zu entkommen. Erinnern Sie sich aus Kapitel 12, dass es eine generelle Tendenz zu stimmungskongruenter Informationsverarbeitung gibt: Man neigt dazu, Information so zu sammeln und zu verarbeiten, dass sie kongruent zur gegenwärtigen Stimmungslage ist. Die Forschung hat den Effekt stimmungskongruenter Informationsverarbeitung bei Depressionskranken aufgezeigt.
3
2,5
2
1,5
Major Depression
Überwundene Kontrollgruppe Major Depression
Diagnostische Gruppe
AUS DER FORSCHUNG
Abbildung 14.4: Stimmungskongruentes Sicherinnern bei Major Depression. Teilnehmer, die an einer Major Depression litten, hatten die meisten Schwierigkeiten damit, sich an die glücklichsten Ereignisse ihres Lebens zu erinnern. Teilnehmer, die von einer solchen Störung genesen waren, zeigten dagegen ein Muster beim Aufrufen von Erinnerungen, das sehr dem der Kontrollgruppenteilnehmer glich, die nie depressiv gewesen waren (nach Rottenberg et al., 2006).
Ein Forscherteam warb 26 Teilnehmer an, die gerade an Depressionen litten, 19 Teilnehmer, die von einer Depression genesen waren, und außerdem 29 Kontrollteilnehmer, die noch nie Depressionen gehabt hatten (Rottenberg
Diese Forschung zeigt, dass Menschen mit Major Depression es schwierig finden, sich an irgendetwas Schönes in ihrem Leben zu erinnern. Sie verstehen,
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wie diese Erinnerungstendenz dazu beitragen kann, eine Depression ausweglos erscheinen zu lassen. In Kapitel 15 werden wir sehen, dass die Erkenntnisse, welche die kognitiven Theorien der Depression ermöglicht haben, zu der Entstehung erfolgreicher Therapieverfahren beigetragen haben. Hier an dieser Stelle gibt es jedoch noch zwei weitere wichtige Aspekte der Depression, die wir näher beleuchten werden: die großen Geschlechterunterschiede bei der Prävalenz der Depression und die Verbindung zwischen Depression und Suizid.
14.3.4 Geschlechterunterschiede bei der Depression Eine der zentralen Fragestellungen bei der Erforschung der Depression ist, warum Frauen doppelt so häufig betroffen sind wie Männer (Kessler, 2003). Schätzungen der Prävalenz affektiver Störungen ergeben, dass etwa 21 Prozent der Frauen und 13 Prozent der Männer im Laufe ihres Lebens an einer Major Depression leiden (Kessler et al., 1994). Ein Faktor, der zu diesem Unterschied beiträgt, ist leider sehr eindeutig: Im Durchschnitt erfahren Frauen mehr negative Erlebnisse und Stressfaktoren im Leben als Männer (Hankin & Abramson, 2001; Nolen-Hoeksma, 2002). So ist zum Beispiel für Frauen die Wahrscheinlichkeit körperlicher Misshandlung und sexuellen Missbrauchs größer, außerdem die Wahrscheinlichkeit, als Versorgerin von Kindern und Eltern in Armut zu leben. Daher gibt es im Leben von Frauen mehr Ereignisse der Art, die einer schweren Depression den Boden bereiten. Andere geschlechtsspezifische Unterschiede erklären, warum Frauen leichter depressiv werden, wenn dieser Boden erst einmal bereitet ist. So haben Frauen vielleicht eher einen Attributionsstil des intern-global-stabilen Typs. Auch andere kognitive Faktoren sind hier beteiligt. Die Forschungen von Susan NolenHoeksema (2002; Nolen-Hoeksema et al., 1999) deuten auf die Reaktionsstile von Männern und Frauen, wenn sie in negative Stimmungen geraten. Nach dieser Ansicht denken Frauen, wenn sie sich bedrückt oder traurig fühlen, über die möglichen Ursachen und Implikationen ihrer Gefühle nach. Männer versuchen im Gegensatz dazu, sich aktiv von den depressiven Gefühlen abzulenken, indem sie sich entweder auf etwas anderes konzentrieren oder körperlich aktiv werden und so mit ihren Gedanken nicht weiter um ihre aktuelle Stimmung kreisen. Dieses Modell nimmt an, dass es der nachdenkliche, grübelnde Reaktionsstil
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Welche Faktoren erklären, warum mehr Frauen als Männer an Depressionen leiden? der Frauen ist, ihre Tendenz, sich zwanghaft auf ihre Probleme zu konzentrieren, der ihre Empfänglichkeit für Depressionen erhöht. Aus einer kognitiven Perspektive betrachtet kann die Aufmerksamkeitsfokussierung auf negative Stimmungen die Gedanken an negative Ereignisse fördern, was unter Umständen die Quantität und/oder Intensität negativer Gefühle erhöht. Grüblerische Männer neigen ebenfalls zur Depression. Der geschlechtsspezifische Unterschied entsteht hier, weil mehr Frauen grübeln (Nolen-Hoeksema et al., 1999). Es gibt eine Beziehung zwischen den Gender-Unterschieden in der Lebenserfahrung und jenen in den kognitiven Stilen. Die Forschung geht davon aus, dass Frauen negative Ereignisse möglicherweise anders erklären, weil sie mehr zu erklären haben (Hankin & Abramson, 2001). Nehmen wir an, negative Ereignisse widerfahren Ihnen sehr häufig. Würden Sie nicht anfangen, diese Ereignisse etwa sich selbst zuzuschreiben, anstatt die Ursache in der Umwelt zu suchen? Dieses generelle Muster legt nahe, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Depressionen so lange bestehen werden, wie es diese Unterschiede in der Lebenserfahrung gibt.
14.3 Affektive Störungen
14.3.5 Suizid „Der Wille zu überleben und weiterzumachen wurde zerschmettert und besiegt. Es kommt eine Zeit, wenn die Welt ins Dunkel taucht und jeder Hoffnungsschimmer erlischt“ (Shneidman, 1987, S. 57). Diese traurige Aussage eines suizidgefährdeten jungen Mannes zeichnet ein Bild der extremsten Konsequenz jeder psychischen Störung – Suizid. Während die meisten depressiven Personen keinen Suizid begehen, ergeben Schätzungen, dass die meisten Suizide – vielleicht 50 bis 80 Prozent – von Personen begangen werden, die an einer Depression leiden (Conner et al., 2001). In der Bevölkerung der USA liegt die Zahl der Suizide bei etwa 30.000. Da als Todesursache für viele Suizide Unfälle oder anderes angenommen werden, liegt die tatsächliche Zahl wahrscheinlich sehr viel höher. In Deutschland gab es nach offizieller Statistik, die ebenfalls dem Problem hoher Dunkelziffern unterliegt, im Jahr 2005 12,4 Suizide pro 100.000 Einwohnern. Männer begehen etwa dreimal so häufig Suizid wie
Sehr erfolgreiche Personen, wie zum Beispiel der Rockstar Kurt Cobain, sind nicht immun gegenüber Gefühlen tiefer Verzweiflung, die zu einem Suizid führen können. Welche Zusammenhänge zwischen Depressionen und Suizid hat die Wissenschaft entdeckt?
Frauen. Da Depressionen häufiger bei Frauen auftreten, überrascht es auch nicht, dass Frauen etwa dreimal so häufig Suizidversuche unternehmen als Männer; die Suizidversuche der Männer sind jedoch zielführender. Dieser Unterschied dürfte zu einem größten Teil dadurch zustande kommen, dass Männer häufiger Schusswaffen verwenden, während Frauen eher auf weniger tödliche Mittel, wie beispielsweise Schlaftabletten, zurückgreifen (Berman & Jobes, 1991). Gleichwohl bildete 1999 in Deutschland bei Frauen wie bei Männern das Erhängen die häufigste Suizidmethode. Eines der alarmierendsten sozialen Probleme der letzten Jahrzehnte in den USA ist der Anstieg der Suizidrate bei Jugendlichen. In Deutschland steigt die Suizidrate mit dem Lebensalter, insbesondere ab dem 60. Lebensjahr. Gleichwohl gehört der Suizid bei Menschen unter 40 Jahren – die insgesamt selten sterben – nach den Unfällen zu den häufigsten Todesursachen. Obwohl Suizid altersgruppenübergreifend die elfthäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten ist, liegt er für Menschen zwischen 15 und 24 Jahren an dritter Stelle (Arias & Smith, 2003). Auf jeden vollendeten Suizid kommen möglicherweise 8 bis 20 Suizidversuche. Um das Suizidrisiko bei Jugendlichen zu bestimmen, wertete ein Forscherteam 128 Studien aus, die etwa 500.000 Menschen zwischen 12 und 20 Jahren einbezogen (Evans et al., 2005). In dieser umfassenden Beispielgruppe hatten 29,9 Prozent der Jugendlichen bereits einmal über Suizid nachgedacht, und 9,7 Prozent hatten bereits einen Versuch unternommen. Für weibliche Jugendliche lag die Wahrscheinlichkeit, bereits einen Suizidversuch unternommen zu haben, doppelt so hoch wie für männliche. Der Suizid von Jugendlichen ist keine unter dem Einfluss des Augenblicks entstehende, impulsive Handlung, sondern er tritt typischerweise am Ende einer Periode innerer Verwirrung und äußerer Not auf. Die Mehrheit jugendlicher Suizidopfer hat mit anderen über ihre Suizidpläne geredet oder über sie geschrieben. Demnach sollten Äußerungen über Suizidabsichten immer ernst genommen werden (Marttunen et al., 1998). Wie bei Erwachsenen auch liegt die Suizidgefahr bei Jugendlichen am höchsten, wenn sie unter einer Depression leiden (Gutierrez et al., 2004). Das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Isolation, wie auch ein negatives Selbstbild, tragen ebenfalls zum Suizidrisiko bei (Rutter & Behrendt, 2004). Des Weiteren unterliegen schwule und lesbische Jugendliche einem noch höheren Suizidrisiko als andere Jugendliche (D’Augelli et al., 2005). Diese höheren Suizidraten spiegeln ohne Zweifel den Mangel an gesellschaft-
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licher Unterstützung dieser sexuellen Orientierung wider. Suizid ist eine extreme Reaktion, die besonders dann auftritt, wenn Jugendliche sich außer Stande sehen, andere um Hilfe zu bitten. Sensibel zu sein für Anzeichen von Suizidabsichten und besorgt genug, um einzugreifen, ist wesentlich für die Rettung von jugendlichen und erwachsenen Menschenleben, die an einem Punkt angelangt sind, an dem sie keinen anderen Ausweg mehr sehen als die endgültige Selbstzerstörung.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Erfahrungen charakterisieren eine bipolare
Störung? 2 Aus welchen Arten von negativer Kognition besteht in
Aaron Becks Theorie die kognitive Triade? 3 Wie trägt der grüblerische Reaktionsstil dazu bei,
geschlechtsspezifische Unterschiede bei Depressionen zu erklären? 4 Wie lauten einige der Suizid-Risikofaktoren bei Jugend-
lichen? KRITISCHES DENKEN: Warum war es in der Studie über Stimmungskongruenz bei Major Depression wichtig, dass auf die Teilnehmer kein Zeitdruck bei der Erinnerungsaufgabe ausgeübt wurde?
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Wie können wir das Wechselspiel von Anlage und Umwelt erkennen?
In diesem Kapitel haben wir hervorgehoben, dass wichtige Typen psychischer Erkrankungen eine genetische Komponente besitzen. Der größte Teil dieser Behauptungen basiert auf Methoden, die Ihnen inzwischen beim Durcharbeiten dieses Buches vertraut sein sollten. Forscher vergleichen beispielsweise die Rate, mit der monozygote und dizygote Zwillinge dieselbe Psychopathologie zeigen, um die Erblichkeit einer bestimmten Störung abschätzen zu können (Coolidge et al., 2001; Hettema et al., 2001). In den letzten Jahren hat die Forschung allerdings begonnen, über Berechnungen der Erblichkeit hinaus zu gehen und die konkreten Unterschiede im genetischen Material zu finden, die einige Menschen für psychische Erkrankungen prädisponieren. Betrachten wir eine Studie, die eine wichtige Beziehung zwischen genetischer Variation und Lebenserfahrungen in der Ätiologie von Depressionen herstellt. Bei der Besprechung affektiver Störungen erwähnten wir, dass Unterbrechungen in der Funktion des Neurotransmitters Serotonin eine Rolle bei Depressionen spielen. Aus diesem Grund haben Forscher ihre Aufmerksamkeit auf ein Gen konzentriert, dass das Serotoninsystem beeinflusst (Caspi et al., 2003). Dieses Gen existiert in einer kurzen (k) und einer langen (l) Form. (In Kapitel 12 haben wir eine Studie beschrieben, in der der Einfluss dieses Gens auf die Reaktion der Amygdala auf emotionale Stimuli untersucht wird [Hariri et al., 2002].) Die Forscher erfassten bei 847 Menschen aus Neuseeland in
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einer Längsschnittstudie ihren Status hinsichtlich dieses Gens. Von ihnen hatten 17 Prozent zwei kurze Versionen des Gens (k/k), 51 Prozent hat eine kurze und eine lange (k/l), und 31 Prozent hatten zwei lange Versionen (l/l). Die Teilnehmer selbst lieferten Informationen über die Stressfaktoren, mit denen sie in ihrem Leben zu kämpfen hatten. In der Altersgruppe von 21 bis 26 Jahren gaben sie an, ob sie solche Erfahrungen wie Arbeitsplatz- oder Finanzkrisen, Gesundheitsprobleme oder Beziehungsschwierigkeiten gemacht hatten. In sämtlichen Genotypen (das heißt k/k, k/l, l/l) erlebte keine Gruppe mehr Stressfaktoren als eine andere. Das ist ein wichtiges Ergebnis: Es legt nahe, dass eventuelle Gruppenunterschiede im Auftreten von Depressionen nicht auf leichtere oder schwerere Lebenswege zurückzuführen sein können. Stattdessen erfahren wir, dass der Genotyp von Menschen sie dafür prädisponiert, unterschiedlich auf ähnliche Erfahrungen zu reagieren. Abschließend bestimmten die Forscher, welche Studienteilnehmer schon an einer Major Depression gelitten hatten. Wie in der Grafik zu sehen, war das Muster, das sich ergab, ziemlich bemerkenswert. Im Allgemeinen entwickelten die Menschen mit mehr Stressfaktoren in ihrem Leben mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Episode der Major Depression. Allerdings hatten, wie die Grafik zeigt, auch die Genotypen einen wichtigen Einfluss. Bei Teilnehmern, die eines oder beide Exemplare des fraglichen Gens in der kurzen Version besaßen, verstärkte sich der Einfluss der negativen Lebensereignisse.
14.4 Persönlichkeitsstörungen
.50
Wahrscheinlichkeit einer Major Depression Episode
Diese Studie konkretisiert viele der Konzepte von Anlage und Umwelt, die wir besprochen haben. Diese Forscher haben gezeigt, dass eine bekannte genetische Differenz in Kombination mit negativen Lebensereignissen die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch depressiv wird, stark erhöht. Durchbrüche im Verständnis des menschlichen Genoms ermöglichen es der Forschung, genau zu bestimmen, wie Anlage und Umwelt miteinander interagieren.
.40
k/k
.30
k/l
.20
l/l
.10 .00 0 1 2 3 4+ Anzahl der Stress auslösenden Lebensereignisse
Persönlichkeitsstörungen
14.4
Eine Persönlichkeitsstörung ist ein lang anhaltendes (chronisches), unflexibles, fehlangepasstes Muster der Wahrnehmung, des Denkens oder des Verhaltens. Solche Muster können die betroffene Person bei der Bewältigung ihres alltäglichen Lebens in sozialen und beruflichen Kontexten stark beeinträchtigen und großes Leid hervorrufen. Persönlichkeitsstörungen treten gewöhnlich erstmals in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter auf. Persönlichkeitsstörungen werden auf Achse II des DSM-IV-TR kodiert. Wie in Tabelle 14.4 gezeigt, ordnet DSMIV-TR zehn Arten von Persönlichkeitsstörungen in drei Clustern an. Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen sind mitunter kontrovers, weil die einzelnen Störungen einander überschneiden: Einige derselben Verhaltensformen treffen auf verschiedene Störungen zu. Außerdem versuchen die Forscher das Verhältnis zwischen normalen und abweichenden Persönlichkeiten zu verstehen. Sie fragen, ab welchem Punkt ein Extremwert in einer bestimmten Dimension eine Störung anzeigt (Livesley & Lang, 2005). So sind zum Beispiel die meisten Menschen bis zu einem gewissen Grad von anderen abhängig. Wann wird diese Abhängigkeit genügend extrem, um eine Abhängigkeitsstörung zu signalisieren? Wie bei anderen Arten psychischer Störungen müssen die Kliniker verstehen, wann und wie Persönlichkeitszüge fehlangepasst werden – also wann und wie diese Züge entweder den Betroffenen oder die Gesellschaft leiden lassen. Um diese Schlussfolgerung zu illustrieren, konzentrieren wir uns auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die antisoziale Persönlichkeitsstörung.
14.4.1 Borderline-Persönlichkeitsstörung Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung erleben in ihren persönlichen Beziehungen große Instabilität und Intensität. Diese Schwierigkeiten entstehen teilweise aus Problemen mit der Kontrolle von Wut. Die Störung treibt die Betroffenen häufig in Schlägereien und Wutanfälle. Außerdem zeigen sie große Impulsivität in ihrem Verhalten – besonders bei Verhalten, das zur Selbstschädigung führen kann, wie Drogenmissbrauch oder Suizidversuche. DSM-IV-TR (2000/03) schätzt die Häufigkeit der Borderline-Persönlichkeitsstörung auf 2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Eine wichtige Komponente der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine intensive Angst davor, verlassen zu werden (Lieb et al., 2004). Die Betroffenen versuchen verzweifelt, mit Verhaltensweisen wie ständigen Telefonanrufen und physischem Anklammern zu verhindern, verlassen zu werden. Allerdings zeigen sie wegen ihrer Schwierigkeiten, sich emotional zu kontrollieren, häufig auch Verhaltensweisen wie Wutanfälle und Anfälle von Selbstattacken, die es gerade schwierig machen, eine Beziehung mit ihnen aufrechtzuhalten. Eine Studie, die Menschen mit BorderlinePersönlichkeitsstörung über zwei Jahre beobachtete, stellte über den ganzen Zeitraum hinweg gestörte soziale Beziehungen fest (Skodol et al., 2005). Dieses Forschungsergebnis legt nahe, dass Borderline-Persönlichkeitsstörungen zeitlich stabil sind.
Ursachen der Borderline-Persönlichkeitsstörung Wie bei anderen Störungen untersuchen Forscher vorrangig sowohl Anlage als auch Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Zwillingsstudien liefern starke Hinweise auf ei-
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14
Psychi sc h e St ör u n gen
Tabelle 14.4
Persönlichkeitsstörungen Störungen
Merkmale
Cluster A: Verhalten erscheint sonderbar oder exzentrisch Paranoid
Misstrauen und Verdächtigungen gegenüber den Motiven der Menschen, mit denen sie zu tun haben
Schizoid
Fehlen des Wunsches nach sozialen Beziehungen; Fehlen von Emotionalität in sozialen Situationen
Schizotypisch
Kognitive oder perzeptive Verzerrungen zusammen mit Unbehagen in sozialen Beziehungen
Cluster B: Verhalten erscheint dramatisch oder affektregulationsgestört Antisozial
Unfähigkeit, die Rechte Anderer zu respektieren; unverantwortliches oder ungesetzliches Verhalten, das soziale Normen verletzt
Borderline
Instabilität und Intensität in persönlichen Beziehungen; Impulsivität, besonders bei Verhaltensweisen, die Selbstschädigung einschließen
Histrionisch
Übertriebene Emotionalität und übersteigertes Aufmerksamkeitsbedürfnis; unangemessenes sexuelles oder seduktives Verhalten
Narzisstisch
Größenwahn und Bedürfnis nach dauernder Bewunderung; fehlendes Einfühlungsvermögen in andere Menschen
Cluster C: Verhalten erscheint ängstlich oder furchtsam Selbstunsicher
Vermeiden persönlicher Kontakte aus Angst vor Zurückweisung; Furcht vor Kritik, Gefühl des Versagens in sozialen Situationen
Abhängig
Abhängigkeit von anderen in wichtigen Bereichen der Lebensführung; Unbehagen und Gefühl der Hilflosigkeit, wenn ohne Hilfe anderer Menschen
Zwanghaft
Festlegung auf Regeln und Listen; Perfektionismus verhindert Ausführen von Aufgaben
nen Beitrag der Gene. So verglich zum Beispiel eine Studie die Konkordanzrate bei eineiigen gegenüber zweieiigen Zwillingen (Torgersen et al., 2000). Wenn ein eineiiger Zwilling an Borderline-Persönlichkeitsstörung litt, zeigten auch 35,5 Prozent der Zwillingsgeschwister diese Erkrankung; bei zweieiigen Zwillingen jedoch nur 6,7 Prozent. Wenn Sie sich aus Kapitel 13 an die starke Erblichkeit von Persönlichkeitszügen erinnern, sind Sie wahrscheinlich nicht überrascht, dass auch Störungen der Persönlichkeitszüge vererbt werden können. Dennoch ergibt die Forschung, dass Umweltfaktoren einen großen Beitrag zur Ätiologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung leisten (Lieb et al., 2004). Eine Studie verglich das Auftreten früher traumatischer Erlebnisse bei 66 Borderline-Patienten mit 109 gesunden Kontrollpersonen (Bandelow et al., 2005). Die Lebensläufe der Patienten wiesen bemerkenswerte Unterschiede auf. So berichteten beispielsweise 73,9 Prozent der Borderline-Patienten von sexuel-
574
lem Missbrauch in ihrer Kindheit, aber nur 5,5 Prozent der Kontrollgruppe. Die Patienten gaben an, dass der Missbrauch durchschnittlich mit sechs Jahren begann und dreieinhalb Jahre anhielt. Dieses frühe Trauma trug wahrscheinlich zum Ausbruch der Störung bei. Allerdings entwickeln nicht alle Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kindheit eine Borderline-Persönlichkeitsstörung – siehe die 5,5 Prozent der Kontrollpersonen, die ebenfalls als Kinder sexuell missbraucht wurden, bei denen die Störung aber nicht auftrat. Sehr wahrscheinlich erklärt eine Kombination aus genetischem Risiko und traumatischen Erlebnissen die Ätiologie der Störung.
14.4.2 Antisoziale Persönlichkeitsstörung Die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist durch permanent unverantwortliche beziehungsweise gesetzeswidrige Verhaltensmuster gekennzeichnet, welche die
14.4 Persönlichkeitsstörungen
„Prügelt sich oft mit anderen Kindern oder tyrannisiert sie“) anzuzeigen. Der Vergleich von eineiigen und zweieiigen Zwillingen legte nahe, dass die Tendenz zu gefühllos-unemotionalem Verhalten eine starke genetische Komponente besitzt. Außerdem trug die Vererbung bei denjenigen Zwillingen, die ein hohes Maß dieser gefühllos-unemotionalen Züge zeigten, auch stark zu antisozialem Verhalten bei. Die Forschung konzentriert sich des Weiteren auf die Umweltbedingungen, die Persönlichkeitsstörungen verursachen (Paris, 2003). Betrachten wir diese Studie über den Zusammenhang zwischen elterlichen Erziehungsmethoden und antisozialen Persönlichkeitszügen. Warum geraten Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung oft in Konflikt mit dem Gesetz?
sozialen Normen verletzen. Lügen, stehlen und sich prügeln sind gängige Verhaltensweisen. Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung empfinden keine Scham oder Reue bei ihren verletzenden Handlungen. Die Verletzung sozialer Normen beginnt schon früh in ihrem Leben – sie stören im Klassenzimmer, prügeln sich, laufen von zu Hause weg. Die Rechte anderer interessieren sie nicht. Etwa drei Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen leiden an antisozialer Persönlichkeitsstörung (DSM-IV-TR, 2000). Die antisoziale Persönlichkeitsstörung tritt häufig zusammen mit anderen Störungen auf. In einer Studie wurde beispielsweise bei etwa 25 Prozent der Personen, die als opiatabhängig eingestuft wurden (z. B. Opium, Morphium und Heroin), auch eine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert (Brooner et al., 1997). Außerdem bringt die antisoziale Persönlichkeitsstörung ein erhöhtes Suizidrisiko mit sich, selbst ohne Major Depression (Hills et al., 2005). Dieses Suizidrisiko ist wahrscheinlich ein Ergebnis der Impulsivität und des fehlenden Sicherheitsbewusstseins, die die Krankheit charakterisieren.
Ursachen der antisozialen Persönlichkeitsstörung Mit Hilfe von Zwillingsstudien haben Forscher die genetischen Komponenten spezifischer Verhaltensweisen untersucht, die mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung zusammenhängen. So untersuchte etwa eine Studie die Verhaltenskonkordanz bei 3 678 Zwillingspaaren (Viding et al., 2005). Lehrer bewerteten Aussagen über jeden Zwilling, um gefühllos-unemotionale Charakterzüge (z. B. „Zeigt keine Gefühle oder Emotionen“) und antisoziales Verhalten (z. B.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscherteam untersuchte 742 Männer und Frauen auf Persönlichkeitszüge, die den DSM-IV-Kriterien für antisoziale Persönlichkeitsstörung genügten (Reti et al., 2002). Die Teilnehmer machten Angaben über das Verhalten ihrer Eltern ihnen gegenüber während der Kindheit, indem sie das Parental Bonding Instrument (PBI) ausfüllten. Das PBI stellte eine Reihe Fragen, die die Teilnehmer auf einer 4Punkte-Skala beantworteten. Einige der Fragen maßen das Ausmaß, in dem sich die Eltern um die Kinder gekümmert hatten (zum Beispiel „Besserten meine Stimmung, wenn ich aufgebracht war“). Andere Fragen maßen das Ausmaß, in dem die Eltern das Verhalten des Kindes regelten (zum Beispiel „Ließen mich das anziehen, was ich wollte“). Eine dritte Art von Fragen maß das Ausmaß, in dem die Eltern ihrem Kind psychologische Freiheit eingeräumt hatten (zum Beispiel „Versuchten alles zu kontrollieren, was ich tat“). Die Forscher suchten nach Zusammenhängen zwischen den PBI-Antworten der Teilnehmer und dem Ausmaß ihrer antisozialen Persönlichkeitszüge. Es stellte sich heraus, dass diejenigen Teilnehmer, deren Eltern sich wenig um sie gekümmert hatten, ein hohes Maß an antisozialen Persönlichkeitszügen zeigten, außerdem auch diejenigen, die glaubten, ihre Mütter seien übermäßig um sie besorgt gewesen.
Die Forscher wiesen allerdings darauf hin, dass Korrelation keine Kausalität bedeutet. Es ist möglich, dass der Erziehungsstil der Eltern antisoziale Züge hervorgerufen hat; es ist auch möglich, dass Kinder, deren Verhalten von antisozialen Zügen beeinflusst wurde, das Verhalten ihrer Eltern ihnen gegenüber negativ beeinflussten. Trotzdem legen die Resultate nahe, dass die Beobachtung von Familienverhältnissen ein gangbarer Weg ist, um festzustellen, welche Kinder stark gefährdet sind, als Erwachsene Formen der antisozialen Persönlichkeitsstörung zu entwickeln.
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Psychi sc h e St ör u n gen
ZWISCHENBILANZ 1 Welche intensive Furcht hegen Menschen mit Border-
line-Persönlichkeitsstörung hinsichtlich persönlicher Beziehungen? 2 Was unterscheidet die frühen Lebensphasen von
Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung von denen gesunder Kontrollpersonen? 3 Warum unterliegen Menschen mit antisozialer Persön-
lichkeitsstörung einem erhöhten Suizidrisiko? KRITISCHES DENKEN: Nennen Sie einen möglichen Grund, warum die Forscher in der Studie, die den Einfluss des Erziehungsstils auf antisoziale Persönlichkeitsstörung mit dem PBI untersuchte, das elterliche Verhalten in den drei verschiedenen Kategorien erfragten.
Somatoforme und dissoziative Störungen
14.5
Anhand unserer überblicksartigen Darstellung verschiedener Arten psychischer Störungen haben Sie gesehen, wie bestimmte alltägliche Erfahrungen, auf die Spitze getrieben, nicht mehr bewältigt werden können oder zu fehlangepasstem Verhalten führen. Ein Beispiel: Jeder Mensch empfindet gelegentlich Angst, aber für einige Menschen werden diese Empfindungen so schlimm, dass sie eine Angststörung entwickeln. In ähnlicher Weise erleben viele Leute Symptome physischer Krankheiten, die keine nachvollziehbaren Ursachen haben; viele Menschen haben Tage, an denen „es ihnen einfach nicht gut geht“. Wenn diese Empfindungen allerdings so stark werden, dass sie das Alltagsleben der Betroffenen beeinträchtigen, kann es sich um somatoforme Störungen oder dissoziative Störungen handeln. Wir sehen uns im Folgenden Symptome und Ätiologie dieser beiden Störungstypen an.
14.5.1 Somatoforme Störungen Ein Mensch, der an einer somatoformen Störung leidet, hat physische Krankheiten oder Beschwerden, die durch tatsächliche medizinische Befunden nicht völlig erklärt werden können. Um eine solche Diagnose stellen zu können, müssen die Betroffenen die Krankheiten oder Beschwerden so stark empfinden, dass der resultierende Distress ihr Alltagsleben beeinträchtigt. Wir konzentrieren uns hier auf Hypochondrie, Somatisationsstörung und Konversionsstörung.
576
Menschen mit Hypochondrie glauben, dass sie physisch krank sind, obwohl ihnen Ärzte versichern, dass sie gesund sind. Sogar wenn sie gerade gesund sind, haben sie möglicherweise ständig Angst, sich eine Krankheit zuzuziehen. Darüber hinaus verursacht diese Fixiertheit auf Kranksein oder Krankwerden genügend Distress, um die Betroffenen in ihrem Alltagsleben zu beeinträchtigen. Um die Häufigkeit von Hypochondrie und anderen somatoformen Störungen zu bewerten, konzentrieren sich die Forscher oft auf Menschen, die einen Arzt konsultieren. In diesem Zusammenhang lautet die Frage, welcher Anteil von Menschen körperliche Beschwerden hat, für die sich keine medizinische Erklärung findet. Die Forschung hat ergeben, dass 4,7 Prozent der über 18-Jährigen, die einen Arzt aufsuchen, die DSM-IV-TR-Kriterien für Hypochondrie erfüllen (Fink et al., 2004). Menschen mit Somatisierungsstörung weisen eine lange Geschichte körperlicher Beschwerden über Jahre hinweg auf. Diese Beschwerden – die medizinisch nicht erklärbar sind – müssen mehrere medizinische Kategorien umfassen. Um die DSM-IV-TR-Kriterien für diese Diagnose zu erfüllen, müssen die Betroffenen vier Schmerzsymptome (etwa Kopfschmerzen oder Magenschmerzen), zwei gastrointestinale Symptome (etwa Übelkeit oder Durchfall), ein sexuelles Symptom (zum Beispiel Erektionsstörung oder exzessive Menstruationsblutung) und ein neurologisches Symptom (zum Beispiel Paralyse oder Doppelsehen) aufweisen. Unter den Erwachsenen, die zum Arzt gehen, erfüllen 1,5 Prozent die Kriterien für eine Somatisationsstörung (Fink et al., 2004). Die Konversionsstörung ist durch einen Verlust der motorischen oder sensorischen Funktion gekennzeichnet, der nicht mit einer Schädigung des Nervensystems oder mit einem anderen körperlichen Schaden erklärt werden kann. Die Betroffenen erleiden beispielsweise Paralyse oder Blindheit ohne eine erkennbare medizinische Ursache. Des Weiteren müssen dem Beginn der physischen Symptome psychologische Faktoren wie beispielsweise ein persönlicher Konflikt oder emotionale Stressfaktoren vorausgehen. Früher wurde die Konversionsstörung als Hysterie bezeichnet – und in bestimmten Epochen für Besessenheit durch den Teufel gehalten. Sigmund Freud trug dazu bei, das gegenwärtige Verständnis der Konversionsstörung zu entwickeln. Eine seiner grundlegendsten Einsichten war, dass sich durch ein psychisches Trauma physische Symptomen einstellen können. Konversionsstörung wird bei 1,5 Prozent der Erwachsenen festgestellt, die einen Arzt aufsuchen (Fink et al., 2004).
14.5 Somatoforme und dissoziative Störungen
Ursachen somatoformer Störungen Das Definitionscharakteristikum somatoformer Störungen ist, dass die Betroffenen physische Beschwerden haben, die medizinisch nicht adäquat erklärt werden können. Die Forschung bemüht sich zu verstehen, wie das möglich ist: Wie können beispielsweise Menschen mit intaktem Nervensystem eine Lähmung erleiden? Es gibt inzwischen Studien mit bildgebenden Verfahren, um die Grundlagen der Konversionsstörung im Gehirn zu entdecken (Black et al., 2004). Betrachten wir eine Studie, die zeigte, dass Menschen mit Konversionssymptomen andere Hirnaktivitätsmuster zeigen als solche, die nur vorgeben, diese Symptome zu haben.
AUS DER FORSCHUNG Die Studie konzentrierte sich auf zwei Männer, die an einer Schwäche im linken Arm litten, die nicht auf eine neurologische Störung zurückging (Spence et al., 2000). Diese beiden Männer unterzogen sich PET-Scans, während sie ruhten und während sie einen Joystick mit der linken Hand bewegten. Die Forscher baten zwei gesunde Menschen, dieselben Symptome zu simulieren. Diese Simulanten führten dieselben Aufgaben aus, genau wie eine Kontrollgruppe von sechs Menschen, die keine speziellen Anweisungen erhalten hatten. Die Hirnaktivität der Patienten mit Konversionsstörung unterschied sich nicht von der der anderen Teilnehmer, während sie ruhten. Es stellten sich allerdings Unterschiede heraus, wenn die Probanden ihre linke Hand bewegen sollten. Sowohl die Patienten als auch die Simulanten zeigten verringerte Hirnaktivität bei dieser Aufgabe – dies spiegelt die Symptome der Patienten und das Simulieren der Simulanten wider. Bei beiden Gruppen verringerte sich die Aktivität allerdings in verschiedenen Hirnarealen. Die Patienten mit Konversionssymptomen simulierten also nicht nur, ihren Arm nicht mehr bewegen zu können.
Die Hirnregion, die bei diesen Patienten inaktiv blieb, spielt eine wichtige Rolle in der Auswahl willkürlicher Handlungen. Die Daten dieser Studie deuten auf eine Trennung von Bewusstheit und Absicht hin: Konversionsstörung bewirkt im Gehirn, dass die Patienten sich nicht bewusst sind, den Arm „willentlich“ nicht zu bewegen. Die Forschung konzentriert sich des Weiteren auf kognitive Prozesse, die zu somatoformen Störungen beitragen (Brown, 2004). Ein wichtiger Aspekt der Hypochondrie ist zum Beispiel ein Aufmerksamkeitsbias in der Art, wie Menschen auf körperliche Empfindungen reagieren. Angenommen, Sie erwa-
chen eines Morgens mit einem rauen Hals. Wenn Sie einen Aufmerksamkeitsbias haben, der es Ihnen schwer macht, an etwas anderes als diesen rauen Hals zu denken, dann könnten Sie anfangen zu glauben, ernsthaft krank zu sein. Tatsächlich hat eine Studie gezeigt, dass Menschen, die sich sehr um ihre Gesundheit ängstigen, es sogar schwierig finden, ihre Aufmerksamkeit von Wörtern wie Krebs, Tumor und Schlaganfall abzu wenden (Owens et al., 2004). Die starre Konzentration auf Symptome und Krankheiten führt in einen Teufelskreis: Stress und Angst haben physische Folgen (z. B. verstärktes Schwitzen und beschleunigten Herzschlag), die sich wie Krankheitssymptome anfühlen können – und so weiteres Material für die Angst um die Gesundheit liefern. Jemand, der alle physischen Symptome einer Krankheit zuschreibt, sieht vielleicht ein gefährliches Symptombündel im Zusammentreffen von rauem Hals, verstärkter Schweißbildung und beschleunigtem Herzschlag. So führt die verzerrte Aufmerksamkeit, die mit somatoformen Störungen einhergeht, zur Übertreibung unbedeutender körperlicher Empfindungen.
14.5.2 Dissoziative Störungen Eine dissoziative Störung ist eine Unterbrechung der Integration von Identität, Gedächtnis und Bewusstsein. Es ist wichtig für Menschen, die Kontrolle über das eigene Verhalten zu erleben, einschließlich der Emotionen, Gedanken und Handlungen. Von großer Bedeutung für diese Wahrnehmung der Selbstkontrolle ist das Gefühl der Individualität – der Konsistenz verschiedener Aspekte des Selbst und der Kontinuität der Identität über Zeit und Raum hinweg. Psychologen glauben, dass in dissoziativen Zuständen die betroffenen Personen vor ihren Konflikten fliehen, indem sie diese wertvolle Konsistenz und Kontinuität aufgeben – in gewisser Weise einen Teil von sich selbst verleugnen. Das Vergessen wichtiger persönlicher Erfahrungen, ausgelöst durch psychische Faktoren und ohne das Vorhandensein einer organischen Fehlfunktion, ist ein Beispiel einer Dissoziation. Man nennt dies dissoziative Amnesie. Psychologen haben damit begonnen zu dokumentieren, in welchem Ausmaß eine solche Gedächtnisdissoziation mit Ereignissen wie Kindesmissbrauch einhergeht (Draijer & Langeland, 1999). Andere Arten starker Traumata – wie beispielsweise der Feuersturm, der Oakland und Berkeley in Kalifornien 1991 überrannte und bei dem 25 Menschen starben und über eine Milliarde Dollar Schaden entstand – können ebenfalls dissoziative Symptome auslösen (Koopman et al., 1996).
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Genau wie die Wellen, die den Ozean von innen nach außen kehren und das Wasser umarrangieren, rauschen Einzelne von uns ein und aus wie Ebbe und Flut, manchmal sanft, manchmal stürmisch. Ein Mädchen malt mit Wachsmalstiften. Es macht Platz für die Verwalterin, welche die Kontoauszüge abgleicht. Einen Moment später übernimmt das tote Baby und liegt reglos auf dem Boden. Es bleibt so eine Weile liegen, aber niemand ist verärgert darüber – sie ist an der Reihe. Das lebendige Baby hört auf zu krabbeln, beansprucht vom Anblick einer Staubflocke. Die Köchin bereitet Mahlzeiten für drei Tage vor und verpackt sie einzeln – wir mögen alle Unterschiedliches. Jemand Erschrecktes schreit laut auf, jemand Verletztes stöhnt, jemand Bekümmertes jammert.
Als sie in einem Park in Florida gefunden wurde, war diese Frau (von den zuständigen Personen „Jane Doe“ genannt) abgemagert, durcheinander und dem Tod nahe. Sie litt an einer schweren Amnesie und hatte nicht nur ihren Namen und ihre Vergangenheit vergessen, sondern auch die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben verloren. Welche Formen von Traumata führen zu einer dissoziativen Amnesie? Die dissoziative Identitätsstörung, früher als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, ist eine dissoziative psychische Störung, bei der innerhalb eines Individuums zwei oder mehr eigenständige Persönlichkeiten existieren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt dominiert immer eine der Persönlichkeiten das Verhalten. Die dissoziative Identitätsstörung wird im Volksmund auch Persönlichkeitsspaltung und fälschlicherweise manchmal auch Schizophrenie genannt, eine Störung, bei der, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, die Persönlichkeit zwar oft beeinträchtigt ist, sich jedoch nicht in verschiedene Identitäten aufteilt. Bei der dissoziativen Identitätsstörung steht jede der Persönlichkeiten in einem bedeutsamen Kontrast zum ursprünglichen Selbst – sie ist vielleicht extravertiert, wenn die Person eher schüchtern ist, stark, wenn die ursprüngliche Persönlichkeit schwach ist, sexuell bestimmend, wenn die andere ängstlich und sexuell zurückhaltend ist. Jede Persönlichkeit hat eine eigene Identität, einen Namen und ein Verhaltensmuster. In manchen Fällen können Dutzende von Charakteren gleichzeitig auftreten, um einer Person in einer schwierigen Lebenssituation zu helfen. Hier ist ein Auszug aus einem Bericht einer Frau, die an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet (Mason, 1997, S. 44):
578
Können Sie sich in die Situation der Frau versetzen und sich vorstellen, wie es wäre, diese Fülle an „Personen“ – das Kind, das tote Baby, die Köchin und so weiter – in Ihrem Kopf zu haben?
Ursachen dissoziativer Störungen Manche Psychologen glauben, dass sich multiple Persönlichkeiten entwickeln, um einen lebenswichtigen Dienst zu erweisen. Opfer mit einer dissoziativen Identitätsstörung wurden geschlagen, eingesperrt oder verlassen von jenen, die sie lieben sollten – jene, von denen sie so abhängig waren, dass sie sich nicht gegen sie wehren konnten, sie nicht verlassen konnten, sie noch nicht einmal hassen konnten. Stattdessen, aus psychodynamischer Perspektive betrachtet, entflohen sie dem Schrecken symbolisch durch Dissoziation. Sie schützten ihr Ich durch den Aufbau stärkerer innerer Charaktere, die ihnen halfen, die anhaltende traumatische Situation zu bewältigen. Typischerweise sind Opfer mit dissoziativer Identitätsstörung Frauen, die von schweren sexuellen oder körperlichen Misshandlungen durch Eltern, Verwandte oder enge Freunde berichten, wobei die Misshandlungen über einen langen Zeitraum während ihrer Kindheit erfolgten. In einer Studie wurden Fragebogendaten von 448 Klinikern erhoben, die Fälle mit dissoziativer Identitätsstörung oder Major Depression (zu Vergleichszwecken) behandelten. Wie Tabelle 14.5 zeigt, ist das dominante Kennzeichen der 335 Fälle dissoziativer Identitätsstörung der beinahe einhellige Bericht von Missbrauch, der häufig etwa im Alter von drei Jahren begann und über ein Jahrzehnt hinweg andauerte. Obwohl die 235 Vergleichspatienten mit depressiver Stö-
14.6 Schizophrene Störungen
Tabelle 14.5
Antworten auf Fragen bezüglich Missbrauch: Dissoziative Identitätsstörung und Depression im Vergleich Fragebogen-Item
Dissoziative I dentitätsstörung (%)
Major Depression (%)
Vorkommen von Missbrauch
98
54
Körperlich
82
24
Sexuell
86
25
Psychisch
86
42
Vernachlässigung
54
21
Jede der genannte Arten
47
6
Körperlich und sexuell
74
14
(N = 355)
(N = 235)
Arten
rung auch ein häufiges Vorkommen von Missbrauch aufwiesen, war es signifikant geringer als bei den Betroffenen der dissoziativen Identitätsstörung (Schultz et al., 1989). Obwohl diese Daten – und auch persönliche Berichte von der Art, wie wir hier angeführt haben – überzeugend erscheinen, bleiben viele Psychologen hinsichtlich der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung skeptisch (Lilienfeld & Lynn, 2003). Es gibt keine verlässlichen Daten über die Prävalenz dieser Störung (DSM-IV-TR, 2003). Skeptiker sind häufig der Meinung, dass jene Therapeuten, die an eine dissoziative Identitätsstörung glauben, auch in ihren Patienten eine dissoziative Identitätsstörung erkennen. Diese Therapeuten verwenden, oft unter Hypnose, Fragetechniken, die multiple Persönlichkeiten dazu ermuntern, „an die Oberfläche zu kommen“. Andere Psychologen glauben, dass die dissoziative Identitätsstörung nicht nur ein Produkt übereifriger Therapeuten ist, sondern dass sich hinreichende Belege angesammelt haben, die für die Existenz der dissoziativen Identitätsstörung sprechen (Gleaves, 1996). Auf der sicheren Seite befinden wir uns wohl, wenn wir schlussfolgern, dass sich unter den Menschen, bei denen eine dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert wurde, sowohl echte Fälle befinden als auch Fälle, die erst aufgrund der Fragen durch die Therapeuten zum Vorschein gekommen sind.
ZWISCHENBILANZ 1 Max glaubt, dass seine Kopfschmerzen auf einen Hirn-
tumor zurückgehen, obwohl ihm sein Arzt versichert, dass er gesund ist. An welcher somatoformen Störung leidet Max möglicherweise? 2 Wie wird dissoziative Amnesie definiert? 3 Was sagt die Forschung über die Lebenserfahrungen,
die eine Rolle in der Ätiologie der dissoziativen Identitätsstörung spielen? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie, in der die Hirnvorgänge bei Konversionssymptomen untersucht wurden. Warum war es wichtig, dass die Patienten mit Konversionssymptomen im Ruhezustand keinen Unterschied in der Hirnaktivität zeigten?
Schizophrene Störungen
14.6
Jeder weiß, wie es sich anfühlt, depressiv oder ängstlich zu sein, obwohl die meisten von uns diese Empfindungen nie in dem Schweregrad erfahren haben, der eine psychische Störung ausmacht. Schizophrenie hingegen ist eine Störung, bei welcher qualitativ andere Erfahrungen gemacht werden als beim normalen Funktionieren. Schizophrenie ist eine schwerwie-
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Psychi sc h e St ör u n gen
gende psychische Störung, bei der die Persönlichkeit auseinander zu fallen scheint, Denken und Wahrnehmung gestört und Emotionen abgestumpft sind. Menschen mit einer schizophrenen Störung kommen Ihnen möglicherweise als Erstes in den Sinn, wenn Sie an Verrücktheit oder Wahnsinn denken. Für viele der Betroffenen ist diese Krankheit eine lebenslange Strafe ohne Hoffnung auf Bewährung. Sie harren aus in einem einsamen Gefängnis, geschaffen durch einen Geist, der sein Leben woanders lebt. Obwohl Schizophrenie relativ selten vorkommt – etwa 0,7 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen litten im Verlauf ihres Lebens an Schizophrenie (Kessler et al., 1994) –, bezieht sich diese Prozentzahl auf etwa zwei Millionen Menschen, die an dieser rätselhaften und tragischen psychischen Störung leiden. In den USA wird etwa die Hälfte der Betten psychiatrischer Kliniken von schizophrenen Patienten belegt, da viele ihr gesamtes Leben im Krankenhaus verbringen, mit wenig Hoffnung, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Mark Vonnegut, der Sohn des Schriftstellers Kurt Vonnegut, war Anfang 20, als die ersten Symptome der Schizophrenie auftraten. The Eden Express (1975) schildert die Geschichte seines Bruches mit der Realität und schließlich seiner Genesung. Einmal, beim Zurückschneiden von Obstbäumen, verlor er den Sinn für die Realität: Ich fing an, darüber nachzudenken, ob ich die Bäume verletzte, und bemerkte, dass ich mich entschuldigte. Jeder Baum wurde zu einer Persönlichkeit. Ich fing an, mich zu fragen, ob einer von ihnen mich mochte. Ich ging völlig darin auf, jeden Baum zu betrachten und ich bemerkte, dass sie immer ein wenig leuchteten; sie schienen in einem sanften inneren Licht, das die Äste umspielte. Und aus dem Nichts erschien auf einmal ein unglaublich faltiges, schimmerndes Gesicht. Es begann als kleiner Punkt in der Ferne; es schnellte nach vorne und wurde ungeheuer groß. Ich konnte nichts anderes mehr sehen. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Dieser Moment dauerte ewig. Ich versuchte, das Gesicht verschwinden zu lassen, aber es lachte mich aus … Ich versuchte, dem Gesicht in die Augen zu schauen, und bemerkte, dass ich alles Bekannte hinter mir gelassen hatte. (1975, S. 96) Vonneguts Beschreibung gibt Ihnen einen kleinen Einblick in die Symptome der Schizophrenie.
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In der Welt der Schizophrenie wird das Denken unlogisch; Assoziationen erfolgen zwischen weit entfernten Ideen ohne irgendein erkennbares Muster. Es treten Halluzinationen auf – Anblicke, Gerüche oder, wie es meistens der Fall ist, Geräusche (in der Regel Stimmen) –, von denen der Patient annimmt, sie seien real. Eine Person kann beispielsweise durchgängig einen Kommentar ihrer eigenen Verhaltensweisen hören oder verschiedene Stimmen, die sich miteinander unterhalten. Wahnvorstellungen kommen ebenfalls häufig vor. Hierunter versteht man falsche oder irrationale Annahmen, die trotz widersprechender Belege beibehalten werden. Die Sprache kann unzusammenhängend werden – ein „Wortsalat“ unverbundener oder erfundener Wörter. Manche Personen werden auch stumm. Affekte können flach oder abgestumpft werden, ohne sichtbaren Ausdruck, oder in der gegebenen Situation völlig unangemessen sein. Das psychomotorische Verhalten kann gestört sein (Grimassen oder seltsame Manierismen) oder die Körperhaltung erstarrt. Auch wenn nur manche dieser Symptome präsent sind, ist es wahrscheinlich, dass die Lebensführung in Beruf oder sozialen Beziehungen negativ beeinflusst wird, dass sich der Patient aus dem sozialen Leben zurückzieht und sich emotional abgrenzt. Psychologen unterscheiden eine positive und eine negative Symptomatik. Während einer akuten oder aktiven Phase der Schizophrenie überwiegen die positiven Symptome – Halluzinationen, Täuschungen, Verwirrtheit und gestörtes Verhalten. Zu anderen Zeiten treten die negativen Symptome – soziale Zurückgezogenheit und Emotionslosigkeit – stärker hervor. Manche Personen, wie zum Beispiel Mark Vonnegut, erleben nur eine oder ein paar akute Phasen der Schizophrenie, werden gesund und können wieder ein normales Leben führen. Andere, die manchmal als chronisch Betroffene bezeichnet werden, erleben entweder wiederholt akute Phasen mit kurzen Unterbrechungen mit negativer Symptomatik oder aber gelegentliche akute Phasen mit lang dauernden Perioden negativer Symptomatik. Aber auch die wirklich stark Gestörten unter ihnen erleben nicht ständig akute Wahnvorstellungen.
14.6.1 Die Hauptformen der Schizophrenie Wegen der großen Bandbreite an Symptomen, die bei einer Schizophrenie auftreten können, betrachten sie die Wissenschaftler nicht als eine einzelne Störung, sondern untergliedern sie in verschiedenen Subtypen. Die fünf bekanntesten Formen sind in Tabelle 14.6 aufgeführt.
14.6 Schizophrene Störungen
Tabelle 14.6
Formen schizophrener Störungen Schizophrenietyp
Wichtige Symptome
Desorganisierter Typus
Unangemessene Verhaltensweisen und Emotionen; desorganisierte Sprechweise
Katatoner Typus
„Eingefrorenes“, erstarrtes oder reizbares motorisches Verhalten
Paranoider Typus
Verfolgungs- oder Größenwahn
Undifferenzierter Typus
Verschiedene Symptome verschiedener Typen verbunden mit Denkstörungen
Residualer Typus
Frei von Hauptsymptomen, aber mit Hinweisen auf Weiterbestehen der Störung durch geringfügige Symptome
Der desorganisierte Typus Bei dieser Form der Schizophrenie zeigt die Person unzusammenhängende Denkmuster sowie bizarre und desorganisierte Verhaltensweisen. Die Emotionen sind flach oder für die Situation unangemessen. Oft verhält sich die Person dumm oder kindisch, kichert beispielsweise ohne erkennbaren Anlass. Die Sprache kann unzusammenhängend sein, voller ungewöhnlicher Wörter oder unvollständiger Sätze, so dass die Kommunikation mit anderen zusammenbricht. Wenn Wahnvorstellungen oder Halluzinationen auftreten, drehen sich diese nicht um eine bestimmte Thematik. Herr F. B. war ein Patient Ende 20 in stationärer Behandlung. Wenn man ihn nach seinem Namen fragte, antwortete er, er versuche ihn zu vergessen, da er jedes Mal anfinge zu weinen, wenn er ihn höre. Er weinte dann einige Minuten lang heftig. Dann, als man ihn nach etwas Ernstem oder Traurigem fragte, kicherte oder lachte er. Als man ihn nach der Bedeutung des Sprichwortes „Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch“ fragte, antwortete er: „Braucht weniger Platz. Katze wusste nicht, was Maus tat, und Maus wusste nicht, was Katze tat. Katze ist auf Seiten der Verdächtigung repräsentativer als Maus. Dumbo war ein guter Kerl. Er sah, was die Katze machte, tat sich mit der Katze zusammen, so dass die Leute sie nicht ansehen würden wie Clowns.“ (Zimbardo, persönliche Mitteilung, 1957)
Die Manierismen des Herrn F. B., seine depersonalisierte, unzusammenhängende Sprache und seine Wahnvorstellungen sind die Kennzeichen des desorganisierten Typus der Schizophrenie.
Der katatone Typus Das Hauptkennzeichen des katatonen Typus der Schizophrenie ist die Störung der motorischen Aktivität. Manchmal wirken Betroffene wie erstarrt – eingefroren in einem Stupor. Die Person kann in diesem regungslosen Zustand, häufig in einer bizarren Körperhaltung, über einen langen Zeitraum hinweg ausharren, ohne irgendwie auf ihre Umwelt zu reagieren. Zu anderen Zeitpunkten zeigen die Patienten dann, scheinbar ziellos und ohne durch einen äußeren Reiz hervorgerufen worden zu sein, eine übermäßige motorische Aktivität. Der katatone Typ fällt außerdem durch eine ausgesprochene Negativität auf. Offensichtlich unmotiviert widersetzt er sich allen Anweisungen.
Der paranoide Typus Betroffene dieser Form der Schizophrenie leiden an komplexen und systematischen Wahnvorstellungen, die sich um eine bestimmte Thematik drehen:
Verfolgungswahn. Die Betroffenen fühlen sich ständig ausspioniert und als Opfer eines Komplotts. Sie befürchten, sie seien in Lebensgefahr.
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Größenwahn. Die Betroffenen glauben, von besonderer Wichtigkeit und Bedeutung zu sein – Millionäre, große Erfinder oder religiöse Persönlichkeiten wie beispielsweise Christus. Gemeinsam mit Größenvorstellungen kann auch Verfolgungswahn auftreten – eine Person ist von besonderer Wichtigkeit und wird daher ständig von bösen Kräften bedroht. Eifersuchtswahn. Die Betroffenen sind – ohne wirklichen Grund – davon überzeugt, von ihren Partnern betrogen zu werden. Sie erfinden Belege, die ihre Theorie stützen und den „Wahrheitsgehalt“ ihrer Wahnvorstellung beweisen. Die Symptome einer paranoiden Schizophrenie treten, verglichen mit den anderen Formen der Schizophrenie, erst später im Lebensverlauf auf. Personen mit einer paranoiden Schizophrenie zeigen weniger desorganisierte Verhaltensweisen. Stattdessen wirkt ihr Verhalten eher ernst und förmlich.
Der undifferenzierte Typus Beim undifferenzierten Typus der Schizophrenie zeigen die Betroffenen Wahnvorstellungen, Halluzinationen, unzusammenhängende Sprache oder völlig desorganisiertes Verhalten, das zwar den Kriterien der Schizophrenie entspricht, jedoch nicht den Kriterien einer der oben beschriebenen Subtypen. Diese Mischung von Symptomen differenziert nur unklar zwischen verschiedenen Formen schizophrener Reaktionen.
Der residuale Typus Personen, die als Residualtyp diagnostiziert wurden, waren für gewöhnlich in ihrer Vergangenheit von einer schizophrenen Episode betroffen, sind aber zum aktuellen Zeitpunkt frei von den positiven Hauptsymptomen, wie beispielsweise Halluzinationen oder Wahnvorstellungen. Das Weiterbestehen der Störung wird durch geringfügige positive oder durch negative Symptome wie zum Beispiel flache Affekte signalisiert. Die Diagnose des residualen Typus kann bedeuten, dass die Krankheit in die Remission eintritt oder pausiert.
unterschiedliche Wege der Behandlung. Lassen Sie uns betrachten, welchen Beitrag die verschiedenen Modelle für ein Verständnis dessen leisten können, wie eine Person eine schizophrene Störung entwickelt.
Genetische Ansätze Es ist seit langem bekannt, dass Schizophrenien tendenziell gehäuft innerhalb von Familien auftreten (Bleuler, 1978; Kallmann, 1946). Drei unabhängige Forschungslinien – Familienstudien, Zwillingsstudien und Adoptionsstudien – kommen zu demselben Schluss: Personen, in deren Verwandtschaft sich jemand befindet, der an Schizophrenie erkrankte, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit an Schizophrenie erkranken als jene, in deren Verwandtschaft keine Fälle der Schizophrenie vorkommen (Owen & O’Donovan, 2003). Eine Zusammenfassung der Risiken, durch verschiedene Grade der Verwandtschaft von Schizophrenie betroffen zu sein, zeigt Abbildung 14.5. Irving Gottesman (1991), ein Wissenschaftler, der sich mit Schizophrenie beschäftigt, führte die Daten von etwa 40 zuverlässigen Studien zusammen, die in Westeuropa zwischen 1920 und 1987 durchgeführt wurden. Wie Sie sehen, sind die Daten nach dem Grad der genetischen Verwandtschaft geordnet. Die Höhe des Risikos hängt stark mit dem genetischen Verwandtschaftsgrad zusammen. Wenn beispielsweise beide Elternteile an Schizophrenie litten, liegt das Risiko, dass die Krankheit auftritt, bei 46 Prozent, verglichen mit 1 Prozent bei der allgemeinen Bevölkerung. Wenn nur ein Elternteil von Schizophrenie betroffen war, fällt die Wahrscheinlichkeit auf 13 Prozent. Beachten Sie außerdem, dass bei eineiigen Zwillingen die Wahrscheinlichkeit, dass beide Zwillinge an Schizophrenie erkranken, etwa dreimal so hoch ist wie bei zweieiigen Zwillingen. Wissenschaftler haben auch Adoptionsstudien durchgeführt, um zu zeigen, dass die Ätiologie der Schizophrenie stark von genetischen Faktoren beeinflusst wird (Kety et al., 1994). Betrachten Sie eine Studie, die das Auftreten von Denkstörungen bei biologischen Verwandten und bei Adoptivverwandten schizophrener Patienten erhob.
AUS DER FORSCHUNG
14.6.2 Ursachen der Schizophrenie Verschiedene ätiologische Modelle deuten auf unterschiedliche auslösende Faktoren der Schizophrenie hin, auf unterschiedliche Entwicklungsverläufe und
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Die schizophrenen Patienten dieser Studie wurden aus einer größeren Stichprobe von Personen gezogen, welche die Störung entwickelt hatten, nachdem sie adoptiert wurden. Eine Kontrollstichprobe wurde nach Variablen wie Geschlecht und Alter parallelisiert. Die Teilnehmer der
14.6 Schizophrene Störungen
Abbildung 14.5: Das genetische Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Der Graph zeigt das durchschnittliche Risiko, an Schizophrenie zu erkranken. Die Daten wurden aus Familien- und Zwillingsstudien zusammengestellt, die zwischen 1920 und 1987 in Europa durchgeführt wurden; die Höhe des Risikos hängt stark mit dem genetischen Verwandtschaftsgrad zusammen. Wenn die Beschriftung nichts Anderes angibt, spiegeln die Daten den Vergleich zwischen einem gesunden und einem an Schizophrenie erkrankten Menschen wider. So hat beispielsweise der zweieiige Zwilling eines Schizophreniekranken eine 17prozentige Wahrscheinlichkeit, ebenfalls an dieser Störung zu erkranken.
Kontrollgruppe waren nie in stationärer psychiatrischer Behandlung. Die Aussagen beider Gruppen wurden auf Band aufgezeichnet, ebenso die Aussagen ihrer biologischen Verwandten – um die Bedeutung des genetischen Einflusses zu erfassen – und ihrer Adoptivverwandten – um die Bedeutung von Umwelteinflüssen zu erfassen. Basierend auf diesen Aussagen wurde jeder Person ein Wert (der Denkstörungsindex) für das Ausmaß ihrer Denkstörung zugewiesen, der mit Hilfe eines kategorialen Messinstruments erfasst wurde. Die Ergebnisse werden in Tabelle 14.7 dargestellt – ein höherer Wert bedeutet ein stärker gestörtes Denken. Die Ergebnisse zeigen, dass die biologischen Verwandten schizophrener Teilnehmer in höherem Ausmaß Denkstörungen aufwiesen als die biologischen Verwandten gesunder Teilnehmer. Die Adoptivverwandten beider Versuchsgruppen unterschieden sich jedoch nicht hinsichtlich ihrer Denkstörungen. Dieses Datenmuster zeigt, dass genetische Faktoren von größerer Bedeutung sind als Umweltfaktoren, wenn es um die Vorhersage geht, wer von Denkstörungen betroffen sein wird (Kinney et al., 1997).
Nahezu alle Adoptivkinder wurden kurz nach der Geburt von ihren leiblichen Eltern getrennt. Was auch immer die starken Denkstörungen bei den an Schizophrenie erkrankten Adoptivkindern und ihren biologischen Verwandten ausgelöst hat, kann demnach nicht auf bestimmte Umweltfaktoren zurückgeführt werden. Während mit Sicherheit ein Zusammenhang zwischen dem Grad an genetischer Übereinstimmung und
der Wahrscheinlichkeit, an Schizophrenie zu erkranken, besteht, liegt jedoch selbst bei höchstmöglicher genetischer Übereinstimmung die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung bei weniger als 50 Prozent (siehe Abbildung 14.5). Dies zeigt, dass die Gene zwar eine Rolle spielen, aber auch bestimmte Umweltfaktoren für das Ausbrechen der Krankheit notwendig sein könnten. Eine weithin akzeptierte These für die Ursache der Schizophrenie ist die Diathese-Stress-Hypothese. Nach der Diathese-Stress-Hypothese erhöhen genetische Faktoren das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, aber es müssen umweltbedingte Stressfaktoren hinzukommen, damit das potenzielle Risiko zum Tragen kommt und die Schizophrenie entsteht. Später, wenn wir andere biologische Aspekte der Schizophrenie besprochen haben, werden wir die Art der Stressoren näher betrachten, die das Auftreten der Störung beschleunigen.
Gehirnfunktionen und biologische Marker Ein anderer biologischer Ansatzpunkt für die Erforschung der Schizophrenie sind Gehirnauffälligkeiten Betroffener. Ein großer Teil dieser Forschung beruht auf bildgebenden Verfahren, die es erlauben, die Gehirne an Schizophrenie erkrankter Personen mit Gehirnen gesunder Personen zu vergleichen. So haben beispielsweise, wie in Abbildung 14.6 zu sehen, Mag-
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Psychi sc h e St ör u n gen
Tabelle 14.7
Denkstörungswerte schizophrener Adoptivkinder, nicht schizophrener Adoptivkinder und ihrer Verwandten Werte auf dem Denkstörungsindex Schizophrene Adoptierte
Nicht schizophrene Adoptierte
Differenz
Die Adoptivkinder selbst
4,82
1,15
3,67
Ihre biologischen Verwandten
1,37
0,99
0,38
Ihre biologischen Geschwister und Halbgeschwister
1,44
0,82
0,62
Ihre Adoptivverwandten
1,11
1,31
–0,20
netresonanzaufnahmen gezeigt, dass die Ventrikel – die Hirnstrukturen, in denen die cerebrospinale Flüssigkeit fließt – bei Schizophreniekranken oft vergrößert sind (Barkataki et al., 2006). MRT-Studien zeigen auch, dass Menschen mit Schizophrenie messbar dünnere Areale in den frontalen und temporalen Lappen des cerebralen Cortex aufweisen; der Verlust an neuralem Gewebe steht vermutlich mit den Verhaltensabweichungen im Zuge der Erkrankung in Zusammenhang (Kuperberg et al., 2003). Bildgebende Verfahren zeigen ebenfalls auf, dass sich die Muster bestimmter Gehirnaktivitäten schizophrener Personen von jenen gesunder Personen unterscheiden. In einer Studie wurden beispielsweise eineiige Zwillinge untersucht, von de-
Abbildung 14.6: Schizophrenie und Ventrikelgröße. Männliche eineiige Zwillinge unterzogen sich MRT-Scans. Die Aufnahme des Zwillings mit Schizophrenie (rechts) zeigt vergrößerte Ventrikel, verglichen mit der Aufnahme des anderen, nicht schizophrenen Zwillings (links).
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nen entweder einer oder aber beide an Schizophrenie erkrankt waren (Berman et al., 1992). Nur die Personen, die bereits an Schizophrenie erkrankt waren, zeigten eine geringere Aktivität im präfrontalen Cortex. Diese Ergebnisse stellen den Einfluss der Genetik nicht in Frage, zeigen jedoch weitere biologische Aspekte der Störung auf. Wissenschaftler fahren fort, die Liste biologischer Marker der Schizophrenie zu verlängern. Ein biologischer Marker ist „ein messbarer Indikator einer Krankheit mit oder ohne kausale Wirkung“ (Szymanski et al., 1991, S. 99). Mit anderen Worten: Ein biologischer Marker kann mit der Krankheit zusammenhängen, ohne sie zu verursachen. Momentan gibt es keinen Marker, der dazu geeignet wäre, Schizophrenie perfekt vorherzusagen. Aber solche Marker haben einen großen potenziellen Wert für Diagnose und Forschung. An Schizophrenie erkrankte Personen weisen beispielsweise mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Fehlfunktion der Augenfolgebewegung auf, wenn sie versuchen, ein bewegtes Objekt mit den Augen zu verfolgen. Dieser biologische Marker hängt eng mit dem Vorkommen von Schizophrenie in der Familie zusammen und kann bei den einzelnen Personen gut quantifiziert werden (Clementz & Sweeney, 1990; Lencer et al., 2000). Wissenschaftler suchen weiterhin nach den spezifischen Elementen der Augenfolgebewegung, die am präzisesten dazu geeignet sind, schizophrene Personen von Patienten, die an einer anderen psychischen Störung leiden, zu unterscheiden (Hong et al., 2006). Die genaue Kenntnis biologischer Marker kann Wissenschaftlern bei der Bestimmung
14.6 Schizophrene Störungen
helfen, welche Personengruppen ein hohes Risiko tragen, an Schizophrenie zu erkranken. Bei der großen Anzahl an Symptomen der Schizophrenie sind Sie wahrscheinlich nicht über die ebenso große Anzahl biologischer Anomalien überrascht, die entweder Ursache oder auch Konsequenz der Störung sein können. In welcher Weise können Umweltfaktoren die Entwicklung der Krankheit bei Personen der Risikogruppe auslösen?
Familienbeziehungen als umweltbedingte Stressoren War es schon schwierig nachzuweisen, ob ein hoch spezifischer biologischer Faktor hinreichend ist, um Schizophrenie auszulösen, so ist es genauso schwierig zu belegen, dass ein allgemeiner psychologischer Faktor notwendig ist. Sowohl Soziologen als auch Familientherapeuten und Psychologen haben die Rolle der Beziehungen und Kommunikationsmuster bei der Entwicklung der Schizophrenie untersucht – dies in der Hoffnung, Umweltbedingungen zu identifizieren, welche die Auftretenswahrscheinlichkeit der Schizophrenie erhöhen, und um die Personen der Risikogruppe vor diesen Faktoren zu schützen. Forschungsergebnisse lieferten Belege für jene Theorien, die den Einfluss gestörter elterlicher Kommunikationsformen auf die Entwicklung der Schizophrenie hervorheben (Miklowitz & Thompson, 2003). Solche Störungen beinhalten zum Beispiel die Unfähigkeit der Familienmitglieder, ihre Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Punkt zu richten, und Schwierigkeiten der Eltern, die Perspektive anderer Familienmitglieder zu übernehmen oder klar und deutlich zu kommunizieren. Studien zeigen, dass die Sprachmuster von Familien mit schizophrenen Mitgliedern weniger Entgegenkommen und weniger interpersonale Sensibilität aufweisen als jene normaler Familien. Unklar bleibt, ob das gestörte Familienumfeld eine Ursache der Schizophrenie darstellt oder eher eine Reaktion auf eine Person, die Symptome der Schizophrenie entwickelt, oder beides. Um diese Frage zu beantworten, führen Forscher prospektive Studien durch: Sie erfassen familiäre Abläufe, um zu sehen, welche Muster dazu geeignet sind, die Entwicklung von Schizophrenie oder das Auftreten von Rückfällen vorherzusagen. Eine Studie untersuchte beispielsweise die Empathiefähigkeit von Verwandten schizophrener Personen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die Stimmung des Patienten wahrzunehmen (Giron & Gomez-Beneyton, 1998). Über den Verlauf von zwei Jahren zeigte sich, dass Patienten, deren Verwandte
über eine geringe Empathiefähigkeit verfügten, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen Rückfall erlitten. Die Ergebnisse dieser Studie sind konsistent mit anderen Ergebnissen, die aufzeigen, dass familiäre Faktoren nach dem Auftreten der ersten Symptome einen wichtigen Einfluss auf die Bewältigung der Situation durch die betroffenen Personen haben.
AUS DER FORSCHUNG Um die Rolle der familiären Kommunikation bei der Schizophrenie zu untersuchen, entwickelten Wissenschaftler das Konzept der Expressed Emotion (eines bestimmten Musters des Gefühlsausdrucks). Familien zeigen eine hohe Ausprägung von Expressed Emotion, wenn sie den Patienten häufig kritisieren, wenn sie übermäßig emotional Einfluss nehmen (das heißt, sie sind überfürsorglich und aufdringlich) und wenn sie allgemein eine eher feindliche Haltung gegenüber dem Patienten einnehmen. Eine Studie erfasste Daten von 69 schizophrenen Patienten, die während einer als stabil eingeschätzten Phase zu Hause lebten. Jede Familie wurde hinsichtlich des Ausmaßes an Expressed Emotion bewertet. Neun Monate später, als der Zustand des Patienten erneut erfasst wurde, hatten 50 Prozent der Patienten in Familien mit hohem Maß an Expressed Emotion einen Rückfall erlitten, während in Familien mit niedrigem Maß an Expressed Emotion lediglich 17 Prozent einen Rückfall erlitten hatten. Trotz allem hatte ein hohes Maß an Expressed Emotion auch positive Wirkungen. Patienten aus Familien mit überfürsorglichem Verhalten zeigten neun Monate später eine höhere soziale Angepasstheit. Vielleicht erleichterte ihnen das rigide Familienumfeld den Übergang zwischen Krankenhaus und Außenwelt (King & Dixon, 1996).
Diese Studie repliziert ein allgemein bekanntes Ergebnis: Wenn Eltern ihr kritisches, feindseliges und aufdringliches Verhalten gegenüber ihren schizophrenen Kindern ändern, verringert sich die Wahrscheinlichkeiten für einen erneuten schizophrenen Schub und eine erneute Hospitalisierung (Wearden et al., 2000). Dies impliziert, dass eine Therapie die gesamte Familie als System mit einbeziehen sollte, um deren Verhaltensweisen gegenüber dem erkrankten Kind zu verändern. Die verschiedenen Erklärungen für Schizophrenie, die wir hier aufgeführt haben – und die offenen Fragen, die trotz all der Forschung noch unbeantwortet sind –, zeigen auf, wie viel wir noch über diese psychische Störung lernen müssen. Das Verständnis des Phänomens, das wir als Schizophrenie bezeichnen, wird dadurch erschwert, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine ganze Gruppe von Störungen handelt, jede davon mit unterschiedlichen
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ZWISCHENBILANZ 1 Sind soziale Zurückgezogenheit und verflachte Emo-
tionen positive oder negative Symptome der Schizophrenie? 2 Für welche Art schizophrener Störung gelten Verfol-
gungswahn oder Größenwahn als Symptome? 3 Welche positiven Folgen hat die Entdeckung biologi-
scher Marker für schizophrene Störungen? Diese vier genetisch identischen Frauen – die so genannten Genain-Vierlinge – leiden alle vier an Schizophrenie, was nahelegt, dass genetische Faktoren eine Rolle bei der Entwicklung der Störung spielen. Schweregrad, Dauer und Erscheinungsbild der Störung sind bei jeder dieser Frauen anders. Wie wirken, im Allgemeinen, Genetik und Umwelt bei der Entstehung der Schizophrenie zusammen?
KRITISCHES DENKEN: Vergegenwärtigen Sie sich die Studie, die Expressed Emotion und Symptomrückfall untersuchte. Warum war es wichtig, dass alle Teilnehmer mit Schizophrenie zu dem Zeitpunkt, als die Forscher die ausgedrückte Emotion bewerteten, stabil waren?
Ursachen. Genetische Prädisposition, Gehirnfunktionen und Familieninteraktionen sind zumindest in manchen Fällen an der Entstehung beteiligt. Es gilt
immer noch, genau zu bestimmen, in welcher Kombination diese Faktoren den Ausbruch der Schizophrenie bedingen.
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Ist der Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit wirklich eine gute Verteidigungsstrategie?
Am 30. März 1981 war die Welt geschockt: John Hinck ley unternahm einen Mordanschlag auf den damaligen Präsidenten der USA, Ronald Reagan, und wäre damit beinahe erfolgreich gewesen. Im Juni 1982 wandelte sich der Schock in Entrüstung, als Hinckley als nicht zurechnungsfähig erklärt und freigesprochen wurde. War diese Entrüstung angemessen? Was bedeutet es für jemanden, unzurechnungsfähig zu sein? Unzurechnungsfähigkeit wird im DSM-IV-TR nicht definiert; es gibt keine akzeptierte klinische Definition von Unzurechnungsfähigkeit. Sie ist eher ein Konzept, das im menschlichen Alltag oder im juristischen Kontext vorkommt. Vor Gericht wurde die Thematik der Unzurechnungsfähigkeit erstmals 1843 in England behandelt, wo Daniel M’Naghten von der Anklage des Mordes mit der Begründung freigesprochen wurde, er sei unzurechnungsfähig. M’Naghtens Mordversuch galt dem britischen Premierminister – M’Naghten glaubte, Gott habe ihm aufgetragen, den Mord zu begehen. (Er tötete stattdessen aus Versehen den Sekretär des Ministers.) Wegen seiner Wahnvorstellung wurde M’Naghten in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und musste nicht ins Gefängnis. Der Zorn, den dieser Richterspruch entfachte – sogar Königin Victoria war erzürnt –, erforderte, dass das britische Parlament eine Richtlinie, die auch als M’Naghten-Regel bezeichnet
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wird, entwickelte, die den Anspruch, sich auf Unzurechnungsfähigkeit zu berufen, einschränkte. Als unzurechnungsfähig galt seither, „wem das Wesen und die Qualität seiner Tat nicht bewusst war, oder dem, wenn sie ihm bewusst war, nicht klar war, etwas Falsches zu tun“. Ist dies ein geeigneter Test, um Schuld von Unschuld zu unterscheiden? Mit fortschreitender Erkenntnis über die Beschaffenheit psychischer Störungen wurden den Forschern auch die Begleitumstände bewusster, unter denen ein Verbrecher Recht und Unrecht unterscheiden kann – ein Verbrecher versteht unter Umständen, dass er gegen das Gesetz verstößt oder seine Tat unmoralisch ist, und ist dennoch nicht dazu in der Lage, seine Handlungen zu unterdrücken. (Wir werden diese Art der Dissoziation bei der Diskussion der Angststörungen weiter unten in diesem Kapitel noch einmal ansprechen.) Menschen mit einer Spinnenphobie wissen beispielsweise häufig, dass eine Spinne ihnen kein Leid zufügen kann. Trotzdem sind sie nicht fähig, ihre Panik zu unterdrücken, wenn sie einer Spinne begegnen. Diese Betrachtungsweise einer psychischen Störung war Bestandteil von Hinckleys Gerichtsverhandlung. Die Geschworenen waren sich einig, dass Hinckley sein Verhalten – hervorgerufen durch seine Besessenheit für die Schauspielerin Jodie Foster – nicht unter Kontrolle hatte.
14.7 Psychische Störungen in der Kindheit
War Hinckley nun frei? Keineswegs. Er wurde in eine psychiatrische Klinik in der Nähe von Washington eingewiesen, wo er sich bis heute befindet. Tatsächlich ist es eine sehr weit verbreitete falsche Vorstellung, dass die Beurteilung eines Verbrechers als unzurechnungsfähig gleichbedeutend wäre mit einem Freispruch (Borum & Fullero, 1999; Silver et al., 1994). Etwa 90 Prozent aller Angeklagten, die als unzurechnungsfähig erklärt wurden, kommen anschließend in psychiatrische Behandlung. In einem Fall wie Hinckleys wird die betroffene Person erst in die Gesellschaft entlassen, wenn sie von Experten als ungefährlich eingestuft wurde. Anders als bei Gefängnisstrafen gibt es oft keine zeitliche Begrenzung für die Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Wie sicher müsste sich im Falle Hinckleys eine Kommission aus Psychiatern und Psychologen wohl sein, bevor sie sich übereinstimmend für seine Freilassung ausspricht? Unter der Nachwirkung von Hinckleys Fall änderte sich einiges in der Rechtsprechung hinsichtlich der Verteidigung auf Basis von Unzurechnungsfähigkeit – der allgemeine Trend ging dahin, eine Beurteilung als unzurechnungsfähig zu erschweren
Psychische Störungen in der Kindheit
(Appelbaum, 1994). Waren diese Änderungen notwendig? In pragmatischer Hinsicht lautet die Antwort auf diese Frage mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit „nein“. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die das Plädieren auf Unzurechnungsfähigkeit durch die Medien (und damit in der Öffentlichkeit) erhalten hat, sind solche Anträge eher selten (Kirschner & Galperin, 2001). So fand man beispielsweise in einer Studie, dass von 60.432 Anklageschriften in Baltimore, Maryland, nur 190 (0,31 Prozent) Angeklagte einen Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit stellten; von diesen 190 waren wiederum nur acht (4,2 Prozent) erfolgreich (Janofsky, 1996). Die Wahrscheinlichkeit, dass über die Unzurechnungsfähigkeit einer Person entschieden werden muss, ist also sehr gering. Warum sind die Menschen oft „empört“, wenn jemand wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen wird? Wie könnte die falsche Vorstellung entstehen, dass eine Verteidigung mit Unzurechnungsfähigkeit Mörder straflos davonkommen lässt?
14.7.1 Aufmerksamkeits-Defizit-Störung
14.7
Bis jetzt hat sich unsere Schilderung hauptsächlich mit Erwachsenen befasst, die an psychischen Störungen leiden. Es ist allerdings wichtig festzuhalten, dass viele Menschen schon während der Kindheit und Pubertät Symptome psychischer Erkrankungen aufweisen. Die Forschung hat sich in letzter Zeit verstärkt mit dem Studium der Arten von Stressfaktoren befasst, die das Risiko psychischer Störungen in frühen Lebensphasen erhöhen (Grant et al., 2003). So wird zum Beispiel der geschlechtsspezifische Unterschied für die Prävalenz von Depression schon etwa im Alter von 13 Jahren erkennbar (Hankin & Abramson, 2001). Die Forschung versucht zu ergründen, wie sich das Leben von Jungen und Mädchen früh auseinanderentwickelt, so dass sich eine Überzahl depressiver Mädchen im Vergleich zu den Jungen ergibt. DSM-IV-TR spezifiziert des Weiteren eine Reihe von Störungen, die „gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, während der Kindheit oder in der Pubertät diagnostiziert werden“. Wir haben eine dieser Störungen, geistige Zurückgebliebenheit, in Kapitel 9 besprochen. Hier konzentrieren wir uns auf die AufmerksamkeitsDefizit-Störung und die autistische Störung.
Die Definition der Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS; häufig auch abgekürzt als ADHD von attentiondeficit hyperactivity disorder) bezieht sich auf zwei Symptomcluster (DSM-IV-TR, 2003). Erstens müssen die Kinder einen Grad von Unaufmerksamkeit zeigen, der nicht ihrem Entwicklungsstand entspricht. Sie können etwa Schwierigkeiten haben, in der Schule aufzupassen, oder ständig Dinge wie Spielzeug oder Schulsachen verlieren. Zweitens müssen die Kinder Zeichen von Hyperaktivität und Impulsivität aufweisen, die wiederum nicht ihrem Entwicklungsstand entsprechen. Hyperaktive Verhaltensweisen sind etwa Herumzappeln, Herumfummeln und übermäßiges Reden; impulsive Verhaltensweisen sind beispielsweise das Dazwischenrufen von Antworten und anderen ins Wort zu fallen. Eine ADS-Diagnose setzt voraus, dass ein Kind dieses Verhaltensmuster mindestens sechs Monate lang und vor dem Alter von sieben Jahren gezeigt hat. Forscher schätzen, dass etwa 3 bis 7 Prozent der schulpflichtigen Kinder in den Vereinigten Staaten an ADS leiden (Root & Resnick, 2003). Die Feststellung von ADS wird dadurch kompliziert, dass viele Kinder sporadisch zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität neigen. Deshalb ist die Diagnose manch-
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mal kontrovers: Es besteht die Sorge, dass die normale Unordentlichkeit von Kindern als abweichend eingestuft würde. Es besteht allerdings ein breiter Konsens unter Klinikern, dass das Verhalten einiger Kinder einen Grad erreicht, an dem es fehlangepasst wird – die Kinder können ihr Verhalten nicht kontrollieren und keine Aufgaben erledigen. Wie bei anderen hier beschriebenen Störungen, haben Forscher die Erb- und Umweltfaktoren von ADS untersucht. Zwillings- und Adoptivgeschwisterstudien haben starke Hinweise für die Erblichkeit der Störung geliefert (Biederman & Farone, 2005). Inzwischen hat die Dokumentation von Beziehungen zwischen spezifischen Genen begonnen, von denen die Neurotransmitterfunktion des Gehirns sowie ADS beeinflusst wird (Smoller et al., 2006). Auch hängen wichtige Umweltvariablen mit ADS zusammen. So neigen etwa Kinder aus finanziell benachteiligten oder konfliktreichen Familien eher zu der Erkrankung (Biederman et al., 2002). Einige Umweltvariablen haben einen größeren Einfluss auf Kinder in verschiedenen Positionen der Geburtsreihenfolge. Zum Beispiel erkranken die ältesten Kinder in Familien mit mangelndem Zusammenhalt – Familien, in denen die Mitglieder nicht bereit sind, einander zu unterstützen – öfter an ADS als jüngere Geschwister in solchen Familien (Pressman et al., 2006). Ergebnisse dieser Art legen nahe, dass Erfahrungen mit Kindererziehung einen Einfluss auf das Auftreten von ADS haben.
14.7.2 Autistische Störung Kinder mit autistischer Störung zeigen schwere Defizite in ihrer Fähigkeit, soziale Bildungen aufzubauen. Meistens ist ihre Sprachentwicklung stark verzögert und begrenzt und ihr Interesse an der Umwelt stark eingeschränkt. Hier ist ein Bericht über ein Kind, bei dem diese Störung diagnostiziert wurde: [Audrey] fürchtete sich anscheinend vor jeder Veränderung ihrer gewohnten Routine, einschließlich der Anwesenheit Fremder. Sie schrak vor dem Kontakt mit anderen Kindern zurück oder ging ihnen ganz aus dem Weg, anscheinend zufrieden damit, sich selbst stundenlang mit nicht zweckgebundenem Spiel zu beschäftigen. In Gesellschaft anderer Kinder spielte sie nur selten mit ihnen zusammen oder ahmte ihre motorischen Bewegungen nach. (Meyer, 2003, S. 244) Viele Kinder mit autistischer Störung zeigen auch repetitive und rituelle Verhaltensweisen: Zum Beispiel ordnen sie Gegenstände in Reihen oder symmetrischen Mustern an (Greaves et al., 2006). Schätzungen der Prävalenz von Autismus (und verwandter Störungen) reichen von etwa 30 bis 60 Fällen pro 10.000 Kinder (Fombonne, 2003; Yeargin-Allsopp et al., 2003). Weil viele der Symptome der Störungen mit Sprache und sozialer Interaktion zusammenhängen, ist die Diagnose oft schwierig, bis den Eltern auffällt, dass ihr Kind nicht spricht oder nicht interagiert. Die neuere Forschung hat allerdings mit der Dokumentation von Verhaltensweisen im ersten Lebensjahr begonnen, die eine spätere Autismusdiagnose vorwegnehmen (Zwaigenbaum et al., 2005). Kinder mit einem hohen Autismusrisiko lächeln zum Beispiel seltener als Erwiderung auf Lächeln zur Kontaktaufnahme und reagieren weniger auf ihren Namen als andere Kinder.
Ursachen der autistischen Störung
Welche psychischen Störungen in der Kindheit könnten zu Störungen des Schulunterrichts führen?
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Wie auch bei ADS findet sich bei Autismus eine starke genetische Komponente. Tatsächlich hat die Forschung begonnen, die Variationen im menschlichen Genom zu identifizieren, die möglicherweise eine Prädisposition für diese Störung darstellen (Bartlett et al., 2005; Pericak-Vance, 2003). Forscher haben auch die Marker im Gehirn für die autistische Störung entdeckt. So wächst zum Beispiel das Gehirn von Menschen mit autistischer Störung schneller als bei ihren Altersgenossen (Cody et al., 2002; Courchesne et al., 2003).
14.8 Das Stigma der psychischen Erkrankung
Es bleibt die Frage, wie solche Hirnabweichungen die Symptome der Krankheit hervorrufen können. Forscher vermuten, dass Menschen, die an einer autistischen Störung leiden, unfähig sind, Verständnis für den Geisteszustand anderer Menschen zu entwickeln (Baron-Cohen, 2000). Unter gewöhnlichen Umständen entwickeln Kinder etwas, das als Theorie des Geistes bezeichnet wird. Zuerst interpretieren sie die Welt nur aus ihrer eigenen Perspektive. Mit dem raschen Fortschritt zwischen drei und vier Jahren gewinnen sie allerdings ein Verständnis dafür, dass andere Menschen anderes Wissen, andere Ansichten und andere Absichten als sie selbst haben. Die Forschung legt nahe, dass Menschen mit autistischer Störung dieses Verständnis fehlt. Ohne eine Theorie des Geistes ist es sehr schwierig, soziale Beziehungen aufzubauen. Menschen mit einer autistischen Störung finden es daher fast unmöglich, das Verhalten anderer Menschen zu verstehen und vorauszusagen, wodurch ihnen der Alltag mysteriös und feindselig erscheint.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Verhaltensweisen charakterisieren ADS? 2 Warum ist es vor dem Alter von zwei oder drei Jah-
ren schwierig, eine autistische Störung zu diagnostizieren? 3 Warum ist eine Theorie des Geistes relevant für die
Diskussion autistischer Störungen?
Das Stigma der psychischen Erkrankung
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Eines der wichtigsten Ziele dieses Kapitels war, psychische Erkrankungen (die oft ja noch als Geisteskrankheiten und Verrücktheit abgetan werden) zu entmystifizieren – Ihnen zu zeigen, dass „gestörtes“ Verhalten in mancherlei Hinsicht völlig normal ist. Menschen mit psychischen Störungen erhielten häufig das Etikett der Abweichung. Dieses Etikett gibt jedoch in keiner Weise die Realität wieder: Wenn 46,6 Prozent der jungen Erwachsenen und der Erwachsenen mittleren Alters in den USA davon berichten, im Verlauf ihres Lebens von einer psychischen Störung betroffen gewesen zu sein (Kessler et al., 2005a), dann ist Psychopathologie, zumindest statistisch gesehen, relativ normal. Trotz der hohen Häufigkeit psychischer Störungen werden Personen, die psychisch gestört sind, oft in einer Form stigmatisiert, wie es bei organisch Kranken meistens nicht der Fall ist. Ein Stigma ist ein Zeichen der Schande. Im psychologischen Kontext ist es eine Ansammlung von negativen Eigenschaften, die eine Person als inakzeptabel ausgrenzen (Clausen, 1981). Die Frau, die wir zu Beginn dieses Kapitels zitiert haben, berichtet: „Die Patienten und die Öffentlichkeit müssen meiner Meinung nach über psychische Erkrankungen informiert werden. Die Menschen machen sich über uns lustig, und gerade, wenn es darauf ankäme, verstehen sie uns nicht und behandeln uns falsch.“ Eine andere genesene Patientin schrieb: „Für mich war das Stigma der Geisteskrankheit ebenso zerstörerisch wie der Krankenhausaufenthalt selbst. Wiederholte Ablehnung, die peinliche Berührtheit der Menschen um mich herum und mein eigenes Unbehagen und Selbstbewusstsein schleuderten mich in ein einsames Gefängnis.“ (Houghton, 1980, S. 7 f.). Negative Einstellungen gegenüber psychisch gestörten Menschen entstammen verschiedenen Quellen. Die Massenmedien porträtieren Psychiatriepatienten, als neigten sie generell dazu, gewalttätige Verbrechen zu begehen; Witze über psychisch Kranke gelten als akzeptabel; Familien verdrängen das psychische Leiden eines ihrer Mitglieder; die rechtliche Terminologie betont die psychische beziehungsweise geistige Inkompetenz. Die Betroffenen stigmatisieren sich auch selbst, indem sie versuchen, ihre aktuellen psychischen Probleme oder die Geschichte ihres Gesundheitszustandes zu verheimlichen. Wissenschaftler haben dokumentiert, dass sich in vielerlei Art und Weisen das Stigma der psychischen
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Erkrankung negativ auf das Leben der Menschen auswirkt (Farina et al., 1996; Wright et al., 2000). In einer Stichprobe von 84 Männern, die aufgrund psychischer Probleme einen Krankenhausaufenthalt hatten, verloren 6 Prozent aus diesem Grund ihre Arbeit, 10 Prozent wurden als Wohnungsmieter abgelehnt, 37 Prozent berichteten, von anderen gemieden worden zu sein, und 45 Prozent berichteten, dass ihre Mitmenschen die Tatsache ihrer psychischen Probleme benutzten, um ihre Gefühle zu verletzen. Nur 6 Prozent berichteten über keinerlei Auftreten von Ablehnung (Link et al., 1997). Diese Gruppe von Männern nahm an einem einjährigen Programm teil, das zu einer beachtlichen Verbesserung ihrer psychischen Gesundheit führte. Trotzdem hatte sich am Ende des Jahres an ihrer Wahrnehmung des Stigmas nichts verändert: Trotz der Verbesserung in ihrer Lebensführung erwarteten die Patienten nicht mehr von der Welt, freundlich behandelt zu werden. Diese Forschungsarbeiten zeigen die Dualität der Erfahrungen zahlreicher Menschen mit psychischen Störungen auf: Nach Hilfe zu suchen – was eine Benennung der Probleme erlaubt – führt einerseits zu einer Erleichterung, aber andererseits auch zu einer Stigmatisierung: Die Behandlung verbessert die Lebensqualität, das Stigma verschlechtert sie indes (Rosenfield, 1997). Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass Personen mit psychischen Störungen oft die Erwartung von Ablehnung internalisieren, was wiederum negative Interaktionen auslösen kann (Link et al., 1997). Betrachten Sie dieses klassische Experiment.
AUS DER FORSCHUNG An der Studie nahmen 29 Männer freiwillig teil, die zuvor aufgrund einer psychischen Erkrankung in stationärer Behandlung waren. Sie nahmen an, die Studie behandle die Probleme ehemaliger Patienten psychiatrischer Krankenhäuser, eine Arbeit zu finden. Den Teilnehmern wurde mitgeteilt, dass sie ein Gespräch mit einem Personalberater aus der Wirtschaft führen würden. Der Hälfte der Teilnehmer wurde mitgeteilt, der Personalberater wüsste von ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie, der anderen Hälfte wurde mitgeteilt, er nehme an, sie seien aus medizinischen Gründen im Krankenhaus gewesen. Tatsächlich war der Personalberater ein Verbündeter des Versuchsleiters, der nicht wusste, was welcher Teilnehmer an Vorinformationen in Bezug auf ihn annahm. Das heißt, er wusste nicht, welcher der Teilnehmer annahm, er, der Personalberater, wüsste, dass der Teilnehmer in psychiatrischer Behandlung war. Alle Unterschiede in der Interaktion zwischen Teilnehmer und dem Verbündeten waren demnach auf die
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Erwartungen des Teilnehmers zurückzuführen. Tatsächlich redeten die Teilnehmer, die annahmen, als ehemaliger Psychiatriepatient etikettiert worden zu sein, weniger während des Treffens und leisteten weniger bei einer Aufgabe, die Kooperation erforderte. Zusätzlich schätzte der Verbündete im Anschluss jene Teilnehmer in höherem Maß als „angespannt und ängstlich“ ein, ohne wiederum zu wissen, welcher Teilnehmer welcher Gruppe angehörte (Farina et al., 1971).
Die wichtige Schlussfolgerung ist hier, dass Personen, die annehmen, dass andere sie mit dem Etikett „psychisch erkrankt“ versehen haben, ihre Interaktion derart verändern, dass sie tatsächlich Unbehagen auslösen: Die Erwartung von Ablehnung kann Ablehnung erzeugen; psychische Erkrankung kann zu einer jener unglücklichen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen des Lebens werden. Eine abschließende Bemerkung zum Stigma: Forschungsarbeiten zeigen, dass Personen, die in direktem Kontakt mit psychisch erkrankten Menschen stehen, weniger dazu neigen, zu stigmatisieren (Couture & Penn, 2003). Studierende, die einen Bericht über eine Mann namens Jim gelesen haben, der von der Schizophrenie geheilt wurde, sind im Nachhinein optimistischer über Jims Zukunftsaussichten, wenn sie zuvor direkten Kontakt mit Personen hatten, die an einer psychischen Störung erkrankt waren (Penn et al., 1994). Ebenso waren die Einschätzungen der Studierenden bezüglich der Gefährlichkeit schizophrener Patienten geringer, wenn sie zuvor direkten Kontakt hatten (Penn et al., 1999). Wir hoffen, dass das Lesen dieses und des nächsten Kapitels auch dazu beiträgt, Ihre Ansichten über „psychisch erkrankt“ und „geheilt“ zu modifizieren und Ihre Toleranz und Ihr Mitgefühl gegenüber psychisch erkrankten Personen zu erhöhen. Um Psychopathologie zu verstehen, müssen Sie sich mit den grundlegenden Ansichten über Normalität, Realität und soziale Werte auseinander setzen. Mit der Entdeckung, wie wir psychische Störungen verstehen, behandeln und optimalerweise verhindern können, helfen Wissenschaftler nicht nur jenen, die leiden und die Freude am Leben verloren haben, sondern sie erweitern auch unser grundlegendes Verständnis der menschlichen Natur. Was machen Psychologen und Psychiater, um einen auf Abwege geratenen Verstand wieder ins Gleis zu bringen, und wie verändern sie dysfunktionale Verhaltensweisen? Wir werden dies im nächsten Kapitel über die Therapie psychischer Störungen sehen.
Zusammenfassung
ZWISCHENBILANZ 1 Wie funktioniert Stigmatisierung im Kontext psychi-
scher Erkrankungen? 2 Warum bringt die Behandlung einer psychischen Er-
krankung oft sowohl Besserung als auch Stigmatisierung mit sich? 3 Welche Arten von Erfahrungen reduzieren die Stigma-
tisierung? KRITISCHES DENKEN: Warum war es in der Studie über die Zurückweisungserwartungen von ehemaligen Psychiatriepatienten wichtig, dass der Mitarbeiter des Experimentators nicht wusste, welche Patienten zu welcher Gruppe gehörten?
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Die Beschaffenheit psychischer Störungen Abweichung wird nach dem Grad, in dem die Handlungen einer Person bestimmten Indikatoren entsprechen, beurteilt: Leidensdruck, Fehlanpassungen, Irrationalität, Unberechenbarkeit, Außergewöhnlichkeit, Unbehagen bei Beobachtern und die Verletzung von Standards und sozialen Normen. Objektivität ist ein wichtiger Aspekt bei der Diskussion psychischer Störungen. Klassifikationssysteme psychischer Störungen sollten ein brauchbares Werkzeug bereitstellen, um in Kurzform über allgemeine Formen der Psychopathologie und über spezifische Fälle zu kommunizieren. Das in den USA am weitesten verbreitete Klassifikationssystem ist das DSM-IV-TR.
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Affektive Störungen Affektive Störungen sind Störungen der Gestimmtheit und des Gefühlslebens. Die Major Depression ist die am weitesten verbreitete affektive Störung, während die bipolare Störung wesentlich seltener vorkommt. Es gibt eine genetische Disposition für affektive Störungen. Affektive Störungen verändern die Reaktion der Betroffenen auf Ereignisse und Erfahrungen. Der Umstand, dass affektive Störungen bei Frauen häufiger vorkommen als bei Männern, könnte auf deren stärkere Tendenz zum Grüblerischen zurückzuführen sein. Suizid kommt am häufigsten bei Personen vor, die an einer Depression leiden.
Der biologische Ansatz konzentriert sich auf Gehirnauffälligkeiten, biochemische Prozesse und genetische Einflüsse.
Persönlichkeitsstörungen Persönlichkeitsstörungen sind unflexible Muster der Wahrnehmung und des Verhaltens, welche die Lebensführung beeinträchtigen.
Zu den psychologischen Ansätzen gehören psychodynamische, behavioristische, kognitive und soziokulturelle Modelle.
Sowohl Borderline- als auch antisoziale Persönlichkeitsstörungen haben ihre Ursache in einer Kombination aus genetischen und Umweltfaktoren.
Angststörungen Die fünf Hauptformen der Angststörung sind die generalisierte Angststörung, die Panikstörung, die Phobie, die Zwangsstörung und die posttraumatische Belastungsstörung.
Somatoforme und dissoziative Störungen Somatoforme Störungen wie Hypochondrie, Somatisierungsstörung und Konversionsstörung zeichnen sich durch Umstände aus, bei welchen körperliche Symptome oder Beschwerden nicht endgültig durch die jeweilige tatsächliche psychische Beschaffenheit der Betroffenen erklärt werden kann.
Die Forschung hat bestätigt, dass Angststörungen sowohl mit genetischen und Hirnfaktoren als auch mit Verhaltens- und Kognitionsaspekten in Zusammenhang stehen.
Dissoziative Störungen sind durch eine Unterbrechung der integrativen Funktion des Gedächt-
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Psychi sc h e St ör u n gen
nisses, des Bewusstseins oder der persönlichen Identität gekennzeichnet.
Die autistische Störung ist durch schwerwiegende Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Ausbildung sozialer Bindungen sowie zur Sprachverwendung bei Kindern gekennzeichnet.
Schizophrene Störungen Schizophrenie ist eine schwere Form der Psychopathologie, die durch ausgeprägte Störungen der Wahrnehmung, des Denkens, der Emotionen, des Verhaltens und der Sprache gekennzeichnet ist.
Das Stigma der psychischen Erkrankung Personen mit psychischen Störungen werden häufig auf eine Weise stigmatisiert, von der körperlich kranke Menschen nicht betroffen sind.
Die fünf Subtypen der Schizophrenie sind desorganisiert, kataton, paranoid, undifferenziert und residual.
Obwohl die Behandlung psychischer Störungen positive Veränderungen hervorruft, hat das Stigma, das mit einer psychischen Erkrankung einhergeht, einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität.
Belege für die Ursachen der Schizophrenie wurden in vielen Bereichen gefunden: Genetik, Gehirnauffälligkeiten und familiäre Interaktionen. Psychische Störungen in der Kindheit Kinder mit ADS zeigen mangelnde Aufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Affektive Störung (S. 565) Agoraphobie (S. 559) Angststörungen (S. 558) Ätiologie (S. 555) Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS) (S. 587) Autistische Störung (S. 588) Bipolare Störung (S. 566) Borderline-Persönlichkeits-Störung (S. 573) Diathese-Stress-Hypothese (S. 583) Dissoziative Amnesie (S. 577) Dissoziative Identitätsstörung (S. 578) Dissoziative Störung (S. 577) DSM-IV-TR (S. 553) Erlernte Hilflosigkeit (S. 568) Furcht (S. 559) Generalisierte Angststörung (S. 558) Halluzinationen (S. 580) Hypochondrie (S. 576) Klinische Psychologie (S. 548) Komorbidität (S. 554) Konversionsstörungen (S. 576) Major Depression (S. 565) Manische Episode (S. 566)
Neurotische Störungen (S. 554) Panikstörung (S. 558) Persönlichkeitsstörung (S. 573) Phobie (S. 559) Posttraumatische Belastungsstörung (S. 561) Psychische Störungen (S. 548) Psychologische Diagnose (S. 551) Psychotische Störungen (S. 555) Schizophrenie (S. 579) Somatisierungsstörungen (S. 576) Somatoforme Störung (S. 576) Soziale Phobie (S. 560) Spezifische Phobien (S. 560) Stigma (S. 589) Unzurechnungsfähigkeit (S. 586) Wahnvorstellungen (S. 580) Zwangsstörung (S. 560)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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15.1.1 Ziele der Therapie und die wichtigsten Therapieformen . . . . . 15.1.2 Therapeuten und Rahmenbedingungen der Therapie. . . . . . . . 15.1.3 Geschichtlicher und kultureller Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.2 Psychodynamische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Freud’sche Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2.2 Neo-freudianische Therapieformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Werden wir von verdrängten Erinnerungen verfolgt?. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15.3 Verhaltenstherapien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4
Gegenkonditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontingenzmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie des sozialen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generalisierungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.4 Kognitive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.1 Die Änderung falscher Überzeugungssysteme. . . . . . . . . . . . . . 15.4.2 Kognitive Verhaltensmodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.5 Humanistische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.1 Klientenzentrierte Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.2 Gestalttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15.6 Gruppentherapien
....................................... 15.6.1 Paar- und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.6.2 Selbsthilfegruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15.7 Biomedizinische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.7.1 Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.7.2 Psychochirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.7.3 Elektrokrampftherapie und rTMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Beeinflusst eine Therapie die Gehirnaktivität?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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15.8 Therapieevaluation und Präventionsstrategien . . . . . . . . . . . . . 15.8.1 Die Evaluation therapeutischer Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . 15.8.2 Präventionsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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.............................................
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Ü B E R B L I C K
15.1 Der therapeutische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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öglicherweise fühlten Sie sich manchmal beim Lesen von Kapitel 14 von der Vielfalt psychischer Erkrankungen, von denen Menschen befallen werden können, überwältigt. Glücklicherweise arbeiten Psychologen und andere Angehörige des Gesundheitswesens bereits lange und intensiv an Therapien für das gesamte Spektrum der Psychopathologie. Wir werden in diesem Kapitel sehen, dass die Forschung ständig daran arbeitet, innovative therapeutische Techniken zu entwickeln. Je mehr die Forschung über Ursachen und Folgen solcher Störungen lernt – die Art Forschung, die wir in Kapitel 14 beschrieben haben – desto besser kann man das Repertoire an Therapien darauf abstimmen. Wir werden im Verlauf dieses Kapitels verschiedene Therapieformen untersuchen, die Menschen mit unterschiedlichen psychischen Störungen helfen, die persönliche Kontrolle wiederzuerlangen. Wir werden eine Reihe Fragen mit weitreichender Bedeutung ansprechen: Wie wurde die Behandlung psychischer Störungen durch geschichtliche, kulturelle und soziale Faktoren beeinflusst? Wie wirken Theorie, Forschung und Praxis bei der Entwicklung und Evaluation von Behandlungsmethoden zusammen? Was kann getan werden, um einen Geist zu beeinflussen, der nicht von der Vernunft gesteuert wird, um unkontrollierte Verhaltensweisen zu verändern, unkontrollierte Emotionen zu ändern oder Gehirnauffälligkeiten zu korrigieren? Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die wichtigsten Behandlungsformen, die derzeit im Gesundheitswesen eingesetzt werden: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, kognitive Therapien, humanistische Therapien und medikamentöse Therapien. Wir werden untersuchen, auf welche Weise die Behandlungen wirken. Wir werden auch prüfen, wie gerechtfertigt die Behauptungen über den Erfolg einzelner Therapiemaßnahmen sind.
Der therapeutische Kontext
15.1
Es gibt sehr viele verschiedene Arten von Therapien für psychische Störungen, und es gibt sehr viele Gründe, warum manche Menschen therapeutische Hilfe suchen (und andere, die sie brauchen würden, nicht). Auch die Zwecke und Ziele von Therapien sind verschieden, ebenso wie der Rahmen, in dem Therapien durchgeführt werden, und die Therapeuten selbst.
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Trotz der Unterschiede zwischen den Therapien haben sie dennoch etwas gemeinsam: Sie bedeuten alle Interventionen, Eingriffe in das Leben eines Menschen, um sein Funktionieren in irgendeiner Art und Weise zu verändern.
15.1.1 Ziele der Therapie und die wichtigsten Therapieformen Der therapeutische Prozess kann vier wichtige Aufgaben oder Ziele verfolgen: 1 Zu einer Diagnose zu gelangen, welche Form der
Störung vorliegt, und gegebenenfalls eine zutreffende psychiatrische Benennung des aktuellen Problems und eine Klassifikation der Störung (DSM-IV-TR) vorzunehmen. 2 Die Ätiologie (die Ursache des Problems) zu er-
kennen – dies bedeutet, die möglichen Ursachen der Störung zu identifizieren und die Funktionen der Symptome zu erfassen. 3 Eine Prognose abzugeben, das heißt den Pro-
blemverlauf mit und ohne Behandlung einzuschätzen. 4 Entwicklung und Durchführung einer Behand-
lung, einer Therapie, um die störenden Symptome und möglicherweise ihre Quellen zu minimieren oder zu beseitigen. Wenn wir uns das Gehirn als Computer vorstellen, können wir sagen, dass psychische Probleme entweder auf die Hardware oder auf die Software, also das Programm, das die Handlungen steuert, zurückzuführen sind. Die beiden wichtigsten Therapieformen für psychische Störungen konzentrieren sich daher entweder auf die Hardware oder auf die Software. Biomedizinische Therapien konzentrieren sich darauf, die Hardware, die Mechanismen des zentralen Nervensystems, zu verändern. Diese Therapieform wird hauptsächlich von Psychiatern und Ärzten angewandt. Sie versuchen mit Hilfe chemischer oder physischer Interventionen, wie beispielsweise mit chirurgischen Eingriffen, Elektroschocks oder Medikamenten, die Funktionsweisen des Gehirns zu beeinflussen, also direkt auf die Verbindung zwischen Gehirn und (Rest-) Körper einzuwirken. Psychologische Therapien, die zusammen genommen als Psychotherapien bezeichnet werden, konzentrieren sich auf eine Veränderung der Software – also auf die fehlerhaften Verhaltensweisen, welche die
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Menschen erlernt haben: Wörter, Gedanken, Interpretation und Rückmeldungen, welche die täglich eingesetzten Lebensstrategien steuern. Diese Therapien werden sowohl von klinischen Psychologen als auch von Psychiatern durchgeführt. Es gibt vier Hauptformen der Psychotherapie: psychodynamisch, verhaltenstherapeutisch, kognitiv und existenzialistischhumanistisch. Der psychodynamische Ansatz betrachtet psychisches Leiden als ein äußeres Symptom innerer ungelöster Traumata und Konflikte. Psychodynamische Therapeuten behandeln psychische Störungen im Rahmen eines „therapeutischen Gesprächs“, in dem der Therapeut der Person Einblicke in die Beziehungen zwischen den sichtbaren Symptomen und den dahinter verborgenen ungelösten Konflikten eröffnet, die sie wahrscheinlich ausgelöst haben. Die Verhaltenstherapie sieht das Verhalten selbst als die zu verändernde Störgröße an. Störungen werden hier als erlernte Verhaltensmuster statt als Symptom einer psychischen Erkrankung betrachtet. Verhalten wird auf verschiedene Weise verändert, beispielsweise durch Veränderung der verstärkenden Kontingenzen für wünschenswerte und nicht wünschenswerte Reaktionen, durch Löschung konditionierter Reaktionen und durch die Modellierung effektiven Problemlösens. Kognitive Therapien versuchen, die Gedankengänge einer Person umzustrukturieren, indem sie die oft verzerrten selbstbezogenen Aussagen verändern, die eine Person über die Ursachen eines Problems vorbringt. Die Umstrukturierung von Kognitionen verändert die Art und Weise, in der eine Person Schwierigkeiten definiert und erklärt, und ermöglicht ihr so, vorhandene Probleme zu bewältigen. Therapien, die aus der existenzialistisch-humanistischen Tradition entstanden sind, konzentrieren sich auf die Werte der Patienten. Sie sind auf Selbstverwirk-
lichung (Selbstaktualisierung), psychisches Wachstum, die Entwicklung tieferer zwischenmenschlicher Beziehungen und die Erweiterung der persönlichen Wahlfreiheit ausgerichtet. Sie konzentrieren sich stärker auf die Verbesserung der Lebensführung bei grundsätzlich gesunden Menschen als darauf, die Symptome schwer gestörter Personen zu korrigieren. Obwohl wir jede Art von Psychotherapie separat eingeführt haben, ist es wichtig festzuhalten, dass viele Psychotherapeuten in ihrer Praxis integrativ vorgehen: Sie integrieren verschiedene theoretische Ansätze, um ihren Patienten oder Klienten möglichst viele Vorteile bieten zu können. In vielen Fällen beginnen Psychotherapeuten ihre Laufbahn als Anhänger einer bestimmten theoretischen Richtung. Mit zunehmender Erfahrung fangen sie dann aber an, die effektivsten Elemente verschiedener Therapien zu kombinieren (Norcross et al., 2005). Jede denkbare Kombination zweier Richtungen kann dabei vorkommen (zum Beispiel kognitiv und humanistisch; verhaltensbezogen und psychodynamisch). Die bekanntesten integrativen Therapien kombinieren allerdings Aspekte der kognitiven und der verhaltensbezogenen Methode (Goldfried, 2003; Norcross et al., 2005). Später in diesem Kapitel beschreiben wir integrative kognitiv-verhaltensbezogene Therapien.
15.1.2 Therapeuten und Rahmenbedingungen der Therapie Wenn psychische Probleme auftauchen, suchen die meisten Menschen zunächst in informellen Beratungen Hilfe, die in familiären Kontexten stattfinden. Viele Menschen wenden sich an Familienmitglieder, enge Freunde, Hausärzte, Rechtsanwälte oder ihren Lieblingslehrer auf der Suche nach Unterstützung und
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Beratung. Menschen mit religiösem Anschluss suchen vielleicht Hilfe bei einem Geistlichen. Andere erhalten Rat und die Möglichkeit zu reden beispielsweise durch das Gespräch mit einem Barkeeper, einem Verkäufer, einem Taxifahrer oder anderen Menschen, die bereit sind, zuzuhören. In unserer Gesellschaft sind es jene informellen Therapeuten, die einen Großteil der täglichen Last tragen, Frustration und Konflikte zu mindern. Wenn die Probleme eine bestimmte Größendimension nicht überschreiten, können solche informellen Therapeuten oft helfen. Obwohl heute mehr Menschen als früher therapeutische Hilfe suchen, gehen die Menschen normalerweise nur zu professionellen Therapeuten, wenn ihre psychischen Probleme schwerwiegend sind oder über einen längeren Zeitraum hinweg anhalten. Wenn sie sich dafür entscheiden, können sie zwischen verschiedenen Ausrichtungen von Therapeuten wählen. Klinische Sozialarbeiter sind auf dem Gebiet psychischer Gesundheit tätige Personen mit einer speziellen Ausbildung im Bereich der Sozialarbeit. Diese Ausbildung bereitet sie auf ihre Zusammenarbeit mit Psychiatern und klinischen Psychologen vor. Im Gegensatz zu vielen Psychiatern und Psychologen sind diese Berater darin geschult, die sozialen Kontexte der Probleme von Menschen zu beachten. Diese Berater werden sich also zumindest mit dem Umfeld des Klienten – privat und beruflich – vertraut machen und vielleicht sogar Familienmitglieder mit in die Therapie einbeziehen. Seelsorger sind Mitglieder einer religiösen Gruppe, die sich auf die Behandlung psychischer Probleme spezialisiert haben. Sie kombinieren häufig Geistlichkeit mit praktischer Problemlösung. Klinische Psychologen haben sich schon während ihres Studiums auf die Erfassung und Behandlung psychischer Probleme konzentriert und anschließend eine Therapieausbildung abgeschlossen. Klinische Psychologen haben einen breiteren Hintergrund in Psychologie, empirischen Methoden und Forschung, als dies bei Psychiatern üblicherweise der Fall ist. Beratungspsychologen geben typischerweise Hilfestellungen auf Gebieten wie Berufswahl, Schulproblemen, Drogenmissbrauch oder bei Eheproblemen. Oft arbeiten diese Berater gemeindenah im Kontext der Probleme – in einem Unternehmen, einer Schule, einem Gefängnis, dem Militärdienst oder der nahe gelegenen Klinik – und nutzen Interviews, Tests, Unterstützung und Ratschläge, um den einzelnen Personen bei der Lösung ihrer spezifischen Probleme und dem Treffen von Entscheidungen zu helfen. Psychiater verfügen über ein abgeschlossenes Medizinstudium und eine Facharztausbildung in Psychiatrie
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(oft zusammen mit Neurologie). Psychiater haben einen größeren Schwerpunkt in den biomedizinischen Grundlagen psychischer Probleme und sind momentan die einzigen Therapeuten, die zur Behandlung Medikamente verschreiben dürfen. Psychoanalytiker sind Ärzte oder Psychologen mit einer zusätzlichen Ausbildung in Psychoanalyse, das heißt, sie sind auf den Freud’schen Ansatz zum Verständnis und der Behandlung psychischer Störungen spezialisiert. Diese unterschiedlich ausgerichteten Therapeuten praktizieren in verschiedenen Kontexten: Krankenhäusern, Kliniken, Schulen und privaten Praxen. Einige humanistisch ausgerichtete Psychotherapeuten führen Gruppensitzungen lieber bei sich zu Hause durch, um in einer natürlicheren Umgebung arbeiten zu können. Gemeindenahe Therapien, welche die Behandlung zum Klienten bringen, können auch außerhalb öffentlicher oder kirchlicher Gebäude stattfinden. Letztlich gibt es noch Therapeuten, die in vivo, also unmittelbar in jenen alltäglichen Lebenskontexten des Klienten arbeiten, die direkt mit ihren Problemen in Zusammenhang stehen. Sie arbeiten beispielsweise in Flugzeugen mit Klienten, die Angst vor dem Fliegen haben, oder in Einkaufszentren mit Menschen mit sozialen Phobien. Es gibt schon Psychotherapeuten, die per E-Mail oder über das Internet mit ihren Patienten kommunizieren (King & Moreggi, 1998; Taylor & Luce, 2003). Bei dieser computergestützten Therapie interagieren Menschen oft per E-Mail-Briefwechsel mit ihren Therapeuten. Die Forschung hat schon früh auf potenzielle Gefahren und Vorteile der Therapie über das Internet hingewiesen. Als Gefahr wird betrachtet, dass Patienten eine falsche Diagnose gestellt werden könnte, wenn sie unvollständige oder verzerrte Informationen ohne die zusätzlichen Beurteilungsmöglichkeiten liefern, die ein persönliches Gespräch bietet (King & Moreggi, 1998). Außerdem können die Nutzer nur selten die Qualifikationen von InternetTherapeuten überprüfen; im Cyberspace kann sich jeder als Experte ausgeben. Trotz dieser Gefahren kann eine E-Mail-Therapie auch spezifische Vorteile für die Therapeuten und ihre Klienten bieten. So glauben beispielsweise einige Therapeuten, dass die relative Anonymität dieser Therapieform es den Klienten ermöglicht, ihre drängendsten Probleme und Sorgen vergleichsweise schnell und mit weniger Peinlichkeitsgefühl zu offenbaren; die Betroffenen sind vielleicht ehrlicher, wenn sie sich keine Gedanken darüber machen müssen, welche Reaktionen der Therapeut auf die Eingeständnisse zeigt, die sie sich abringen (Grohol, 1998).
15.1 Der thearpeutische Kontext
Menschen, die sich einer Therapie unterziehen, nennt man entweder Patienten oder Klienten. Der Begriff Patient wird von Fachleuten verwendet, die psychische Probleme nach einem biomedizinischen Ansatz behandeln. Der Begriff Klient wird von Fachleuten verwendet, die psychische Probleme als „Probleme der Lebensführung“ und nicht im Sinne einer psychischen Erkrankung verstehen. Wir werden jeweils für jeden Ansatz den gängigen Begriff verwenden: Patient bei biomedizinischen und psychoanalytischen Therapien und Klient bei den anderen Therapieformen. Bei jeder Form der Therapie ist es allerdings wichtig, dass der Hilfesuchende ein wirksames therapeutisches Bündnis eingeht. Ein therapeutisches Bündnis ist eine wechselseitige Beziehung, die ein Klient oder Patient zu einem Therapeuten aufbaut: Der Betroffene und der Therapeut arbeiten zusammen, um dem Betroffenen zu helfen. Die Forschung legt nahe, dass die Qualität des therapeutischen Bündnisses einen Einfluss auf die Wirksamkeit der Psychotherapie hinsichtlich verbesserter psychischer Gesundheit hat (Goldfried & Davila, 2005; Joyce et al., 2003). Wenn Sie eine Therapie beginnen, sollten Sie daran glauben, dass Sie ein starkes therapeutisches Bündnis mit dem Therapeuten eingehen können. Bevor wir uns im Detail den heutigen Therapien und Therapeuten zuwenden, werden wir zuerst den geschichtlichen Rahmen betrachten, in dem sich die Behandlung psychisch Erkrankter entwickelt hat. Anschließend werden wir die westliche Perspektive erweitern, indem wir einen Blick auf die Heilpraktiken anderer Kulturen werfen.
Westeuropa Arbeitslosigkeit und soziale Entfremdung. Dies führte zu Armut, Kriminalität und psychischen Problemen. Bald entwickelten sich spezifische Institutionen zur Verwahrung der „unpassenden Personen“ dieser drei auftauchenden Kategorien: Arme, Kriminelle und psychisch Gestörte. 1403 wurde in ein Londoner Krankenhaus – St. Mary of Bethlehem – erstmals ein Patient mit psychischen Problemen eingewiesen. Im Verlauf der nächsten 300 Jahre wurden Patienten mit psychischen Störungen in den Krankenhäusern gefesselt, gefoltert und in der Öffentlichkeit gegen Eintritt ausgestellt. Mit der Zeit wurde das Wort Bethlehem durch fehlerhafte Aussprache zu bedlam, was soviel bedeutet wie Chaos, wegen des Durcheinanders, das dort herrschte, und der unmenschlichen Behandlung der dortigen Patienten (Foucault, 1975). Erst am Ende des 18. Jahrhunderts begann man in Europa, psychische Probleme als psychische Erkrankungen wahrzunehmen. 1792 erhielt der französische Arzt Philippe Pinel von der Revolutionsregierung die Erlaubnis, einigen der Insassen von Heilanstalten die Ketten abzunehmen. In den Vereinigten Staaten wurden psychisch kranke Menschen zu ihrem eigenen
15.1.3 Geschichtlicher und kultureller Kontext Welche Behandlung hätten Sie wohl erhalten, wenn Sie in den letzten Jahrhunderten an einer psychischen Erkrankung gelitten hätten? Während des größten Teils der Vergangenheit hätte die Behandlung wahrscheinlich nicht geholfen und womöglich sogar geschadet. Wir werden die institutionalisierte Behandlung psychischer Störungen bis ins 21. Jahrhundert verfolgen, in dem die Deinstitutionalisierung – die Verlagerung der Behandlung aus psychiatrischen Kliniken an andere Orte – ein wichtiges Anliegen geworden ist. Die Geschichte der Therapie Durch das Bevölkerungswachstum und die Migration in die Großstädte entstanden im 14. Jahrhundert in
Im 18. Jahrhundert konzentrierte sich die Behandlung psychischer Störungen auf die Vertreibung kranker Gemütslagen aus dem Körper. Sie sehen hier einen „Beruhigungsstuhl“, wie ihn der Arzt Benjamin Rush aus Philadelphia einsetzte. Warum haben sich die Einstellungen gegenüber der Behandlung psychisch Erkrankter verändert?
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Schutz und zur Sicherheit der Gemeinschaft eingesperrt, aber sie wurden nicht behandelt. Als jedoch die Psychologie als Forschungsgebiet in der Mitte des 18. Jahrhunderts an Glaubwürdigkeit und Ansehen gewann, entstand im ganzen Land „ein Kult der Heilbarkeit“. Angespornt von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Arbeit in Gefängnissen kämpfte Dorothea Dix von 1841 bis 1881 unermüdlich um die Verbesserung der körperlichen Behandlung psychisch Erkrankter. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde oft die These vertreten, dass Geisteskrankheiten aus den seelischen Belastungen entstünden, denen man in der chaotischen Umgebung der neu entstehenden Städte ausgesetzt war. Um diese Belastungen zu vermindern, wurden die Verhaltensgestörten in Nervenanstalten in ländlichen Gebieten untergebracht, weit weg vom Stress der Stadt, nicht nur zu ihrem eigenen Schutz, sondern auch für ihre Behandlung (Rothman, 1971). Unglücklicherweise waren viele der Nervenanstalten bald überfüllt. Das humane Ziel der Rehabilitation wurde durch das pragmatische Ziel der Verwahrung seltsamer Menschen an einem weit entfernten Ort ersetzt. Diese großen, mit Fachkräften unterbesetzten staatlichen Anstalten für psychisch Kranke waren wenig mehr als eine Lagerstätte für gestörte Personen (Scull, 1993). In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begannen Reformer gegen diese Lagerstätten aufzubegehren, zu Gunsten der Deinstitutionalisierung der Behandlung, zumindest jener Patienten, welchen mit einer ambulanten Behandlung und entsprechender Unterstützung durch die Gemeinde geholfen werden konnte. Unglücklicherweise fehlt vielen dieser nicht stationär behandelten Patienten eine angemessene Unterstützung in ihrer Gemeinde. Wir werden dies im folgenden Abschnitt näher beleuchten. Deinstitutionalisierung und Obdachlosigkeit In den 1950er Jahren waren ungefähr 550.000 Menschen in den Vereinigten Staaten Insassen von psychiatrischen Anstalten. In neuerer Zeit ist diese Zahl auf etwa 70.000 gefallen. Dieser Rückgang zeigt sich auch in anderen Ländern der Welt (Fakhoury & Priebe, 2002). Wie wir in Kapitel 14 gesehen haben, ist nicht die Zahl der von psychischen Störungen betroffenen Menschen gesunken. Vielmehr spiegelt diese Veränderung den Vorgang der Deinstitutionalisierung wider: Viele Menschen mit psychischen Störungen werden jetzt außerhalb psychiatrischer Kliniken behandelt. Die Deinstitutionalisierung erwuchs dabei sowohl aus sozialen Faktoren (nämlich der Bewegung gegen das Wegschließen von psychisch Kranken) wie auch aus
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wirklichen Fortschritten in der Behandlung. Zum Beispiel werden wir in diesem Kapitel noch auf medikamentöse Behandlungen eingehen, die es Schizophreniekranken ermöglichten, außerhalb von Heilanstalten zu leben. Viele Menschen sind in der Annahme, dass sie an einem anderen Ort weiter psychisch betreut werden, deinstitutionalisiert worden. Unglücklicherweise traf das nicht immer zu. Tatsächlich sind viele Menschen, die eine psychiatrische Klinik verlassen, nicht im Stande, mit ihrer psychischen Störung umzugehen, sobald sie wieder in der Gesellschaft sind. Eine Folge davon ist, dass aus Heilanstalten Entlassene obdachlos werden. So hat die Forschung beispielsweise ergeben, dass 24 Prozent einer Gruppe von 438 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen obdachlos waren (Kuno et al., 2000). Von den Menschen, die 1980 in ein großes staatliches psychiatrisches Krankenhaus aufgenommen wurden, waren 15,3 Prozent ohne festen Wohnsitz. 1996 war diese Zahl auf 20,2 Prozent und 2002 auf 29,2 Prozent gestiegen (Appleby et al., 2006). Selbst wenn deinstitutionalisierte Patienten nicht obdachlos werden, können fortdauernde psychische Probleme zu ernsten Schwierigkeiten führen. So untersuchten Forscher beispielsweise, wie oft psychisch schwer Erkrankte zu Opfern von Raub- und anderen Überfällen werden (Teplin et al., 2005). In einer Gruppe von 936 Männern und Frauen waren 25,3 Prozent Opfer eines Gewaltverbrechens gewesen – elfmal mehr als in der Gesamtbevölkerung. Die Forscher stellten die These auf, dass die psychische Erkrankung der Opfer sie daran hindere, Risiken zu erkennen und sich selbst angemessen zu schützen. Eine weitere Folge der Deinstitutionalisierung ist das, was mitunter als „Drehtüreffekt“ bezeichnet wird: Die Patienten verlassen die Klinik nur, um nach kurzer Zeit wieder Hilfe zu benötigen. So beobachtete eine groß angelegte Studie etwa 29.373 Schizophreniepatienten, die aus psychiatrischen Kliniken entlassen worden waren. Die Forscher fanden heraus, dass 42,5 Prozent davon innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Entlassung wieder eingewiesen wurden (Lin et al., 2006). Allgemeiner betrachtet: 40 bis 50 Prozent der Psychiatriepatienten werden innerhalb eines Jahres nach ihrer anfänglichen Entlassung wieder eingewiesen (Bridge & Barbe, 2004). In vielen dieser Fälle verließen die Patienten die Klinik, als ihre Symptome soweit zurückgegangen waren, dass sie in der Außenwelt hätten bestehen können. Unglücklicherweise verfügen viele Menschen nicht über ausreichende öffentliche oder persönliche Ressourcen, um außerhalb des Rahmenwerks einer Einrichtung in psychiatrischer
15.2 Psychodynamische Therapien
Behandlung zu bleiben. In diesem Sinne ist nicht so sehr die Deinstitutionalisierung das Problem, sondern vielmehr der Mangel an öffentlichen Ressourcen außerhalb der Institutionen. Die Forschung beschäftigt sich inzwischen damit, wie öffentliche und schulische Programme die Zahl der Wiedereinweisungen reduzieren und den Drehtüreffekt verringern können (Bridge & Barbe, 2004).
ZWISCHENBILANZ 1 Was sind die Hauptziele des therapeutischen Prozesses? 2 Welche besondere Ausbildung hat ein Psychoanaly-
tiker? 3 Was wird im Zusammenhang mit Deinstitutionalisie-
rung unter „Drehtüreffekt“ verstanden?
Psychodynamische Therapien
15.2
Psychodynamische Therapien gehen davon aus, dass die Probleme eines Patienten durch Spannungen zwischen unbewussten Impulsen und den Reglementierungen innerhalb seiner Lebenssituation entstehen. Diese Therapien sehen den Kern der Störung in der gestörten Person selbst.
15.2.1 Freud’sche Psychoanalyse Die Psychoanalyse, in der von Sigmund Freud entwickelten Form, ist eine intensive und langwierige Technik zur Analyse unbewusster Motivationen und Konflikte von neurotischen, angstgeplagten Personen. Wie wir bereits in früheren Kapiteln erfahren haben, werden nach der Theorie von Freud Angststörungen als Unfähigkeit angesehen, innere Konflikte zwischen den unbewussten, irrationalen Impulsen des Es und internalisierten, sozialen Reglementierungen, die durch das Über-Ich aufgestellt werden, zu lösen. Die Psychoanalyse verfolgt das Ziel, innerpsychische Harmonie herzustellen, die das Gewahrsein für die Kräfte des Es erweitert, eine übermäßige Ergebenheit in das ÜberIch reduziert und dabei die Rolle des Ich stärkt. Für den Therapeuten ist es von zentraler Bedeutung zu verstehen, in welcher Weise der Patient den Prozess der Verdrängung bei der Bewältigung seiner Konflikte einsetzt. Die Symptome werden als Nachrichten des Unbewussten betrachtet, die signalisieren, dass
etwas falsch läuft. Die Aufgabe des Psychoanalytikers ist es nun, dem Patienten zu helfen, verdrängte Gedanken bewusst werden zu lassen und so Einblick in die Zusammenhänge zwischen den aktuellen Symptomen und den verdrängten Konflikten zu erhalten. Da ein zentrales Ziel des Therapeuten darin besteht, den Patienten bei der Einsicht in die Zusammenhänge zwischen den aktuellen Symptomen und den in der Vergangenheit liegenden Ursprüngen zu unterstützen, wird die psychodynamische Therapie oftmals auch als Einsichtstherapie bezeichnet. Die traditionelle Psychoanalyse ist ein Versuch, langfristig verdrängte Erinnerungen zu rekonstruieren und anschließend durch schmerzvolle Gefühle hindurch daran zu arbeiten, um zu einer effektiven Auflösung zu gelangen. Dementsprechend benötigt diese Therapie viel Zeit (mindestens einige Jahre, mit bis zu fünf Sitzungen pro Woche). Sie ist außerdem nur geeignet für Personen, die zur Introspektion fähig und sprachlich gewandt sind. Sie müssen einerseits motiviert sein, in Therapie zu bleiben, und andererseits bereit und in der Lage sein, die beträchtlichen Kosten zu bezahlen. (Neuere Formen psychodynamischer Therapien haben eine kürzere Gesamtdauer.) Psychoanalytiker verwenden verschiedene Techniken, um verdrängte Konflikte ins Bewusstsein zu bringen und den Patienten zu helfen, sie aufzulösen (Henry et al., 1994). Solche Techniken sind zum Beispiel die freie Assoziation, die Analyse des Widerstandes, die Traumanalyse und die Analyse der Übertragung und Gegenübertragung. Freie Assoziation und Katharsis Die freie Assoziation ist die wichtigste Technik der Psychoanalyse, um das Unbewusste auszuloten und verdrängtes Material freizusetzen. Ein Patient sitzt bequem in einem Sessel oder liegt entspannt auf einer Couch und lässt seine Gedanken frei umherwandern. Dabei berichtet er fortlaufend von Gedanken, Wünschen, seinen körperlichen Gefühlen und vorgestellten Bildern. Der Patient wird ermutigt, jeden Gedanken und jedes Gefühl zu äußern, wie unwichtig es auch scheinen mag. Freud nahm an, dass freie Assoziationen im Vorhinein festgelegt sind und nicht zufällig erfolgen. Die Aufgabe des Psychoanalytikers besteht darin, die Assoziationen zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen und die bedeutsamen Muster zu erkennen, die unter der Oberfläche dessen liegen, was scheinbar nur Worte sind. Der Patient wird ermutigt, starke Gefühle auszudrücken. Normalerweise handelt es sich dabei um Ge-
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Warum wird die psychoanalytische Therapie, wie sie ursprünglich in Freuds Behandlungszimmer praktiziert wurde, manchmal auch als „Redekur“ bezeichnet? fühle gegenüber Autoritätspersonen, die aus Angst vor Bestrafung oder Vergeltung bisher verdrängt wurden. Solche emotionalen Freisetzungen bei diesem oder anderen Verfahren innerhalb des therapeutischen Kontextes werden als Katharsis bezeichnet. Widerstand Für einen Psychoanalytiker sind vor allem jene Aspekte von großer Bedeutung, über die der Patient nicht reden möchte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt während des freien Assoziierens wird der Patient Widerstand zeigen – die Unfähigkeit oder den Unwillen, über bestimmte Ideen, Wünsche oder Erfahrungen zu sprechen. Solche Widerstände werden als Barrieren zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten begriffen. Das verdrängte Material steht häufig in Verbindung mit dem Sexualleben der Person (was alle lustvollen Dinge einschließt) oder mit feindseligen und zornigen Gefühlen gegenüber den Eltern. Wenn das verdrängte Material schließlich offengelegt wurde, behauptet der Patient, es sei unwichtig, absurd, irrelevant oder zu unangenehm, um es zu besprechen. Die Psychoanalyse versucht, diese Widerstände zu brechen und den Patienten dazu zu befähigen, diesen schmerzvollen Ideen, Wünschen und Erfahrungen gegenüberzutreten. Traumdeutung Psychoanalytiker glauben, dass Träume eine ergiebige Quelle für Informationen über die unbewussten Motivationen des Patienten sind. Im Schlaf, so wird angenommen, ist das Über-Ich weniger wachsam gegenüber den inakzeptablen Impulsen des Es, so dass ein Motiv, das im wachen Zustand nicht ausgedrückt werden kann, vielleicht im Traum offengelegt wird. Nach
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der Psychoanalyse gibt es zwei Inhalte von Träumen: zum einen manifeste (offen sichtbare) Inhalte, an die sich die Menschen nach dem Aufwachen erinnern, und zum anderen latente (versteckte) Inhalte. – Hier zeigen sich die eigentlichen Motive, die nach Ausdruck suchen, jedoch so schmerzvoll oder inakzeptabel sind, dass sie nur in versteckter oder symbolischer Form ausgedrückt werden können. Therapeuten versuchen mit Hilfe der Traumanalyse, diese versteckten Motive zu enthüllen. Dabei handelt es sich um eine therapeutische Technik, mit der man den Inhalt von Träumen einer Person untersucht, um die dahinter verborgenen oder versteckten Motivationen und symbolischen Bedeutungen wichtiger Lebenserfahrungen und Wünsche zu entdecken. Übertragung und Gegenübertragung Im Verlauf der intensiven psychoanalytischen Therapie entwickelt der Patient normalerweise eine emotionale Reaktion gegenüber dem Therapeuten. Oft wird der Therapeut mit einer Person identifiziert, die in der Vergangenheit das Zentrum eines emotionalen Konfliktes darstellte – meistens ein Elternteil oder ein Liebespartner. Diese emotionale Reaktion nennt man Übertragung. Erinnern Sie sich an den Beginn dieses Kapitels und an die Beziehung zwischen Tracy Thompson und ihrer Therapeutin Amanda – sie identifizierte Amanda explizit mit einer „Stellvertreterin“ ihrer Mutter. Eine Übertragung wird als positive Übertragung bezeichnet, wenn die Gefühle, die dem Therapeuten entgegengebracht werden, Gefühle der Liebe oder Bewunderung sind, und als negative Übertragung, wenn diese Gefühle aus Feindseligkeit oder Neid bestehen. Oft ist die Einstellung des Patienten ambivalent und umfasst sowohl positive als auch negative Gefühle. Es ist schwierig für einen Therapeuten, mit einer solchen Übertragung umzugehen, da der Patient emotional sehr anfällig ist; dennoch ist es ein entscheidender Teil der Behandlung. Ein Therapeut hilft einem Patienten, seine jetzigen Gefühle zu interpretieren, indem er Verständnis für ihren Ursprung in vergangenen Erfahrungen und Einstellungen entwickelt (Henry et al., 1994). Persönliche Gefühle kommen auch durch die Reaktionen des Therapeuten auf den Patienten ins Spiel. Eine Gegenübertragung tritt dann auf, wenn der Therapeut beginnt, seinen Patienten sympathisch oder unsympathisch zu finden, weil er eine Ähnlichkeit mit einer wichtigen Person in seinem eigenen Leben wahrnimmt. In der Bearbeitung der Gegenübertragung kann der Therapeut unbewusste Dynamiken in sich
15.2 Psychodynamische Therapien
selbst entdecken. Der Therapeut wird zu einem „lebenden Spiegel“ für den Patienten und der Patient umgekehrt für den Therapeuten. Falls der Therapeut den Mechanismus der Gegenübertragung nicht erkennt, ist die Therapie unter Umständen weniger erfolgreich (Winarick, 1997). Wegen der emotionalen Intensität dieser therapeutischen Beziehung und wegen der Verletzbarkeit des Patienten müssen Therapeuten wachsam bleiben, um nicht die Grenze zwischen professioneller Fürsorge und persönlicher Verwicklung mit ihren Patienten zu überschreiten. Der therapeutische Rahmen ist offensichtlich durch ein großes Machtungleichgewicht gekennzeichnet, das vom Therapeuten erkannt und respektiert werden muss.
15.2.2 Neo-freudianische Therapieformen Die Nachfolger von Freud behielten viele seine grundsätzlichen Ansichten bei, modifizierten jedoch bestimmte Prinzipien und Praktiken. Verglichen mit Freud legten die meisten von ihnen einen größeren Schwerpunkt auf: (1) das aktuelle soziale Umfeld des Patienten (weniger auf die Vergangenheit); (2) den kontinuierlichen Einfluss von Lebenserfahrungen (nicht ausschließlich Konflikte in der Kindheit); (3) die Rolle der sozialen Motivation und der zwischenmenschlichen Liebesbeziehungen (statt biologischer Instinkte und selbstbezogener Angelegenheiten); (4) die Bedeutung der Funktionen des Ich und die Entwicklung des Selbstkonzepts (weniger auf die Konflikte zwischen Es und Über-Ich). In Kapitel 13 haben wir Ihnen zwei weitere prominente Freudianer vorgestellt, Carl Jung und Alfred Adler. Um einen Eindruck von den moderneren psychodynamischen Ansätzen der Neo-Freudianer zu erhalten, werden wir uns im Folgenden mit der Arbeit von Harry Stack Sullivan, Melanie Klein und Heinz Kohut beschäftigen (für einen Blick auf die anderen Mitglieder des freudianischen Zirkels siehe Ruitenbeck, 1973). Harry Stack Sullivan (1953) war der Ansicht, dass Freuds Theorie und Therapie die Bedeutung sozialer Beziehungen und das Bedürfnis des Patienten nach Akzeptanz, Respekt und Liebe zu wenig berücksichtigt. Er nahm an, dass psychische Störungen nicht nur traumatische innerpsychische Prozesse beinhalten, sondern auch gestörte zwischenmenschliche Beziehungen oder sogar starken sozialen Druck. Angst oder andere psychische Störungen werden durch das Gefühl der Unsicherheit in den Beziehungen zu Eltern oder wichtigen anderen Personen hervorgerufen. Eine
Therapie, die sich auf diesen zwischenmenschlichen Ansatz bezieht, beinhaltet die Beobachtung der Gefühle des Patienten hinsichtlich der Einstellungen des Therapeuten. Das therapeutische Interview bildet die soziale Umgebung, in der beide Parteien ihre Gefühle und Einstellungen gegenseitig beeinflussen. Melanie Klein (1975) löste sich von Freuds Betonung des Ödipuskonfliktes als einer zentralen Quelle der Psychopathologie. Anstatt ödipale, sexuelle Konflikte als die für die Organisation der Psyche bedeutsamsten Faktoren zu betrachten, behauptete Klein, dass der Todestrieb dem sexuellen Bewusstsein vorausging und dabei einen angeborenen aggressiven Impuls auslöse, der von ebenso großer Bedeutung für die Organisation der Psyche sei. Sie nahm an, dass die beiden fundamentalen Faktoren der Psyche Aggression und Liebe seien, wobei Aggression die Psyche zerteilt und Liebe sie vereinigt. Für Klein steht bewusste Liebe mit Reue über zerstörerischen Hass und potenzielle Gewalt gegenüber jenen in Verbindung, die wir lieben. In dieser Form erklärt sie: „Eines der größten Mysterien, dem alle Menschen gegenüberstehen ist, dass Liebe und Hass – unser ganz persönlicher Himmel und unsere persönliche Hölle – nicht voneinander trennbar sind“ (Frager & Fadiman, 1998, S. 135). Klein übernahm eine Vorreiterrolle bei der Verwendung wirkungsvoller therapeutischer Interpretationen bei so-
In welcher Hinsicht unterschieden sich die Theorien von Melanie Klein und Sigmund Freud?
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wohl aggressiven als auch sexuellen Trieben bei psychoanalytisch therapierten Patienten. Wir haben bereits festgestellt, dass psychoanalytische Therapien viel Zeit benötigen, um ihre Ziele zu erreichen. Oft leiden Menschen jedoch an Störungen, die eine schnellere Abhilfe notwendig machen. Verhaltenstherapien, die wir als Nächstes behandeln, haben das Potenzial, eine rasche Erleichterung von den Symptomen herbeizuführen.
ZWISCHENBILANZ 1 Warum wird die psychodynamische Therapie auch als
Einsichtstherapie bezeichnet? 2 Was versteht man unter Übertragung? 3 Welche Rolle spielte der Todestrieb in Melanie Kleins
Theorie?
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Werden wir von verdrängten Erinnerungen verfolgt?
Am 22. September 1969 verschwand die achtjährige Susan aus ihrem Heimatort im Norden Kaliforniens. Im Dezember 1969 fand man ihre Leiche. Über 20 Jahre lang wusste niemand, wer sie ermordet hatte. Dann, 1989, nahm Susans Freundin Eileen Franklin-Lipsker Kontakt mit den Ermittlungsbehörden auf. Eileen erzählte ihnen, dass sie sich mit Hilfe psychotherapeutischer Behandlung wieder an ein zuvor verdrängtes schreckliches Erlebnis erinnern könne. Sie erinnere sich daran, was mit Susan geschehen sei. Im Herbst 1990 bezeugte Eileen, dass sie mehr als zwei Jahrzehnte zuvor ihren Vater, George Franklin, dabei beobachtet hatte, wie er Susan sexuell missbrauchte und anschließend mit einem Stein erschlug (Marcus, 1990; Workman, 1990). Eileen berichtete, dass ihr Vater ihr drohte, sie zu töten, wenn sie jemandem davon erzählte. Diese Zeugenaussage reichte aus, um George Franklin wegen Mordes zu verurteilen. Nach welcher Theorie konnten jene Erinnerungen 20 Jahre lang verborgen bleiben? Die Antwort auf dieses Mysterium finden wir in Sigmund Freuds Konzept der Verdrängung von Erinnerungen. Wie wir weiter oben dargestellt haben, nahm Freud (1923) an, dass die Erinnerungen mancher Menschen an bestimmte Ereignisse in ihrem Leben derart bedrohlich für ihr psychisches Wohlbefinden werden können, dass sie diese Erinnerungen aus ihrem Bewusstsein verbannen – sie verdrängen sie. Klinische Psychologen können Klienten häufig dabei helfen, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu übernehmen, indem sie Störungen in der Lebensführung als die Konsequenz verdrängter Erinnerungen interpretieren; ein wichtiges Ziel der Therapie besteht darin, hinsichtlich der verdrängten Erinnerungen die Katharsis zu erreichen. Aber nicht alle Erfahrungen verdrängter Erinnerung bleiben in der Praxis des Therapeuten. In den letzten Jahren gab in den Massenmedien eine Explosion dramatischer Entdeckungen verdrängter Erin-
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nerungen. Nach langen Zeiträumen berichten Personen von plötzlichen, lebhaften Erinnerungen an schreckliche Ereignisse wie Morde oder Kindesmissbrauch. Können alle diese Behauptungen stimmen? Unser Überblick über Forschungsergebnisse zum Gedächtnis in Kapitel 7 – speziell Forschungsergebnisse zu Erinnerungen von Augenzeugen – lassen hier Raum für Skepsis (Wells & Loftus, 2003). Sie können sich vielleicht daran erinnern, dass diese Forschungsergebnisse aufzeigten, dass Personen etwas als wahre Erinnerungen benennen, obwohl die entsprechende Information von einer künstlichen Quelle stammte. Sie werden selbst dann dabei bleiben, wenn man sie zuvor gewarnt hatte, dass sie in die Irre geführt worden waren. Obwohl man ganz sicher ist, sich an etwas zu erinnern, kann man also dennoch nicht sicher sein, was die ursprüngliche Quelle dieser Erinnerung war. Tatsächlich gab es in den öffentlichen Medien in den letzten Jahren regelmäßig Berichte über verdrängte Erinnerungen, die als „künstliche Quelle“ dienen könnten. Was eine Person im Fernsehen gesehen hat, kann als persönliche Erinnerung wiedergeboren werden, wenn die Information darüber, dass das Fernsehen die Quelle war, verloren geht. Demnach können Medienberichte über verdrängte Erinnerungen bei manchen Menschen dazu führen, dass sie dieselben Erinnerungen „wiederentdecken“. Im Grunde hat die Person hier den Zugriff auf die Quelle der Erinnerung verloren, den Inhalt jedoch behalten (Johnson et al., 1993). Kliniker befürchten außerdem, dass Therapeuten, die an die Existenz verdrängter Erinnerungen glauben, diesen Glauben auf ihre Patienten übertragen (Lynn et al., 2003). Wissenschaftler haben beispielsweise Frauen untersucht, die ihre Anklagen wegen Kindesmissbrauchs letztlich zurückgezogen hatten – diese Frauen waren zu der Überzeugung gelangt, dass ihre „Erinnerungen“ an den Missbrauch nicht real sein konnten. Diese Studien belegen, dass Thera-
15.3 Verhaltenstherapien
peuten ihre Patienten häufig dazu ermutigten, solche Erinnerungen zu finden – und sie verbal belohnten, wenn diese „Erinnerungen“ zum Vorschein kamen (de Rivera, 1997). Fälle dieser Art haben Kliniker davon überzeugt, dass sie die wirkenden sozialen Kräfte innerhalb einer Therapie untersuchen müssen, um zu entdecken, auf welche Weise die Theorie des Therapeuten in die Realität des Patienten übertragen wird (Lynn et al., 1997). Der Glaube daran, verdrängte Erinnerungen wiederzuentdecken, könnte für die Patienten in einer Psychotherapie einen messbaren Gewinn bedeuten.
Verhaltenstherapien
15.3
Während sich psychodynamische Therapien auf die angenommenen inneren Ursachen konzentrieren, konzentrieren sich Verhaltenstherapien auf das beobachtbare äußere Verhalten. Verhaltenstherapeuten gehen davon aus, dass unangemessene Verhaltensweisen auf demselben Weg erworben werden wie angemessene Verhaltensweisen – durch einen Lernprozess, der den grundlegenden Prinzipien des Konditionierens und Lernens folgt. Verhaltenstherapeuten setzen die Prinzipien das Konditionierens und Verstärkens ein, um unerwünschte Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit einer psychischen Störung stehen, zu modifizieren. Die Begriffe Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation werden oft synonym verwendet. Beide beziehen sich auf die systematische Anwendung von Lernprinzipien zur Steigerung der Häufigkeit erwünschter Verhaltensweisen und zur Verringerung der Häufigkeit problematischer Verhaltensweisen. Die Bandbreite gestörter Verhaltenweisen und persönlicher Probleme, die typischerweise mit einer Verhaltenstherapie behandelt werden, ist sehr groß und umfasst beispielsweise Ängste, Zwangshandlungen, Depressionen, Suchtverhalten, Aggression und Delinquenz. Im Allgemeinen funktioniert die Verhaltenstherapie besser bei spezifischen als bei allgemeinen persönlichen Problemen: Sie wirkt besser bei einer Phobie als bei generalisierten Ängsten. Die Therapien, die aus den Lern- und Konditionierungstheorien hervorgingen, basieren auf einer pragmatischen, empirischen Forschungstradition. Die zentrale Aufgabe aller Lebewesen besteht im Lernen, wie man sich an die Erfordernisse der aktuellen sozialen
Tatsächlich sind viele wiederentdeckte Erinnerungen valide Erinnerungen an frühere traumatische Erfahrungen (Schooler & Eich, 2000; Williams, 1995). Dennoch, wenn Sie darüber nachdenken, ob verdrängte Erinnerungen aus Ihrer Vergangenheit Ihnen helfen können, aktuelles Unbehagen zu beseitigen, sollten Sie sicher gehen, dass Sie nicht passiv die Vorstellung eines anderen Menschen von ihrem Leben übernehmen. Im geschilderten Fall von George Franklin führten Zweifel an den verdrängten Erinnerungen seiner Tochter dazu, dass das Urteil aufgehoben wurde.
und physischen Umwelt anpasst. Wenn Lebewesen nicht lernen, diese Erfordernisse erfolgreich zu bewältigen, können ihre Fehlanpassungen effektiv durch lerntheoretisch fundierte Therapien überwunden werden. Es wird nicht angenommen, das in Frage stehende Verhalten sei Symptom für irgendwelche tiefliegende Prozesse. Das Symptom selbst ist das Problem. Psychoanalytiker sagten vorher, dass die ausschließliche Behandlung der äußeren Verhaltensweisen, ohne Konfrontation mit dem wahren inneren Problem, lediglich zu einer Symptomverschiebung führt, das heißt zum Auftreten eines neuen körperlichen oder psychischen Problems. Forschungsarbeiten haben jedoch belegt, dass nach der Eliminierung der pathologischen Verhaltensweisen durch die Verhaltenstherapie die Symptomatik nicht verschoben wurde (Kadzin, 1982; Wolpe, 1986). „Vielmehr berichteten Patienten, bei denen sich die Hauptsymptome gebessert hatten, dass auch Nebensymptome verschwunden seien“ (Sloane et al., 1981, S. 134). Lassen Sie uns betrachten, auf welche Weise verschiedene Formen der Verhaltenstherapie leidenden Menschen Erleichterung verschafft haben.
15.3.1 Gegenkonditionierung Warum bekommt jemand Angst, wenn er mit einem harmlosen Reiz, wie beispielsweise einer Spinne, einer ungiftigen Schlange oder sozialen Kontakten, konfrontiert wird? Die behavioristische Erklärung hierfür ist, dass Angst durch jene Prinzipien einfacher Konditionierung hervorgerufen wird, die wir bereits in Kapitel 6 und 14 vorgestellt haben: Starke emotionale Reaktionen, die „ohne erkennbaren Grund auftreten“
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und störend in das Leben des Patienten eingreifen, sind häufig konditionierte Reaktionen. Dem Patienten ist dabei jedoch nicht bewusst, dass er diese Reaktionen zu einem früheren Zeitpunkt erlernt hat. Bei der Gegenkonditionierung wird eine neue Reaktion konditioniert, welche die fehlangepasste Reaktion ersetzt oder als „Gegenpol“ dient. Die ersten verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, von denen berichtet wurde, entsprachen dieser Logik. Mary Cover Jones (1924) zeigte, dass Furcht durch Konditionierung verlernt werden kann. (Vergleichen Sie diesen Fall mit jenem des kleinen Albert aus Kapitel 6.) Ihr Patient war Peter, ein dreijähriger Junge, der aus unbekannten Gründen Angst vor Kaninchen hatte. Die Therapie begann, indem Peter in einer Ecke des Raums etwas zu essen erhielt, während das Kaninchen in die andere Ecke des Raums gebracht wurde. Dann wurde über eine Reihe von Sitzungen hinweg die Distanz zwischen Peter und dem Kaninchen immer weiter verringert. Letztlich verschwand jegliche Angst, und Peter spielte frei mit dem Kaninchen. Den Spuren von Cover Jones folgend setzen Verhaltenstherapeuten heute zahlreiche Konditionierungstechniken ein, wie beispielsweise systematische Desensibilisierung, Implosion, Flooding und Aversionstherapie.
Expositionstherapien Der Hauptbestandteil einer Expositionstherapie ist, dass der Betroffene sich dem Gegenstand oder der Situation stellen muss, der Angst auslöst. Das therapeutische Prinzip ist dabei, dass Aussetzung eine Gegenkonditionierung ermöglicht – die Betroffenen lernen, in Situationen entspannt zu bleiben, die sie vorher hochgradig ängstlich gemacht hätten. Die verschiedenen Expositionstherapien unterscheiden sich im Zeitplan und in den Umständen, unter denen die Betroffenen den Ursachen ihrer Angst ausgesetzt werden. So beobachtete zum Beispiel Joseph Wolpe (1958, 1973), dass das Nervensystem nicht zur gleichen Zeit entspannt und erregt sein kann, weil inkompatible Prozesse nicht gleichzeitig aktiviert werden können. Diese Erkenntnis war entscheidend für die Theorie der reziproken Inhibition, die Wolpe auf die Behandlung von Ängsten und Phobien anwandte. Wolpe lehrte seine Patienten, ihre Muskulatur zu entspannen und sich
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dann in bildhafter Form die Angst auslösende Situation vorzustellen. Sie taten dies schrittweise, indem sie mit entfernten Assoziationen begannen bis hin zu konkreten Vorstellungsbildern. Die graduelle psychische Konfrontation mit dem Angst auslösenden Stimulus bei gleichzeitiger körperlicher Entspannung ist eine therapeutische Technik, die als systematische Desensibilisierung bezeichnet wird. Die Desensibilisierungstherapie beinhaltet drei wichtige Schritte. Zuerst benennt der Klient die Angst auslösenden Reize und ordnet sie in einer Hierarchie, beginnend mit dem Reiz, der am wenigsten Angst auslöst, und endend mit dem Reiz, der am stärksten Angst auslösend wirkt. Eine Studentin, die an großer Prüfungsangst litt, bildete beispielsweise jene Rangreihe, die in Tabelle 15.1 dargestellt ist. Beachten Sie, dass die Antizipation der unmittelbar bevorstehenden Prüfung (Nr. 14) als stressvoller eingeschätzt wurde als die tatsächliche Prüfung (Nr. 13). Als Zweites wird der Klient mit einer Technik der progressiven Muskelentspannung vertraut gemacht. Das Entspannungstraining erfordert einige Sitzungen, in denen der Klient lernt, zwischen der Empfindung von Anspannung und Entspannung zu unterscheiden. Er lernt, Spannungen zu lösen, um einen Zustand körperlicher und geistiger Entspannung zu erreichen. Schließlich beginnt der eigentliche Prozess der Desensibilisierung: Der entspannte Klient stellt sich den schwächsten Angst auslösenden Reiz seiner Liste lebhaft vor. Wenn er sich diesen Reiz ohne Unbehagen zu empfinden vorstellen kann, wird der Prozess mit dem nächststärkeren Reiz fortgeführt. Nach einigen Sitzungen kann der Klient sich die meisten unangenehmen Situationen der Liste vorstellen, ohne dass Angst auftritt. Systematische Desensibilisierung beinhaltet eine allmähliche Steigerung der Konfrontation mit den Reizen, die Angstzustände hervorrufen. Therapeuten haben auch andere Konzepte getestet, von denen manche die Konfrontation weniger verzögert herbeiführen. Beispielsweise erklären sich die Klienten bei einer als Flooding bezeichneten Technik damit einverstanden, direkt in die Phobie auslösende Situation gebracht zu werden. Eine Person mit Klaustrophobie wird in einen dunklen Schrank eingesperrt und ein Kind mit Angst vor Wasser in einen Swimmingpool gebracht. Forscher behandelten erfolgreich einen 21-jährigen Studenten, der an einer Phobie vor platzenden Luftballons litt, indem sie ihn in drei Sitzungen Hunderten von platzenden Ballons aussetzten (Houlihan et al., 1993). In der dritten Sitzung war der Student dann im Stande, die letzten 115 Ballons selbst platzen zu lassen. Eine
15.3 Verhaltenstherapien
Tabelle 15.1
Die Hierarchie Angst auslösender Reize einer Studentin mit Prüfungsangst (in aufsteigender Reihenfolge) 1. Ein Monat vor der Prüfung. 2. Zwei Wochen vor der Prüfung. 3. Eine Woche vor der Prüfung. 4. Fünf Tage vor der Prüfung. 5. Vier Tage vor der Prüfung. 6. Drei Tage vor der Prüfung. 7. Zwei Tage vor der Prüfung. 8. Am Tag vor der Prüfung. 9. Die Nacht vor der Prüfung. 10. Der noch umgedrehte Prüfungsbogen. 11. Warten auf die Verteilung der Prüfungsfragen. 12. Vor der ungeöffneten Tür des Prüfungsraums. 13. Der Prozess der Beantwortung von Prüfungsfragen. 14. Der Weg zur Universität am Tag der Prüfung.
andere Form der Flooding-Therapie beginnt mit dem Gebrauch der Vorstellungskraft. Bei dieser Prozedur hört der Klient vielleicht einem Tonband zu, auf dem die fürchterlichste Version seiner phobischen Angst ein oder zwei Stunden lang in allen Einzelheiten geschildert wird. Wenn die Angst dann nachlässt, wird der Klient in die gefürchtete Situation gebracht. Als die Expositionstechniken entwickelt wurden, führten die Therapeuten die Aussetzung durch geistige Vorstellungskraft oder tatsächlichen Kontakt herbei. In den letzten Jahren haben sich die Kliniker der virtuellen Realität für die Expositionstherapie zugewandt (Glanz et al., 2003). Betrachten wir dazu die folgende Studie, die eine Virtuelle-Realitäts-Therapie mit einer Standard-Expositionstherapie gegen Akrophobie (Höhenangst) verglich.
AUS DER FORSCHUNG Ein Forscherteam warb 33 Menschen an, die an Akrophobie litten (Emmelkamp et al., 2002). Ungefähr die Hälfte der Gruppe (16 Teilnehmer) erhielt eine Standardform der Expositionstherapie. Die Forscher brachten sie an reale Orte, die stufenweise stärker Höhenangst auslösten – ein Einkaufszentrum mit mehreren Ebenen, eine Feuerleiter und ein Dachgarten. Die Teilnehmer setzten sich jeder
dieser Örtlichkeiten aus, bis ihre Angst geschwunden war. Die restlichen Teilnehmer besuchten dieselben Örtlichkeiten – aber als virtuelle Umgebungen. Genau wie ihre Mitteilnehmer, die in die Wirklichkeit hinausgingen, blieben sie in jeder virtuellen Umgebung, bis ihre Angst nachließ. Um die Effektivität der jeweiligen Intervention zu messen, bewerteten die Forscher das verbleibende Unbehagen der Teilnehmer gegenüber Höhen an Hand solcher Instrumente wie dem Fragebogen zur Einstellung gegenüber Höhen. Beide Therapiearten brachten den Teilnehmern durchgängige und anhaltende Erleichterung. Es gab keine Unterschiede in der Effektivität der beiden Therapiearten.
Expositionstherapien haben sich bei der Behandlung von Phobien als sehr effektiv erwiesen. Virtuelle-Realitäts-Techniken beinhalten die Möglichkeit intensiver Aussetzungserfahrungen ohne den Zeit- und Geldaufwand tatsächlicher Ausflüge in die reale Welt. Die Expositionstherapie ist auch zur Bekämpfung von Zwangsstörungen eingesetzt worden. Eine Frau mit Waschzwang beispielsweise wusch ihre vermeintlich schmutzigen Hände immer und immer wieder, bis sie einrissen und bluteten. Sie dachte sogar daran, sich umzubringen, weil diese Störung sie vollständig daran hinderte, ein normales Leben zu führen. Unter der Aufsicht eines Verhaltenstherapeuten wurde sie mit
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Wie könnte ein Verhaltenstherapeut virtuelle Technik bei der Expositionstherapie einsetzen, um einer Klientin bei der Überwindung ihrer Flugangst zu helfen?
dem konfrontiert, wovor sie sich am meisten fürchtete – Schmutz und Müll. Sie musste ihn teilweise sogar anfassen. Fünf Tage lang badete sie nicht und wusch sich weder Hände noch Gesicht. Beachten Sie, dass die Verhaltenstherapie hier eine zusätzliche Komponente aufweist, die Reaktionsverhinderung. Die Klientin wurde nicht nur den Angst auslösenden Reizen ausgesetzt (Schmutz und Müll), sondern auch davon abgehalten, genau jenes Verhalten auszuführen, das bisher ihre Angst reduzierte (Waschen). Die Therapie ermöglichte der Frau, ihre Ängste zu beseitigen, ohne auf ihre Zwangshandlungen zurückgreifen zu müssen. Aversionstherapie Die Formen der Konfrontationstherapie, die wir bisher beschrieben haben, helfen Personen direkt, mit Reizen umzugehen, die nicht wirklich schädigend sind. Was kann getan werden, um jenen Personen zu helfen, die von Reizen angezogen werden, die tatsächlich schädigend sind? Drogensucht, sexuelle Perversionen und unkontrollierbare Gewalt sind menschliche Probleme, bei welchen das abweichende Verhalten durch verlockende Reize hervorgerufen wird. Die Aversionstherapie verwendet das Verfahren der Gegenkonditionierung, um diese Reize mit schmerzhaften oder unangenehmen Reizen zu kombinieren, wie beispielsweise Elektroschocks oder Übelkeit erregenden Medikamenten. Nach einer gewissen Zeit werden die nega-
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tiven Reaktionen durch den verlockenden Reiz ausgelöst, und die Person entwickelt eine Aversion, die das zuvor vorhandene Begehren ersetzt. Aversionstherapie wurde beispielsweise bei Menschen eingesetzt, die selbstzerstörerische Verhaltensweisen aufzeigten wie ihren Kopf zu malträtieren oder gegen andere Objekte zu schlagen. Wenn eine Person diese Verhaltensweisen ausführte, bekam sie einen leichten Elektroschock. Diese Behandlung beseitigt selbstzerstörerisches Verhalten in einigen, jedoch nicht in allen Fällen (Duker & Seys, 1996). Im Extremfall ähnelt die Aversionstherapie einer Folter. Warum sollte sich demnach jemand freiwillig in eine solche Therapie begeben? Gewöhnlich geschieht dies nur, weil die Betroffenen bemerken, dass die langfristigen Konsequenzen der Fortführung ihrer Verhaltensweisen ihre Gesundheit, ihre berufliche Zukunft oder ihr Familienleben zerstören werden. Möglicherweise sind sie auch durch institutionellen Druck zur Teilnahme gezwungen, wie das in manchen Behandlungsprogrammen von Gefängnissen der Fall war. Zahlreiche Kritiker sind besorgt, dass die schmerzhaften Verfahren in der Aversionstherapie dem Therapeuten zu viel Macht verleihen, dass sie mehr bestrafend als therapeutisch sein können und dass sie in der Regel in institutionellen Situationen eingesetzt werden, in denen die Menschen am wenigsten über Wahlfreiheit verfügen, um selbst zu entscheiden, was mit ihnen geschieht. In den letzten Jahren wurde der Ein-
15.3 Verhaltenstherapien
satz der Aversionstherapie in institutionellen Rehabilitationsprogrammen durch ethische Richtlinien und gesetzliche Vorgaben geregelt. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich unter diesen Einschränkungen eher als therapeutisch denn als Zwangsmaßnahme erweisen wird.
15.3.2 Kontingenzmanagement Gegenkonditionierung ist eine angemessene Vorgehensweise, wenn eine Reaktion durch eine andere ersetzt werden kann. Andere Verfahren der Verhaltensmodifikation basieren auf den Prinzipien der operanten Konditionierung, die sich aus der Forschungstradition von B. F. Skinner entwickelte. Kontingenzmanagement ist eine allgemeine Behandlungsstrategie zur Verhaltensänderung, indem die Konsequenzen des Verhaltens verändert werden. Die beiden wichtigsten Techniken des Kontingenzmanagements in der Verhaltenstherapie sind Strategien der positiven Verstärkung und Löschungsstrategien. Strategien der positiven Verstärkung Wenn auf eine Reaktion unmittelbar eine Belohnung folgt, dann wird die Reaktion tendenziell wiederholt, und mit der Zeit erhöht sich ihre Auftretenshäufigkeit. Dieses zentrale Prinzip der operanten Konditionierung wird zu einer therapeutischen Strategie, wenn man es anwendet, um die Häufigkeit einer wünschenswerten Reaktion zu erhöhen, da dadurch gleichzeitig unerwünschtes Verhalten ersetzt wird. Durch den Einsatz positiver Verstärkung wurden bemerkenswerte Erfolge bei Verhaltensproblemen erzielt. Sie erinnern sich vielleicht aus Kapitel 6 an eine Technik namens Shaping, bei der die Forscher aufeinanderfolgende Annäherungen an ein gewünschtes Verhalten verstärken. Wir denken etwa an den Einsatz von Shaping zur Leistungsverbesserung bei einem 21 Jahre alten Stabhochspringer im Team einer Universität (Scott et al., 1997). Der Hochspringer streckte seine den Stab haltenden Arme nicht hoch genug über den Kopf aus, bevor er den Stab aufsetzte, um abzuheben. Das Forscherteam benutzte eine Lichtschranke, die ein Signal auslöste, wenn der Hochspringer die gewünschte Armhöhe erreichte und die Lichtschranke durchbrach. Wir beschrieben in Kapitel 6 auch Token Economies, das Prinzip der „Tokens“, bei dem wünschenswerte Verhaltensweisen (beispielsweise Körperpflege oder Medikamenteneinnahme) genau definiert werden und spezielle Tokens von den Mitarbeitern ausgegeben werden, wenn die entsprechenden Verhal-
tensweisen gezeigt werden. Diese Tokens können später gegen verschiedene Belohnungen und Privilegien eingelöst werden (Kazdin, 1994; Martin & Pear, 1999). Diese Systeme der Verstärkung erweisen sich als besonders effektiv bei der Modifikation des Klientenverhaltens in Bezug auf Körperpflege, Ordnungsverhalten und Häufigkeiten positiver sozialer Interaktionen. Bei einem anderen Ansatz verstärken Therapeuten differenziell jene Verhaltensweisen, die mit dem mangelhaft angepassten Verhalten nicht kompatibel sind. Diese Technik wurde erfolgreich bei der Behandlung Drogenabhängiger eingesetzt.
AUS DER FORSCHUNG Forscher warben 142 Menschen, die sich gegen Kokain- und Heroin-Abhängigkeit behandeln ließen, für eine zwölfwöchige Studie an (Petry et al., 2005). Alle Teilnehmer erhielten die Standardbehandlung in Form von Beratungssitzungen, die Strategien und Fähigkeiten zur Überwindung der Abhängigkeit vermittelten. Zusätzlich erhielt eine Gruppe von 53 Teilnehmern jedes Mal, wenn sie eine drogenfreie Urinprobe ablieferten, Gutscheine. Bei der ersten drogenfreien Urinprobe erhielten sie einen Gutschein im Wert von einem Dollar; der Wert erhöhte sich mit jeder negativen Probe um 1,50 Dollar. Eine positive Urinprobe setzte den angesammelten Wert wieder auf einen Dollar herab. Eine andere Gruppe mit 51 Teilnehmern konnte bei jeder negativen Urinprobe Preise gewinnen. Um zu gewinnen, zogen die Teilnehmer Lose. Die meisten Karten (62,8 Prozent) waren Nieten mit einem Aufdruck wie „Prima gemacht, probier es weiter,“ aber die übrigen waren Preise im Wert von 1, 20 oder 100 Dollar. Bei der ersten negativen Urinprobe durfte ein Los gezogen werden. Bei jedem folgenden negativen Urintest durfte einmal mehr gezogen werden. Eine positive Urinprobe stufte die Teilnehmer wieder auf ein Los herab. Die Forscher bewerteten die Effizienz der Methoden, indem sie zum Beispiel die durchschnittlichen Wochen zählten, in denen die Teilnehmer jeder Gruppe durchgängig abstinent blieben. Bei der Gruppe, die nur die Standardbehandlung erhielt, waren das 4,6 Wochen. Bei der Gutscheingruppe waren es 7,0 Wochen, und die Losgruppe erreichte 7,8 Wochen. Also erhöhten beide Zusatzbehandlungen die Wahrscheinlichkeit, dass die Teilnehmer drogenfrei bleiben würden.
Diese Studie bestätigt, dass zwei verschiedene Programme zum Kontingenzmanagement – Gutscheine und Preise – erfolgreich zur Behandlung von Drogenabhängigkeit eingesetzt werden können. Sie bemerken vielleicht, dass hier dieselbe Philosophie greift, die bereits die Verfahren der Gegenkonditionierung anregte, die wir zuvor beschrieben hatten:
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Grundlegende Lernprinzipien werden angewendet, um die Auftretenswahrscheinlichkeit angemessener Verhaltensweisen zu erhöhen. Löschungsstrategien Warum fahren Menschen damit fort, etwas zu tun, das Schmerz und Leiden hervorruft, wenn sie doch in der Lage wären, anders zu handeln? Die Antwort lautet, dass viele Verhaltensweisen multiple Konsequenzen haben – manche sind negativ, andere positiv. Oft führt eine subtile positive Verstärkung trotz offensichtlicher negativer Konsequenzen zur Beibehaltung eines Verhaltens. Beispielsweise führen Kinder, die für ihr Fehlverhalten bestraft werden, dieses Verhalten unter Umständen fort, wenn die Bestrafung die einzige Form der Aufmerksamkeit ist, die sie erhalten können. Löschungsstrategien sind therapeutisch sinnvoll bei dysfunktionalen Verhaltensweisen, die aufgrund unerkannter verstärkender Umstände beibehalten werden. Durch eine sorgfältige Situationsanalyse können diese Verstärker erkannt werden, und es kann ein Programm entwickelt werden, das diese Verstärker in Gegenwart der unerwünschten Reaktion entzieht. Wenn dieser Ansatz möglich ist und jeder an der Situation Beteiligte, der unbeabsichtigt das Verhalten der Person verstärken könnte, kooperiert, dann bewirken Löschungsverfahren eine Reduktion der Auftretenshäufigkeit des Verhaltens, und es verschwindet möglicherweise vollständig. Betrachten Sie ein Beispiel aus dem Schulkontext. Wissenschaftler entdeckten, dass die Aufmerksamkeit der Gleichaltrigen das störende Verhalten von vier Grundschulkindern verstärkte. Indem sie die Klassenkameraden dazu brachten, ihre Aufmerksamkeit auf angemessenes Verhalten zu richten und störendes Verhalten zu ignorieren, konnten die Wissenschaftler das Fehlverhalten der Kinder beseitigen (Broussard & Northup, 1997). Sogar schizophrenes Verhalten kann durch unbeabsichtigte Verstärkung ermutigt und aufrechterhalten werden. Betrachten Sie die folgenden Umstände: In zahlreichen psychiatrischen Kliniken ist es üblich, dass das Personal regelmäßig als Form sozialer Kommunikation fragt „Wie fühlen Sie sich?“ Patienten interpretieren diese Frage häufig falsch und nehmen an, es handele sich dabei um eine Anfrage nach diagnostischer Information. Sie antworten, indem sie beginnen, über ihre Gefühle zu berichten, über ungewöhnliche Symptome oder Halluzinationen. Solche Antworten sind wahrscheinlich sehr kontraproduktiv, da sie dazu führen, dass der Mitarbeiter annimmt, der Patient sei auf sich selbst konzentriert und verhalte sich nicht
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normal. Tatsächlich ist es so, dass dem Patienten möglicherweise umso mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, je bizarrer die geschilderten Symptome und Formulierungen sind, was wiederum eine verstärkende Wirkung hat und zu weiteren Schilderungen bizarrer Symptome führt. In einer klassischen Studie kam es zu einer starken Abnahme schizophrener Verhaltensweisen, wenn die Mitarbeiter dazu aufgefordert wurden, jene Verhaltensweisen zu ignorieren und den Patienten nur Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie sich normal verhielten (Ayllon & Michael, 1959).
15.3.3 Therapie des sozialen Lernens Die Bandbreite verhaltenstherapeutischer Maßnahmen wurde maßgeblich durch Theoretiker des sozialen Lernens erweitert, die herausstellten, dass Menschen durch die Beobachtung von Verhalten anderer lernen. Oft kann das Lernen und die Anwendung von Regeln auf neue Erfahrungen durch symbolische Mittel erfolgen, wie beispielsweise die Beobachtung von Erfahrungen anderer Menschen im Leben, im Film oder Fernsehen. Die Therapie des sozialen Lernens modifiziert problematische Verhaltensweisen, indem sie dem Klienten Gelegenheit bietet, Modelle zu beobachten, die für eine wünschenswerte Reaktion verstärkt werden. Dieser Prozess des stellvertretenden Lernens ist von großer Bedeutung für die Überwindung von Phobien und für die Herausbildung sozialer Fertigkeiten. Wir haben in vorangehenden Kapiteln bereits erwähnt, dass die soziale Lerntheorie in großem Maß durch ihren Pionier Albert Bandura (1977, 1986) entwickelt wurde. Hier werden wir nur zwei Aspekte seines Modells ansprechen: die Nachahmung von Modellen und das Training sozialer Fertigkeiten. Nachahmung von Modellen Die soziale Lerntheorie sagt voraus, dass Personen ihre Reaktionen durch Beobachtung erlernen. Demnach sollte es möglich sein, dass Menschen mit Phobien ihre Angstreaktionen durch die Nachahmung von Modellen verlernen können. Bei der Behandlung beispielsweise einer Schlangenphobie wird der Therapeut zuerst ein furchtloses Annäherungsverhalten auf einer relativ niedrigen Stufe demonstrieren, vielleicht sich einem Schlangenkäfig nähern oder eine Schlange berühren. Der Klient wird durch die Demonstration und durch Ermutigung dabei unterstützt, das Verhalten des Modells nachzuahmen. Nach und nach wird das Annäherungsverhalten des Klienten geformt, bis
15.3 Verhaltenstherapien
er dazu in der Lage ist, die Schlange aufzunehmen und sie frei über sich hinwegkriechen zu lassen. Zu keinem Zeitpunkt wird der Klient zu einem bestimmten Verhalten gezwungen. Widerstand auf jeder Stufe wird dadurch überwunden, dass der Klient zu einem zuvor erfolgreich bewältigten, weniger Furcht einflößenden Niveau des Annäherungsverhaltens zurückkehrt. Die Wirksamkeit dieser Form des teilnehmenden Modelllernens wird durch Forschungsarbeiten deutlich, die diese Technik mit symbolischem Modelllernen, Desensibilisierung und einer Kontrollbedingung verglichen haben. In der Therapie des symbolischen Modelllernens wurden den Teilnehmenden zunächst Entspannungstechniken vermittelt, dann wurde ihnen ein Film gezeigt, in dem verschiedene Modelle angstfrei mit Schlangen umgingen; wenn sie begannen, sich ängstlich zu fühlen, konnten sie den Film stoppen und versuchen, sich zu entspannen. In der Kontrollbedingung gab es keine therapeutische Intervention. Wie Sie aus Abbildung 15.1 erkennen, war die Technik des teilnehmenden Modelllernens klar die erfolgreichste Technik. Die Schlangenphobie wurde bei elf von zwölf Personen der Gruppe, die durch teilnehmendes Modelllernen behandelt wurde, beseitigt (Bandura, 1970).
Training sozialer Fertigkeiten Eine bedeutende therapeutische Innovation, die durch die therapeutische Anwendung der sozialen Lerntheorie angeregt wurde, besteht im Training von Menschen mit unzureichenden sozialen Fertigkeiten, um diesen zu effektiveren Verhaltensweisen zu verhelfen. Für eine Person mit einer psychischen Störung oder auch nur mit einem alltäglichen Problem können sich viele Schwierigkeiten ergeben, wenn sie sich in sozialen Kontexten gehemmt, unpassend oder unsicher verhält. Soziale Fertigkeiten sind Verhaltensweisen, die Menschen dazu befähigen, durch Kontakt und Interaktion mit anderen ihre sozialen Ziele zu erreichen. Dazu gehört zu wissen, was (Inhalt) man in einer Situation sagt oder tut, wie (Form) man es sagt oder tut und wann (zeitliche Abstimmung) man es sagt oder tut, um die erwünschte Reaktion (Konsequenz) hervorzurufen. Viele Therapeuten des sozialen Lernens empfehlen ihren Klienten zur Überwindung der Probleme das Proben von Verhaltensweisen – die Visualisierung der intendierten Verhaltensweisen und der gewünschten positiven Konsequenzen in einer gegebenen Situation. Das Proben von Verhaltensweisen
Abbildung 15.1: Therapie durch teilnehmendes Modelllernen. Die Person auf diesem Foto beobachtete zunächst ein Modell bei der allmählichen Annäherung an eine Schlange und ahmte diese Verhaltensweisen dann nach. Schließlich war sie dazu in der Lage, die Schlange aufzuheben und über ihren Körper kriechen zulassen. Die Grafik vergleicht die Rate der Annäherung der Versuchsteilnehmer an die Schlange bevor und nachdem sie mit Hilfe des teilnehmenden Modelllernens therapiert wurden (am effektivsten), im Vergleich zu zwei anderen Versuchsbedingungen und einer Kontrollbedingung.
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kann eingesetzt werden, um jede grundlegende Fertigkeit aufzubauen oder zu stärken, zum Beispiel Körperpflege, Arbeitsgewohnheiten oder auch soziale Interaktionen. Störungen im Erwachsenenalter gehen häufig Defizite bei den sozialen Fertigkeiten in der Kindheit voraus. Demzufolge betrachten Forschung und Therapie verstärkt den Aufbau sozialer Kompetenzen bei in sich zurückgezogenen und gestörten Kindern (Alvord & Grados, 2005; Fraser et al., 2005). Zum Beispiel setzte eine Studie eine Intervention, die auf gelenkter Vorstellung basierte, ein, um die Akzeptanz sozial isolierter Menschen unter Gleichaltrigen zu erhöhen.
AUS DER FORSCHUNG Die Forscher beobachteten sechs bis acht Jahre alte Jungen und Mädchen während der Unterrichtspause und identifizierten eine Gruppe Kinder, die von den Gleichaltrigen weitgehend isoliert war (Hernández-Guzmán et al., 2002). Eine Untergruppe von Kindern erhielt Training in sozialen Fertigkeiten, das die Wahrscheinlichkeit erhöhen sollte, dass sich die Kinder an sozialem Spiel beteiligten. Das Training beinhaltete gelenkte Vorstellung: Die Kinder wurden gebeten, sich vorzustellen, wie sie sich einem Gleichaltrigen näherten („Du fragst [David] vorsichtig: ,Möchtest du mit mir spielen?’“) und malten sich dessen Reaktion aus. Zuerst sollten sie sich Ablehnung vorstellen („Jemand anders ruft [David], und er geht weg“); mit der Zeit stellten sie sich dann Erfolg vor („In Ordnung, spielen wir“). Die Forscher erfassten den Prozentsatz an Sozialisation der Schüler – das Ausmaß, in dem sie sich an sozialem Spiel mit Gleichaltrigen beteiligten – vor und nach der Intervention. Wie in Tabelle 15.2 zu sehen, zeigten die Kinder, die dieses Training erhielten, große Verbesserungen im Vergleich zu den unbehandelten Gleichaltrigen in der Kontrollgruppe.
Die Behandlungsgruppe zeigte noch drei Monate nach dem Ende der Intervention, einen Monat nach Beginn des neuen Schuljahrs, einen Vorteil gegenüber Gleichaltrigen.
15.3.4 Generalisierungstechniken Eine fortlaufende Thematik innerhalb der Verhaltenstherapie ist die Frage, ob in der therapeutischen Situation neu gebildete Verhaltensweisen tatsächlich in Alltagssituationen des Klienten gezeigt werden (Kazdin, 1994). Diese Frage ist für alle Therapien von Bedeutung, da jede Bestimmung der Behandlungseffektivität die langfristige Aufrechterhaltung erzielter Veränderungen einschließen muss. Der Klient muss die Verhaltensweisen auch dann noch zeigen, wenn er die Couch des Therapeuten, die Klinik oder das Labor verlassen hat. Wenn wichtige Aspekte des Lebens von Klienten im Therapieplan nicht berücksichtigt werden, gehen im Kontext der Therapie erworbene Verhaltensweisen möglicherweise nach Beendigung der Therapie wieder verloren. Um diesem allmählichen Verlust vorzubeugen, wird der Einsatz von Generalisierungstechniken innerhalb des therapeutischen Prozesses immer mehr zur allgemeinen Praxis. Diese Techniken versuchen, die Ähnlichkeit zwischen Zielverhalten, Verstärkern, Modellen und Anforderungen an die Reize im therapeutischen Kontext und im Alltagsleben zu erhöhen. Es werden beispielsweise Verhaltensweisen vermittelt, bei denen eine natürliche Verstärkung durch die Umwelt der Person wahrscheinlich ist (beispielsweise Höflichkeit und Rücksicht). Belohnungen werden nach einem intermittierenden Verstärkungsplan gegeben, um sicherzustellen, dass ihr Effekt auch im Alltag aufrechterhalten bleibt, wo Belohnungen
Tabelle 15.2
Die Sozialisierung von Kindern mit Gleichaltrigen vor und nach dem Training mit gelenkter Vorstellung zum Erwerb sozialer Fertigkeiten* Vor dem Training
Nach dem Training
Behandlungsgruppe
50,3 %
66,8 %
Kontrollgruppe
57,0 %
48,3 %
* Die Werte beziehen sich auf einen maximalen Sozialisationswert von 100 Prozent.
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15.4 Kognitive Therapien
nicht immer konsistent vergeben werden. Die Erwartung greifbarer, extrinsischer Belohnungen wird allmählich ausgeblendet (englisch: fade out) und soziale Zustimmung und natürlich vorkommende Konsequenzen wie beispielsweise eigene verstärkende Äußerungen werden eingeführt. Verhaltenstherapeuten verwendeten beispielsweise das Verfahren der allmählichen Ausblendung bei einem siebenjährigen Jungen, der regelmäßig seine Klassenkameraden bestahl (Rosen & Rosen, 1983). Der Junge erhielt Auszeichnungen oder „Punkte“ (die er gegen positive Verstärker, wie etwa extra Pausen, eintauschen konnte), wenn eine Überprüfung ergab, dass er nicht im Besitz von Eigentum anderer Kinder war. Anfangs wurden diese Überprüfungen alle 15 Minuten durchgeführt. Später fanden sie dann nur noch nach etwa zwei Stunden statt, bis schließlich überhaupt nicht mehr überprüft wurde. Auch nachdem die direkte Manipulation durch Verstärker nicht mehr vorhanden war, stahl der Junge nicht mehr. Bevor wir uns den kognitiven Therapien zuwenden, nehmen Sie sich einige Minuten Zeit, um die wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden bisher beschriebenen Therapieformen zu betrachten – der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie. Wir haben sie in Tabelle 15.3 auf der nächsten Seite zusammengefasst.
ZWISCHENBILANZ 1 Was ist das grundlegende Prinzip der Gegenkonditio-
nierung? 2 Welches Lernprinzip wirkt, wenn Kliniker Patienten die
Möglichkeiten geben, sich Gutscheine zu verdienen? 3 Was passiert wahrscheinlich, wenn jemand sich einer
Therapie des sozialen Lernens unterzieht? 4 Wie unterscheidet sich die Rolle des Therapeuten bei
der Psychoanalyse von jener in der Verhaltenstherapie? KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an die Studie, in der das Training sozialer Fertigkeiten Kindern, die von den Gleichaltrigen isoliert waren, helfen sollte. Warum sollten sich die Kinder am Anfang des Trainings vorstellen, dass sie zurückgewiesen werden?
Kognitive Therapien
15.4
Kognitive Therapien versuchen, problematische Gefühle und Verhaltensweisen zu ändern, indem sie beeinflussen, wie der Klient über wichtige Lebenserfahrungen denkt. Die zugrunde liegende Annahme dieser Therapieformen besteht darin, dass die Ursachen unangemessener Verhaltensweisen und emotionaler Belastungen in den kognitiven Inhalten (was wir denken) und den kognitiven Prozessen (wie wir denken) der Menschen liegen. Kognitive Therapien konzentrieren sich auf die Veränderung unterschiedlicher Formen kognitiver Prozesse und stellen unterschiedliche Methoden für eine kognitive Restrukturierung bereit. Wir haben in Kapitel 12 im Kontext der Stressbewältigung und Gesundheitsverbesserung einige dieser Ansätze besprochen. In diesem Abschnitt werden wir nun zwei wichtige Formen der kognitiven Therapie beschreiben: die Änderung falscher Überzeugungssysteme und kognitive Verhaltensmodifikation.
15.4.1 Die Änderung falscher Überzeugungssysteme Manche kognitive Verhaltenstherapeuten verfolgen als primäre Veränderungsziele Überzeugungen, Einstellungen und eingeschliffene Denkmuster. Diese kognitiven Therapeuten behaupten, dass viele psychische Probleme durch die Art und Weise bedingt sind, in der Menschen über sich im Verhältnis zu anderen und über Ereignisse, die ihnen widerfahren, denken. Falsche Denkweisen können basieren auf (1) unvernünftigen Einstellungen („Perfekt zu sein ist die wichtigste Eigenschaft, über die ein Student verfügen sollte“), (2) falschen Vorannahmen („Wenn ich alles tue, was sie verlangen, werde ich beliebt sein“) und (3) starren Regeln, die das Verhalten auf „Autopilot“ stellen, so dass frühere Verhaltensweisen wiederholt werden, auch wenn sie nicht wirkungsvoll waren („Ich muss Autoritäten gehorchen“). Emotionale Belastung wird durch kognitive Missverständnisse hervorgerufen und durch das Versagen, zwischen der aktuellen Realität und den eigenen Vorstellungen (oder Erwartungen) zu unterscheiden. Die kognitive Therapie der Depression Ein kognitiver Therapeut hilft Patienten, ihre fehlerhaften Denkmuster zu korrigieren, indem er diese durch effektivere Problemlösetechniken ersetzt. Aaron Beck
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Tabelle 15.3
Vergleich psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Ansätze zur Psychotherapie
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Thema
Psychoanalyse
Verhaltenstherapie
Annahmen über die Natur des Menschen
Biologische Instinkte, primär sexueller und aggressiver Art, die nach sofortiger Befriedigung drängen, was bei den Menschen einen Konflikt mit ihrer sozialen Realität auslöst.
Ähnlich wie andere Lebewesen werden Menschen mit der Fähigkeit zu lernen geboren, die bei allen Lebewesen den gleichen Prinzipien folgt.
Normale menschliche Entwicklung
Entwicklung entsteht durch die Lösung von Konflikten in aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen. Durch Identifikation und Internalisierung reift die Selbstkontrolle, und Charaktereigenschaften entwickeln sich.
Angepasste Verhaltensweisen werden durch Verstärkung und Nachahmung erlernt.
Die Beschaffenheit psychischer Störungen
Störungen spiegeln unangemessene Konfliktlösungen und Fixationen auf früheren Entwicklungsstufen wider, die zu starke Impulse und/oder zu schwache Kontrollen hinterlassen haben. Symptome sind defensive Reaktionen auf Angst.
Problematisches Verhalten tritt durch das unangebrachte Erlernen fehlangepasster Verhaltensweisen auf. Das Symptom ist das Problem; es gibt keine tiefliegende Störung.
Therapieziele
Psychosexuelle Reife, gestärkte Ich-Funktionen, eingeschränkte Beeinflussbarkeit durch unbewusste und verdrängte Impulse werden angestrebt.
Symptomatisches Verhalten wird beseitigt und durch angepasste Verhaltensweisen ersetzt.
Fokussierter psychologischer Bereich
Motive, Gefühle, Phantasien und Kognitionen werden erfahren.
Die Therapie beschäftigt sich mit Verhalten und beobachtbaren Gefühlen und Handlungen
Zeitliche Ausrichtung
Die Therapie richtet sich an Konflikten und verdrängten Gefühlen der Vergangenheit aus. Diese werden im Licht der Gegenwart entdeckt und interpretiert.
Die Therapie untersucht ausschließlich die Verstärkungsgeschichte des Klienten. Gegenwärtiges Verhalten wird untersucht und behandelt.
Die Rolle des Unbewussten
Das Unbewusste ist von vorrangiger Bedeutung in der klassischen Psychoanalyse, wird von den Neo-Freudianern dagegen etwas weniger betont.
Unbewusste Prozesse sind hier ohne Belang, ebenso subjektive Erfahrungen sogar im bewussten Bereich.
Die Rolle der Einsicht
Die Einsicht ist zentral; sie entsteht aus „korrektiven emotionalen Erfahrungen“.
Einsicht ist irrelevant und/oder unnötig.
Die Rolle des Therapeuten
Der Therapeut fungiert als Detektiv. Er sucht nach den Wurzeln von Konflikten und Widerständen; er verhält sich unparteiisch und neutral, um Übertragungsreaktionen zu erleichtern.
Der Therapeut fungiert als Trainer. Er hilft den Klienten, alte Verhaltensweisen zu verlernen und/oder neue zu erlernen. Die Kontrolle der Verstärkung ist dabei wichtig, zwischenmenschliche Beziehungen dagegen weniger.
15.4 Kognitive Therapien
(1976) hat als Erster die kognitive Therapie erfolgreich zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Er erläutert das Prinzip seiner Behandlung in einfachen Worten: „Der Therapeut hilft dem Patienten, seine Denkfehler zu identifizieren und realistischere Möglichkeiten für die Formulierung seiner Erfahrungen zu lernen“ (S. 20). Depressive Patienten werden beispielsweise aufgefordert, negative Gedanken über sich selbst aufzuschreiben, zu erkennen, warum diese Kritikpunkte ungerechtfertigt sind, und realistischere (weniger destruktive) selbstbezogene Kognitionen zu entwickeln. Beck glaubt, dass Depressionen aufrechterhalten werden, weil depressive Klienten sich ihrer negativen, automatisierten Gedanken, die sie gewohnheitsgemäß äußern, nicht bewusst sind, wie beispielsweise „Ich werde nie so gut sein wie mein Bruder“, „Niemand, der wüsste, wie ich wirklich bin, würde mich mögen“ und „Ich bin nicht schlau genug, um in dieser konkurrenzorientierten Schule mitzuhalten“. Ein Therapeut wendet dann folgende vier Techniken an, um die kognitiven Grundlagen zu verändern, welche die Depression unterstützen (Beck & Rush, 1989; Beck et al., 1979): Infragestellung der grundlegenden Annahmen des Klienten über sein eigenes Funktionieren. Bewertung der Belege, die der Klient für oder gegen die Genauigkeit seiner automatisierten Gedanken anführt. Reattribution der Schuld für Misserfolge auf situationale Faktoren, nicht auf die Inkompetenz des Patienten. Diskussion alternativer Lösungsansätze für komplexe Aufgaben, die zu Misserfolgserlebnissen führen könnten. Die Ähnlichkeit zur Verhaltenstherapie liegt darin, dass sich diese Therapieform ebenfalls auf den aktuellen Zustand des Patienten bezieht. Zu den schlimmsten Nebeneffekten der Depression zählt, dass man mit all jenen negativen Gefühlen und der Lethargie, die sie auslöst, leben muss. Sich zwanghaft Gedanken über die eigene schlechte Stimmung zu machen, führt zu Erinnerungen an all die schlechten Zeiten, die man schon erlebt hat, was wiederum die depressiven Gefühle verstärkt. Durch die Filterung aller Eindrücke durch eine dunkle Linse der Depression sehen depressive Personen Kritik, wo keine ist, hören Sarkasmus, wenn sie eigentlich gelobt werden – weitere „Gründe“, depressiv zu sein. Kognitive Therapeuten stoppen diese abwärts führende Spirale, indem
sie dem Klienten helfen, nicht weiter depressiv auf die ohnehin schon vorhandene Depression zu reagieren (Hollon et al., 2006). Die rational-emotive Therapie Eine der ersten Formen kognitiver Therapien war die rational-emotive Therapie (RET), die von Albert Ellis entwickelt wurde (1962, 1995; Windy & Ellis, 1997). RET ist ein übergreifendes System der Persönlichkeitsänderung, das auf der Umformung irrationaler Überzeugungen basiert, die unerwünschte, stark belastende emotionale Reaktionen, wie beispielsweise große Angst, hervorrufen. Klienten besitzen vielleicht zentrale Werte, die erfordern, dass sie erfolgreich und anerkannt sind, darauf bestehen, dass sie fair behandelt werden, oder ihnen vorschreiben, dass das Universum angenehmer sein sollte. Rational-emotive Therapeuten lehren ihre Klienten zunächst, diese „sollte“, „müsste“ und „musst“ zu erkennen, die ihre Handlungen kontrollieren und sie davon abhalten, jenes Leben zu führen, das sie eigentlich führen möchten. Sie versuchen, die geistige Verschlossenheit ihrer Klienten aufzubrechen, indem sie ihnen aufzeigen, dass eine auf ein Ereignis folgende emotionale Reaktion in Wirklichkeit das Ergebnis bisher unerkannter Überzeugungen über das Ereignis ist. Beispielsweise die Unfähigkeit, beim Geschlechtsverkehr (Ereignis) zum Orgasmus zu kommen, führt zu depressiven Gefühlen und Selbstgeringschätzung. Die Überzeugung, die wahrscheinlich hinter diesen Gefühlen steckt, ist: „Ich bin in sexueller Hinsicht unzulänglich oder vielleicht impotent, weil ich das Erwartete nicht erbringen konnte“. In der Therapie wird diese Überzeugung (und andere) offen anhand rationaler Konfrontation diskutiert. Es wird nach alternativen Erklärungsansätzen für dieses Ereignis gesucht, wie beispielsweise Ermüdung, Alkohol, falsche Vorstellungen über sexuelle „Leistung“ oder die Unlust, zu diesem Zeitpunkt oder mit diesem Partner überhaupt Geschlechtsverkehr zu haben. Auf diese Konfrontationstechnik folgen andere Interventionen, um die dogmatische, irrationale Denkweise durch rationale, angemessene Vorstellungen zu ersetzen. Die rational-emotive Therapie zielt darauf ab, das Selbstwertgefühl des Patienten zu heben und sein Potenzial zur Selbstverwirklichung zu steigern, indem er sich von seinem System unangemessener Überzeugungen löst, das seine persönliche Entwicklung behindert. In dieser Hinsicht hat sie viel mit den humanistischen Therapien gemeinsam, die wir weiter unten betrachten.
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15.4.2 Kognitive Verhaltensmodifikation „Du bist das, wovon du dir selbst sagst, dass du es sein kannst, und du wirst geleitet durch deine Überzeugung darüber, was du tun solltest.“ Dies ist die Grundannahme der kognitiven Verhaltensmodifikation. Dieser therapeutische Ansatz kombiniert den kognitiven Schwerpunkt, der die Rolle der Gedanken und Einstellungen bei der Beeinflussung von Motivation und Verhaltensweisen betont, mit dem behavioristischen Fokus auf Verstärkungskontingenzen bei der Modifikation von Verhalten (Goldfried, 2003). Unangemessene Verhaltensweisen werden durch kognitive Restrukturierung verändert – negative Äußerungen über die eigene Person werden in konstruktive Äußerungen umgewandelt, die bei der Problembewältigung helfen. Ein entscheidender Punkt dieser Therapie liegt für den Therapeuten und den Klienten in der Entdeckung, wie der Klient über sein Problem denkt und wie er es zum Ausdruck bringt. Sobald beide die der unproduktiven und dysfunktionalen Verhaltensweise zugrunde liegende Denkweise verstanden haben, entwickeln sie neue konstruktive selbstbezogene Äußerungen und minimieren jene, die Angst auslösen oder das Selbstwertgefühl schädigen (Meichenbaum, 1977, 1985, 1993). Sie würden beispielsweise die negative
Selbstäußerung „Ich war wirklich ein Langweiler auf dieser Party; sie werden mich nie wieder einladen“ in eine konstruktive Kritik umformen: „Wenn ich das nächste Mal interessant erscheinen möchte, werde ich einige anregende einführende Sätze vorbereiten, üben, einen guten Witz vorzutragen, und auf die Geschichten des Gastgebers eingehen.“ Statt bei negativen Situationen aus der Vergangenheit zu verweilen, die nicht verändert werden können, wird dem Klienten vermittelt, sich auf Positives in der Zukunft zu konzentrieren. Die kognitive Verhaltensmodifikation baut im Klienten die Erwartung auf, etwas bewirken zu können. Therapeuten wissen, dass der Aufbau solcher Erwartungen die Wahrscheinlichkeit erhöht, tatsächlich etwas bewirken zu können. Durch das Setzen erreichbarer Ziele, die Entwicklung realistischer Strategien zu ihrer Erreichung und die realistische Bewertung von Rückmeldungen entwickelt man ein Gefühl des Könnens und der Selbstwirksamkeit (Bandura, 1992, 1997). Wie wir in Kapitel 13 gesehen haben, beeinflusst die Einschätzung unserer Selbstwirksamkeit unsere Wahrnehmung, unsere Motivation und unsere Leistungen in vielerlei Hinsicht. Die Beurteilung der Selbstwirksamkeit beeinflusst, wie viel Anstrengung wir investieren und wie lange wir in schwierigen Lebenssituationen durchhalten (Schwarzer, 1992). Die in diesem Kapitel beschriebenen Verfahren des Modelllernens ermöglichen Personen eine Steigerung ihres Gefühls der Selbstwirksamkeit auf Verhaltensebene: Sie lernen, dass sie dazu in der Lage sind, eine gewisse Spanne von Verhaltensweisen auszuführen. Im Gegensatz dazu verändern Therapien der kognitiven Selbstwirksamkeit die Art und Weise, in der Klienten über ihre Fähigkeiten denken. In einer Studie beispielsweise haben Studierende, die annahmen, dass eine Entscheidungsaufgabe ihre Fähigkeiten steigern würde, eine zweite Gruppe übertroffen, die annahm, die Aufgabe würde lediglich bereits vorhandene Fähigkeiten erfassen (Wood & Bandura, 1989). In dieser Studie haben Gedanken wie „Ich kann lernen, besser zu sein“ den Studierenden tatsächlich ermöglicht, besser zu werden.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Annahme liegt der kognitiven Therapie zu Grun-
de? 2 Was ist in Bezug auf die rational-emotive Therapie der
Angenommen, Sie lernen stricken und möchten im Laufe der Zeit Ihre Fertigkeit verbessern. Was wäre wohl die beste innere Botschaft, die Sie sich selbst über diese Aktivität zukommen lassen könnten?
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Ursprung hochgradig emotionaler Reaktionen? 3 Warum ist die Vermittlung des Gefühls hoher Selbstwirk-
samkeit ein Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie?
15.5 Humanistische Therapien
Humanistische Therapien
15.5
Der Kern der humanistischen Therapie ist das Konzept der Person als Gesamtheit in einem kontinuierlichen Prozess der Veränderung und des Werdens. Obwohl durch die Umwelt und die Vererbung bestimmte Restriktionen bestehen, haben Menschen immer die Wahl zu entscheiden, was aus ihnen wird, indem sie ihre eigenen Werte entwickeln und sich bei ihren Entscheidungen daran ausrichten. Mit dieser Wahlfreiheit kommt jedoch stets die Bürde der Verantwortung. Da wir uns nie sämtlicher Implikationen unserer Handlungen bewusst sind, empfinden wir Angst und Verzweiflung. Wir leiden auch an Schuldgefühlen aufgrund verpasster Gelegenheiten, bei denen wir unser gesamtes Potenzial hätten ausschöpfen können. Psychotherapien, welche die Prinzipien dieser allgemeinen Theorie vom Menschen anwenden, versuchen, den Klienten dabei zu helfen, ihre eigene Freiheit zu finden, ihre eigenen Erfahrungen und den Reichtum des Augenblicks zu schätzen, ihre Individualität zu pflegen und Wege zu entdecken, die ihnen ermöglichen, ihr gesamtes Potenzial zu entfalten (Selbstverwirklichung). In einigen Fällen haben Psychotherapien auch die Lehren existenzialistischer Herangehensweisen an das menschliche Leben aufgenommen (May, 1975). Dieser Ansatz betont die Fähigkeit der Menschen, sich den alltäglichen Herausforderungen des Lebens zu stellen oder von ihnen überwältigt zu werden. Existenzialistische Theorien gehen davon aus, dass Menschen unter existenziellen Krisen leiden: Alltagsprobleme, Mangel an bedeutungsvollen menschlichen Beziehungen, und dem Fehlen wichtiger Ziele. Eine neue klinische Version der existenzialistischen Psychologie, welche die verschiedenen Themen und Ansätze integriert, geht davon aus, dass die verwirrenden Realitäten des modernen Lebens Auslöser zweier grundlegender Formen menschlicher Leiden sind. Depressive und zwanghafte Syndrome reflektieren einen Rückzug aus diesen Realitäten; soziopathische und narzisstische Syndrome reflektieren eine Ausbeutung dieser Realitäten (Schneider & May, 1995). Die humanistische Philosophie war ebenfalls Auslöser für die Bewegung für das menschliche Potenzial (human-potential movement), die in den späten 60er Jahren in den Vereinigten Staaten entstand. Diese Bewegung umfasste Methoden zur Potenzialförderung des durchschnittlichen Menschen hin zu höherer Leistungsfähigkeit und einem reicheren Erfahrungsschatz. Durch diese Bewegung wurde die Therapie,
Inwiefern trägt freiwillige Arbeit dazu bei, dass Menschen ihr volles Potenzial entfalten? die ursprünglich nur zur Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen gedacht war, auf psychisch gesunde Menschen ausgeweitet, die selbstwirksamere, produktivere und glücklichere Menschen sein wollten. Lassen Sie uns zwei Therapieformen in humanistischer Tradition untersuchen: klientenzentrierte Therapie und Gestalttherapie.
15.5.1 Klientenzentrierte Therapie Die klientenzentrierte Therapie nach Carl Rogers (1951, 1977) hatte einen bedeutsamen Einfluss auf die Art und Weise, wie ganz unterschiedliche Arten von Therapeuten ihre Beziehung zu den Klienten definieren. Das primäre Ziel der klientenzentrierten Therapie besteht darin, das gesunde psychische Wachstum des Menschen zu fördern. Dieser Ansatz geht von der Annahme aus, dass allen Menschen ein grundlegendes Streben nach Selbstverwirklichung gemein ist – das heißt, sie wollen ihr Potenzial realisieren. Rogers glaubte, der Organismus verfüge über eine „innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten; und zwar so, dass sie der Erhaltung oder Förderung des Organismus dienen“ (1959, S. 196). Eine gesunde Entwicklung wird durch fehlerhafte Lernmuster behindert, bei denen die Person die Bewertung anderer übernimmt, statt darauf zu vertrauen, was die eigene Psyche und der eigene Körper mitteilen. Ein Konflikt zwischen dem natürlicherweise positiven Selbstbild und negativer externer Kritik führt zu Angst und Unglücklichsein. Dieser Konflikt oder diese Inkongruenz liegt möglicherweise außerhalb des Bewusstseins, so dass die Person Unglücklichsein und ein geringes Selbstwertgefühl erlebt, ohne zu wissen, warum.
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Nach Rogers besteht die Aufgabe der Therapie in der Gestaltung eines therapeutischen Umfelds, das dem Klienten erlaubt, Verhaltensweisen zu erlernen, die sein Selbstwachstum und seine Selbstverwirklichung fördern. Dies wird durch eine Atmosphäre der unbedingten positiven Wertschätzung erreicht – die nicht angreifbare Akzeptanz des Klienten und der Respekt vor ihm. Der Therapeut macht seine Gefühle und Gedanken gegenüber dem Klienten transparent. Über die Aufrechterhaltung dieser Authentizität hinausgehend versucht der Therapeut, die Gefühle des Klienten zu erleben. Diese vollständige Empathie erfordert, dass der Therapeut sich um den Klienten als einen wertvollen, kompetenten Menschen sorgt – jemanden, den man nicht beurteilt und bewertet, sondern dem man beisteht bei der Entdeckung seiner eigenen Individualität (Meador & Rogers, 1979). Der emotionale Stil und die Einstellung des Therapeuten sind für die Befähigung des Klienten förderlich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die wahren Ursachen persönlicher Konflikte zu richten und die störenden Einflüsse, die seine Selbstverwirklichung behindern, zu beseitigen. Im Gegensatz zu Therapeuten anderer Therapieformen, die interpretieren, Antworten geben oder instruieren, sind klientenzentrierte Therapeuten unterstützende Zuhörer, die gelegentlich die bewertenden Äußerungen und Gefühle des Klienten spiegeln. Die klientenzentrierte Therapie ist bestrebt, nichtdirektiv zu sein, indem der Therapeut lediglich die Suche des Klienten nach Selbstbewusstheit und Selbstakzeptanz erleichtert. Sind die Menschen, nach Meinung Rogers, erst einmal befreit, um offen gestaltete Beziehungen zu führen und sich selbst zu akzeptieren, dann besitzen sie auch das Potenzial, zur psychischen Gesundheit zurückzufinden. Diese optimistische Sichtweise und die menschliche Beziehung zwischen dem Therapeuten (als fürsorglicher Experte) und dem Klienten (als Person) hat viele Praktiker beeinflusst.
tragen und müssen daher vollständig bewältigt sein, damit weiteres Wachstum erfolgen kann. Fritz Perls (1969, deutsch: 1976), der Begründer der Gestalttherapie, forderte seine Klienten auf, ihre Phantasien hinsichtlich Konflikten und starken Gefühlen auszuleben und ihre eigenen Träume neu zu erschaffen, in denen er verdrängte Anteile der Persönlichkeit sah. Perls sagte: „Wir müssen uns diese projizierten, auseinander gebrochenen Teile unserer Persönlichkeit wieder zu eigen machen, und uns auch das verborgene Potenzial, das im Traum erscheint, wieder zu eigen machen.“ (1976, S. 74) In Gestalttherapie-Workshops ermutigen die Therapeuten die Teilnehmer, wieder den Kontakt mit ihren „authentischen inneren Stimmen“ aufzunehmen (Hatcher & Himelstein, 1996). Eine der bekanntesten Methoden der Gestalttherapie ist die Technik des leeren Stuhls. Bei dieser Technik stellt der Therapeut einen leeren Stuhl in die Nähe des Klienten. Der Klient soll sich vorstellen, dass sich auf diesem Stuhl ein Gefühl, eine Person, ein Objekt oder eine Situation befindet. Der Klient „spricht“ dann mit dem Etwas auf dem Stuhl. Klienten werden beispielsweise dazu ermutigt, sich vorzustellen, auf dem Stuhl säße ihre Mutter oder ihr Vater, und Gefühle zu zeigen, die der Klient unter anderen Umständen nicht offenbaren würde. Dann kann sich der Klient vorstellen, jene Gefühle befänden sich auf dem Stuhl, um mit diesen Gefühlen über den Einfluss, den sie auf sein Leben haben, zu „sprechen“. Diese Technik ermöglicht es dem Klienten, starke, bislang unausgedrückte Gefühle, die sein psychisches Wohlergehen beeinträchtigen, zu erkunden und sich mit ihnen zu konfrontieren.
ZWISCHENBILANZ 1 Was war das Ziel der Bewegung für das menschliche
Potenzial? 2 Was bedeutet unbedingte positive Wertschätzung in
der klientenzentrierten Therapie?
15.5.2 Gestalttherapie Die Gestalttherapie konzentriert sich darauf, Geist und Körper einer Person zu einer Gesamtheit zusammenzuführen (erinnern Sie sich an die Rolle der Gestaltpsychologie bei der Wahrnehmung, die wir in Kapitel 4 beschrieben haben). Das Ziel der Selbstbewusstheit wird erreicht, indem Klienten geholfen wird, ihre aufgestauten Gefühle zu äußern und unerledigte Elemente vergangener Konflikte zu erkennen. Diese Konflikte werden in eine neue Beziehung über-
618
3 Was ist der Sinn der Technik des leeren Stuhls in der
Gestalttherapie?
Gruppentherapien
15.6
Alle bislang vorgestellten Behandlungsansätze sind in erster Linie als eine Beziehung zwischen einem Patienten oder Klienten und einem Therapeuten konzipiert. Viele Menschen jedoch erleben die Therapie als
15.6 Gruppentherapien
Worin liegen die Stärken von Gruppentherapien? Teil einer Gruppe. Es gibt viele Gründe, warum die Gruppentherapie verbreitet ist und warum sie sogar effektiver sein kann als die Einzeltherapie. Manche Gründe sind pragmatischer Natur. Gruppentherapie ist für die Teilnehmenden weniger teuer, und sie erlaubt einer geringen Anzahl von Therapeuten, einer größeren Anzahl von Klienten zu helfen. Andere Vorteile beziehen sich auf die Kraft der Gruppensituation. Die Gruppe (1) wirkt weniger bedrohlich auf Menschen, die alleine Probleme im Umgang mit Autoritäten haben; (2) erlaubt sie den Einsatz von Gruppenprozessen, um das fehlangepasste Verhalten Einzelner zu beeinflussen; (3) gibt sie Menschen die Möglichkeit, innerhalb der Therapie zwischenmenschliche Fertigkeiten zu beobachten und zu üben; (4) bietet sie eine zur Familienstruktur analoge Struktur, was eine Korrektur emotionaler Erfahrungen ermöglicht. In der Gruppentherapie ergeben sich außerdem einige spezielle Probleme (Motherwell & Shay, 2005). So etablieren zum Beispiel einige Gruppen ein Arbeitsklima, in dem sich kaum Fortschritte machen lassen – die Mitglieder installieren Passivität und beschränkte Selbstpreisgabe als Norm. Des Weiteren kann sich die Effektivität einer Gruppe dramatisch ändern, wenn Mitglieder ausscheiden oder neu dazu kommen. Sowohl Zu- als auch Abgänge können das empfindliche Gleichgewicht stören, das die Gruppe als Einheit gut funktionieren lässt. Therapeuten, die sich auf Gruppentherapie spezialisieren, müssen auf diese Gruppendynamik sorgfältig achten. Manche grundlegende Annahmen der Gruppentherapie unterscheiden sich von jenen der Einzeltherapie. Durch die sozialen Rahmenbedingungen der Gruppentherapie kann man lernen, wie man bei anderen ankommt und wie das Bild, das die anderen Gruppenmitglieder von einem haben, sich von jenem unterscheidet, das man vermitteln möchte oder selbst von
sich hat. Zusätzlich liefert die Gruppe eine Bestätigung, dass die eigenen Symptome, Probleme und „abweichenden“ Verhaltensweisen nicht einzigartig sind, sondern recht häufig vorkommen. Da viele Menschen dazu tendieren, negative Informationen über sich selbst vor anderen zu verbergen, können viele Menschen mit dem gleichen Problem glauben „Nur ich habe dieses Problem“. Die in der Gruppe geteilte Erfahrung kann dabei helfen, diese pluralistische Ignoranz aufzulösen, bei der viele Personen dieselbe falsche Überzeugung über die Einzigartigkeit ihrer Schwächen teilen. Zusätzlich können sich die Mitglieder der Gruppe auch außerhalb des therapeutischen Rahmens gegenseitig sozial unterstützen.
15.6.1 Paar- und Familientherapie Viele Gruppentherapien bestehen aus Fremden, die in regelmäßigen Abständen zusammenkommen, um vorübergehend eine Verbindung einzugehen, von der sie profitieren können. Paar- und Familientherapien bringen bedeutsame bestehende Einheiten in einer gruppentherapeutischen Situation zusammen. In der Paartherapie wird zunächst versucht, die typischen Kommunikationsmuster der Partner aufzuklären und anschließend die Qualität ihrer Interaktionen zu verbessern (Snyder et al., 2006). Ein Therapeut sieht und behandelt das Paar zusammen und analysiert häufig die per Videoaufzeichnung festgehaltenen Interaktionen, indem sie sich die Aufzeichnungen gemeinsam betrachten. So kann er helfen, die verbalen und nonverbalen Interaktionsstile einzuschätzen, die jeder einsetzt, um zu dominieren oder zu kontrollieren, oder auch jene, die zu Verwirrungen führen. Beide Partner erlernen, erwünschte Verhaltensweisen des anderen zu verstärken und Verstärkung für unerwünschte Verhaltensweisen zu entziehen. Sie erlernen ebenfalls nichtdirektive Fertigkeiten des Zuhörens, um dem Partner Hilfestellung zur Klärung und zum Ausdruck von Gefühlen und Vorstellungen zu geben. Die Paartherapie ist bei der Behandlung partnerschaftlicher Probleme effektiver als die Behandlung nur eines Partners, und es hat sich gezeigt, dass hierdurch Beziehungskrisen gelöst und Beziehungen intakt gehalten werden können (Johnson, 2003). In der Familientherapie besteht der Klient aus einer kompletten Kleinfamilie, und jedes Familienmitglied wird als Mitglied eines Beziehungssystems behandelt (Fishman & Fishman, 2003). Der Therapeut arbeitet mit den in Schwierigkeiten befindlichen Familienmitgliedern, um ihnen bei der Wahrnehmung dessen zu
619
15
Psycho th erapi e
helfen, was einem oder mehreren von ihnen Probleme bereitet. Stellen wir uns ein Kind vor, bei dem eine Angststörung festgestellt wurde. Die Forschung legt nahe, dass bestimmte Erziehungstechniken unglücklicherweise diese Angst aufrechterhalten könnten (Wood et al., 2003). Wenn Eltern ihren Kindern beispielsweise keine ausreichende Selbstständigkeit gestatten, werden die Kinder vielleicht nie genügend das Gefühl der Selbstwirksamkeit gewinnen, um erfolgreich neuartige Aufgaben zu bewältigen. Unter diesen Umständen werden solche neuen Aufgaben immer wieder Angstzustände auslösen. Familientherapie kann sich sowohl der Angststörung des Kindes als auch des die Angststörung verstärkenden Verhaltens der Eltern annehmen.
AUS DER FORSCHUNG Forscher warben 40 Kinder zwischen 6 und 13 Jahren an, um in einer Behandlungsstudie mitzuwirken (Wood et al., 2006). Bei allen Kindern war eine Angststörung diagnostiziert worden (zum Beispiel eine generalisierte Angststörung oder eine soziale Phobie). Die Hälfte der Kinder erhielt eine individuelle kognitive Verhaltenstherapie, die das Training von Fertigkeiten (zum Beispiel zur Angstbewältigung) und die Exposition einer sich steigernden Reihe gefürchteter Situationen einschloss. Die andere Hälfte der Kinder nahm an ähnlichen Aktivitäten teil, aber ihre Eltern waren während eines Großteils der Therapiesitzungen ebenfalls beteiligt. In diesen Familiensitzungen wurden den Eltern Techniken beigebracht, um beispielsweise die Selbstständigkeit und das Gefühl der Selbstwirksamkeit ihrer Kinder zu verstärken. Die beiden Gruppen von Kindern waren im Ausmaß ihres Distress vor Beginn der Behandlung vergleichbar. Am Ende der Therapie zeigten beide Gruppen niedrigere Angstlevel. Die Gruppe, deren Eltern an der Therapie beteiligt waren, zeigte allerdings eine größere Verbesserung als die Gleichaltrigen mit der individuellen Therapie.
Die Studie illustriert die Bedeutung des familientherapeutischen Ansatzes. Indem die ganze Familie beteiligt wird, verändert die therapeutische Intervention Umweltfaktoren, die möglicherweise dazu beigetragen haben, die Angststörung des Kindes aufrecht zu erhalten. Die Familientherapie kann Spannungen innerhalb der Familie abbauen und das Funktionieren der einzelnen Mitgliedern verbessern, indem sie den Klienten dabei hilft, sich sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte ihrer Beziehungen bewusst zu machen. Virginia Satir (1967), eine Entwicklerin familientherapeutischer Ansätze, stellte fest, dass der Therapeut
620
viele Rollen übernimmt. Er handelt als Übersetzer und Aufklärer der Interaktionen, die im Rahmen der therapeutischen Sitzung stattfinden, und ebenso als Einfluss nehmender Vertreter, Vermittler und Schiedsrichter. Die meisten Familientherapeuten nehmen an, dass die Probleme, die im Rahmen der Therapie eingebracht werden, eher situationsbedingte Schwierigkeiten repräsentieren als dispositionale Merkmale einzelner Personen. Diese Schwierigkeiten können sich im Laufe der Zeit entwickeln, indem die Mitglieder gezwungen sind oder akzeptieren, nicht zufriedenstellende Rollen zu übernehmen. Unproduktive Kommunikationsmuster können als Reaktion auf natürliche Übergänge in der Familiensituation entstehen – Verlust des Arbeitsplatzes, Einschulung eines Kindes, die ersten Verabredungen, Hochzeiten oder Geburten. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, die Struktur der Familie und die zahlreichen Faktoren, die auf sie einwirken, zu verstehen. Dann arbeitet er mit der Familie an der Auflösung „dysfunktionaler“ struktureller Elemente, während neue, effektivere strukturelle Elemente entwickelt und aufrechterhalten werden (Fishman & Fishman, 2003).
15.6.2 Selbsthilfegruppen Eine einschneidende Entwicklung im Therapiebereich bestand in einer Zunahme des Interesses und der Teilnahme an Selbsthilfegruppen. In den Vereinigten Staaten gibt es über 6000 dieser Gruppen mit mehr als einer Million Mitgliedern (Goldstrom et al., 2006). Diese unterstützenden Gruppensitzungen sind typischerweise frei zugänglich, insbesondere dann, wenn sie nicht durch eine Fachkraft geleitet werden. Sie bieten den Menschen eine Gelegenheit, andere Menschen zu treffen, die an den gleichen Problemen leiden, die noch am Leben sind und sich manchmal sogar weiterentwickeln. Die Vorreiter dieses Konzepts der Selbsthilfe in gemeinschaftlichen Gruppen waren die Anonymen Alkoholiker (AA), aber es war die Frauenbewegung in den 60er Jahren, welche die Selbsthilfe über den Bereich des Alkoholismus hinaus verbreitete. Heute beschäftigen sich Selbsthilfegruppen mit vier grundlegenden Problemkategorien: Suchtverhalten, organische und psychische Störungen, Lebensübergänge oder andere Krisen sowie die Traumata der Freunde oder Verwandten von Personen mit schwerwiegenden Problemen. In den letzten Jahren begannen die Menschen, sich dem Internet als weiterer Plattform für Selbsthilfegruppen zuzuwenden (Zuckerman, 2003). Im Allgemeinen beschäftigen sich inter-
15.7 Biomedizinische Therapien
netbasierte Selbsthilfegruppen mit den gleichen Themen wie ihre Gegenstücke in der realen Welt (Davison et al., 2000). Das Internet bietet jedoch im Speziellen einen wichtigen Treffpunkt für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, beispielsweise durch das chronische Müdigkeitssyndrom oder Multiple Sklerose: Wenn Menschen an einem Treffen auch nicht körperlich teilnehmen können, so können sie nun dennoch von Selbsthilfegruppen profitieren. Forscher haben mit der Untersuchung begonnen, welche Eigenschaften Selbsthilfegruppen besonders effektiv machen. Selbsthilfegruppen scheinen für ihre Mitglieder eine Reihe von Funktionen zu erfüllen: Sie geben Menschen beispielsweise Hoffnung, ein Gefühl von Kontrolle über ihre Probleme, sie bieten Menschen soziale Unterstützung in ihrem Leiden und ein Forum für den Erwerb und die Verteilung von Informationen über Störungen und ihre Behandlung (Riessman, 1997; Schiff & Bargal, 2000). Wenn Sie einer Selbsthilfegruppe beitreten wollen, ist es wichtig zu wissen, dass Gruppen den größten positiven Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen haben, wenn diese mit der Gruppe zufrieden sind (Schiff & Bargal, 2000). In einer Studie fand man beispielsweise heraus, dass jene Personen, die sich nach einer Behandlung von Alkoholismus einer Gruppe von anonymen Alkoholikern am meisten zugehörig fühlten, in geringstem Ausmaß weiteren Alkoholmissbrauch aufwiesen. Das starke Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gruppe ermöglichte diesen Personen offensichtlich, ihre verhaltensbezogene Selbstwirksamkeit hinsichtlich der Kontrolle des Alkoholismus aufrechtzuerhalten (Morgenstern et al., 1997). Eine wertvolle Entwicklung der Selbsthilfe ist die Anwendung der Gruppentherapietechniken auf die Situation von lebensbedrohlich kranken Patienten. Das Ziel einer solchen Therapie besteht darin, den Patienten und ihren Familien dabei zu helfen, im Verlauf ihrer Krankheit ein möglichst erfülltes Leben zu leben, mit dem bevorstehenden Tod fertig zu werden und sich den Umständen der tödlichen Krankheit anzupassen (Kissane et al., 2004). Ein allgemeiner Schwerpunkt solcher unterstützender Gruppen für tödlich erkrankte Menschen liegt in der Hilfestellung für Betroffene, bis zu ihrem Abschied ein erfülltes Leben zu leben. Gruppentherapien sind unser letztes Beispiel für jene Therapieformen, die ausschließlich auf psychologischen Interventionen basieren – Interventionen, welche die Software des Gehirns betreffen. Im Folgenden untersuchen wir, in welcher Weise biomedizinische Therapien arbeiten, um die Hardware des Körpers und des Gehirns zu verändern und so die Psyche zu beeinflussen.
ZWISCHENBILANZ 1 Wie hilft Gruppentherapie dabei, die Teilnehmer über
die Einmaligkeit ihrer Probleme zu informieren? 2 Was ist ein geläufiges Ziel der Paartherapie? 3 Unter welchen Umständen sind Internet-Selbsthilfe-
gruppen besonders wertvoll? KRITISCHES DENKEN: Warum war es in der Studie, die Familientherapie gegen kindliche Angststörungen einsetzte, wichtig, dass die beiden Gruppen von Kindern vor Therapiebeginn vergleichbare Angstlevel aufwiesen?
Biomedizinische Therapien
15.7
Die Ökologie des Geistes wird in einem sensiblen Gleichgewicht gehalten. Sobald im Gehirn etwas falsch läuft, sehen wir die Folgen in Form von auffälligen Verhaltensmustern und eigenartigen kognitiven und emotionalen Reaktionen. Ebenso können umweltbedingte, soziale oder verhaltensbezogene Störungen, wie beispielsweise Drogenkonsum und Gewalttätigkeit, die Chemie des Gehirns und seine Funktionen verändern. Biomedizinische Therapien behandeln psychische Störungen oftmals als „Hardwareprobleme“ des Gehirns. Wir werden vier biomedizinische Ansätze beschreiben, die dazu dienen, die Symptome psychischer Störungen zu mindern: medikamentöse Therapie, Psychochirurgie, Elektrokrampftherapie und repetitive transkraniale magnetische Stimulation (rTMS).
15.7.1 Medikamentöse Therapie In der Geschichte der Behandlung psychischer Störungen gibt es keine Konkurrenz für jene Revolution, die durch die Entdeckung der Wirkung spezifischer Medikamente ausgelöst wurde: Es gibt Medikamente, die ängstliche Patienten beruhigen, die bei in sich zurückgezogenen Patienten den Kontakt zur Realität wiederherstellen, und Medikamente, die Halluzinationen psychotischer Patienten unterdrücken. Diese neue therapeutische Ära begann 1953 mit der Einführung von Beruhigungsmitteln, vorrangig Chlorpromazin, in den Behandlungsplan der Krankenhäuser. Die sich entwickelnden medikamentösen Therapien gewannen beinahe augenblicklich die Anerkennung und den Status einer effektiven Möglichkeit, um das Ver-
621
15
Psycho th erapi e
halten des Patienten zu verändern. Psychopharmakologie ist ein Bereich der Psychologie, der die Effekte von Medikamenten auf das Verhalten untersucht. Forscher in der Psychopharmakologie arbeiten daran, den Effekt von Medikamenten auf einige biologische Systeme und die hieraus folgenden Reaktionsveränderungen zu verstehen. Die Entdeckung der medikamentösen Therapie hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Behandlung schwer gestörter Patienten. Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken mussten nicht länger die Funktion von Wächtern übernehmen und die Patienten in Isolationszellen unterbringen oder in Zwangsjacken stecken; die Moral der Mitarbeiter verbesserte sich, als die bloße Aufsichtspflicht durch Rehabilitation der psychisch Erkrankten ersetzt wurde (Swazey, 1974). Überdies hatte die Revolution der medikamentösen Therapie einen großen Einfluss auf die Belegung der psychiatrischen Kliniken in den USA. 1955 lebten dort über eine halbe Million Menschen. Die meisten blieben für mehrere Jahre. Die Einführung von Chlorpromazin und anderen Medikamenten kehrte die Entwicklung der stetigen Zunahme der Patientenzahl um. In den frühen siebziger Jahren wurde geschätzt, dass weniger
als die Hälfte der Patienten des Landes tatsächlich in psychiatrischen Kliniken untergebracht waren, und diese verweilten dort nur für wenige Monate. Die Medikamente zur Behandlung der Symptome verschiedener psychischer Störungen, die wir hier beschreiben wollen, werden oft verordnet. Da die psychische Betreuung zunehmend vom Gesundheitswesen übernommen wird, begrenzen Sparmaßnahmen die Therapiesitzungen von Patienten und ersetzen sie durch kostengünstigere Medikamententherapien. Forscher haben einen starken Anstieg der Rezeptverschreibungen für medikamentöse Therapien festgestellt (Larkin et al., 2005; Thomas et al., 2006). Aus diesem Grund ist es wichtig, die positiven und negativen Eigenschaften medikamentöser Therapien zu verstehen. Im Rahmen therapeutischer Programme werden heute drei Hauptkategorien von Medikamenten eingesetzt: Antipsychotika, Antidepressiva und Angst lösende Kombinationspräparate ( Tabelle 15.4). Wie bereits in den Bezeichnungen zum Ausdruck kommt, verändern diese Medikamente auf chemische Weise spezifische Gehirnfunktionen, die für psychotische Symptome, Depressionen oder schwere Angstzustände verantwortlich sind.
Tabelle 15.4
Medikamentöse Therapien psychischer Erkrankungen
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Störung
Art der Therapie
Beispiele
Schizophrenie
Antipsychotikum
Chlorpromazin (Thorazin), Haloperidol (Haldol), Clozapin (Clozaril)
Depression
Trizyklisches Antidepressivum
Imipramin (Tofranil), Amitriptylin (Elavil)
Selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
Fluoxetin (Prozac), Paroxetin (Paxil), Sertralin (Zoloft)
Serotonin- und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
Milnacipran (Dalcipran), Venlafaxin (Effexor)
MAO-Hemmer
Phenelzin (Nardil), Isocarboxazid (Marplan)
Bipolare Störung
Stimmungsstabilisierer
Lithium (Eshalith)
Angststörungen
Benzodiazepine
Diazepam (Valium), Alprazolam (Xanax)
Antidepressivum
Fluoxetin (Prozac)
15.7 Biomedizinische Therapien
Antipsychotika Antipsychotika verändern schizophrene Symptome wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen, soziale Zurückgezogenheit und gelegentliche Agitiertheit (Dawkins et al., 1999). Antipsychotische Medikamente wirken durch die Reduktion der Aktivität des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn. Medikamente wie Chlorpromazin (in Deutschland vermarktet beispielsweise als Propaphenin, in den USA als Thorazine) und Haloperidol (vermarktet in Deutschland beispielsweise als Haldol-Janssen, in den USA als Haldol) blockieren Dopaminrezeptoren oder reduzieren deren Empfindlichkeit. Clozapin (in Deutschland vermarktet beispielsweise als Leponex, in den USA als Clozaril), das neueste bedeutsame Antipsychotikum, verringert einerseits die Dopaminaktivität und erhöht andererseits die Serotoninaktivität, die das Dopaminsystem hemmt. Obwohl alle diese Medikamente wirken, indem sie die gesamte Gehirnaktivität senken, sind sie mehr als bloße Beruhigungsmittel. Für viele Patienten bewirken sie viel mehr als nur eine Eliminierung der Agitiertheit. Sie erleichtern oder reduzieren auch die Positivsymptomatik der Schizophrenie, wie beispielsweise Wahnvorstellungen oder Halluzinationen. Unglücklicherweise gibt es bei Antipsychotika jedoch Nebenwirkungen. Da Dopamin bei der motorischen Kontrolle eine Rolle spielt, treten mit der medikamentösen Behandlung häufig muskuläre Störungen auf. Tardive Dyskinesie ist eine spezifische Störung der motorischen Kontrolle, insbesondere der Gesichtsmuskulatur, die durch Antipsychotika ausgelöst wird. Patienten, die von dieser Nebenwirkung betroffen sind, entwickeln unwillkürliche Kinn-, Lippen- oder Zungenbewegungen. Im Laufe der Zeit hat die Forschung eine neue Medikamentenkategorie, die so genannten atypischen Antipsychotika, geschaffen, die weniger motorische Nebenwirkungen aufweisen. Das erste Mittel in dieser Gruppe, Clozapin (als Clozaril vermarktet) wurde in den USA 1989 zugelassen. Clozapin senkt gleichzeitig die Dopaminaktivität und erhöht die Serotoninaktivität, die dem Dopaminsystem entgegenwirkt. Dieses Aktivitätsmuster blockiert die Dopaminrezeptoren gezielter, was die Wahrscheinlichkeit motorischer Störungen verringert. Unglücklicherweise entwickelt sich bei 1 bis 2 Prozent der behandelten Patienten Agranulozytose, eine seltene Krankheit, bei der das Knochenmark die Produktion weißer Blutkörperchen einstellt. Die Forschung hat eine Reihe atypischer Antipsychotika entwickelt, die im Gehirn ähnlich wie Cloza-
pin wirken. Groß angelegte Studien legen nahe, dass alle diese Medikamente effektiv die Symptome der Schizophrenie mildern – aber dass sie auch alle potenzielle Nebenwirkungen haben (Lieberman et al., 2005). Zum Beispiel riskieren Menschen, die sie einnehmen, Gewichtszunahme und Diabetes (Nasrallah, 2005). Unglücklicherweise bewegen die Nebenwirkungen Patienten oft zum Abbruch der medikamentösen Therapie. Die Rückfallrate beim Absetzen des Medikaments ist ziemlich hoch – drei Viertel der Patienten haben innerhalb eines Jahres erneut Symptome (Gitlin et al., 2001). Sogar Patienten, die mit der Anwendung der neuen Mittel wie etwa Clozapin fortfahren, erleiden mit 15- bis 20-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Rückfall (Leucht et al., 2003). Demnach wird Schizophrenie durch Antipsychotika nicht geheilt – sie entfernen nicht die zugrunde liegende Psychopathologie. Glücklicherweise sind sie hinreichend effektiv bei der Kontrolle der schwersten Symptome der Störung. Antidepressiva Antidepressiva wirken, indem sie die Aktivität der körperlichen Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin erhöhen (Holmes, 1994). Erinnern Sie sich aus Kapitel 3, dass Nervenzellen durch die Ausschüttung von Neurotransmittern in einen synaptischen Spalt miteinander kommunizieren. Trizyklika, wie etwa Tofranil und Elavil reduzieren die Wiederaufnahme (Entfernung) des Neurotransmitters aus dem Synapsenspalt ( Abbildung 15.2). Medikamente wie Prozac werden als selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) bezeichnet, weil sie spezifisch die Wiederaufnahme von Serotonin reduzieren. Monoaminoxidasehemmer (MAO-Hemmer) wie TraTrizyklisches Antidepressivum blockiert Wiederaufnahme Präsynaptisches Neuron
Synaptische Vesikel (NeurotransWiederaufnahme mitterpakete)
Synaptischer Spalt
Rezeptoren Postsynaptisches Neuron
Neurotransmitter
Abbildung 15.2: Die Wirkungsweise trizyklischer Antidepressiva im Gehirn. Trizyklische Antidepressiva blockieren die Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin, so dass die Neurotransmitter im synaptischen Spalt verbleiben.
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Psycho th erapi e
nylcypromin (in Deutschland beispielsweise als Jatrosom vermarktet) und Moclobemid (Aurorix) verringern die Aktivität des Enzyms Monoaminoxidase, das verantwortlich für den Abbau (die Metabolisierung) von Noradrenalin ist. Inhibiert man Monoaminoxidase, dann bleibt mehr von dem Neurotransmitter verfügbar. Jedes Medikament stellt also mehr Neurotransmitter zur Übermittlung von Nervenreizen zur Verfügung. Antidepressiva können bei der Bekämpfung von Depressionssymptomen erfolgreich sein, obwohl bis zu 50 Prozent der Patienten keine Besserung zeigen (Hollon et al., 2002). Diese Patienten sind mögliche Kandidaten für Elektrokrampftherapie oder repetitive transkraniale magnetische Stimulation, die wir noch besprechen. Weil Antidepressiva auf wichtige Neurotransmittersysteme des Gehirns einwirken, haben sie potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen. Bei Patienten, die beispielsweise selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer wie Prozac einnehmen, können Symptome wie Übelkeit, Schlaflosigkeit, Nervosität und sexuelle Dysfunktion auftreten. Trizyklika und MAO-Hemmer können trockenen Mund, Schlafstörungen und Gedächtnisversagen hervorrufen. Die Forschung hat ergeben, dass die meisten bekannten Antidepressiva in ihrer Heilwirkung ungefähr gleichrangig sind (Hollon et al., 2002). Deshalb muss jeder Patient für sich persönlich dasjenige mit den wenigsten Nebenwirkungen finden. Die Forschung ist weiter auf der Suche nach Medikamenten, die Depressionssymptome bei reduzierten Nebenwirkungen bekämpfen. Die neueste Kategorie von Mitteln wird als Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer bezeichnet. Wie der Name schon sagt, blockieren diese Medikamente, etwa Effexor und Dalcipran, die Wiederaufnahme sowohl von Serotonin als auch von Noradrenalin. Klinische Versuche mit ihnen deuten darauf hin, dass sie möglicherweise effektiver als selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer sind (Stahl et al., 2005). Die Forschung muss allerdings noch feststellen, welche der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer keine ernsthaften Nebenwirkungen aufweisen. Lithiumsalze erwiesen sich als effektiv bei der Behandlung der bipolaren Störung (Schou, 2001). Menschen, die an unkontrollierbaren Episoden übermäßiger Erregung leiden, in denen die Energie ohne Grenzen scheint und ihr Verhalten extravagant und übertrieben ist, werden durch Lithium aus ihrem Stadium des manischen Exzesses auf den Boden zurückgeholt. Zwischen 60 und 80 Prozent der Patienten, die mit Lithium behandelt werden, haben gute Genesungschancen (Walden et al., 1998). Bei Personen, bei de-
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nen manische und depressive Phasen regelmäßig abwechseln, scheint Lithium jedoch weniger effektiv zu sein als andere Behandlungen, wie beispielsweise das Medikament Ergenyl (in den USA beispielsweise als Valproate vermarktet), das ursprünglich entwickelt wurde, um Anfälle zu verhindern. Angst lösende Medikamente Wie Antipsychotika und Antidepressiva wirken auch Angst lösende Medikamente, indem sie die Neurotransmitteraktivität im Gehirn regulieren. Unterschiedliche Medikamente sind bei der Erleichterung unterschiedlicher Angststörungen besonders wirksam (Spiegel et al., 2000). Die generalisierte Angststörung behandelt man am besten mit Benzodiazepinen wie Diazepam (vermarktet als Valium oder Xanax), welche die Aktivität des Neurotransmitters GABA erhöhen. Da GABA hemmende Neurone reguliert, führt eine Erhöhung der GABA-Aktivität zu einer Verringerung der Aktivität des Gehirns in jenen Regionen, die für die generalisierte Angststörung von Bedeutung sind. Panikstörungen, Agoraphobie und andere Phobien können mit Antidepressiva behandelt werden, obwohl die Forschung bisher die hier beteiligten Prozesse noch nicht versteht. Patienten mit Zwangsstörungen, die durch ein zu niedriges Niveau an Serotonin
Warum sollte man vorsichtig bei einer Therapie mit Psychopharmaka sein?
15.7 Biomedizinische Therapien
ausgelöst werden können, reagieren ausgesprochen gut auf Medikamente wie Fluctin, die sich speziell auf die Serotoninfunktion auswirken. Wie bei Medikamenten, die Schizophrenie und affektive Störungen bekämpfen, zeigen sich auch bei Benzodiazepanen zahlreiche Nebenwirkungen, weil sie ein wichtiges Neurotransmittersystem beeinflussen (Rivas-Vazquez, 2003). Patienten, die eine solche Behandlung beginnen, erleben möglicherweise Tagesmüdigkeit, undeutliche Sprechweise und Koordinationsprobleme. Die Medikamente können auch kognitive Prozesse wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis angreifen (Stewart, 2005). Außerdem zeigen Patienten in einer Benzodiazepantherapie oft Gewöhnungseffekte – sie müssen die Dosis steigern, um eine stabile Wirkung zu erzielen (siehe Kapitel 5). Der Abbruch der Behandlung kann außerdem zu Entzugserscheinungen führen (O’Brien, 2005). Wegen dieses Potenzials für psychische und physische Abhängigkeit, sollten solche angstbekämpfenden Medikamente nur in enger Abstimmung mit einem Arzt eingenommen werden.
15.7.2 Psychochirurgie Die Überschrift in der Los Angeles Times lautete: „Kugel im Gehirn heilt die psychischen Probleme eines Mannes“ (23.2.1988). Der Artikel beschrieb, dass ein 19-jähriger Mann, der an einer schweren Zwangsstörung litt, sich mit einer Waffe Kaliber 22 eine Kugel durch den vorderen Teil des Gehirns schoss in der Absicht, Suizid zu begehen. Bemerkenswerterweise überlebte er, seine pathologischen Symptome waren verschwunden, und seine intellektuellen Fähigkeiten waren nicht beeinträchtigt, obwohl manche der zugrunde liegenden Ursachen des Problems fortbestanden. Dieser Fall illustriert die potenziellen Effekte einer der direktesten biomedizinischen Therapien: chirurgische Eingriffe in das Gehirn. Solche Interventionen umfassen Läsionen (Durchtrennungen) von Verbindungen zwischen Teilen des Gehirns oder die Entfernung kleiner Gehirnbereiche. Diese Therapien werden häufig als letzte Möglichkeit in Betracht gezogen, um Psychopathologien zu behandeln, die sich durch weniger extreme Behandlungsformen als nicht therapierbar erwiesen haben. Psychochirurgie ist die allgemeine Bezeichnung chirurgischer Verfahren, die am Gehirngewebe ansetzen, um so psychische Störungen zu mindern. Im Mittelalter bedeutete die Psychochirurgie die „Entfernung vom Stein des Wahnsinns“ aus den Gehirnen jener, die am Irresein litten. Es gibt zahl-
reiche lebhafte Darstellungen in Form von Gravuren und Gemälden aus dieser Zeit. Zu den modernen psychochirurgischen Verfahren gehört die Durchtrennung des Gewebes des Corpus Callosum, um schwere Epilepsieattacken zu vermindern, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben; die Durchtrennung von Pfaden, welche die Aktivitäten des limbischen Systems vermitteln (Amygdalotomie); und die präfrontale Lobotomie. Die bekannteste Form der Psychochirurgie ist die präfrontale Lobotomie. Durch diese Operation werden jene Nervenfasern durchtrennt, welche die Frontallappen des Gehirns mit dem Zwischenhirn verbinden, im Speziellen die Fasern der thalamischen und hypothalamischen Bereiche. Dieses Verfahren wurde von dem Neurologen Egas Moniz entwickelt, der 1949 für diese Behandlungsform, welche das Funktionieren psychisch kranker Patienten zu verändern schien, den Nobelpreis erhielt. Ursprünglich kam diese Technik der Lobotomie bei agitierten schizophrenen Patienten und Patienten mit Zwängen oder Angststörungen zum Einsatz. Die Effekte dieser psychochirurgischen Eingriffe waren drastisch: Es entstand eine neue Persönlichkeit ohne starke emotionale Erregung und dementsprechend ohne übermäßige Ängstlichkeit, Schuldgefühle oder Wut. Die Operation zerstörte jedoch dauerhaft grundlegende Aspekte des Menschseins: Die Patienten verloren durch die Lobotomie die Einzigartigkeit ihrer Persönlichkeit. Die Lobotomie führte zu einer Unfähigkeit vorauszuplanen, zu Indifferenz bezüglich der Meinungen anderer, zu kindischen Verhaltensweisen und einer intellektuellen und emotionalen Verflachung einer Person ohne kohärentes Selbstbild (eine Patientin von Moniz litt so sehr unter diesen unerwarteten Folgen, dass sie auf Moniz schoss, was dazu führte, dass er an teilweisen Lähmungen litt). Da die Effekte der Psychochirurgie dauerhaft sind, ihre negativen Effekte schwer und häufig und ihre positiven Ergebnisse wenig sicher, wird sie nur noch sehr eingeschränkt eingesetzt.
15.7.3 Elektrokrampftherapie und rTMS Bei der Elektrokrampftherapie werden dem Gehirn des Patienten elektrische Schläge verabreicht, um psychische Störungen wie Schizophrenie, Manie und in vielen Fällen Depression zu behandeln. Die Technik besteht aus der Anwendung schwacher elektrischer Ströme (75 bis 100 Volt) an den Schläfen des Patienten für eine Zeitdauer von einer zehntel bis einer Sekun-
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Die Elektrokrampftherapie erwies sich als sehr effektiv bei der Behandlung schwerer Depressionen. Warum wird sie als Behandlungsform dennoch kontrovers diskutiert? de, bis es zu einem Krampf kommt. Der Krampf hält gewöhnlich 45 bis 60 Sekunden an. Der Patient wird auf diese traumatische Intervention durch Ruhigstellung mit einem kurzfristig wirkenden Barbiturat und einem Medikament zur Muskelentspannung vorbereitet, was den Patienten bewusstlos hält und die heftigen körperlichen Reaktionen minimiert (Abrams, 1992). Die Elektrokrampftherapie hat sich als sehr erfolgreich bei der Behandlung schwerer Depressionen erwiesen (McCall et al., 2006; Sackheim et al., 2000). Sie ist deshalb von besonderer Bedeutung, da sie sehr schnell wirkt. Typischerweise erfordert die Erleichterung von depressiven Symptomen eine Behandlung von drei bis vier Tagen, verglichen mit einer medikamentösen Therapie, die in einem Zeitfenster von ein bis zwei Wochen liegt. Dennoch ist die Elektrokrampftherapie für die meisten Therapeuten die letzte Möglichkeit. Sie bleibt häufig der Notfallbehandlung suizidgefährdeter oder schwer unterernährter, depressiver Patienten vorbehalten, oder auch jenen Patienten, die auf medikamentöse Behandlung nicht ansprechen oder die starken Nebenwirkungen nicht vertragen. Wenn die Elektrokrampftherapie so effektiv ist, warum wird sie dann so häufig dämonisiert? Beispielsweise votierten 1982 die Bürger von Berkeley in Kalifornien dafür, die Elektrokrampftherapie aus jeglicher Einrichtung für psychisch Kranke zu verbannen (diese Aktion wurde später auf gerichtlicher Ebene rückgängig gemacht). Unbehagen bezüglich der Elektrokrampftherapie seitens der Wissenschaft beruht in erster Linie auf fehlendem Verständnis ihrer Funktionsweise. Die Therapieform entstand aus der Beobachtung, dass Patienten, die an Schizophrenie und Epilepsie litten, nach einem epileptischen Anfall eine Verbesserung der schizophrenen Symptomatik zeigten. Die Kliniker
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schlossen daraus, dass derselbe Effekt durch einen künstlich erzeugten Anfall ausgelöst werden könnte. Obwohl sich diese Schlussfolgerung teilweise als richtig erwies – die Elektrokrampftherapie ist wesentlich effektiver bei der Behandlung von Depressionen als bei der Behandlung von Schizophrenie –, müssen die Forscher noch eine entsprechende Theorie für diese Zufallsbeobachtung entwickeln. Kritiker sorgten sich auch um potenzielle Nebenwirkungen der Elektrokrampftherapie (Breggin, 1979, 1991). Sie löst eine vorübergehende Desorientierung sowie eine Vielzahl von Gedächtnisdefiziten aus. Die Patienten leiden häufig an einer Amnesie für Ereignisse im Vorfeld der Behandlung; die Amnesie wird schwerer mit zunehmender Behandlungsdauer. Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass die spezifischen Erinnerungen Monate nach der Behandlung wieder auftauchen (Cohen et al., 2000). Kurzfristige Defizite können auch dadurch minimiert werden, dass die Elektrokrampftherapie nur an einer Gehirnhälfte angewendet wird, um so mögliche Störungen der Sprache zu reduzieren. Eine solche unilaterale Elektrokrampftherapie stellt ein effektives Antidepressivum dar. In den letzten Jahren haben Forscher sich mit einer Alternative zur Elektrokrampftherapie namens repetitive transkraniale magnetische Stimulation (rTMS) befasst. Wie Sie sich vielleicht aus Kapitel 3 erinnern, erhalten Menschen, die sich einer rTMS unterziehen, wiederholte Pulse magnetischer Stimulation im Gehirn. Wie auch bei der Elektrokrampftherapie hat die Forschung noch nicht herausgefunden, warum rTMS bei Major Depression und anderen Formen psychischer Erkrankungen heilend wirkt. Trotzdem mehren sich die Beweise, dass rTMS genauso effektiv wie etwa die Elektrokrampftherapie sein kann (Grunhaus
15.7 Biomedizinische Therapien
et al., 2003). Die Forschung arbeitet daran zu bestimmen, wie Variablen wie etwa die Intensität der magnetischen Stimulation die Heilwirkung von rTMS beeinflussen (Loo & Mitchell, 2005; Padberg et al., 2002).
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Vorteile weisen atypische Antipsychotika ge-
genüber früheren medikamentösen Schizophrenietherapien auf? 2 Was
bewirken Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer im Gehirn?
3 Was sind einige der Effekte präfrontaler Lobotomie? 4 Worin besteht die rTMS-Methode?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Beeinflusst eine Therapie die Gehirnaktivität?
In diesem Kapitel haben wir Therapien in mehrere Typen eingeteilt. Unsere grundlegendste Unterscheidung war allerdings die zwischen psychologischen und biomedizinischen Ansätzen. Zu dieser Unterscheidung wird oft eine Analogie aus der Computertechnik herangezogen: Wenn wir uns das Gehirn als einen Computer vorstellen, können wir sagen, dass psychische Erkrankungen entweder aus seiner Hardware oder aus der Software, die seine Handlungen programmiert, entstehen. Im Rahmen dieser Analogie konzentrieren sich biomedizinische Behandlungen auf die Veränderung der Hardware, psychologische aber auf die Software. Die allerneueste Forschung lässt diesen Unterschied aber wieder verschwimmen: Es gibt zunehmend Hinweise, dass biomedizinische und psychologische Therapien oft dieselben Veränderungen im Gehirn hervorrufen. Betrachten wir eine Studie zur Untersuchung der Gehirnveränderungen infolge der Behandlung einer sozialen Phobie (Furmark et al., 2002). Alle zehn Männer und acht Frauen in der Studie erfüllten die DSMIV-Kriterien für diese Störung. Die Forscher teilten sie einer von drei Gruppen zu: Die Teilnehmer in der ersten erhielten das Medikament Citalopram (unter dem Markennamen Celexa). Am Ende des neunwöchigen Behandlungszeitraums wurden Bluttests durchgeführt, um sicher zu stellen, dass die Teilnehmer das Medikament wie vorgeschrieben eingenommen hatten. Eine zweite Gruppe nahm an acht wöchentlichen Therapiesitzungen teil. In diesen dreistündigen Sitzungen setzten sich die Teilnehmer in Simulationen der gefürchteten Situation aus und erhielten Training in kognitiver Restrukturierung. Die dritte Gruppe fungierte als Kontrollgruppe. (Nach Abschluss der Studie begannen sie die Medikamententherapie.) Um den Einfluss des Psychopharmakons und der kognitiven Verhaltenstherapie zu bestimmen, sollten alle Teilnehmer eine kurze Rede halten, während ein
PET-Scan von ihnen angefertigt wurde. Die Situation sollte ziemlich bedrohlich für Sozialphobiker wirken: Ein Publikum aus sechs bis acht Menschen umringte den Scanner, während die Teilnehmer 2 ½ Minuten sprachen. Im Bereich der Verhaltenswerte (zum Beispiel dem Ausmaß der während dessen empfundenen Angst) zeigten beide Treatment-Gruppen große und ungefähr äquivalente Verbesserungen gegenüber der Kontrollgruppe. Darüber hinaus zeigten die PETScans, wie in der Abbildung zu sehen, verminderte Hirnaktivität (wieder gegenüber der Kontrollgruppe) in ziemlich gleichen Bereichen. Dabei war es wichtig, dass diese verminderte Aktivität in solchen Hirnbereichen stattfand (zum Beispiel der Amygdala), die eine Rolle in emotionalen Reaktionen spielen. Forscher haben für andere Störungen ähnliche Muster gefunden. Zum Beispiel wurden mit PETScans ähnliche Veränderungen der Hirnfunktion bei Patienten gefunden, die entweder eine Verhaltensoder Medikamententherapie gegen Zwangsstörungen durchliefen (Baxter et al., 1992; Schwartz et al., 1996). Auch Patienten mit entweder einer kognitiven oder einer medikamentösen Therapie gegen Major Depression zeigten vergleichbare Veränderungen (Brody et al., 2002). In allen diesen Fällen reichte es nicht aus zu zeigen, dass beide Therapiearten jeweils dieselben Hirnareale beeinflussten. Die Forschung zeigt auch, dass Veränderungen in diesen Arealen in Zusammenhang mit Besserungen in der Befindlichkeit der Patienten stehen. Im Licht dieser Ergebnisse kann die Forschung jetzt ihre Aufmerksamkeit auf das Wie richten: Wie kann eine Psychotherapie das Gleichgewicht des Gehirns in denselben Systemen wiederherstellen, die von Medikamenten beeinflusst werden? Wie kann zum Beispiel eine kognitive Therapie einen vergleichbaren Effekt auf den Gebrauch des Neurotransmitters Serotonin durch das Gehirn haben wie
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ein Medikament, das speziell als selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer konzipiert ist (Brody et al., 2002)? Diese Art Fragen wird die Agenda der Forschung im ersten Teil des 21. Jahrhunderts bestimmen. Warum war es wichtig, dass die Patienten in der medikamentös behandelten Gruppe das Mittel vorschriftsgemäß einnahmen? Warum platzierten die Forscher ein wirkliches Publikum um den Scanner?
Therapieevaluation und Präventionsstrategien
15.8
Angenommen, Sie hätten in Ihrem Leben ein Problem erkannt, von dem Sie annehmen, dass es in Zusammenarbeit mit einem ausgebildeten Therapeuten verringert werden kann. Wir haben bisher über eine Vielzahl von Therapieformen berichtet. Wie können Sie wissen, welche davon am besten für Sie geeignet ist? Wie können Sie sicher sein, dass irgendeine von ihnen überhaupt wirkt? In diesem Abschnitt werden wir Forschungsprojekte darstellen, welche die Effektivität einzelner Therapieformen überprüften und Vergleiche zwischen unterschiedlichen Therapieformen durchführten. Die allgemeine Zielsetzung besteht darin herauszufinden, auf welche Weise Menschen am effektivsten bei der Überwindung ihrer Schwierigkeiten geholfen werden kann. Wir werden ebenfalls kurz das Thema Prävention anschneiden: Wie können Psychologen in das Leben von Menschen eingreifen, um einer psychischen Erkrankung vorzubeugen?
15.8.1 Die Evaluation therapeutischer Effektivität Der britische Psychologe Hans Eysenck (1952) verursachte vor einigen Jahren einen Aufruhr, indem er behauptete, Psychotherapie wirke überhaupt nicht! Nach Durchsicht der verfügbaren Publikationen, die über Effekte verschiedener Therapieformen berichteten, kam Eysenck zu dem Schluss, dass Patienten, die keine Therapie erhielten, gleich hohe Genesungsrate aufwiesen wie jene, die eine Psychoanalyse oder eine andere Form der Einsichtstherapie erhielten. Er behauptete, dass etwa zwei Drittel der Menschen mit
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Kognitive Verhaltens-Gruppentherapie (im Vergleich zur Kontrollgruppe)
Medikamentöse Therapie (im Vergleich zur Kontrollgruppe)
neurotischen Problemen sich innerhalb von zwei Jahren nach Entstehung des Problems spontan davon erholen würden. Wissenschaftler nahmen Eysencks Herausforderung an, indem sie genauere Methoden zur Erfassung der Effektivität von Therapien erarbeiteten. Eysencks Kritik verdeutlichte, dass Forscher angemessene Kontrollgruppen benötigen. Aus einer Vielzahl von Gründen verbessert sich tatsächlich bei einem bestimmten Prozentsatz der Patienten in Psychotherapie der Zustand ohne jede professionelle Intervention. Solche Effekte der Spontanremission sind ein Kriterium für die Festlegung der Grundrate, gegen die sich eine Therapie messen lassen muss. Einfach gesagt: Irgendetwas zu tun muss bei einem größeren Prozentsatz von Fällen zu Verbesserungen führen als überhaupt nichts zu tun. Im Allgemeinen versuchen Forscher in ähnlicher Weise darzustellen, dass ihre Behandlung mehr bewirkt als nur einen Vorteil daraus zu ziehen, dass der Klient Heilung erwartet. Sie erinnern sich vielleicht
15.8 Therapieevaluation und Präventionsstrategien
an unsere Diskussion des Placeboeffekts: In vielen Fällen wird sich die psychische und körperliche Gesundheit der Menschen verbessern, weil sie erwarten, dass sie sich verbessern wird. Die therapeutische Situation hilft dabei, diese Überzeugung zu stärken, indem sie dem Therapeuten die spezifische soziale Rolle des Heilers zuweist (Frank & Frank, 1991). Obwohl der therapeutische Placeboeffekt einen wichtigen Beitrag zur therapeutischen Intervention leistet, möchten Forscher normalerweise aufzeigen, dass ihre spezifische Therapie effektiver ist als eine Placebotherapie (eine neutrale Therapie, die lediglich die Erwartung einer Heilung hervorruft) (Enserink, 1999). In den letzten Jahren haben Forscher zur Evaluation therapeutischer Wirksamkeit eine statistische Technik eingesetzt, die als Metaanalyse bezeichnet wird. Metaanalysen bieten formale Vorgehensweisen zur Entdeckung übergreifender Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Datensätzen vieler verschiedener Experimente. In vielen psychologischen Experimenten fragt sich der Forscher: „Zeigte sich bei den meisten meiner Teilnehmer der von mir vorhergesagte Effekt?“ Metaanalysen behandeln Experimente wie Teilnehmer. Hinsichtlich der Wirksamkeit der Therapie fragen sich die Forscher hier: „Zeigten die Ergebnisse der meisten Studien positive Veränderungen?“ Betrachten Sie Abbildung 15.3, in der die Ergebnisse von Metaanalysen der Forschungsliteratur für Depressionsbehandlungen dargestellt werden (Hollon et al., 2002). Die Grafik vergleicht die Resultate für drei Arten von Psychotherapie und für Medikationen (ge60%
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Psychotherapie
Placebo
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Medikation
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Interpersonal
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Kognitive Verhaltenstherapie
40%
Psychodynamisch
Reaktion in Prozent
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Pharmakotherapie
Abbildung 15.3: Evaluation von Depressionstherapien.Die Grafik zeigt die Ergebnisse von Metaanalysen der Behandlungsarten für Depressionen. Für jede Behandlungsmethode gibt die Grafik den Prozentsatz von Patienten an, die auf die betreffende Therapieart ansprechen. Zum Beispiel erleben 50 Prozent der Patienten, die Antidepressiva einnehmen, eine messbare Besserung ihrer Symptome, die anderen 50 Prozent jedoch nicht.
mittelt über verschiedene Antidepressiva) mit denen von Placebobehandlungen. Wir haben in diesem Kapitel bereits psychodynamische und kognitive Verhaltenstherapien beschrieben. Die interpersonale Therapie (englisch: interpersonal therapy) befasst sich mit dem gegenwärtigen Leben des Patienten und seinen persönlichen Beziehungen. Wie Sie sehen, zeigten in allen Studien, die für diese Metaanalyse ausgewertet wurden, interpersonale Therapie, kognitive Verhaltenstherapie und medikamentöse Therapie durchgängig stärkere Wirkungen als Placebos. Zumindest in der Depressionsbehandlung schlug sich die klassische psychodynamische Therapie allerdings nicht allzu gut. Bedenken Sie, dass diese Daten nur den Effekt der jeweils allein angewandten Therapie berücksichtigen. Forscher haben die Wirksamkeit einer ausschließlich psychotherapeutischen Behandlung mit der Wirksamkeit einer Kombination von Psychotherapie und medikamentöser Behandlung. Ein Studie kam zu dem Ergebnis, dass die kombinierte Behandlung zu den besten Ergebnissen führt (Keller et al., 2000). Von 519 Teilnehmern, welche die Behandlung abschlossen, erfüllten 55 Prozent der Teilnehmer einer ausschließlich medikamentösen Behandlung das Kriterium einer Symptomminderung, ebenso wie 52 Prozent der Patienten, die ausschließlich mit Psychotherapie behandelt wurden. Bei den Teilnehmern jedoch, die eine kombinierte Behandlung erhielten, zeigten 85 Prozent dieses Niveau der Verbesserung. Nach diesen Resultaten fragen sich die Forscher gegenwärtig nicht so sehr, ob Psychotherapie funktioniert, sondern eher, warum sie funktioniert und welche Behandlung für ein gegebenes Problem und einen gegebenen Patiententypus jeweils am besten geeignet ist (Goodheart et al., 2006). Zum Beispiel ist viel Evaluation von Behandlungen unter Forschungsbedingungen geleistet worden, die ausreichende Kontrolle über die Patienten (die Studien schließen oft Menschen aus, die an mehreren Störungen gleichzeitig leiden) und Vorgehensweise (die Therapeuten werden genau instruiert, um Unterschiede in der Behandlung zu minimieren) ermöglichen. Die Forschung muss sicherstellen, dass Therapien, die in forschungskonformen Situationen funktionieren, auch in der wirklichen Welt wirksam sind, wo Patienten und Therapeuten eine größere Bandbreite von Symptomen und Erfahrungen aufweisen (Hohmann & Shear, 2002). Eine weitere wichtige Frage in der Evaluationsforschung ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Patient seine Therapie zu Ende führt. Es gibt fast immer Menschen, die die Therapie abbrechen (Klein et al., 2003; Wierzbicki & Pekarik, 1993). Die Forschung möchte verstehen, wer
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eine Behandlung abbricht und warum – mit dem Fernziel, Therapien zu konzipieren, die jeder bis zum Ende durchhalten kann. Das Flussdiagramm in Abbildung 15.4 zeigt auf, welche Rolle Theorie, klinische Beobachtung und Forschung bei der Entwicklung und Evaluation einer Behandlungsform (sowohl von psychischen als auch von organischen Störungen) spielen. Es zeigt die benötigte Form systematischer Forschung auf, die Klinikern bei der Entdeckung hilft, inwiefern ihre Therapien die von ihren Theorien vorhergesagten Unterschiede erbringen. In der Abbildung sind auf der einen Seite klinische Beobachtungen aufgeführt – die eigenen Er-
Aktuelle Form der Behandlung
Klinische Beobachtung
Grundlagenforschung Theoretisches Modell
Unkontrollierte berprfung bei klinischen Populationen
Grundlagenexperimente im Labor
Neue Therapie
Kontrollierte Kurzzeitstudien an klinischer Population
Kontrollierte Langzeitstudien an klinischer Population
Evaluation der Wirksamkeit im Feld
Abbildung 15.4: Die Entwicklung besserer Therapien. Ein Flussdiagramm zur stufenweisen Entwicklung von Behandlungen psychischer und organischer Störungen.
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fahrungen der Kliniker mit einem neuen Verfahren. Typischerweise werden neue Verfahren ohne große experimentelle Kontrolle zunächst im Feld getestet. Auf der anderen Diagrammseite sehen Sie eine Theorie, die gerade entwickelt wird. Die Theorie trifft Vorhersagen darüber, was in welcher Weise wirken sollte, was anschließend durch Laborstudien bestätigt werden kann. Diese beiden Blickwinkel – klinisch und experimentell – bringen gemeinsam eine neue Therapie hervor. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels denken wir über ein wichtiges Prinzip des Lebens nach: Wie wirksam auch immer eine Behandlung sein mag, oft ist es besser, einer Störung vorzubeugen als sie zu heilen, wenn sie aufgetreten ist.
15.8.2 Präventionsstrategien Zwei Freunde liefen am Flussufer entlang. Plötzlich sahen sie ein Kind, das flussabwärts trieb. Einer der Freunde sprang in den Fluss und rettete das Kind. Dann nahmen die Freunde ihren Spaziergang wieder auf. Plötzlich erschien ein weiteres Kind im Wasser. Der Retter sprang ein weiteres Mal in den Fluss und brachte das Opfer in Sicherheit. Bald trieb ein drittes ertrinkendes Kind vorbei. Der noch trockene Freund fing an, flussaufwärts zu laufen. Der Retter schrie: „Wo läufst du hin?“ Der trockene Freund antwortete: „Ich greife mir den Bastard, der sie ins Wasser wirft.“ (Wolman, 1975, S. 3) Die Moral dieser Geschichte ist klar: Dem Problem vorbeugen ist seine beste Lösung. Den bislang besprochenen traditionellen Therapien ist gemein, dass sie auf bereits beeinträchtigte oder gestörte Personen abzielen. Sie beginnen ihre Arbeit, nachdem sich problematische Verhaltensweisen gezeigt haben und nachdem das Leiden begonnen hat. Zum Zeitpunkt des eigenen Entschlusses oder der Aufforderung, eine Therapie wahrzunehmen, hat sich die psychische Störung bereits „festgesetzt“ und beeinflusst auf störende Weise das alltägliche Funktionieren der Person, ihr soziales Leben und ihre berufliche Karriere. Das Ziel, psychischen Problemen vorzubeugen, kann auf verschiedenen Wegen realisiert werden. Die primäre Prävention versucht, die auslösende Bedingung zu vermeiden, bevor sie auftritt. Es können Schritte unternommen werden, um beispielsweise Menschen mit Bewältigungsstrategien auszustatten,
15.8 Therapieevaluation und Präventionsstrategien
damit sie widerstandsfähiger werden, oder es werden Schritte unternommen, um negative Umweltaspekte, die zu Angst oder Depression führen könnten, zu verändern (Boyd et al., 2006; Hudson et al., 2004). Die sekundäre Prävention versucht, die Dauer oder den Schweregrad einer Störung zu reduzieren, wenn sie bereits vorhanden ist. Dieses Ziel wird durch spezifische Programme erreicht, die eine frühe Erkennung und schnelle Behandlung ermöglichen. So könnte zum Beispiel ein Psychiater, ausgehend von den beschriebenen Metaanalysen, eine Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Therapie empfehlen, um die sekundäre Prävention zu optimieren (Keller et al., 2000). Tertiäre Prävention verringert langfristige Auswirkungen einer psychischen Störung, indem versucht wird, einen Rückfall zu vermeiden. Wir haben bereits angemerkt, dass Schizophrenieerkrankte, die ihre Medikamententherapie abbrechen, eine sehr hohe Rückfallrate haben (Gitlin et al., 2001). Als tertiäre Prävention könnten die Therapeuten empfehlen, dass ihre an Schizophrenie leidenden Patienten auf jeden Fall bei der medikamentösen Therapie bleiben.
Die Implementierung dieser drei Formen der Prävention hat bedeutsame Wechsel der Schwerpunkte und der grundlegenden Paradigmen psychischer Gesundheitsfürsorge hervorgerufen. Die wichtigsten Paradigmenwechsel sind: (1) die Ergänzung der Behandlung um Prävention; (2) ein Modell der Volksgesundheit jenseits des medizinischen Krankheitsmodells; (3) die Konzentration auf situationale und ökologische Risikofaktoren anstatt auf Risikogruppen von Menschen; und (4) die Suche nach verursachenden Faktoren in den jeweiligen Lebensumständen anstatt nach prädisponierenden Faktoren in Menschen. Die Prävention psychischer Störungen ist eine komplexe und schwierige Aufgabe. Sie umfasst nicht nur ein Verständnis der kausalen Zusammenhänge, sondern auch die Überwindung individueller, institutioneller und politischer Widerstände gegenüber der Veränderung. Großer Forschungsaufwand wird notwendig sein, um die langfristige Nützlichkeit von Prävention und der Anwendung des Modells der Volksgesundheit auf psychische Störungen aufzuzeigen, so dass die Kosten angesichts der zahlreichen anderen Probleme, die eine sofortige Lösung erfordern, zu rechtfertigen sind. Das Fernziel von Präventionsprogrammen ist die Sicherung der psychischen Gesundheit aller Mitglieder unserer Gesellschaft.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche Schlussfolgerungen können aus Metaanalysen
der Behandlungsmethoden für Depression gezogen werden? 2 Warum hat sich die Forschung auf die Wahrscheinlich-
Wie können Präventionsstrategien Menschen dazu ermutigen, Gewohnheiten „psychischer Hygiene“ aufzubauen, um den Bedarf an Behandlung zu reduzieren?
keit, mit der Patienten ihre Therapien zu Ende bringen, konzentriert? 3 Was ist das Ziel der primären Prävention?
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Der therapeutische Kontext Eine Therapie erfordert die Erstellung einer Diagnose und eines Therapieplans. Eine Therapie kann medizinisch oder psychologisch ausgerichtet sein. Die vier bedeutendsten Psychotherapieformen sind die psychodynamische, verhaltenstherapeutische, kognitive und existenzialistisch-humanistische Therapie. Es gibt eine Vielzahl von Fachkräften, die Therapien durchführen. Früher war die Behandlung von Menschen mit psychischen Problemen oft hart und unmenschlich, die moderne Ausrichtung besteht in einer Deinstitutionalisierung. Psychodynamische Therapien Psychodynamische Therapien entwickelten sich aus Sigmund Freuds psychoanalytischer Theorie. Freud betonte die Rolle unbewusster Konflikte bei der Ätiologie der Psychopathologie. Psychodynamische Therapien versuchen, diese Konflikte offenzulegen. Freie Assoziation, Beachtung von Widerständen, Traumanalyse, Übertragung und Gegenübertragung sind wichtige Komponenten dieser Therapieform. Neo-Freudianer legen ihren Schwerpunkt stärker auf die aktuelle soziale Situation des Patienten, seine zwischenmenschlichen Beziehungen und sein Selbstkonzept. Verhaltenstherapien Verhaltenstherapien verwenden Lern- und Verstärkungsprinzipien, um problematische Verhaltensweisen zu ändern oder zu beseitigen. Durch Gegenkonditionierungstechniken werden fehlangepasste Verhaltensweisen, wie beispielsweise phobische Reaktionen, durch angepasste Verhaltensweisen ersetzt. Exposition ist das gemeinsame Element in Therapien zur Modifikation phobischer Verhaltensweisen.
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Fertigkeiten, um Personen zu helfen, Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Kognitive Therapien Die kognitive Therapie konzentriert sich auf die Veränderung negativer oder irrationaler Denkmuster über das Selbst und über soziale Beziehungen. Die kognitive Therapie wurde erfolgreich zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Die rational-emotive Therapie hilft Klienten zu erkennen, dass ihre irrationalen Überzeugungen von sich selbst einem erfolgreichen Leben entgegenstehen. Die kognitive Verhaltensmodifikation vermittelt den Klienten konstruktivere Denkmuster bezüglich eines Problems und die Anwendung dieser neuen Technik auf andere Situationen. Humanistische Therapien Humanistische Therapien helfen Personen, sich besser selbst zu verwirklichen. Die Therapeuten sind bestrebt, ihren Klienten nichtdirektiv zu helfen, ein positives Selbstbild zu entwickeln, das mit externer Kritik zurechtkommt. Die Gestalttherapie konzentriert sich auf die Person als Ganzes – Körper, Psyche und Lebensumstände. Gruppentherapien Durch Gruppentherapien können Menschen soziale Interaktionen beobachten und selbst in sie eintreten, um auf diese Weise psychische Belastungen abzubauen. Paar- und Familientherapien konzentrieren sich auf die situationalen Schwierigkeiten und zwischenmenschlichen Dynamiken eines Paares oder einer Familie als ein System, das einer Verbesserung bedarf. Durch Selbsthilfegruppen vor Ort oder im Internet können Menschen Informationen und ein Gefühl der Kontrolle durch soziale Unterstützung erhalten.
Kontingenzmanagement nutzt operante Konditionierung, um Verhalten zu verändern, in erster Linie durch positive Verstärkung und Löschung.
Biomedizinische Therapien Biomedizinische Therapien konzentrieren sich auf die Veränderung physiologischer Aspekte psychischer Erkrankungen.
Die Therapie des sozialen Lernens verwendet Modelle und Trainings zur Förderung sozialer
Medikamentöse Therapien umfassen die Behandlung von Schizophrenie mit Antipsychotika sowie
Zusammenfassung
den Einsatz von Antidepressiva und Angst lösenden Medikamenten.
Therapieevaluation und Präventionsstrategien Forschungsergebnisse zeigen, dass zahlreiche Therapien besser wirken als der bloße Zeitverlauf oder die Behandlung mit Placebos.
Die Psychochirurgie wird selten eingesetzt, da sie tiefgreifende, irreversible und häufig unerwünschte Effekte hervorruft.
Evaluationsstudien helfen bei der Beantwortung der Frage, was eine Therapie effektiv macht.
Die Elektrokrampftherapie und die repetitive transkraniale magnetische Stimulation (rTMS) können sehr effektiv bei depressiven Patienten sein.
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Präventionsstrategien sind notwendig, um das Auftreten psychischer Störungen zu verhindern oder ihre Effekte zu minimieren.
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SCHLÜSSELBEGRIFFE Aversionstherapie (S. 608) Beratungspsychologen (S. 598) Bewegung für das menschliche Potenzial (humanpotential movement) (S. 617) Biomedizinische Therapien (S. 596) Deinstitutionalisierung (S. 599) Einsichtstherapie (S. 601) Elektrokrampftherapie (S. 625) Expositionstherapie (S. 606) Flooding (Reizüberflutung) (S. 606) Freie Assoziation (S. 601) Gegenkonditionierung (S. 606) Gegenübertragung (S. 602) Gestalttherapie (S. 618) Katharsis (S. 602) Klient (S. 599) Klientenzentrierte Therapie (S. 617) Klinische Psychologen (S. 598) Klinische Sozialarbeiter (S. 598) Kognitive Therapie (S. 613) Kognitive Verhaltensmodifikation (S. 616) Kontingenzmanagement (S. 609) Metaanalyse (S. 629) Patient (S. 599) Placebotherapie (S. 629)
Präfrontale Lobotomie (S. 625) Proben von Verhaltensweisen (S. 611) Psychiater (S. 598) Psychoanalyse (S. 601) Psychoanalytiker (S. 598) Psychochirurgie (S. 625) Psychopharmakologie (S. 622) Psychotherapie (S. 596) Rational-emotive Therapie (RET) (S. 615) Seelsorger (S. 598) Spontanremission (S. 628) Systematische Desensibilisierung (S. 606) Teilnehmendes Modelllernen (S. 611) Therapie des sozialen Lernens (S. 610) Traumanalyse (S. 602) Übertragung (S. 602) Verhaltensmodifikation (S. 605) Verhaltenstherapie (S. 605) Widerstand (S. 602)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Soziale Kognition und Beziehungen 16.1.1 16.1.2 16.1.3 16.1.4 16.1.5
..................... Die Ursprünge der Attributionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der fundamentale Attributionsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Self-serving Bias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungen und Self-fulfilling Prophecies . . . . . . . . . . . . . . . Erwartungsbestätigendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16.2 Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4
.... Einstellungen und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persuasionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persuasion durch eigene Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Compliance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16.3 Vorurteile
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............................................... 16.3.1 Die Ursprünge von Vorurteilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
653 653
Kritisches Denken im Alltag: Funktionieren eigentlich Fernsehwerbespots im Nachtprogramm? . . . . . . . .
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16.3.2 Die Effekte von Stereotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3.3 Das Auflösen von Vorurteilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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16.4 Soziale Beziehungen
..................................... 16.4.1 Zuneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4.2 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Können dauerhafte Beziehungen über das Internet geschlossen werden? . . .
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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............................................
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.............................................
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Ü B E R B L I C K
16.1 Die Konstruktion der sozialen Realität
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S o zia l e K o gn i t i on u n d Bezi eh u n ge n
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tellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie alles getan haben, um rechtzeitig zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen, aber alles schief gelaufen ist. In der Nacht ist der Strom ausgefallen, so dass der Wecker Sie nicht geweckt hat. Der Freund, der Sie im Auto mitnehmen wollte, hatte eine Reifenpanne. Als Sie dann Geld für ein Taxi abheben wollten, hat der Geldautomat Ihre Karte einbehalten. Als Sie schließlich im Büro eintreffen, wissen Sie schon, was der Personalchef denkt: „Warum sollte ich jemandem einen Job geben, der so unzuverlässig ist?“ Sie möchten am liebsten protestieren: „Ich kann nichts dafür, es lag an den Umständen!“ Wenn Sie dieses Szenario durchdenken, betreten Sie die Welt der Sozialpsychologie – jenes Bereichs der Psychologie, der untersucht, wie Menschen soziale Situationen schaffen und interpretieren. Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit der Art und Weise, in der Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, Motive und Verhaltensweisen durch Interaktionen und Transaktionen zwischen Menschen beeinflusst werden. Sozialpsychologen versuchen, das Verhalten im sozialen Kontext zu verstehen. Der soziale Kontext ist die vibrierende Leinwand, auf welche die Bewegungen, Stärken und Schwächen des sozialen Tieres aufgetragen werden. Unter einer breiten Definition des sozialen Kontextes schließt dieser die reale, imaginäre und symbolische Präsenz anderer Menschen ein; die Aktivitäten und Interaktionen, die zwischen Menschen stattfinden; die Merkmale der Umgebungen, in denen Verhalten auftritt; und die Erwartungen und Normen, die das Verhalten in einer gegebenen Umgebung lenken (Sherif, 1981). In diesem und dem folgenden Kapitel beschäftigen wir uns mit einigen Hauptthemen der sozialpsychologischen Forschung. In einem Großteil dieses Kapitels konzentrieren wir uns auf die soziale Kognition, den Prozess, vermittels dessen soziale Informationen ausgewählt, interpretiert und erinnert werden. Wir untersuchen die unterschiedlichen Arten, wie Menschen soziale Realität konstruieren, und die Art und Weise, in der Einstellungen gebildet und verändert werden. Anschließend betrachten wir Fälle von Vorurteilen, in denen Überzeugungen und Einstellungen negative Konsequenzen für soziale Interaktionen haben. Zum Schluss betrachten wir die Beziehungstypen Mögen und Lieben. Im ganzen Verlauf dieses Kapitels werden wir aufzeigen, wie Sie Forschung aus der Sozialpsychologie unmittelbar auf Ihr Leben anwenden können. Wie Sie in Kapitel 17 sehen werden, erweitern wir unsere Analyse der Relevanz der Sozialpsychologie jenseits der persönlichen Belange auf die der Ge-
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sellschaft. In beiden Kapiteln werden wir abstrakte Theorie dem harten Praxistest aussetzen, wenn wir versuchen, die folgende Frage zu beantworten: Hat psychologisches Wissen Auswirkungen auf das tägliche Leben von Personen und der Gesellschaft?
Die Konstruktion der sozialen Realität
16.1
Als Einleitung dieses Kapitels haben wir Sie gebeten, sich alles vorzustellen, was vor einem Vorstellungsgespräch nur schiefgehen kann. Wenn Sie schließlich im Büro des Personalchefs eintreffen, haben Sie sehr verschiedene Interpretationen desselben Ereignisses. Sie wissen, dass Sie ein Opfer der Umstände geworden sind. Zumindest auf kurze Sicht wird der Personalchef Sie jedoch nur nach dem beurteilen, was offensichtlich scheint: Sie kommen zu spät und sind völlig abgehetzt. Das ist gemeint, wenn von der sozialen Konstruktion der Realität die Rede ist. Der Personalchef betrachtet die Indizien, die Sie präsentieren und interpretiert die Situation. Wenn Sie am Job weiterhin interessiert sind, müssen Sie ihn dazu bringen, die Situation anders zu interpretieren. Betrachten wir ein klassisches sozialpsychologisches Beispiel, in welchem die Überzeugungen von Menschen sie dazu brachten, dieselbe Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen bezüglich dessen, was „wirklich passiert ist“, zu gelangen. Die Studie befasste sich mit einem Footballspiel zwischen zwei Universitätsmannschaften. Das bisher ungeschlagene Team aus Princeton spielte im Finale der Saison gegen Dartmouth. Das Spiel, das Princeton gewann, war hart, voller Fouls und ernsthaften Verletzungen auf beiden Seiten. Nach dem Spiel konnte man in den Zeitungen der jeweiligen Universitäten sehr unterschiedliche Berichte über die Ereignisse lesen.
AUS DER FORSCHUNG Eine Gruppe von Sozialpsychologen, die von den unterschiedlichen Wahrnehmungen fasziniert war, befragte Studierende beider Universitäten, zeigte ihnen einen Film des Spiels und zeichnete ihre Urteile über die Anzahl von Regelbrüchen auf, die jedes Team begangen hatte. Nahezu alle Studierenden aus Princeton bezeichneten das Spiel als „hart und gemein“, niemand hielt es für „sauber und fair“ und die meisten glaubten, dass die Spieler aus
16.1 Die Konstruktion der sozialen Realität
Dartmouth mit dem unfairen Spiel angefangen hatten. Im Gegensatz dazu glaubte die Mehrheit der Studierenden aus Dartmouth, dass beide Seiten gleichermaßen für das raue Spiel verantwortlich gewesen seien und viele hielten es für „hart, sauber und fair“. Des Weiteren „sahen“ die Studierenden aus Princeton in dem Film vom Spiel, wie das Team aus Dartmouth doppelt so viele Fouls beging wie ihr eigenes Team. Die Studierenden aus Dartmouth „sahen“ bei Betrachtung desselben Films, wie beide Seiten die gleiche Anzahl an Fouls begingen (Hastorf & Cantril, 1954).
Diese Studie macht deutlich, dass ein komplexes soziales Ereignis wie beispielsweise ein Footballspiel nicht in objektiver, unvoreingenommener Weise beobachtet werden kann. Soziale Situationen werden bedeutsam, wenn die Beobachter das Geschehene selektiv enkodieren im Hinblick auf das, was sie zu sehen erwarten und sehen wollen. Im Fall dieses Footballspiels sahen die Personen dieselbe Aktivität, sie nahmen jedoch zwei unterschiedliche Spiele wahr. Die Erklärung dafür, weshalb die Fans aus Dartmouth und Princeton zu so unterschiedlichen Interpretationen des Footballspiels kamen, bringt uns wieder zurück in den Bereich der Wahrnehmung. Wie Sie sich aus Kapitel 4 noch erinnern werden, muss man oft Vorwissen einsetzen, um mehrdeutige Wahrnehmungsobjekte zu interpretieren. Das Prinzip ist im Falle des Footballspiels das gleiche – Menschen nutzen ihr Vorwissen zur Interpretation aktueller Ereignisse –, aber die Objekte der perzeptuellen Verarbeitung sind Menschen und Situationen. Soziale Wahrnehmung ist der Prozess, durch den Menschen das Verhalten anderer verstehen und kategorisieren. In diesem Abschnitt werden wir uns hauptsächlich auf zwei Aspekte der sozialen Wahrnehmung konzentrieren. Zuerst befassen wir uns damit, wie Menschen Urteile darüber fällen, welche Kräfte das Verhalten anderer beeinflussen,
Warum nehmen Fans, die ihr Lieblingsteam spielen sehen, beim gegnerischen Team wahrscheinlich mehr unfaires Verhalten wahr?
die so genannten Kausalattributionen. Danach befassen wir uns damit, wie Prozesse der sozialen Wahrnehmung manchmal dafür sorgen können, dass sich die Welt unseren Erwartungen gemäß verhält.
16.1.1 Die Ursprünge der Attributionstheorie Zu den wichtigsten Schlussfolgerungsaufgaben, welchen sich jeder sozial Wahrnehmende gegenübersieht, zählt die Bestimmung der Ursachen von Ereignissen. Wir wollen die Antworten auf die Warum-Fragen des Lebens wissen. Warum hat meine Freundin mit mir Schluss gemacht? Warum hat er die Stelle bekommen und nicht ich? Warum haben sich meine Eltern nach so vielen Ehejahren scheiden lassen? Alle diese Warum-Fragen führen zu einer Analyse der möglichen kausalen Determinanten für eine bestimmte Handlung, ein Ereignis oder ein Ergebnis. Die Attributionstheorie ist ein allgemeiner Ansatz zur Beschreibung der Art und Weise, in der ein sozial Wahrnehmender Informationen nutzt, um kausale Erklärungen zu generieren. Die Attributionstheorie hat ihren Ursprung in den Schriften von Fritz Heider (1958). Heider argumentierte, dass Menschen ständig kausale Analysen als Teil ihrer Versuche, die soziale Welt allgemein zu verstehen, erstellen. Er schlug vor, dass alle Menschen intuitive Psychologen sind, die versuchen herauszufinden, wie Menschen sind und was ihr Verhalten verursacht, genauso wie dies auch professionelle Psychologen tun. Heider glaubte, dass zwei Fragen die meisten Attributionsanalysen beherrschen: zum einen die Frage danach, ob die Ursache des Verhaltens in der Person (internale oder dispositionale Kausalität) oder in der Situation (externale oder situative Kausalität) liegt, zum anderen die Frage danach, wer verantwortlich für das Ergebnis ist. Wie fällen Menschen hier ein Urteil? Harold Kelley (1967) formalisierte Heiders Gedankengang durch die Spezifikation der Variablen, die Menschen für ihre Attributionen verwenden. Kelley machte die wichtige Beobachtung, dass Menschen am häufigsten unter Bedingungen der Unsicherheit Kausalattributionen für Ereignisse vornehmen. Sie haben selten, wenn überhaupt jemals, ausreichende Informationen, um sicher zu wissen, was jemanden veranlasst hat, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Kelley glaubte, dass Menschen mit der Unsicherheit ringen, indem sie Informationen von verschiedenen Ereignissen akkumulieren und das Kovariationsprinzip anwenden. Das Kovariationsprinzip besagt, dass man ein Verhalten auf einen Kausalfaktor attribuieren
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sollte, wenn dieser Faktor immer dann gegeben war, wenn das Verhalten aufgetreten ist, aber nicht gegeben war, wenn das Verhalten nicht aufgetreten ist. Angenommen, Sie gehen beispielsweise die Straße entlang und sehen einen Freund, der auf ein Pferd zeigt und schreit. Welche Belege würden Sie sammeln, um festzustellen, ob Ihr Freund verrückt ist (eine dispositionale Attribution) oder ob Gefahr droht (eine situative Attribution)? Kelley schlug vor, dass Menschen diese Urteile fällen, indem sie die Kovariation in Bezug auf die drei Dimensionen der Information erfassen, welche für die Person relevant sind, deren Verhalten sie zu erklären versuchen. Die drei Dimensionen sind: Distinktheit, Konsistenz und Konsens. Distinktheit bezieht sich darauf, ob das Verhalten spezifisch für eine bestimmte Situation ist – schreit Ihr Freund jedes Mal, wenn er ein Pferd sieht? Konsistenz bezieht sich darauf, ob das Verhalten wiederholt als Reaktion auf diese Situation auftritt – hat Ihr Freund in der Vergangenheit beim Anblick dieses Pferdes geschrien? Konsens bezieht sich darauf, ob andere Menschen in der gleichen Situation das gleiche Verhalten zeigen – zeigen und schreien alle? Jede der drei Dimensionen spielt eine Rolle für Ihre Schlussfolgerungen. Angenommen, Ihr Freund wäre beispielsweise der Einzige, der schreit. Würden Sie dann mit größerer Wahrscheinlichkeit eine dispositionale oder eine situative Attribution vornehmen? Tausende von Studien wurden durchgeführt, um die Attributionstheorie über die solide Basis, die Heider und Kelley bereitgestellt hatten, hinaus zu verfeinern und zu erweitern (Försterling, 2001; Moskowitz, 2004). Viele dieser Studien haben sich mit den Bedingungen befasst, unter welchen die Attributionen von einer systematischen Suche nach verfügbaren Informationen abweichen. Wir werden vier Arten von Umständen beschreiben, unter welchen sich Verzerrungen (bias) in Ihre Attributionen einschleichen können.
16.1.2 Der fundamentale Attributionsfehler Angenommen, Sie haben sich mit einem Freund für 19.00 Uhr verabredet. Jetzt ist es 19.30 Uhr und Ihr Freund ist immer noch nicht gekommen. Wie könnten Sie sich dieses Ereignis erklären?
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Ich bin sicher, dass etwas wirklich Wichtiges passiert ist und er daher nicht rechtzeitig hier sein kann. Was für ein Depp! Könnte er sich nicht ein wenig mehr anstrengen, pünktlich zu sein? Wir haben Ihnen die Wahl zwischen einer situativen und einer dispositionalen Attribution gelassen. Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen im Durchschnitt mit größerer Wahrscheinlichkeit die zweite Möglichkeit, die dispositionale Erklärung wählen (Ross & Nisbett, 1991). Diese Tendenz ist in der Tat so stark, dass der Sozialpsychologe Lee Ross (1977) sie als den fundamentalen Attributionsfehler bezeichnete. Der fundamentale Attributionsfehler steht für die gleichzeitige Tendenz bei Menschen, dispositionale Faktoren überzubewerten (Menschen verantwortlich machen) und situative Faktoren unterzubewerten (die Umwelt verantwortlich machen), wenn sie nach der Ursache für ein Verhalten oder Ergebnis suchen. Betrachten wir ein Laborbeispiel für den fundamentalen Attributionsfehler. Ross und seine Kollegen (1977) entwickelten ein experimentelles Quiz mit besonderen Regeln: Jeder der Teilnehmer wurde anhand eines Münzwurfs entweder zum Fragensteller oder zum Kandidaten. Nach dem Münzwurf hörten sich sowohl die künftigen Abfragenden als auch die Kandidaten die Instruktion an. Die Fragensteller wurden aufgefordert, schwierige Fragen zu stellen, auf die sie selbst die Antworten wussten. Die Kandidaten versuchten, oft erfolglos, die Fragen zu beantworten. Am Ende der Sitzung bewerteten der Fragensteller, der Kandidat und Beobachter (andere Teilnehmer, die bei dem Spiel zugesehen hatten) das Allgemeinwissen von Fragensteller und Kandidat. Die Ergebnisse sind in Abbildung 16.1 dargestellt. Wie Sie sehen können, glauben die Fragensteller scheinbar, dass sowohl sie als auch der Kandidat über durchschnittliches Allgemeinwissen verfügen. Sowohl Kandidaten als auch Beobachter sind jedoch der Ansicht, der Fragensteller habe ein viel größeres Allgemeinwissen als der Kandidat – und die Kandidaten beurteilten sich selbst sogar als leicht unterdurchschnittlich. Ist dies fair? Es sollte klar sein, dass die Situation dem Fragensteller einen großen Vorteil verschafft. (Wären Sie nicht auch lieber die Person, welche die Fragen stellen darf?) Die Bewertungen der Kandidaten und der Beobachter ignorierten die Art und Weise, in der die Situation eine Person klug und eine andere dumm erscheinen lassen kann. Dies ist der fundamentale Attributionsfehler. Sie sollten ständig nach Fällen Ausschau halten, in denen ein fundamentaler Attributionsfehler vorliegt.
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Abbildung 16.1: Bewertungen des Allgemeinwissens von Fragenstellern und Kandidaten. Nach dem Quiz bewerteten Fragensteller, Kandidaten und Beobachter das Allgemeinwissen jedes Teilnehmers im Vergleich zu einem Wert von 50 für den durchschnittlichen Studierenden. Die Fragensteller hielten sowohl sich als auch die Kandidaten für durchschnittlich. Sowohl die Kandidaten als auch die Beobachter waren jedoch der Ansicht, der Fragensteller verfüge über weitaus mehr Allgemeinwissen als der Kandidat. Darüber hinaus bewerteten sich Kandidaten selbst als leicht unterdurchschnittlich.
Möglicherweise ist dies nicht immer leicht: Es erfordert oft ein wenig „Forschung“, um die situativen Wurzeln des Verhaltens zu entdecken. Situative Kräfte sind oft unsichtbar. Sie können beispielsweise soziale Normen nicht sehen: Sie sehen nur die hervorgebrachten Verhaltensweisen. Was können Sie tun, um den fundamentalen Attributionsfehler zu vermeiden? Besonders in Situationen, in denen Sie eine negative dispositionale Attribution vornehmen („Was für ein Depp!“), sollten Sie einen Moment innehalten und sich fragen: Könnte es irgendetwas an der Situation sein, das dieses Verhalten auslöst? Sie können diese Übung als „barmherzige Attribution“ verstehen. Verstehen Sie, weshalb? Dieser Rat ist insbesondere für jene von uns relevant, die in einer westlichen Gesellschaft leben, da es Belege gibt, dass der fundamentale Attributionsfehler teilweise kulturelle Quellen hat (Miller, 1984). Erinnern Sie sich noch an die Diskussion über kulturelle Konstruktionen des Selbst in Kapitel 13? Wie wir dort erklärt haben, herrscht in den meisten westlichen Kulturen ein independentes Verständnis des Selbst vor, wohingegen in den meisten östlichen Kulturen ein interdependentes Verständnis des Selbst vorherrscht (Markus & Kitayama, 1991). Forschungsergebnisse zeigen, dass Mitglieder nichtwestlicher Kulturen sich infolge der Kultur der Interdependenz mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf einzelne Handelnde in Situa-
tionen konzentrieren. Betrachten wir, wie sich dieser kulturelle Unterschied in der Berichterstattung über Nachrichtenereignisse auswirkt.
AUS DER FORSCHUNG Forscher wählten Artikel aus amerikanischen Zeitungen (New York Times) und japanischen Zeitungen (Asahi Shimbun) aus, die über Finanzskandale wie den Zusammenbruch der ältesten Bank Englands, Barrings, im Jahr 1995 berichteten. Ein Forschungsassistent, dem der Zweck der Studie nicht bekannt war, las jeden Artikel, um Exzerpte herauszusuchen, in welchen Kausalattributionen angeboten wurden. Zwei weitere Forschungsassistenten, denen der Zweck der Studie ebenfalls unbekannt war, beurteilten dann jedes Exzerpt daraufhin, ob es eine dispositionale Erklärung – eine, in der einem Individuum die Schuld gegeben wurde – oder eine situative Erklärung – eine, in der einer Organisation die Schuld gegeben wurde – anbot. Die Attributionsmuster in den beiden Mengen von Artikeln waren verblüffend unterschiedlich. Amerikanische Autoren neigten stärker zu dispositionalen Attributionen, wohingegen japanische Autoren stärker situative Attributionen vornahmen (Menon et al., 1999).
Beeindruckend an dieser Studie ist, dass sie die kulturellen Attributionsstile so erfasst, wie sie in Zeitungsartikeln verwendet werden. Diese Studie zeigt einen
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Weg auf, auf dem ein kultureller Attributionsstil bei all jenen weitergegeben und aufrechterhalten wird, die innerhalb einer bestimmten Kultur mit den Medien in Berührung kommen.
16.1.3 Self-serving Bias Einer der überraschendsten Befunde aus der Studie zu dem Quiz mit Münzwurf war die negative Bewertung, mit der Kandidaten ihre eigenen Fähigkeiten versahen. Dies legt nahe, dass Menschen den fundamentalen Attributionsfehler sogar zu ihrem Nachteil begehen. (Tatsächlich sollten Sie sich aus Kapitel 14 daran erinnern, dass eine Theorie zu den Ursprüngen der Depression nahelegt, dass Menschen zu viele negative Attributionen auf sich selbst statt auf situative Gründe vornehmen.) Bei vielen Gelegenheiten tun Menschen jedoch genau das Gegenteil – sie attribuieren falsch, aber selbstwertdienlich. Ein Self-serving Bias (Verzerrung zugunsten der eigenen Person) bringt Menschen dazu, Anerkennung für ihre Erfolge anzunehmen und gleichzeitig die Verantwortung für Misserfolge abzuleugnen oder zu versuchen, den Misserfolg anderweitig zu erklären. Menschen neigen in vielen Situationen dazu, dispositionale Attributionen für Erfolge und situative Attributionen für Misserfolge vorzunehmen (Gilovich, 1991): „Ich habe den Preis aufgrund meiner Fähigkeiten erhalten“; „Ich haben den Wettbewerb verloren, weil er manipuliert wurde“. Sie sollten in anderen Lebensbereichen, in denen Sie Urteile über Ihre eigene Leistung fällen, nach Selfserving Bias suchen. Nehmen wir einmal Ihr Verhalten in einem Seminar. Wenn Sie eine Eins bekommen, welche Attribution nehmen Sie vor? Wie steht es, wenn Sie eine Drei bekommen? Forschungsergebnisse haben die Neigung der Studierenden belegt, gute Noten auf ihre eigene Anstrengung und schlechte Noten auf externe Faktoren zu attribuieren (McAllister, 1996). Sogar bei Professoren zeigt sich das gleiche Muster – sie attribuieren die Erfolge ihrer Studierenden auf sich selbst, die Misserfolge nicht. Noch mal: Ist Ihnen klar, welchen Einfluss dieses Attributionsmuster auf Ihren Notendurchschnitt haben könnte? Wenn Sie nicht ausreichend über die externen Ursachen ihrer Erfolge nachdenken (beispielsweise „Diese Prüfung war leicht“), lernen Sie beim nächsten Mal vielleicht nicht genug; wenn Sie nicht über die dispositionalen Ursachen Ihrer Misserfolge nachdenken (beispielsweise „Ich hätte nicht so lange auf der Party bleiben sollen“), kommen Sie vielleicht auch nie dazu, genug für eine Prüfung zu lernen. Wir haben zuvor
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betont, dass Sie sich bemühen sollten, den fundamentalen Attributionsfehler zu vermeiden, wenn Sie über das Verhalten anderer nachdenken. In ähnlicher Weise sollten Sie Ihre Attributionen des eigenen Verhaltens überprüfen, um Self-serving Bias (und das Gegenteil: eine Verzerrung zu Ihren Ungunsten) zu vermeiden. Menschen zeigen auch dann Self-serving Bias, wenn sie Mitglieder in Gruppen sind: Sie attribuieren den Erfolg der Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit auf sich selbst, den Misserfolg auf andere Gruppenmitglieder. Erfreulicherweise kann Freundschaft diese Effekte begrenzen.
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer an einem Experiment sollten eine Aufgabe zur Messung der Kreativität bearbeiten, entweder zusammen mit einem Freund oder mit einem Fremden. Nach Beendigung der Aufgabe erhielt jeder Teilnehmer Rückmeldung über den Erfolg, den seine oder ihre Gruppe in Bezug auf eine große Normstichprobe erzielt hatte. Unabhängig von der tatsächlichen Leistung erhielt die Hälfte der Teilnehmer eine Erfolgsrückmeldung (ihnen wurde gesagt, ihre Leistung sei besser als die von 93 Prozent der Normstichprobe); die andere Hälfte erhielt eine Misserfolgsrückmeldung (ihnen wurde gesagt, ihre Leistung sei schlechter als die von 69 Prozent der Normstichprobe). Alle Teilnehmer sollten dann auf einer Skala von 1 (der andere Teilnehmer) bis 10 (ich selbst) angeben, wer ihrer Meinung nach mehr Verantwortung für das Testergebnis trug. Wie man Abbildung 16.2 entnehmen kann, attribuierten Teilnehmer, die zusammen mit einem Fremden die Aufgabe bearbeiteten, die Erfolge mehr auf sich selbst als die Misserfolge (Campbell et al., 2000). Wenn die Teilnehmer jedoch mit ihren Freunden als Partnern zusammengearbeitet hatten, waren ihre Attributionen bei Erfolg und Misserfolg ausgeglichener.
Wenn Sie das nächste Mal an einer Gruppenaktivität teilnehmen, dann versuchen Sie doch einmal zu beobachten, wie dieses Experiment auf die Art und Weise anwendbar ist, in der Sie Verantwortung auf die unterschiedlichen Gruppenmitglieder attribuieren. Warum ist es so wichtig, welche Attributionen Sie vornehmen? Erinnern wir uns an das Beispiel mit dem unpünktlichen Freund. Nehmen wir an, Sie suchen keine Informationen über die Situation und beschließen, dass er nicht wirklich daran interessiert ist, Ihr Freund zu sein. Kann diese falsche Überzeugung dazu führen, dass die Person in Zukunft unfreundlich zu Ihnen ist? Um diese Frage zu beantworten, befassen wir uns jetzt mit der Macht der Überzeugungen und Erwartungen bei der Konstruktion der sozialen Realität.
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Rckmeldung
Attribution auf die eigene Person
Erfolg 6.5
Misserfolg
6 5.5 5 4.5 4
Freunde
Fremde Beziehung
Abbildung 16.2: Attributionsmuster auf Freunde und Fremde. Die Teilnehmer eines Experiments sollten einschätzen, wer für die Erfolge und Misserfolge der Gruppe verantwortlich war. Bei der Zusammenarbeit mit Fremden zeigten die Teilnehmer ein Muster des Self-serving Bias: Sie machten sich selbst mehr verantwortlich, wenn die Gruppe Erfolg hatte, und weniger verantwortlich, wenn sie Misserfolg hatte. Die Bewertungen waren ausgeglichener, wenn Freunde die Partner der Teilnehmer waren.
16.1.4 Erwartungen und Self-fulfilling Prophecies Können Überzeugungen und Erwartungen Auswirkungen jenseits der Beeinflussung Ihrer Interpretation von Erfahrungen haben und die soziale Realität tatsächlich formen? Umfangreiche Forschungsarbeiten legen nahe, dass die Beschaffenheit mancher Situationen beträchtlich durch die Überzeugungen und Erwartungen verändert werden kann, die Menschen bezüglich dieser Situationen haben. Self-fulfilling prophecies (selbsterfüllende Prophezeiungen, Merton, 1957) sind Vorhersagen über ein zukünftiges Verhalten oder Ereignis, welche die Interaktionen auf Verhaltensebene so verändern, dass sie das Erwartete produzieren. Angenommen, Sie gehen zu einer Party und rechnen damit, Spaß zu haben. Angenommen, ein Freund geht dort hin und rechnet damit, dass die Party langweilig wird. Können Sie sich die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Ihnen beiden aufgrund der unterschiedlichen Erwartungen vorstellen? Diese unterschiedlichen Verhaltensweisen können wiederum das Verhalten beeinflussen, das andere Partygäste Ihnen gegenüber zeigen. Wer von Ihnen beiden wird in einem solchen Fall wohl mehr Spaß auf der Party haben?
Inwieweit erhöhen Self-fulfilling Prophecies die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Alkohol zu sich nehmen? Eine der eindrucksvollsten Demonstrationen von Selffulfilling Prophecies basiert auf einem Bühnenstück von George Bernhard Shaw. In Shaws Pygmalion (bekannter in der Musicalfassung My Fair Lady) wird ein obdachloses Mädchen von der Straße durch intensives Training mit ihrem Lehrer, Professor Henry Higgins, zu einer vornehmen Dame der Gesellschaft. Der Effekt der sozialen Erwartungen, der auch als Pygmalion-Effekt bekannt ist, wurde in einem klassischen Experiment durch den Psychologen Robert Rosenthal in Zusammenarbeit mit der Schulrektorin Leonore Jacobson neu geschaffen.
AUS DER FORSCHUNG Grundschullehrer aus Boston wurden von Forschern informiert, dass eine Testung ergeben hatte, dass einige ihrer Schüler „schulische Spurter“ seien. Die Lehrer wurden glauben gemacht, dass diese besonderen Schüler „intellektuelle Blüher“ seien, die „während dieses Schuljahrs ungewöhnliche Fortschritte zeigen werden“. Tatsächlich gab es keine objektive Grundlage für diese Vorhersage; die Namen dieser „Blüher“ waren per Zufall ausgewählt worden. Gegen Ende des Schuljahres hatten jedoch 30 Prozent der willkürlich als Blüher bezeichneten Kinder im Durchschnitt 22 IQ-Punkte mehr! Fast alle von ihnen hatten mindestens 10 IQ-Punkte mehr. Der Zugewinn in der intellektuellen Leistung, gemessen anhand eines gewöhnlichen Intelligenztestes, war signifikant höher als der einer Kontrollgruppe von Klassenkameraden, die mit dem gleichen durchschnittlichen IQ angefangen hatten (Rosenthal & Jacobson, 1968).
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Wie wurden die falschen Erwartungen der Lehrer in eine so positive Leistung der Schüler transferiert? Rosenthal (1974) weist auf mindestens vier Prozesse hin, die durch die Erwartungen der Lehrer in Gang gesetzt wurden. Erstens verhielten sich die Lehrer den „Spätblühern“ gegenüber warmherziger und freundlicher, was ein Klima der sozialen Wertschätzung und Akzeptanz schuf. Zweitens stellten sie an jene, von welchen sie sich viel erhofften, auch höhere Anforderungen – sowohl im Hinblick auf die Qualität als auch auf die Schwierigkeit des zu lernenden Materials. Drittens gaben sie unmittelbarere und klarere Rückmeldungen (sowohl Lob als auch Kritik) zur Leistung der ausgewählten Schüler. Viertens schufen die Lehrer für die besonderen Schüler mehr Möglichkeiten zur Beteiligung am Unterricht, zum Vorzeigen der eigenen Arbeiten und zur Verstärkung. Dadurch erhielten die Schüler handfeste Belege dafür, dass sie wirklich so gut waren, wie die Lehrer annahmen. Das Ungewöhnliche an der Situation in diesem Bostoner Klassenzimmer ist natürlich die Tatsache, dass bei den Lehrern absichtlich falsche Erwartungen geweckt wurden. Durch diese Methode konnten Rosenthal und Jacobson das volle Potenzial von Self-fulfilling Prophecies aufzeigen. In den meisten Situationen in der wirklichen Welt basieren Erwartungen jedoch auf recht genauen sozialen Wahrnehmungen (Jussim & Harber, 2005). Lehrer gehen beispielsweise davon aus, dass bestimmte Schüler gute Leistungen zeigen werden, weil diese Schüler mit besseren Qualifikationen ins Klassenzimmer kommen; und diese Schüler zeigen üblicherweise auch die beste Leistung. Die Forschung lässt vermuten, dass Self-fulfilling Prophecies den größten Effekt auf das Leben von Schülern mit schlechten Leistungen haben (Madon et al., 1997). Wenn die Lehrer erwarten, dass sie schlecht sind, dann sind diese Schüler unter Umständen sogar noch schlechter; wenn die Lehrer erwarten, dass sie gut sind, kann diese Erwartung das schulische Leben dieser Kinder umdrehen. Ein Großteil der Forschung über Self-fulfilling Prophecies konzentriert sich auf schulischen Erfolg. Allerdings haben Forscher auch in anderen Bereichen Hinweise gefunden, dass falsche Annahmen und Erwartungen einen Einfluss darauf haben können, was tatsächlich passiert. Zum Beispiel hat die Forschung ergeben, dass eine Überschätzung des zukünftigen Alkoholkonsums ihrer minderjährigen Kinder durch die Eltern zur Self-fulfilling Prophecy werden kann (Madon et al., 2004). Der Einfluss der elterlichen Annahmen war dann am größten, wenn beide Elternteile den zukünftigen Alkoholkonsum ihrer Kinder überschätzten.
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Beim Betrachten dieser Studien über Self-fulfilling Prophecies wundern Sie sich vielleicht, welche Verhaltensweisen von Müttern und Lehrern eigentlich ihre Fehlerwartungen in Erfüllung gehen lassen. Betrachten wir also, wie die Verhaltensweise eines Menschen die Konstruktion der sozialen Realität beeinflussen kann.
16.1.5 Erwartungsbestätigendes Verhalten Kommen wir noch einmal auf das Bostoner Klassenzimmer zurück. Wir haben schon festgehalten, dass die Lehrer eine Reihe von Verhaltensweisen zeigten, die es ihnen langfristig erlaubten, ihre Erwartungen zu bestätigen. Mark Snyder (1984; Klein & Snyder, 2003) führte den Begriff erwartungsbestätigendes Verhalten für den Prozess ein, durch den die Erwartungen einer Person über eine andere Person diese zu einem solchen Verhalten veranlassen, dass die ursprüngliche Hypothese bestätigt wird. Angenommen, Sie sollten gleich jemanden interviewen und man sagte Ihnen, dass die Person schüchtern oder introvertiert sei. Welche dieser Fragen würden Sie stellen wollen (Snyder & Swann, 1978)? Was würden Sie tun, wenn Sie auf einer Party für Stimmung sorgen wollten? In welchen Situationen wünschen Sie sich, kontaktfreudiger zu sein? Welche Faktoren machen es schwierig für Sie, sich anderen Menschen zu öffnen? In welchen Situationen sind Sie besonders gesprächig? Angenommen, Sie hätten die zweite Frage gewählt – wie das viele Versuchsteilnehmer taten, wenn sie glaubten, sie würden mit einer introvertierten Person sprechen. Ist es nicht wahrscheinlich, dass sogar eine sehr extravertierte Person eine vernünftige Antwort auf diese Frage geben könnte? Insofern führt eine Erwartung – „Ich werde mit jemandem sprechen, der introvertiert ist“ – zur Wahl einer Verhaltensweise – „Ich werde eine Frage von der Art stellen, die man introvertierten Menschen stellt“ –, die zu einer Bestätigung der Erwartung führt – „Wenn er diese Frage beantworten konnte, dann ist er wohl wirklich introvertiert“. Wie wirksam sind die Kräfte von erwartungsbestätigendem Verhalten? Angenommen, Sie erfahren, dass jemand einen Eindruck von Ihnen gewonnen hat, der den Boden für eine Verhaltensbestätigung bereiten
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könnte. Unter welchen Voraussetzungen würden Sie sich Mühe geben, diesen Eindruck zu verändern? Betrachten wir eine Studie, die den Teilnehmern Informationen über den Eindruck Ihrer Partner gab.
AUS DER FORSCHUNG Forscher brachten Paare von Männern und Frauen ins Labor (Stukas & Snyder, 2001). Die Männer wurden zu Wahrnehmern (das heißt, sie erhielten Eindrucksinformationen) und die Frauen zu Zielen (das heißt, sie waren Ziel der Erwartungen). (Die Teilnehmer wussten nicht, dass ihnen diese Rollen zugewiesen worden waren.) Die Hälfte der Wahrnehmer wurde informiert, dass ihr Ziel introvertiert sei, die andere Hälfte, dass ihr Ziel extravertiert sei. Wir werden uns auf Fälle konzentrieren, bei denen die Wahrnehmer glauben gemacht wurden, ihr Ziel sei introvertiert. Die Teilnehmer hatten eine zehnminütige Unterhaltung über eine Gegensprechanlage. Nach dieser Interaktion berichteten sowohl Wahrnehmer als auch Ziele ihre Eindrücke von den Partnern. Einige Minuten später erhielten die Wahrnehmer Feedback darüber, was ihre Ziele von ihnen dachten, und sie wurden glauben gemacht, dass dieses Feedback echt sei. Tatsächlich wurde ihnen erzählt (in dem Teil des Experiments, auf den wir uns konzentrieren), dass ihre Partner sich für introvertiert hielten. Bei der Hälfte der Ziele beinhaltete dieser Bericht eine Situationsattribution: Der Wahrnehmer dachte, dass das Ziel sich nur wegen der Situation introvertiert verhalte. Bei der anderen Hälfte der Ziele beinhaltete der Bericht eine Dispositionsattribution: Der Wahrnehmer dachte, das Ziel sei im innersten Wesen introvertiert. An diesem Punkt führten die Teilnehmer dann ein zweites zehnminütiges Gespräch, diesmal von Angesicht zu Angesicht. Die bewertenden Psychologen hörten sich diese Unterhaltungen an und ordneten das Verhalten der Ziele auf Introvertiertheit und Extravertiertheit hin ein. Wie verhielten sich die Ziele, wenn Sie wussten, dass ihr Partner dachte, sie seien introvertiert? Bei einer Situationsattribution verhielten sich die Ziele mit größerer Wahrscheinlichkeit so, dass sie den Eindruck bestätigten: Sie waren zum Beispiel in Teilen der Unterhaltung schüchtern und passiv. Bei einer Dispositionsattribution allerdings verhielten sich die Ziele mit größerer Wahrscheinlichkeit so extravertiert, dass ihr lautes und offensives Verhalten sogar den Bewertenden grob erschien!
Dieses Ergebnis erinnert Sie vielleicht an unsere früheren Ausführungen über den fundamentalen Attributionsfehler. Wenn die Ziele von einer Dispositionsattribution wussten, die sie offenbar missbilligten, bemühten sie sich sehr um ein diese Attribution widerlegendes Verhalten. Das Ausmaß erwartungsbestätigenden Verhaltens hängt von den Motiven ab, welche die Zielperson im Hinblick auf die Interaktion besitzt. In einer anderen
Studie wurden männliche Beobachter glauben gemacht – man zeigte ihnen Fotografien –, dass die weiblichen Zielpersonen am anderen Ende der Telefonleitung entweder normalgewichtig oder fettleibig seien. In einigen Fällen wurden die Frauen (deren Körpergewicht nicht mit den Fotografien in Zusammenhang stand) gebeten, an dem Gespräch teilzunehmen, um Wissen über die Persönlichkeit des Mannes zu sammeln, mit dem sie sprachen. In anderen Fällen war das Ziel der Frauen, ein reibungsloses und angenehmes Gespräch mit dem Mann zu führen. Im Allgemeinen führte diese letztere Situation zu erwartungsbestätigendem Verhalten: Die Zielpersonen wurden so eingeschätzt, als hätten sie Verhaltensweisen gezeigt, die mit einem Stereotyp von Fettleibigkeit übereinstimmen (beispielsweise wurden sie als weniger gesellig und weniger glücklich eingeschätzt). Wenn die Zielpersonen jedoch motiviert waren, Wissen zu sammeln, dann fand man kein erwartungsbestätigendes Verhalten (Snyder & Haugen, 1995). Dieses Experiment lässt vermuten, dass der normale Impuls, reibungslose soziale Interaktionen anzustreben, es ermöglicht, dass Menschen die Welt entsprechend ihrer Überzeugungen und Einstellungen neu erschaffen, inklusive der Stereotype. Die in diesem Abschnitt dargestellten Forschungsergebnisse führen natürlich zu der Frage, wie Einstellungen und Erwartungen entstehen. In den besprochenen Experimenten wurde den Teilnehmern üblicherweise gesagt, was sie glauben sollten. Was geschieht jedoch im wirklichen Leben, wenn Sie von selbst zu einer Erwartung kommen? Im nächsten Abschnitt werden wir uns mit der Frage befassen, wie Einstellungen entstehen und verändert werden – und wir untersuchen die Verbindungen zwischen Überzeugungen, Einstellungen und Handlungen.
ZWISCHENBILANZ 1 Welche drei Dimensionen beeinflussen laut Harold Kel-
ley den Attributionsvorgang? 2 Warum könnten Self-serving Bias (Verzerrungen zu-
gunsten der eigenen Person) einen negativen Effekt auf den Notendurchschnitt von Studierenden haben? 3 Wie begrenzen normale Unterrichtsmethoden Self-ful-
filling Prophecies? 4 Was versteht man unter erwartungsbestätigendem
Verhalten? KRITISCHES DENKEN: Warum könnten sich die Forscher bei der Studie zu interkulturellen Unterschieden bei Attributionen für ein Szenario von Finanzskandalen entschieden haben?
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Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen
Affektiv. Welche Gefühle löst die Erwähnung von „Angelina Jolie“ aus?
16.2
Hatten Sie heute bereits Gelegenheit, einer Einstellung Ausdruck zu verleihen? Hat Sie vielleicht jemand gefragt „Was halten Sie von meinem T-Shirt?“ oder „War das Hühnchen gut?“. Eine Einstellung ist eine positive oder negative Bewertung von Menschen, Objekten und Vorstellungen. Sie haben vielleicht eine positive Einstellung gegenüber Mitarbeitern von Kindergärten, Rennwagen und Steuersenkungen und negative Einstellungen gegenüber Vertretern, moderner Kunst und Astrologie. Diese Definition von Einstellungen erlaubt, dass viele Ihrer Einstellungen nicht offen sichtbar sind; es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, dass Sie bestimmte Einstellungen haben. Einstellungen sind wichtig, weil Sie das Verhalten beeinflussen und die Art und Weise, in der Sie die soziale Realität konstruieren. Erinnern Sie sich an das Footballspiel zwischen Princeton und Dartmouth. Die Menschen, die zu Princeton hielten, „sahen“ ein anderes Spiel als jene, die Dartmouth den Vorzug gaben; die Attributionen von Ereignissen wurden in Übereinstimmung mit den jeweiligen Einstellungen vorgenommen. Was sind die Quellen Ihrer Einstellungen und wie wirken sie sich auf Ihr Verhalten aus?
Behavioral. Wie verhalten Sie sich, wenn Sie beispielsweise einen Film mit Angelina Jolie sehen könnten? Irgendeine Kombination aus diesen drei Arten von Informationen hat wahrscheinlich Ihre Hand geführt, als Sie die 3 angekreuzt haben (oder eine andere Zahl). Ihre Einstellungen generieren auch Reaktionen dieser drei Kategorien. Wenn Sie annehmen, Sie hätten eine leicht negative Einstellung zu Angelina Jolie, dann sagen Sie vielleicht „Sie ist keine ernsthafte Schauspielerin“ (kognitiv), „Zu Anfang ihrer Karriere sah sie besser aus“ (affektiv) oder „Nach Sky Captain and The World of Tomorrow“ werde ich erst die Filmkritiken abwarten“ (behavioral). Es ist nicht allzu schwer, eine Einstellung zu messen, die Frage ist vielmehr, ob diese Einstellung immer einen richtigen Hinweis darauf gibt, wie sich Menschen tatsächlich verhalten werden. Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass die Antwort auf diese Frage „Nein“ lautet. Menschen werden sagen, dass sie Angelina Jolie nicht mögen, aber trotzdem gutes Geld dafür ausgeben, sie in einem Film zu sehen. Gleichzeitig folgen die Verhaltensweisen von Menschen manchmal ihren Einstellungen: Sie sagen, dass sie nicht bereit sind, Geld auszugeben, um Angelina Jolie zu sehen, und sie tun es auch nicht. Wie kann man feststellen,
16.2.1 Einstellungen und Verhalten Wir haben Einstellungen bereits als positive oder negative Bewertungen definiert. Wir beginnen diesen Abschnitt damit, dass wir Ihnen Gelegenheit zu einer Bewertung geben. Wie sehr stimmen Sie folgender Aussage zu? (Kreuzen Sie die entsprechende Zahl an.)
Ich mag Filme, in denen Angelina Jolie die Hauptrolle spielt.
1——–—2———3——–—4———5———6———7———8———9 Trifft überhaupt nicht zu
Neutral
Trifft vollständig zu
Angenommen, Sie hätten die Zahl 3 angekreuzt – die Aussage trifft eher nicht zu. Worauf basiert dieses Urteil? Wir können drei Arten von Informationen identifizieren, die zu dieser Einstellung führen: Kognitiv. Welche Gedanken kommen Ihnen in Reaktion auf „Angelina Jolie“ in den Sinn?
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Wie beeinflusst Ihre Einstellung zu Angelina Jolie Ihre Bereitschaft, ihre Filme anzusehen?
16.2 Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen
wann eine Einstellung Verhalten vorhersagt oder nicht vorhersagt? Forscher haben sich große Mühe gegeben, diese Frage zu beantworten – die Umstände zu identifizieren, in denen die Verbindung zwischen den Einstellungen und dem Verhalten von Menschen am stärksten ist (Ajzen & Fishbein, 2005; Fazio & RoskosEwoldsen, 2005). Ein Merkmal von Einstellungen, das Verhalten vorhersagt, ist die Verfügbarkeit – die Stärke der Assoziation zwischen einem Einstellungsobjekt und der Bewertung dieses Objektes durch eine Person (Fazio, 1995). Als wir Sie zu Angelina Jolie befragt haben, konnten Sie sofort antworten oder mussten Sie ein wenig über die Frage nachdenken? Je schneller sich Ihnen eine Antwort aufdrängte, desto wahrscheinlicher wird Ihr Verhalten mit dieser Haltung übereinstimmen. Wie aber werden Einstellungen leicht verfügbar? Forschungsarbeiten legen nahe, dass Einstellungen dann leichter verfügbar sind, wenn sie auf unmittelbaren Erfahrungen beruhen: Sie werden eine leichter verfügbare Einstellung zu Angelina Jolies Filmen haben, wenn Sie einige schon selbst gesehen statt nur von ihnen gehört oder gelesen zu haben. Einstellungen sind auch dann leichter verfügbar, wenn sie öfter wiederholt wurden: Erwartungsgemäß ist eine Einstellung desto verfügbarer, je öfter Sie sie bereits ausformuliert haben (beispielsweise „Schokolade“ versus „Kiwis“). Wiederholt man bestimmte Einstellungen, werden sie einem zugänglicher, selbst dann, wenn man gelogen hat.
AUS DER FORSCHUNG Angenommen, jemand fragt Sie, was Sie von Angelina Jolie halten, und Sie entscheiden sich aus Höflichkeit für eine Lüge. Welchen Einfluss hat diese Lüge auf Ihre Haltung und auf Ihr nachfolgendes Verhalten? Forscher haben die Hypothese überprüft, dass eine Lüge, weil sie Ihre wahre Haltung verfügbarer macht, Ihr Verhalten tatsächlich eher mit Ihrer wahren Haltung in Übereinstimmung bringt (Johar & Sengupta, 2002). In der Studie sollten die Teilnehmer vier verschiedene Schokoriegel bewerten, die ihnen unbekannt waren – die Forscher importierten sie aus Kanada. Nachdem die Teilnehmer Informationen über jeden der Schokoriegel erhalten hatten, sollte eine Gruppe der Teilnehmer fünfmal ihre wahre Meinung über jede Marke angeben. Die Teilnehmer einer zweiten Gruppe sollten dagegen das Gegenteil ihrer wahren Meinung angeben – sie wurden gebeten, fünfmal zu lügen. Eine dritte Gruppe diente als Kontrollgruppe und drückte ihre Meinung gar nicht aus. Am Ende der Studie sollten die Teilnehmer denjenigen Schokoriegel auswählen, den sie am liebsten probieren wollten. Tabelle 16.1 zeigt die Korrelationen zwischen
den wahrheitsgetreuen Bewertungen durch die Teilnehmer und den Marken, die sie wählten. Wie Sie sehen, ist sowohl bei unwahren als auch bei wahrheitsgetreuen Meinungsäußerungen die Korrelation höher als in der Kontrollgruppe. Also hat das Lügen das Verhalten der Menschen eher mit dem in Übereinstimmung gebracht, was sie wirklich dachten, als mit dem, was sie sagten.
Tabelle 16.1
Verfügbarkeit verbessert die Korrelation zwischen Haltung und Verhalten Korrelation zwischen tatsächlicher Haltung und Verhaltenswahl Wahrheitsgemäßer Ausdruck der Einstellung
0,61
Nicht wahrheitsgemäßer Ausdruck der Einstellung
0,54
Kontrollgruppe
0,39
Jedes Mal, wenn die Teilnehmer eine Lüge vorbereiteten, mussten sie sich über ihre wahre Haltung klar werden. Dieser Prozess der Prüfung machte ihnen ihre wahre Einstellung verfügbarer. Einstellungen sind auch dann bessere Prädiktoren für das Verhalten, wenn die Einstellungen und die Verhaltensweisen auf demselben Grad an Spezifität gemessen werden. Betrachten Sie die Daten in Tabelle 16.2. In dieser Untersuchung versuchten die Forscher, die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, mit der Mitglieder einer Stichprobe aus ursprünglich 270 Frauen zwischen 18 und 38 Jahren die Pille zur Schwangerschaftsverhütung nehmen würden. Sie können Tabelle 16.2 entnehmen, dass die Korrelation zum tatsächlichen spezifischen Verhalten umso höher war, je spezifischer die Frauen zu ihren Einstellungen befragt wurden (Davidson & Jaccard, 1979). (Wie Sie sich erinnern werden, ist ein Korrelationszusammenhang umso stärker, je mehr sich der Korrelationskoeffizient den Werten 1 oder –1 annähert.) Das Konzept der Spezifität gilt auch für die spezifischen Exemplare, die Sie sich ins Gedächtnis rufen, wenn Sie eine Einstellung produzieren (Sia et al., 1997). Angenommen, Sie sollten der Aussage „Ich vertraue Politikern“ zustimmen oder sie ablehnen. Ihr Urteil hinge davon ab, welche Politiker Ihnen einfallen: Angela Merkel,
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Tabelle 16.2
Spezifität verbessert die Korrelation zwischen Einstellung und Verhalten Gemessene Einstellung
Korrelation mit dem Verhalten zur Empfängnisverhütung
Einstellung zur Empfängnisverhütung
0,08
Einstellung zur Pille
0,32
Einstellung zur Verwendung der Pille
0,52
Einstellung zur Verwendung der Pille in den nächsten zwei Jahren
0,57
Hinweis: Die Forscher versuchten die Wahrscheinlichkeit vorherzusagen, mit der Frauen in den nächsten zwei Jahren die Pille einsetzen würden. Je spezifischer die gestellte Frage war, desto höher war die Korrelation zum tatsächlichen Verhalten.
Vladimir Putin, George W. Bush? Wenn wir Ihnen in einer Woche dieselbe Frage stellen würden, könnte sich Ihr Urteil – Ihre Angabe zu Ihrer allgemeinen Einstellung – verändern, wenn Ihnen eine andere Gruppe von Politikern einfällt. Wenn Ihre Einstellungen auf unterschiedlichen Untermengen von Informationen beruhen, können sie sich im Laufe der Zeit radikal verändern: Als Sie Ihre Einstellung zu Angelina Jolie einschätzten, dachten Sie da an den Film Der gute Hirte, Mr. & Mrs. Smith oder Lara Croft: Tomb Raider? Nur wenn der „Beleg“ für Ihre Einstellung im Laufe der Zeit stabil bleibt, können wir damit rechnen, dass es eine enge Beziehung gibt zwischen Ihrer Bewertung (Gedanken) und dem, was Sie tun (Handlungen).
Warum könnte man aus der Reaktionsgeschwindigkeit, mit der Sie eine Einstellung ausdrücken, vorhersagen, für wen Sie stimmen werden?
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16.2.2 Persuasionsprozesse Wir haben soeben gesehen, dass Einstellungen unter geeigneten Umständen Verhalten vorhersagen können. Dies ist eine gute Nachricht für alle diejenigen, die Zeit und Geld aufwenden, um Ihre Einstellungen zu beeinflussen. Recht häufig können andere aber Ihre Einstellungen nicht beeinflussen, auch wenn sie gerne würden. Sie wechseln nicht jedes Mal die Zahnpasta, wenn Sie eine schicke neue Werbung mit jeder Menge Schauspielern mit schneeweißen Zähnen sehen; Sie ändern Ihre politische Überzeugung nicht jedes Mal, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin in die Kamera blickt und aufrichtig erklärt, dass er oder sie Ihre Stimme verdient. Viele Menschen in Ihrem Leben üben sich in der Kunst der Persuasion – bewusste Anstrengungen, Ihre Einstellungen zu ändern. Damit es zur Persuasion kommen kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Befassen wir uns mit einigen dieser Bedingungen. Zuerst möchten wir Sie mit dem Elaboration-Likelihood-Modell vertraut machen, einer Theorie der Persuasion, die definiert, wie wahrscheinlich es ist, dass Menschen ihre kognitiven Prozesse fokussieren, um eine persuasive Botschaft zu elaborieren (Petty et al., 2005). Das Modell trifft eine wichtige Unterscheidung zwischen zentralen und peripheren Routen der Persuasion. Die zentrale Route bezeichnet Umstände, unter denen Menschen sorgfältig über persuasive Kommunikation nachdenken, so dass eine Einstellungsänderung von der Stärke der Argumente abhängt. Dieses
16.2 Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen
morgens und eine um 19.00 Uhr abends. An jeder Sitzung nahmen sowohl die Morgen- als auch die Abendmenschen teil. Zu Beginn der Sitzung gaben die Teilnehmer Werte ihrer Einstellung (auf einer 9-Punkte-Skala) zu mehreren sozialen Fragen ab, darunter auch zur aktiven Sterbehilfe bei Todkranken. Danach lasen alle dieselbe Reihe von Überzeugungsaussagen, die gegen aktive Sterbehilfe plädierten. Zum Schluss listeten die Teilnehmer die Gedanken auf, die ihnen während des Lesens der Aussagen gekommen waren, und gaben ein zweites Mal Bewertungen zu ihren Einstellungen ab. Wenn die Sitzung zur optimalen Tageszeit der Teilnehmer stattfand, listeten sie mehr Gedanken auf, die sich auf die Überzeugungsaussagen bezogen. Außerdem zeigten, wie Abbildung 16.3 darstellt, die Probanden mehr Einstellungsänderungen in Richtung der Aussagen, wenn sie diese zur für sie optimalen Tageszeit lasen.
Morgens Einstellungssänderung
sorgfältige Nachdenken wird unter dem Begriff high elaboration gefasst. Wenn jemand Sie davon überzeugen will, dass ein Liter Benzin fünf Euro kosten sollte, dann werden Sie diese Information wahrscheinlich sorgfältig verarbeiten. Die periphere Route bezeichnet Umstände, unter denen Menschen sich nicht kritisch mit der Botschaft auseinander setzen, sondern auf oberflächliche Hinweisreize in der Situation reagieren. Wenn ein begehrenswertes Model vor dem Produkt platziert wird, von dem jemand möchte, dass Sie es kaufen, dann hofft der Verkäufer, dass Sie kritisches Nachdenken vermeiden werden. Dieser Verzicht auf kritisches Nachdenken wird low elaboration genannt. Ob jemand die zentrale oder die periphere Route einschlägt, hängt größtenteils von seinen Motiven bezüglich der Botschaft ab: ob er bereit und in der Lage ist, sorgfältig über den persuasiven Inhalt nachzudenken; ob er dem high oder dem low elaboration Modell folgt. Wenn Sie die Botschaften, von denen Sie umgeben sind, genauer unter die Lupe nehmen, dann werden Sie schnell zu dem Schluss kommen, dass Werbetreibende sich oft darauf verlassen, dass Sie die periphere Route einschlagen. Warum bezahlen Werbetreibende Berühmtheiten, um ihre Produkte zu verkaufen? Glauben Sie ernsthaft, dass Schauspieler sich Gedanken darüber machen, wie man am billigsten telefonieren kann? Vermutlich hoffen die Werbetreibenden, dass Sie die Argumente nicht zu genau unter die Lupe nehmen – sie hoffen, dass Sie sich stattdessen von Ihrer allgemeinen Sympathie für den Schauspieler überzeugen lassen, der das Produkt bewirbt. Stellen Sie sich jetzt die folgende Frage: Unter welchen Umständen sind Sie am wahrscheinlichsten dazu motiviert, die zentrale Route der Persuasion einzuschlagen? Forscher haben eine enorme Menge Arbeit investiert, um diese Frage anzugehen (Petty et al., 2005). Betrachten wir eine Studie, die zeigt, wie schwierig es ist, alle Menschen jederzeit zu überzeugen. Die Studie geht von der Beobachtung aus, dass Menschen sich oft selbst als Morgenmensch oder Abendmensch bezeichnen. Die Forscher vermuteten, dass man eher dann die Energie und Motivation zu einer grundlegenden Überprüfung aufbringt – die zentrale Route der Persuasion –, wenn man die Botschaften, die einen überzeugen sollen, zur richtigen Tageszeit empfängt.
Abends
Optimale Tageszeit
0,8 0,6 0,4 0,2 0
Morgens
Abends
Zeit der Testsitzung
Abbildung 16.3: Überzeugung zur optimalen Tageszeit. Wenn die Probanden Überzeugungsaussagen zu ihrer optimalen Tageszeit lasen, zeigten sie mehr Einstellungsänderungen in Richtung dieser Aussagen (nach Martin & Marrington, 2005). Zu ihrer optimalen Tageszeit waren die Teilnehmer motiviert, über die Überzeugungsaussagen nachzudenken. Weil diese Aussagen starke Argumente gegen
AUS DER FORSCHUNG Um ihre Hypothese zu überprüfen, warben die Forscher Probanden an, die ihre „optimale“ Tageszeit selbst als morgens oder abends angaben (Martin & Marrington, 2005). Die Studie umfasste zwei Sitzungen: Eine um 8.30 Uhr
Warum bezahlen Werbetreibende Berühmtheiten dafür, dass diese sich für ihre Produkte aussprechen?
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die Sterbehilfe lieferten, änderte sich ihre Einstellung in Richtung der Aussagen. Wenn die Argumente hingegen tatsächlich schwach gewesen wären, hätte high elaboration die Einstellungsänderung eigentlich verhindern sollen. Ein weiterer Faktor, der die Wahl der Verarbeitungsroute beeinflusst, ist die Übereinstimmung zwischen der Art der Einstellung und der Art des Argumentes (Ajzen & Sexton, 1999). Zuvor haben wir erwähnt, dass sowohl kognitive als auch affektive Erfahrungen zum Entstehen von Einstellungen beitragen. Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich Einstellungen mit größerer Wahrscheinlichkeit ändern, wenn die Werbetreibenden Argumente auf kognitiver Basis mit Einstellungen auf kognitiver Basis zusammenbringen und Argumente auf affektiver Basis mit Einstellungen auf affektiver Basis.
AUS DER FORSCHUNG Worauf basieren die Einstellungen zu Kaffeemarken? Sie nehmen wahrscheinlich eine Bewertung aufgrund kognitiver Reaktionen vor: Wie schmeckt jede Marke? Wie viel kostet sie? Denken Sie jetzt an Grußkarten. Bei Grußkarten ist es wahrscheinlicher, dass Sie von affektiven Reaktionen beeinflusst werden: Bringt die Karte Sie zum Lachen? Erfasst die Karte die Qualität der Beziehung? In einem Experiment wurden den Teilnehmern Werbungen für Produkte, darunter Kaffe und Grußkarten, gezeigt, die entweder eine kognitive oder eine affektive Basis hatten. Eine Werbung auf kognitiver Basis könnte beispielsweise behaupten: „Der köstliche, herzhafte Geschmack und das Aroma des Müller-Kaffees entsteht durch eine Mischung der frischesten Bohnen.“ Eine Werbung auf emotionaler Basis könnte dagegen behaupten: „Der Kaffee, den Sie trinken, sagt etwas darüber aus, was für ein Mensch Sie sind. Er kann Ihren seltenen, feinen Geschmacksinn offenbaren.“ Nachdem die Teilnehmer jeweils eine von mehreren Anzeigen gelesen hatten, erstellten sie eine Liste von Gedanken, die angaben, wie positiv sie dem Produkt gegenüber eingestellt waren. Wie Abbildung 16.4 zeigt, gab es einen starken Effekt durch die Übereinstimmung: Die Teilnehmer hatten mehr positive Gedanken, wenn die Art der Botschaft (beispielsweise Anzeigen auf kognitiver Basis) mit der Art der Einstellung (beispielsweise Einstellungen auf kognitiver Basis) übereinstimmte (Shavitt, 1990).
Sie sollten auch in der Lage sein, dieses Ergebnis bei Ihren eigenen Anstrengungen zur Überredung von Menschen einzusetzen: Hat die Einstellung in einem bestimmten Fall eine starke affektive oder kognitive Komponente? Wie können Sie Ihre persuasive Botschaft entsprechend anpassen?
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Abbildung 16.4: Anzeigen und Produkte auf emotionaler und kognitiver Basis. Wenn die Art der Werbung (auf kognitiver oder emotionaler Basis) mit der Bewertungsdimension übereinstimmte, die einem Objekt zugrunde lag – Emotionen bei Grußkarten und Kognitionen bei Kaffee –, reagierten die Teilnehmer positiver auf das Produkt. (Das Ausmaß an positiven Gedanken wurde auf einer Skala von –3 bis +3 erfasst.)
16.2.3 Persuasion durch eigene Handlungen Im letzten Abschnitt haben wir Faktoren beschrieben, welche die Fähigkeit von Menschen beeinflussen, die Einstellungen anderer zu ändern. Es sind jedoch in einer Reihe von Umständen auch Kräfte am Werk, die Menschen dazu bringen, die eigenen Einstellungen zu verändern. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie sich vorgenommen haben, keine überflüssigen Kalorien zu sich zu nehmen. Sie kommen zur Arbeit und da steht ein Kuchen für den Geburtstag Ihres Vorgesetzten. Sie essen ein Stück. Haben Sie Ihren Vorsatz missachtet? Mit anderen Worten, sollten Sie eine negative Einstellung zu Ihrem eigenen Verhalten haben? Werden Sie nicht wahrscheinlich der Meinung sein, das Richtige getan zu haben? Warum? Wir beschreiben zwei Analysen der Selbstpersuasion, die Dissonanztheorie und die Selbstwahrnehmungstheorie. Dissonanztheorie Eine der geläufigsten Annahmen bei der Untersuchung von Einstellungen ist, dass Menschen gerne glauben, Ihre Einstellungen blieben im Laufe der Zeit konsistent. Dieses Streben nach Konsistenz wurde im Be-
16.2 Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen
reich der Sozialpsychologie im Rahmen der Theorie der kognitiven Dissonanz untersucht, die Leon Festinger (1957) entwickelt hat. Kognitive Dissonanz ist ein Konfliktzustand, den eine Person erlebt, nachdem sie eine Entscheidung getroffen hat, eine Handlung vorgenommen hat oder in Kontakt mit Informationen gekommen ist, die im Widerspruch zu ihren Überzeugungen, Gefühlen und Werten stehen. Nehmen wir beispielsweise an, Sie entschließen sich entgegen dem Rat eines Freundes, ein Auto zu kaufen. Warum könnten Sie sich übermäßig defensiv verhalten, wenn es um das Auto geht? Es wird angenommen, dass, wenn die Kognitionen einer Person bezüglich ihres Verhaltens und relevanter Einstellungen dissonant sind – eine nicht aus der anderen folgt –, ein unangenehmer Zustand entsteht, den die Person reduzieren möchte. Aktivitäten, die Dissonanz reduzieren, modifizieren den unangenehmen Zustand. Im Falle Ihres Autos hat defensives Verhalten – Sie übertreiben seinen Wert – zur Folge, dass Sie sich weniger schlecht fühlen, weil Sie dem Rat Ihres Freundes nicht gefolgt sind. (Die Dissonanz könnte auch dazu führen, dass Sie weniger gut von Ihrem Freund denken.) Dissonanz besitzt motivierende Kraft – sie treibt Sie an, etwas gegen das unangenehme Gefühl zu unternehmen (Wood, 2000). Die Motivation zur Reduktion der Dissonanz steigt mit der Stärke der Dissonanz, die durch die kognitive Inkonsistenz geschaffen wird. Mit anderen Worten, je stärker die Dissonanz ist, desto größer ist die Motivation, sie zu verringern. In einem klassischen Experiment zur Dissonanz erzählten Studierende anderen Studierenden eine Lüge und begannen, an ihre Lüge zu glauben, wenn sie eine kleine statt der erwarteten großen Belohnung für das Lügen erhielten.
AUS DER FORSCHUNG Studierende der Universität Stanford nahmen an einer sehr langweiligen Aufgabe teil und wurden dann gebeten (um dem Versuchsleiter einen Gefallen zu tun, weil sein Forschungsassistent nicht aufgetaucht war), einem anderen Teilnehmer etwas vorzulügen und zu behaupten, die Aufgabe sei lustig und interessant gewesen. Die Hälfte der Teilnehmer erhielt 20 Dollar für die Lüge, die anderen erhielten nur einen Dollar. Die Bezahlung in Höhe von 20 Dollar war eine ausreichende externale Rechtfertigung für die Lüge, die Bezahlung in Höhe von einem Dollar war keine ausreichende Rechtfertigung. Die Teilnehmer, die nur einen Dollar erhalten hatten, hatten dissonante Kognitionen: „Die Aufgabe war langweilig“ und „Ich habe mich entschieden zu lügen und einem anderen Studierenden zu erzählen, die Aufgabe sei lustig und interessant gewesen, ohne dass ich dafür einen guten Grund hatte“.
Um ihre Dissonanz zu reduzieren veränderten die Teilnehmer mit nur einem Dollar ihre Bewertung der Aufgabe. Sie äußerten später die Überzeugung, die Aufgabe sei „wirklich lustig und interessant gewesen – ich würde sie vielleicht noch einmal machen wollen“. Im Vergleich dazu veränderten die Teilnehmer, die für 20 Dollar gelogen hatten, ihre Bewertungen nicht – die Aufgabe war immer noch langweilig; sie hatten nur „des Geldes wegen“ gelogen (Festinger & Carlsmith, 1959).
Wie dieses Experiment zeigt, rechtfertigen Menschen unter der Bedingung starker Dissonanz ihr Verhalten im Nachhinein und überzeugen sich selbst. Dieses Ergebnis zeigt, dass man zur Änderung von Einstellungen zunächst das Verhalten verändern muss. Schon biblische Gelehrte in grauer Vorzeit kannten dieses Prinzip. Sie drängten die Rabbis, nicht darauf zu bestehen, dass die Menschen glauben, bevor sie beten, sondern dafür zu sorgen, dass die Menschen zuerst beten – dann fangen sie an zu glauben. Hunderte von Experimenten und Feldstudien haben die Macht der kognitiven Dissonanz zur Veränderung von Einstellungen und Verhalten gezeigt (Crano & Prislin, 2006). In jüngster Zeit haben Forscher jedoch zu bezweifeln begonnen, dass sich die Dissonanzeffekte auf andere Kulturen verallgemeinern lassen. Denken Sie noch einmal an die Art und Weise, in der sich das Konzept des Selbst von Kultur zu Kultur verändert. Wie wir zuvor bereits anmerkten, sehen sich Nordamerikaner üblicherweise als unabhängig (independent) und von anderen in ihrer Umgebung verschieden; Mitglieder asiatischer Kulturen sehen sich selbst üblicherweise als wechselseitig abhängig (interdependent) und tief mit anderen verbunden. Wirkt sich das kulturelle Konzept des Selbst auf das Erleben der kognitiven Dissonanz aus?
Mit welchen Argumenten könnten Sie die kognitive Dissonanz reduzieren, die entsteht, wenn Sie sich der schädlichen Wirkung des Rauchens zwar bewusst sind, aber dennoch rauchen?
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AUS DER FORSCHUNG Gruppen kanadischer und japanischer Probanden untersuchten eine Liste von Gerichten für ein chinesisches Restaurant (Hoshino-Browne et al., 2005). Aus einer Liste von 25 Gerichten wählten sie die zehn, die sie am meisten mochten (in einer Versuchsbedingung) oder von denen sie dachten, dass ein Freund sie am meisten mögen würde (in einer zweiten Versuchsbedingung). Dann ordneten sie diese zehn Gerichte in einer Rangfolge von „am meisten“ bis „am wenigsten gemocht“ an – und zwar jeweils wieder in Bezug auf den eigenen Geschmack oder den eines Freundes. Die Experimentatoren baten dann die Teilnehmer, zwischen zwei Essensgutscheinen zu wählen. Auf den Gutscheinen standen das fünft- und sechstbeliebteste Gericht (ihres oder das des Freundes). Zum Schluss sollten sie dann ihre zehnbeliebtesten Gerichte nochmals durchgehen und in eine Rangfolge stellen. Wie änderten sich wohl ihre Bewertungen vom ersten zum zweiten Mal? Nach der Dissonanztheorie sollten Sie bei einer schwierigen Entscheidung – so wie der zwischen dem fünften und sechsten Gericht auf der Liste – Ihre Bewertungen so anpassen, dass Sie sich mit dem Ergebnis der Wahl besser fühlen: „Wenn ich Kung-Pao-Hühnchen wähle [ursprünglich Nr. 5], muss es wirklich besser sein als Mu-Shu-Schweinefleisch [ursprünglich Nr. 6].“ Allerdings ergibt die interkulturelle Forschung über das Selbst, dass kanadische Teilnehmer eine stärkere Dissonanz in Bezug auf ihre eigene Auswahl erleben sollten (wegen ihres independenten Konzeptes des Selbst), während japanische Teilnehmer mehr Dissonanz bei der Auswahl für ihren Freund erleben sollten (wegen ihres interdependenten Konzeptes des Selbst). Die Daten bestätigten diese Vorhersagen: Im zweiten Durchgang änderten sich die Ratings der kanadischen Teilnehmer bei der Auswahl für sich selbst stärker; die Ratings der japanischen Teilnehmer dagegen mehr bei der Auswahl für ihre Freunde.
Diese Forschungsarbeiten legen nahe, dass Menschen nur dann kognitive Dissonanz erleben – sie versuchen nur dann, Konsistenz innerhalb ihres Selbst-Konzeptes aufrechtzuerhalten –, wenn sie ein independentes Konzept des Selbst haben. Wenn Sie jemals in einer Situation sind, in der Sie gemeinsam mit Mitgliedern anderer Kulturen Entscheidungen treffen müssen, dann sollten Sie daran denken, welchen Einfluss die Kultur auf die Art und Weise hat, in der sie alle denken und handeln, nachdem die Entscheidung getroffen wurde. Selbstwahrnehmungstheorie Die Dissonanztheorie beschreibt eine Art und Weise, in der Menschen – zumindest in westlichen Kulturen – ihren Verhaltensweisen („Ich habe diese CD gewählt“) Einfluss auf ihre Einstellungen („Ich muss sie weitaus
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mehr mögen als die andere“) gewähren. Die Selbstwahrnehmungstheorie, die Daryl Bem (1972) entwickelt hat, identifiziert die Umstände, unter denen Verhaltensweisen Einstellungen beeinflussen. Der Selbstwahrnehmungstheorie zufolge erschließen Sie sich Ihre inneren Zustände (Überzeugungen, Einstellungen, Motive und Gefühle) oder den inneren Sollzustand, indem Sie wahrnehmen, wie Sie jetzt handeln und sich erinnern, wie Sie in der Vergangenheit in einer bestimmten Situation gehandelt haben. Sie nutzen dieses Wissen über sich selbst, um auf die wahrscheinlichsten Ursachen und Determinanten des Verhaltens zurückzuschließen. Jemand, der sich selbst wahrnimmt, antwortet beispielsweise auf die Frage „Mögen Sie Psychologie?“, indem er sagt: „Sicher, ich besuche eine Einführungsveranstaltung, obwohl dies nicht verlangt wird, ich lese alles nach, passe während der Veranstaltungen auf und erhalte Lob für meine Mitarbeit.“ Mit anderen Worten, man antwortet auf eine Frage zu persönlichen Präferenzen, indem man eine behaviorale Beschreibung der relevanten Handlungen und situativen Faktoren abgibt – statt eine intensive Überprüfung der eigenen Gedanken und Gefühle durchzuführen. Der Selbstwahrnehmungstheorie fehlt die motivationale Komponente der Dissonanztheorie. Weil die Selbstwahrnehmung die fehlenden Einstellungen ergänzt – Sie werfen einen Blick auf Ihr Verhalten, um herauszufinden, wie Sie sich fühlen –, treten Selbstwahrnehmungsprozesse vor allem dann auf, wenn Sie sich in mehrdeutigen Situationen befinden und mit Ereignissen zu tun haben, die Ihnen nicht vertraut sind (Fazio, 1987). In diesen Situationen wollen Sie herausfinden, wie Sie zu einem neuen Einstellungsobjekt stehen – wenn Sie feststellen, dass Sie lachen, wenn Sie Ihren ersten Film mit Angelina Jolie sehen, dann schließen Sie daraus vielleicht, dass Sie ihr gegenüber eine positive Einstellung haben. Der Prozess des Wissenserwerbs über sich selbst anhand der Selbstwahrnehmung weist einen Fehler auf: Menschen sind oft unempfänglich für das Ausmaß, in dem ihr Verhalten durch situative Kräfte beeinflusst wird. Sie können dies erkennen, wenn wir uns noch einmal mit dem Quiz mit Münzwurf befassen. Wie Sie sich erinnern werden, bewerteten die Teilnehmer, die sich als Kandidaten vergeblich Mühe gaben, ihr eigenes Allgemeinwissen relativ schlecht. Stellen Sie sich vor, wie es gewesen sein muss, an ihrer Stelle zu sein. Immer und immer wieder hören Sie sich sagen: „Ich weiß die Antwort auf diese Frage nicht.“ Ist Ihnen deutlich, wie die Beobachtung dieses Verhaltens – der Prozess der Selbstwahrnehmung – zu einer negativen Selbstbewertung führen kann?
16.2 Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen
Kehren wir zu den Einstellungen zurück, die Sie sich selbst gegenüber zum Ausdruck bringen, wenn Sie auf der Geburtstagsfeier Ihres Vorgesetzten ein Stück Kuchen essen. Gemäß der Dissonanztheorie müssen Sie die Inkonsistenz zwischen Ihrem Vorsatz („Ich werde keine überflüssigen Kalorien zu mir nehmen“) und Ihrem Verhalten (ein Kuchenstück essen) auflösen. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die Sie tun können, um zu vermeiden, dass Sie sich schlecht fühlen: Vielleicht würden Sie überlegen, „Ich kann es mir nicht leisten, meinen Vorgesetzten zu verärgern, indem ich ein Stück Kuchen ablehne“. In ähnlicher Weise können Sie gemäß der Selbstwahrnehmungstheorie Ihr Verhalten beobachten und daraus Ihre Einstellung ableiten. Wenn Sie sich denken, „Weil ich Kuchen esse, muss der Geburtstag meines Vorgesetzten sehr wichtig sein“, dann entgehen Sie jeglichem negativen Einfluss auf Ihr Selbstwertgefühl. Sich selbst zu überzeugen kann manchmal nützlich sein!
16.2.4 Compliance In diesem Abschnitt haben wir bislang besprochen, was Einstellungen sind und wie sie verändert werden können. Es sollte Ihnen jedoch deutlich sein, dass Menschen oft von Ihnen wollen, dass Sie Ihr Verhalten ändern: Menschen wollen Compliance oder Folgsamkeit herbeiführen – eine Verhaltensänderung, die mit ihren direkten Aufforderungen übereinkommt. Wenn Werbetreibende viel Geld für Fernsehwerbung ausgeben, dann wollen sie nicht nur, dass Sie ein gutes Gefühl mit ihren Produkten verbinden – sie wollen, dass Sie in den Laden gehen und diese Produkte kaufen. In ähnlicher Weise wollen Ärzte, dass Sie ihrem medizinischen Rat folgen. Sozialpsychologen haben die Art und Weise, in der Personen Compliance gegenüber ihren Aufforderungen herstellen, intensiv erforscht (Cialdini, 2001). Wir werden einige dieser Techniken beschreiben und darauf hinweisen, wie versierte Verkäufer diese Techniken oft einsetzen, um Sie dazu zu bringen, Dinge zu tun, die Sie normalerweise nicht tun würden.
Gefallen zu tun (Regan, 1971). Verkäufer nutzen Reziprozität gegen Sie, indem sie so tun, als täten sie Ihnen einen Gefallen „Ich sag’ Ihnen was, ich geh’ um fünf Euro mit dem Preis runter“ oder „Hier haben Sie ein kostenloses Probeexemplar, nur dafür, dass Sie sich heute mit mir unterhalten haben“. Diese Strategie bringt Sie in psychologische Bedrängnis, wenn Sie den Gefallen nicht erwidern und das Produkt kaufen. Ein andere auf der Reziprozitätsnorm fußende Technik zur Herstellung von Compliance nutzt folgenden Effekt: Wenn Menschen zu einer großen Bitte „Nein“ sagen, sagen sie oft zu einer kleineren Bitte „Ja“.
AUS DER FORSCHUNG In einem Experiment wurden Studierende gebeten, zwei Jahre lang jede Woche zwei Stunden als Berater für jugendliche Straffällige zu arbeiten. Alle sagten „Nein“. Als Nächstes wurden sie gefragt, ob sie bereit wären, für einige der Straffälligen bei einem Zoobesuch als Begleiter zu fungieren. Wo vorher alle „Nein“ zu der großen Bitte gesagt hatten, waren 50 Prozent der Studierenden bereit, die kleine Bitte zu erfüllen. Als eine andere Gruppe befragt wurde, an die man nie die große Bitte gerichtet hatte, erklärten sich nur 17 Prozent bereit, als Begleiter zu fungieren (Cialdini et al., 1975).
Wie nutzt diese Technik die Reziprozitätsnorm? Wenn jemand, der eine Bitte an Sie richtet, von einer großen Bitte auf eine gemäßigtere umschwenkt, dann hat diese Person etwas für Sie getan: Jetzt müssen Sie etwas für diese Person tun – oder es riskieren, die Norm zu verletzen. Sie erklären sich bereit, die kleinere Bitte zu erfüllen.
Reziprozität Eine der dominierenden Regeln menschlicher Erfahrung ist, dass, wenn jemand etwas für Sie tut, Sie auch etwas für diese Person tun – man nennt dies die Reziprozitätsnorm. Laborforschungen haben gezeigt, dass sogar sehr kleine Gefallen Versuchsteilnehmer dazu bringen können, im Gegenzug weitaus größere
Wie setzen Verkäufer die Reziprozitätsnorm ein, wenn sie Ihnen eine kostenlose Probe anbieten?
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Verbindlichkeit Die zuvor besprochene Technik wechselt von einer großen zu einer gemäßigten Bitte. Verkäufer wissen auch, dass sie, wenn sie es schaffen, Sie zu einer kleinen Konzession zu bewegen, es wahrscheinlich auch schaffen werden, Sie zu etwas Größerem zu bewegen. In Experimenten waren Personen, die kleinen Bitten nachgekommen waren (beispielsweise dem Unterzeichnen einer Petition), danach mit größerer Wahrscheinlichkeit bereit, einer größeren Bitte nachzukommen (beispielsweise große Schilder in ihrem Garten aufzustellen) (Freedman & Fraser, 1966). Man nennt dies oft die Fuß-in-der-Tür-Technik: Sobald jemand einen Fuß in der Tür hat, kann diese Person Ihr Gefühl von Verbindlichkeit nutzen, um Ihre spätere Compliance zu vergrößern. Verkäufer setzen diese Technik gegen Sie ein, indem sie Sie zu einer Entscheidung bewegen, um dann fast unmerklich die Vereinbarung zu ändern: „Ich weiß, dass Sie genau dieses Auto kaufen wollen, aber mein Chef erlaubt mir nicht, Ihnen mehr als 200 Euro Rabatt zu gewähren“; „Ich weiß, dass Sie hochwertige Nahrungsmittel schätzen, also weiß ich auch, dass Sie bereit sind, dafür etwas mehr zu bezahlen“. Diese Strategie gibt Ihnen das Gefühl, sich inkonsistent oder albern zu benehmen, wenn Sie den Kauf nicht zum Abschluss bringen.
Was können Sie tun, damit Ihre Nachbarn stärker auf die Mülltrennung achten?
Knappheit Menschen missfällt das Gefühl, sie könnten etwas nicht haben (oder, aus der anderen Perspektive: Menschen mögen es, Dinge zu haben, die andere nicht haben können). Versuchsteilnehmer bewerten beispielsweise den Geschmack von Schokokeksen höher, die aus einem Gefäß mit zwei Keksen kommen, als den Geschmack von Keksen aus einem Gefäß mit zehn Keksen (Worchel et al., 1975). Wie wirkt sich das Prinzip der Knappheit auf den Markt aus? Verkäufer wissen, dass sie die Wahrscheinlichkeit, mit der Sie etwas kaufen, erhöhen können, wenn sie den Eindruck erwecken, das Produkt sei knapp: „Das ist der Letzte, den ich habe, ich bin mir also nicht sicher, ob Sie bis morgen warten sollten“; „Ich habe noch einen anderen Kunden, der beabsichtigt, zurückzukommen und sich dies hier zu kaufen.“ Diese Strategie gibt Ihnen das Gefühl, Sie würden eine entscheidende Gelegenheit verpassen, wenn Sie jetzt nicht kaufen. Bei der Erklärung dieser Techniken zur Compliance haben wir eine Reihe von Beispielen für Dinge angeführt, die Sie vielleicht tun wollen: Sie möchten vielleicht freiwillig Ihre Zeit opfern, um eine gute Sache
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zu unterstützen oder die Ressourcen der Erde zu bewahren. Wie Sie jedoch erkennen können, setzen Menschen diese Techniken meistens ein, Sie zu etwas zu bewegen, was Sie wahrscheinlich nicht tun wollen. Wie können Sie sich vor versierten Verkäufern und ähnlichen Leuten schützen? Sie sollten versuchen, diese Leute bei der Anwendung dieser Strategien zu ertappen – und ihren Anstrengungen Widerstand entgegensetzen. Versuchen Sie, bedeutungslose Gefälligkeiten zu ignorieren. Versuchen Sie, törichte Konsistenz zu vermeiden. Versuchen Sie, falsche Behauptungen von Knappheit zu entdecken. Nehmen Sie sich immer die Zeit zum Nachdenken und Schlussfolgern, bevor Sie handeln. Ihr Wissen über Sozialpsychologie kann Sie zu einem rundum mündigen Konsumenten machen. In diesem Abschnitt haben wir Einstellungen und Verhaltensweisen und ihr Verhältnis zueinander beschrieben. Wir haben aber noch nicht über Umstände gesprochen, unter denen Einstellungen in Form von Vorurteilen zu zerstörerischem Verhalten führen können. Wir werfen jetzt einen Blick auf das Themengebiet der Vorurteile und zeigen, wie Vorteile entstehen und wie man sie zielführend verringern oder eliminieren kann.
16.3 Vorurteile
ZWISCHENBILANZ 1 Welche drei Komponenten definieren eine Einstel-
lung? 2 Welcher kognitive Prozess unterscheidet die zentrale
von der peripheren Route der Persuasion? 3 Warum hat die Kultur einen Einfluss auf kognitive Dis-
sonanzprozesse? 4 Wenn Menschen zu einer großen Bitte „Nein“ sagen,
sagen sie oft zu einer kleinen Bitte „Ja“. Inwiefern gründet diese Technik auf der Reziprozitätsnorm? KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie zum Effekt des Lügens auf Einstellungen zurück. Warum benutzten die Experimentatoren Schokoriegel, die den Teilnehmern unbekannt waren?
Vorurteile
16.3
Von allen menschlichen Schwächen ist keine für die Würde des Individuums und die sozialen Bindungen der Menschen zerstörerischer als Vorurteile. Vorurteile sind das beste Beispiel für eine soziale Realität, die schief gelaufen ist – im Denken der Menschen wurde eine Situation hergestellt, die andere demütigen und ihr Leben zerstören kann. Ein Vorurteil ist eine gelernte Einstellung gegenüber einem Zielobjekt, die negative Gefühle (Abneigung oder Furcht), negative Überzeugungen (Stereotypen), welche die Einstellungen legitimieren, und eine Verhaltensabsicht umfasst, Objekte der Zielgruppe zu vermeiden, zu kontrollieren, zu dominieren oder auszulöschen. Beispielsweise verabschiedete die Naziführung Gesetze, um ihren auf Vorurteilen basierenden Überzeugungen, dass Juden Untermenschen sind und die arische Kultur vernichten wollen, Geltung zu verschaffen. Eine falsche Überzeugung wird zum Vorurteil, wenn sie Veränderungen sogar bei angemessenen Belegen ihrer Falschheit widersteht. Menschen zeigen beispielsweise dann Vorurteile, wenn sie behaupten, dass Afroamerikaner alle faul sind, trotz ihrer hart arbeitenden afroamerikanischen Kollegen. Vorurteilsbasierte Einstellungen dienen als verzerrende Filter, die beeinflussen, wie Menschen wahrgenommen und behandelt werden, wenn diese erst als Mitglied einer Zielgruppe kategorisiert sind. Für die Sozialpsychologie ist die Untersuchung von Vorurteilen seit jeher sehr wichtig. Sie bemüht sich um ein Verständnis der Komplexität und Dauerhaftigkeit von Vorurteilen und versucht Strategien zu ent-
Welchen Beitrag leistete Kenneth Clark zur Abschaffung der Rassentrennung in der Schulbildung?
wickeln, vorurteilsbasierte Einstellungen und diskriminierendes Verhalten zu verändern (Allport, 1954; Nelson, 2006). Die Entscheidung des Supreme Courts der USA im Jahr 1954, die Rassentrennung im öffentlichen Schulsystem abzuschaffen, beruhte zum Teil auf Forschungsergebnissen, die dem Bundesgericht von dem Sozialpsychologen Kenneth Clark vorgetragen wurden. Die Forschungsergebnisse zeigten die negativen Auswirkungen der getrennten und ungleichen Erziehung auf schwarze Kinder (Clark & Clark, 1947). Im folgenden Abschnitt beschreiben wir die Fortschritte der Sozialpsychologie im Bemühen, die Ursprünge und Effekte von Vorurteilen zu verstehen, sowie die Bemühungen, bei der Reduktion der Effekte mitzuhelfen.
16.3.1 Die Ursprünge von Vorurteilen Es ist eine traurige Wahrheit aus den Untersuchungen von Vorurteilen, dass man Menschen leicht dazu bringen kann, negative Einstellungen gegen Personen aufzubauen, die nicht der eigenen „Gruppe“ angehören. Als soziale Kategorisierung wird der Prozess bezeichnet, durch welchen Menschen ihre soziale Umgebung organisieren, indem sie sich und andere in Gruppen kategorisieren. Die einfachste und durchdringendste Form der Kategorisierung entsteht durch die Beurteilung, ob Menschen so wie man selbst sind. Diese Kategorisierung entwickelt sich von einer Orientierung „ich vs. nicht ich“ zu „wir vs. die anderen“: Die Menschen trennen die Welt in In-Gruppen – die Gruppen, als deren Mitglied sie sich identifizieren – und OutGruppen – die Gruppen, mit welchen sie sich nicht
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identifizieren. Diese kognitiven Unterscheidungen ergeben eine In-Gruppen-Verzerrung, eine Beurteilung der eigenen Gruppe gegenüber anderer Gruppen als besser (Nelson, 2006). Menschen, die als Teil der OutGruppe definiert werden, sind nahezu augenblicklich Kandidaten für feindselige Gefühle und unfaire Behandlungen. Der kleinste Hinweis auf Unterschiede reicht aus, Verzerrungen und Vorurteile im Hinblick auf In- und Out-Gruppen zu erzeugen.
AUS DER FORSCHUNG In einer Reihe von Experimenten in den Niederlanden wurden die Teilnehmer per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt: eine blaue Gruppe und eine grüne Gruppe. Entsprechend der Gruppenzugehörigkeit der Teilnehmer erhielten sie entweder blaue oder grüne Kugelschreiber und sollten auf blaues oder grünes Papier schreiben. Der Versuchsleiter sprach die Teilnehmer mit ihrer Gruppenfarbe an. Obwohl diese Farbkategorien für sich genommen keine psychologische Bedeutung für jeden Einzelnen hatten und die Zuordnung zu den Gruppen vollständig zufällig erfolgte, bewerteten die Teilnehmer ihre eigene Gruppe positiver als die andere. Zudem trat diese In-Gruppen-Verzerrung, die ausschließlich auf der Farbidentifikation beruhte, sogar auf, bevor die Gruppenmitglieder mit der gemeinsamen Bearbeitung einer Experimentalaufgabe begannen (Rabbie, 1981).
In diesem „Farbexperiment“ zeigt sich das sehr schnelle Auftreten sozialer Kategorisierung. Viele Experimente haben sich mit den Konsequenzen von In-Gruppen-Status gegenüber Out-GruppenStatus befasst (Hewstone et al., 2002). Diese Forschung deutet darauf hin, dass Menschen den Angehörigen der eigenen Gruppe meist positiver gegenüber stehen, als sie Angehörigen der anderen Gruppe gegenüber voreingenommen wären. So beurteilten die meisten Menschen Angehörige ihrer In-Gruppe typischerweise besser (was Freundlichkeit, Fleiß und so weiter angeht) als Angehörige der Out-Gruppe. Dies aber gilt deshalb, weil sie positive Gefühle gegenüber der InGruppe und neutrale Gefühle gegenüber der Out-Gruppe hegen. Man kann also systematisch in Richtung In-Gruppe tendieren, ohne die negativen Gefühle zu haben, die ein Vorurteil ausmachen. Unglücklicherweise werden in manchen Fällen die Gefühle von Menschen gegenüber Out-Gruppen von erlernten Vorurteilen bestimmt. In diesen Fällen kann die In-Gruppen-Verzerrung in stärkerem Maße von Absicht gelenkt sein. Vorurteile führen leicht zu Rassismus – der Diskriminierung von Menschen aufgrund
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ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft – und zu Sexismus – der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit. Die unmittelbare Tendenz, ein „wir“ und „die anderen“ zu definieren, wird noch wirksamer, wenn die Wahrnehmung anwächst, dass die Ressourcen knapp sind und dass die Dinge nur einer Gruppe auf Kosten der anderen gegeben werden können. Tatsächlich zeigen Menschen mit besonders stark und besonders schwach ausgeprägten Vorurteilen unterschiedliche Hirnaktivitätsmuster, wenn sie die Angehörigen einer Out-Gruppe beurteilen.
AUS DER FORSCHUNG Forscher warben Gruppen von Studierenden an, die auf einer Selbstbeurteilungsskala starke oder schwache Vorurteile gegenüber Afroamerikanern angaben (Chiu et al., 2004). Die Studierenden betrachteten Fotografien, die Schwarze und Weiße mit entweder glücklichem oder wütendem Gesichtsausdruck zeigten. Bei jedem Gesicht beantworteten sie die Frage: „Würden Sie mit dieser Person gerne zusammen arbeiten?“ Vor jeder neuen Runde wurde den Teilnehmern angekündigt, welche Art Gesicht als Nächstes erscheinen würde (zum Beispiel wütend/weiß, glücklich/schwarz). Die Forscher setzten Kopfhautelektroden ein, um die Hirnaktivität der Studierenden nach dieser Ankündigung aufzuzeichnen: Sie wollten Unterschiede in der Art zeigen, wie sich die Studierenden mit starken und die mit schwachen Vorurteilen auf ihre Beurteilungen vorbereiteten. Tatsächlich unterschieden sich die Hirnaktivitätsmuster deutlich voneinander. Wenn etwa Studierende mit schwachen Vorurteilen wütende schwarze Gesichter erwarteten, schienen sie Denkressourcen anzuzapfen, um jedes Gesicht individuell zu beurteilen – und nicht in stereotype Reaktionen zu verfallen. Im Gegensatz dazu leisteten Studierende mit starken Vorurteilen weniger Gehirnarbeit und antworteten ziemlich schnell „Nein, ich würde mit dieser Person nicht zusammen arbeiten wollen.“
Dieses Experiment unterstützt die Vorstellung, dass Menschen mit ausgeprägten Vorurteilen wenig tun, um Angehörige einer Out-Gruppe als etwas anderes zu sehen denn als Angehörige einer Kategorie, auf die bestimmte Stereotypen zutreffen. Forscher haben mittlerweile auch ein explizites Maß der Vorurteilsfreiheit entwickelt, das die Vorstellung erfasst, dass Menschen ohne Vorurteile mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf Unterschiede zwischen Individuen achten (Phillips & Ziller, 1997). Menschen mit einem hohen Wert auf der Skala universelle Orientierung tendieren dazu, Aussagen wie „Wenn ich jemanden treffe, neige ich dazu, Ähnlichkeiten zwi-
16.3 Vorurteile
schen mir und der anderen Person zu bemerken“ zuzustimmen und Aussagen wie „Ich kann eine Menge über eine Person sagen, wenn ich ihre Geschlechterzugehörigkeit kenne“ zurückzuweisen. Somit scheinen einige Menschen eine grundlegende Fähigkeit zu besitzen, die Neigung, die Welt in Begriffen wie In-Gruppen und Out-Gruppen zu erleben, zu überwinden. Wir haben bislang gesehen, dass die Kategorisierung der Welt in Menschen als „wir“ und „die anderen“ schnell zu Vorurteilen führen kann. Lassen Sie uns nun betrachten, wie Vorurteile durch die Anwendung von Stereotypen wirksam werden.
Wie entstehen Vorurteile und warum ist es so schwierig, sie aus der Welt zu schaffen?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Funktionieren eigentlich Fernsehwerbespots im Nachtprogramm?
Wenn Sie jemals spätnachts (oder am frühen Morgen) ferngesehen haben, kennen Sie sicher die Art von Werbespots, mit denen Ihnen Messersets oder CDs angedreht werden sollen, die Sie eigentlich nicht brauchen. Wenn Sie sich diese Werbespots genau ansehen, werden Sie bemerken, dass sie oft so aufgebaut sind, dass sie die Mechanismen menschlicher Compliance intensiv ausnutzen (Cialdini, 2001). Betrachten wir eine bestimmte Methode, die von der Forschung die „Das-ist-noch-nicht-alles“-Technik (That‘s-Not-All (TNA) technique) genannt wird (Burger, 1986; Burger et al., 1999). Angenommen, Ihnen werden elf CDs mit den „Größten Hits der 70er“ für drei bequeme Raten zu nur je 19,95 Euro angeboten. Bevor Sie sich aber entscheiden können, fügt der Sprecher hinzu: „Das ist noch nicht alles: Kaufen Sie jetzt, und wir legen für Sie – ohne Zusatzkosten – noch eine Bonus-CD mit zwölf weiteren Songs bei!“ Macht dieser Zusatz es wahrscheinlicher, dass Sie auf das Angebot eingehen? Sollte er wohl – Sie kriegen ja mehr für dasselbe Geld. Aber angenommen, man hätte Ihnen die zwölf CDs (zahlbar in drei bequemen Raten zu nur je 19,95 Euro) auf einmal angeboten, ohne das „Das ist noch nicht alles“. Sie würden genau dieselbe Ware (zwölf CDs) zum selben Preis bekommen. Wäre es genauso wahrscheinlich, dass Sie sie kaufen? Hier kommt eine weitere verbreitete Version der TNA-Technik. Zuerst bekommen Sie die elf CDs für nur drei bequeme Raten zu je 19,95 Euro angeboten, aber bevor Sie sich entscheiden können, wird hinzugefügt, dass der Preis (nur für kurze Zeit) auf drei Raten zu je 14,95 Euro reduziert worden ist. Vergleichen Sie das wieder mit einem Angebot, das von Anfang an den niedrigeren Preis nennt. Würden Sie genauso wahrscheinlich zugreifen?
Wenn Sie über diese beiden Varianten nachdenken, werden Sie vermutlich richtig raten, dass die TNAMethode großen Einfluss auf die Compliance der Menschen ausübt. Betrachten wir eine Studie, die als Kuchenverkauf eines Psychologieklubs ausgegeben war (Burger, 1986). Gemeindemitgliedern, die sich am Verkaufstisch nach Preisen erkundigten, wurde eine von zwei Auskünften erteilt: Im ersten Fall (in diesem Versuch die Kontrollgruppe) sollte ein Muffin mit zwei Keksen als Zugabe 75 Cent kosten. Im zweiten Fall (der TNA-Gruppe) sollte der Muf fin alleine 75 Cent kosten. Bevor die Interessenten antworten konnten, sagte man ihnen aber, „einen Moment, bitte“, und dass es noch zwei Kekse umsonst dazu gebe. In der Kontrollgruppe kauften 40 Prozent der potenziellen Kunden; in der TNA-Gruppe betrug der Erfolg 73 Prozent. Jeder bekam die gleichen Bedingungen – worauf es ankam, war die Art, wie das Angebot gemacht wurde. Warum funktioniert „Das ist noch nicht alles“? Eine Erklärung ist die Reziprozitätsnorm, die wir bereits beschrieben haben: Der Verkäufer oder die Verkäuferin hat etwas für Sie getan (beim Angebot draufgeschlagen), und jetzt sollten Sie auch etwas für ihn oder sie tun (die Ware kaufen). Eine andere Erklärung ist das Verankerungsphänomen, wie wir es in Kapitel 8 beschrieben haben. Das ursprüngliche Angebot dient als Ankerpunkt, anhand dessen man entscheidet, ob man überhaupt interessiert ist. Wenn Sie interessiert sind, bewegt der Bonus Sie, den Kauf abzuschließen. Aus diesem Grund funktioniert TNA nicht, wenn das Erstangebot nicht attraktiv genug ist (Burger et al., 1999). Zum Beispiel wurden in einer Studie Studierende um eine Spende von fünf Dollar für einen guten Zweck gebeten. Die Kontrollgruppe bekam dazu gesagt, dass sie dafür jeweils eine Tasse
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bekommen würden. Die TNA-Gruppe wurde erst um die Spende gebeten und erhielt dann, bevor die Angesprochenen antworten konnten, noch die Tasse angeboten. In der Kontrollgruppe spendeten 63 Prozent der Angesprochenen, in der TNA-Gruppe aber nur 23 Prozent. TNA versagt in diesem Fall, weil das Anfangsangebot („Geben Sie fünf Dollar“, ohne Erwähnung der Tasse) den meisten Studierenden als unvernünftig erschien. Im Lichte dieser Forschungsergebnisse können Sie die nächtlichen Werbespots jetzt mit geübtem
16.3.2 Die Effekte von Stereotypen Wir können die Macht der sozialen Kategorisierung nutzen, um die Ursprünge vieler Formen von Vorurteilen zu erklären. Um zu erklären, wie Vorurteile unsere Alltagsinteraktionen beeinflussen, müssen wir die Gedächtnisstrukturen untersuchen, die eine wichtige Unterstützung der Vorurteile liefern, die Stereotypen. Stereotypen sind Generalisierungen über eine Gruppe von Personen, wobei allen Mitgliedern dieser Gruppe die gleichen Merkmale zugewiesen werden. Sie sind sicherlich mit einer großen Bandbreite von Stereotypen vertraut. Welche Überzeugungen haben Sie über Männer und Frauen? Welche über Juden, Moslems und Christen? Asiaten, Afroamerikaner, Indianer, Südamerikaner und Weiße? Wie beeinflussen diese Überzeugungen Ihre Alltagsinteraktionen mit Mitgliedern dieser Gruppen? Vermeiden Sie Mitglieder einiger dieser Gruppen aufgrund Ihrer Überzeugungen? Da Stereotypen sehr wirksam Erwartungen enkodieren, tragen sie häufig zu der Art von Situationen bei, in welchen Menschen ihre eigene soziale Realität konstruieren, wie wir sie zuvor in diesem Kapitel beschrieben haben. Betrachten Sie die potenzielle Rolle von Stereotypen, um Urteile zu treffen, was in der Umwelt „existiert“. Die Menschen sind anfällig, „fehlende Daten“ mit Informationen aus ihren Stereotypen aufzufüllen: „Ich steige nicht in Hiroshis Auto – alle Asiaten sind fürchterlich schlechte Autofahrer.“ In ähnlicher Weise nutzen Menschen wissentlich oder unwissentlich Informationen aus Stereotypen, um erwartungsbestätigendes Verhalten zu zeigen. Wenn Sie beispielsweise glauben, dass jüdische Freunde eher vulgär sind, werden Sie ihnen vielleicht nie Gelegenheit geben, das Gegenteil zu beweisen. Schlimmer noch, um Konsistenz aufrechtzuerhalten, werten Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit Informationen ab, die den eigenen stereotypen Überzeugungen widersprechen.
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Auge betrachten. Wie oft wird die TNA-Technik eingesetzt? Wie gut haben die Verkäufer es geschafft, ein Anfangsangebot zu machen, das Sie nicht sofort ablehnen? Warum ist das Timing entscheidend, wenn TNA effektiv sein soll? Wie könnte man TNA erfolgreich einsetzen, um Spendensummen zu erhöhen?
AUS DER FORSCHUNG Was geschieht, wenn Sie Informationen erhalten, von welchen einige Ihre Überzeugungen stützen und andere Ihnen widersprechen? In einer Studie klassifizierten Forscher Studierende als mit starken oder geringen Vorurteilen gegenüber Homosexuellen ausgestattet. Jeder Studierende las anschließend zwei wissenschaftliche Studien zur Homosexualität. Eine dieser Studien schlussfolgerte, in Übereinstimmung mit dem Stereotyp, dass Homosexualität mit transsexuellen Verhaltensweisen in Verbindung steht. Die andere Studie kam zu dem Schluss, dem Stereotyp widersprechend, dass Homosexualität nicht mit transsexuellen Verhaltensweisen in Verbindung steht. Als die hoch und gering vorurteilsbehafteten Studierenden die Qualität jeder Studie beurteilen sollten, schätzten sie übereinstimmend jene Studie höher ein, die ihren Blickpunkt unterstützte. Beispielsweise fanden Studierende mit starken Vorurteilen mehr Verdienst in der Studie, die das transsexuelle Stereotyp unterstützte. Zudem berichteten die Studierenden als Folge der Tatsache, zwei Studien gelesen zu haben, die sich gegenseitig genau ausbalancieren sollten, im Durchschnitt, dass sich ihre Überzeugungen weiter in Richtung ihrer ursprünglichen Einstellungen verschoben hatten (Munro & Ditto, 1997).
Dieses Experiment lässt vermuten, warum Informationen allein typischerweise Vorurteile nicht reduzieren können: Menschen neigen dazu, Informationen abzuwerten, die dem vorhandenen Stereotyp widersprechen. (Wir werden im nächsten Abschnitt erfolgreichere Methoden zur Überwindung von Vorurteilen kennen lernen.) Wir wollen Sie an einen anderen Effekt von Stereotypen erinnern, den wir im Kontext der Intelligenzmessung eingeführt haben. Erinnern Sie sich an Kapitel 9, wo wir Rassenunterschiede beim IQ-Wert diskutiert haben. Im dortigen Abschnitt führten wir Belege an, die nahe legen, dass Mitglieder stereotypisierter Gruppen etwas erleiden, das Claude Steele und seine Kollegen
16.3 Vorurteile
als Bedrohung durch Stereotype bezeichnet haben (Steele, 1997; Steele & Aronson, 1995, 1998). Eine Bedrohung durch Stereotype entsteht, wenn Menschen in Situationen platziert werden, in welchen negative Aspekte von Stereotypen relevant werden. In Kapitel 9 haben wir beispielsweise Belege angeführt, dass die Leistung von Afroamerikanern in Eignungstests beeinträchtigt wird, wenn sie glauben, dass das Ergebnis des Tests für das Stereotyp geringerer Leistungsfähigkeit von Schwarzen relevant ist. Wir erinnern Sie hier an dieses Ergebnis, um die Kräfte zu betonen, die negative Stereotype aufrechterhalten – und das Leben von Menschen deformieren, die mit Stereotypen belegt werden. Auch wenn Sie von sich selbst glauben, dass Sie keine Vorurteile haben, dann werden Sie doch mit großer Wahrscheinlichkeit den Stereotypen gewahr, die in unserer Gesellschaft herrschen. Der Wissensbestand dieser Stereotypen könnte Sie vielleicht dazu anhalten, sie in der einen oder anderen Weise unterhalb der Ebene des Bewusstseins anzuwenden (Crandall & Eshleman, 2003; Payne, 2005). Sogar Menschen, deren geäußerte Überzeugungen frei von Vorurteilen sind, können automatischen Vorurteilshandlungen unterliegen, als Folge von den Botschaften, die sie unwissentlich aus vielen Quellen in der aktuellen oder früheren Umgebung internalisiert haben. Betrachten Sie Ihre besten Freunde: Gehören Sie der gleichen ethnischen Gruppe wie Sie an? Falls dem so ist, warum könnte dies der Fall sein? Wir sind zu der eher beunruhigenden Schlussfolgerung gekommen, dass Vorurteile leicht herzustellen
und schwer zu entfernen sind. Dennoch haben Forscher seit den frühesten Tagen der Sozialpsychologie versucht, den Vormarsch des Vorurteils aufzuhalten und umzukehren. Betrachten wir eine Stichprobe dieser Bemühungen.
16.3.3 Das Auflösen von Vorurteilen Eine der klassischen Studien der Sozialpsychologie war gleichzeitig ein Beleg dafür, dass zufällige Unterteilungen in „wir“ und „die anderen“ zu großer Feindseligkeit führen können. Im Sommer 1954 brachten Muzafer Sherif und seine Kollegen (1961/1988) zwei Gruppen von Jungen in ein Sommerlager im Robbers Cave State Park in Oklahoma. Die beiden Gruppen wurden als die „Eagles“ und die „Rattlers“ bezeichnet. Jede Gruppe schmiedete ihre eigenen Bindungen – beispielsweise wanderten und schwammen sie zusammen und bereiteten sich das Essen gemeinsam zu –, die jeweils andere Gruppe wurde hierbei eine Woche lang ignoriert. Das gegenseitige Aufeinandertreffen der Gruppen bestand aus einer Anzahl wettbewerbsorientierter Aktivitäten wie Baseball, Football und Tauziehen. Von diesem Beginn an wurde die Rivalität zwischen den Gruppen gewalttätig. Die Gruppenfahnen wurden verbrannt, die Hütten wurden ausgeraubt und ein Kampf ums Essen entbrannte, der krawallartige Ausmaße annahm. Was konnte getan werden, um diese Feindseligkeiten einzudämmen?
Warum können vorurteilsbehaftete Überzeugungen die Reaktionen des Gehirns beeinflussen, die den Urteilen über diese beiden Gesichter zugrunde liegen?
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AUS DER FORSCHUNG Die Experimentalleiter versuchten eine Kampagne, indem sie die Gruppen gegenseitige Höflichkeitsbesuche abstatten ließen. Ohne Effekt. Die Experimentalleiter versuchten, die Gruppen unter nicht wettbewerbsorientierten Umständen zusammenzubringen. Ebenfalls ohne Effekt. Es herrschte sogar Feindseligkeit, wenn die Gruppen am gleichen Ort einen Film betrachteten. Schließlich stießen die Experimentalleiter auf eine Lösung. Sie gaben den Jungen Probleme zur Bearbeitung, die nur durch kooperatives Handeln und gemeinsame Ziele gelöst werden konnten. Beispielsweise arrangierten die Experimentalleiter, dass der Lagerbus eine Panne hatte. Beide Gruppen von Jungen waren notwendig, um ihn einen steilen Hügel hinaufzuschieben. Im Angesicht der gegenseitigen Abhängigkeit ging die Feindseligkeit zurück. Tatsächlich begannen die Jungen, über die Gruppengrenzen hinweg „beste Freunde“ zu werden.
Das Experiment von Robbers Cave widerlegte die Kontakthypothese – die Vorstellung, dass alleine direkter Kontakt zwischen verfeindeten Gruppen ausreicht, um Vorurteile zu reduzieren (Allport, 1954). Die Jungen mochten sich nur aufgrund der Gesellschaft des jeweils anderen kein bisschen mehr. Stattdessen legt das Experiment nahe, dass ein Programm zur Bekämpfung von Vorurteilen die persönliche Interaktion in der Verfolgung gemeinsamer Ziele befördern muss. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, wie Sie diese Lektionen auf Situationen anwenden könnten, die für Sie von Belang sind. Ange-
nommen, Sie beschäftigen beispielsweise Angestellte, die nicht miteinander auskommen. Welche Intervention könnten Sie starten? Der Sozialpsychologe Elliot Aronson und seine Kollegen (1978) entwickelten ein Programm, das seine Wurzeln in der Philosophie des Experiments von Robbers Cave hat, um Vorurteilen in kurz zuvor zusammengelegten Klassen in Texas und Kalifornien zu begegnen. Das Forscherteam schuf Umstände, in welchen Fünftklässler gegenseitig abhängig waren, statt gegenseitig zu konkurrieren, um das geforderte Material zu lernen. Mithilfe einer Strategie, die als Puzzletechnik bekannt wurde, erhält jeder Schüler einen Teil des gesamten zu lernenden Materials und soll dies dann mit anderen Gruppenmitgliedern teilen. Die Leistung wird aufgrund der Leistung der gesamten Gruppe bewertet. Daher ist der Beitrag jedes Mitglieds wichtig und wird wertgeschätzt. Rassenkonflikte gingen zurück in Puzzleklassen – Klassen, in welchen Puzzles zuvor feindselige weiße Schüler, Latinos und Afroamerikaner als Team mit gemeinsamem Schicksal zusammenbrachten (Aronson, 2002; Aronson & Gonzalez, 1988). Betrachten Sie die Geschichte eines Jungen namens Carlos. Carlos, der zuvor wegen des Umstands ignoriert wurde, dass er Englisch nicht als Muttersprache sprach, wurde ein wichtiger Teil der Information zu der Gruppenarbeit über Joseph Pulitzer zugewiesen. Die anderen Teammitglieder mussten herausfinden, wie sie ihn dazu bringen konnten, dass er die Informationen, für deren Beisteuerung er verantwortlich war, teilte. Als Reak-
In der wettbewerbsorientierten Phase des Experiments von Robbers Cave zogen die „Eagles“ gegen die „Rattles“ am gleichen Tau, am Ende zogen beide am gleichen Strang. Welche allgemeinen Schlussfolgerungen über Kontakt und Vorurteile können aus dieser Studie gezogen werden?
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16.4 Soziale Beziehungen
tion auf die Geduld und Ermutigung durch seine Teammitglieder fühlte sich Carlos gebraucht, entwickelte Zuneigung zu den Gruppenmitgliedern und entdeckte auch, dass Lernen Spaß macht. Sowohl seine Selbstwertschätzung stieg als auch seine Noten. (Wir freuen uns berichten zu können, dass Carlos später auf die Harvard Law School ging, nachdem er seinen Abschluss an einem College in Texas erfolgreich abgelegt hatte.) Obwohl die meisten unserer angeführten Beispiele zu Vorurteilen sich auf die USA beziehen, definiert nahezu jede Gesellschaft In-Gruppen und Out-Gruppen. Forscher haben weltweit Studien durchgeführt, um zu bestimmen, welche Arten von menschlichem Kontakt zur Reduzierung von Vorurteilen führen. Die Auswertung von 515 Studien zur Kontakthypothese – die Studien kamen aus der ganzen Welt – untermauerte die Schlussfolgerung, dass Kontakt mit Out-Gruppen-Angehörigen Vorurteile reduziert (Pettigrew & Tropp, 2006). Betrachten wir ein konkretes Beispiel der Effekte eines Kontakts.
Out-Gruppen. Freundschaften befördern möglicherweise auch Prozesse der Deprovinzialisierung: Wenn Menschen mehr über die sozialen Normen und Gebräuche von Out-Gruppen lernen, dann werden sie möglicherweise weniger „provinziell“ im Hinblick auf die Richtigkeit ihrer In-Gruppen-Prozesse (Pettigrew, 1997). Die Sozialpsychologie liefert kein Patentrezept für die plötzliche Beendigung von Vorurteilen. Sie liefert allerdings eine Reihe von Vorstellungen, um die schlimmsten Effekte von Vorurteilen langsam aber sicher auf begrenztem Raum zu eliminieren. Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten, um die von Ihnen beförderten oder aufrechterhaltenen Vorurteile zu überdenken – vielleicht können Sie beginnen, im kleinen Rahmen Anpassungen vorzunehmen. Wir haben gerade Umstände betrachtet, unter denen psychologische Kräfte Menschen auseinandertreiben können. Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels werden wir die umgekehrte Situation betrachten, wenn nämlich Menschen sich durch Freundschaft und Liebe zueinander hingezogen fühlen.
AUS DER FORSCHUNG
ZWISCHENBILANZ
Obwohl Deutschland bereits im Oktober 1990 wiedervereinigt wurde, zeigen die Ost- und Westdeutschen noch immer wichtige Unterschiede: Wenn Sozialwissenschaftler das Ausmaß von Vorurteilen und Gewalt gegenüber Ausländern messen, zeigen die Daten durchgängig, dass die Ostdeutschen sehr viel feindseliger sind. Forscher testeten die Hypothese, dass ein wichtiger Faktor, der zu der andauernden Feindseligkeit beiträgt, aus der historischen Isolierung Ostdeutschlands entstanden ist (Wagner et al., 2003): Dort wohnen weniger Ausländer, so dass es weniger Gelegenheit gibt, mit ihnen in Kontakt zu treten und Vorurteile zu reduzieren. Eine Studie mit 2.893 ost- und westdeutschen Teilnehmern bestätigte diese Hypothese. Jeder Teilnehmer machte Angaben zur Stärke seiner Vorteile, indem er oder sie Aussagen wie „Ausländer in Deutschland sind ein Problem für das Sozialsystem“ beurteilte. Ebenso gaben alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Ausmaß ihres persönlichen Kontaktes durch Antworten auf Fragen wie „Gibt es Ausländer unter Ihren Freunden?“ an. Diejenigen mit mehr ausländischen Freunden hatten im Durchschnitt weniger starke Vorurteile. Weil die Einwohner von Ostdeutschland weniger Gelegenheit hatten, Freundschaft mit Ausländern zu schließen, behielten sie ein relativ hohes Maß an Vorurteilen.
1 Welche Beziehung besteht zwischen In-Gruppen-Vor-
Warum ist Freundschaft so wirkungsvoll? Freundschaft erlaubt Menschen, etwas über Mitglieder von Out-Gruppen zu lernen: Möglicherweise identifizieren sie sich und fühlen Empathie mit Mitgliedern von
eingenommenheit und Vorurteil? 2 Wie unterstützt erwartungsbestätigendes Verhalten
Stereotypen? 3 Was hat die Forschung hinsichtlich des Kontakts
zwischen Angehörigen von verschiedenen Gruppen gezeigt? KRITISCHES DENKEN: Nennen Sie einen möglichen Grund, warum die Experimentatoren in der Studie über Hirnaktivität und Vorurteile glückliche und wütende Gesichter eingesetzt haben könnten, um Urteile auf Grund von Stereotypen zu untersuchen?
Soziale Beziehungen
16.4
Wie wählen Sie die Menschen aus, mit denen Sie Ihr Leben teilen? Warum suchen Sie die Gesellschaft von Freunden? Warum gibt es einige Menschen, bei welchen sich Ihre Gefühle jenseits der Freundschaft zu Gefühlen der romantischen Liebe ausweiten? Sozialpsychologen haben eine Vielzahl von Antworten auf diese Fragen der zwischenmenschliche Anziehung entwickelt. (Keine Sorge, man hat der Liebe noch nicht alle Mysterien entrissen.)
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16.4.1 Zuneigung
Physische Attraktivität
Haben Sie jemals innegehalten und darüber nachgedacht, wie und warum Sie zu jedem Ihrer Freunde gekommen sind? Der erste Teil der Antwort ist einfach: Menschen neigen dazu, sich zu anderen hingezogen zu fühlen, die ihnen räumlich nahe sind – Sie sehen und treffen diese Menschen, weil sie in Ihrer Nähe leben oder arbeiten. Dieser Faktor muss wahrscheinlich kaum erklärt werden, aber es könnte sich lohnen, festzuhalten, dass es eine allgemeine Tendenz bei Menschen gibt, Objekte und Personen nur aufgrund des häufigen Kontakts zu mögen: Je mehr Kontakt Sie mit etwas oder jemandem haben, desto mehr mögen Sie es oder ihn (Zajonc, 1968), wie wir bereits in Kapitel 12 gezeigt haben. Allein dieser Effekt wird dazu führen, dass Sie im Laufe der Zeit diejenigen Leute immer mehr und mehr mögen werden, die in der Nähe sind. Wie wir in dem Kasten Psychologie im Alltag sehen werden, verleiht das Computerzeitalter dem Begriff Nähe eine neue Bedeutung. Viele Menschen halten heute Beziehungen über Computernetzwerke aufrecht. Obwohl ein Freund geografisch recht weit entfernt sein kann, können tägliche Nachrichten auf dem Computerbildschirm den Eindruck erwecken, die Person sei in der Nähe. Betrachten wir zunächst andere Faktoren, die zu Anziehung und Zuneigung führen.
Was auch immer geschieht, physische Attraktivität spielt oft eine Rolle beim Entfachen einer Freundschaft. Es gibt in der westlichen Kultur ein starkes Stereotyp, demzufolge physisch attraktive Menschen auch in anderer Hinsicht gut sind. Die Auswertung einer großen Zahl von Studien dokumentierte den Einfluss körperlicher Attraktivität auf eine ganze Reihe von Beurteilungen (Langlois et al., 2000). Zum Beispiel werden sowohl Kinder als auch Erwachsene für sozial kompetenter gehalten, wenn sie attraktiv sind. Außerdem erhalten attraktive Kinder in der Schule höhere Kompetenzwerte und ebenso attraktive Erwachsene im Beruf. Im Hinblick auf die soziale Grundlage des Stereotyps sind Sie wahrscheinlich nicht überrascht zu hören, dass körperliche Attraktivität eine Rolle spielt, wenn es um Zuneigung geht.
AUS DER FORSCHUNG In einer klassischen Untersuchung gruppierten die Forscher Studierende im ersten Semester an der Universität von Minnesota per Zufall zu Paaren für ein großes Tanzfest. Die Forscher erhoben von jedem Studierenden eine Vielzahl von Informationen auf den Dimensionen Intelligenz und Persönlichkeit. Am Tanzabend und in späteren Nachfolgeuntersuchungen wurden die Studierenden gebeten, ihre Partner zu bewerten und anzugeben, wie wahrscheinlich es sei, dass sie erneut mit dieser Person ausgehen. Die Ergebnisse waren klar und bei Männern und Frauen sehr ähnlich. Schönheit war wichtiger als ein hoher Intelligenzquotient, gute soziale Fähigkeiten oder angenehme Persönlichkeiten. Nur diejenigen, die per Zufall mit schönen oder gut aussehenden Partnern zusammengekommen waren, wollten die Beziehung weiter ausbauen (Walster et al., 1966).
Physische Attraktivität scheint auch in anderen Kulturen die Zuneigung gut vorherzusagen. Chinesische Schüler der zehnten und zwölften Klassen beispielsweise sprechen ihren physisch attraktiven Klassenkameraden einen höheren Status zu (Dong et al., 1996). Wie wir jedoch bereits in Kapitel 12 erwähnt haben, unterscheiden sich Kulturen hinsichtlich ihrer Standards für körperliche Schönheit. Afroamerikaner beispielsweise assoziieren weniger negative Persönlichkeitseigenschaften mit der Fettleibigkeit als Angloamerikaner (Hebl & Heatherton, 1998; Jackson & McGill, 1996). Warum wirkt sich Nähe – im physikalischen Raum oder im Cyberspace – auf die Zuneigung aus?
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16.4 Soziale Beziehungen
Ähnlichkeit Ein berühmtes Sprichwort zur Ähnlichkeit lautet: „Gleich und gleich gesellt sich gern!“ Stimmt dies? Belege aus der Forschung legen nahe, dass die Antwort in vielen Fällen „Ja“ ist. Ähnlichkeit auf Dimensionen wie Überzeugungen, Einstellungen und Werten fördert die Freundschaft. Warum könnte dies so sein? Menschen, die Ihnen ähnlich sind, können Ihnen ein Gefühl der persönlichen Bestätigung verschaffen, weil eine ähnliche Person Ihnen das Gefühl gibt, dass die Einstellungen, die sie beispielsweise für wichtig halten, in der Tat die richtigen sind (Byrne & Clore, 1970). Darüber hinaus führt Unähnlichkeit oft zu starker Abscheu (Rosenbaum, 1986). Wenn Sie feststellen, dass jemand Meinungen vertritt, die sich von den Ihren unterscheiden, dann könnten Sie Erinnerungen an Vorfälle zwischenmenschlicher Reibungen aus der Vergangenheit hervorrufen. Dies wird Sie motivieren, fern zu bleiben – und wenn Sie sich von unähnlichen Menschen fernhalten, dann bleiben nur die ähnlichen in ihrem Reservoir an Freunden. Wenn Sie während Ihrer Studienzeit in einem Studentenwohnheim wohnen, können Sie sich dort die Wirkung der Ähnlichkeit verdeutlichen. Nehmen Sie erfolgreiche Mitbewohner als ähnlich war? Forscher haben die Ähnlichkeit von Zimmergenossen entlang einer Vielzahl von Dimensionen untersucht. Eine Studie erfasste beispielsweise die Kommunikationseigenschaften von Paaren aus Zimmergenossen: Wie ähnlich waren sie sich auf Dimensionen wie der Bereitschaft zu kommunizieren? Zimmergenossen, die sich an den positiven Enden der Trait-Dimensionen ähnlich waren (wenn beispielsweise beide gerne kommunizierten), mochten einander mehr als Zimmergenossen, die sich unähnlich waren, oder Paare, bei denen beide nicht gerne kommunizierten (Martin & Anderson, 1995). Wenn Sie in einem Studentenwohnheim wohnen, können Sie dieses Muster im Feld überprüfen! Reziprozität Schließlich neigt man dazu, Menschen zu mögen, von denen man glaubt, dass man von ihnen gemocht wird. Erinnern Sie sich noch daran, wie wir besprochen haben, wie Verkäufer Reziprozität einsetzen? Die Regel, der zufolge man zurückgeben sollte, was man erhält, gilt auch für Freundschaft. Menschen geben an andere Menschen „Zuneigung“ zurück, von welchen sie glauben, dass sie ihnen „Zuneigung“ gegeben haben (Backman & Secord, 1959; Kenny & La Voie, 1982). Darüber hinaus kann der Glaube daran, dass jemand
Sie mag oder nicht mag, dabei helfen, diese Beziehung ins Leben zu rufen, weil Ihre Überzeugungen Ihre Verhaltensweisen beeinflussen (Curtis & Miller, 1986). Können Sie vorhersagen, wie Sie sich jemandem gegenüber verhalten würden, von dem Sie glauben, dass er Sie mag? Oder von dem Sie glauben, dass er Sie nicht mag? Angenommen, Sie reagieren feindselig auf jemanden, von dem Sie denken, er mag Sie nicht. Ist Ihnen klar, wie diese Überzeugung zu einer Self-fulfilling Prophecy werden kann? Wenn wir uns die soziale Welt betrachten, werden unsere Urteile darüber, welche Bekannten durch „Zuneigung“ verbunden sind, in der Regel sehr durch Reziprozität gelenkt. Das heißt, wenn wir wissen, dass die Person A Person B besonders gerne mag, dann schließen wir, dass Person B Person A die gleichen Gefühl entgegenbringt (Kenny et al., 1996). Die angeführten Belege lassen vermuten, dass die meisten Ihrer Freunde Menschen sein werden, welchen Sie häufig begegnen und mit welchen Sie Bande aus Ähnlichkeit und Reziprozität teilen. Aber was haben die Forscher über die intensiven Beziehungen herausgefunden, die man Liebe nennt?
16.4.2 Liebe Viele der gleichen Kräfte, die zur Zuneigung führen, sind auch der Anfang zur Liebe – in den meisten Fällen werden Sie die Menschen zuerst mögen, die Sie später lieben. (Manche Menschen geben jedoch an, sie würden bestimmte Verwandte lieben, die sie als Individuen nicht besonders mögen.) Welche speziellen Faktoren haben Sozialpsychologen über Liebesbeziehungen in Erfahrung gebracht? Die Erfahrung der Liebe Was heißt es, Liebe zu erleben? Sie sollten sich einen Moment Zeit nehmen, um darüber nachzudenken, wie Sie dieses wichtige Konzept definieren würden. Glauben Sie, Ihre Definition würde mit der Ihrer Freunde übereinstimmen? Forscher haben versucht, diese Frage auf verschiedene Arten zu beantworten, und es ist eine gewisse Konsistenz entstanden. Menschen konzeptualisieren Liebe auf drei Dimensionen (Aron & Westbay, 1996): Leidenschaft – sexuelle Leidenschaft und Verlangen Intimität – Ehrlichkeit und Verständnis Verbindlichkeit – Hingabe und Opfer
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Würden Sie sagen, alle Ihre Beziehungen der Liebe enthalten alle drei Dimensionen? Sie denken sich wahrscheinlich „nicht alle von ihnen“. Tatsächlich ist eine Unterscheidung wichtig zwischen der „Liebe“ zu jemandem und in jemanden „verliebt zu sein“ (Meyers & Berscheid, 1997). Die meisten Menschen sagen von sich, sie „lieben“ eine größere Kategorie von Menschen als die Gruppe, in die sie „verliebt“ sind. – Wem von uns wurde nicht schon einmal das Herz gebrochen mit den Worten: „Ich liebe dich, aber ich bin nicht in dich verliebt“? „Verliebt zu sein“ impliziert etwas Intensiveres und Besonderes – das ist die Art von Erfahrung, die sexuelle Leidenschaft einschließt. Obwohl es möglich ist, einige allgemeine Merkmale von Liebesbeziehungen zu nennen, hat Ihr Weltwissen Sie vermutlich zu der korrekten Verallgemeinerung geführt, dass es interindividuelle Unterschiede in der Art und Weise gibt, in der Menschen Liebe erleben. Forscher haben sich besonders dafür interessiert, die interindividuellen Unterschiede in der Fähigkeit zu verstehen, eine Liebesbeziehung über längere Zeit aufrechtzuerhalten. In den letzten Jahren hat sich die Aufmerksamkeit auf den Bindungsstil Erwachsener konzentriert (Fraley et al., 2005; Fraley & Shaver, 2000). Wie Sie sich aus Kapitel 10 erinnern werden, ist die Qualität der Eltern-Kind-Bindung für eine problemlose soziale Entwicklung sehr wichtig. Forscher haben sich gefragt, wie groß der Einfluss dieser frühen Bindung im späteren Leben ist, wenn die Kinder erwachsen werden und tiefe Beziehungen eingehen und selbst Kinder haben.
Was für Arten von Bindungsstilen gibt es? In Tabelle 16.3 finden sich drei Aussagen zu engen Beziehungen (Hazan & Shaver, 1987; Shaver & Hazan, 1994). Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit, die Aussage herauszusuchen, die am besten auf Sie zutrifft. Wenn man Menschen fragt, welche dieser Aussagen sie am besten beschreibt, dann wählt die Mehrheit (55 Prozent) die erste Aussage, das ist der sichere Bindungsstil. Beträchtliche Minderheiten wählen die zweite Aussage (25 Prozent, der vermeidende Stil) und die dritte (20 Prozent, der ängstlich-ambivalente Stil). Der Bindungsstil hat sich als genauer Prädiktor der Beziehungsqualität erwiesen (Mikulincer et al., 2002; Tidwell et al., 1996). Verglichen mit Personen, welche die anderen beiden Stile gewählt haben, haben sicher gebundene Personen als Erwachsene die dauerhaftesten romantischen Beziehungen. Der Bindungsstil sagt auch die Art und Weise voraus, in der eine Person in der Beziehung Eifersucht erlebt (Sharpsteen & Kirkpatrick, 1997). Menschen mit einem ängstlichen Stil neigen beispielsweise dazu, häufiger und intensiver an Eifersucht zu leiden als Menschen mit sicherem Bindungsstil. Treffen wir eine letzte Unterscheidung. Viele Liebesbeziehungen beginnen mit einer Periode großer Intensität und Absorption, die als leidenschaftliche Liebe bekannt ist. Im Laufe der Zeit besteht eine Tendenz, dass Beziehungen zu einem Zustand geringerer Intensität, aber größerer Intimität übergehen, den man als begleitende Liebe bezeichnet (Berscheid & Walster, 1978). Wenn Sie sich in einer Liebesbeziehung befin-
Tabelle 16.3
Bindungsstile von Erwachsenen in engen Beziehungen
Aussage 1: Ich finde es relativ leicht, anderen nahe zu sein und es macht mir nichts aus, von ihnen abhängig zu sein. Ich mache mir nicht oft Gedanken darüber, verlassen zu werden oder darüber, dass mir jemand zu nahe kommt. Aussage 2: Ich fühle mich nicht besonders wohl, wenn mir andere nahe sind; ich finde es schwierig, ihnen vollständig zu vertrauen und mir zu erlauben, von ihnen abhängig zu sein. Ich werde nervös, wenn mir jemand zu nahe kommt, und oft wollen meine Liebespartner, dass ich intimer bin, als mir lieb ist. Aussage 3: Ich habe den Eindruck, dass andere zögern, mir so nahe zu sein, wie ich es möchte. Ich mache mir oft Sorgen, dass mein Partner mich nicht wirklich liebt oder nicht bei mir bleiben will. Ich will meinem Partner besonders nahe sein und dies schreckt Menschen manchmal ab.
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16.4 Soziale Beziehungen
Begleitende Liebe für einen Menschen zu empfinden, für den Sie früher Leidenschaft empfanden, ist kein Signal für „Entlieben“: Im Gegenteil, sie erwächst natürlicherweise aus einer Liebesbeziehung und ist ein wesentlicher Bestandteil der meisten Langzeitbeziehungen.
den, dann tun Sie gut daran, diese Veränderung vorauszusehen – damit Sie eine natürliche Veränderung nicht als einen Prozess des „Entliebens“ missverstehen. Menschen, die für sich einen höheren Grad an begleitender Liebe angeben, erfahren ihr Leben generell sogar als befriedigender (Kim & Hatfield, 2004). Dennoch ist die Abnahme an leidenschaftlicher Liebe möglicherweise nicht so drastisch, wie das Stereotyp von langzeitlich gebundenen Paaren vermuten lässt. Forscher finden ein angemessenes Maß an leidenschaftlicher Liebe sogar noch nach 30 Jahren Beziehung (Aron & Aron, 1994). Wenn Sie eine Liebesbeziehung eingehen, können Sie große Hoffnungen darauf setzen, dass die Leidenschaft in irgendeiner Form anhalten wird, auch wenn die Beziehung wächst, um andere Bedürfnisse zu umfassen. Beachten Sie bitte, dass die Erfahrung der Liebe ebenfalls durch kulturelle Erwartungen beeinflusst wird (Wang & Mallinckrodt, 2006). An verschiedenen Punkten dieses Kapitels haben wir auf die kulturelle Dimension Independenz vs. Interdependenz hingewiesen: Kulturen mit independentem Verständnis des Selbst schätzen die Person mehr als das Kollektiv; interdependente Kulturen legen größeren Wert auf gemeinsame kulturelle Ziele als auf individuelle. Wie wirkt sich dies auf Ihr Leben aus? Wenn Sie einen Lebenspartner aufgrund Ihrer eigenen Gefühle von Liebe wählen, zeigen Sie dadurch eine Präferenz für persönliche Ziele; wenn Sie einen Lebenspartner im Hinblick darauf wählen, wie diese Person zur Struktur und zu den Prioritäten Ihrer Familie passt, dann sind Sie mehr auf kollektive Ziele ausgerichtet. Kulturvergleichende Forschungen haben zu der starken Verallgemeinerung geführt, dass Mitglieder independenter Kulturen wesentlich größeren Wert auf Liebe legen
(Dion & Dion, 1996). Denken Sie bitte über folgende Frage nach: „Wenn ein Mann (eine Frau) alle Qualitäten hätte, die Sie wünschen, würden Sie diese Person dann heiraten, auch wenn Sie sie nicht lieben würden?“ Nur 3,5 Prozent einer Stichprobe aus männlichen und weiblichen Studierenden im Grundstudium in den Vereinigten Staaten antworteten mit „Ja“, während 49 Prozent einer vergleichbaren Gruppe Studierender aus Indien mit „Ja“ antworteten (Levine et al., 1995). Mitglieder independenter Kulturen stellen auch höhere Anforderungen an ihre potenziellen Partner. Weil Menschen in diesen Kulturen ausgeprägtere Vorstellungen von persönlicher Erfüllung innerhalb einer Beziehung haben, erwarten sie auch mehr von Ehepartnern (Hatfield & Sprecher, 1995). Welche Faktoren verleihen einer Beziehung Dauer? Es ist wahrscheinlich, dass jeder, der dieses Buch liest – und mit Sicherheit alle, die dieses Buch geschrieben haben –, in einer Beziehung war, die nicht von Dauer war. Was ist passiert? Oder, um die Frage in ein positiveres Licht zu setzen, was können Forscher über die Arten von Situationen und über die Menschen in diesen Situationen sagen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit zu langfristigen Liebesbeziehungen führen? Eine Theorie beschreibt Menschen in engen Beziehungen, als hätten sie das Gefühl, dass der „Andere“ im „Selbst“ enthalten ist (Aron et al., 2004). Werfen Sie einen Blick auf die Diagramme in Abbildung 16.5. Jedes Diagramm zeigt eine Möglichkeit, wie Sie eine enge Beziehung auffassen können. Wenn Sie in einer Liebesbeziehung sind, können Sie angeben, welches der Diagramme das Ausmaß der Interdependenz zwischen Ihnen und Ihrem Partner am besten zu erfassen scheint? Wie Forschungsergebnisse zeigen, fühlen sich Menschen mit dem Erleben der größten Überlappung zwischen dem Selbst und dem Anderen – diejenigen, die den Anderen mittlerweile als Teil des Selbst betrachten – mit größter Wahrscheinlichkeit langfristig der Beziehung verpflichtet (Aron et al., 1992; Aron & Fraley, 1999). Welche anderen Faktoren tragen dazu bei, eine Beziehung aufrechtzuerhalten? Das Abhängigkeitsmodell schlägt vor, dass Verbindlichkeit auf einer Reihe von Urteilen basiert (Drigotas & Rusbult, 1992, S. 65): Der Wichtigkeit jedes von mehreren Bedürfnissen in der Beziehung der Person. Wichtige Bedürfnisse sind Intimität, Sexualität, emotionale Beteiligung, liebevolle Begleitung und intellektuelle Beteiligung.
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Abbildung 16.5: Eine Skala zum Einschluss des Anderen im Selbst. Wenn Sie in einer Liebesbeziehung sind, welches Diagramm erfasst dann am besten die Interdependenz zwischen Ihnen und Ihrem Partner? Forschungen mithilfe dieser Skala legen nahe, dass Menschen, die den Anderen am stärksten als Teil des Selbst sehen, sich auch mit größter Wahrscheinlichkeit langfristig dieser Beziehung verpflichtet fühlen. Dem Ausmaß, in dem jedes dieser Bedürfnisse in dieser Beziehung befriedigt wird. Ob es im Hinblick auf jedes Bedürfnis jemand anderen als den gegenwärtigen Partner gibt, mit dem eine wichtige Beziehung besteht. Dem Ausmaß, in dem jedes Bedürfnis durch die andere Beziehung befriedigt wird. Wie Sie vermutlich erwarten, sagt dieses Modell vorher, dass Menschen dann mit größerer Wahrscheinlichkeit in einer Beziehung verbleiben, wenn diese Beziehung wichtige Bedürfnisse befriedigt, die nicht von jemand anderem befriedigt werden können. Wenn also Begleitung für Sie sehr wichtig ist – Sie haben Spaß daran, Ihre Freizeit mit anderen Menschen zu verbringen – und jemand, mit dem Sie eine Beziehung haben, mehr liebevolle Begleitung als irgendwer sonst in Ihrem Bekanntenkreis bietet, dann werden Sie wahrscheinlich diese Beziehung aufrechterhalten. Das Abhängigkeitsmodell bietet auch Einsichtsvolles zur Frage, wieso Menschen in Beziehungen verbleiben, in denen sie körperlich misshandelt werden (Choice & Lamke, 1999). In einer Stichprobe von 100 Frauen aus einem Frauenhaus wollten jene Frauen, die annahmen, sie hätten wenig Alternativen – oft aus finanziellen Gründen –, trotzdem nach wie vor in ihre Beziehungen zurück (Rusbult & Martz, 1995). Menschen können also sehr unglücklich in einer Beziehung sein und dennoch von dieser Beziehung abhängen. Im Verlauf dieses Kapitels haben wir immer wieder gesehen, wie soziale Kräfte auf Individuen einwirken.
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Wir haben beispielsweise gesehen, wie Situationen zu einer Einschränkung Ihres persönlichen Verhaltens führen und wie Einstellungen im sozialen Schmelztiegel geschmiedet werden. Wir haben Sie zum Hinterfragen Ihrer Verhaltensweisen ermuntert, damit Sie erkennen, auf welche Weise Ihre soziale Umgebung Hilfestellung bei der Erklärung wichtiger Aspekte Ihrer alltäglichen Erfahrungen gibt. Im nächsten Kapitel werden wir uns damit befassen, wie die gleichen Arten von Kräften Ihre eigenen Verhaltensweisen sowie jene von größeren Gruppen lenken.
ZWISCHENBILANZ 1 Welchen Effekt hat Ähnlichkeit auf Zuneigung? 2 Welcher Bindungsstil bei Erwachsenen wird im Allge-
meinen mit sehr guten Beziehungen assoziiert? 3 Wie sagt die Interdependenztheorie vorher, welche
Beziehungen aller Wahrscheinlichkeit nach von Dauer sind? KRITISCHES DENKEN: Rufen Sie sich die Studie in Erinnerung, in der die Wirkung physischer Attraktivität auf die Anziehungskraft zufällig ausgewählter Verabredungspartners untersucht wurde. Warum war es wichtig, dass die Wirkung der physischen Attraktivität sowohl am Abend der ersten Verabredung sowie zu den Folgeverabredungen festgestellt wurde?
16.4 Soziale Beziehungen
PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Können dauerhafte Beziehungen über das Internet geschlossen werden?
Zweifelt irgendjemand daran, dass das Aufkommen des Internet großen Einfluss auf die Art und Weise hatte, in der Menschen enge Beziehungen beginnen und aufrechterhalten? Nehmen wir den 13-jährigen Daniel aus München, dessen „neue Freundin“ die 13jährige Rita aus Berlin ist. Daniel und Rita waren nicht in der Lage, über das Internet Bilder voneinander auszutauschen. Als Daniels Mutter vorschlug, er solle die Bilder mit der Post schicken, antwortete ihr Sohn: „Mama, sie wird mir ihre Adresse nicht geben“ (nach Gardner, 2000, S. 40). Offensichtlich ist dies nicht die Art von Beziehung, welche die meisten Jungen vor dem Ende des 20. Jahrhunderts für ihre „neue Freundin“ im Sinn gehabt hätten. Betrachten wir die Auswirkungen des Internet auf Beziehungen. Studien haben gezeigt, dass soziale Interaktionen zu den Dingen gehören, die Nutzer des Internet am häufigsten tun. Innerhalb der letzten Jahre sind soziale Netzwerk-Seiten wie MySpace oder Facebook erstaunlich gewachsen. MySpace etwa rangiert, gemessen an der Zahl der betrachteten Seiten und der dort verbrachten Zeit, an zweiter Stelle hinter Yahoo, was die Popularität im Netz angeht (Walker, 2006). An einer Universität im Mittleren Westen waren 20.247 von 25.741 immatrikulierten Studierenden registrierte Nutzer von Facebook (Bugeja, 2006). Die Beliebtheit dieser Websites legt nahe, dass eine große Anzahl von Beziehungen inzwischen im Cyberspace begonnen werden. Aber wie oft schaffen es diese Beziehungen in die reale Welt, und mit welchen Folgen? Die Forschung beschäftigt sich inzwischen mit diesen Fragen (Bargh & McKenna, 2004). Nehmen wir eine Studie an 568 Personen (59 Prozent Frauen und 41 Prozent Männer), die Beiträge an eine Newsgroup geschickt hatten (McKenna et al., 2001). Aus dieser Stichprobe hatten 63 Prozent schon mit Bekannten am Telefon gesprochen, die sie über das Internet kennen gelernt hatten. 54 Prozent hatten sich von Angesicht zu Angesicht mit einer Bekanntschaft aus dem Internet getroffen. Eine zwei Jahre später durchgeführte Nachfolgestudie zeigte, dass viele der im Internet entstandenen Beziehungen immer noch sehr lebendig waren. 15 Prozent dieser Stichprobe hatten sich sogar mit jemandem verlobt, den sie im Internet kennengelernt hatten, und 10 Prozent hatten einen Internet-Partner geheiratet. Wir haben zuvor gesagt, dass Nähe eine wichtige Zutat für Zuneigung ist: Sie müssen Menschen tref-
fen, bevor diese Ihre Freunde oder Liebespartner werden können. Die soeben zitierten Studienweisen weisen darauf hin, dass das Internet einen wichtigen Mechanismus bereitstellt, mit dem man psychologische Nähe herstellen kann, auch ohne räumliche Nähe. Tatsächlich weisen einige Belege darauf hin, dass Beziehungen einen besseren Anfang nehmen, wenn sie im Internet beginnen und nicht von Angesicht zu Angesicht (Bargh et al., 2002). In einer Studie mit Studierenden interagierten die Teilnehmer zu zwei Gelegenheiten mit demselben Partner. Bei der Hälfte der Paare fanden beide Interaktionen von Angesicht zu Angesicht statt. Bei der anderen Hälfte ging eine Interaktion im Internet der Begegnung von Angesicht zu Angesicht voraus. Am Ende der zweiten Interaktion wurden die Teilnehmer anhand einer Skala von –7 (überhaupt nicht) bis +7 (sehr) befragt, wie sehr sie ihre Partner mochten. Diejenigen Teilnehmer, deren erste Interaktion über das Internet erfolgt war, gaben übereinstimmend an, ihre Partner mehr zu mögen (mit einem arithmetischen Mittel von 4,70) als die Teilnehmer, die sich nur von Angesicht zu Angesicht getroffen hatten (mit einem arithmetischen Mittel von 2,45). Woran könnte dies liegen? Die Forscher spekulierten, dass durch den Umstand der ersten Interaktion im Internet die Beeinflussung durch Oberflächenmerkmale wie beispielsweise der physischen Attraktivität des Partners geringer ausfiel. Darüber hinaus ermutigte die vorübergehende Anonymität des Internets die Teilnehmer vermutlich, mehr von sich preiszugeben, was die Zuneigung ebenfalls erhöhen könnte. In Internetkontakten, die sich zu persönlichen Beziehungen entwickeln, wird Information vorsichtiger und ehrlicher ausgetauscht (Gibbs et al., 2006). Die hier zitierten Studien legen nahe, dass das Internet eine positive Kraft im sozialen Leben und im Beziehungsleben vieler oder der meisten Menschen ist. Man sollte sich allerdings vor Augen halten, dass der unter Umständen übermäßige Gebrauch des Internets bei einigen Menschen die soziale Aktivität in der wirklichen Welt reduziert (Caplan, 2005). Außerdem wächst das Bewusstsein, dass auf vielen social networking sites Sexualstraftäter lauern (Dombrowski et al., 2004). Diese Probleme bestätigen, dass das Internet die Art, wie sich unser Sozialleben entwickelt, radikal verändert hat. Glauben Sie, dass Daniel jemals die Adresse seiner Freundin bekommen wird?
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Einstellungsänderungen, die aus Handlungen entstehen.
Die Konstruktion der sozialen Realität Jeder Mensch konstruiert seine eigene soziale Realität.
Um Compliance herzustellen, können Menschen Reziprozität, Verbindlichkeit und Knappheit einsetzen.
Die soziale Wahrnehmung wird von Überzeugungen und Erwartungen beeinflusst. Die Attributionstheorie beschreibt die Urteile, die Menschen über die Ursachen von Verhalten fällen.
Vorurteile Selbst willkürliche, minimale Hinweise können Vorurteile auslösen, wenn sie In-Gruppen und Out-Gruppen definieren.
Mehrere Verzerrungen, wie der fundamentale Attributionsfehler, der Self-serving Bias und Selffulfilling Prophecies können sich in Attributionen sowie andere Urteile und Verhaltensweisen einschleichen.
Stereotypen wirken sich auf die Art und Weise aus, in der Menschen Verhaltensweisen und Informationen in der Welt bewerten. Forscher haben einige der Einflüsse von Vorurteilen eliminiert, indem sie Mitglieder unterschiedlicher Gruppen kooperieren ließen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.
Der Einfluss der Erwartungen ist jedoch durch die zutreffenden Informationen, die wir über die Welt besitzen, begrenzt.
Kulturvergleichende Studien legen nahe, dass Freund schaft eine wichtige Rolle bei der Ausräumung von Vorurteilen spielt.
Einstellungen, Einstellungsänderungen und Handlungen Einstellungen sind positive oder negative Bewertungen von Objekten, Ereignissen oder Vorstellungen.
Soziale Beziehungen Zwischenmenschliche Anziehung wird teilweise durch Nähe, physische Attraktivität, Ähnlichkeit und Reziprozität festgelegt.
Nicht durch alle Einstellungen sind Verhaltensweisen korrekt vorherzusagen; die Einstellungen müssen verfügbar und sehr spezifisch sein.
Liebesbeziehungen werden im Hinblick auf Leidenschaftlichkeit, Intimität und Verbindlichkeit definiert.
Entsprechend dem Elaboration-Likelihood-Modell stützt sich die zentrale Route der Persuasion auf die sorgfältige Analyse von Argumenten, wohingegen die periphere Route sich auf oberflächliche Merkmale in persuasiven Situationen stützt.
Der Bindungsstil Erwachsener wirkt sich auf die Qualität von Beziehungen aus. Das Gefühl der Verbindlichkeit in einer Liebesbeziehung steht in Zusammenhang mit dem Ausmaß an erlebter Nähe und Abhängigkeit.
Die Übereinstimmung zwischen der Grundlage für eine Einstellung und der Art des Arguments kann sich ebenfalls auf die Wirksamkeit des Arguments auswirken. Die Dissonanztheorie und Selbstwahrnehmungstheorie befassen sich mit Einstellungsbildung und
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Attributionstheorie (S. 637) Compliance (S. 651) Einstellung (S. 644) Elaboration-Likelihood-Modell (S. 646) Erwartungsbestätigendes Verhalten (S. 642) Fundamentaler Attributionsfehler (S. 638) In-Gruppen (S. 653) In-Gruppen-Verzerrung (S. 654) Kognitive Dissonanz (S. 649) Kontakthypothese (S. 658) Kovariationsprinzip (S. 637) Out-Gruppen (S. 653) Persuasion (S. 646) Puzzleklassen (S. 658) Rassismus (S. 654) Reziprozitätsnorm (S. 651)
Self-fulfilling Prophecy (S. 640) Selbstwahrnehmungstheorie (S. 650) Self-serving Bias (S. 640) Sexismus (S. 654) Soziale Kategorisierung (S. 653) Soziale Kognition (S. 636) Soziale Wahrnehmung (S. 637) Sozialpsychologie (S. 636) Stereotypen (S. 656) Vorurteil (S. 653)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Soziale Prozesse, Gesellschaft und Kultur 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5
Rollen und Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsfindung in Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht der Situation: Enthüllungen durch Versteckte Kamera. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17.2 Altruismus und prosoziales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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17.2.1 Die Wurzeln des Altruismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.2 Motive für prosoziales Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2.3 Die Effekte der Situation auf prosoziales Verhalten. . . . . . . . . .
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Kritisches Denken im Alltag: Wie gewinnt man Freiwillige? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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17.3 Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
Evolutionäre Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situative Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Einschränkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
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.................. 17.4.1 Gehorsam gegenüber Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4.2 Die Psychologie des Völkermords und des Krieges . . . . . . . . . . 17.4.3 Friedenspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Psychologie im Alltag: Wie könnte Versöhnung möglich werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eine persönliche Schlussbemerkung
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Zusammenfassung Schlüsselbegriffe
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Ü B E R B L I C K
17.1 Die Macht der Situation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ir sind an einen Punkt im vorliegenden Buch angelangt, an dem wir die extremsten Folgen der Wirkungsweise sozialer Kräfte auf das menschliche Verhalten betrachten. Manches vom Inhalt dieses Kapitels wird im Hinblick auf das Potenzial für zerstörerische und unmenschliche Taten ziemlich beunruhigen. Wir werden aggressives Verhalten, Vorurteile und Umstände, die zum Völkermord führen können, ins Auge fassen. Gleichzeitig beschreiben wir den angeborenen Trieb des Menschen, prosozial zu sein – sich also in großzügiger Weise altruistisch zu verhalten, ohne eine Belohnung hierfür zu erwarten. Letzten Endes hoffen wir, dass dieses Kapitel einen optimistischen Ton anschlägt, indem es Ihnen verdeutlicht, wie die Ergebnisse aus sozialwissenschaftlicher Forschung dazu beitragen können, Weltfrieden zu schaffen. Studierende finden die Themen, die in diesem Kapitel diskutiert werden, oftmals sowohl provokativ als auch beunruhigend. Wir hoffen, dass Sie die Gelegenheit haben werden, die gesamte Tragweite der Ausführungen dieses Kapitels mit Ihren Kommilitonen zu diskutieren und zu erörtern. Sie sollten das Kapitel mit einem gut fundierten Verständnis dafür abschließen, wie sozialpsychologische Kräfte so auf jedes Individuum einwirken, dass einige der schrecklichsten Momente der Weltgeschichte hervorgebracht werden können, wenn Einzelne sich zu Gruppen zusammenschließen.
Die Macht der Situation
17.1
Im Verlauf dieses Buches haben wir festgestellt, dass Psychologen auf der Suche nach den Ursachen des Verhaltens an vielen unterschiedlichen Stellen nach Antworten suchen. Einige befassen sich mit genetischen Faktoren, andere mit biochemischen und Gehirnprozessen, während wieder andere sich auf den kausalen Einfluss der Umwelt konzentrieren. Sozialpsychologen glauben, dass die Hauptdeterminante des Verhaltens die Beschaffenheit der sozialen Situation ist, in der das Verhalten auftritt. Sie argumentieren, dass die soziale Situation eine signifikante Kontrolle über das individuelle Verhalten ausübt und oft die Persönlichkeit und die Lernerfahrungen, Werte und Überzeugungen aus der Vergangenheit dominiert. In diesem Abschnitt werden wir sowohl klassische Forschungsarbeiten als auch neuere Experimente darstellen, die zusammen den Einfluss subtiler, aber mächtiger
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situativer Variablen auf das Verhalten von Menschen erforschen.
17.1.1 Rollen und Regeln Welche sozialen Rollen nehmen Sie in Ihrem Leben ein? Eine soziale Rolle ist ein sozial definiertes Verhaltensmuster, das von einer Person erwartet wird, wenn sie in einer bestimmten Umgebung oder Gruppe funktioniert. Unterschiedliche soziale Situationen stellen unterschiedliche Rollen bereit. Wenn Sie beispielsweise zu Hause sind, nehmen Sie vielleicht die Rolle „Kind“ oder „Geschwister“ ein. Wenn Sie im Seminarraum sind, nehmen Sie die Rolle „Studierender“ ein. Zu wieder anderen Zeiten sind Sie vielleicht „beste Freundin/bester Freund“ oder „Geliebte/Geliebter“. Können Sie erkennen, wie diese unterschiedlichen Rollen unmittelbar unterschiedliche Arten von Verhalten angemessener oder unangemessener machen und wie sie Ihnen auch verschiedene Verhaltensweisen ermöglichen? Situationen werden auch durch die Gültigkeit von Regeln charakterisiert, Verhaltensrichtlinien für bestimmte Umgebungen. Einige Regeln werden explizit auf Schilder geschrieben (RAUCHEN VERBOTEN, HUNDE MÜSSEN DRAUSSEN BLEIBEN) oder Kindern explizit gelehrt (Nimm Rücksicht auf ältere Menschen! Nimm nie Süßigkeiten von Fremden an!). Andere Regeln sind implizit – sie werden durch Transaktionen mit anderen in bestimmten Umgebungen gelernt. Wie laut man seine Stereoanlage aufdrehen darf, wie nahe man bei einer anderen Person stehen darf, wann man seine Lehrer und Vorgesetzten beim Vornamen anreden darf und wie man angemessen auf ein Kompliment oder ein Geschenk reagiert – diese Hand-
Öffnen oder nicht öffnen? Wie lernen Menschen die Benimmregeln für Schenken und Beschenktwerden in unterschiedlichen Kulturen?
17.1 Die Macht der Situation
lungen hängen alle von der Situation ab. Japaner beispielsweise öffnen ein Geschenk nicht in Anwesenheit des Schenkenden, weil sie fürchten, nicht genügend Wertschätzung zu zeigen. Fremde, denen diese ungeschriebene Regel nicht bewusst ist, werden dieses Verhalten unter Umständen für unhöflich und nicht rücksichtsvoll halten. Wenn Sie das nächste Mal in einen Aufzug steigen, versuchen Sie festzustellen, welche Regeln Sie für diese Situation gelernt haben. Warum sprechen Menschen gewöhnlich mit gedämpfter Stimme oder überhaupt nicht? Normalerweise sind Ihnen die Einflüsse von Rollen und Regeln nicht besonders bewusst, aber ein klassisches psychologisches Experiment, das Stanford Gefängnisexperiment, brachte diese Kräfte zum Einsatz – mit erstaunlichen Ergebnissen (Haney & Zimbardo, 1977; Zimbardo, 1975; in Australien durch Lovibond et al., 1979 repliziert).
AUS DER FORSCHUNG An einem Sonntag im Sommer in Kalifornien durchbrach eine Sirene die Ruhe des Vormittags des Studierenden Tommy Whitlow. Ein Polizeiwagen kam mit quietschenden Reifen vor seinem Haus zu stehen. Innerhalb von Minuten wurde Tommy eines Verbrechens beschuldigt, über seine Rechte aufgeklärt, durchsucht und in Handschellen gelegt. Nachdem seine Personalien festgehalten und seine Fingerabdrücke genommen worden waren, wurden Tommy die Augen verbunden und er wurde ins Stanford County Gefängnis überführt. Dort musste er sich entkleiden, wurde mit Desinfektionsmittel besprüht und erhielt eine Uniform, die wie Arbeitskleidung aussah und auf der Vorder- und Rückseite eine Identifikationsnummer trug. Tommy wurde Gefangener 647. Acht weitere Studierende wurden ebenfalls verhaftet und erhielten Nummern. Tommy und seine Zellengenossen waren Freiwillige, die auf eine Zeitungsanzeige geantwortet und zugestimmt hatten, an einem zweiwöchigen Experiment zum Gefängnisleben teilzunehmen. Durch Münzwurf wurde einigen Freiwilligen die Rolle von Gefangenen zugewiesen, die anderen wurden Wärter. Alle waren aus einem großen Pool von studentischen Freiwilligen ausgewählt worden, die auf der Basis umfangreicher psychologischer Tests und Interviews als gesetzestreu, emotional stabil, körperlich gesund und „normal-durchschnittlich“ galten. Die Gefangenen lebten rund um die Uhr im Gefängnis, die Wärter arbeiteten normale Acht-Stunden-Schichten. Was geschah, nachdem diese Studierenden ihre zufällig zugewiesenen Rollen angenommen hatten? In den Wärter-Rollen verhielten sich Studierende, die zuvor Pazifisten und „nette Jungs“ gewesen waren, aggressiv – manchmal sogar sadistisch. Die Wärter bestanden darauf, dass die Gefangenen allen Regeln ohne Nachfragen oder Zögern
gehorchten. Wer dies nicht tat, verlor Privilegien. Zuerst zählten Dinge wie die Möglichkeit zu lesen, zu schreiben oder mit anderen Gefangen zu sprechen zu den Privilegien. Später wurde der geringste Protest mit dem Verlust der „Privilegien“ Essen, Schlafen und Waschen bestraft. Wer die Regeln nicht befolgte, musste auch niedere, geistlose Arbeiten verrichten, wie beispielsweise Toiletten mit bloßen Händen reinigen, Liegestütze ausführen, während ein Wärter seinen Fuß auf den Rücken des Gefangenen stellte, und Stunden in Einzelhaft verbringen. Die Wärter entwickelten immer neue Strategien, um den Gefangenen das Gefühl zu geben, sie seien wertlos. Als Gefangene verhielten sich psychisch stabile Studierende bald pathologisch und ergaben sich passiv in ihr Schicksal. Weniger als 36 Stunden nach dem Massenarrest begann der Gefangene 8412, einer der Anführer einer abgebrochenen Gefangenenrebellion an diesem Morgen, unkontrolliert zu weinen. Er hatte Wutausbrüche, desorganisiertes Denken und eine schwere Depression. An den folgenden Tagen entwickelten drei weitere Gefangene ähnliche stressbedingte Symptome. Ein fünfter Gefangener entwickelte einen psychosomatischen Hautausschlag am ganzen Körper, als der Ausschuss seinen Antrag auf Haftentlassung ablehnte.
Aufgrund der auftretenden dramatischen und unerwartet schwerwiegenden Effekte auf Emotionen und Verhalten wurden die zuvor erwähnten fünf Gefangenen mit extremen Stressreaktionen frühzeitig aus ihrem ungewöhnlichen Gefängnis entlassen und die Psychologen waren gezwungen, ihre zweiwöchige Studie nach nur sechs Tagen zu beenden. Obwohl Tommy Whitlow sagte, er würde dies nicht noch einmal mitmachen wollen, schätzte er die persönliche Erfahrung, weil er so viel über sich selbst und über die menschliche Natur gelernt hatte. Glücklicherweise ging es ihm und den anderen Studierenden grundsätzlich körperlich gut und sie erholten sich recht schnell von der sehr angespannten Situation. Nachfolgeuntersuchungen, die über viele Jahre durchgeführt wurden, zeigten, dass keine langfristigen negativen Effekte auftraten. Die Teilnehmer hatten alle zu einer wichtigen Lektion beigetragen: Die Macht der simulierten Gefängnissituation hatte im Denken der Wärter und ihrer Gefangenen eine neue soziale Realität geschaffen – ein reales Gefängnis. Gegen Ende des Stanford Gefängnisexperiments unterschied sich das Verhalten der Wärter von jenem der Gefangenen in fast jeder beobachtbaren Weise ( Abbildung 17.1). Die Grafik enthüllt aber nicht vollständig die extremsten Verhaltensformen der Wachen. Bei vielen Anlässen wurden die Gefangenen von den Wachen nackt ausgezogen. Die Wachen zogen den Gefan-
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Das Stanford Gefängnisexperiment schuf eine neue „soziale Realität“, in der die Normen des guten Verhaltens durch die Dynamik der Situation überwältigt wurden. Warum haben die studentischen Wärter und Gefangenen ihre Rollen derart stark angenommen?
genen Kapuzen über und legten sie in Ketten. Sie verweigerten ihnen Essen und Bettzeug. Kommt Ihnen diese Aufzählung bekannt vor? Sie umfasst Verhaltensweisen wie die der Wachen im Gefängnis Abu Ghuraib 2003 im Irak. Das Stanford Gefängnisexperiment hilft dabei, Licht auf diesen Skandal zu werfen: Die Macht der Situation kann normale Menschen dazu bringen, sich grausam zu verhalten (Fiske et al., 2004; Zimbardo, 2004). Ein entscheidendes Merkmal des Stanford Gefängnisexperiments ist, dass einzig der Zufall, in Form zufälliger Zuweisung, über die Rollen der Teilnehmer als Wachen oder Gefangene entschied. Diese Rollen hatten Status- und Machtunterschiede geschaffen, die in der Gefängnissituation aufgezeigt wurden. Niemand hatte die Teilnehmer gelehrt, wie sie ihre Rollen zu spielen hatten. Ohne jemals ein echtes Gefängnis besucht zu haben, lernten alle Teilnehmer etwas über die Interaktion zwischen den Mächtigen und den Macht-
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Wie kann die psychologische Forschung einige Aspekte des Verhaltens der Gefängniswärter in Abu Ghuraib erklären?
17.1 Die Macht der Situation
an der Kontrolle über andere Menschen zu haben. Es reichte, einfach die Uniform anzuziehen, um sie von passiven Studierenden zu aggressiven Gefängniswärtern zu machen. Was für ein Mensch werden Sie, wenn Sie in unterschiedliche Rollen hinein- und wieder hinausschlüpfen? Wo endet Ihr Gefühl des eigenen Selbst und wo beginnt Ihre soziale Identität?
17.1.2 Soziale Normen
Abbildung 17.1: Verhalten von Wärtern und Gefangenen. Im Verlauf des Stanford Gefängnisexperiments wirkten sich die zufällig zugewiesenen Rollen von Wärtern und Gefangenen drastisch auf das Verhalten der Teilnehmer aus. Die Beobachtungen der sechstägigen Interaktion zeigten, dass im Verlauf von 25 Beobachtungsperioden die Gefangenen zunehmend mehr passiven Widerstand leisteten, während die Wärter immer dominanter, kontrollierender und feindseliger wurden.
losen (Banuazizi & Movahedi, 1975). Ein Wärter-Typ ist jemand, der die Freiheit der Gefangenen-Typen einschränkt, um ihr Verhalten zu regulieren und dafür zu sorgen, dass es leichter vorherzusagen ist. Diese Aufgabe wird durch die Verwendung von Regeln auf der Basis von Zwang erleichtert, wozu explizite Bestrafung für Regelverletzungen gehört. Die Gefangenen können auf die soziale Struktur einer gefängnisähnlichen Umgebung, die von den Mächtigen geschaffen wurde, nur reagieren. Rebellion oder Folgsamkeit sind für die Gefangenen die einzigen Optionen; die Wahl der ersten Option führt zu Bestrafung, die Wahl der zweiten Option zum Verlust von Autonomie und Würde. Die studentischen Teilnehmer hatten solche Machtunterschiede schon in vielen früheren sozialen Interaktionen erlebt: Eltern – Kind, Lehrer – Schüler, Arzt – Patient, Vorgesetzter – Arbeiter, Mann – Frau. Sie haben für diese spezielle Umgebung lediglich ihre früheren Verhaltensmuster verfeinert und intensiviert. Jeder Studierende hätte jede Rolle spielen können. Viele Studierende aus der Wärter-Gruppe berichteten, dass sie überrascht waren, wie leicht es ihnen fiel, Freude
Zusätzlich zu den Erwartungen in Bezug auf das Rollenverhalten entwickeln Gruppen viele Erwartungen bezüglich der Art und Weise, in der sich ihre Mitglieder verhalten sollten. Die spezifischen Erwartungen bezüglich sozial akzeptierter Einstellungen und Verhaltensweisen, die in den expliziten oder impliziten Regeln einer Gruppe verankert sind, nennt man soziale Normen. Soziale Normen können grobe Richtlinien sein: Wenn Sie Mitglied des antifaschistischen Aktionsbündnisses sind, darf man annehmen, dass Sie politisch eher links orientiert sind. Wenn Sie Mitglied des Rings Christlich-Demokratischer Studenten sind, darf man annehmen, dass Sie politisch eher konservativ orientiert sind. Soziale Normen können spezifische Verhaltensstandards beinhalten. Wenn Sie beispielsweise als Servicekraft in der Gastronomie beschäftigt sind, erwartet man von Ihnen Höflichkeit gegenüber Gästen, egal wie unangenehm oder anspruchsvoll diese sind. Teil der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist üblicherweise, dass man die Menge sozialer Normen herausfindet, die das gewünschte Verhalten in der Gruppenumgebung regeln. Diese Anpassung geschieht auf zweierlei Weisen: Sie bemerken die Uniformität bestimmter Verhaltensweisen, die alle oder die meisten Gruppenmitglieder zeigen, und Sie beobachten die eintretenden negativen Konsequenzen, wenn jemand die soziale Norm verletzt. Normen haben mehrere wichtige Funktionen. Ein Bewusstsein für die Normen, die in einer bestimmten Gruppenumgebung gültig sind, hilft den Mitgliedern, sich zu orientieren und ihre sozialen Interaktionen zu regulieren. Jeder Teilnehmer kann antizipieren, wie andere in die Situation eintreten werden, wie sie sich kleiden und was sie wahrscheinlich sagen und tun werden. Jedem Mitglied ist auch klar, welche Art von Verhalten erwartet wird, um Anerkennung zu finden. Sie fühlen sich oft genau deshalb in neuen Situationen unwohl, weil Sie vielleicht die Normen nicht kennen, die regeln, wie Sie handeln sollten. Eine gewisse Toleranz gegenüber Abweichungen vom Standard ist ebenfalls Teil der Norm – in manchen Fällen mehr, in an-
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deren weniger. Kurze Hosen und ein T-Shirt sind beispielsweise unter Umständen gerade noch akzeptable Kleidungsstücke für die Teilnahme an einer religiösen Zeremonie; ein Badeanzug dagegen würde mit großer Sicherheit zu weit von der Norm abweichen. Gruppenmitglieder können für gewöhnlich abschätzen, wie weit sie gehen können bevor sie die auf Zwang basierende Macht der Gruppe zu spüren bekommen. Dies geschieht üblicherweise mit folgenden Mitteln: Lächerlich machen, Umerziehung oder Zurückweisung.
17.1.3 Konformität Wenn Sie eine soziale Rolle einnehmen oder sich einer sozialen Norm beugen, dann verhalten Sie sich zu einem gewissen Grad konform mit sozialen Erwartungen. Konformität ist die Tendenz von Menschen, das Verhalten und die Meinungen anderer Gruppenmitglieder zu übernehmen. Warum verhalten Sie sich konform? Gibt es Umstände, in welchen Sie soziale Beschränkungen ignorieren und unabhängig handeln? Sozialpsychologen haben zwei Arten von Kräften untersucht, die zu Konformität führen können:
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer sollten das Ausmaß an Bewegung eines Lichtpunkts abschätzen. Der Lichtpunkt bewegte sich in Wirklichkeit nicht, schien sich aber zu bewegen, wenn er in völliger Dunkelheit ohne Referenzpunkte betrachtet wurde. Es handelt sich dabei um eine Wahrnehmungstäuschung, die als autokinetischer Effekt bekannt ist. Ursprünglich unterschieden sich die einzelnen Schätzungen beträchtlich. Sobald die Teilnehmer jedoch in einer aus Fremden bestehenden Gruppe zusammengeführt wurden und ihre Schätzungen laut abgaben, begannen ihre Schätzungen zu konvergieren. Sie fingen an zu sehen, dass sich das Licht in die gleiche Richtung bewegte und in gleichem Ausmaß. Sogar noch interessanter war der letzte Teil von Sherifs Studie – wenn die Teilnehmer nach der Beobachtung in der Gruppe wieder allein im selben verdunkelten Raum ihre Schätzungen abgaben, folgten sie weiterhin der Gruppennorm, die während ihrer Zeit in der Gruppe entstanden war.
Sobald innerhalb einer Gruppe Normen etabliert wurden, neigen diese dazu, sich selbst aufrechtzuerhalten. In weiteren Forschungen wurde festgestellt, dass diese Gruppennormen bestehen blieben, selbst wenn die
Prozesse des Informationseinflusses – das Bedürfnis, sich in einer bestimmten Situation richtig zu verhalten und die richtige Handlungsweise zu verstehen. Prozesse des Normeneinflusses – das Bedürfnis, von anderen gemocht, akzeptiert und geschätzt zu werden. Wir werden klassische Experimente beschreiben, die beide Arten von Einflüssen aufzeigen. Informationseinfluss: Sherifs autokinetischer Effekt Viele Situationen des Lebens, in denen Sie Entscheidungen über Verhaltensweisen treffen müssen, sind überaus mehrdeutig. Nehmen wir beispielsweise an, Sie essen in einem eleganten Restaurant mit einer großen Gruppe von Menschen zu Abend. Jeder Platz am Tisch ist mit einer verwirrenden Reihe von Silberbesteck gedeckt. Woher wissen Sie, welche Gabel Sie benutzen sollen, wenn der erste Gang aufgetragen wird? Normalerweise werden Sie die anderen Mitglieder der Gesellschaft beobachten, um eine angemessenen Wahl zu treffen. Das ist Informationseinfluss. Ein klassisches Experiment von Muzafer Sherif (1935) zeigte, wie Informationseinfluss zur Normenkristallisierung führen kann – Normbildung und Verfestigung.
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Wenn Individuen hinsichtlich ihres grundlegenden Selbstwertgefühls von einer Gruppe – beispielsweise einer religiösen Sekte – abhängig werden, kann es zu extremer Konformität kommen. 20.000 identisch gekleidete Paare wurden in diesem Gottesdienst getraut, den Reverend Sun Myung Moon abhielt. In jüngerer Zeit wurden im August 1995 gleichzeitig 360.000 „Moonie“-Paare an 500 Orten auf der Welt, die über Satellit verbunden waren, durch Moon getraut. Warum fühlen sich Menschen in solcher Massenkonformität aufgehoben?
17.1 Die Macht der Situation
Mitglieder ein Jahr später getestet wurden, und ohne dass ehemalige Gruppenmitglieder die Schätzungen beobachteten (Rohrer et al., 1954). Normen können von einer Generation von Gruppenmitgliedern an die nächste weitergegeben werden und können das Verhalten von Personen noch lange beeinflussen, nachdem die ursprüngliche Gruppe, welche die Norm geschaffen hat, nicht mehr existiert (Insko et al., 1980). Woher wissen wir, dass Normen einen Einfluss über Generationen hinweg haben können? In den Studien zum autokinetischen Effekt ersetzten Forscher nach jedem Satz von Durchgängen ein Gruppenmitglied durch ein neues, bis alle Mitglieder der Gruppe neu in dieser Situation waren. Die ursprüngliche Norm der Gruppe blieb im Verlauf mehrerer sukzessiver Generationen erhalten (Jacobs & Campbell, 1961). Ist Ihnen klar, wie dieses Experiment die Prozesse erfasst, durch welche Normen im wirklichen Leben über Generationen hinweg weitergegeben werden können?
Normeneinfluss: Der Asch-Effekt Wie kann man am besten nachweisen, dass Menschen manchmal aufgrund von Normeneinfluss – ihrem Bedürfnis, von anderen gemocht, akzeptiert und geschätzt zu werden – konform handeln werden? Einer der wichtigsten frühen Sozialpsychologen, Solomon Asch (1940, 1956), schuf Situationen, in welchen die Teilnehmer Urteile unter Bedingungen abgaben, in denen die physikalische Realität absolut klar war – der Rest der Gruppe jedoch angab, diese Realität anders wahrzunehmen. Männliche Studierende wurden glauben gemacht, sie nähmen an einem Experiment zur Untersuchung der einfachen visuellen Wahrnehmung teil. Ihnen wurden Karten gezeigt, auf welchen drei Linien unterschiedlicher Länge zu sehen waren, und sie sollten angeben, welche der drei Linien gleich lang war wie die Standardlinie ( Abbildung 17.2). Die Linien unterschieden sich hinreichend voneinander,
Abbildung 17.2: Konformität im Experiment von Asch. Auf diesem Foto aus Aschs Studie ist zu erkennen, dass der uneingeweihte Teilnehmer, Nummer 6, durch die einhellige, falsche Schätzung der Mehrheit beunruhigt ist. Die typische Stimulusreihe ist links oben abgebildet. Rechts oben zeigt ein Diagramm die Konformität über zwölf Durchgänge, in welchen ein einzelner Teilnehmer mit einer einheitlichen Mehrheit zusammengebracht wurde, und auch die größere Unabhängigkeit, wenn ein ebenfalls von der Gruppe abweichender Partner vorhanden war. Ein geringerer Prozentsatz korrekter Schätzungen deutet auf ein größeres Ausmaß an Konformität des Individuums mit der falschen Schätzung der Gruppe hin.
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so dass Fehler selten waren, und die relative Länge der Linien wurde mit jeder Reihe von Versuchsdurchgängen verändert.
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer wurden an den vorletzten Platz in einem Halbkreis aus sechs oder acht Studierenden gesetzt. Ohne dass die Teilnehmer dies wussten, waren alle anderen in den Versuch eingeweiht – Vertraute des Versuchsleiters – und folgten einem vorher abgesprochen Plan. Bei den ersten drei Durchgängen stimmte jeder in der Gruppe dem korrekten Längenvergleich zweier Linien zu. Die erste eingeweihte Person, die im vierten Durchgang ihr Urteil abgab, bezeichnete jedoch zwei Linien als identisch, die offensichtlich unterschiedlich lang waren. Alle anderen Gruppenmitglieder taten dies ebenfalls, bis die Reihe an den uneingeweihten Teilnehmer kam. Dieser Studierende musste sich entscheiden, ob er sich der Sichtweise aller anderen in dieser Sache anschließen wollte und mit ihnen konform ging, oder ob er unabhängig blieb und zu dem stand, was er deutlich sehen konnte. Dieses Dilemma für den uneingeweihten Teilnehmer wurde in 12 der 18 Durchgänge wiederholt. Die Teilnehmer zeigten Anzeichen von Unglauben und offensichtlichem Unbehagen, wenn sie einer Mehrheit gegenüberstanden, welche die Welt so unterschiedlich wahrnahm. Was taten sie? Etwa ein Viertel der Teilnehmer blieb vollständig unabhängig – sie gingen nie mit der Mehrheit konform. Zwischen 50 und 80 Prozent der Teilnehmer (in unterschiedlichen Studien des Forschungsprogramms) gingen jedoch mindestens einmal mit der falschen Mehrheit konform. Eine Drittel der Teilnehmer schloss sich in mindestens der Hälfte der Fälle dem falschen Urteil der Mehrheit an.
Wenn man dem Teilnehmer jedoch einen einzigen Verbündeten gab, der von der Mehrheitsmeinung abwich, dann verringerte sich die Konformität merklich, wie man aus Abbildung 17.2 ersehen kann. Mit einem Partner waren die Teilnehmer für gewöhnlich in der Lage, dem Druck zur Übereinstimmung mit der Mehrheit zu widerstehen (Asch, 1955, 1956). Wie sollten wir diese Ergebnisse interpretieren? Asch selbst war verblüfft über die Rate, mit der die Teilnehmer nicht konform mit der Gruppe gingen (Friend et al., 1990). Er bezeichnete seine Forschung als Studien zur „Unabhängigkeit“. Tatsächlich gaben die Teilnehmer in zwei Drittel der Fälle die richtige, nichtkonforme Antwort. Die meisten Beschreibungen von Aschs Experiment haben jedoch die Konformitätsrate von einem Drittel betont. Berichte über dieses Experiment lassen oft unerwähnt, dass nicht alle Teilnehmer gleich waren: Die Anzahl der Personen, die nie mit der Gruppe konform gingen, etwa 25 Prozent, entsprach in etwa der Anzahl von Personen, die immer oder fast immer mit der Gruppe konform gingen. Insofern lehrt Aschs Experiment zwei komplementäre Lektionen. Einerseits stellen wir fest, dass Menschen nicht vollständig durch Normeneinfluss beeinflusst werden – in der Mehrzahl der Fälle behaupten sie ihre Unabhängigkeit (und manche tun dies immer). Andererseits stellen wir hingegen fest, dass Menschen manchmal eben doch mit der Gruppe konform gehen, selbst in unzweideutigen Situationen. Dieses Potenzial zur Konformität ist ein wichtiges Element des menschlichen Daseins. Konformität im Alltag
Asch beschreibt einige Teilnehmer, die der Mehrheit in den meisten Fällen nachgegeben haben, als „desorientiert“ und „von Zweifeln geplagt“; er sagt, sie „erlebten einen mächtigen Impuls, nicht von der Mehrheit abweichend zu scheinen“ (1952, S. 396). Diejenigen, die nachgaben, unterschätzten den Einfluss des sozialen Drucks und die Häufigkeit ihrer Konformität; einige behaupteten sogar, dass sie die Linien wirklich als gleich lang wahrgenommen hatten, trotz der offensichtlichen Diskrepanz. In anderen Studien variierte Asch drei Faktoren: die Größe der einstimmigen Mehrheit, die Anwesenheit eines Partners, der von der Mehrheitsmeinung abwich, und die Größe der Diskrepanz zwischen dem korrekten physikalischen Stimulusvergleich und der Mehrheitsmeinung. Er fand heraus, dass starke Konformitätseffekte durch eine einstimmige Mehrheit von nur drei oder vier Personen hervorgerufen wurden.
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Obwohl Sie ziemlich sicher nie mit den genauen Umständen des Asch-Experiments konfrontiert waren, können Sie ohne Zweifel Konformitätssituationen im Alltag erkennen. Viele dieser Situationen sind leicht auszumachen. Vielleicht fällt Ihnen auf, dass Sie Kleidung tragen, weil jemand anders sie für modisch erklärt hat, obwohl Sie selbst sie eher albern finden. (Das trifft auf jeden Fall auf nicht wenige andere Leute zu.) Außerdem passen sich Jugendliche oft, wie in Kapitel 10 dargestellt, hinsichtlich riskanten Verhaltens wie beispielsweise Drogenmissbrauch an ihre Gleichaltrigen an. Es gibt auch subtilere Formen der Konformität, die Ihnen vielleicht nicht unmittelbar auffallen. Betrachten wir eine Studie, die untersuchte, wie lange man braucht, um entweder Mehrheits- oder Minderheitsmeinungen zu sowohl wichtigen als auch trivialen Fragen zu formulieren.
17.1 Die Macht der Situation
AUS DER FORSCHUNG Wann haben Sie das letzte Mal eine Meinung zu Gehör gebracht, die von der Mehrheit um Sie herum abwich? Inwiefern fanden Sie das schwierig? Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass Menschen mit einer Minderheitenmeinung durchgängig mehr Zeit brauchten, um diese auszudrükken (Bassili, 2003). In einer anfänglichen Studie wurden 714 Studierende der University of Toronto von Befragern angerufen und um ihre Meinung zu Aussagen wie „Wir sollten tolerant gegenüber Gruppen sein, die die grundlegenden kanadischen Werte nicht teilen“ gebeten. Auf diese Aussage reagierten 88 Prozent der Studierenden zustimmend, mit einer durchschnittlichen Reaktionszeit von 2,71 Sekunden. Fast alle anderen Studierenden, 11 Prozent, widersprachen dieser Aussage mit einer durchschnittlichen Reaktionszeit von 4,59 Sekunden (der Rest gab andere Antworten). Die Teilnehmer brauchten also 1,88 Sekunden länger für eine Minderheitenmeinung. In einer Gruppe von 191 Studierenden der Indiana University ergab sich dasselbe Muster für die Haltung zu Freizeitaktivitäten (etwa Nähen und Schwimmen) und Gegenständen (etwa Schlangen und Schokoladenkekse). Eine Mehrheit von 76 Prozent der Befragten brauchte im Durchschnitt 1,28 Sekunden, um zu sagen, sie möge keine Zahnärzte, während eine Minderheit von 24 Prozent durchschnittlich 1,72 Sekunden brauchte, um zu sagen, sie möge Zahnärzte.
Behalten Sie dabei im Auge, dass die Teilnehmer diese Meinungen in keiner Weise öffentlich vorbrachten. In der ersten Studie gaben sie ihre Antworten einem einzelnen Befrager, der kein Feedback lieferte; in der zweiten Studie drückten sie „Mögen“- oder „Nichtmögen“-Tasten eines Computers. Trotzdem zögerten sie, wenn sie eine Meinung formulierten, die nicht mit der der Mehrheit übereinstimmte. Einfluss von Minderheiten und Nonkonformität Wenn man die Macht der Mehrheit über die Kontrolle von Ressourcen und Informationen bedenkt, ist es nicht verwunderlich, dass Menschen regelmäßig mit Gruppen konform gehen. Wie wir soeben gesehen haben, beeinflusst die Macht der Mehrheit sogar die Frage, wie lange Menschen brauchen, bevor sie ihre wahren Ansichten in einem nichtöffentlichen Kontext offenbaren. Sie wissen aber auch, dass Einzelne manchmal auf ihren Ansichten beharren. Wie ist das möglich? Wie entkommen Menschen der Beherrschung durch die Gruppe und wie kann jemals etwas Neues (entgegen der Norm gerichtetes) entstehen? Gibt es irgendwelche Bedingungen, unter denen eine kleine Minderheit die Mehrheit umdrehen und neue Normen erschaffen kann?
Während sich die Forscher in den USA auf Untersuchungen zur Konformität konzentriert haben, teilweise weil die Konformität mit dem demokratischen Prozess verwoben ist, haben einige europäische Forscher sich stattdessen auf die Macht der Wenigen konzentriert, die Mehrheit zu verändern. Serge Moscovici aus Frankreich war ein Pionier der Untersuchungen des Einflusses von Minderheiten. In einer Studie wurde den Teilnehmern eine Aufgabe zur Farbbenennung gestellt. Die Mehrheit identifizierte die Farbflecken korrekt, aber zwei eingeweihte Versuchspersonen (Vertraute des Versuchsleiters) beurteilten die grüne Farbe übereinstimmend als Blau. Ihr übereinstimmender Widerstand als Minderheit hatte keinen unmittelbaren Einfluss auf die Mehrheit. Als sie später jedoch allein getestet wurden, veränderten einige Teilnehmer ihre Urteile, indem sie die Grenze zwischen Grün und Blau in Richtung der blauen Seite des Farbspektrums verschoben (Moscovici, 1976; Moscovici & Faucheux, 1972). Mit der Zeit kann die Macht der Vielen, wie diese Studie zeigt, von der Überzeugung der engagierten Wenigen unterhöhlt werden (Moscovici, 1980, 1985). Sie können diese Effekte unter Verwendung der zuvor eingeführten Unterscheidung zwischen Normeneinfluss und Informationseinfluss in Begriffe fassen (Crano & Prislin, 2006; Wood et al., 1994). Minderheiten besitzen relativ wenig Normeneinfluss: Mitglieder der Mehrheit machen sich normalerweise keine großen Gedanken darum, ob sie von der Minderheit gemocht oder akzeptiert werden. Minderheiten besitzen andererseits jedoch Informationseinfluss: Minderheiten können Gruppenmitglieder dazu ermuntern, Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten (Peterson & Nemeth, 1996). Dieses Potenzial an Informationseinfluss von Minderheiten erlaubt nur unregelmäßig, den normativen Wunsch der Mehrheitsmitglieder nach Distanzierung von abweichenden oder nicht konsensfähigen Ansichten zu überwinden (Wood, 2000). In einer Gesellschaft ist die Mehrheit in der Regel der Verteidiger des Status quo. Üblicherweise kommt die Kraft für Innovationen und Veränderung von Mitgliedern der Minderheit oder von Individuen, die mit dem gegenwärtigen System unzufrieden sind oder sich neue Möglichkeiten und alternative Wege zum Umgang mit aktuellen Problemen vorstellen können. Der Konflikt zwischen der fest verwurzelten Sicht der Mehrheit und der abweichenden Minderheit ist eine grundlegende Vorbedingung für gesellschaftliche Innovationen, die zu positiven sozialen Veränderungen führen können.
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17.1.4 Entscheidungsfindung in Gruppen Wenn Sie schon einmal versucht haben, eine Entscheidung als Teil einer Gruppe zu treffen, dann wissen Sie, dass dies ziemlich anstrengend sein kann. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie hätten gerade zusammen mit Freunden einen Film gesehen. Obwohl Sie den Film „okay“ fanden, stellen Sie am Ende der Nachbesprechung des Films fest, dass Sie der Aussage „der Film war unglaublicher Mist“ zustimmen. Ist diese Veränderung als Folge einer Gruppendiskussion typisch? Sind die Urteile, die eine Gruppe fällt, konsistent von den Urteilen Einzelner verschieden? Forscher aus dem Bereich der Sozialpsychologie haben spezifische Kräfte aufgezeigt, die wirksam sind, wenn Gruppen Entscheidungen treffen (Kerr & Tindale, 2004). Wir konzentrieren uns im Folgenden auf Gruppenpolarisierung und Groupthink. Ihre Erfahrung nach dem Film war ein Beispiel für Gruppenpolarisierung: Gruppen weisen eine Tendenz zu Entscheidungen auf, die extremer als die Entscheidungen sind, welche die Mitglieder allein getroffen hätten. Angenommen, Sie bitten jedes Mitglied der Filmgruppe, ein Einstellungsurteil zu dem Film abzugeben; danach einigen sie sich als Gruppe auf einen einzelnen Wert, der ihre Gruppeneinstellung wiedergibt. Wenn die Bewertung der Gruppe extremer ist als der Durchschnitt der einzelnen Bewertungen, dann wäre dies ein Fall von Polarisierung. Abhängig von der anfänglichen Gruppentendenz – in Richtung Vorsicht oder Risiko – wird die Gruppenpolarisierung eine Gruppe tendenziell vorsichtiger oder risikofreudiger machen. Forscher haben vorgeschlagen, dass zwei Arten von Prozessen der Gruppenpolarisierung zugrunde liegen: Das Modell des Informationseinflusses und das Modell des sozialen Vergleichs (Liu & Latané, 1998). Das Modell des Informationseinflusses legt nahe, dass Gruppenmitglieder unterschiedliche Informationen zu einer Entscheidung beitragen. Wenn Sie und Ihr Freund beide unterschiedliche Gründe haben, den Film nicht besonders zu mögen, dann wären alle diese Informationen zusammengenommen ein guter Grund, den Film überhaupt nicht zu mögen. Das Modell des sozialen Vergleichs schlägt vor, dass Gruppenmitglieder die Achtung der anderen zu erringen suchen, indem sie ein Gruppenideal repräsentieren, das etwas extremer als die wahre Gruppennorm ist. Wenn Sie sich also einig werden, dass alle mit dem Film unzufrieden waren, dann könnten Sie versuchen, sich selbst als besonders scharfsinnig zu präsentieren, indem Sie eine extremere Meinung angeben. Wenn alle
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in einer Gruppe versuchen, die Wertschätzung der Gruppe auf diese Weise zu erlangen, wird sich eine Polarisierung ergeben. Gruppenpolarisierung ist eine Folge eines allgemeinen Denkmusters, das man Groupthink nennt. Irving Janis (1982) prägte den Begriff Groupthink für die Tendenz einer Gruppe, die Entscheidungen treffen muss, unerwünschten Input auszufiltern. Durch dieses Ausfiltern kann ein Konsens erreicht werden, insbesondere dann, wenn dieser Konsens mit dem Standpunkt des Anführers übereinstimmt. Janis Theorie des Groupthink entstand aus seiner historischen Analyse der Invasion in der Schweinebucht auf Kuba im Jahre 1960. Diese katastrophale Invasion wurde von Präsident Kennedy nach mehreren Treffen mit seinem Kabinett abgesegnet, bei welchen die Berater des Präsidenten, die eine Invasion wollten, Informationen minimiert oder unterdrückt hatten, die dagegen sprachen. Auf der Basis seiner Analyse des Ereignisses umriss Janis in groben Zügen eine Reihe von Merkmalen, von welchen er annahm, dass sie eine Gruppe für Groupthink anfällig machen. Er schlug beispielsweise vor, dass sehr kohäsive Gruppen, die von Experten abgeschnitten sind und unter Führungsvorgaben arbeiten, zu Groupthink-Entscheidungen neigen. Forscher haben versucht, Janis’ Vorstellungen sowohl durch weitere historische Analysen als auch durch Laborexperimente zu bestätigen (Henningsen et al., 2006;). Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Gruppen besonders anfällig für Groupthink sind, wenn sie ein kollektives Bedürfnis nach Aufrechterhaltung des gemeinsamen positiven Eindrucks der Gruppe haben (Turner & Pratkanis, 1998). Mitglieder von Gruppen müssen verstehen, dass Dissens oft die Qualität der Entscheidungen der Gruppe verbessert, selbst wenn er oberflächlich das gute Gefühl in der Gruppe mindert. Versuchen Sie, wenn Sie das nächste Mal an einer Unternehmung in einer Gruppe beteiligt sind, diese Prozesse in Aktion zu beobachten.
17.1.5 Die Macht der Situation: Enthüllungen durch Versteckte Kamera Sozialpsychologen haben versucht, die Macht sozialer Normen und sozialer Situationen in Experimenten nachzuweisen, die enthüllen, wie leicht kluge, unabhängige, vernünftige, gute Menschen dazu gebracht werden können, sich auf eine Art und Weise zu verhalten, die alles andere als optimal ist. Obwohl Sozialpsychologen die schwerwiegenden Konsequenzen
17.1 Die Macht der Situation
aufgezeigt haben, die sich aus der Macht der Situation ergeben, wie beispielsweise die sozialen Rollen, die gewöhnliche Studierende in aggressive Gefängniswärter verwandeln, ist es ebenso gut möglich, dieses Prinzip durch Humor zu demonstrieren. Die Szenarien von Versteckte Kamera (ursprünglich unter dem Titel „Candid Camera“ von dem intuitiven Sozialpsychologen Allen Funt entwickelt) leisten dies seit nahezu 50 Jahren. Funt zeigte, wie der Mensch dem Skript der Situation buchstabengetreu folgt. Millionen von Fernsehzuschauern haben gelacht, als ein Essender immer dann aufhörte, seinen Hamburger zu essen, wenn ein „NICHT ESSEN“-Schild über dem Tresen aufleuchtete; wenn Fußgänger stehen blieben und an einer roten Ampel warteten, die über dem Bürgersteig angebracht war, auf dem sie gingen; wenn Autofahrer wendeten, nachdem sie ein Schild mit der Aufschrift „MÜNCHEN GESPERRT“ sahen; und wenn Kunden von einer weißen Fliese zur anderen sprangen, nachdem sie ein Schild im Laden gesehen hatten, das sie anwies, nicht auf die schwarzen Fliesen zu treten. Mit am besten illustriert wurde durch Versteckte Kamera die subtile Macht von impliziten situativen Regeln bei der Kontrolle von Verhalten durch den „Aufzugsstreich“. Eine Person, die in einem manipulierten Aufzug fuhr, folgte zunächst der üblichen unausgesprochenen Regel und blickte zur Tür. Als jedoch eine
ganze Gruppe von Mitfahrern sich der Rückwand zuwandte, folgte das unglückliche Opfer der entstehenden Gruppennorm und wandte sich ebenfalls der Rückwand zu. Man kann anhand dieser aus dem Leben gegriffenen Episoden ersehen, welche minimalen situativen Bedingungen erfüllt sein müssen, um gewöhnliche Menschen zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen zu verleiten. Man lacht, weil Menschen, die der eigenen Person ähnlich scheinen, sich in Reaktion auf kleine Modifikationen in alltäglichen Situationen albern verhalten. Man distanziert sich implizit von ihnen und nimmt an, man würde selbst nicht so handeln. Die Lehre, die aus einem Großteil der Sozialpsychologie zu ziehen ist, ist jedoch, dass man mit großer Wahrscheinlichkeit genauso wie die anderen handeln würde, wenn man in derselben Situation wäre. Der Poet John Donne, ein Zeitgenosse Shakespeares, schrieb: „Niemand ist eine Insel ganz in sich selbst; jeder ist ein Stück des Kontinents.“ Menschen sind vollständig miteinander durch die Situationen, Normen und Regeln verbunden, die sie gemeinsam haben. Die weise Antwort auf die Frage, wie Sie in einer Situation handeln würden, in der sich die Menschen böse, töricht oder irrational benehmen, ist: „Ich weiß es nicht. Es hängt von der Macht der Situation ab.“ Wir sind zu dem wichtigen Schluss gelangt, dass Situationen eine substanzielle Rolle bei der Festlegung des Verhaltens von Menschen spielen. In den nächsten beiden Abschnitten werden wir uns dieser Schlussfolgerung in Bezug auf positives und negatives Verhalten bedienen – Altruismus und Aggression. Wir werden auch sehen, wie andere Faktoren, wie etwa unser genetisches Erbe, eine Rolle dabei spielen, wer in einer bestimmten Situation hilft und wer Schaden anrichtet.
ZWISCHENBILANZ 1 Was demonstrierte das Stanford Gefängnisexperiment
hinsichtlich sozialer Rollen? 2 Warum können Gruppen einen normativen Einfluss
ausüben? 3 Welche Art von Einfluss können Minderheiten inner-
halb einer Gruppe ausüben? 4 Wie können Sie Prozesse einer Gruppenpolarisierung
erkennen?
Wenn Sie ein unbeaufsichtigtes Tischchen mit Geldscheinen und einem Schild sehen würden, auf dem „Take One“ (Nimm einen) steht, würden Sie die Anweisung befolgen, so wie es diese Personen vor der versteckten Kamera taten?
KRITISCHES DENKEN: Denken Sie an die Studie zur Konformität in der Beurteilung der Länge von Linien zurück. Warum war es wichtig, dass die Gruppenmitglieder bei den ersten Durchgängen alle die richtige Antwort gaben?
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Altruismus und prosoziales Verhalten
17.2
Beinahe nach jeder Tragödie sieht man die gleichen Bilder: Menschen riskieren ihr eigenes Leben, um das von anderen zu retten. Erinnern Sie sich zum Beispiel an die Schrecken des Anschlags auf das World Trade Center. Menschen aus allen Teilen des Landes kamen am völlig zerstörten World Trade Center zusammen in der Hoffnung, Überlebende zu finden und ihnen zu helfen. Solche Tragödien offenbaren das Potenzial der menschlichen Spezies für prosoziale Verhaltensweisen, die mit dem Ziel ausgeübt werden, anderen zu helfen. Darüber hinaus zeigen diese Tragödien oft Altruismus auf – prosoziales Verhalten, das ein Mensch ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit und seine eigenen Interessen ausübt. Ein Großteil dessen, was eine Kulturgemeinschaft oder eine Gesellschaft ausmacht, besteht in der Bereitschaft der Menschen, einander zu helfen. Als Mitglieder einer Kulturgemeinschaft oder einer Gesellschaft arbeiten Menschen zusammen und bringen Opfer für das Wohl anderer Mitglieder. Wir leiten diesen Abschnitt mit der Frage ein, warum Menschen dazu bereit sind, altruistisch zu handeln.
Welche sozialen Kräfte ließen beispielsweise Helfer in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina im Jahre 2005 ihr Leben zum Wohle anderer riskieren?
17.2.1 Die Wurzeln des Altruismus Lassen Sie uns mit einem konkreten Beispiel für Altruismus beginnen, von dem in einer Tageszeitung berichtet wurde (Porstner, 1997): Ein Hafenarbeiter fuhr am Donnerstag vor einen Wagen, der auf dem Southern State Parkway in Lindenhurst von der Fahrspur abgekommen war, und stoppte diesen. Hierdurch
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rettete er einem Mann aus Connecticut das Leben. Die Polizei sagte, er habe möglicherweise einen Schlaganfall erlitten. „Ich habe ihn einfach sehr nahe auf mich auffahren lassen und bin dann einfach immer langsamer geworden, damit er mir hinten in den Wagen fährt.“, sagte der 25-jährige Fahrer. „Das war die einzige Möglichkeit, sein fahrendes Auto zum Stehen zu bringen.“ Welche Reaktion löst dieser Bericht bei Ihnen aus? Können Sie sich vorstellen, Ihr eigenes Leben – oder zumindest Ihr eigenes Auto – aufs Spiel zu setzen, um das Leben eines anderen Menschen zu retten? Was glauben Sie, ist dem Hafenarbeiter wohl durch den Kopf gegangen, als sich dieses Ereignis abspielte? Glauben Sie, dass er Kosten und Nutzen berechnet hat, bevor er handelte? Wenn man sich Beispiele wie das des mutigen Fahrers vor Augen führt, dann scheint es ziemlich naheliegend zu schlussfolgern, dass es ein grundlegendes menschliches Motiv gibt, altruistisch zu sein. Tatsächlich wurde die Existenz von Altruismus jedoch zuweilen kontrovers diskutiert. Um dies zu verstehen, müssen Sie an die Diskussion über evolutionäre Kräfte zurückdenken, dir wir in den Kapiteln 3 und 11 dargestellt haben. Laut der evolutionären Perspektive besteht das Hauptziel des Lebens darin, sich zu reproduzieren, um seine eigenen Gene weitergeben zu können. Welchen Sinn macht Altruismus in diesem Zusammenhang? Warum sollte man sein eigenes Leben riskieren, um anderen zu helfen? Es lassen sich auf diese Frage zwei Antworten finden, je nachdem, ob mit „anderen“ Familienmitglieder oder Fremde gemeint sind. Bei Familienmitgliedern macht altruistisches Verhalten insofern Sinn, weil hierdurch – selbst wenn man sein eigenes Überleben gefährdet – dem generellen Überleben des eigenen Genpools geholfen wird (Burnstein, 2005). Befragt man Menschen, wem sie in einer lebensbedrohlichen Situation helfen würden, dann sind sie tatsächlich recht sensibel gegenüber genetischen Schnittmengen.
AUS DER FORSCHUNG Studierende aus den USA und Japan sollten sich Szenarien vorstellen, in welchen sie nur eine von drei Personen aus einer ernsten Gefahr retten könnten. Zum Beispiel schliefen in einem Szenario die drei Personen in einem Haus, in dem sich ein Feuer sehr rasch ausbreitete. In jedem Szenario unterschieden sich die Personen im Hinblick auf ihren vorgestellten Verwandtschaftsgrad mit dem Studie-
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renden. Einige waren eng verwandt, beispielsweise Brüder (50 Prozent gleiches Erbmaterial); andere waren entfernter verwandt, beispielsweise Cousins (12,5 Prozent gleiches Erbmaterial). Die Studierenden sollten angeben, welche Person sie am wahrscheinlichsten retten würden. Wie Sie Abbildung 17.3 entnehmen können, stieg die Wahrscheinlichkeit, eine Person zu „retten“, mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad. Die Abbildung zeigt zudem eine Vergleichsbedingung, in der es nicht um Leben oder Tod ging: Die Studierenden wurden gefragt, wie sie mit alltäglicheren Entscheidungen umgehen würden, wie beispielsweise jemanden auszusuchen, für den sie eine Besorgung erledigen würden. Die Ergebnisse zeigen immer noch die Effekte des Verwandtschaftsgrades, der Zusammenhang ist jedoch nicht mehr ganz so stark. Dies bedeutet, dass Szenarien, in welchen es um „Leben oder Tod“ geht, eine stärkere Gewichtung des Verwandtschaftsgrades aufzeigen als die „Alltagsszenarien“. Die Ergebnisse waren sowohl für japanische als auch für US-amerikanische Studierende gleich (Burnstein et al., 1994).
In dieser Untersuchung mussten Studierende nicht wirklich jemanden aus einem brennenden Haus retten, dennoch kann man sehen, wie die Verwandtschaft ihre Urteile beeinflusste. Allerdings legt die neuere Forschung nahe, dass die Impulse von Menschen nicht direkt durch Verwandtschaft beeinflusst werden. Stattdessen sind sie am ehesten gewillt, Menschen zu helfen, denen sie sich emotional verbunden fühlen (Korchmaros & Kenny, 2006). Bei den meisten Menschen sind die emotional Nächststehenden auch die nächsten Verwandten. Auf diese Weise helfen VerA
haltensmuster, die auf emotionaler Nähe beruhen, indirekt den Genpools der Menschen beim Überleben. Aber wie steht es um Nichtverwandte? Warum war zum Beispiel der Fahrer dazu bereit, sein eigenes Überleben für die Erhaltung der Gene eines anderen zu riskieren? Um Altruismus gegenüber Bekannten und Fremden zu erklären, haben Theoretiker das Konzept des reziproken Altruismus entwickelt (Trivers, 1971). Dieses Konzept schlägt vor, dass Menschen sich altruistisch verhalten, weil sie auf gewisse Art und Weise erwarten, im Gegenzug altruistisches Verhalten von anderen zu erhalten: Ich werde dich vor dem Ertrinken retten und erwarte, dass du mich retten wirst, falls ich jemals ertrinken sollte. Die Erwartungen der Reziprozität lassen daher dem Altruismus Überlebenswert zukommen. Sie haben sich bereits in anderer Form mit diesem Konzept vertraut gemacht. Wir haben zum Beispiel in Kapitel 16 die Reziprozitätsnorm eingeführt, um zu erklären, wie Menschen Compliance erreichen. Wenn Ihnen jemand einen Gefallen tut, befinden Sie sich in einem Zustand psychischen Unwohlseins, bis Sie sich revanchieren können – dieses Unwohlsein hat offensichtlich seine Wurzeln in der Evolutionsgeschichte, weil es zur Erhöhung der Überlebenswahrscheinlichkeit beiträgt. Durch diesen evolutionären Unterbau ist der Altruismus nicht nur auf den Menschen beschränkt. In der Tat haben Anthropologen Verhaltensmuster des reziproken Altruismus bei einer Vielzahl von Arten, die in sozialen Gruppen leben, vorgefunden, wie beispielsweise bei Vampirfledermäusen und Schimpansen (Nielsen, 1994).
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Abbildung 17.3: Die Tendenz, Verwandten zu helfen. Studierende sollten angeben, welche Personen mit unterschiedlichem Verwandtschaftsgrad sie am wahrscheinlichsten in lebensbedrohlichen und in Alltagssituationen retten würden. Obwohl der Verwandtschaftsgrad einen Effekt auf beide Arten der Urteile hatte, fiel dieser bei lebensbedrohlichen Situationen mehr ins Gewicht.
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Man sollte aber nicht vergessen, dass das Konzept des reziproken Altruismus nicht alle Facetten der Kooperation bei sozialen Arten erklären kann. So erwartete zum Beispiel der Mann, der den Wagen des Fremden stoppte, sicherlich nicht, dass der Fremde im Gegenzug einen ähnlich altruistischen Akt ausführen würde. Um Handlungen dieser Art zu erklären, gehen Forscher davon aus, dass hier indirekte Reziprozität vorliegt: Menschen handeln altruistisch, weil sie glauben, dass sie in der Zukunft selbst Nutznießer altruistischer Akte werden. Um es einfacher auszudrücken: „Ich kratze deinen Rücken, und jemand anderer wird meinen kratzen“ (Nowak & Sigmund, 2005, S. 1291). Ein wichtiger Bestandteil dieses Konzepts der indirekten Reziprozität ist, dass man den Ruf gewinnt, altruistisch und vertrauenswürdig zu sein. So spielten in einer Studie die Teilnehmer ein Spiel, das ihnen mehrere Gelegenheiten gab, sich altruistisch zu verhalten, indem sie anderen Spielern Geld spendeten (Wedekind & Braithwaite, 2002). Während das Spiel voranschritt, wurden die „Imagepunkte“ der Spieler als konkreter Index ihres Rufs angezeigt. In der zweiten Phase der Studie – in einem anderen Spiel – waren diese Spieler mit dem besten Ruf auch diejenigen, die am ehesten mit altruistischen Handlungen bedacht wurden. Ergebnisse dieser Art legen nahe, dass der Aufbau eines Rufs als vertrauenswürdiger Altruist einen Langzeitwert hat. Tatsächlich wetteifern Menschen manchmal um die günstigste Reputation (Barclay, 2004). Allgemeiner gesagt, legen Erwartungen indirekter Reziprozität die Gründe nahe, warum Menschen gewillt sind, die Kosten altruistischer Handlungen in Kauf zu nehmen.
17.2.2 Motive für prosoziales Verhalten Im vorangegangenen Abschnitt haben wir vorgeschlagen, dass Altruismus – ein Motiv, sich für andere zu opfern – eine angeborene Grundlage besitzt. Wir werden nun Altruismus im Kontext anderer Motive für prosoziales Verhalten betrachten. Der Forscher Daniel Batson (1994) schlägt vier Kräfte vor, die Menschen anhalten, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln: Altruismus. Handeln aufgrund eines Motivs, anderen etwas Gutes zu tun, wie im oben angeführten Beispiel mit dem Fahrer, der einem anderen Menschen das Leben rettete. Egoismus. Prosoziales Verhalten wird ausschließlich im eigenen Interesse gezeigt; Hilfe wird geleistet, um im Gegenzug eine ähnliche
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Gefälligkeit (beispielsweise einer Bitte nachzukommen) oder eine Belohnung (zum Beispiel Geld oder Lob) zu erhalten. Kollektivismus. Prosoziales Verhalten wird gezeigt, um einer bestimmten Gruppe Gutes zu tun; Menschen leisten Hilfe, um die Bedingungen ihrer Familie, Studentenverbindung, politischen Partei und so weiter zu verbessern. Prinzipien. Prosoziales Verhalten wird gezeigt, um moralischen Prinzipien zu entsprechen; eine Person verhält sich prosozial aufgrund einer religiösen oder ethischen Richtlinie. Es wird deutlich, wie jedes dieser Motive in verschiedenen Situationen zum Tragen kommen kann.
Welches prosoziale Motiv erklärt, warum Menschen sich beispielsweise zu einer Strandreinigungsgruppe zusammenschließen, um die Umwelt zu schützen? Obwohl jedes einzelne der Motive Menschen anhalten mag, ihr Verhalten in den Dienst von anderen zu stellen, können einige Motive manchmal auch in Wettstreit zueinander treten (Batson & Powell, 2003). Angenommen, Sie müssten entscheiden, wie eine knappe Ressource verschiedenen Menschen zugeteilt werden soll. Sie denken sich vielleicht „Ich würde jedem einzelnen dieselbe Menge geben“, weil das Gerechtigkeitsprinzip besagt, dass jede Person gleichen Zugang zu Ressourcen haben sollte. Es könnten jedoch auch andere Motive ins Spiel kommen, die dazu führen, dass Sie eine Person den anderen gegenüber bevorzugen.
AUS DER FORSCHUNG In einem Experiment sollten die Teilnehmer Lose einer Tombola entweder einer ganzen Gruppe oder Einzelnen innerhalb der Gruppe zuteilen. Wenn die Lose einer ganzen Gruppe gegeben wurden, würde jedes Mitglied die gleiche Anzahl an Losen erhalten – ein gerechtes Ergebnis. In einer
17.2 Altruismus und prosoziales Verhalten
Experimentalbedingung lasen die Teilnehmer jedoch eine persönliche Nachricht eines vermeintlichen Gruppenmitglieds; die Nachricht besagte, dass diese Person gerade nach einer langjährigen Liebesbeziehung von ihrem Partner verlassen worden war. Wie beeinflusste diese Information die Losverteilung der Versuchspersonen? Sollten diese sich vorstellen, wie der Studierende sich wohl fühlen würde, gaben die Versuchspersonen der verlassenen Person ein paar Lose zusätzlich. Empathie – die emotionale Identifikation der Teilnehmer mit dem Studierenden – siegte über Gerechtigkeit (Batson et al., 1999).
Batson und seine Kollegen haben einige Belege zu Gunsten der Empathie-Altruismus-Hypothese geliefert: Wenn man einer anderen Person empathisch gegenübersteht, wecken diese Gefühle altruistische Motive, Hilfe zu leisten. In dem oben beschriebenen Experiment erwies sich das unmittelbare altruistische Ziel für einige Teilnehmer als stärker im Vergleich zum abstrakteren Ziel der Gerechtigkeit. In ähnlicher Weise kann Empathie altruistisches Verhalten hervorbringen, welches das Wohl einer Einzelperson über das einer Gruppe stellt (Batson et al., 1995). Dies zeigt Ihnen, warum jedes Verhalten im Lichte der gesamten Situation betrachtet werden muss: Was zunächst wie antisoziales Verhalten erscheint – wie beispielsweise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit zu verstoßen –, erweist sich vielleicht von einem anderen Standpunkt aus als prosoziales Verhalten. Wir haben im ersten Abschnitt dieses Kapitels eine Lehre aus der Sozialpsychologie betont, dass Situationen das Verhalten von Menschen beschränken. Wir haben soeben erste Hinweise auf solche Beschränkungen für prosoziales Verhalten erhalten. Als Nächstes beschreiben wir ein klassisches Forschungsprogramm, welches aufzeigt, wie sehr die Bereitschaft der Menschen zu helfen – ihre Fähigkeit, prosozialen Motiven zu folgen – von Situationsvariablen abhängt.
17.2.3 Die Effekte der Situation auf prosoziales Verhalten Dieses Forschungsprogramm begann mit einer Tragödie. 38 ehrbare, gesetzestreue Bürger von Queens sahen aus der sicheren Entfernung ihrer Wohnungen mehr als eine halbe Stunde lang zu, wie ein Mörder in drei gesonderten Angriffen mit einem Messer auf eine Frau einstach. Zwei Mal unterbrachen die Rufe der Anwohner und das plötzliche Aufleuchten ihrer Schlafzimmerlichter den Angreifer und verscheuchten ihn. Aber jedes Mal kehrte er zurück und stach das Opfer
Der Mord an Kitty Genovese in einer freundlichen Gegend von Queens schockierte die USA. Warum schritten so viele verantwortungsvolle Bürger nicht ein, als sie die Hilfeschreie hörten? erneut nieder. Kein Einziger verständigte während des Angriffs die Polizei; nur eine Zeugin rief die Polizei, als die Frau schon tot war (Rosenthal, 1964). Der Zeitungsbericht über den Mord an Kitty Genovese schockierte das Land, das nicht wahrhaben wollte, dass verantwortungsbewusste Bürger derart apathisch und kaltherzig sein konnten. Aber ist es fair, diese Beteiligten als „apathisch“ oder „kaltherzig“ abzustempeln? Oder können wir ihre Untätigkeit im Rahmen situativer Kräfte erklären? Um Argumente für situative Kräfte zu liefern, führten Bibb Latané und John Darley (1970) eine klassische Reihe von Untersuchungen durch. Sie wollten belegen, dass das Eingreifen Umstehender (bystanders) – also die Bereitschaft, Fremden in Not zu helfen – stark von den genauen Eigenschaften einer Situation abhängt. Sie haben ein glänzendes Laborexperiment geschaffen, das der Situation zum Eingreifen Umstehender entspricht.
AUS DER FORSCHUNG Die Teilnehmer waren männliche Studierende. Sie saßen allein in einem Zimmer mit einer Gegensprechanlage und wurden glauben gemacht, dass sie mit einem oder mehreren Studierenden in einem angrenzenden Zimmer kommunizierten. Während einer Diskussion über persönliche Probleme hörte der Versuchsteilnehmer etwas, das klang, als
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hätte einer der anderen Studierenden einen epileptischen Anfall und würde, nach Luft schnappend, um Hilfe rufen. Während des „Anfalls“ war es für die Versuchsperson nicht möglich, mit den anderen Studierenden zu sprechen oder herauszufinden, was diese, wenn überhaupt, bei diesem Notfall unternehmen würden. Eine abhängige Variable war die Geschwindigkeit, mit welcher die Versuchsperson dem Versuchsleiter den Notfall meldete. Es stellte sich heraus, dass die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens von der Anzahl der vermeintlich Beteiligten abhing. Je mehr Menschen vermeintlich anwesend waren, desto später wurde der Anfall gemeldet, falls überhaupt. Wie Sie Abbildung 17.4 entnehmen können, griff jeder in einer Zwei-Personen-Situation innerhalb von 160 Sekunden ein, aber nahezu 40 Prozent derjenigen, die sich als Teil einer größeren Gruppe wähnten, verständigten den Versuchsleiter nie, dass ein anderer Studierender ernsthafte Schwierigkeiten hatte (Darley & Latané, 1968).
Umstehende müssen den Notfall bemerken In der Studie mit dem Anfall war die Situation so gestaltet, dass die Teilnehmer die Notlage bemerken mussten. In vielen Alltagssituationen hingegen, wenn die Menschen ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen – sie sind beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit oder zu einer Verabredung –, bemerken sie möglicherweise nicht, dass eine Situation eingetreten ist, in der sie Hilfe leisten könnten. In einem ideenreichen Experiment dachten Studierende des Priesterseminars von Princeton, dass ihre Predigten beurteilt werden sollten, von welchen eine die Parabel des barmherzigen Samariters behandelte – einer Gestalt aus dem Neuen Testament, die sich die Zeit nimmt, um einem verletzt am Straßenrand liegenden Mann zu helfen.
AUS DER FORSCHUNG
Abbildung 17.4: Das Eingreifen von Umstehenden in einer Notfallsituation. Je mehr Menschen anwesend sind, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ein Umstehender eingreift. Umstehende handeln am schnellsten in Gruppen von zwei Personen. Dieses Ergebnis basiert auf einer Verantwortungsdiffusion. Wenn mehr als eine Person in einer Notfallsituation helfen könnte, dann gehen Menschen oft davon aus, dass jemand anders helfen wird oder helfen sollte – daher halten sie sich zurück und lassen sich nicht verwickeln. Verantwortungsdiffusion ist einer der Gründe, dass Umstehende Hilfe unterlassen. Lassen Sie uns weitere Facetten vieler Notfallsituationen untersuchen.
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Die Seminaristen mussten ihre Predigt nicht in dem Gebäude, in welchem sie eingangs instruiert wurden, abhalten, sondern in einem anderen Gebäude. Einige wurden zufällig der Bedingung „spät“ zugewiesen, in der sie sich beeilen mussten, um rechtzeitig zur Predigt zu erscheinen. Andere wurden der Bedingung „rechtzeitig“ und eine dritte Gruppe der Bedingung „früh“ zugewiesen. Als jeder einzelne Seminarist die Gasse zwischen zwei Gebäuden entlangging, traf er auf einen Mann, der in einem Eingang zusammengekauert lag und dabei hustete und stöhnte. Auf ihrem Weg, eine Predigt über den guten Samariter zu halten, hatten diese Seminaristen nun die Möglichkeit, genau das zu tun, was sie in Kürze predigen würden. Taten sie dies? Von jenen, welche zu spät und daher in Eile waren, halfen nur 10 Prozent. Wenn sie gut in der Zeit waren, halfen 45 Prozent dem Fremden. Am häufigsten wurde Hilfe geleistet, wenn die Seminaristen „früh“ unterwegs waren – 63 Prozent dieser Seminaristen verhielten sich wie ein barmherziger Samariter (Darley & Batson, 1973).
Wie sollten wir die „späten“ Seminaristen bewerten? Vielleicht waren die Seminaristen so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dass sie es versäumten, die Notfallsituation überhaupt zu „bemerken“. Vielleicht haben sie diese bemerkt, aber in ihrer Eile nicht sorgsam genug Aufmerksamkeit darauf verwandt zu bestimmen, wie ernsthaft die Situation war. In jedem Fall wird deutlich, dass Hilfeleistung davon abhängig ist, sich die Zeit zu nehmen, um eine Situation korrekt zu beurteilen.
17.2 Altruismus und prosoziales Verhalten
Umstehende müssen Ereignisse als Notfälle einstufen
darf, auf der Grundlage einer persönlichen Entscheidung eine Situation als Notfall einzustufen.
Viele Situationen im Leben sind mehrdeutig. Man will sich nicht in Verlegenheit bringen, indem man versucht, jemanden Mund-zu-Mund zu beatmen, der lediglich schläft. Um zu entscheiden, ob eine Situation ein Notfall ist, beobachtet man normalerweise die Reaktion anderer Menschen (Latané & Darley, 1970). (Erinnern Sie sich an die frühere Diskussion über Informationseinfluss in Kapitel 16.) Nehmen Sie beispielsweise diese Ich-Erzähler-Darstellung einer Ihrer Autoren, der an einer Vorlesung teilnahm, bei welcher der Redner jeden Moment in Ohnmacht zu fallen schien:
Umstehende müssen sich verantwortlich fühlen
Der Redner ist nervös und seine schnelle Rede wird deutlich langsamer. Tut er dies, um seine Schlussbemerkungen zu betonen oder weil er jeden Moment zusammenbricht? Vielleicht muss er sich hinsetzen, aber wie kann ich das beurteilen, ohne ihn zu unterbrechen? Was ist, wenn ich die Situation falsch beurteile und jeder dann denkt, ich wäre ein Narr? Aber gehen wir davon aus, dass ich Recht habe und er in Ohnmacht fällt, bevor er den Vortrag beendet hat, und vom Podest fällt? Er wird sich sicherlich verletzen, wenn er in die erste Sitzreihe stürzt. Ich weiß dann, dass ich diesen Unfall hätte verhindern können und es nicht getan habe. Es wird hier die Schwierigkeit deutlich, sich für ein Eingreifen zu entscheiden, wenn ansonsten niemand die Situation für einen Notfall zu halten scheint. Dies gilt sogar für jemanden, der sich sehr gut mit psychologischen Kräften, die in solchen Situationen zum Tragen kommen, auskennt. Und so endete die Situation: Ich stellte mich vor dem Redner auf und hielt meine Arme zu ihm hoch. Er sah total verwirrt auf mich herab. Ich stellte mir vor, was meine Studierenden und Kollegen von meinem scheinbar bizarren Verhalten hielten, als ich den ehrenhaften Gastredner in meine Arme nahm, kurz bevor er seinen hervorragenden Vortrag beenden konnte. In diesem Moment erschlaffte der Redner, wurde ohnmächtig und fiel auf mich nieder. Zusammen stürzten wir rücklings in die erste Sitzreihe. Wie Sie sehen, hat sich die Entscheidung für das Eingreifen als klug erwiesen. Diese kleine Geschichte hat jedoch aufgezeigt, welch großer Anstrengung es be-
Wir haben bereits gesehen, dass ein wichtiger Faktor beim Nichteingreifen die Verantwortungsdiffusion ist. Wenn Sie sich in einer Situation befinden, in der Sie Hilfe benötigen, sollten Sie die Umstehenden mit allen Mitteln dazu bewegen, sich verantwortlich zu fühlen und diese Kraft zu überwinden. Sie sollten direkt auf jemanden zeigen und sagen „Sie da! Ich brauche Ihre Hilfe“. Beachten Sie zwei Untersuchungen, die offensichtliche Verbrechen thematisierten. In der ersten Untersuchung sahen New Yorker Einwohner, wie ein Dieb den Koffer einer Frau in einem Schnellrestaurant stahl, als sie ihren Tisch verließ. In der zweiten Untersuchung sahen Strandbesucher, wie ein Dieb ein tragbares Radio von einem Strandtuch stahl, das der Eigentümer für ein paar Minuten verlassen hatte.
AUS DER FORSCHUNG In jedem Experiment fragte das zukünftige Opfer des Diebstahls (der Komplize des Versuchsleiters) den zukünftigen Beobachter des Verbrechens entweder „Haben Sie Zeit?“ oder „Könnten Sie bitte auf meine Tasche (Radio) aufpassen, während ich weg bin?“. Im Gegensatz zur zweiten Interaktion rief die erste kein persönliches Verantwortungsgefühl hervor und die Umstehenden verharrten untätig, als sich die Diebstähle ereigneten. Hatten sie sich jedoch mit der Bewachung des Eigentums des späteren Opfers einverstanden erklärt, dann griffen sie nahezu immer ein. Sie riefen um Hilfe und manche überwältigten sogar den flüchtigen Dieb am Strand (Moriarty, 1975).
Diese Experimente legen nahe, dass das Bitten um einen konkreten Gefallen ein besonderes menschliches Band schmiedet, wodurch Menschen so eingebunden werden, dass die Situation substanziell verändert wird. Auch in diesem Fall wäre es falsch, das Verhalten von Menschen als apathisch zu bezeichnen, wenn diese den Diebstahl nicht verhindern. Die sozialpsychologische Kraft der kleinen Verpflichtung – „Könnten Sie darauf aufpassen?“ – verwandelte nahezu jeden Umstehenden in jemanden, den es genügend kümmerte, zu helfen. In diesem Abschnitt haben wir prosoziales Verhalten behandelt – jene Umstände, unter welchen sich Menschen zu Hilfe kommen. Wir schlugen vor, dass die Hilfemotivation Teil des menschlichen Erbgutes sein könnte. Die menschliche Natur erweist sich je-
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doch als eine Mischung aus prosozialen und antisozialen Impulsen. Im nächsten Abschnitt kommen wir zu einer anderen Klasse von Verhaltensweisen – Aggression –, die möglicherweise ebenfalls im menschlichen Erbgut enkodiert ist.
ZWISCHENBILANZ 1 Was unterscheidet altruistische Verhaltensweisen von
anderen Arten prosozialen Verhaltens? 2 Was bedeutet reziproker Altruismus? 3 Welche vier Motive erklären prosoziale Verhaltens-
weisen? 4 Warum tritt Verantwortungsdiffusion auf?
KRITISCHES DENKEN: Betrachten Sie die Studie zur Tendenz, Verwandten zu helfen. Warum untermauert hier der interkulturelle Vergleich die gezogenen Schlussfolgerungen?
KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Wie gewinnt man Freiwillige?
Nehmen wir an, Sie werden der Chef einer Organisation. Sehr wahrscheinlich werden Sie Freiwillige anwerben wollen, um der Organisation bei ihrer Arbeit zu helfen. Dabei ist es sicherlich hilfreich, zu verstehen, warum Menschen freiwillige Dienste leisten und was ihr Interesse an dieser Arbeit aufrechterhält. Beginnen wir mit der Frage, warum sich Menschen freiwillig für etwas melden. Forscher haben mehrere Motive ausgemacht, die Menschen bewegen, sich an etwas zu beteiligen (Omoto & Snyder, 2002). So melden sich Menschen zum Beispiel freiwillig, um persönliche Wertvorstellungen in Hinsicht auf Altruismus auszudrücken, um ihre Erfahrungen zu erweitern und um soziale Beziehungen zu stärken. Wenn die angebotenen Stellen solche Bedürfnisse nicht abdecken, wird sich vielleicht niemand melden. Um Freiwillige anzuwerben, müssen Sie also die Motive der Menschen verstehen, die Sie interessieren wollen. Manche melden sich auch freiwillig, weil sie müssen. Um die Gemeindearbeit zu verbessern, haben manche Schulen Pflicht-Freiwilligen-Programme eingeführt. Unglücklicherweise können diese Zwangsprogramme die kausalen Zuweisungen von einer internen Kontrollorientierung (zum Beispiel „Ich melde mich freiwillig, weil es mir wichtig ist.“) zu einer externen verschieben (zum Beispiel „Ich melde mich freiwillig, weil ich dazu gezwungen bin.“). Wenn dies passiert, sinkt die Bereitschaft der Menschen, sich zukünftig freiwillig zu melden (Stukas et al., 1999). Diese Möglichkeit muss bedacht werden, wenn man freiwillige Aktivitäten vorschreibt. Was bewegt Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben, diese Stellen dauerhaft auszufüllen? Um diese Frage zu beantworten, haben Forscher mehrere
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Längsschnittstudien durchgeführt, in denen Freiwillige über längere Zeit beobachtet wurden. So folgte eine Studie 238 Freiwilligen in Florida ein Jahr lang (Davis et al., 2003). Die betreffenden Freiwilligen arbeiteten in Institutionen wie der St. Petersburg Free Clinic und dem Center Against Spouse Abuse. Einer der wichtigsten Faktoren, der die Befriedigung bestimmte, die sie in diesen Tätigkeiten erfuhren, war die Menge an Distress, die sie dabei erfuhren. Obwohl Sie das vielleicht nicht überrascht, folgt daraus ein wichtiger praktischer Ratschlag. Die Forscher bemerken, dass auf „Trainingsmethoden geachtet werden sollte, die Freiwillige auf Stresssituationen vorbereiten oder ihnen Strategien der Stressbewältigung zeigen“ (S. 259). Eine weitere Studie mit 302 Freiwilligen eines Hospizes im Südosten der Vereinigten Staaten konzentrierte sich auf individuelle Unterschiede im Ausmaß, in dem Menschen freiwillige Arbeit als wichtige soziale Rolle sehen (Finkelstein et al., 2005). Erinnern Sie sich aus dem Anfang des Kapitels, dass menschliches Verhalten oft stark von sozialen Rollen beeinflusst wird. Diese Studie ging der Hypothese nach, dass diejenigen Freiwilligen, für die diese Tätigkeit am meisten Teil ihrer persönlichen Identität war, auch am ehesten dabeibleiben würden. Die Teilnehmer gaben die Wichtigkeit der sozialen Rolle für sie an, indem sie auf Aussagen wie „Freiwilligenarbeit für Hospize ist ein wichtiger Teil meiner Person“ reagierten. In Übereinstimmung mit den Erwartungen der Forscher ergab sich eine positive Korrelation zwischen der Stärke der Rollenidentität und der Zeitspanne, in der sich die Freiwilligen engagierten. Auch diese Ergebnisse führten zu einem konkreten Ratschlag: „Wenn sich jemand einmal gemeldet hat,
17.3 Aggression
kann man ihn bei der Stange halten, indem man sich auf die Schaffung einer Rollenidentität als Freiwilliger konzentriert … Zeichen (zum Beispiel T-Shirts oder Nummernschildhalter), die Freiwillige öffentlich erkennbar machen, können die Rollenidentität stärken helfen“ (S. 416). Wir haben diese Analyse aus der Perspektive einer Person durchgeführt, die andere als Freiwillige gewinnen möchte. Sie können diese Untersuchungen aber auch benutzen, um Ihr eigenes Verhalten zu überprüfen. Welche Motive treffen auf Ihre Erfahrungen mit Freiwilligenarbeit zu? Sind Sie darauf
Aggression
17.3
Um den Begriff Altruismus einzuführen zitierten wir einen Zeitungsartikel, der sich mit einer heldenhaften Tat befasste. Leider finden wir in Zeitungen viel häufiger Berichte zum Thema Aggression: Das Verhalten eines Menschen, das einem anderen Menschen psychischen oder körperlichen Schaden zufügt. Dies waren einige Schlagzeilen von einer einzigen Ausgabe der New York Times vom 18. Juni 2006: Tschetschenischer Separatistenführer vermutlich von Russen getötet. Sri Lanka: Gefechte zwischen Armee und Rebellen mit bis zu 47 Todesopfern. Fünf Teenager Opfer einer Schießerei in New Orleans. Teenager aus Nassau County behauptet, von Polizisten in Queens geschlagen worden zu sein. Mädchen (14) vor Party angeschossen. Allein diese kurzen Beispiele veranschaulichen die Arten und Weisen, wie Menschen gegenseitig Aggressionen austragen können. Hieraus wird deutlich, warum es so wichtig für Psychologen ist, die Ursachen von Aggression zu verstehen. Als Idealziel gilt selbstverständlich, psychologisches Wissen zur Verminderung von Aggression in Gesellschaften einzusetzen.
17.3.1 Evolutionäre Perspektiven Im Abschnitt über prosoziales Verhalten haben wir ein Rätsel der Evolution aufgeworfen: Wie kann es sein, dass Menschen ihr eigenes Leben riskieren, um ande-
vorbereitet, negativen Stress zu bewältigen? In welchem Ausmaß sehen Sie „Freiwillige“ als eine respektierte soziale Rolle? Sie können sich diese Fragen stellen, um den persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen Ihrer freiwilligen Aktivitäten zu erhöhen. Warum ist es sinnvoll, die Verhaltensweisen von Freiwilligen mit Längsschnittstudien zu verfolgen? Warum können T-Shirts und Nummernschildhalter die Rollenidentität stärken helfen?
ren Gutes zu tun? Die Existenz von aggressiven Verhaltensweisen gibt jedoch ein solches Rätsel nicht auf. Evolutionstheoretisch verhalten sich Tiere aggressiv, um sich den Zugang zu den gewünschten Partnern zu sichern und um die Ressourcen zu schützen, die ihnen und ihren Nachkommen das Überleben ermöglichen. Konrad Lorenz (1974) hat in seinem ausgezeichneten Buch Das so genannte Böse eine Bandbreite aggressiver Handlungen im Tierreich dokumentiert. Im Zuge seines Überblicks zeigte Lorenz auch die Mechanismen auf, die Aggression in Schach halten: „Ein Kolkrabe kann einem anderen mit einem Schnabelhieb das Auge aushacken, ein Wolf einem anderen mit einem einzigen Zuschnappen die Halsvenen aufreißen. Es gäbe letztlich keine Raben und keine Wölfe mehr, wenn nicht verlässliche Hemmungen solches verhinderten“ (S. 225). Nach Ansicht von Lorenz unterscheidet sich die menschliche Spezies hiervon dadurch, dass Menschen keine angemessenen Mechanismen entwickelt haben, um ihre aggressiven Impulse zu hemmen. Lorenz ging davon aus, dass sich diese hemmenden Mechanismen nicht entwickeln konnten, weil sich Menschen bis zur Erfindung von künstlichen Waffen nicht viel Leid zufügen konnten. Lorenz sah die Situation des Menschen einer Taube ähnlich, als ob „ein nie da gewesenes Naturspiel einer Taube den Schnabel eines Kolkraben verleihen würde“ (S. 225). Forschungsergebnisse in Reaktion auf die Arbeit von Lorenz widersprachen seiner Einschätzung menschlicher Aggression in zweierlei Hinsicht (Lore & Schulz, 1993). Erstens zeigen Feldstudien an einer Vielzahl von Tierarten, dass viele andere Arten die gleiche Bandbreite an aggressiven Handlungen begehen wie Menschen. Sogar scheinbar sanftmütige Schimpansen greifen ihresgleichen an und töten sie (Goodall, 1986). Die Existenz von Aggression bei anderen Arten bedeutet nicht unbedingt Gutes für den Menschen – wir
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Warum verhalten sich so viele Tierarten aggressiv? Was macht nach Konrad Lorenz die menschliche Aggression einzigartig? scheinen nur nicht schlimmer zu sein –, es spricht jedoch weniger für eine evolutionsbedingte Auffälligkeit. Zweitens lassen die Forschungsergebnisse vermuten, dass Menschen stärker hemmende Kontrolle über ihren Einsatz von Aggression besitzen, als Lorenz behauptet hatte. Tatsächlich treffen Menschen Entscheidungen im Hinblick auf das Ausleben ihrer Aggression, die auf ihre soziale Umwelt konditioniert wurden. Wie wir weiter unten in diesem Abschnitt sehen werden, bestimmen Kulturen die Normen für Situationen, in denen Aggression willkommen oder notwendig ist. Wir werden dort zeigen, dass die Kultur selbst eine entscheidende Rolle für das Ausmaß spielt, in dem Menschen Aggressionen hemmen „können“. Evolutionsbezogene Analysen legen nahe, dass ein Überlebenstrieb möglicherweise viele oder die meisten Arten mit einer angeborenen Prädisposition für einige Formen der Gewalt ausgestattet hat. Für Menschen gilt jedoch, dass verschiedene Mitglieder einer Art mehr oder weniger wahrscheinlich aggressives Verhalten zeigen. Als Nächstes befassen wir uns mit diesen individuellen Unterschieden der Aggression.
17.3.2 Individuelle Unterschiede Warum sind einige Individuen aggressiver als andere? Im Kontext der evolutionären Behauptungen von Lorenz wird deutlich, warum Forscher die Hypothese verfolgt haben, dass es eine genetische Komponente für individuelle Unterschiede im Grad der Aggression gibt. Forscher haben nach einer Antwort auf die Frage nach der Erblichkeit der Aggression mit Hilfe vieler der Methoden gesucht, die wir in früheren Kapiteln veranschaulicht haben. Sie haben beispielsweise die Ähnlichkeit von eineiigen (monozygoten, MZ) und zweieiigen (dizygoten, DZ) Zwillingen hinsichtlich
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aggressiver Persönlichkeit verglichen; in anderen Fällen haben sie die Anteile von Anlage und Umwelteinflüssen an Adoptivkindern untersucht. Diese Studien bestätigen meistens eine starke genetische Komponente aggressiver Verhaltensweisen (DiLalla, 2002; Miles & Carey, 1997). So zeigen etwa MZ-Zwillinge durchgängig höhere Korrelationen bei aggressivem Verhalten als DZ-Zwillinge (Arsenault et al., 2003). Allerdings deutet die Forschung darauf hin, dass Erblichkeit bei verschiedenen Arten von Aggression eine stärkere oder schwächere Rolle spielt.
AUS DER FORSCHUNG Forscher sammelten Daten von 234 sechsjährigen Zwillingen, um genetische und Umwelteinflüsse auf individuelle Unterschiede in physischer und sozialer Aggression festzustellen (Brendgen et al., 2005). Physische Aggression bezeichnet Umstände, unter denen Kinder sich prügeln oder andere Kinder schlagen, beißen oder treten. Soziale Aggression bezeichnet Umstände, unter denen Kinder böswillige Gerüchte verbreiten oder andere gegen bestimmte Klassenkameraden aufzubringen versuchen. Um das Verhalten der Zwillinge hinsichtlich beider Arten von Aggression zu erfassen, holten die Forscher Beurteilungen von den Lehrern und den Altersgenossen der Kinder ein. Diese Beurteilungen lieferten konvergente Hinweise, dass MZ- und DZ-Zwillinge sich hinsichtlich der Ähnlichkeit ihrer Aggressionslevel unterscheiden. Der Vergleich zwischen MZ- und DZ-Zwillingen deutete darauf hin, dass 50 bis 60 Prozent der Variation in physischer Aggression durch genetische Faktoren erklärt werden konnte. Bei sozialer Aggression ließen sich 20 Prozent der Variation durch genetische Faktoren erklären.
Warum könnte das Erbmaterial einen geringeren Einfluss auf die soziale Aggression ausüben? Die Forscher vermuteten, dass die Neigung der Kinder zu sozialer
17.3 Aggression
Aggression aus der Art der Erziehung resultieren könnte, die sie erhielten: Eltern, die ihre Kinder mit Schuld- oder Schamgefühlen manipulieren, könnten so Modelle für das spätere Verhalten des Kindes in der Klasse bereitstellen. Insgesamt unterstützt diese Studie die Schlussfolgerung, dass manche Menschen eine stärkere genetische Disposition zur Aggressivität haben als andere. Die Aufmerksamkeit der Forschung richtete sich auch auf Unterschiede im Gehirn und im Hormonhaushalt, die möglicherweise eine Prädisposition für aggressives Verhalten anzeigen. Wie wir in Kapitel 12 gesehen haben, spielen verschiedene Gehirnstrukturen, wie die Amygdala und Teile des Cortex, eine Rolle im Ausdruck und der Regulation von Emotion. Im Hinblick auf Aggression ist es entscheidend, dass Bahnen im Gehirn effektiv funktionieren, damit Menschen ihren Ausdruck negativer Emotionen kontrollieren können. Wenn Menschen beispielsweise einen unangemessenen Aktivationsgrad in der Amygdala erleben, dann können sie möglicherweise die negativen Emotionen nicht hemmen, die zu aggressiven Verhaltensweisen führen (Davidson et al, 2000). Forscher beginnen, die Beziehungen zwischen Genvariationen und der Struktur der Amygdala zu dokumentieren. So wird zum Beispiel ein Gen namens MAOA für einen genetischen Marker individueller Unterschiede in Aggressivität gehalten. Die niedrigexpressive Variante stellte ein größeres Risiko dar als die hochexpressive. fMRT-Gehirnscans haben gezeigt, dass Menschen mit der niedrigexpressiven Variante kleinere Amygdalae haben als Menschen mit der hochexpressiven Variante des Gens (Meyer-Lindenberg et al., 2006). Man richtete die Aufmerksamkeit auch auf den Neurotransmitter Serotonin; Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass ein unangemessener Serotoninspiegel möglicherweise die Fähigkeit des Gehirns beeinträchtigt, negative Emotionen und impulsives Verhalten zu regulieren (Enserink, 2000). So zeigte etwa eine Studie, dass Männer, die in ihrem Leben mehr Aggressivität zeigten, eine verminderte Reaktion im Serotoninsystem auf ein Medikament (Fenfluramin) zeigten, das normalerweise einen beträchtlichen Einfluss auf dieses System ausübt (Manuck et al., 2002). Erinnern Sie sich an die Darlegung in Kapitel 14, dass die Forschung begonnen hat, die Folgen von Variationen in den Genen zu erforschen, die der Serotoninfunktion zu Grunde liegen. Auch in dieser Studie konnte gezeigt werden, dass eine bestimmte genetische Variation die Serotoninfunktion in einer Weise beeinflussen kann, die für die Betroffenen ein hohes Risiko von aggressivem Verhalten zur Folge hat.
Schließlich weisen Untersuchungen darauf hin, dass einige individuelle Unterschiede bei Aggression möglicherweise unterdrückte Reaktionen auf Stress widerspiegeln. Beispielsweise brachte eine Studie die Konzentration des Stresshormons Kortisol mit aggressivem Verhalten von sieben bis zwölf Jahre alten Jungen in Verbindung: Die aggressivsten Jungen wiesen am stärksten unterdrückte Stressreaktionen auf (McBurnett et al., 2000). Diese Ergebnisse legen nahe, dass einige Menschen möglicherweise nicht über die Art physiologischer Stressreaktionen verfügen, die bei den meisten Menschen stark aggressives Verhalten hemmt: Ihre Körper reagieren nicht mit negativen physiologischen Auswirkungen auf negative Verhaltensweisen und Emotionen. Die Persönlichkeitsforschung zur Aggression hat auf die Wichtigkeit hingewiesen, zwischen Kategorien aggressiven Verhaltens zu unterscheiden: Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeitsprofilen werden wahrscheinlich verschiedene Arten der Aggression zeigen. Eine wichtige Unterscheidung trennt impulsive Aggression von instrumenteller Aggression (Little et al., 2003; Ramírez & Andreu, 2006). Impulsive Aggression entsteht als Reaktion auf Situationen und ist emotionsgeleitet: Im Eifer des Gefechts reagieren Menschen aggressiv. Wenn Sie sehen, wie Menschen nach einem Autounfall in eine Schlägerei geraten, dann handelt es sich hierbei um impulsive Aggression. Instrumentelle Aggression ist zielgerichtet (die Aggression dient als Mittel zu einer Zielerreichung) und wissensbasiert: Menschen üben aggressive Handlungen mit vorausgegangenen Überlegungen aus, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wenn Sie jemanden dabei beobachten, wie er eine ältere Dame niederschlägt, um ihre Handtasche zu stehlen, dann handelt es sich hierbei um instrumentelle Aggression. Forschungsarbeiten haben bestätigt, dass Menschen mit einer Tendenz zur ein oder anderen Art von Gewalt unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale besitzen (Caprara et al., 1996). Beispielsweise waren Menschen, die eine Neigung zu impulsiver Aggression angaben, im Großen und Ganzen häufig mit hohen Werten auf dem Faktor emotionale Reagibilität ausgestattet. Das heißt, dass sie im Allgemeinen starke emotionale Reaktionen auf eine Bandbreite von Situationen berichteten. Demgegenüber zeigten Menschen, die eine Neigung zu instrumenteller Aggression angaben, hohe Werte auf dem Faktor positive Bewertung von Gewalt. Diese Menschen waren der Ansicht, dass viele Formen der Gewalt gerechtfertigt sind und akzeptierten auch keine moralische Verantwortung für aggressives Verhalten. Diese Befunde zeigen, dass nicht alle Arten der Aggression
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aus denselben zugrundeliegenden Persönlichkeitsfaktoren hervorgehen. Die meisten Menschen zeigen weder extrem impulsive noch extrem instrumentelle Aggression: Sie bekommen nicht gleich beim kleinsten Ärgernis einen Wutanfall oder begehen vorsätzlich Gewalttaten. Dennoch verhalten sich sogar die sanftmütigsten Menschen in manchen Situationen aggressiv. Wir wenden uns nun jenen Situationen zu, welche häufig die auslösenden Bedingungen für aggressives Handeln liefern können.
Warum bringen einige Alltagserfahrungen sogar die ruhigsten Menschen dazu, aggressives Handeln in Erwägung zu ziehen?
17.3.3 Situative Einflüsse Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, wann Sie sich das letzte Mal aggressiv verhalten haben. Möglicherweise war es keine körperliche Aggression: Sie haben vielleicht nur Schimpfwörter gegenüber einer anderen Person gebraucht, um psychischen Stress zu verursachen. Wie würden Sie erklären, warum diese bestimmte Situation Anlass zur Aggression gab? Gab es eine lange Vorgeschichte des Streits mit dieser Person oder war dies nur eine einmalige Angelegenheit? Waren Sie wegen etwas Besonderem zu aggressivem Handeln aufgelegt oder haben Sie sich nur in diesem Augenblick frustriert gefühlt? Solche Fragen stellten sich die Forscher, als sie den Zusammenhang zwischen Situation und Aggression untersuchten. Als unsere eigenen Studierenden über ihr aggressives Handeln nachdenken sollten, erhielten wir eine Vielfalt von Antworten, wie Sie im Folgenden sehen.
AUS DER FORSCHUNG
Ich hatte einen richtig schlechten Tag. Ich musste mich verspätet für einen Kurs anmelden. Ich hab niemanden gefunden, der mir weiterhelfen konnte. Als man mir zum tausendsten Mal sagte „Sie müssen zu einem anderen Büro gehen!“, wurde ich so ärgerlich, dass ich beinahe ein Loch in die Tür getreten habe.
Kommt Ihnen dieser Zeitungsbericht bekannt vor? Ein Mann wird gefeuert und kehrt zurück, um seinen Chef und einige Mitarbeiter zu töten. Zählt dies als ein Fall von Frustration (Enttäuschung des Ziels, seinen Lebensunterhalt zu verdienen), der zu Aggression führt? Um diese Frage zu beantworten, untersuchte ein Forscherteam die Beziehung zwischen der Arbeitslosenquote in San Francisco und der Zahl der dort als „gemeingefährlich“ Verurteilter. Diese Untersuchung erlaubt Vorhersagen für eine ganze Gemeinde: Welche Arbeitslosenquote führt wahrscheinlich zum höchsten Grad an Gewalt? Die Forscher fanden heraus, dass Gewalttaten zunahmen, wenn die Arbeitslosigkeit anstieg, jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn die Arbeitslosigkeit zu groß wurde, gingen die Gewalttaten wieder zurück. Woran könnte dies liegen? Die Forscher vermuteten, dass die Angst der Menschen, auch noch ihre Arbeit zu verlieren, half, frustrationsbedingte Tendenzen in Richtung Gewalt zu unterdrücken (Catalano et al., 1997).
Diese Anekdote veranschaulicht beispielhaft einen allgemeinen Zusammenhang, der in die FrustrationsAggressions-Hypothese Eingang fand (Dollard et al., 1939). Laut dieser Hypothese entsteht Frustration in Situationen, in welchen Menschen in ihrer Zielerreichung behindert oder von ihr abgehalten werden; ein Anwachsen der Frustration führt dann zu einer größeren Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Aggression. Eine Vielzahl empirischer Belege unterstützt den
schaftlicher Ebene zu erklären. Diese Studie zeigt auf, wie die Interaktion individueller und gesellschaftlicher Kräfte ein Netto-Niveau der Gewalt schafft. Wir können einen gewissen Grad der Aggression aufgrund der Frustration vorhersagen, die jeder Einzelne in einer Gesellschaft mit steigender Arbeitslosigkeit erlebt. Sobald Menschen jedoch erkennen, dass das Ausleben von Aggression möglicher-
Frustrations-Aggressions-Hypothese
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Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression (Berkowitz, 1993, 1998). Wenn beispielsweise die Erwartung von Kindern, mit sehr reizvollen Spielsachen zu spielen, enttäuscht wurde, dann verhielten sie sich diesen Spielsachen gegenüber aggressiv, wenn sie endlich mit ihnen spielen durften (Barker et al., 1941). Forscher haben diese Beziehung genutzt, um sich Aggression sowohl auf persönlicher als auch auf gesell-
17.3 Aggression
weise ihr Beschäftigungsverhältnis gefährden könnte, wird Gewalt unterdrückt. Sie können diese Kräfte wahrscheinlich in ihren Alltagserfahrungen wiedererkennen: Es gibt viele Situationen, in denen Sie sich möglicherweise hinreichend frustriert fühlen, um Aggression zu zeigen, aber Sie verstehen gleichzeitig, dass ein Ausleben der Aggression auf lange Sicht ihrem eigenen Interesse schaden würde. Frustration führt nicht immer zu Aggression. Wenn beispielsweise Frustration unbeabsichtigt ausgelöst wird – stellen Sie sich vor, ein Kind schüttet Saft über das neue Kleid seiner Mutter –, dann werden Menschen mit geringerer Wahrscheinlichkeit aggressiv, als wenn dies absichtlich geschehen wäre (Burnstein & Worchel, 1962). Gleichzeitig können andere Situationen, die nicht auf ein Ziel bezogen frustrieren, dennoch negative Emotionen verursachen und zu Aggression führen. Eine solche Situation zeigt die folgende Anekdote eines Studierenden. Temperatur und Aggression Es war ein heißer Sommertag und die Klimaanlage in meinem Auto funktionierte nicht. Dieser Typ hatte mich mit seinem Auto geschnitten. Ich verfolgte ihn und versuchte, ihn von der Straße zu drängen. Besteht ein Zusammenhang zwischen Temperatur und Aggression? Betrachten Sie die Daten, die in Abbil-
dung 17.5 dargestellt sind. Diese Abbildung stammt von einer Untersuchung, die sich in einem Zeitraum von zwei Jahren mit den Auswirkungen der Temperatur auf tätliche Angriffe in Minneapolis, Minnesota, befasste. Die Darstellung basiert auf 36.617 berichteten Übergriffen (Bushman et al., 2005). Wie Sie sehen, besteht ein großer Zusammenhang zwischen der Höhe der Temperaturen und der Wahrscheinlichkeit, dass Menschen Übergriffe verüben. Tatsächlich gibt die Abbildung nicht das ganze Bild wieder: Der Zusammenhang zwischen Temperatur und Übergriffen ist in Wirklichkeit in den späten Abend- und frühen Morgenstunden am größten (von 21 Uhr bis 3 Uhr früh). Warum könnte dies so sein? Eine Erklärung dieser Daten beruht sowohl auf gesellschaftlichen als auch psychologischen Kräften. Auf gesellschaftlicher Ebene haben Sie möglicherweise vermutet, dass Menschen mit größerer Wahrscheinlichkeit Übergriffe begehen, wenn sie mehr draußen und unterwegs sind. Das heißt, dass bei wärmeren Temperaturen Menschen öfter im Freien sind und daher auch die Wahrscheinlichkeit größer ist, als Opfer eines Übergriffs „verfügbar“ zu sein. Die gleiche Argumentation können Sie für die Tageszeit geltend machen: In der Zeit zwischen 21 Uhr und 3 Uhr früh werden Menschen typischerweise weniger von der Arbeit oder anderen Verpflichtungen in Anspruch genommen. Zudem haben sie bis zu den späten Abendstunden vielleicht schon Alkohol getrunken oder andere Mittel zu sich genommen, die ihre Hemmung für Aggression herabsetzen (Ito et al.,
21 Uhr – 3 Uhr früh 3 Uhr früh – 21 Uhr
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–12,2 – –6,7 –1,1 – 4,4 10,0 – 15,6 21,1 – 26,7 > 32,2 <–17,8 15,6 – 21,1 26,7 – 32,2 –17,8 – –12,2 –6,7 – –1,1 4,4 – 10,0
Temperatur ˚C
Abbildung 17.5: Temperatur und Aggression. Die Abbildung stellt die durchschnittliche Anzahl von Übergriffen (gemessen in einem Drei-Stunden-Intervall) als Funktion der Temperatur (in Grad Celsius) in diesem Zeitraum dar. Zu den Tageszeiten, in denen die Menschen nicht mit Schlafen, Schule, Arbeit oder Familienleben beschäftigt sind, erhöht sich die Aggressivität mit steigender Temperatur kontinuierlich.
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1996). Im Gegensatz dazu ist man in der Zeit zwischen 3 Uhr früh und 21 Uhr abends meistens mit Schlafen, Schule, Arbeit und Familienleben beschäftigt – was es erschwert, in Überfälle verwickelt zu werden. Unter Berücksichtigung all dieser gesellschaftlichen Erklärungen für das Anwachsen der Aggression stellt sich die Frage, ob wir auch noch Psychologie heranziehen müssen? Die Antwort lautet „Ja“. Eine weitere wichtige Komponente einer Erklärung der Daten in Abbildung 17.5 ist die Art und Weise, wie Menschen das Unbehagen, das mit hohen Temperaturen einhergeht, bewältigen und es interpretieren. Erinnern Sie sich an die Diskussion von Bewertung und Emotion in Kapitel 12. Angenommen, Sie führen an einem Tag bei 24 °C mit jemandem ein Gespräch und Sie fühlen sich erhitzt und unwohl. Beziehen Sie diese Emotion auf die Temperatur oder Ihr Gegenüber? Je stärker Sie Ihre Emotion fälschlicherweise auf eine andere Person statt auf die Situation beziehen, desto eher werden Sie dieser Person gegenüber aggressiv werden. (Vielleicht erkennen Sie diese Struktur als gefährliche Folge des fundamentalen Attributionsfehlers aus Kapitel 16 wieder.) Warum macht einem Hitze am meisten in den späten Abend- und frühen Morgenstunden zu schaffen? Mit zunehmendem Verlauf des Tages fällt es möglicherweise schwerer, sich zu erinnern „Ich fühle mich so, weil es heiß ist“ und nicht nur einfach den Schluss zu ziehen „Ich fühle mich so, weil dieser Kerl mich verrückt macht“. Eine dritte Anekdote eines Studierenden veranschaulicht, wie Situationen Feindseligkeit verursachen, die über die Zeit hinweg verstärkt wird. Direkte Provokation und Eskalation Ich saß in der Bibliothek und versuchte, ein wenig zu arbeiten. Diese beiden Frauen führten eine wirklich laute Unterhaltung, die eine Menge Leute störte. Ich bat sie, leiser zu sein, und sie ignorierten mich einfach. Fünf Minuten später bat ich sie erneut um Ruhe, sie unterhielten sich jedoch nur noch lauter. Schließlich sagte ich ihnen, dass sie beide dumme, hässliche Tratschen seien und wenn sie nicht gleich den Mund hielten, würde ich sie packen und aus der Bibliothek schmeißen. Das hat funktioniert. Es wird Sie nicht überraschen, dass auch direkte Provokation Aggression verursachen kann. Wenn sich also jemand so verhält, dass es Sie wütend oder ärgerlich macht – und Sie der Ansicht sind, dass dieses
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Verhalten beabsichtigt war –, dann werden Sie mit größerer Wahrscheinlichkeit mit irgendeiner Art von körperlicher oder verbaler Aggression antworten (Johnson & Rule, 1986). Die Auswirkungen direkter Provokation stehen im Einklang mit der Grundvorstellung, dass negative Affekte auslösende Situationen zu Aggression führen. Die Absichtlichkeit der Handlung ist ausschlaggebend, weil Sie mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine unbeabsichtigte Handlung negativ interpretieren. (Erinnern Sie sich an die ähnliche Beobachtung bei der Frustration, dass diese mit geringerer Wahrscheinlichkeit zu Aggression führt, wenn sie unbeabsichtigt verursacht wurde.) Die Forschung hat sich mit Fragen der Provokation beschäftigt, um die Ursachen extremer Gewalt an
AUS DER FORSCHUNG Forscher untersuchten 15 Fälle von Schießereien, die sich zwischen 1995 und 2001 an Schulen ereigneten (Leary et al., 2003). Der bekannteste dieser Fälle war derjenige an der Columbine High School 1999, der zwölf Schüler und einen Lehrer das Leben kostete. Insgesamt töteten Schüler in diesem Sechs-Jahres-Zeitraum 40 Menschen einschließlich, in manchen Fällen, sich selbst. Die Forscher überprüften detaillierte Berichte dieser 15 Schießereien, um das Ausmaß zu bestimmen, in dem die Täter zuvor Opfer von dauerndem Spott, Zurückweisung oder Unterdrückung oder aber einer akuten Episode von Demütigung oder Zurückweisung in der Liebe gewesen waren. Diese Faktoren fanden sich in zwölf der 15 Fälle. Zum Beispiel hinterließen die Täter von Columbine Videobänder, in denen sie den Spott und die Ausgrenzung schilderten, der sie sich ausgesetzt glaubten. In mehreren Fällen entstammten die Opfer der Gruppe derjenigen, von denen sich die Täter gequält sahen.
Schulen einordnen zu können. Diese Daten entschuldigen natürlich nicht die Handlungen der Mörder, sondern helfen nur, sie zu erklären. In den meisten dieser Situationen kamen noch andere Gründe hinzu. Zum Beispiel hatten die Täter in 10 der 15 Fälle vorher Zeichen psychischer Störungen wie Depression und Tierquälerei gezeigt. Trotzdem muss man im Auge behalten, dass Provokation zu extremen Gewaltakten führen kann. Ein zweites Merkmal der Anekdote, mit der wir diesen Abschnitt eingeleitet haben, ist über die Provokation hinausgehend die Eskalation: Weil weniger eindringliche Reaktionen auf die Provokation keinen Effekt zeigten, wurde die Reaktion des Studierenden im Laufe der Zeit aggressiver. Forscher haben gezeigt, dass aggressive Reaktionen auf ein fortdauerndes Är-
17.3 Aggression
gernis tatsächlich eskalieren. So sahen sich zum Beispiel die Teilnehmer einer Studie außer Stande, die Angehörigen einer Gruppe dazu zu bringen, Ressourcen zu teilen (Mikolic et al., 1997). (Die Mitglieder dieser Gruppe wurden insgeheim vorher angewiesen, nicht zu kooperieren.) Die Versuche begannen mit fordernden Äußerungen (beispielsweise „Wir brauchen es jetzt“), gingen weiter mit verärgerten Äußerungen (beispielsweise „Ihr fangt wirklich an, mich zu ärgern“) bis hin zu beleidigenden Äußerungen (beispielsweise „Ihr Typen seid totale Trottel“). In der Tat folgte die Stärke der Reaktionen einer geordneten Reihenfolge der Eskalation. Die Versuchsleiter schlugen vor, dass Menschen ein Eskalationsskript gelernt haben. Diese Gedächtnisstruktur enkodiert kulturelle Normen für die Abfolge, in der Menschen die Aggressivität ihrer Reaktionen auf anhaltende Provokation steigern. Können Sie erkennen, wie das Eskalationsskript wiederum auf den Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression verweist? Das Misslingen der anfänglichen Versuche, die Situation zu verändern, führt wahrscheinlich zu Frustration, die wiederum die Wahrscheinlichkeit für heftigere Aggressionen erhöht. Wir haben jetzt einige der situationalen Kräfte angeführt, die uns möglicherweise veranlassen, psychische oder körperliche Aggression auszuüben. Wir wollen festhalten, dass sich alle unsere Beispiele auf impulsive Aggression beziehen, nicht auf instrumentelle. Wie wir bereits dargestellt haben, verweist instrumentelle Aggression auf Umstände, in denen Menschen zu Aggression greifen, um ein Ziel zu erreichen – beispielsweise wenn Räuber körperlichen Zwang einsetzen, um ihre Verbrechen zu begehen. Diese Art Aggression muss als Teil einer umfassenderen Kriminalitätstheorie erläutert werden. Wir haben uns hier größtenteils mit Umständen beschäftigt, in welchen gewöhnliche Leute sich dabei ertappen, wie sie impulsive, aggressive Taten begehen. Im folgenden Abschnitt werden wir sehen, dass jedoch auch kulturelle Unterschiede das Ausmaß sowohl individueller als auch krimineller Aggression beschränken.
17.3.4 Kulturelle Einschränkungen Wir haben bislang gesehen, dass aggressive Verhaltensweisen Teil unseres evolutionären Erbes sind und dass bestimmte Situationen mit größerer Wahrscheinlichkeit aggressives Verhalten verursachen. Trotzdem lassen einige Forschungsergebnisse vermuten, dass die Wahrscheinlichkeit, aggressives Verhalten zu zei-
gen, stark von kulturellen Werten und Normen beeinflusst wird (Bond, 2004). Sehen wir uns an, warum die Kultur einen Einfluss auf das aggressive Verhalten des Einzelnen ausübt. Selbstkonstrukte und aggressives Verhalten Wir beginnen die Untersuchung von Kultur und Aggression, indem wir zu einer Unterscheidung der kulturellen Konstrukte des Selbst zurückkehren, die sich durch das vorliegende Buch hindurchzieht: Wie wir weiter oben anführten, beinhalten die meisten westlichen Kulturen independente Selbstkonstrukte, wohingegen die meisten östlichen Kulturen interdependente Selbstkonstrukte aufweisen (Markus & Kitayama, 1991). Was folgt hieraus für das aggressive Verhalten? Untersuchungen haben belegt, dass Sie, wenn Sie sich als grundlegend mit anderen Mitgliedern Ihrer Kultur verbunden sehen, weniger wahrscheinlich aggressiv reagieren – eine aggressive Handlung wäre demzufolge eine Handlung gegen Ihr „Selbst“ (Bergeron & Schneider, 2005). In einer Studie wurden beispielsweise japanischen und US-amerikanischen Vorschulkindern mit einem Durchschnittsalter von etwa viereinhalb Jahren Geschichten dargeboten, die Konfliktsituationen beinhalteten (Zahn-Waxler et al., 1996). Die Kinder sollten anschließend mit Hilfe von Puppen den Ausgang der Geschichten nachspielen. Die US-amerikanischen Kinder erzielten höhere Werte sowohl bei Maßen aggressiver Verbaläußerungen – US-amerikanische Kinder sagten öfter Dinge wie „Ich hasse dich“ – als auch bei Maßen aggressiven Verhaltens – USamerikanische Kinder zeigten mit den Puppen öfter Verhalten wie Schubsen und Schlagen. Dieses Experiment lässt vermuten, dass japanische Kinder bereits die kulturelle Norm der Interdependenz und somit die kulturellen Sanktionen verinnerlicht haben, die erfolgen, wenn man anderen Leid zufügt. Im Gegensatz dazu zeigten die amerikanischen Kinder Anzeichen eines Gefühls von independentem Selbst, das vor den Angriffen anderer beschützt werden muss. Obwohl wir diesen bedeutsamen Unterschied zwischen Independenz und Interdependenz identifiziert haben, ist es zudem möglich, feinere kulturelle Unterschiede zu finden, die sich hinter dieser umfassenden Perspektive verbergen. Beispielsweise haben Richard Nisbett (Nisbett & Cohen, 1996) und seine Kollegen ausführlich die regionalen Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb der USA im Hinblick auf die Anwendung von Aggression untersucht. Als ein konsistenter Unterschied stellte sich heraus, dass „Südstaaten-Verhalten“ von einer Kultur der Ehre geprägt
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ist, bei der „sogar kleine Auseinandersetzungen zu Kämpfen um den Ruf und den sozialen Status werden“ (Cohen et al. 1996, S. 945). Die von Ehrgefühl geprägte Kultur billigt nicht alle Formen der Aggression – nur die Arten aggressiven Handelns, die zur Verteidigung des Eigentums oder zum Ausgleich persön-
AUS DER FORSCHUNG Forscher konfrontierten männliche College-Studierende – Nord- und Südstaatler – mit einer kleinen Beleidigung: Während die Teilnehmer einen Gang entlangspazierten, rempelte ein Konfident des Versuchsleiters jeden Teilnehmer mit seiner Schulter und nannte ihn „Arschloch“. (Studierende der Kontrollgruppe blieben von diesem Ereignis verschont.) Die Forscher sagten voraus, dass die Südstaatler heftiger auf den Rempler und die Beleidigung reagieren würden als ihre Kommilitonen aus den Nordstaaten. Eines der von den Forschern verwendeten Maße zur Abschätzung der studentischen Reaktionen basierte auf dem Spiel „Chicken“, bei welchem zwei Personen mit dem Auto aufeinander zufahren, bis einer von ihnen ausweicht. In dieser Variante marschierte ein Konfident direkt auf jeden herannahenden Teilnehmer zu. Die Forscher maßen, wie nah jeder Teilnehmer dem Konfidenten kam, bevor er auswich. Wie Sie Abbildung 17.6 entnehmen können, hatte die kleine Beleidigung eine starke Auswirkung auf das Verhalten der Südstaatenstudenten. Wurden sie nicht beleidigt, dann waren sie sogar höflicher als die Nordstaatler – sie wichen früher aus. Wurden die Südstaatler jedoch zuvor gerempelt, dann gingen sie sehr viel später aus dem Weg als die Nordstaatler (Cohen et al., 1996).
licher Beleidigungen dienen (Cohen & Nisbett, 1994). Viele Menschen in den USA teilen die Meinung, dass in den Südstaaten eine höflichere Kultur herrscht als in den Nordstaaten – Sie würden lieber jemanden in Richmond (im Süden) nach dem Weg fragen als jemanden in New York. Dieses Experiment spiegelt diesen Glauben insofern wider, als die Südstaatler der Kontrollgruppe dem Konfidenten früher auswichen als ihre Kommilitonen aus den Nordstaaten. Diese allgemeine Höflichkeit brach jedoch recht schnell ein, sobald das Ehrgefühl der Studierenden angegriffen worden war. Trotz des umfassenden indepententen Selbstkonstrukts, das die meisten US-Einwohner charakterisiert, ergibt sich somit, dass Männer aus den Südstaaten schärfer reagieren, wenn dieses Gefühl des Selbst herausgefordert wird und ihre „Ehre“ auf dem Spiel steht (Nisbett & Cohen, 1996; Vandello & Cohen, 2004).
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Abbildung 17.6: Die Auswirkungen von Beleidigungen auf Nord- und Südstaatler. In der Experimentalgruppe erlitten Studierende aus den Nord- und Südstaaten der USA eine kleine Beleidigung. Obwohl in der Kontrollgruppe ohne Beleidigung die Südstaatler höflicher waren, gaben sie nach einer Beleidigung in einer Variante des Spiels „Chicken“ beträchtlich weniger nach.
Warum war Gandhis Philosophie des gewaltfreien Widerstands insbesondere für die indische Kultur angemessen?
17.3 Aggression
Normen aggressiven Verhaltens Ein wichtiger kultureller Faktor besteht in der Verfügbarkeit von aggressiven Modellen in der Umwelt. In Kapitel 6 diskutierten wir Forschungsergebnisse, die vermuten lassen, dass Kinder durch das Beobachten erwachsener Modelle aggressive Verhaltensweisen sehr leicht übernehmen. Beispielsweise zeigten Kinder, die erwachsene Modelle beobachteten, die eine große Clownpuppe aus Plastik gestoßen, geschlagen oder getreten haben, später eine größere Häufigkeit des gleichen Verhaltens als Kinder in Kontrollbedingungen, die keine aggressiven Modelle beobachtet hatten (Bandura et al., 1963). Wir haben in Kapitel 6 auch nahe gelegt, dass das Fernsehen in den USA eine riesige Zahl aggressiver Modelle direkt in das Zuhause der Kinder transportiert – die Präsentation von Gewalt fördert die Nachahmung (Comstock & Scharrer, 1999; Huesmann et al., 2003). Die Forschung hat das allgemeine Aggressionsmodell entwickelt, um die Beziehung zwischen dem Konsum gewalttätiger Medien (Fernsehen, Filme und so weiter) und aggressivem Verhalten zu erklären. Dieses Modell geht davon aus, dass Menschen einen allgemeinen Vorrat an aggressionsbezogenen Wissensstrukturen durch ihre Erfahrungen mit medial vermittelter Gewalt anlegen: In dieser Sichtweise „ist jede Erfahrung mit Gewaltmedien im wesentlichen ein weiterer Lernvorgang, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist, dass Aggression eine angemessene Reaktion auf Konflikte und Wut ist, und dass Aggression wirkt“ (Bushman & Anderson, 2002, S. 1680). Betrachten wir eine Studie, die den KurzzeitEinfluss gewalttätiger Videospiele untersuchte.
AUS DER FORSCHUNG Forscher baten 224 Collegestudierende, entweder gewalttätige (zum Beispiel Mortal Kombat) oder gewaltfreie (zum Beispiel 3D Pinball) Videospiele zu spielen (Bushman & Anderson, 2002). Nachdem sie 20 Minuten lang gespielt hatten, sollten die Teilnehmer eine ihrer Meinung nach damit nicht zusammenhängende Aufgabe lösen: Sie lasen Geschichten mit offenem Ende und gaben an, was als Nächstes passieren würde. Beispielsweise wurde in einer der Geschichten Todd Opfer eines Auffahrunfalls, als er an einer gelben Ampel abrupt bremst. Die Teilnehmer schrieben ihre Antworten auf die Frage „Was passiert als Nächstes?“ auf. Diejenigen Studierenden, die zuvor gewalttätige Videospiele gespielt hatten, gaben den Geschichten durchgängig aggressivere Schlüsse. So malten sich einige etwa aus, dass Todd ein Autofenster des Unfallverursachers eintreten oder den Fahrer erstechen oder niederschießen würde.
Warum sollten Eltern besorgt sein, dass Kinder, die gewalttätige Videospiele spielen, auch für reale Gewalt anfälliger sind? Diese Studie zeigt, dass diejenigen Studierenden, die zuvor gewalttätige Videospiele (im Gegensatz zu gewaltfreien Videospielen) gespielt hatten, zu sehr viel aggressiveren Reaktionen neigten. Im Allgemeinen zeigen Kinder und junge Erwachsene, die Videospiele spielen, höhere Aggressionslevel und stärker aggressionsbezogene Gedanken und Gefühle (Anderson & Bushman, 2001). Erfahrungen mit solchen Spielen – und anderen Gewaltmedien – lassen die Welt gefährlicher erscheinen. In diesem Zusammenhang wird dann die Aggression zur angemessenen Reaktion auf eine gefährliche Welt. Unglücklicherweise beinhaltete die Welt für viele Kinder tatsächlich reale Gefahren. Kinder können in ihrem Zuhause aggressivem Verhalten ausgesetzt sein. Wir haben in Kapitel 6 beschrieben, dass Kinder, die körperlich bestraft werden, oft selbst anfangen, Aggression als Taktik zur Kontrolle des Verhaltens Anderer einzusetzen. Des Weiteren wachsen viele Kinder in den Vereinigten Staaten in Innenstädten auf, wo die Gewalt alltäglich und chronisch ist (Berkowitz, 2003; Salzinger et al., 2006). Die Forschung zur Untersuchung der Folgen vom Anblick von Gewalt für die psychische Gesundheit von Kindern und ihre Tendenz zu aggressivem Verhalten steht noch ganz am Anfang (Bingenheimer et al., 2005). Wir beenden diesen Abschnitt zu kulturellen Normen aggressiven Verhaltens durch die Anmerkung, dass diese Normen lokal sehr begrenzt und recht stabil sein können. Betrachten Sie die beiden nebeneinander liegenden Zapotec-Dörfer im Staat Oaxaca, Mexiko (Scott, 1992). In einem der Dörfer herrscht Gewalttätigkeit, im anderen nicht: Im gewalttätigen Dorf ist die Mordrate fünf Mal so hoch wie im nichtgewalttätigen. Beide Dörfer gibt es seit etwa dem Jahre 1500; beide sind sich im Hinblick auf Religion und wirtschaftliche Verhältnisse sehr ähnlich. Mehr oder weniger liegt die
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einzige Erklärung für ihren unterschiedlichen Charakter in der Stabilität der Kultur: Wie auch immer beide Dörfer ihr charakteristisches Niveau der Gewalt erlangt haben, ist dieses über die Zeit hinweg stabil geblieben. Dies ist ein anschauliches Beispiel aus der realen Welt für Normenweitergabe und Normenkonservierung, die wir oben in diesem Kapitel beschrieben haben. In vergleichbarer Weise sind die USA mit den modernen Kanälen der Massenkommunikation ein sehr großes Dorf, das Normen aggressiven Verhaltens konserviert. In diesem Abschnitt haben wir viel zu viele Gründe beschrieben, die Menschen in die Aggression treiben können. Wir wenden uns jetzt der Aggression in einem größeren Maßstab zu und untersuchen die Kräfte, die Menschengruppen in Konflikt miteinander bringen, sowie die Interventionen, die einige dieser Konflikte entschärfen helfen können.
ZWISCHENBILANZ 1 Welches Postulat stellte Konrad Lorenz über die mensch-
liche Aggression auf? 2 Warum glauben Forscher, dass genetische Faktoren
eine Rolle in der Aggressivität spielen? 3 Welche Beziehung besteht zwischen Frustration und
Aggression? 4 Warum beeinflusst der Konsum aggressiver Medien
Gedanken und Verhalten? KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an das Experiment zum Effekt gewalttätiger Videospiele. Warum war es wichtig, dass die Teilnehmer glaubten, die Aufgabe, in der sie Geschichten zu Ende schrieben, habe mit dem Videospiel nichts zu tun?
Die Psychologie von Konflikt und Frieden
17.4
Wir eröffnen diesen letzten Abschnitt mit einer ernüchternden Anmerkung: In diesen ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ist die Welt immer noch voll von Fällen extremer Gewalt, verursacht durch religiöse, ethnische und kulturelle Vorurteile. Was kann man dagegen tun? Im ersten Kapitel dieses Buches haben wir Psychologen als „eine eher optimistische Gruppe“ beschrieben, weil sie glauben, dass die Theorien und Ergebnisse der Psychologie eingesetzt werden können, um das Leben der Menschen zu verbessern. In diesen
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letzten Abschnitten wollen wir diese optimistische Botschaft beibehalten. Obwohl wir damit beginnen werden, weitere psychologische Kräfte zu beschreiben, die zu verheerenden Verhaltensweisen führen können, wird deren Besprechung Erkenntnisse liefern, die zur Grundlage einer konstruktiven Veränderung werden können. Am Ende wird unsere Besprechung der Friedenspsychologie stehen, eines interdisziplinären Unterfangens, bei dem sozialwissenschaftliches Wissen eingesetzt werden soll, um den Weltfrieden voranzubringen. Wir wollen, dass Sie Ihre ersten Erfahrungen mit Psychologie mit diesen optimistischen Tönen beenden. Wir beginnen mit der vielleicht klassischsten Studie im sozialpsychologischen Kanon – Forschungen, die von Stanley Milgram durchgeführt wurden, um einige der ungeheuren Schrecken des zweiten Weltkriegs zu verstehen.
17.4.1 Gehorsam gegenüber Autorität Was brachte Tausende von Nazis dazu, Hitlers Befehlen zu folgen und Millionen von Juden in die Gaskammern zu schicken? Brachten Charakterfehler sie dazu, blind Befehle auszuführen? Hatten diese Menschen keine moralischen Werte? Wie können wir die Bereitschaft von Sektenanhängern erklären, sich selbst und andere zu opfern? Wie steht es mit Ihnen? Gibt es Bedingungen, unter welchen Sie blind den Befehlen Ihres religiösen Führers folgen würden, andere zu vergiften und dann Suizid zu begehen? Können Sie sich vorstellen, an dem Massaker an Hunderten von unschuldigen Zivilisten teilzunehmen wie die amerikanischen Soldaten im vietnamesischen Dorf My Lai, die den Befehlen ihrer Vorgesetzten folgten (Hersh, 1971; Opton, 1970, 1973)? Ihre Antwort – die früher auch unsere war – ist sehr wahrscheinlich „Nein! Für was für einen Menschen halten Sie mich?“ Wenn Sie diesen Abschnitt gelesen haben, hoffen wir, dass Sie etwas bereiter sind, mit „Vielleicht. Ich weiß es nicht sicher.“ zu antworten. In Abhängigkeit von den wirkenden sozialen Kräften würden Sie möglicherweise das tun, was andere Menschen in diesen Situationen getan haben, egal wie schrecklich und fremdartig ihre Handlungen außerhalb dieser Umgebung – für Sie und diese Menschen – erscheinen. Die überzeugendste Demonstration der Macht der Situation über das Verhalten des Individuums wurde von Stanley Milgram geschaffen, einem Schüler von Solomon Asch. Milgrams Forschungen (1965, 1974) zeigten, dass der blinde Gehorsam der Nazis während des zweiten Weltkriegs weniger ein Resultat dispositio-
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
naler Charakteristika (ihre ungewöhnlichen Persönlichkeiten oder der deutsche Charakter) war als ein Ergebnis der situativen Kräfte, die jeden umschlingen konnten. Milgrams Forschungsprogramm zum Gehorsam ist besonders kontrovers, weil es bedeutsame Implikationen für Phänomene in der realen Welt hat und ethische Fragen aufwirft (Miller, 1986; Ross & Nisbett, 1991). Das Gehorsamkeitsparadigma Um die Variablen Persönlichkeit und Situation zu trennen, verwendete Milgram eine Reihe von 19 sorgfältig kontrollierten Laborexperimenten mit insgesamt über 1.000 Versuchsteilnehmern. Milgrams erste Experimente wurden an der Universität Yale mit männlichen Anwohnern aus New Haven und den umliegenden Gemeinden, die Geld für ihre Teilnahme erhielten, durchgeführt. Bei späteren Variationen lagerte Milgram sein Gehorsamkeits-Labor aus. Er eröffnete eine Forschungseinheit in Bridgeport, Connecticut, und warb durch Zeitungsanzeigen einen breiten Durchschnitt der Bevölkerung als Versuchsteilnehmer an. Sie bestanden aus Personen unterschiedlichen Alters, Berufs und unterschiedlicher Schulbildung und gehörten beiden Geschlechtern an. Milgrams grundlegendes experimentelles Paradigma bestand darin, dass einzelne Teilnehmer einer anderen Person eine Reihe vermeintlich extrem schmerzhafter Elektroschocks verabreichten. Diese Freiwilligen dachten, sie nähmen an einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Thema Gedächtnis und Lernen teil. Sie wurden glauben gemacht, der Forschungszweck der Studie sei herauszufinden, wie sich Bestrafung auf das Gedächtnis auswirkt, damit das Lernen durch das richtige Gleichgewicht aus Belohnung und Bestrafung verbessert werden konnte. In ihren sozialen Rollen als Lehrer sollten die Teilnehmer jeden Fehler der Person bestrafen, die den Schüler spielte. Die wichtigste Regel, deren Befolgung ihnen aufgetragen wurde, war,
die Stärke des Elektroschocks jedes Mal zu erhöhen, wenn dem Schüler ein Fehler unterlaufen war; so lange, bis alles fehlerfrei gelernt worden war. Ein Versuchsleiter im weißen Anzug spielte die Rolle der legitimierten Autoritätsperson – er erklärte die Regeln, kümmerte sich um die Zuteilung der Rollen (anhand einer manipulierten Losziehung) und wies die Lehrer an, ihre Aufgabe zu erfüllen, wenn sie zögerten oder Widerstand leisteten. Die abhängige Variable war die höchste Schockstärke – auf einer Maschine, die Schocks in kleinen 15-Volt-Schritten bis 450 Volt erzeugen konnte –, die der Lehrer verabreichte, bevor er sich weigerte, der Autorität weiterhin zu gehorchen. Die Test-Situation Die Studie war so aufgebaut, dass die Teilnehmer denken mussten, dass sie durch das Befolgen von Befehlen einer unschuldigen Person Schmerz und Leid zufügten und sie vielleicht sogar töteten. Jedem Lehrer wurde ein Beispielschock von 45 Volt verabreicht, damit er fühlte, wie viel Schmerzen dadurch verursacht wurden. Der Schüler war ein freundlicher, höflicher Mann von etwa 50 Jahren, der irgendetwas von Herzproblemen erwähnte, aber bereit war, an dem Verfahren teilzunehmen. Er wurde im Nebenzimmer auf einen „elektrischen Stuhl“ geschnallt und verständigte sich durch eine Gegensprechanlage mit dem Lehrer. Der Schüler hatte die Aufgabe, Wortpaare zu lernen und das zweite Wort zu nennen, wenn ihm das erste vorgegeben wurde. Dem Schüler unterliefen bald Fehler – gemäß einem zuvor festgelegten Plan – und der Lehrer begann, dem Schüler Schocks zu verabreichen. Der Protest des Opfers nahm mit der Stärke des Schocks zu. Bei 75 Volt fing er an zu stöhnen und zu grunzen; bei 150 Volt verlangte er, aus dem Experiment entlassen zu werden; bei 180 Volt schrie er, dass er die Schmerzen nicht mehr aushalten könne. Bei 300 Volt bestand er darauf, dass er nicht weiter an dem
Milgrams Experiment zum Gehorsam: der „Lehrer“ (Teilnehmer) zusammen mit dem Versuchsleiter (Autoritätsperson), der Schockgenerator und der „Schüler“ (ein Vertrauter des Versuchsleiters). Welche Aspekte der Situation wirkten sich auf die Wahrscheinlichkeit aus, mit welcher der Lehrer bis zum maximalen Schock fortfahren würde?
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Experiment teilnehmen würde und befreit werden müsse. Er brüllte, er habe eine Herzschwäche und schrie. Wenn der Lehrer zögerte oder dagegen protestierte, den nächsten Schock zu verabreichen, sagte der Versuchsleiter „Das Experiment erfordert, dass Sie fortfahren!“ oder „Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitermachen!“ Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, verursachte die Situation bei den Teilnehmern beträchtlichen Stress. Die meisten beschwerten sich und protestierten und bestanden wiederholt darauf, nicht weitermachen zu können. Weibliche Teilnehmer weinten oft, während sie widersprachen. Es ist leicht, den Protesten der Teilnehmer zu entnehmen, dass die Situation bei ihnen einen beträchtlichen Konflikt auslöste: 180 Volt verabreicht. „Er hält das nicht aus! Ich werde diesen Mann dort nicht umbringen! Hören Sie ihn schreien? Er schreit. Er hält es nicht aus. Was ist, wenn ihm etwas passiert? … Ich meine, wer übernimmt die Verantwortung, wenn dem Herrn was passiert?“ [Der Versuchsleiter übernimmt die Verantwortung.] „Alles klar.“ 195 Volt verabreicht. „Hören Sie nicht, wie er schreit? Hören Sie. Gott, ich weiß wirklich nicht.“ [Der Versuchsleiter sagt: „Das Experiment erfordert, dass Sie fortfahren.“] – „Ich weiß, dass das so ist, Sir, aber ich meine – na ja – der weiß doch gar nicht, was ihm da noch bevorsteht. Jetzt ist er bei 195 Volt“ (Milgram, 1966, S. 30). Selbst wenn nur noch Stille im Raum des Schülers herrschte, wurde dem Lehrer befohlen, ihm weitere und stärkere Elektroschocks zu verabreichen, bis hoch zu dem Knopf, der mit „Gefahr: Bedrohlicher Schock (450 Volt)“ markiert war. Schocken oder nicht schocken? Als Milgram 40 Psychiater bat, das Verhalten der Teilnehmer in diesem Experiment vorherzusagen, schätzten diese, dass die meisten Teilnehmer nicht über 150 Volt hinausgehen würden (auf der Basis einer Beschreibung des Experiments). Ihrer professionellen Meinung zufolge würden weniger als 4 Prozent der Teilnehmer bei 300 Volt noch gehorsam sein und nur 0,1 Prozent würde bis ganz zum Ende, 450 Volt, fortfahren. Die Psychiater gingen davon aus, dass nur jene wenigen Individuen, die in irgendeiner Weise anormal sind, beispielsweise Sadisten, denen es Freude bereitet, anderen Schmerzen zuzufügen, den Befehlen blind gehorchen würden und bis zur höchsten Schockstärke fortfahren würden.
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Die Psychiater gründeten ihrer Bewertungen auf vermutete dispositionale Qualitäten von Menschen, die solch anormales Verhalten zeigen würden; sie übersahen jedoch die Macht dieser speziellen Situation, das Denken und Handeln der meisten Menschen zu beeinflussen, die in ihrem sozialen Kontext verstrickt waren. Das bemerkenswerte und verstörende Fazit ist, dass die Experten extrem falsch lagen: Die Mehrheit der Teilnehmer gehorchte der Autorität vollständig. Kein Teilnehmer beendete den Versuch unter 300 Volt. 56 Prozent verabreichten dem Schüler das Maximum von 450 Volt. Es gilt festzuhalten, dass die meisten Menschen verbal Widerstand leisteten, aber die Mehrheit verhielt sich gehorsam. Aus der Sicht des Opfers ist dies ein entscheidender Unterschied. Wenn Sie das Opfer wären, wäre es für Sie von großer Bedeutung, ob die Lehrer sagen, dass sie Ihnen nicht weiter wehtun wollen (sie leisten Widerspruch), um Ihnen dann doch wiederholt Elektroschocks zu verabreichen (sie gehorchen)? Die Ergebnisse der Milgram-Experimente waren so unerwartet, dass sich die Forscher große Mühe gaben, alternative Erklärungen der Ergebnisse auszuschließen. Eine Möglichkeit war, dass die Teilnehmer nicht wirklich auf die Täuschung im Experiment hereingefallen waren. Sie könnten geglaubt haben, dass das Opfer nicht wirklich verletzt wird. Diese Alternative wurde durch eine Studie ausgeschlossen, in der die Folgen des Gehorsams den Teilnehmern anschaulich, unmittelbar und direkt präsentiert wurden. Studierende nahmen an, sie würden einen Welpen trainieren, indem sie ihm jedes Mal einen Schock verabreichten, wenn ihm ein Fehler unterlief. Die Studierenden sahen, wie der Welpe hochsprang und quietschte, wenn sie den Knopf drückten, der das Gitter unter seinen Pfoten unter Strom setzte. Wie viele Menschen würden dem Welpen weiterhin Schocks verabreichen und zusehen, wie er leidet? Selbst unter diesen anschaulichen Umständen verabreichten drei Viertel der Studierenden die maximal mögliche Schockstärke (Sheridan & King, 1972). Eine andere alternative Erklärung für das Verhalten der Teilnehmer liegt darin, dass der Effekt auf die Anforderungsmerkmale der experimentellen Situation beschränkt ist. Anforderungsmerkmale sind Hinweise in einer experimentellen Umgebung, welche die Wahrnehmung der Teilnehmer im Hinblick auf das von ihnen Erwartete sowie ihr Verhalten systematisch beeinflussen. Angenommen, Milgrams Teilnehmer vermuteten, dass die Ergebnisse interessanter seien, wenn sie weiterhin Schocks verabreichten – also spielten sie mit. Weitere Forschung belegte, dass Gehorsam gegen-
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
über Autorität nicht von den Anforderungen einer ungewöhnlichen experimentellen Umgebung abhängt. Er kann in jeder natürlichen Umgebung auftreten.
AUS DER FORSCHUNG Eine Forschergruppe führte die folgende Feldstudie durch, um die Macht des Gehorsams in der natürlichen Umgebung eines Krankenhauses zu testen: Eine Krankenschwester (die Teilnehmerin) erhielt einen Anruf von einem Arzt des Hauses, den sie nicht kannte. Er wies sie an, einem Patienten ein Medikament zu verabreichen, damit bei seiner Ankunft die Wirkung schon einträte. Er würde das Anforderungsformular bei seiner Ankunft unterschreiben. Der Arzt verordnete eine Dosis von 20 Milligramm eines Medikaments namens Astroten. Das Etikett auf dem Behältnis nannte 5 Milligramm als übliche Dosis und 10 Milligramm als Höchstdosis. Würde eine Krankenschwester auf der Grundlage eines Telefongesprächs mit einem Fremden eine Überdosis verabreichen, wenn dies eindeutig der üblichen medizinischen Praxis widersprach? Als man dieses Dilemma zwölf Krankenschwestern beschrieb, gaben zehn an, sie würden nicht gehorchen. Was die Schwestern aber tatsächlich taten, ist eine andere, mittlerweile vertraute Geschichte. Als eine andere Gruppe Schwestern tatsächlich in diese Situation gebracht wurde, gehorchten fast alle. 20 von 22 hatten mit der Verabreichung der Medikation (in Wirklichkeit eine harmlose Substanz) begonnen, bevor ein Forschungsarzt sie unterbrach (Hofling et al., 1966).
Diese Ergebnisse legen nahe, dass Milgrams Befunde nicht nur darauf attribuiert werden können, dass die Teilnehmer auf die Anforderungen des Experiments reagierten. Warum gehorchen Menschen der Autorität? Milgrams Forschungen legen nahe, dass man die in einer Situation wirksamen psychologischen Kräfte genau betrachten muss, um zu verstehen, warum Menschen der Autorität gehorchen. Wir haben zu Beginn dieses Kapitels besprochen, wie situative Faktoren Verhalten einschränken; Milgrams Forschungsarbeiten zeigen einen besonders anschaulichen Fall dieses allgemeinen Prinzips. Milgram und andere Forscher manipulierten eine Vielzahl von Aspekten der experimentellen Umstände, um zu zeigen, dass der Effekt des Gehorsams überwiegend durch situative Variablen zustande kommt, nicht durch Persönlichkeitsvariablen. Abbildung 17.7 zeigt das Ausmaß an Gehorsam, dass man in unterschiedlichen Situationen fand. Recht
viel Gehorsam tritt in Situationen auf, in welchen zunächst ein Peer als Modell Gehorsam zeigt, oder wenn ein Teilnehmer einer anderen Person, welche die Schocks verabreicht, assistiert, oder wenn das Opfer (der Schüler) räumlich vom Lehrer getrennt ist. Recht wenig Gehorsam tritt auf, wenn der Schüler verlangt, einen Elektroschock zu erhalten, wenn zwei Autoritäten widersprüchliche Befehle geben oder wenn die Autoritätsperson das Opfer ist. Diese Befunde deuten alle darauf hin, dass die Situation und nicht die Unterschiede zwischen einzelnen Teilnehmern das Verhalten zu großen Teilen steuert. Es können zwei Gründe angeführt werden, warum Menschen in diesen Situationen Gehorsam gegenüber Autorität zeigen. Sie liegen in Effekten des Normeneinflusses und des Informationseinflusses, die wir oben besprochen haben: Menschen wollen gemocht werden (Normeneinfluss) und sie wollen sich korrekt verhalten (Informationseinfluss). Sie neigen dazu, das zu tun, was andere tun, oder das, wozu sie aufgefordert werden, um sozial akzeptiert und geschätzt zu werden. Darüber hinaus verlassen sich Menschen in mehrdeutigen, neuen Situationen – wie der Situation im Experiment – auf andere, um Hinweise zu erhalten, wie man sich angemessen und richtig verhält. Sie tun dies mit größerer Wahrscheinlichkeit, wenn Experten oder glaubwürdige Kommunikatoren ihnen sagen, was sie tun sollen. Ein dritter Faktor in Milgrams Paradigma ist, dass die Teilnehmer vermutlich unsicher waren, wie sie nicht gehorchen sollten; nichts, was sie als Widerspruch vorbrachten, stellte die Autorität zufrieden. Wenn es für die Teilnehmer einen einfachen, direkten Weg aus der Situation gegeben hätte – beispielsweise einen „Beenden“-Knopf –, hätten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht gehorcht (Ross, 1988). Zu guter Letzt ist Gehorsam gegenüber Autoritäten in dieser experimentellen Situation Teil einer tief verwurzelten Gewohnheit, die von Kindern in vielen unterschiedlichen Umgebungen gelernt wird – einer Autorität zu gehorchen, ohne Fragen zu stellen (Brown, 1986). Diese Heuristik ist für gewöhnlich nützlich für die Gesellschaft, sofern die Autoritäten legitimiert sind und Gehorsam verdienen. Das Problem ist, dass die Regel zu oft angewandt wird. Blinder Gehorsam gegenüber Autoritäten heißt Gehorsam gegenüber jeder und allen Autoritätspersonen, einfach aufgrund des ihnen zugeschriebenen Status, unabhängig davon, ob ihre Anforderungen und Befehle gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sind.
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Prozentsatz, der Teilnehmer, die Schock (450 Volt) verabreichten
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Abbildung 17.7: Gehorsam im Milgram-Experiment. Das Diagramm zeigt das Ausmaß an Gehorsam über viele Variationen des Milgram-Experiments hinweg.
Das Milgram-Experiment und Sie Welche persönliche Bedeutung hat diese Forschung zum Gehorsam für Sie? Welche Wahlen werden Sie treffen, wenn Sie im Lauf Ihres Lebens immer wieder vor moralischen Dilemmata stehen? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um über die Arten von Gehorsam gegenüber Autoritäten nachzudenken, die Ihnen in alltäglichen Situationen begegnen könnten. Angenommen, Sie wären Verkäufer. Würden Sie Kunden betrügen, wenn Ihr Vorgesetzter Sie dazu ermutigt? Angenommen, Sie wären Mitglied des Bundestags. Würden Sie abstimmen, wie die Partei es will, statt Ihrem Gewissen entsprechend? Milgrams Forschungen zum Gehorsam stellen den Mythos in Frage, demzufolge Böses nur im Geist böser Menschen lauert – die bösen „sie“, die sich von den guten „wir“ unterscheiden, die solche Dinge niemals täten. Das Ziel unserer Darstellung dieser Befunde ist nicht eine Herabwürdigung der menschlichen Natur, sondern klar zu machen, dass sogar normale, wohl-
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gesinnte Personen dem Potenzial zur Schwäche angesichts von starken situativen und sozialen Kräften unterliegen.
Würden Sie zur Verteidigung Ihrer Überzeugungen Ihr Leben riskieren, um sich einer Autorität zu widersetzen, so wie es dieser junge chinesische Studierende im Rahmen eines Studentenaufstands tat?
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
Schließlich möchten wir noch einen Hinweis zum Heldentum hinzufügen. Angenommen, die Mehrheit der mit Ihnen vergleichbaren Menschen erliegt mächtigen Gruppenkräften. Unserer Meinung nach macht es Sie heldenhaft, wenn Sie in der Lage sind, Widerstand zu leisten. Ein Held ist eine Person, die aufmerksam handeln kann, entsprechend ihres Gewissens, während alle anderen konform gehen, oder jemand, der moralisch richtig handelt, während andere schweigend daneben stehen und schlimme Taten geschehen lassen. Vielleicht kann Ihr Wissen über die situativen Kräfte, welche die „Banalität des Bösen“ ermöglichen, Ihnen einen Schubs in Richtung Heldentum geben.
17.4.2 Die Psychologie des Völkermords und des Krieges Wir haben bislang gesehen, dass die menschliche Spezies eine erkennbare Vorliebe für Gehorsam gegenüber Autorität besitzt. Es ist jedoch mehr als die Kenntnis dieses Merkmals notwendig, um zu erklären, warum eine Gruppe zu einigen Zeiten und an einigen Orten vorsätzlich Gewalt gegenüber einer anderen Gruppe ausübt, systematisch versucht, eine andere Gruppe auszulöschen – Völkermord –, und, was weitaus häufiger der Fall ist, warum eine Gruppe einen Krieg beginnt oder weniger formelle aggressive Handlungen gegen eine andere Gruppe unternimmt. In diesem Abschnitt analysieren wir einige der historischen und politischen Kräfte, die Bevölkerungen dazu bringen, den Weg der hoch organisierten Aggression einzuschlagen. Völkermord Es ist in der Geschichte der Menschheit häufig vorgekommen, dass bestimmte Gruppen mit gezielten Kampagnen des Völkermords – der vorsätzlichen Zerstörung anderer Gruppen – begonnen haben. Der Psychologe Ervin Staub (1989, 2000) hat Völkermorde im Laufe der Geschichte studiert und eine Beschreibung der Mengen kultureller und psychologischer Kräfte angefertigt, die Völkermorde möglich machen: Der Ausgangspunkt sind oft sehr schwierige Lebensbedingungen für die Mitglieder einer Gesellschaft – schwierige ökonomische Umstände, politische Umbrüche und so weiter. Unter diesen schwierigen Bedingungen verstärkt sich der gewöhnliche Impuls, In-Gruppen und Out-Gruppen zu definieren. In diesem Fall werden Out-Gruppen zu Sündenböcken für die Übel
der Gesellschaft. In vielen Fällen, wie beispielsweise in Nazi-Deutschland, wurde dieser Sündenbock-Mechanismus Teil der kulturellen oder politischen Ideologie, welche die Führer und Bürger einer Nation teilten. Weil die zum Sündenbock abgestempelte Gruppe für die Übel der Gesellschaft verantwortlich gemacht wird, wird es leicht, Gewalt gegen diese Gruppe zu rechtfertigen. Diese Vorfälle von Gewalt führen zu einem Gerechte-Welt-Glauben (Lerner, 1980): Täter und Unbeteiligte kommen zu dem Schluss, dass – weil wir in einer gerechten Welt leben – die Opfer etwas getan haben müssen, was die Gewalt gegen sie hervorruft. Auf diese Weise kamen Deutsche während der Zeit des Nationalsozialismus zu der Überzeugung, dass die Juden ihr Schicksal durch imaginären Schaden am Deutschen Staat verdient hatten. Die Gewalt rechtfertigt sich schließlich auch selbst – ein Ende der Gewalt würde bedeuten, dass man eingesteht, dass sie von Anfang an falsch war. Wenn darüber hinaus ein Regime, ohne von anderen Nationen sanktioniert zu werden, organisierte Gewalt ausübt, wird die Passivität der Weltgemeinschaft als Beleg für die Rechtmäßigkeit der Handlungen des Regimes gedeutet. Dies war der Fall bei den „ethnischen Säuberungen“, die nach der Auflösung von Jugoslawien 1991 begannen – obwohl Bilder von den Massakern weit verbreitet wurden, handelte die Weltgemeinschaft mehrere Jahre nicht. Betrachten wir den Fall Kambodscha (Hinton, 1996). Die Situation begann mit schwierigen Lebensbedingungen: Seit den späten 60er Jahren litt das Land unter ökonomischen Schwierigkeiten und Bombardierungen durch die USA, als sich der Krieg aus dem benachbarten Vietnam nach Kambodscha ausbreitete. Ein neues Regime begann, Sündenböcke zu identifizieren, und diese wurden zu Zielen extremer Gewalt: Die Kommunisten, die 1975 die Stadt Phnom Penh einnahmen, identifizierten eine Reihe ideologischer Feinde, die eliminiert werden mussten, um eine neue Gesellschaft einzurichten. Ehemalige militärische und politische Führer wurden gefangen genommen und hingerichtet. Die Definition von „Klassenfeinden“ wurde jedoch schnell breiter, als auch Lehrer, Studierende, Beamte und andere Staatsangestellte als potenzielle Verräter denunziert wurden. Die Tötungen nahmen schwunghaft zu, weil sie einer solch mächtigen
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Ein Mann aus Kambodscha kümmert sich um Schädel auf den „Killing Fields“. Welche Abfolge von Ereignissen kann einen Kontext für Massenmord schaffen?
Ideologie und einem klar definierten Ziel dienten: Das Land muss von seinen inneren Feinden befreit werden. Schließlich hatte, wie es meistens der Fall war, die Weltgemeinschaft nicht interveniert. Konzepte und Feindbilder Wir haben vorgeschlagen, dass ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu Völkermord das Finden eines Sündenbocks ist. Auch wenn das Endergebnis nicht in systematischem Mord gipfelt, kann man den gleichen Prozess am Werk sehen. Betrachten wir die Einstellungen junger Ostdeutscher nach dem Zusammenbruch der DDR. In nationalen Umfragen zeigte sich, dass Personen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren im Durchschnitt angaben, recht negative Einstellungen zu Gruppen wie Polen und Türken zu haben. Der Hauptgrund für diese negativen Einstellungen scheint die Bedrohung durch ökonomischen und kulturellen Wettbewerb zu sein (Watts, 1996). Das heißt, Polen und Türken werden verdächtigt, zu den ökonomischen Schwierigkeiten beizutragen, die der Übergang von der Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft mit sich bringt, indem sie den Deutschen Arbeitsplätze und Einkommen wegnehmen. Diese Wahrnehmung einer ökonomischen Bedrohung passt zu dem zuvor beschriebenen Modell: Vorurteile und die Bereitschaft zur Diskriminierung entstehen nicht spontan; sie erfordern gesellschaftliche Umstände, die den Glauben bestärken, dass der „Feind“ knappe Ressourcen verbraucht. Dies schafft den Kontext für Gewalt. Wenn Regimes den „Feind“ zum Sündenbock machen, dann entmenschlichen sie ihn oft – sie versuchen die Menschen zu überzeugen, die Gruppe als nichtmenschliche Objekte wahrzunehmen, die man
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hassen und zerstören muss. Der Prozess der Entmenschlichung ist auch für die Kriegsführung entscheidend. Obwohl die meisten Kulturen individuelle Aggression als Verbrechen bekämpfen, trainieren Nationen ihre Soldaten zum Töten. Die Herausforderung für Führer besteht darin, den Akt des Tötens in einen patriotischen Akt zu verwandeln (Harle, 2000; Keen, 1986). Teil dieser sozialen Massenbeeinflussung ist es, die Soldaten der anderen Seite als „Feinde“ zu entmenschlichen. Diese Entmenschlichung wird durch politische Rhetorik und durch die anschauliche Darstellung des Feindes in den Medien erreicht. Den Veteranen der amerikanischen Armee zufolge ist die wichtigste Waffe eines Soldaten im Krieg nicht die Schusswaffe, sondern eine internalisierte Sicht des gehassten „Feindes“ ( Abbildung 17.8). In Kriegszeiten werden durch verzerrte Bilder, welche die Regierung als Feindbilder ausgibt, junge Soldaten psychologisch zum Töten programmiert. In vielen Fällen handelt es sich bei den Bildern nicht um genaue Repräsentationen, sondern um die mentalen Bilder, die Politiker heraufbeschwören, um die Bevölkerung hinter sich zu bringen und Truppen in den Krieg zu entsenden. So gab sich zum Beispiel im Vorfeld des Irak-Krieges 2003 die Bush-Administration Mühe, das Bild von Saddam Hussein für die US-Bürger zu formen (Altheide & Grimes, 2005). Vielleicht die berühmteste Formel aus dieser Zeit stammt aus George W. Bushs State of the Union Address 2002, in der er den Irak als Teil einer „Achse des Bösen“ charakterisierte. Führer der arabischen Welt setzen dieselben psychologischen Mechanismen ein, wenn sie die Vereinigten Staaten als den „Großen Satan“ bezeichnen (Beeman, 2005). Politische Führungspersönlichkeiten berufen sich oft auf die Lehren der Geschichte, um ihre Bürger umzustimmen. So wurde zum Beispiel Saddam Hussein mit Adolf Hitler verglichen, um eine militärische Aktion zu rechtfertigen (Voss et al., 1992). Die Forschung legt nahe, dass solche geschichtlichen Bezüge zwar manche, aber nicht alle Menschen überzeugen.
AUS DER FORSCHUNG Teilnehmer einer Studie sollten einen Bericht über den Konflikt zwischen zwei fiktiven Staaten namens Afslandia und Bagumba lesen, der sich um strittiges Gebiet drehte (Beer et al., 1987; Bourne et al., 2003). Einige Teilnehmer lasen außerdem kurze Texte, die den Konflikt in einen historischen Zusammenhang stellten. Eine Gruppe las einen Text, der das Leiden von Soldaten im ersten Weltkrieg beschrieb. Eine weitere Gruppe las einen Text, der die Beschwichtigungspolitik
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
Abbildung 17.8: Gesichter des Feindes. Wie verwandelt die militärische Psychologie das Töten in einen Akt des Patriotismus? Beachten Sie, wie in jeder dieser Karikaturen der designierte Feind monströse und entmenschlichte Züge trägt.
In der Kontrollgruppe – ohne die historischen Zusammenhänge – glichen sich die dominanten und weniger dominanten Gruppen weitgehend in ihren Antworten. Es waren die Überlegungen zu den Lehren der Geschichten, die sie zu unterschiedlichen Antworten bewegten. Der historische Zusammenhang half den Probanden scheinbar dabei, ihre eigenen aggressiven oder submissiven Neigungen auszuformulieren.
Starke Dominanz Schwache Dominanz 12 11 Konfliktpotenzial
beschrieb, die Hitler vor dem zweiten Weltkrieg einen großen Machtzuwachs bescherte. Die Kontrollgruppe las einfach nur den Grundtext über Afslandia und Bagumba. Nachdem sie die Texte gelesen hatten, wählten alle drei Gruppen die ihrer Meinung nach angemessenen Reaktionen aus einer Liste aus, die in ihrem Konfliktpotenzial von eins (zum Beispiel „Afslandia akzeptiert den bagumbanischen Staatschef als sein eigenes Staatsoberhaupt“) bis 15 (zum Beispiel „Afslandia fliegt einen Luftangriff gegen fünf bagumbanische Metropolen“) reichten. Die Forscher sagten vorher, dass das historische Material je nach den persönlichen Charakteristika der Teilnehmer einen unterschiedlichen Einfluss auf die Wahl ausüben würde. Aus diesem Grund gaben die Probanden außerdem Selbsteinschätzungen ab, ob sie sich selbst relativ hohe Dominanzwerte („dominant, bestimmend, aggressiv, unbeugsam, konkurenzorientiert, kommandierend“) oder eher niedrige Dominanzwerte („gehorsam, bescheiden, sanft, leicht zu führen, entgegenkomend“) attestierten. Abbildung 17.9 zeigt, dass historisches Material entgegengesetzte Effekte auf mehr oder wenige dominante Personen hatte. Dominante Individuen neigten zu Empfehlungen mit höherem Konfliktpotenzial, während weniger dominante Menschen zu Empfehlungen mit niedrigerem Konfliktpotenzial tendierten.
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I. WK
II. WK
Kontrollgruppe
Die Abbildung 17.9: Empfehlungen für Reaktionen im Konfliktfall. Teilnehmer sollten Empfehlungen abgeben, wie zwei fiktive Länder in einem Gebietsstreit reagieren sollten. Je nach Persönlichkeit der Teilnehmer – in Hinsicht auf ihre Dominanz – führte historisches Begleitmaterial (1. Weltkrieg [I. WK] und 2. Weltkrieg [II. WK]) die Probanden zur Empfehlung von Maßnahmen mit höherem beziehungsweise niedrigerem Konfliktpotenzial. Warum ziehen Menschen in den Krieg? Wenn die Führer eines Landes erwägen, in den Krieg zu ziehen, dann tun sie dies in dem fast sicheren Wissen, dass es negative Folgen haben wird. Moderne Kriegsführung verschont Zivilisten nicht länger (Roblyer, 2005). Eine der großen Innovationen des zweiten Weltkriegs war es, die Zivilbevölkerung zum Ziel zu ma-
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chen, um den „Willen des Volkes“ zu brechen. Selbst wenn ein Krieg in großer Entfernung geführt wird, wie die Golfkriege für die Bürger der Vereinigten Staaten, führen Kriege doch unweigerlich zu Verlusten auf beiden Seiten. Wie stellt ein Land oder eine andere Gruppe fest, dass eine Sache wichtig genug ist, um den Verlust von Leben zu rechtfertigen? Diese Art von Frage wird meist im Geschichtsunterricht beantwortet: Wir haben gelernt, dass Länder in den Krieg ziehen, um ihr Territorium, ihre Bevölkerung oder ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen. In diesem Abschnitt wollen wir jedoch kurz einige der psychologischeren Faktoren besprechen, die Individuen dazu bringen, an einem Krieg teilzunehmen. Wir können uns beispielsweise fragen, woran es liegt, dass Menschen ihr Leben für ihr Land opfern. Es könnte sich dabei um einen ultimativen Akt des Altruismus handeln – die Opferung des eigenen Lebens im Dienst einer bestimmten Sache. Wie Sie sich erinnern werden, hatten wir zuvor in diesem Kapitel festgestellt, dass die evolutionäre Perspektive das Bedürfnis, die eigene Familie zu beschützen (die eigenen Gene zu schützen), für eine wichtige Wurzel des Altruismus hält. Einige Forscher haben vorgeschlagen, dass Menschen die Assoziation zwischen „Familie“ und „Nation“ internalisieren (Stern, 1995): Wir sprechen vom Vaterland und davon, „Söhne“ oder „Töchter“ unseres Landes zu sein. Ist diese Assoziation ausreichend, um zu erklären, warum Menschen für ihre Länder sterben? Konstruieren Menschen, die in den Krieg ziehen, eine „soziale Realität“, in der sie glauben, dass sie letztlich die Interessen ihrer tatsächlichen Familie schützen? Ihnen wird deutlich, warum es wichtig ist, dass Psychologen sich mit dieser Frage befassen. Wir können zusätzliche Einsichten in die psychologischen Aspekte der Kriegsführung gewinnen, indem wir die Umstände betrachten, welche die Serben 1992 dazu brachten, aggressive Handlungen zu begehen, die zum Bosnienkrieg führten (Oberschall, 2001). Die Serben fürchteten scheinbar, dass sie nach der Auflösung Jugoslawiens im Jahre 1991 zu einer verfolgten Minderheit würden. Wir haben schon gesehen, wie vernünftig diese Furcht für eine Minderheit in Zeiten der Unruhen sein kann. Hier ist das Zeugnis eines Polizisten, ein bosnischer Serbe, das ein britischer Journalist aufgezeichnet hat (Glenny, 1994, zitiert nach White, 1996, S. 111): Er bestätigte die zahllosen Beobachtungen, die ich in Gesprächen mit örtlichen Kämpfern aller Nationalitäten gemacht hatte – er war kein schlechter Mensch. Im Gegenteil, er erklärte,
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wie schwer es für ihn sei, auf die andere Seite des Dorfes zu schießen, da er alle kannte, die dort lebten. Aber der Krieg hatte ihn irgendwie eingeholt, und er musste sein Heim verteidigen. Der Mann war von den Ereignissen verwirrt und erregt, betrachtete aber jetzt die „Green Berets“[Moslems] und die Ustasi [Kroaten] als tatsächliche Bedrohung für seine Familie. „Wir können nicht zulassen, dass sie hier einen islamischen Staat aufbauen“, betonte er mit echter Leidenschaft. „Sind Sie denn sicher, dass sie das überhaupt wollen?“, fragte ich ihn. „Natürlich wollen sie das. Ich kann nicht verstehen, warum es euch Leuten von außerhalb nicht klar ist, dass wir für Europa gegen eine fremde Religion kämpfen.“ Im Kontext der erwarteten Verfolgung war es leicht für die Serben, sich selbst für unschuldig zu halten, auch als sie begannen, aggressive Handlungen auszuüben. Von ihrem psychologischen Standpunkt aus waren sie nicht Aggressoren, sondern Opfer. Als sich der Konflikt entwickelte, schürten serbische Führer wie Slobodan Milosevic den „Verfolgungswahn“ der Serben, um den Glauben aufrechtzuerhalten, dass sie im Recht waren, wenn sie einen Krieg begannen. Auf lange Sicht griffen die Serben zu Massakern – „ethnischen Säuberungen“ –, um alle möglichen „Verfolger“ aus ihrer Mitte zu entfernen. Wir sehen, wie sehr Menschen bereit sind, in den Krieg zu ziehen, um sich vor Feinden zu schützen, die real sind, eingebildet oder von ihren Führern geschaffen wurden. Diese Analyse legt nahe, dass zumindest in modernen Zeiten Länder selten mit dem Ziel der Beherrschung oder Eroberung in den Krieg ziehen. Vielmehr kommen Länder zu der Überzeugung – sogar wenn der Rest der Welt sie als Aggressoren beschreibt –, dass sie Interessen schützen, die für ihr Überleben und ihre Identität wichtig sind. Länder bestehen selbstverständlich aus Millionen von Individuen. Hinreichend viele dieser Individuen müssen die auf dem Spiel stehenden Werte ausreichend internalisiert haben, um bereit zu sein, ihr Leben zu opfern. Unabhängig davon, welche die „wirklichen“ Ursachen des Krieges sind, die die historische Analyse offen legt, sind es diese individuellen psychologischen Kräfte, die Menschen zur Erduldung der Anstrengungen des Krieges veranlassen. In diesem Abschnitt haben wir bislang einige Wege gesehen, auf denen psychologische Kräfte einen Kontext schaffen, der den Krieg – und die im Kontext von Kriegen verübten Gräueltaten – vollständig vernünftig
17.4 Die Psychologie von Konflikt und Frieden
erscheinen lässt. Als letztem Thema dieses Buches wenden wir uns den Bemühungen zu, die Friedenspsychologen unternehmen, um psychologische Kräfte zur Förderung der friedlichen Koexistenz zu nutzen.
17.4.3 Friedenspsychologie Es ist jetzt an der Zeit, diese Analysen umzukehren und zu sehen, wie wir die Sozialpsychologie nutzen können, um Frieden zu schaffen, statt Krieg zu führen. Die Psychologie ist in einzigartiger Weise für die Untersuchung der Frage ausgestattet, wie wir helfen können, die Dilemmata nationaler und internationaler Disharmonie zu lösen. Die Amerikanische Gesellschaft für Psychologie (American Psychological Association) besitzt auch eine Abteilung für Friedenspsychologie. Diese Abteilung arbeitet an der Förderung des Friedens in Nationen, Gemeinden und Familien. Sie fördert Forschung, Erziehung und Training zu Themen, die sich mit den Ursachen, Folgen und der Prävention von Gewalt und destruktiven Konflikten befassen. Wir stellen zwei Beispiele dafür vor, wie Anwendungen der Psychologie diesen Zielen dienen können. Analyse von Führungsstilen und Regierungsformen Einige der ersten Forschungen zum heutigen Gebiet der Friedenspsychologie wurden durch die historischen Ereignisse inspiriert, die zum zweiten Weltkrieg führten. Sozialpsychologen wollten verstehen, wie Führer und Regierungsformen entstehen, die beträchtliche Macht über das Gruppenverhalten ausüben. Welche psychologischen Beschränkungen erklären das Aufkommen von Adolf Hitler in Deutschland und Benito Mussolini in Italien? Diese Führer verschmolzen Individuen zu einer geistlosen Masse mit unbedingter Loyalität zu faschistischen Ideologien. Ihre autoritären Regime bedrohten Demokratien und Freiheit auf der ganzen Welt. Die moderne Sozialpsychologie entstand aus diesem Schmelztiegel aus Furcht, Vorurteil und Krieg. Die frühen Sozialpsychologen konzentrierten sich auf das Verständnis der autoritären Persönlichkeit hinter der faschistischen Mentalität (Adorno et al., 1950), der Effekte von Propaganda und persuasiven Kommunikationen (Hovland et al., 1949) und der Auswirkungen von Gruppenatmosphäre und Führungsstilen auf Gruppenmitglieder (Lewin et al., 1939). Der Pionier der Sozialpsychologie war Kurt Lewin, ein deutscher Flüchtling, welcher der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten entkommen war. Lewin
konnte nicht anders als sich zu fragen, wieso sein Land sich vollständig der Tyrannei eines autokratischen, faschistischen Diktators ergeben hatte. Er war Zeuge des Schauspiels, wie Zehntausende bei Kundgebungen ihre Treue zum „Führer“ laut kundtaten. Das waren ein beängstigendes Zeugnis der dynamischen Macht von Gruppen zur Transformation der Gedanken und Handlungen von Individuen und ein Zeugnis der Macht eines Individuums, die Massen zu beeinflussen. Lewin erforschte Gruppendynamiken – die Wege, auf welchen Führer ihre Anhänger direkt beeinflussten und auf welchen Gruppenprozesse das Verhalten von Individuen veränderten. 1939 entwickelten Lewin und seine Kollegen ein Experiment zur Erforschung der Effekte von unterschiedlichen Führungsstilen auf die Funktionsweise der Gruppe. Sie wollten herausfinden, ob Menschen glücklicher oder produktiver sind, wenn sie unter autokratischer oder demokratischer Führung stehen. Um den Einfluss der unterschiedlichen Führungsstile zu erfassen, bildeten die Forscher drei Experimentalgruppen, wiesen ihnen unterschiedliche Arten von Führern zu und beobachteten die Gruppen in Aktion. Die Teilnehmer waren vier kleine Gruppen von zehnjährigen Jungen, die sich nach der Schule trafen. Die Anführer der Gruppen waren Männer, die man trainiert hatte, jeden der drei Führungsstile auszuüben, während sie von einer Gruppe zur anderen wechselten. Wenn sie autokratische Führer darstellten, trafen die Männer alle Entscheidungen und Arbeitszuweisungen, nahmen aber nicht an Gruppenaktivitäten teil. Als demokratische Führer sollten sie die Entscheidungsfindung und Planung in der Gruppe fördern und dabei helfen. Schließlich stellten sie auch noch Laissez-faire-Führer dar, wobei sie vollständige Freiheit zuließen, bei geringer Beteiligung des Führers.
AUS DER FORSCHUNG Das Ergebnis dieses Experiments legte eine Reihe von Verallgemeinerungen nahe. Erstens hatten autokratische Führer eine Reihe unterschiedlicher Effekte auf ihre Anhänger – einige davon positiv, andere negativ. Zeitweilig arbeiteten die Jungen sehr hart, aber üblicherweise nur dann, wenn der Führer – in der Rolle des Chefs – sie beobachtete. Was die Jungen in den autokratischen Gruppen jedoch am meisten auszeichnete, war ihr hohes Maß an Aggression. Diese Jungen zeigten 30 Mal mehr Feindseligkeit, wenn sie einen autokratischen Führer hatten, als unter den anderen Arten von Führern. Sie verlangten mehr Aufmerksamkeit, zerstörten mit größerer Wahrscheinlichkeit ihren eigenen Besitz und machten andere häufiger zu
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Sündenböcken – sie benutzten schwächere Individuen als stellvertretende Ziele für ihre Frustration und ihre Wut. Bei den Laissez-faire-Gruppen entstand nicht viel Gutes. Sie waren von allen am wenigsten effizient, schafften die geringste Menge an Arbeit und dies von schlechtester Qualität. Ohne irgendeine soziale Struktur machten sie einfach Unsinn. Wenn dieselben Gruppen jedoch demokratisch geführt wurden, arbeiteten die Mitglieder gleichmäßiger und waren am effektivsten. Die Jungen zeigten unter demokratischer Führung das höchste Maß an Interesse, Motivation und Originalität. Wenn Unzufriedenheit entstand, wurde sie mit größerer Wahrscheinlichkeit offen ausgedrückt. Fast alle Jungen zogen die demokratische Gruppe den anderen vor. Demokratie förderte mehr Gruppenloyalität und Freundlichkeit. Es gab mehr gegenseitiges Lob, mehr freundliche Bemerkungen, mehr Teilen und insgesamt eine spielerischere Atmosphäre (Lewin et al., 1939).
Die Demokratie erwies sich als den anderen Formen von Gruppenatmosphäre psychologisch überlegen und auch als produktiver. Demokratische Führer lösten auch die gesündesten Reaktionen bei Gruppenmitgliedern aus, wohingegen autokratische Führer die destruktivsten individuellen Reaktionen auslösten. Was auf Lewins Klassenzimmer zutraf, scheint auch in der wirklichen Welt zuzutreffen. Nehmen wir den Befund, dass autoritäre Führung zu gesteigerter Feindseligkeit führt. Wir können in Analysen, die in Beziehung zu Vorfällen von Demozid – Genozid und andere Formen des Massenmordes – stehen, ein Korrelat dieses Befundes in der wirklichen Welt finden
Abbildung 17.10: Regime und Demozid. Totalitäre Regime begehen mit größter Wahrscheinlichkeit Demozid (Genozid und andere Formen des Massenmordes). Der Vergleich mit Kriegstoten zeigt, dass weitaus mehr Menschen außerhalb des Kontextes von Kriegen durch Regierungen umkommen.
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(Rummel, 1994). Abbildung 17.10 zeigt, dass totalitäre Regierungen – wie das kommunistische Russland und China – für enorme Mengen an Todesfällen verantwortlich sind; autoritäre Regierungen – wie beispielsweise die Herrschaft von Idi Amin in Uganda – sind für weniger Todesfälle verantwortlich, aber die demokratischen Regierungen, obwohl sie sicher nicht unschuldig an Blutvergießen sind, haben von allen am wenigsten Todesfälle verursacht. Abbildung 17.10 bietet auch einen Vergleich zur Anzahl von Todesfällen, die durch Schlachten im Krieg entstehen. Sie sollten beachten, dass die große Mehrheit der Todesfälle, die von autoritären und totalitären Regimes verursacht wurden, keine Opfer des Krieges waren, sondern Opfer anderer Programme zum Massenmord. Unabhängig von ideologischen Erwägungen leidet die Welt am wenigsten, wenn demokratische Regierungssysteme vorhanden sind, um sicherzustellen, dass Macht nicht nach den Launen einer kleinen Elite eingesetzt werden kann, was tödliche Folgen hätte. Wir können insgesamt aus der Forschung zu Führung die Schlussfolgerung ziehen, dass Demokratie am besten funktioniert. Wir kommen zu dieser Erkenntnis aufgrund von Forschungen an sehr kleinen Gruppen (Gruppen von Jungen) und sehr großen Gruppen (ganze Länder). Sie sollten diese Erkenntnis auch auf die kleinsten und größten Gruppen in Ihrem Leben anwenden! Förderung von Kontakt zur Erleichterung der Konfliktlösung Viele der Gegensätze, aus welchen Konflikte und Gewalt entstehen, sind sehr alt. Die Serben, die in Bosnien Krieg führten, führten ihre Furcht vor Verfolgung beispielsweise auf die Schlacht auf dem Feld von Kosovo im Jahre 1389 zurück. Was kann man in solchen Situationen tun? Der Hauptansatz, den Friedenspsychologen verfolgen, ist der gleiche, den wir beim Umgang mit anderen Formen des Vorurteils beschrieben haben: Menschen müssen in kooperativen Umgebungen zusammengebracht werden, die das gegenseitige Vertrauen und gemeinsame Ziele fördern. Ein solcher Ansatz wird jetzt beispielsweise in Nordirland versucht. In dem Bemühen, den Friedensprozess zwischen Katholiken und Protestanten in Gang zu bringen, hat Großbritannien 1989 damit begonnen, ein Programm der Gemeindebeziehungen zu finanzieren, welches zum Ziel hat, „Kontakt und Kooperation zwischen Gemeinden zu entwickeln; größeres wechselseitiges Verständnis zu fördern [und] Respekt für andere kulturelle Traditionen zu fördern“ (Knox & Quirk,
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2000, S. 72). Andere Versuche zur Befriedung Nordirlands werden bei Schulkindern durchgeführt. Die meisten Kinder in dieser geplagten Region besuchen Schulen, die strikt nach Religionszugehörigkeit getrennt sind. In den letzten 30 Jahren wurden jedoch Schulen gegründet, die protestantische und katholische Schüler und Lehrer zusammenbringen (Cairns & Darby, 1998). Die Forschung hat gezeigt, dass Kontakt zwischen Katholiken und Protestanten zu einem Abbau von Vorurteilen führt (Paolini et al., 2004). Unglücklicherweise bestehen sowohl bei Katholiken als auch Protestanten immer noch starke Widerstände gegen direkte Kontakte. Forscher erproben außerdem neue Wege, wie man in einzelnen Gemeinden beispielsweise mehr Respekt für unterschiedliche Kulturen aufbauen kann (Church et al., 2004). Wir wenden uns einem anderen Krisenherd der Welt zu, dem Nahen Osten, um das bemerkenswerte Programm der israelisch-palästinensischen Workshops zu beschreiben, das der Psychologe Herbert Kelman und seine Kollegen (1997, 2005) durchführten. Im Verlauf mehrerer Jahre hat Kelmans Gruppe Palästinenser und Israelis eingeladen, an Treffen teilzunehmen, in denen sie sich mit interaktiver Problemlösung in Bezug auf die andauernden Konflikte in ihrer Region befassten, wie dem Schicksal der Siedlungen in den besetzten Gebieten. Den Teilnehmern dieses Prozesses wurden Geheimhaltung und Vertraulichkeit versprochen, sowie offene und analytische Diskussionen. Sie wurden aufgefordert, angemessene Erwartungen zu entwickeln: Es wurde kein Druck ausgeübt, um Übereinkunft unter allen Beteiligten herzustellen. Mitglieder dritter Parteien waren anwesend, um die Gespräche zu erleichtern, vermittelten jedoch nicht zwischen den Parteien. Kelmans Gruppe initiierte diese Workshops zu einem Zeitpunkt, als es noch nahezu unbekannt war, dass sich Palästinenser und Israelis überhaupt treffen. Die Workshops stellten Umgebungen zur Verfügung, in denen die Teilnehmer Möglichkeiten zur direkten Interaktion erhielten, die potenziell das wechselseitige Verständnis fördern konnten. Darüber hinaus konnten Teilnehmer, welche die Workshops absolviert hatten, die gewonnenen Erkenntnisse in das breitere politische Feld der wirklichen Welt einbringen – zusammen mit einer ersten Annäherung an die Arten von Beziehungen und Dialogen, die für einen Fortschritt in Richtung Frieden notwendig sind. Die Gewalt in Nordirland und dem Nahen Osten ist leider noch nicht beendet. Es gibt in jeder Region militante Gruppen, die politische, ökonomische und religiöse Ziele verfolgen, die Gewalt und Trennung
Die Global Children‘s Organization hat Sommercamps veranstaltet, um katholische und protestantische Kinder in Nordirland zusammen zu bringen. Warum sollten Programme dieser Art den Bürgern der Region bei ihren Friedensbemühungen helfen? gegenüber Frieden und Integration fördern. Diese fortdauernde Situation erinnert uns daran, dass Veränderung sich oft in kleinen Schritten vollzieht. Nationen und Gruppen verändern ihre Reaktionen nur, wenn die Erziehung zum Frieden bei ihnen feste Wurzeln schlägt (Staub, 2003). Die Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung haben dabei geholfen, etwas Bewegung in Richtung Frieden herzustellen. Die Ergebnisse sind wichtig und konkret genug, um Psychologen – diese „eher optimistische Gruppe“ – beflissen bei der Arbeit zu halten.
ZWISCHENBILANZ 1 Wie verhielten sich die Vorhersagen der Psychiater
zum tatsächlichen Verhalten der Probanden in Milgrams Experimenten? 2 Welche Rolle spielt die Schaffung von Sündenböcken
bei der Vorbereitung eines Völkermordes? 3 Welche Rolle spielt die Persönlichkeit bei der Art, wie
Menschen Geschichte einsetzen, um Aggression in Konflikten zu beurteilen? 4 Welcher Führungsstil provozierte in Kurt Lewins For-
schung die meiste Aggression? KRITISCHES DENKEN: Erinnern Sie sich an die Studie, in der Krankenschwestern Anweisungen zur Verabreichung einer gefährlich hohen Medikamentendosis erhielten. Warum war es wichtig, sowohl zu erfassen, was die Krankenschwestern ankündigten, als auch, was sie dann tatsächlich taten?
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PSYCHOLOGIE IM ALLTAG Wie könnte Versöhnung möglich werden?
In diesem Kapitel haben Sie gesehen, wie psychologische Kräfte zu den bitteren und gewalttätigen Konflikten beitragen, von denen die menschliche Geschichte belastet wird. Nach dem Ende dieser Konflikte bleibt jeweils die Frage, ob es möglich ist, die Feindseligkeit zwischen den Gruppen zu überwinden. Können die Lehren der Psychologie auf die Schaffung von Versöhnung – gegenseitiger Akzeptanz – zwischen Gruppen angewandt werden, die einander unterdrücken oder auslöschen wollten? Neuere Ergebnisse erlauben ein vorsichtiges „Ja“ als Antwort auf diese Fragen. Mit dem Übergang von Apartheid zu Demokratie bietet Südafrika das bekannteste Beispiel für den Versuch einer nationalen Versöhnung. Die 1948 eingeführte Apartheid war ein System des institutionalisierten Rassismus, mittels dessen die weiße Minderheit des Landes eine gewalttätige Herrschaft über die schwarze Mehrheit ausübte. Nach Jahren des internationalen Drucks und der Sanktionen schaffte die Regierung die Apartheid 1990 ab. Die 1995 eingerichtete Truth and Reconciliation Commission bot ein Forum, indem sowohl Opfer als auch Täter über ihre Erfahrungen mit der Apartheid Zeugnis ablegen konnten. Die Zeugenaussagen waren oft erschütternd, und der Umfang der Menschenrechtsverletzungen wurde immer klarer. Trotzdem scheint dieses nationale Experiment ein Erfolg zu sein. Gewöhnliche Südafrikaner (das heißt, solche, die nicht direkt an den Aktivitäten der Kommission teilnahmen), die den Wahrheitsfindungsauftrag der Kommission anerkannten, zeigten sich auch stärker zur Versöhnung geneigt (Gibson, 2006). Sie zeigten also eher rassische und politische Toleranz, genau wie das Eintreten für die Menschenrechte. Warum hatte der Prozess diese positiven Effekte? Ein wichtiger Grund ist, dass die Zeugenaussagen ergaben (und der Kommissionsbericht bestätigte), dass alle beteiligten Seiten sich Gräueltaten hatten zuschulden kommen lassen. Erinnern Sie sich aus Kapitel 16, dass Menschen eine kognitive Dissonanz erleben, wenn sie mit neuer Information konfrontiert werden, die ihren bisherigen Ansichten widerspricht. Die Truth and Reconciliation Commission lieferte neue Informationen, die die Südafrikaner dazu brachten „Zweifel an ihrer Rechtschaffenheit und der Moral ihrer Sache“ zu hegen (Gibson, 2006, S. 414). Die sich daraus ergebende kognitive Dissonanz hat möglicherweise die Südafrikaner dazu gebracht, ihre Ansichten in Richtung einer Versöhnung zu ändern.
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Wenn das südafrikanische Modell nicht anwendbar ist, kann Versöhnung mit anderen Mitteln erreicht werden. Ervin Staub und seine Kollegen haben eine Interventionsmethode entwickelt, die Versöhnung durch die Arbeit mit einzelnen Gemeinden erreichen soll (Staub et al., 2005). Ihre Intervention konzentrierte sich auf Ruanda, wo Hutus 1994 einen Völkermord an den Tutsis und an politisch gemäßigten Hutus verübten, der zwischen 750.000 und einer Million Tote forderte. Politische Veränderungen beendeten die Gewalt. Staub und seine Kollegen hofften zur psychologischen Veränderung beizutragen und den Kontext zu modifizieren, aus dem die Gewalt entstanden war. Die Intervention begann, als die Forscher Gemeindesozialarbeiter mit einem Neun-Tage-Programm ausbildeten. Das Programm sollte den Sozialarbeitern helfen, die psychischen Folgen eines Traumas, die kulturellen Ursachen eines Völkermords und die Techniken zur Erzielung gegenseitiger Empathie zu verstehen. Am Ende des Trainingsprogramms übernahmen die Sozialarbeiter die Verantwortung, diese essenziellen Lehren den Angehörigen beider Volksgruppen, den Hutus wie den Tutsis, zu vermitteln. Um die Effektivität des Programms zu dokumentieren, verglichen Staub und seine Kollegen drei Gruppen miteinander. In der ersten Gruppe nahmen Gemeindemitglieder an Gruppensitzungen teil, in denen die Leiter Material aus den Trainingssitzungen mit ihren eigenen Behandlungsmethoden kombinierten (freier Wahl). In der zweiten Gruppe setzten die Leiter lediglich ihre eigenen Techniken in den Gruppensitzungen ein. Die dritte Gruppe diente als Kontrolle; in ihr nahmen die Gemeindemitglieder nicht an Gruppensitzungen teil. Zwei Monate nach Beginn des Programms erhoben die Forscher Daten, um die Traumasymptome der Teilnehmer und ihre Einstellung gegenüber der jeweils anderen Volksgruppe (Hutu beziehungsweise Tutsi) zu erfassen. Die Ergebnisse waren recht vielversprechend. Menschen, die an Gruppensitzungen teilnahmen, in denen das Trainingsmaterial eingesetzt wurde, berichteten von weit schwächeren traumatischen Symptomen und stärkerer Neigung zur Versöhnung als Teilnehmer der anderen Gruppen. Diese Daten aus Südafrika und Ruanda bestätigen, dass Versöhnung möglich ist. Leider sind viele Menschen nicht bereit oder in der Lage dazu. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, wie und warum Versöhnung zu Stande gebracht werden kann, wenn die Möglichkeit dazu gegeben ist.
Eine persönliche Schlussbemerkung
Eine persönliche Schlussbemerkung Wir sind am Ende unserer Reise durch die Psychologie. Wir hoffen, dass Sie beim Zurückblicken erkennen, wie viel Sie unterwegs gelernt haben. Trotzdem haben wir kaum die Oberfläche des Aufregenden und der Herausforderungen durchdrungen, die auf die Studierenden der Psychologie warten. Wir hoffen, dass Sie Ihr Interesse für Psychologie weiterverfolgen und dass Sie diesen Weg sogar noch weiter gehen. Vielleicht tragen Sie zu diesem dynamischen Unternehmen als Forscher oder Praktiker bei oder wenden Ihr psychologisches Wissen auf soziale und persönliche Probleme an. Der Dramaturg Tom Stoppard erinnert uns daran, dass jeder „Ausgang ein Eingang zu einem anderen Ort ist“. Wir würden gerne glauben, dass der Eintritt in die nächste Phase Ihres Lebens durch das erleichtert wird, was Sie in diesem Buch gelernt haben. Auf dieser nächsten Reise werden Sie hoffentlich neues Leben in die Psychologie der menschlichen Unternehmungen bringen und währenddessen die Verbindungen zwischen all den Menschen stärken, auf die Sie treffen.
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Die Macht der Situation Menschliches Denken und Handeln werden durch situative Einflüsse mitbestimmt.
Unterschiedliche Persönlichkeitsprofile sagen Neigungen zu entweder impulsiver oder instrumenteller Aggression vorher.
Die Zuweisung einer sozialen Rolle kann Menschen dazu bringen, sich entgegen ihrer Überzeugungen, Werte und Dispositionen zu verhalten.
Obwohl es Hemmungen für aggressives Verhalten gibt, entstehen Situationen, die Menschen zu aggressiven Reaktionen veranlassen.
Soziale Normen formen die Einstellungen und Verhaltensweisen von Gruppenmitgliedern.
Frustration kann zu Aggression führen; dauernde Irritation führt zur Eskalation von Aggression.
Klassische Forschungsarbeiten von Sherif und Asch zeigten die Informationseinflüsse und Normeneinflüsse, die zu Konformität führen.
Unterschiedliche Kulturen stellen unterschiedliche Normen für aggressives Verhalten auf, in teilweiser Abhängigkeit vom kulturellen Verständnis des Selbst.
Der Einfluss von Minderheiten entsteht infolge von Informationseinfluss.
Die Psychologie von Konflikt und Frieden Milgrams Untersuchungen zum Gehorsam sind ein mächtiges Zeugnis des Einflusses situativer Faktoren, die gewöhnliche Menschen dazu bringen können, jemanden zu bestrafen und an organisierter Aggression teilzunehmen.
Altruismus und prosoziales Verhalten Forscher versuchten zu erklären, warum Menschen prosoziales Verhalten zeigen, insbesondere altruistisches Verhalten, das nicht ihren eigenen Interessen dient. Evolutionäre Erklärungen konzentrieren sich auf Verwandtschaft und Reziprozität.
Einige der Prozesse, die Vorurteile fördern, können langfristig zu Massenmord und Genozid führen.
Menschen zeigen auch prosoziales Verhalten, um ihren eigenen Interessen entgegenzukommen, bestimmten Gemeinschaften nützlich zu sein und soziale Prinzipien aufrechtzuerhalten.
Führer erschaffen Bilder, in denen der Feind als nichtmenschlich dargestellt wird. Menschen opfern sich für ihr Land in Reaktion auf Ängste und auf Bedrohungen ihrer Familien und Gemeinden.
Untersuchungen zu Interventionen durch Umstehende zeigen, dass Situationen wesentlich darüber entscheiden, wer mit großer oder geringer Wahrscheinlichkeit bei einem Notfall hilft.
Friedenspsychologen suchen nach Wegen, um Wettbewerb und Feindseligkeiten zwischen Nationen aufzulösen.
Aggression Aus evolutionärer Perspektive entstanden aggressive Verhaltensweisen, weil Menschen ihre Fähigkeit zum Erhalt ihrer Gene sicherstellen mussten.
Demokratische Gesellschaften begehen mit geringster Wahrscheinlichkeit Massenmord. Programme zur Förderung der Interaktion zwischen traditionellen „Feinden“ können dabei helfen, den Weg für den Frieden zu bereiten.
Interindividuelle Unterschiede im aggressiven Verhalten spiegeln sich in genetischen Analysen und in der Funktionsweise von Gehirn und Hormonen wider.
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Schlüsselbegriffe
SCHLÜSSELBEGRIFFE Aggression (S. 687) Altruismus (S. 680) Anforderungsmerkmale (S. 698) Autokinetischer Effekt (S. 674) Eingreifen Umstehender (S. 683) Friedenspsychologie (S. 705) Frustrations-Aggressions-Hypothese (S. 690) Groupthink (S. 678) Gruppendynamik (S. 705) Gruppenpolarisierung (S. 678) Impulsive Aggression (S. 689) Informationseinfluss (S. 674) In-Gruppen (S. 701) Instrumentelle Aggression (S. 689) Konformität (S. 674) Normeneinfluss (S. 674) Normenkristallisierung (S. 674)
Out-Gruppen (S. 701) Prosoziales Verhalten (S. 680) Regeln (S. 670) Rassismus (S. 708) Reziproker Altruismus (S. 681) Soziale Normen (S. 673) Soziale Rollen (S. 670) Verantwortungsdiffusion (S. 684) Völkermord (S. 701) Vorurteil (S. 696)
Übungsaufgaben, Lösungen und weitere Informationen zu diesem Buchkapitel finden Sie auf der Companion-Website unter http://www.pearson-studium.de
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Antworten auf „Zwischenbilanz-Fragen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Glossar
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Literaturverzeichnis
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stichwortverzeichnis
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang
Anhang A: Antworten auf die „Zwischenbilanz“-Fragen Kapitel 1 Seite 8 1. Psychologie ist das wissenschaftliche Studium des Verhaltens und der geistigen Prozesse von Individuen. 2. Die vier Ziele sind die Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens. 3. Forscher versuchen in der Regel, Verhaltensweisen durch die Identifikation zu Grunde liegender Ursachen zu erklären; erfolgreiche kausale Erklärungen ermöglichen oft zutreffende Vorhersagen.
Seite 16 1. Der Strukturalismus versucht mentale Erfahrungen als Kombination grundlegender Komponenten zu verstehen. Der Funktionalismus konzentriert sich auf die Ziele von Verhaltensweisen. 2. Der psychodynamische Ansatz konzentriert sich auf starke, instinktive Triebe, und der behavioristische Ansatz darauf, wie Verhaltensweisen von ihren Folgen geformt werden. 3. Diese Sichtweise vertritt der humanistische Ansatz. 4. Forscher in den kognitiven Neurowissenschaften kombinieren den kognitiven mit dem biologischen Ansatz, um die Hirnaktivitäten zu verstehen, die geistigen Prozessen wie Gedächtnis und Sprache zu Grunde liegen. 5. Der evolutionäre Ansatz befasst sich mit den Merkmalen, die alle Menschen als Folge der Evolution des Menschen miteinander teilen. Der kulturvergleichende Ansatz konzentriert sich auf die von Kulturen verursachten Unterschiede im Vergleich zu dem allgemeinen evolutionären Hintergrund.
Seite 19 1. Die Forschung ergibt neue Erkenntnisse, die die Psychologie dann auf die reale Welt anzuwenden versucht. 2. In der akademischen Welt (Universitäten) und selbstständigen Praxen.
Seite 21 1. Sie müssen sich aktiv an dem Studiengang beteiligen und ein eigenes Verständnis dessen entwickeln, was Sie in Vorlesungen und Seminaren hören und im Text lesen. 2. In der Fragen-Phase stellen Sie Fragen, die Ihre Aufmerksamkeit, während Sie lesen, lenken; in der LesePhase lesen Sie das Material unter dem Gesichtspunkt, Ihre Fragen zu beantworten. 3. Wenn Sie versuchen, konkrete Antworten auf Fragen zu formulieren, erhalten Sie einen realistischen Überblick über Ihren Wissensstand.
Kapitel 2 Seite 35 1. Theorien versuchen, Phänomene zu erklären. Diese Erklärungen sollten neue Hypothesen erzeugen – überprüfbare Folgerungen aus einer Theorie. 2. Forscher können ihre Verfahren standardisieren und operationale Definitionen ihrer Variablen geben. 3. Forscher benutzen Doppelblind-Verfahren, damit die Erwartungen, die sie an ein Experiment haben, dessen Ergebnis nicht beeinflussen können. 4. Bei einem Within-Subjects-Design dient jeder Teilnehmer als seine eigene „Kontrollgruppe“. 5. Der Korrelationskoeffizient gibt das Ausmaß an, in dem zwei Variablen von einander abhängen – er gibt aber keinen Hinweis, warum diese Beziehung existiert.
Seite 39 1. Wenn ein Maß reliabel ist, bedeutet dies, dass bei wiederholter Messung vergleichbare Werte erzielt werden. Dieser Wert muss allerdings nicht exakt die psychologische Variable widerspiegeln, nach der gesucht wird. Daher wäre zum Beispiel die Schuhgröße ein reliables, aber kein valides Maß für Glück. 2. Befrager versuchen einen Kontext zu schaffen, in dem Menschen gewillt sind, Informationen über sich selbst preiszugeben, die sehr persönlich oder sensibel sein können. 3. Der Forscher ist mit der Beobachtung unter natürlichen Bedingungen des Verhaltens der Kinder beschäftigt.
Seite 42 1. Teilnehmer an Experimenten in der Forschung müssen die Gelegenheit bekommen, ihre Rechte und Verpflichtungen zu verstehen, bevor sie sich dafür entscheiden, an einem Experiment teilzunehmen. 2. Bei dem Abschlussgespräch erhalten die Teilnehmer die Gelegenheit, etwas Neues über die psychologischen Phänomene zu erfahren, die Gegenstand der Studie waren. Außerdem können die Experimentatoren durch ein Abschlussgespräch sicherstellen, dass die Probanden nicht verärgert oder verwirrt werden. 3. Ethische Überlegungen unterstützen eine Verlagerung der Forschung hin zur Beobachtung unter natürlichen oder quasinatürlichen Bedingungen.
Kapitel 3 Seite 63 1. Die Grants beobachteten, dass infolge von Umweltveränderungen manchmal Finken mit großen Schnäbeln überleben und sich fortpflanzen konnten, während zu anderen Zeiten Finken mit kleinen Schnäbeln Vorteile besaßen. 2. Der Genotyp ist das zu Grunde liegende genetische Material, das den Phänotyp definieren hilft, der aus den beobachtbaren Merkmalen des Organismus besteht. 3. Zwei entscheidende Fortschritte waren die Zweibeinigkeit und die Ausbildung des Großhirns.
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4. Erblichkeit ist ein Maß des relativen Einflusses des Genmaterials auf die Eigenschaften und Verhaltensweisen eines Organismus.
Seite 70 1. Im Allgemeinen empfangen die Dendriten einlaufende Signale. Das Soma verarbeitet die Informationen aus den zahlreichen Dendriten und leitet sie an das Axon weiter. 2. Das Alles-oder-nichts-Gesetz lautet, dass die Stärke des Aktionspotenzials, sobald es einmal die Schwelle zum Feuern überschritten hat, konstant ist. 3. Neurotransmitter werden in die Synapsen freigesetzt, wenn synaptische Vesikel aufbrechen; die Neurotransmitter binden sich dann an Rezeptormoleküle des empfangenden Neurons. 4. GABA ist der häufigste inhibitorische Neurotransmitter im Gehirn.
Seite 86 1. fMRT ermöglicht es der Forschung, sowohl über Strukturen als auch Funktionen Aussagen zu machen. 2. Das autonome Nervensystem teilt sich in das sympathische und das parasympathische Nervensystem. 3. Die Amygdala spielt eine Rolle bei der Emotionskontrolle und dem Aufbau emotionaler Gedächtnisspuren. 4. Bei den meisten Menschen arbeitet die linke Hirnhälfte eher analytisch, die rechte dagegen eher holistisch. 5. Die Hypophyse produziert Hormone, die die Aktivität aller anderen endokrinen Drüsen beeinflussen. 6. Neurogenese ist die Entstehung neuer Neuronen.
Kapitel 4 Seite 99 1. Der Gesamtprozess der Wahrnehmung umfasst Empfindung, perzeptuelle Organisation sowie Identifikation und Rekognition (Erkennung). 2. Der proximale Stimulus ist das optische Abbild auf der Retina. 3. Ein Stimulus ist mehrdeutig, wenn mehr als ein Objekt oder Ereignis der Umwelt denselben proximalen Stimulus hervorrufen könnten.
Seite 103 1. Psychophysik ist das Studium der Beziehung zwischen physikalischen Stimuli und ihrer psychischen Erfahrung. 2. Eine Absolutschwelle ist als jene Reizintesität definiert, bei der in der Hälfte der Fälle ein sensorisches Signal entdeckt wird. 3. Urteile werden sowohl von sensorischen Prozessen als auch von einem response bias des Beobachters beeinflusst. 4. Eine Unterschiedsschwelle ist der kleinste physikalische Unterschied, der zwischen zwei Stimuli beobachtet werden kann. 5. Transduktion ist die Umwandlung einer Form physikalischer Energie in eine andere.
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Seite 112 1. Akkommodation ist der Vorgang, bei dem die Dicke der Linse sich so verändert, dass entweder nahe oder ferne Objekte scharf gesehen werden. 2. Die Fovea besteht zu 100 Prozent aus Zapfen. 3. Komplexe Zellen reagieren auf Streifen in bestimmten Ausrichtungen, die sich aber zusätzlich bewegen müssen. 4. Diese Erfahrung wird durch die Gegenfarbentheorie erklärt.
Seite 116 1. Töne verschiedener Frequenzen werden als unterschiedliche Tonhöhen wahrgenommen. 2. Haarzellen wandeln die mechanischen Vibrationen der Basilarmembran in Nervenimpulse um. 3. Die Ortstheorie verbindet Tonhöhenwahrnehmung mit dem Ort der Stimulation der Basilarmembran. 4. Der Ton sollte das rechte Ohr vor dem linken erreichen.
Seite 121 1. Nervenimpulse übertragen Geruchsinformationen zum Bulbus olfactorius im Gehirn. 2. Die Grundgeschmacksrichtungen sind süß, sauer, bitter, salzig und umami. 3. Es gibt verschiedene Rezeptortypen für Wärme- und Kälteempfinden. 4. Der Vestibulärsinn liefert Informationen über die Raumorientierung des Körpers in Bezug auf die Schwerkraft. 5. Die Filter-Kontrolltheorie versucht zu erklären, wie Schmerzempfindungen durch den psychologischen Kontext beeinflusst werden.
Seite 131 1. Manchmal ziehen Stimuli in der Umgebung – etwa der plötzliche Wechsel eines Scheinwerfers von rotem zu grünem Licht – Ihre Aufmerksamkeit auf sich. 2. Man neigt dazu, kleine Lücken auszufüllen, um Objekte als Ganzes wahrzunehmen. 3. Wenn jemand auf Sie zugeht, vergrößert sich das Abbild dieses Menschen auf Ihrer Retina. 4. Der Konvergenzwinkel ist größer, wenn ein Objekt näher ist. 5. Formkonstanz ist die Fähigkeit, die wahre Form eines Objekts wahrzunehmen, auch wenn sich die Form des Abbilds auf der Retina ändert.
Seite 134 1. Man setzt sein Wissen über Klänge und Wörter ein, um Informationen zu rekonstruieren, die in einem auditorischen Signal verloren gegangen ist. 2. In unterschiedlichen Kontexten hegt man unterschiedliche Erwartungen, was man wahrscheinlich sehen, hören wird und so weiter. 3. Ein Set ist eine zeitweilige Bereitschaft, einen Stimulus auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen oder in einer bestimmten Weise darauf zu reagieren.
Anhang A: Antworten auf die „Zwischenbilanz“-Fragen
Kapitel 5 Seite 143 1. Ein Gedächtnisinhalt ist vorbewusst, wenn er gegenwärtig nicht Teil des Bewusstseinsinhalts ist, aber leicht dazu werden könnte. 2. Freud vermutete, dass einige Ideen oder Motive genügend bedrohlich seien, um ins Unbewusste verdrängt zu werden. 3. Forscher fordern Probanden dazu auf, ihre Gedanken zu äußern, während sie bestimmte Aufgaben ausführen.
Seite 145 1. Das Bewusstsein ermöglicht Ihnen, klare Entscheidungen darüber zu treffen, welche Informationen Sie ins Gedächtnis zu übernehmen versuchen sollten. 2. Eine kulturelle Konstruktion der Realität ist eine Weltsicht, die von den meisten Angehörigen einer bestimmten Menschengruppe geteilt wird. 3. Mit der SLIP-Methode können Forscher bestimmen, wie die Reaktionen von Menschen durch Faktoren außerhalb der bewussten Aufmerksamkeit beeinflusst werden.
Seite 152 1. Jetlag kommt zu Stande, weil der innere zirkadiane Rhythmus nicht mit der Umgebungszeit synchronisiert ist. 2. In der frühen Nacht hat man vergleichsweise mehr NREM-Schlaf, in der späten Nacht dagegen mehr REM-Schlaf. 3. NREM-Schlaf dient der Konservierung und Regenerierung. 4. Schlafapnoë ist eine Schlafstörung, bei der die Betroffenen während des Schlafens aufhören zu atmen. 5. Der latente Trauminhalt ist die zu Grunde liegende Bedeutung, die von der Traumzensur verborgen worden ist.
Seite 157 1. Das Ziel des luziden Träumens ist, dass die Träumenden sich bewusst werden, dass sie träumen, um so den Inhalt ihrer Träume kontrollieren können. 2. Frühe Zwillingsstudien legten nahe, dass die Hypnotisierbarkeit eine genetische Komponente besitzt; die Forschung hat inzwischen mit der Identifikation spezifischer Gene begonnen, die diesem Einfluss zu Grunde liegen. 3. Manche Menschen praktizieren konzentrative Meditation, andere dagegen achtsame Meditation. 4. James vermutete, dass zum Beispiel religiöse Erfahrungen sowohl durch ein Gefühl von Wirklichkeit und Deutlichkeit der Erfahrungen als auch über die Unmöglichkeit, sie mitzuteilen, gekennzeichnet seien.
Seite 161 1. Drogentoleranz bezeichnet Umstände, in denen ein Mensch größere Mengen derselben Droge benötigt, um denselben Effekt zu erzielen.
2. Drogen wie Heroin legen sich an dieselben Rezeptoren des Gehirns an wie die endogenen Opiate. 3. Nikotin ist ein Beispiel für ein Stimulans.
Kapitel 6 Seite 168 1. Die Unterscheidung zwischen Lernen und Leistung berücksichtigt, dass das Verhalten eines Menschen nicht immer alles Gelernte widerspiegelt. 2. Er argumentierte, dass die persönlichen Erfahrungen eines Menschen zu subjektiv seien, um mit wissenschaftlicher Strenge erforscht zu werden. 3. Verhaltensforscher versuchen, Gemeinsamkeiten beim Lernen zu entdecken, die bei allen Tierarten und beim Menschen auftreten. 4. Habituation ist eine Abschwächung der Verhaltensreaktion eines Organismus bei wiederholtem Auftreten eines Stimulus.
Seite 176 1. Die klassische Konditionierung beginnt mit Verhaltensweisen (wie Speicheln), die Reflexreaktionen auf unkonditionierte Stimuli (wie der Gabe von Futter) sind. 2. Der UCS ist der unkonditionierte Stimulus (unconditioned stimulus), der auch ohne Konditionierung eine Reaktion auslöst; der CS ist der konditionierte Stimulus (conditioned stimulus), der als Ergebnis einer Konditionierung eine Reaktion auslöst. 3. Reizdiskrimination bedeutet, dass der Organismus gelernt hat, eine konditionierte Reaktion auf einen kleineren Bereich konditionierter Stimuli auszulösen, als es normalerweise der Fall wäre. 4. Es reicht nicht, dass CS und UCS zeitlich nahe beieinanderliegen (Kontiguität); der UCS muss aus dem CS vorhersagbar sein (Kontingenz; Wenn-dann-Relation). 5. Die CR ist die kompensatorische Reaktion des Körpers auf die Effekte der Droge.
Seite 187 1. Das Gesetz des Effekts besagt, dass eine Reaktion, die von befriedigenden Konsequenzen gefolgt wird, wahrscheinlicher wird; eine Reaktion, auf die unbefriedigende Konsequenzen folgen, dagegen unwahrscheinlicher. 2. Verstärkung macht Verhaltensweisen wahrscheinlicher; Bestrafung macht sie unwahrscheinlicher. 3. Tiere lernen, dass Verhaltensweisen nur im Kontext bestimmter Stimuli Konsequenzen (Verstärkung oder Bestrafung) besitzen – diese Stimuli sind die diskriminativen Stimuli. 4. In FR-Pläne wird immer dann ein Verstärker gegeben, wenn der Organismus eine festgelegte Anzahl von Reaktionen gezeigt hat. In FI-Plänen wird dagegen ein Verstärker gegeben, wenn der Organismus nach einer festgelegten Zeit zum ersten Mal eine Reaktion zeigt.
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5. Shaping ist eine Methode, mit der ein Organismus eine Verhaltensweise durch auf einander folgende Annäherungen lernen kann.
Seite 190 1. Instinktverschiebung ist die Tendenz erlernten Verhaltens, sich mit der Zeit in Richtung instinktiver Verhaltensweisen zu bewegen. 2. Geschmacksaversion entwickelt sich bereits nach nur einer CS-UCS-Paarung und auch bei großem zeitlichen Unterschied zwischen CS und UCS. Sie bleibt oft nach nur einer Erfahrung permanent erhalten.
Seite 194 1. Tolman schloss, dass seine Ratten kognitive Pläne für die Labyrinthgrundrisse entwickelten. 2. Tauben können Fotografien von Gegenständen, die sie betrachten, durch verschiedene Reaktionen in Kategorien, etwa in „Blumen“ oder „natürliche Stimuli“ einteilen. 3. Mittelbare Verstärkung liegt vor, wenn das Verhalten eines Menschen wahrscheinlicher wird, nachdem er oder sie die Verstärkung des Verhaltens eines anderen Menschen beobachtet hat. 4. Die Forschung deutet darauf hin, dass Kinder, die Zeugen einer großen Zahl aggressiver Handlungen werden, selbst aggressiv zu sein lernen.
Kapitel 7 Seite 203 1. Expliziter Gedächtnisgebrauch erfordert bewusste Anstrengung, nicht so dagegen impliziter Gedächtnisgebrauch. 2. Ihre Fertigkeit resultiert mehr aus dem prozeduralen Gedächtnis. 3. Weil Sie Ihr Passwort zuvor enkodiert und gespeichert haben, liegt Ihr Problem wahrscheinlich im Abruf der Gedächtnisinhalte.
Seite 209 1. Vergleiche zwischen der Ganz- und Teilberichtsmethode deuten darauf hin, dass man für einen kurzen Augenblick Zugang zu allen Informationen eines Displays hat. 2. Forscher glauben, dass die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses bei etwa drei bis fünf Items liegt. 3. Chunking ist die Gruppierung von Items in bedeutungstragende Gruppen. 4. Das Arbeitsgedächtnis umfasst die phonologische Schleife, den visuell-räumlichen Notizblock und die zentrale Exekutive.
Seite 220 1. Das Wiedererkennen liefert im Allgemeinen mehr Hinweisreize. 2. Dies wäre ein Beispiel für den Primacy-Effekt beim serial recall. 3. Transferadäquate Verarbeitung geht davon aus, dass das Sicherinnern am besten glückt, wenn die Art der
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Verarbeitung bei der Enkodierung zur Art der Verarbeitung beim Abruf passt. 4. Diese Umstände geben ein Beispiel für retroaktive Interferenz, weil die neue Information es erschwert hat, sich an ältere Information zu erinnern. 5. Angefangen beim Wasserstoff würden Sie jedes Element mit einer Stelle entlang eines vertrauten Weges assoziieren. 6. Die Vertrautheit von Hinweisreizen und die Zugänglichkeit der Information, die mit dem Hinweisreiz zusammenhängt, tragen beide zum Gefühl des Wissens bei.
Seite 226 1. Konzepte sind die mentalen Repräsentationen der Kategorien, die wir bilden. 2. Die Exemplartheorie geht davon aus, dass man neue Objekte kategorisiert, indem man sie mit den im Gedächtnis gespeicherten Beispielexemplaren vergleicht. 3. Bartlett definierte die Prozesse der Nivellierung, Akzentuierung und Assimilation. 4. Loftus und ihre Kollegen zeigten, dass man auch unkorrekte Informationen aus der Zeit nach dem Ereignis in seine Erinnerungen einschließt, wenn man sich an Ereignisse zu erinnern versucht.
Seite 231 1. Lashley schlussfolgerte, dass Engramme nicht in bestimmten Regionen existieren, sondern jeweils im ganzen Gehirn verteilt sind. 2. Die Forschung deutet darauf hin, dass wichtige Teile des impliziten Gedächtnisses bei Menschen mit einer Amnesie des expliziten Gedächtnisses oft verschont bleiben. 3. PET-Scans zeigen, dass verschiedene Hirnareale beim Enkodieren und Abrufen überproportional aktiv sind – der linke präfrontale Cortex beim Enkodieren und der rechte präfrontale Cortex beim Abrufen.
Kapitel 8 Seite 240 1. Donders Ziel war, die Geschwindigkeit der mentalen Prozesse durch das Entwickeln von Aufgaben zu bestimmen, die sich nur bei spezifischen Prozessen von einander unterschieden. 2. Serielle Prozesse finden nacheinander statt; parallele Prozesse überschneiden einander zeitlich. 3. Automatische Prozesse benötigen normalerweise keine Aufmerksamkeit.
Seite 250 1. Das Kooperationsprinzip benennt einige der Dimensionen, an die sich Sprecher halten sollten, wenn sie eine Äußerung an einen bestimmten Hörer richten. 2. Spoonerismen werden wahrscheinlicher, wenn die Verwechslung wieder je ein in der Sprache bestehendes Wort ergibt.
Anhang A: Antworten auf die „Zwischenbilanz“-Fragen
3. Wenn Repräsentationen mehr Informationen als die von einem Text bereit gestellten Propositionen enthalten, kann man daraus schließen, dass enkodierte Inferenzen vorliegen. 4. Menschen können Äußerungen mit komplexer grammatischer Struktur hervorbringen und verstehen; Menschen können Audience Design betreiben, also die Äußerung dem Publikum anpassen. 5. Die Hypothese des linguistischen Relativismus besagt, dass die Struktur der Sprache eines Menschen seine Weltsicht prägt.
Seite 253 1. Die gleichmäßige Geschwindigkeit der mentalen Rotation legt nahe, dass dieser Vorgang dem der physischen Rotation sehr ähnlich ist. 2. Hirnforschung mit bildgebenden Verfahren deutet auf eine starke Überschneidung zwischen den für die Wahrnehmung und den für die Bildung visueller Vorstellungen benutzten Hirnregionen hin. 3. Die Forschung zeigt, dass es leichter anzugeben ist, was sich in der vorgestellten Szenerie vor einem befindet, als was sich hinter einem befindet.
Seite 262 1. Ein Algorithmus ist eine Schritt-für-Schritt-Prozedur, die eine korrekte Lösung für eine bestimmte Art von Problem garantiert. 2. Sie haben eine funktionale Fixierung überwunden, wenn Sie fähig sind, eine neue Funktion für ein Objekt zu finden, das Sie zuvor mit einem anderen Zweck assoziiert haben. 3. Wenn Menschen dem Effekt der glaubhaftigkeitsbasierten Urteilsneigung unterliegen, dann bewerten sie Schlussfolgerungen auf Grund ihrer Glaubhaftigkeit in der Wirklichkeit statt nach ihrer logischen Beziehung zu Prämissen.
Seite 269 1. Heuristiken liefern abgekürzte Verfahren für häufige und schnelle Beurteilungen. 2. Wahrscheinlich würden Sie die Ankerheuristik benutzen – Sie starten mit einem plausiblen Ankerwert (z. B. 100 Jahre alt) und passen diesen an. 3. Rahmungen spielen eine große Rolle, weil sie zum Beispiel festlegen, ob Menschen an die Gewinne oder Verluste denken, die mit bestimmten Umständen jeweils verbunden sind. 4. Bei der Entscheidungsfindung wählen satisficers oft die erste Option, die gut genug ist; maximizers wägen stetig Möglichkeiten ab und versuchen, die absolut beste zu finden.
Kapitel 9 Seite 278 1. Galton postulierte, dass Intelligenzunterschiede objektiv messbar seien. 2. Um die Testhalbierungs-Reliabilität zu messen, teilt man einen Test in zwei Hälften. Ein Test mit hoher
Testhalbierungs-Reliabilität ergibt in beiden Hälften sehr ähnliche Werte. 3. Der Forscher sollte untersuchen, ob die Werte dieses Maßes zutreffende Vorhersagen relevanter zukünftiger Ergebnisse ermöglichen. 4. Mit Hilfe von Normen können Forscher die Werte einzelner Menschen im Kontext der Werte einer größeren Bevölkerungsgruppe verstehen.
Seite 282 1. Der IQ wurde ursprünglich nach der Formel „Intelligenzalter geteilt durch Lebensalter (mal 100)“ gemessen. 2. Der HAWIE-R umfasst gegenwärtig Untertests, die den verbalen und den Handlungs-IQ messen. 3. Die Diagnose geistiger Behinderung konzentriert sich jetzt sowohl auf den IQ als auch auf die adaptiven Fertigkeiten. 4. Die drei Dimensionen sind Fähigkeit, Kreativität und Zielstrebigkeit.
Seite 286 1. Weil Spearman zeigte, dass die Ergebnisse von Menschen bei verschiedenen Intelligenztests jeweils stark korreliert sind, ging er davon aus, dass es einen Faktor „allgemeine Intelligenz“ gebe. 2. Sternberg schlug vor, die Intelligenz in analytische, kreative und praktische Intelligenz einzuteilen. 3. Gardner definierte „räumliche“ Intelligenz als die Fähigkeit, die visuell-räumliche Welt wahrzunehmen und die eigenen anfänglichen Wahrnehmungen umzuformen – diese Fähigkeiten sind für die Bildhauerei relevant.
Seite 294 1. Goddard schlug vor, IQ-Tests einzusetzen, um bestimmte Einwanderer als geistig minderwertig auszugrenzen. 2. Erblichkeitsschätzungen lassen keinen Vergleich zwischen verschiedenen Menschengruppen zu. 3. Die Forschung hat gezeigt, dass Menschen, die hochwertige Vorschulkurse durchlaufen, höhere gemessene IQs erreichen, mit höherer Wahrscheinlichkeit den High-School-Abschluss schaffen und besser bezahlte Jobs bekommen. 4. Menschen in den Vereinigten Staaten gingen eher von der Überlegenheit des Effekts angeborener Fähigkeiten über den harter Arbeit aus; bei Asiaten war dies umgekehrt.
Seite 296 1. Kreativität wird oft mit Tests gemessen, die divergentes Denken feststellen – die Fähigkeit, eine Reihe ungewöhnlicher Lösungen zu einem Problem zu finden. 2. Unterhalb eines IQ von 120 gibt es eine moderate Korrelation zwischen dem IQ und der Kreativität, was darauf hindeutet, dass die Intelligenz (wie mit IQTests gemessen) eine bescheidene Rolle bei der Beurteilung spielt, wer kreativ ist.
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3. Die Forschung legt nahe, dass Menschen, die außergewöhnlich kreativ sind, oft Risiken eingehen, sich in ihre Fachgebiete einarbeiten und über eine intrinsische Motivation verfügen.
Seite 298 1. Wenn Angehörige bestimmter Gruppen in Tests allgemein schlechter abschneiden, könnte dieses Muster die Chancengleichheit bei Bewerbungen beeinträchtigen. 2. In vielen Schulbezirken basieren Fördermaßnahmen auf Testergebnissen – was die Lehrer zwingt, nur Stoff zu behandeln, der in Tests abgefragt wird. 3. Wenn Tests unflexibel eingesetzt werden, um Menschen auf bestimmte akademische oder soziale Laufbahnen festzulegen, können diese „Etikettierungen“ schwerwiegende Konsequenzen haben.
Kapitel 10 Seite 306 1. Das Entwicklungsalter ist das Lebensalter, in dem die meisten Menschen fähig sind, eine bestimmte körperliche oder geistige Anforderung zu erfüllen. 2. Um individuelle Unterschiede zu erforschen, messen Forscher häufig die Variabilität (auf einer bestimmten Dimension) zwischen Menschen einer Altersstufe und untersuchen dieselben Teilnehmer später im Leben erneut, um die Folgen dieser Variabilität festzustellen. 3. Bei einigen Querschnittplänen müssen die Forscher die Möglichkeit ausschließen, dass scheinbar altersabhängige Veränderungen in Wirklichkeit auf die Zeitumstände zurückzuführen sind, in welche die Individuen geboren wurden.
Seite 312 1. Im Vergleich mit ihren nicht krabbelnden Altersgenossen zeigen Kinder, die bereits krabbeln, Furcht am „tiefen“ Ende der visuellen Klippe. 2. Neuere Studien deuten darauf hin, dass sich das Gehirn während der Adoleszenz weiterentwickelt, vor allem in Arealen wie den Frontallappen. 3. Wenn Menschen altern, verfärben sich ihre Augenlinsen oft gelblich, worauf das verminderte Farbsehvermögen zurückgeführt wird.
Seite 319 1. Durch Assimilation passen Kinder neue Informationen an alte Schemata an; Akkommodation dagegen ändert Schemata, um neue Informationen einzupassen. 2. Ein Kind, das Zentrierung überwindet, kann die Oberflächenaspekte eines Problems ignorieren und zeigt ein tieferes Verständnis für ein Wissensgebiet wie etwa Zahlen oder Flüssigkeitsmengen. 3. Durch die Entwicklung subtilerer Maße für kindliches Wissen konnte die Forschung zeigen, dass Kinder Anzeichen für Objektpermanenz ab einem Alter von etwa vier Monaten zeigen.
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4. Wygotsky betonte die Wichtigkeit des sozialen Kontextes für die Art, in der sich die kognitive Entwicklung eines Kindes entfaltet. 5. Dieser Ansatz für erfolgreiches Altern geht davon aus, dass man sich Wissensgebiete aussuchen sollte, in denen man auch weiterhin an der Spitze liegen möchte, indem man Strategien entwickelt, die, falls notwendig, verminderte Fähigkeiten ausgleichen.
Seite 324 1. Kindorientierte Sprache (Mutterisch) hilft sowohl die Aufmerksamkeit des Kindes aufrechtzuerhalten, als auch, eine emotionale Bindung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind zu schaffen. 2. Kinder stellen Vermutungen über die Bedeutung neuer Wörter auf. In einigen Fällen sind diese Hypothesen umfassender als die Kategorien der Erwachsenen. 3. Gehörlose Kinder, die weder eine gesprochene noch eine Zeichensprache beigebracht bekommen haben, fangen manchmal an, eine eigene Zeichensprache zu benutzen, die strukturelle Gemeinsamkeiten mit wirklichen Sprachen aufweist. 4. Wenn ein Kind regelmäßige Vergangenheitsformen unregelmäßiger Verben bildet, würde man Formen wie gebte und brechte statt gab und brach erwarten.
Seite 336 1. Erikson postulierte, dass die Krise von Identität vs. Isolation während der frühen Kindheit wichtig wird. 2. Die Forschung legt nahe, dass Kinder, die bereits im frühen Alter sichere Bindungen haben, im späteren Leben beispielsweise beliebter und sozial weniger ängstlich sind. 3. Erziehungsstile werden durch die beiden Dimensionen Anforderungen und Reaktivität der Eltern definiert. 4. Die Peer-Beziehungen von Jugendlichen spielen sich auf der Ebene von Freundschaften, Cliquen und Gruppen ab. 5. Untersuchungen über das späte Erwachsenenalter deuten darauf hin, dass Menschen mit der Zeit wählerischer hinsichtlich der Sozialpartner werden, die sie sich aussuchen, um ihre emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen.
Seite 338 1. Geschlechtsunterschiede beruhen auf biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen; Genderunterschiede beruhen auf unterschiedlichen kulturellen Rollenkonstrukten für Männer und Frauen. 2. Die Forschung legt nahe, dass Männer und Frauen etwas andere Hirnstrukturen benutzen, um emotionale Stimuli zu enkodieren und wiederzuerkennen. 3. Kleine Kinder bevorzugen die Gesellschaft von Gleichaltrigen desselben Geschlechts.
Seite 341 1. Die drei Hauptebenen sind die präkonventionelle, die konventionelle und die postkonventionelle Moral.
Anhang A: Antworten auf die „Zwischenbilanz“-Fragen
2. Gilligan argumentierte, dass Männer eher auf Gerechtigkeit fokussiert sind, Frauen dagegen mehr auf Fürsorge für andere Menschen. 3. Im Allgemeinen halten in Indien Menschen bei moralischen Urteilen zwischenmenschliche Verantwortung für wichtiger als Menschen in den Vereinigten Staaten.
2. Attributionen werden in den Dimensionen internalexternal, global-spezifisch und stabil-instabil zugewiesen. 3. Das Erwartungsmodell geht davon aus, dass Arbeiter motiviert werden, wenn sie erwarten, dass ihre Anstrengung und Leistung erwünschte Ergebnisse haben werden.
Kapitel 11
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1. Sie würden wahrscheinlich eine Inferenz erstellen, warum der Student lief, was damit in Zusammenhang steht, dass Motivationskonzepte Verbindungen zwischen öffentlichen Handlungen und privaten Zuständen sein können. 2. Homöostase bedeutet einen Gleichgewichtszustand in biologischer Hinsicht. 3. Freud glaubte, dass Menschen sowohl einen angeborenen Lebens- als auch einen Todesinstinkt haben. 4. Heider unterschied zwischen dispositionalen und situationalen Faktoren als Erklärungen für Ergebnisse. 5. Bindungsbedürfnisse beziehen sich auf das Bedürfnis des Menschen, dazu zu gehören, sich anderen anzuschließen, zu lieben und geliebt zu werden.
Seite 360 1. Sättigung einer spezifischen Sinnesmodalität liegt vor, wenn ein Mensch in Hinsicht auf einen bestimmten Essensgeschmack gesättigt ist. 2. Das Zwei-Zentren-Modell ging davon aus, dass der VMH das „Sattheitszentrum“ sei. Neuere Forschungen ergeben allerdings, dass die Rolle des VMH von der Art der Nahrung abhängt. 3. Zügelnde Esser halten gewohnheitsmäßig eine kalorienarme Diät ein, bis sie enthemmt werden, worauf sie dann oft in kalorienreiche „Fressorgien“ verfallen. 4. Bulimia nervosa ist durch Ess- und Brechattacken gekennzeichnet.
Seite 368 1. Bei den meisten Tierarten folgen alle Artangehörigen demselben vorhersehbaren Sexualverhalten. 2. Masters und Johnson definierten die Phasen Erregung, Plateau, Orgasmus und Rückbildung. 3. Weil Männer in derselben Zeit, in der eine Frau schwanger ist, mehrere Frauen schwängern können, suchen Männer mehr Sexualpartnerinnen. 4. Skripte des Sexualverhaltens sind sozial erlernte Programme, die angemessene Formen sexueller Aktivität definieren. 5. Die Konkordanzraten liegen bei MZ Zwillingen höher als bei DZ Zwillingen, was die Behauptung einer genetischen Komponente der Homosexualität unterstützt.
Seite 372 1. Das Leistungsmotiv reflektiert die individuellen Unterschiede in der Wertigkeit von Vorausplanung und dem Erreichen gesetzter Ziele.
1. Interkulturelle Forschungen legen nahe, dass es sieben Gesichtsausdrücke gibt, die von Menschen im Allgemeinen weltweit erkannt werden. 2. Das autonome Nervensystem spielt eine wichtige Rolle bei der Erzeugung der physiologischen Aspekte von Emotionen – wie zum Beispiel Herzrasen und schwitzende Hände. 3. Die Cannon-Bard-Theorie schlägt vor, dass ein emotionaler Stimulus gleichzeitig Erregung und ein emotionales Gefühl erzeugt. 4. Weil Menschen in negativen Stimmungen vorsichtiger sind, sind sie dann auch höflicher. 5. Menschen können leichter Informationen abrufen, wenn ihre Stimmung beim Abrufen der beim Enkodieren entspricht – dies ist stimmungsabhängiges SichErinnern.
Seite 402 1. Die drei Stufen des allgemeinen Adaptationssyndroms sind Alarmreaktion, Widerstand und Erschöpfung. 2. Teilnehmer aus den 1990er Jahren gaben mehr Lebensveränderungseinheiten an, erlebten also stärkeren Stress als die Menschen der 1960er Jahre. 3. Im Allgemeinen haben Alltagsärgernisse einen negativen Effekt auf das Wohlbefinden, alltägliche Freuden einen positiven. 4. Bei emotionsorientiertem Coping verbessern die Betroffenen ihr Befinden durch Aktivitäten, die den Stressfaktor nicht direkt ändern. 5. Wenn Menschen nicht daran glauben, die Kontrolle über eine Stresssituation zu haben, riskieren sie mangelhafte körperliche und psychische Anpassung. 6. Man findet positive Veränderungen, die durch negative Ereignissen im Leben entstehen.
Seite 412 1. Forschungsprojekte, die die Ähnlichkeit des Tabakkonsums bei MZ und DZ Zwillingen verglichen, haben ergeben, dass Rauchgewohnheiten tatsächlich eine genetische Komponente haben. 2. Erfolgreiche AIDS-Interventionen müssen Informationen bereitstellen, Motivation fördern und richtiges Verhalten lehren. 3. Um die Entspannungsreaktion zu erzeugen, müssen die Menschen eine ruhige Umgebung finden, wo sie in einer bequemen Haltung mit geschlossenen Augen ruhen und eine wiederholende geistige Übung durchführen können.
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4. Forscher auf dem Gebiet der Psychoneuroimmunologie versuchen zu verstehen, welchen Einfluss psychische Zustände auf das Immunsystem haben. 5. Feindseligkeit ist der Persönlichkeitsaspekt von Typ A, der ein Krankheitsrisiko darstellt. 6. Burn-out im Beruf ist ein Zustand emotionaler Erschöpfung, der Depersonalisation und dem Gefühl verminderter persönlicher Leistungsfähigkeit.
Kapitel 13 Seite 425 1. Persönlichkeitstypen werden als Alles-oder-nichtsKategorien definiert. 2. Neurotizismus wird als Dimension mit den Endpunkten stabil, ruhig und ausgeglichen gegenüber ängstlich, labil und launisch definiert. 3. Um die Erblichkeit von Traits zu erfassen, sind Studien durchgeführt worden, die die Ähnlichkeit von Traits bei monozygoten und dizygoten Zwillingen miteinander vergleichen. 4. Das Konsistenzparadoxon bezieht sich auf den Befund, dass Menschen oft Andere als konsistente Persönlichkeiten beschreiben, obwohl deren Verhalten situationsabhängig oft inkonsistent ist.
Seite 432 1. Der Betreffende könnte vielleicht Angewohnheiten wie Rauchen und übermäßiges Essen haben sowie übermäßig passiv oder leichtgläubig sein. 2. Das „Ich“ wird von dem Realitätsprinzip geleitet, vernünftige Entscheidungen dem Verlangen des „Es“ nach Lust vorzuziehen. 3. Leon benutzt möglicherweise den Abwehrmechanismus der Projektion – er projiziert seine eigenen Motive auf andere Menschen. 4. Adler ging davon aus, dass Menschen dazu getrieben werden, Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden.
Seite 434 1. Selbstverwirklichung ist der Drang eines Menschen, sein innewohnendes Potenzial zu erreichen. 2. Humanistische Theorien befassen sich mit den angeborenen Eigenschaften von Menschen, die ihr Verhalten beeinflussen. 3. Eine Psychobiografie setzt psychologische Theorien ein, um ein kohärentes Bild über die Entwicklung des Lebens eines Menschen zu erstellen.
Seite 439 1. Mischels Theorie konzentriert sich auf Enkodierungen, Erwartungen und Überzeugungen, Affekte, Ziele und Werte sowie auf Kompetenzen und Pläne zur Selbstregulierung. 2. Laut Bandura interagieren die Charaktereigenschaften eines Individuums, sein Verhalten und die Umgebung miteinander, um sich gegenseitig zu beeinflussen und zu verändern. 3. Soziale Intelligenz bezieht sich auf die Expertise, mit der Menschen die Aufgaben des Lebens meistern.
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Seite 442 1. Mögliche Selbst motivieren Verhalten, indem sie Menschen in Betracht ziehen lassen, welche Verhaltensweisen konsistent mit dem gewünschten oder zu vermeidenden „Selbst“ sind. 2. Selbstbeeinträchtigung trifft dann zu, wenn Menschen Verhaltensweisen zeigen, die Ihnen eine Attribution eigener Fehler auf Ursachen außerhalb eigener mangelnder Fähigkeit erlauben. 3. Menschen mit einem interdependenten Selbstbild erfahren sich als ein Element einer größeren sozialen Struktur.
Seite 444 1. Einige Theorien erklären individuelle Unterschiede, indem sie sich auf die genetische Ausstattung jedes Menschen konzentrieren, während andere Theorien sich auf die Lebenserfahrung berufen, die die Persönlichkeit jedes Menschen geformt haben. 2. Freuds Theorie betont, wie Ereignisse in der frühen Kindheit – der Vergangenheit – die Persönlichkeit eines Erwachsenen prägen. 3. Die relevante Dimension der Persönlichkeitstheorien ist Bewusstheit-Unbewusstheit.
Seite 447 1. Jede der zehn klinischen Skalen des MMPI soll Menschen, die eine spezifische klinische Störung haben, von denen trennen, die sie nicht haben. 2. Der NEO-PI misst die fünf Persönlichkeitszüge, die vom Fünf-Faktoren-Persönlichkeitsmodell definiert werden. 3. Kliniker werten die Ergebnisse von Rorschach-Tests nach Erfassungsmodus, Inhalt und Determination aus.
Kapitel 14 Seite 459 1. Die relevantesten Kriterien sind „Distress oder Unfähigkeit“ (das heißt, Toms Furcht verursacht persönlichen negativen Stress) und „Fehlangepasstheit“ (das heißt, Toms Furcht hindert ihn daran, seine Ziele zu verfolgen). 2. Eine Klassifikation kann eine gemeinsame Formelsprache, ein Kausalitätsverständnis und einen Behandlungsplan bereitstellen. 3. Verhaltensweisen werden in verschiedenen Kulturen verschieden interpretiert – dasselbe Verhalten kann in unterschiedlichen kulturellen Kontexten als „normal“ oder „abweichend“ erscheinen.
Seite 464 1. Menschen, die an Phobien leiden, erleben irrationale Ängste in objektiv ungefährlichen Situationen. 2. Zwangsgedanken sind kognitiv, Zwangshandlungen zeigen sich auf Verhaltensebene. 3. Die Forschung legt nahe, dass die Evolutionsgeschichte des Menschen Phobien in Bezug auf bestimmte Stimuli „vorbereitet“ hat.
Anhang A: Antworten auf die „Zwischenbilanz“-Fragen
4. Menschen mit großer Angstneigung glauben mit höherer Wahrscheinlichkeit, dass ein körperliches Symptom schädliche Auswirkungen haben wird.
Seite 469 1. Eine bipolare Störung ist durch Perioden schwerer Depression gekennzeichnet, die mit manischen Episoden abwechseln. 2. Die kognitive Triade bezieht sich auf negative Ansichten über die Person selbst, über gegenwärtige Erfahrungen und über die Zukunft. 3. Die Forschung legt nahe, dass Frauen eher als Männer über ihre Probleme nachgrübeln, was zu gesteigerten negativen Gefühlen führt. 4. Jugendliche sind suizidgefährdet, wenn sie sich deprimiert, hoffnungslos oder isoliert fühlen und ein negatives Selbstbild haben.
Seite 472 1. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden an extremer Furcht, verlassen zu werden. 2. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung haben deutlich mehr sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlitten. 3. Die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist durch impulsives Verhalten und Missachten von Sicherheitsbedenken gekennzeichnet, was ein Suizidrisiko schafft.
Seite 474 1. Das Beispiel von Max erfüllt die Definition von Hypochondrie. 2. Dissoziative Amnesie besteht in einer Verminderung, sich an wichtige persönliche Erfahrungen zu erinnern. Sie wird von psychischen Faktoren verursacht, ohne dass organische Störungen vorliegen. 3. Die Forschung legt nahe, dass fast alle Menschen, die DID entwickeln, in irgendeiner Form Opfer körperlichen oder psychischen Missbrauchs geworden sind.
Seite 479 1. Soziale Zurückgezogenheit und verflachte Emotionen zählen zur Positivsymptomatik von Schizophrenie. 2. Verfolgungs- oder Größenwahn sind Symptome von Schizophrenie des paranoiden Typs. 3. Die Entdeckung biologischer Marker hilft Klinikern vorherzusagen, welche Menschen möglicherweise schizophrene Störungen entwickeln könnten.
Seite 482 1. ADS wird durch einen Grad von Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität gekennzeichnet, der nicht mit dem Level der kindlichen Entwicklung übereinstimmt. 2. Viele Eltern machen sich erst dann Sorgen, wenn ihre Kinder Entwicklungsnormen für soziale Interaktion oder Sprachverwendung ab dem zweiten Lebensjahr nicht erreichen.
3. Forscher behaupten, dass Kinder mit autistischer Störung es nicht schaffen, eine Standardtheorie des Geistes zu entwickeln.
Seite 483 1. Negative Haltungen gegenüber psychischen Störungen sondern Menschen als unerwünscht aus. 2. Wenn Menschen sich in Behandlung begeben, müssen sie oft öffentlich zugeben, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, was den Kontext für Stigmatisierung herstellt. 3. Die Forschung legt nahe, dass Kontakt mit Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, zur Reduzierung der Stigmatisierung beiträgt.
Kapitel 15 Seite 491 1. Die Ziele des therapeutischen Prozesses sind die Erstellung einer Diagnose, die Erkundung einer möglichen Ätiologie, die Erstellung einer Prognose und die Durchführung einer Behandlung. 2. Psychoanalytiker haben eine umfassende therapeutische Ausbildung in der Tiefenpsychologie nach Freud. 3. Eine große Anzahl der aus psychiatrischen Einrichtungen Entlassenen wird nach kurzer Zeit erneut eingewiesen.
Seite 493 1. Die psychodynamische Therapie ist auch als Einsichtstherapie bekannt, weil eines ihrer Hauptziele darin besteht, den Patienten zu Einsichten über die Beziehung zwischen gegenwärtigen Symptomen und vergangenen Konflikten zu führen. 2. Übertragung bedeutet, dass ein Patient eine emotionale Reaktion gegenüber dem Therapeuten zeigt, die oft einen emotionalen Konflikt aus dem Leben des Patienten repräsentiert. 3. Klein glaubte, dass der Todestrieb der sexuellen Bewusstwerdung vorausgeht und zu einem angeborenen aggressiven Impuls führt.
Seite 500 1. Behandlungen mit Gegenkonditionierung versuchen eine fehlangepasste Reaktion (wie etwa Furcht) durch eine gesundheitsfördernde (wie etwa Entspannung) zu ersetzen. 2. Typischerweise benutzen Kliniker Gutscheine als positive Verstärkung erwünschten Verhaltens (etwa Drogenabstinenz). 3. In der Therapie des sozialen Lernens beobachten die Patienten üblicherweise, wie Modelle positive Verstärkung für erwünschte Verhaltensformen erhalten. 4. In der Psychoanalyse funktioniert der Therapeut als Detektiv, in der Verhaltenstherapie als Trainer.
Seite 502 1. Die grundlegende Annahme der kognitiven Therapie ist, dass abweichende Verhaltensmuster und emotio-
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naler Distress aus dem entstehen, was und wie Menschen denken. 2. Die RET geht davon aus, dass irrationale Überzeugungen zu fehlangepassten emotionalen Reaktionen führen. 3. Ein Ziel der kognitiven Verhaltenstherapie ist die Veränderung des Verhaltens – es ist wichtig, dass die Klienten daran glauben, die Fähigkeit zu adaptivem Verhalten in sich zu tragen.
Seite 504 1. Das Ziel der Bewegung für das menschliche Potenzial war, das Potenzial des Einzelnen hin zu mehr Leistung und breiteren Erfahrungen zu entwickeln. 2. Eine klientenzentrierte Therapeutin schafft eine Situation unbedingter positiver Wertschätzung, in der der Klient bedingungslos akzeptiert und respektiert wird. 3. In der Gestalttherapie stellen sich die Patienten vor, dass ein Gefühl, eine Person, ein Objekt oder eine Situation einen leeren Stuhl besetzt; sie sprechen mit dem „Inhaber“ des Stuhls, um ihre Probleme zu verarbeiten.
Seite 506 1. Gruppentherapie gibt den Teilnehmern eine Möglichkeit zu verstehen, dass ihr Problem vielleicht nichts Ungewöhnliches ist. 2. Das Ziel der Paartherapie ist häufig, den Partnern bei der Klärung und Verbesserung ihrer Beziehung zu helfen. 3. Internet-Selbsthilfegruppen sind besonders wertvoll für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die ansonsten vielleicht keinen Zugang zu solchen Gruppen hätten.
Seite 509 1. Atypische Antipsychotika helfen bei der Bekämpfung der Symptome von Schizophrenie, ohne schwere motorische Probleme zu verursachen. 2. Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer inhibieren die Wiederaufnahme sowohl von Serotonin als auch von Noradrenalin. 3. Die Operation verändert die Persönlichkeit grundlegend: Die Betroffenen werden weniger emotional, verlieren aber auch ihr Gefühl des Selbst. 4. Bei der rTMS-Methode werden wiederholte magnetische Stimulationspulse auf das Gehirn gerichtet.
Seite 513 1. Die Metaanalysen legen nahe, dass viele Standardbehandlungen für Depression (z. B. kognitive Verhaltenstherapie oder medikamentöse Therapie) besseren Heilungserfolg als eine Placebobehandlung erzielen. 2. Selbst wenn Behandlungsmethoden Erfolge erzielen können, sind sie nicht besonders nützlich, wenn die Patienten oft unwillig oder nicht in der Lage sind, die Behandlung zu Ende zu führen. 3. Das Ziel der primären Prävention ist es, Programme zu starten, die die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung mindern.
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Kapitel 16 Seite 523 1. Kelley postulierte, dass man Distinktheit, Konsistenz und Konsens bewertet, wenn man eine Attribution macht. 2. Studierende neigen dazu, sich Erfolge zuzuschreiben, aber Misserfolge wegzuerklären – dieses Muster könnte sie beispielsweise dazu veranlassen, ihre Lernmethoden nicht zu verändern, selbst wenn sie bei einem Examen schlecht abschneiden. 3. In den meisten Schulklassen haben die Lehrer zutreffende Informationen über das Potenzial ihrer Schüler, was die Möglichkeit selbsterfüllender Prophezeiungen verringert. 4. Erwartungsbestätigendes Verhalten ist der Prozess, durch den die Erwartungen einer Person zu Verhaltensweisen einer zweiten Person führen, die mit diesen Erwartungen übereinstimmen.
Seite 530 1. Einstellungen umfassen kognitive, affektive und verhaltensbezogene Komponenten. 2. Die zentrale Route der Persuasion ist durch starke Elaboration gekennzeichnet, also durch sorgfältiges Nachdenken über das Material, das überzeugen soll. 3. Weil Dissonanzreduzierung den Impuls zur Selbstkonsistenz widerspiegelt, beeinflussen interkulturelle Unterschiede im Selbstbild die Situationen, in denen Menschen Dissonanz empfinden. 4. Wenn Menschen große Erwartungen an sie auf mittlere Erwartungen zurückschrauben, haben sie etwas für Sie getan. Die Reziprozitätsnorm erfordert dann, dass Sie etwas für Ihr Gegenüber tun – indem Sie der geringeren Forderung zustimmen.
Seite 536 1. Es ist oft der Fall, dass die Voreingenommenheit für Angehörige der eigenen Gruppe Menschen dazu treibt, Angehörige anderer Gruppen in einem negativen Licht zu sehen. 2. Menschen interagieren oft miteinander in einer Weise, die es ihnen nicht ermöglicht, Stereotypen zu widerlegen. 3. Die Forschung deuten in die Richtung, dass Kontakt mit Out-Gruppen-Angehörigen Vorurteile durchgängig reduziert.
Seite 539 1. Menschen neigen dazu, eher diejenigen zu mögen, die ihnen gleichen. 2. Menschen mit festem Bindungsstil haben als Erwachsene oft die dauerhaftesten Liebesbeziehungen. 3. Die Interdependenztheorie konzentriert sich auf die Bedürfnisse, die Menschen in Beziehungen einbringen; die Beziehungen halten so lange, wie diese Bedürfnisse erfüllt werden.
Anhang A: Antworten auf die „Zwischenbilanz“-Fragen
Kapitel 17 Seite 553 1. Das Stanford Gefängnisexperiment zeigte, wie schnell Menschen die Verhaltensmuster übernehmen, die von sozialen Rollen definiert werden. 2. Weil Menschen gemocht und akzeptiert werden sowie Bestätigung erfahren möchten, können Gruppen einen normativen Einfluss ausüben. 3. Minderheiten können einen informationellen Einfluss ausüben – ihr Einfluss beruht auf dem Bedürfnis der Angehörigen der Mehrheit nach Korrektur. 4. Wenn die gemeinsame Entscheidung einer Gruppe extremer ist, als es die jedes einzelnen Gruppenmitglieds gewesen wäre, weist das auf Prozesse der Gruppenpolarisierung hin.
Seite 558 1. Altruistische Verhaltensweisen sind prosoziale Verhaltensweisen, die ein Mensch ausführt, ohne auf seine eigene Sicherheit oder seine eigenen Interessen zu achten. 2. Reziproker Altruismus ist die Vorstellung, dass Menschen sich altruistisch verhalten, weil sie im Gegenzug erwarten, selbst Nutznießer altruistischen Verhaltens zu werden. 3. Die Forschung legt nahe, dass Menschen sich aus altruistischen, egoistischen, kollektivistischen und prinzipiengeleiteten Gründen prosozial verhalten. 4. Wenn eine Gruppe von Menschen Zeuge eines Notfalls wird, nehmen die Menschen in der Gruppe meistens an, dass schon jemand anderer die Verantwortung für die Notfallmaßnahmen übernommen habe.
Seite 565 1. Lorenz ging davon aus, dass der Mensch keine Mechanismen entwickelt habe, die ihm die Inhibition aggressiver Impulse ermöglichen. 2. Forscher haben mit Hilfe von Zwillingsstudien demonstriert, dass MZ Zwillinge eine höhere Übereinstimmung bei antisozialem und aggressivem Verhalten als DZ Zwillinge aufweisen. 3. Wenn Menschen bei der Verfolgung ihrer Ziele frustriert werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie aggressiv werden. 4. Erfahrungen mit Gewaltmedien suggerieren Menschen, dass Aggression ein akzeptabler Weg sei, um mit Konflikten und Wut umzugehen.
Seite 574 1. Die Voraussagen der Psychiater unterschätzten beträchtlich die Anzahl der Menschen, die bereit waren, Elektroschocks bis hin zu sehr hohen Stromstärken zu verabreichen. 2. Wenn eine Gruppe zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände wird, ist es leicht, Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. 3. Die Forschung legt nahe, dass Menschen mit höheren Dominanzwerten verstärkt Aggression im Kontext von Lehren aus der Geschichte gut heißen. 4. Lewin demonstrierte, dass autokratische Anführer bei den Gruppenmitgliedern die stärksten Aggressionen hervorriefen.
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Anhang B: Glossar A-B-A-Design Ein Versuchsdesign, bei dem die Probanden zunächst unter neutralen Vergleichsbedingungen (A) untersucht werden, dann eine experimentelle Manipulation oder Behandlung erfolgt (B) und anschließend wieder unter neutralen Vergleichsbedingungen (A) getestet wird.
Aktionspotenzial Der durch ein Neuron ausgelöste Nervenimpuls, der das Axon entlangläuft und verursacht, dass Neurotransmitter in eine Synapse ausgeschüttet werden. Akuter Stress Ein vorübergehender Erregungszustand, typischerweise mit klaren Anfangs- und Endmustern. Algorithmus Ein schrittweises Verfahren, das bei einem bestimmten Aufgabentyp immer zur richtigen Lösung führt. Alles-oder-Nichts-Gesetz Die Regel, dass die Größe des Aktionspotenzials jenseits des Schwellenwerts nicht von der steigenden Intensität der Stimulation abhängt.
Abhängige Variable Im Zusammenhang mit Experimenten versteht man hierunter jede Variable, deren Werte das Ergebnis von Veränderungen einer oder mehrerer unabhängiger Variablen sind.
Allgemeines Adaptationssyndrom Das Muster nichtspezifischer adaptiver physiologischer Mechanismen, welches als Reaktion auf die andauernde Bedrohung durch fast jeden starken Stressor auftritt.
Abruf (Recall) Eine Methode der Suche, wobei die zuvor präsentierten Informationen reproduziert werden sollen.
Altersdiskriminierung Vorurteile gegenüber älteren Menschen, vergleichbar mit den negativen Stereotypen bei Rassismus und Sexismus.
Abruf (Retrieval) Die Wiedergewinnung gespeicherter Information aus dem Gedächtnis. Abschlussgespräch Ein Verfahren, das am Ende eines Versuchs durchgeführt wird und bei dem der Versuchsleiter dem Probanden so viel Informationen wie möglich gibt und sich vergewissert, dass niemand mit einem Gefühl der Verwirrung, Kränkung oder Scham den Versuchsraum verlässt. Absolutschwelle Das Minimum an physikalischer Energie, um eine zuverlässige sensorische Erfahrung hervorzurufen; operational definiert als die Reizintensität, bei der in der Hälfte der Fälle ein sensorischer Reiz wahrgenommen wird. Abwehrmechanismen des Ich Mentale (bewusste oder unbewusste) Strategien des Ich, um sich gegen die Konflikte zu verteidigen, denen es im normalen Leben ausgesetzt ist. Affektive Störung Eine Störung des emotionalen Gleichgewichts durch beispielsweise eine schwere Depression oder einen ständigen Wechsel zwischen Depression und Manie. Aggression Verhalten, das einem anderen Individuum psychischen oder körperlichen Schaden zufügt. Agoraphobie Eine extreme Angst vor öffentlichen Plätzen oder großen Räumen, wo ein Rückzug oder eine Flucht nur schwer möglich oder peinlich wäre. AIDS Akronym für acquired immune deficiency syndrome (erworbenes Immundefizitsyndrom); ein Syndrom, das durch ein Virus verursacht wird, welches das Immunsystem schädigt und die Fähigkeit des Körpers schwächt, sich gegen Infektionen zur Wehr zu setzen. Akkommodation (1.) Der Prozess, durch den die Ziliarmuskeln die Krümmung der Linse verändern, so dass ein unterschiedliches Fokussieren auf nahe und entfernte Objekte ermöglicht wird. Akkommodation (2.) Nach Piaget der Prozess, bei dem bestehende kognitive Strukturen restrukturiert oder modifiziert werden, damit neue Information besser eingefügt werden kann; dieser Prozess arbeitet mit dem Prozess der Assimilation zusammen.
Altruismus Prosoziales Verhalten, das ohne Berücksichtigung der eigenen Sicherheit oder der eigenen Interessen ausgeführt wird. Alzheimer-Krankheit Eine chronische hirnorganische Erkrankung, die durch graduellen Verlust des Gedächtnisses, Nachlassen der intellektuellen Fähigkeiten und Verfall der Persönlichkeit gekennzeichnet ist. Amakrinzellen Zellen, die Informationen über die Retina hinweg integrieren; sie senden keine Signale zum Gehirn. Amakrinzellen verbinden Bipolarzellen mit Bipolarzellen sowie Ganglienzellen mit Ganglienzellen. Ambiguität Mehrdeutigkeit. Eigenschaft eines wahrgenommenen Objekts, das mehr als eine Interpretation zulässt. Amnesie Gedächtnisverlust, der durch eine physische Verletzung, Krankheit, Drogenmissbrauch oder ein psychologisches Trauma hervorgerufen wird. Amygdala Der Teil des limbischen Systems, der Emotionen, Aggressionen und die Ausbildung eines emotionalen Gedächtnisses kontrolliert. Analytische Psychologie Der Zweig der Psychologie, welcher die Person als Konstellation kompensatorischer innerer Kräfte in einer dynamischen Balance sieht. Anforderungsmerkmale Hinweise in einer experimentellen Umgebung, welche die Wahrnehmung der Teilnehmer im Hinblick auf das von ihnen Erwartete sowie ihr Verhalten systematisch beeinflussen. Angst Eine intensive emotionale Reaktion, die durch eine vorbewusste Erkenntnis hervorgerufen wird, dass ein verdrängter Konflikt ins Bewusstsein zu geraten droht. Angststörungen Psychische Störungen, die durch Erregungs- und Spannungszustände gekennzeichnet sind, verbunden mit dem Gefühl intensiver Angst ohne erkennbaren Auslöser. Ankerheuristik Eine unzureichende Anpassung nach oben oder unten von einem Ausgangswert aus, wenn man den wahrscheinlichen Wert eines Ereignisses oder Ergebnisses abschätzt.
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Anlage-Umwelt-Debatte Die Debatte über die relative Bedeutsamkeit von Genen (vererbte Anlagen) und Lernen und Erfahrung (Umwelt) bei der Festlegung von Entwicklung und Verhalten. Anorexia nervosa (Anorexie) Eine Essstörung, bei der das Gewicht einer Person unterhalb einer Grenze von 85 Prozent des erwarteten Normalgewichts liegt und sie dennoch ihr Essverhalten kontrolliert, da sie sich selbst als übergewichtig wahrnimmt. Anreize Externale Reize oder Belohnungen, die Verhalten motivieren, obwohl sie nicht in direktem Bezug zu einem biologischen Bedürfnis stehen. Antisoziale Persönlichkeitsstörung Eine Störung, die durch stabile Muster verantwortungslosen oder gesetzeswidrigen Verhaltens, das soziale Normen verletzt, gekennzeichnet ist. Antizipatorisches Coping Anstrengungen, die im Vorfeld eines möglicherweise Stress erzeugenden Ereignisses unternommen werden, um das Ungleichgewicht zwischen wahrgenommenen Anforderungen und verfügbaren Ressourcen zu überwinden, zu reduzieren oder zu tolerieren. Arbeitsgedächtnis Eine Gedächtnisressource für Aufgaben wie Schlussfolgern und Sprachverstehen; besteht aus der phonologischen Schleife, dem visuell-räumlichen Notizblock und der zentralen Exekutive. Archetyp Eine universelle, ererbte, primitive und symbolische Repräsentation einer bestimmten Erfahrung oder eines bestimmten Objekts. Arithmetisches Mittel Der arithmetische Durchschnitt (Summe der Werte geteilt durch die Anzahl der Werte) einer Menge von Werten; ein Maß der zentralen Tendenz. Assimilation Nach Piaget der Prozess, in dem neue kognitive Elemente zu schon vorhandenen Elementen hinzugefügt werden oder so modifiziert werden, dass sie besser zu bestehenden Elementen zu passen; dieser Prozess verläuft Hand in Hand mit dem Prozess der Akkommodation. Assoziationscortex Die Teile der Großhirnrinde, die höhere geistige Prozesse ausführen. Ätiologie Die Ursachen einer Störung und die sie beeinflussenden Faktoren. Attributionen Urteile über die Ursachen von Ergebnissen. Attributionstheorie Ein sozial-kognitiver Ansatz zur Beschreibung der Art und Weise, in der eine sozial wahrnehmende Person Informationen einsetzt, um kausale Erklärungen zu generieren. Audience Design
siehe Hörerbezug.
Auditiver (Auditorischer) Cortex Das Gebiet in den Temporallappen, das auditive Informationen erhält und verarbeitet. Aufmerksamkeit Ein Zustand fokussierten Bewusstseins auf eine Teilmenge der verfügbaren perzeptuellen Informationen.
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Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) Eine Störung im Kindesalter, die durch Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität/Impulsivität gekennzeichnet ist. Augenscheinvalidität Das Ausmaß, in dem Testitems in direkter Beziehung zu den Eigenschaften stehen, die der Forscher messen will. Autistische Störung Autismus. Eine Entwicklungsstörung, die durch schwere Beeinträchtigungen eines Kindes gekennzeichnet ist, soziale Bindungen zu entwickeln und sich der Sprache zu bedienen. Automatische Prozesse Prozesse, die keine Aufmerksamkeit erfordern; sie können häufig ohne wechselseitige Störung zusammen mit anderen Prozessen ausgeführt werden. Autonomes Nervensystem (ANS) Der Teil des peripheren Nervensystems, der die unwillkürlichen motorischen Reaktionen des Körpers kontrolliert, indem er die sensorischen Rezeptoren mit dem Zentralnervensystem (ZNS) und das ZNS mit den glatten Muskeln, Herzmuskeln und den Drüsen verbindet. Aversionstherapie Eine Form der Verhaltenstherapie, die bei Personen zum Einsatz kommt, welche sich von schädigenden Reizen angezogen fühlen; ein attraktiver Reiz wird mit einem schmerzhaften oder unangenehmen Reiz gepaart, um eine negative Reaktion auf den Zielreiz auszulösen. Axon Die ausgedehnte Faser eines Neurons, über die Nervenimpulse vom Soma zu den Endknöpfchen wandern. Basilarmembran Eine Membran in der Cochlea; wird sie in Bewegung versetzt, dann stimuliert sie Haarzellen, welche die neuronalen Effekte der auditiven Stimulation erzeugen. Basisebene Die Ebene der Kategorisierung, die am schnellsten aus dem Gedächtnis abgerufen und am effizientesten genutzt werden kann. Bedrohung durch Stereotypen Die Bedrohung, die von einer Situation ausgeht, in der man ein negatives Stereotyp der eigenen sozialen Gruppe bestätigen könnte. Bedürfnishierarchie Maslows Ansicht, dass grundlegende menschliche Motive hierarchisch angeordnet sind und dass die Bedürfnisse jeder tieferen Ebene befriedigt sein müssen, bevor die nächste Ebene erreicht werden kann; diese Bedürfnisse reichen von grundlegenden biologischen Bedürfnissen bis zum Bedürfnis der Transzendenz. Begründungszusammenhang Diejenige Forschungsphase, in der Befunde auf die Hypothesen einwirken. Behaviorismus Ein wissenschaftlicher Ansatz, der das Feld der Psychologie auf messbares, beobachtbares Verhalten reduziert. Behavioristische Perspektive Jene psychologische Perspektive, die sich hauptsächlich mit beobachtbarem Verhalten, das objektiv aufgezeichnet werden kann, sowie mit der Beziehung zwischen beobachtbarem Verhalten und Umweltstimuli beschäftigt.
Anhang B: Glossar
Beobachterabhänge Urteilsverzerrung Die Verzerrung von Befunden durch persönliche Motive und Erwartungen des Beobachters.
Bipolare Störung Eine affektive Störung, bei der Phasen der Depression und Phasen der Manie im Wechsel auftreten.
Beobachtungslernen Der Prozess, neue Reaktionen durch Beobachtung des Verhaltens anderer zu lernen.
Bipolarzellen Nervenzellen des visuellen Systems, die Impulse vieler Rezeptoren verbinden und das Ergebnis an Ganglienzellen übertragen.
Beratungspsychologen Psychologen, die sich auf die Beratung in Gebieten wie Berufswahl, Schulproblemen, Drogenmissbrauch und Eheproblemen spezialisiert haben. Bestrafung 1. Art (positive Bestrafung) Auf ein Verhalten folgt ein aversiver Reiz, der die Wahrscheinlichkeit des Verhaltens senkt. Bestrafung 2. Art (negative Bestrafung) Auf ein Verhalten folgt der Wegfall eines angenehmen Reizes, wodurch die Wahrscheinlichkeit dieses Verhaltens sinkt. Bestrafungsreiz Jeder Reiz, der unter Kontingenzbedingungen mit einer Reaktion die Wahrscheinlichkeit dieser Reaktion senkt. Between-Subjects-Design Ein Forschungsdesign, bei dem die Probanden zufällig auf Experimental- und Kontrollbedingungen verteilt werden. Bewegung für das menschliche Potenzial (human-potiential movement) Eine Bewegung im therapeutischen Bereich, die jene Praktiken und Methoden umfasst, die zur Potenzialförderung des durchschnittlichen Menschen hin zu einer größeren Leistungsfähigkeit und einem reicheren Erfahrungsschatz dienen. Bewusstsein Ein Zustand des Erkennens von inneren Ereignissen und der äußeren Umwelt. Bindung Die emotionale Beziehung zwischen einem Kind und der Person, die regelmäßig für das Kind sorgt. Biofeedback Eine selbstregulatorische Technik, durch die willkürliche Kontrolle über unbewusste biologische Vorgänge erlangt wird. Biologische Beschränkungen des Lernens Alle Einschränkungen des Lernpotenzials eines Organismus, die durch das ererbte Potenzial der Wahrnehmung, des Verhaltens und der Kognition von Mitgliedern einer bestimmten Spezies entstehen. Biologische Perspektive Jener Ansatz, der sich bei den Ursachen des Verhaltens auf die Funktionsweise der Gene, des Gehirns, des Nervensystems und des endokrinen Systems konzentriert. Biologisches Geschlecht Biologische Merkmale, anhand derer sich Männer von Frauen unterscheiden.
Blockierung Das Phänomen, dass ein Organismus einen neuen Stimulus, der einen unkonditionierten Stimulus signalisiert, nicht mehr lernt, da der neue Stimulus gleichzeitig mit einem Stimulus präsentiert wird, der bereits als effektives Signal dient. Borderline-Persönlichkeitsstörung Eine Störung, die durch Instabilität und Intensität der persönlichen Beziehungen wie auch turbulente Emotionen und impulsives Verhalten gekennzeichnet ist. Bottom-up-Verarbeitung Eine Wahrnehmungsanalyse, die auf den sensorischen Daten aus der Umgebung beruht; Ergebnisse der Analyse werden zu abstrakteren Repräsentationen weitergeleitet. Broca-Areal Die Hirnregion, die Gedanken in Sprache oder Gebärden übersetzt. Brücke (Pons) Die Region des Hirnstamms, die das Rückenmark mit dem Gehirn und verschiedene Teile des Gehirns untereinander verbindet. Bulbus olfactorius Zu diesem Gehirnzentrum senden die geruchsempfindlichen Rezeptoren ihre Signale; es befindet sich direkt unterhalb der Frontallappen des Großhirns. Bulimia nervosa (Bulimie) Eine Essstörung, die durch „Fressattacken“ gekennzeichnet ist, auf die Maßnahmen folgen, um die überschüssigen Kalorien wieder aus dem Körper abzuführen. Burn-out im Beruf Das Syndrom emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und verminderten persönlichen Engagements; es wird oft von Menschen erlebt, die in Berufen mit viel Stress arbeiten. Cannon-Bard-Theorie der Emotion Eine Theorie, die aussagt, dass ein emotionaler Ausdruck zwei gleichzeitig ablaufende Reaktionen hervorruft – Erregung und Erleben von Emotion –, die sich gegenseitig nicht bedingen. Cerebellum (Kleinhirn) Die an den Hirnstamm angrenzende Region, welche die motorische Koordination, Haltung, das Gleichgewicht sowie die Fähigkeit, Kontrolle über die Körperbewegungen zu erlernen, steuert. Cerebrale Hemisphären Die beiden Hälften des Großhirns, die durch das Corpus callosum verbunden sind.
Biomedizinische Therapien Die Behandlung psychischer Störungen durch Veränderung der Gehirnfunktionen mit Hilfe chemischer oder physischer Interventionen, wie beispielsweise eine medikamentöse Therapie, chirurgische Eingriffe oder Elektrokrampftherapie.
Cerebrum (Großhirn) Die Gehirnregion, die höhere kognitive und emotionale Funktionen reguliert.
Biopsychosoziales Modell Ein Modell von Gesundheit und Krankheit, welches annimmt, dass Verbindungen zwischen Nervensystem, Immunsystem, Verhaltensweisen, kognitiver Verarbeitung und Faktoren in der Umwelt die Risiken für eine Krankheit erhöhen können.
Chronischer Stress Ein kontinuierlicher Erregungszustand, wobei ein Individuum die Anforderungen als größer als die inneren und äußeren Ressourcen wahrnimmt, die zum Umgang mit den Anforderungen zur Verfügung stehen.
Cerebraler Cortex (Großhirnrinde) Die äußere Oberfläche des Großhirns.
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Chunking Der Prozess, einzelne Items von Informationen auf der Basis von Ähnlichkeit oder einem anderen Organisationsprinzip zu rekodieren.
voneinander unabhängige Persönlichkeiten existieren. Früher nannte man diese Störungsform multiple Persönlichkeitsstörung.
Cochlea Das primäre Organ des Hörens; eine mit Flüssigkeit gefüllte Röhre im Innenohr.
Dissoziative Störung Eine Persönlichkeitsstörung, welche durch die fehlende Integration von Identität, Gedächtnis und Bewusstsein gekennzeichnet ist.
Compliance Eine Verhaltensänderung, die in Übereinstimmung mit der direkten Bitte einer Kommunikationsquelle steht. Coping Der Prozess, mit inneren und äußeren Anforderungen umzugehen, die als bedrohlich oder die eigenen Kräfte übersteigend wahrgenommen werden. Corpus callosum Das Nervengewebe, das die beiden Hemisphären des Großhirns verbindet. Deduktives Schließen Eine Form des Denkens, bei der man eine Schlussfolgerung zieht, die aus zwei oder mehr Aussagen oder Prämissen logisch abgeleitet werden kann. Deinstitutionalisierung Bestrebung, Menschen mit psychischen Störungen im Rahmen der normalen Umgebung statt in psychiatrischen Einrichtungen zu behandeln. Deklaratives Gedächtnis Gedächtnis für Informationen wie Fakten und Ereignisse (= Wissen, dass). Dendriten Die verästelten Fasern von Neuronen, die ankommende Signale empfangen. Deskriptive Statistik Statistische Verfahren, die dazu dienen, Mengen von Werten zusammenzufassen, um Maße der zentralen Tendenz, der Variabilität und Korrelationsmaße zu erhalten. Determinismus Die Lehre, dass alle Ereignisse, gleich ob physikalischer, geistiger oder behavioraler Natur, das Ergebnis von spezifischen Kausalfaktoren sind, die potentiell entdeckt werden können. Diathese-Stress-Hypothese Eine Hypothese über die Entstehung bestimmter Störungen, wie beispielsweise der Schizophrenie; sie besagt, dass genetische Faktoren eine Prädisposition für eine bestimmte Störung schaffen, dass jedoch umweltbedingte Stressfaktoren wirksam werden müssen, damit sich das potenzielle Risiko tatsächlich als Störung manifestiert. Dichotisches Hören Bei dieser Experimentaltechnik werden gleichzeitig auf beiden Ohren unterschiedliche auditive Reize dargeboten. Diskriminativer Hinweisreiz Ein Reiz, der zur Vorhersage von Verstärkung dient und anzeigt, wann ein bestimmtes Verhalten zu positiver Verstärkung führen wird. Dispositionelle Variablen Menschen.
Organismische Variablen beim
Dissoziative Amnesie Die Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Erfahrungen zu erinnern; hervorgerufen durch psychische Faktoren und ohne eine organische Grundlage. Dissoziative Identitätsstörung Eine dissoziative psychische Störung, bei der innerhalb einer Person mehrere,
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Distaler Reiz Im Prozess der Wahrnehmung das physikalische Objekt in der Außenwelt; im Gegensatz zum proximalen Reiz, dem optischen Abbild auf der Retina. Divergentes Denken Ein Aspekt der Kreativität, der sich durch die Fähigkeit auszeichnet, ungewöhnliche, aber angemessene Lösungen für Probleme zu finden. DNS (Desoxyribonukleinsäure) Die materielle Basis der Übertragung genetischer Information. Doppel-blind-Verfahren Eine Experimentaltechnik, bei welcher der Einfluss der Erwartungen des Forschers vermieden wird. Weder Versuchsleiter noch Probanden wissen, welcher Proband welcher Versuchsbedingung zugewiesen wurde. Dreifachkontingenz Hierdurch lernen Organismen, dass bei Vorliegen des einen Reizes, nicht aber des anderen, ihr Verhalten mit großer Wahrscheinlichkeit einen spezifischen Effekt auf die Umwelt haben wird. DSM-IV-TR Der aktuelle diagnostische und statistische Leitfaden der American Psychiatric Association, der psychische Störungen klassifiziert, definiert und beschreibt. Dunkeladaptation Die allmähliche Zunahme der Empfindlichkeit des Auges, nachdem das Licht von hell zu schwach wechselte. Eben merklicher Unterschied (EMU) Die kleinste Differenz zwischen zwei Empfindungen, die ihre Unterscheidung erlaubt. Echoisches Gedächtnis Sensorisches Gedächtnis für auditive Informationen. Speichert mit sehr kurzer Dauer. Effekt glaubhaftigkeitsbasierter Urteilsneigung (belief-bias effect) Eine Situation, die eintritt, wenn das Vorwissen, die Einstellung oder die Werte eines Menschen den Schlussfolgerungsprozess verzerren, so dass ungültige Argumente akzeptiert werden. Effekt partieller Verstärkung Verhaltensprinzip, das besagt, dass Reaktionen, die mit Hilfe unterbrochener Verstärkung erworben wurden, schwieriger zu löschen sind als solche, die mit dauernder Verstärkung erworben wurden. Egozentrismus In der kognitiven Entwicklung wird hiermit die Unfähigkeit eines kleinen Kindes im präoperatorischen Stadium bezeichnet, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Eingreifen Umstehender Der Wille, einer Person in Not beizustehen. Einsichtstherapie Eine Technik, bei welcher der Therapeut den Patienten zu einer Einsicht in den Zusammenhang zwischen seinen aktuellen Symptomen und ihren in der Vergangenheit liegenden Ursprüngen führt.
Anhang B: Glossar
Einstellung Die gelernte, relative stabile Tendenz, auf Menschen, Konzepte und Ereignisse wertend zu reagieren. Elaboration-Likelihood-Modell Eine Theorie der Persuasion, die definiert, wie wahrscheinlich Menschen ihre kognitiven Prozesse darauf konzentrieren werden, eine Botschaft zu elaborieren und daher den zentralen und peripheren Routen zur Persuasion zu folgen. Elaborierendes Wiederholen Eine Technik, die Erinnerungsleistung zu verbessern, indem die enkodierte Information angereichert wird. Elektroenzephalogramm (EEG) Eine Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns. Elektrokrampftherapie Die Auslösung von Krämpfen mit Hilfe elektrischer Schocks zur wirksamen Behandlung schwerer Depressionen. Elterliche Fürsorge Zeit und Energie, die Eltern aufbringen müssen, um ihrer Kinder großzuziehen. Emotion Ein komplexes Muster von Veränderungen; es umfasst physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Verhaltensreaktionen als Antwort auf eine Situation, die als persönlich bedeutsam wahrgenommen wurde. Emotionale Intelligenz Eine Intelligenzart, welche die Fähigkeit betrifft, Emotionen genau und angemessen zu erkennen, zu beurteilen und zum Ausdruck zu bringen, Emotionen zur Unterstützung des Denkens einzusetzen, Emotionen zu verstehen und zu analysieren, emotionales Wissen effektiv einzusetzen und die eigenen Emotionen so zu kontrollieren, dass sie emotionales und intellektuelles Wachstum fördern. Emotionstheorie der kognitiven Bewertung Eine Theorie, die aussagt, dass das Erleben von Emotionen der gemeinsame Effekt von physiologischer Erregung und kognitiver Bewertung ist. Die kognitive Bewertung bestimmt, wie ein mehrdeutiger innerer Erregungszustand etikettiert wird. Empfindung Jener Prozess, durch den die Stimulation eines sensorischen Rezeptors einen neuronalen Impuls auslöst, der in einer Erfahrung oder dem Bewusstsein von Zuständen innerhalb und außerhalb unseres Körpers resultiert. Endknöpfchen Die knollenartigen Strukturen an den verästelten Enden der Axone, die mit Neurotransmitter gefüllte Vesikel enthalten. Endokrines System Das Netz von Drüsen, das Hormone produziert und in die Blutbahn entlässt. Engramm Die physikalische Gedächtnisspur einer Information im Gehirn. Enkodierspezifität Das Prinzip, dass der spätere Abruf von Informationen verbessert wird, wenn die Hinweisreize beim Abruf mit jenen bei der Enkodierung übereinstimmen. Enkodierung Der Prozess, der eine mentale Repräsentation im Gedächtnis aufbaut.
Entdeckungszusammenhang Die erste Forschungsphase, in der Beobachtungen, Überzeugungen, Informationen und Allgemeinwissen zu einer neuen Idee oder einer neuen Sichtweise auf ein Phänomen führen. Entscheiden Der Prozess der Wahl zwischen Alternativen; die Auswahl oder Ablehnung vorhandener Möglichkeiten. Entscheidungsaversion Die Neigung, Entscheidungen zu vermeiden; je schwieriger die Entscheidung, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit der Entscheidungsaversion. Entspannungsreaktion Ein Zustand, in dem Muskeltonus, Cortexaktivität, Herzfrequenz und Blutdruck sinken und sich die Atmung verlangsamt. Entwicklungsalter Das Lebensalter, in dem die meisten Kinder eine bestimmte Stufe an geistiger oder körperlicher Entwicklung erreicht haben. Entwicklungspsychologie Der Zweig der Psychologie, der sich mit der Interaktion zwischen körperlichen und geistigen Prozessen sowie den Phasen des Wachstums von der Empfängnis über die gesamte Lebensspanne hinweg befasst. Episodisches Gedächtnis Langzeitgedächtnis für autobiographische Ereignisse und den Kontext, in dem sie auftraten. EQ Das Pendant zum IQ aus dem Bereich der emotionalen Intelligenz. Equity-Theorie Eine kognitive Theorie der Arbeitsmotivation; sie nimmt an, dass Mitarbeiter bestrebt sind, faire und gerechte Arbeitsbeziehungen mit anderen relevanten Mitarbeitern aufrechtzuerhalten; dieses Modell postuliert auch, dass gerechte Beziehungen sich durch ein angemessen proportionales Verhältnis von Beitrag und Ergebnis der Beteiligten auszeichnen. Erblichkeit Der relative Einfluss der Erbfaktoren – gegenüber den Umweltfaktoren – bei der Festlegung von Verhaltensmustern. Erblichkeitsschätzung Eine statistische Schätzung der Erblichkeit einer bestimmten Eigenschaft oder Verhaltensweise, bestimmt durch die Ähnlichkeit zwischen Individuen unterschiedlicher genetischer Verwandtschaft. Erlernte Hilflosigkeit Ein Verhaltensmuster, das durch die fehlende Reaktion auf schädliche Reize gekennzeichnet ist; es tritt häufig auf, wenn die Person zuvor nichtkontingenten, unabwendbaren, aversiven Reizen ausgesetzt war. Erogene Zonen Regionen der Hautoberfläche, die für Stimulationen besonders empfindlich sind und erotische oder sexuelle Empfindungen auslösen. Erwartungsbestätigendes Verhalten Der Prozess, durch den Menschen sich in einer Art und Weise verhalten, die bei anderen spezifische, erwartete Reaktionen auslöst, und in dem diese Reaktion dann benutzt wird, um die eigenen Überzeugungen zu bestätigen.
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Erwartungseffekte Ergebnisse, die dadurch entstehen, dass ein Forscher oder Beobachter den Probanden auf subtile Weise mitteilt, welches Verhalten von ihnen erwartet wird und dadurch genau dieses Verhalten produziert. Erwartungsmodell Eine kognitive Theorie der Arbeitsmotivation; sie nimmt an, dass Mitarbeiter motiviert sind, wenn sie erwarten, dass ihre Anstrengung und ihre Arbeitsleistung zum gewünschten Ergebnis führen. Erwerb Jene Phase in einem Experiment zum klassischen Konditionieren, in der die konditionierte Reaktion erstmalig auf den konditionierten Stimulus hin auftritt. Erziehungspraktiken Verhaltensweisen der Eltern, die sich als Folge ihrer je spezifischen Erziehungsziele ergeben. Erziehungsstile Die Art und Weise, in der Eltern ihre Kinder erziehen; ein autoritativer Erziehungsstil, bei dem sich der Anforderungsgehalt und das Ausmaß an Reaktivität die Waage halten, gilt als der effektivste. Es
Der primitive, unbewusste Teil der Persönlichkeit, der irrational arbeitet und impulsiv reagiert, um Lust zu befriedigen.
Evolutionäre Perspektive Jene Herangehensweise an Psychologie, welche die Wichtigkeit der Anpassungsfähigkeit durch Verhalten und Denken unterstreicht, basierend auf der Annahme, dass sich die geistigen Fähigkeiten über Millionen von Jahre hinweg entwickelt haben, um spezifischen Anpassungserfordernissen gerecht zu werden. Evolutionspsychologie Die Erforschung von Verhalten und geistiger Prozesse mit Hilfe der Prinzipien der Evolutionstheorie. Experimentelle Methoden Forschungsmethoden, bei denen unabhängige Variablen verändert werden, um ihren Einfluss auf abhängige Variablen zu ermitteln. Expliziter Gedächtnisgebrauch Bewusste Anstrengungen zur Wiedergewinnung von Informationen durch Gedächtnisprozesse. Expositionstherapie Eine Verhaltenstechnik, in der Klienten für sie angstauslösenden Objekten oder Situationen ausgesetzt werden. Exzitatorischer Input Eingehende Information, die dem Neuron signalisiert zu feuern. Fallstudie Intensive Beobachtung einer bestimmten Person oder einer kleinen Gruppe von Personen. Farbwert Jene Dimension im Farbenraum, die den qualitativen Farbeindruck wiedergibt und durch Farbwörter bezeichnet werden kann. Figur Objektartige Regionen im Sehfeld, die sich vom Hintergrund abheben. Filter-Kontrolltheorie Eine Theorie über Schmerzmodulation; bestimmte Zellen im Rückenmark wirken als Filter, um einige Schmerzsignale zu unterbrechen oder zu blockieren, während andere den Filter passieren und zum Gehirn gelangen.
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Fixierter Quotenplan (FR) Ein Verstärkerplan, unter dem ein Verstärker immer für die erste Reaktion nach einer festgelegten Anzahl von Reaktionen gegeben wird. Fixierter Intervallplan (FI) Ein Verstärkerplan, unter dem ein Verstärker für die erste Reaktion nach Ablauf eines bestimmten Zeitintervalls gegeben wird. Fixierung Ein Zustand, in dem eine Person weiterhin an Objekte oder Aktivitäten gebunden bleibt, die für vorhergehende Phasen der psychosexuellen Entwicklung angemessener sind. Flooding (Reizüberflutung) Eine Therapieform zur Behandlung von Phobien, bei welcher der Patient nach seiner Einwilligung in der Realität jenem Reiz ausgesetzt wird, den er am meisten fürchtet. Fluide Intelligenz Der Intelligenzaspekt, der die Fähigkeit betrifft, komplexe Beziehungen zu erkennen und Probleme zu lösen. Formale Diagnostik Die systematischen Vorgehensweisen und Messinstrumente, die von entsprechend ausgebildeten Spezialisten benutzt werden, um die Funktionstüchtigkeit, Eignungen, Fähigkeiten und Geisteszustände von Personen zu diagnostizieren. Formatio reticularis Die Region des Hirnstamms, die den cerebralen Cortex auf eintreffende sensorische Signale hinweist und für die Aufrechterhaltung des Bewusstseins und das Erwachen aus dem Schlaf verantwortlich ist. Formkonstanz Die Fähigkeit, die wahre Form eines Objekts trotz Veränderungen der Form des retinalen Abbilds wahrzunehmen. Fovea Jenes Gebiet im Zentrum der Retina, das dicht gepackte Zapfen enthält und den Bereich des schärfsten Sehens darstellt. Freie Assoziation Die therapeutische Methode, bei welcher der Patient fortlaufend über seine auftauchenden Gedanken, Wünsche, körperlichen Empfindungen und vorgestellten Bilder berichtet. Frequenztheorie
siehe Zeittheorie.
Friedenspsychologie Ein interdisziplinärer Ansatz zur Verhinderung eines Nuklearkriegs und zur Aufrechterhaltung des Friedens. Frontallappen Diese Gehirnregion befindet sich oberhalb der Fissura lateralis und vor der Zentralfurche; ist in motorische Kontrolle und kognitive Aktivitäten involviert. Frustrations-Aggressions-Hypothese Nach dieser Hypothese tritt Frustration in Situationen auf, in welchen Menschen in ihrer Zielerreichung behindert oder von ihr abgehalten werden; ein Anwachsen der Frustration führt dann zu einer größeren Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Aggression. Fundamentaler Attributionsfehler Die gleichzeitige Tendenz bei Beobachtern, den Einfluss der situativen Faktoren auf das Verhalten einer Person zu unterschätzen und den Einfluss dispositionaler Faktoren zu überschätzen. Fünf-Faktoren-Modell Ein umfassendes deskriptives Persönlichkeits-System, das die Beziehungen zwischen
Anhang B: Glossar
allgemeinen Traits, theoretischen Konzepten und Persönlichkeitsskalen darstellt. Informell auch als „Big Five“ bekannt. Funktionale Fixierung Die Unfähigkeit, eine neuartige Verwendungsweise eines Objekts zu erkennen, das zuvor mit einem anderen Zweck assoziiert war; wirkt sich negativ auf die Kreativität und das Problemlösen aus. Funktionale MRT (fMRT) Eine bildgebendes Verfahren, das die Vorteile von MRT und PET durch die Messung magnetischer Veränderungen im Blutzufluss des Gehirns kombiniert. Funktionalismus Jene Perspektive auf Geist und Verhalten, die sich auf die Untersuchung der Funktionen im Hinblick auf die Interaktionen eines Organismus mit der Umwelt bezieht. Furcht Eine rationale Reaktion auf eine tatsächlich vorhandene Gefahr, die bei einer Person entweder zu Flucht oder zu einem Gegenangriff führen kann. Ganglienzellen Zellen des visuellen Systems, die Impulse vieler Bipolarzellen zu einem einzigen Impuls integrieren. Gedächtnis Die mentale Fähigkeit, Informationen zu enkodieren, zu speichern und abzurufen. Gegenfarbentheorie Nach dieser Theorie entstehen alle Farbeindrücke auf der Grundlage von drei Systemen. Jedes System besteht aus „gegensätzlichen“ Elementen (Rot – Grün, Blau – Gelb und Schwarz – Weiß). Gegenkonditionierung Eine Technik, die auf dem Verfahren der Konditionierung basiert und in der Therapie eingesetzt wird, um eine fehlangepasste Reaktion durch eine neue Reaktion zu ersetzen. Gegenübertragung Umstände, unter welchen ein Psychoanalytiker persönliche Gefühle gegenüber dem Klienten entwickelt; sie wird durch die wahrgenommene Ähnlichkeit des Klienten mit wichtigen Personen im Leben des Therapeuten verursacht. Geistige Behinderung
Siehe Intelligenzminderung.
Gelenkte Suche Bei der visuellen Wahrnehmung paralleles Absuchen der Umgebung nach Objekten mit einzelnen, grundlegenden Merkmalen, um die Aufmerksamkeit auf jene Orte zu lenken, wo sich wahrscheinlich Objekte mit komplexeren Kombinationen von Merkmalen befinden. Gene Die biologischen Einheiten der Vererbung; abgegrenzte Abschnitte von Chromosomen, die für die Übertragung von Merkmalen verantwortlich sind. Generalisierte Angststörung Eine Form der Angststörung, bei welcher die betroffene Person über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten beinahe durchgängig ängstlich oder besorgt ist, ohne dass eine bedrohliche Ursache auszumachen wäre. Generativität Eine Verbindlichkeit, die sich über die eigene Person und den eigenen Partner hinaus auch auf Familie, Arbeit, Gesellschaft und zukünftige Generationen erstreckt; üblicherweise ein entscheidender Schritt in der Entwicklung im Alter zwischen 30 und 50 Jahren.
Genetik Die Wissenschaft von der Vererbung körperlicher und psychischer Eigenschaften der Vorfahren. Genom Die genetische Information für einen Organismus, gespeichert in der DNS seiner Chromosomen. Genotyp Die genetische Struktur, die ein Organismus von seinen Eltern erbt. Geschlechterrollen Mengen von Verhaltensweisen und Einstellungen, die in einer Gesellschaft mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht verknüpft und vom Individuum öffentlich zum Ausdruck gebracht werden. Geschlechterunterschiede Biologisch begründete Eigenschaften, anhand derer sich männliche und weibliche Wesen unterscheiden. Geschlechtschromosomen Chromosomen, die Gene enthalten, die den Code für die Entwicklung männlicher oder weiblicher Körpermerkmale tragen. Geschlechtsidentität Das Bewusstsein des eigenen Mannseins oder Frauseins; dazu gehört normalerweise auch das Bewusstsein und die Akzeptanz des biologischen Geschlechts. Gesetz der Ähnlichkeit Dieses Gesetz der Gruppierung besagt, dass die einander ähnlichsten Elemente gruppiert werden. Gesetz der Nähe Dieses Gesetz der Nähe besagt, dass nah beieinander befindliche Elemente gruppiert werden. Gesetz des Effekts Ein grundlegendes Lerngesetz, das besagt, dass die Kraft eines Stimulus, eine Reaktion hervorzurufen, verstärkt wird, wenn der Reaktion eine Belohnung folgt, und geschwächt wird, wenn keine Belohnung folgt. Gesetz des gemeinsamen Schicksals Dieses Gesetz des gemeinsamen Schicksals besagt, dass Elemente, die sich in gleicher Richtung mit gleicher Geschwindigkeit bewegen, gruppiert werden. Gestaltpsychologie Diese Schule der Psychologie vertritt die Auffassung, dass psychische Phänomene nur dann verstanden werden können, wenn man sie als organisiertes und strukturiertes Ganzes auffasst und nicht in einfache perzeptuelle Elemente zerlegt. Gestalttherapie Eine Therapieform, die sich darauf konzentriert, Geist und Körper einer Person zu einer Gesamtheit zusammenzuführen. Gesundheit Ein allgemeiner Zustand der Robustheit und Stärke von Körper und Geist; nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Verletzung. Gesundheitsförderung Die Entwicklung und der Einsatz von allgemeinen Strategien und speziellen Taktiken, um das Erkrankungsrisiko zu eliminieren oder zu reduzieren. Gesundheitspsychologie Das Gebiet der Psychologie, welches um ein Verstehen bemüht ist, wie Menschen gesund bleiben, warum sie krank werden und wie sie sich verhalten, wenn sie krank werden. g-Faktor Nach Spearman der Faktor für allgemeine Intelligenz, der allen Intelligenzleistungen zugrunde liegt.
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Gleichgewichtssinn Jener Sinn, der uns über die Lage des Körpers im Hinblick auf die Schwerkraft informiert. Gliazellen Die Zellen, die Neurone zusammenhalten und neuronale Übertragung erleichtern, geschädigte und abgestorbenen Neurone entfernen und verhindern, dass giftige Substanzen im Blut das Hirn erreichen. Größenkonstanz Die Fähigkeit, die wahre Größe eines Objekts trotz Veränderungen der Größe seines retinalen Abbilds wahrzunehmen. Groupthink Die Tendenz einer Gruppe, bei Entscheidungen unerwünschten Input auszufiltern, so dass ein Konsens erreicht werden kann; gilt insbesondere, wenn dieser Konsens mit dem Standpunkt des Gruppenführers übereinstimmt. Grund Die Untergrund- oder Hintergrundregionen im Sehfeld, vor welchen die Figuren erscheinen. Grundlegende Theorien Rahmengerüste für das erste Verständnis, die von Kindern entwickelt werden, um ihre Erfahrungen mit der Welt zu erklären. Gruppendynamik Das Studium der Art und Weise, in der Gruppenprozesse das Verhalten des Individuums verändern. Gruppenpolarisierung Die Tendenz von Gruppen zu extremeren Entscheidungen als der Durchschnitt der Einzelentscheidungen aller Gruppenmitglieder. Habituation Gewöhnung. Eine Abnahme der Verhaltensreaktion, wenn ein Stimulus wiederholt präsentiert wird. Halluzinationen Falsche Wahrnehmungen, die ohne einen objektiv vorhandenen Reiz auftreten. Häufigkeitsverteilungen Eine Zusammenfassung, wie häufig jeder Wert in einer Menge von Werten auftritt. Hautsinne Jene Sinne der Haut, die für Druck-, Wärmeund Kälteempfindungen verantwortlich sind. Helligkeit Jene Dimension des Farbenraums, welche die Lichtintensität erfasst. Helligkeitskonstanz Die Tendenz, Weiß-, Grau- und Schwarztöne von Objekten als konstant gegenüber unterschiedlichen Beleuchtungsstufen wahrzunehmen. Heuristiken Kognitive Strategien oder „Daumenregeln“, die bei der Lösung einer komplizierten Schlussfolgerungsaufgabe oft als Vereinfachung, sozusagen als Patentlösung, verwendet werden.
Homöostase halts.
Konstanz oder Äquilibrium des Körperhaus-
Hörerbezug Die Abstimmung einer Äußerung auf die Hörerschaft, für die sie gedacht ist. Die Berücksichtigung des Hörerbezugs nennt man auch Audience Design. Horizontalzellen Zellen, die Informationen über die Retina hinweg integrieren; sie senden keine Signale zum Gehirn. Horizontalzellen verbinden Rezeptoren untereinander. Hormone Die chemischen Botenstoffe, von den endokrinen Drüsen produziert und abgesondert, die den Stoffwechsel regulieren und Körperwachstum, Stimmung und die Ausbildung von Geschlechtsmerkmalen beeinflussen. Hörnerv Jener Nerv, der Impulse von der Cochlea zum Nucleus Cochlearis des Gehirns transportiert. Humanistische Perspektive Ein psychologisches Modell, das die Welt eines Individuums auf phänomenaler Ebene sowie die dem Individuum innewohnende Fähigkeit betont, rationale Entscheidungen zu treffen und ein Maximum an Potenzial zu entwickeln. Hypnose Ein veränderter Bewusstseinszustand, gekennzeichnet durch tiefe Entspannung, Empfänglichkeit gegenüber Suggestionen und Veränderungen von Wahrnehmung, Gedächtnis, Motivation und Selbstkontrolle. Hypnotisierbarkeit Der Grad, in dem ein Individuum auf standardisierte hypnotische Suggestion anspricht. Hypochondrie Eine Störung, bei der die Betroffenen sich ständig mit der Möglichkeit beschäftigen, krank zu sein oder zu werden, auch wenn ihnen versichert wird, dass sie gesund sind. Hypothalamus Die Gehirnstruktur, die motivationales Verhalten (wie beispielsweise Essen und Trinken) und Gleichgewichtszustände reguliert. Hypothese Eine vorläufige und prüfbare Erklärung der Beziehung zwischen zwei oder mehreren Ereignissen oder Variablen; wird oft als Vorhersage formuliert, dass bestimmte Ergebnisse aufgrund spezifischer Bedingungen eintreten werden.
Hinweisreize beim Abruf Intern oder extern generierte Reize, die den Abruf aus dem Gedächtnis erleichtern.
Ich Der Aspekt der Persönlichkeit, welcher an Aktivitäten der Selbsterhaltung und an der angemessenen Kanalisierung instinktiver Triebe und Bedürfnisse beteiligt ist.
Hippocampus Der Teil des limbischen Systems, der mit dem Erwerb expliziten Wissens zu tun hat.
Identifikation und Wiedererkennen Zwei Arten, Perzepten Bedeutung zu verleihen.
Hirnanhangdrüse Die Drüse im Gehirn, die Wachstumshormone freisetzt und die Hormonausschüttung der anderen endokrinen Drüsen beeinflusst.
Ikonisches Gedächtnis Sensorisches Gedächtnis für den visuellen Bereich; erlaubt große Informationsmengen für sehr kurze Dauer zu speichern.
Hirnstamm Die Hirnstruktur, welche die grundlegenden Lebensprozesse des Körpers steuert.
Impliziter Gedächtnisgebrauch Verfügbarkeit von Informationen durch Gedächtnisprozesse ohne bewusste Anstrengungen, die Informationen zu enkodieren oder wiederherzustellen.
HIV Akronym für human immunodeficiency virus; ein Virus, das die weißen Blutkörperchen (T-Lymphozyten) im
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menschlichen Blut angreift und dabei die Funktionsfähigkeit des Immunsystems schwächt; HIV verursacht AIDS.
Anhang B: Glossar
Implosionstherapie Eine Technik der Verhaltenstherapie, durch welche der Klient mit Hilfe seiner Vorstellungskraft mit dem Angst auslösenden Reiz konfrontiert wird, um die mit dem Reiz assoziierte Angst zu löschen. Impulsive Aggression Emotionsgeleitete Aggression, die „im Eifer des Gefechts“ als Reaktion auf Situationen gezeigt wird. Induktives Schließen Eine Form des logischen Denkens, bei der man über die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Sachverhalts eine Schlussfolgerung zieht, die auf den vorliegenden Anhaltspunkten und auf früheren Erfahrungen beruht. Induzierte Bewegung Eine Wahrnehmungstäuschung, bei der ein unbeweglicher Lichtpunkt innerhalb eines sich bewegenden Bezugsrahmens als sich bewegender Punkt innerhalb eines unbeweglichen Bezugsrahmens wahrgenommen wird.
Intelligenzquotient (IQ) Ein Index, der aus standardisierten Intelligenztests abgeleitet wird. Ursprünglich wurde er durch Division des Intelligenzalters durch das Lebensalter und anschließende Multiplikation mit 100 gebildet; wird heute direkt als IQ-Testergebnis berechnet. Interdependente Konstruktion des Selbst Konzeptualisierung des Selbst als Teil einer umfassenden sozialen Beziehung; die Auffassung, dass das eigene Verhalten davon abhängt und zu weiten Teilen dadurch organisiert ist, welche Gedanken, Gefühle und Handlungen der Handelnde bei anderen wahrnimmt. Interferenz Ein Gedächtnisphänomen, das auftritt, wenn Hinweisreize auf mehr als einen Gedächtnisinhalt verweisen. Internalisierung Nach Wygotsky der Prozess, durch den Kinder Wissen aus dem sozialen Kontext absorbieren.
Inferenzen Informationen, die auf der Basis von Anhaltspunkten oder von schon vorhandenen Überzeugungen und Theorien geschlussfolgert werden.
Interne Konsistenz Ein Maß der Reliabilität; das Ausmaß, in dem ein Test über seine unterschiedlichen Teile hinweg ähnliche Ergebnisse liefert, wie etwa beim Vergleich geradzahliger und ungeradzahliger Items.
Inferenzstatistik Statistische Verfahren, um festzustellen, ob erhaltene Ergebnisse Hypothesen stützen oder auf zufällige Abweichungen zurückzuführen sind.
Interneurone Hirnneurone, die Botschaften von sensorischen Neuronen an andere Interneurone oder Motorneurone übermitteln.
Informationseinfluss Gruppeneffekte, die dadurch entstehen, dass Individuen sich richtig verhalten wollen und verstehen wollen, wie man in einer bestimmten Situation am besten handelt.
Intimität Die Fähigkeit, gegenüber einer anderen Person eine vollständige Verbindlichkeit – sexueller, emotionaler und moralischer Art – einzugehen.
In-Gruppen-Verzerrung Eine Beurteilung der eigenen Gruppe gegenüber anderer Gruppen als besser.
Invarianzprinzip (Prinzip der Erhaltung) Nach Piaget das Wissen darum, dass sich physikalische Eigenschaften nicht ändern, wenn nichts hinzugefügt oder weggenommen wird, obwohl sich die äußere Erscheinungsform ändern kann.
Inhibitorischer Input Eingehende Information, die dem Neuron signalisiert, nicht zu feuern.
Ionenkanäle Die Teile der Zellmembran eines Neurons, die bestimmte Ionen selektiv ein- und ausströmen lassen.
Instinkte Vorprogrammierte Verhaltenstendenzen, die für das Überleben einer Spezies von grundlegender Bedeutung sind.
James-Lange-Theorie der Emotion Eine Peripherie-Feedback-Theorie der Emotion, die aussagt, dass ein erregender Reiz eine Verhaltensantwort in Gang setzt, die unterschiedliches sensorisches und motorisches Feedback an das Gehirn schickt und das Gefühl einer bestimmten Emotion erzeugt.
In-Gruppen Die Gruppen, als deren Mitglieder sich Menschen definieren.
Instinktverschiebung Die Tendenz von gelerntem Verhalten, sich mit der Zeit in Richtung auf Instinktverhalten zu verschieben. Instrumentelle Aggression Wissensbasierte und zielgesteuerte Aggression, der Überlegungen vorausgehen, bestimmte Ziele zu erreichen. Intelligenz Die globale Fähigkeit, von Erfahrung zu profitieren und über die in der Umwelt vorliegenden Informationen hinauszugehen.
Kampf-oder-Flucht-Reaktion Eine Abfolge innerer Aktivitäten, die ausgelöst wird, wenn ein Organismus einer Bedrohung gegenübersteht; sie bereitet den Körper vor, zu kämpfen oder zu fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen; jüngere Belege weisen darauf hin, dass diese Reaktion nur für Männer charakteristisch ist.
Intelligenzalter In Binets Intelligenzmaß das Alter, dem das intellektuelle Leistungsvermögen eines Kindes entspricht, ausgedrückt durch das Durchschnittsalter, in dem normale Kinder einen bestimmten Punktwert erreichen.
Katharsis Der Ausdruck starker Gefühle, die normalerweise verdrängt werden.
Intelligenzminderung Zustand, in dem Personen IQ-Werte von 70 bis 75 oder niedriger aufweisen und auch nur begrenzt in der Lage sind, adaptive Fertigkeiten zur Bewältigung alltäglicher Aufgaben einzusetzen. Wird auch als geistige Behinderung diagnostiziert.
Kindorientierte Sprache (Mutterisch) Eine spezielle Sprachform, die sich durch übertriebene Intonation und hohe Stimmlage auszeichnet und die von Erwachsenen benutzt wird, wenn sie mit Säuglingen oder kleinen Kindern sprechen.
Kinästhetischer Sinn Jener Sinn, der uns über die Lage und Bewegung von Körperteilen relativ zueinander informiert.
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Klangfarbe Jene Dimension einer auditiven Empfindung, welche die Komplexität einer Schallwelle widerspiegelt. Klassisches Konditionieren Eine Art des Lernens, bei der das Verhalten (konditionierte Reaktion) durch einen Stimulus (konditionierter Stimulus) hervorgerufen wird, der seine Wirkung durch eine Assoziation mit einem biologisch bedeutsamen Stimulus (unkonditionierter Stimulus) erlangte. Klient Begriff für die zu behandelnde Person, im Gebrauch von Experten, die psychische Probleme als Probleme der Lebensführung und nicht im Sinne einer psychischen Erkrankung verstehen. Klientenzentrierte Therapie Ein humanistischer Behandlungsansatz, der das gesunde psychische Wachstum des Individuums betont; basierend auf der Annahme, dass allen Menschen das Streben nach Selbstverwirklichung als Bestandteil der menschlichen Natur gemeinsam ist. Klinische Ökologie Ein Bereich der Psychologie, der Störungen wie beispielsweise Angststörungen und Depressionen in Beziehung zu umweltbedingten Reizstoffen und Quellen von Traumata setzt. Klinische Psychologen Personen mit einem Abschluss im Diplomstudiengang Psychologie und einer therapeutischen Zusatzausbildung für die Diagnose und Behandlung psychischer Probleme. Klinische Psychologie Das Gebiet psychologischer Forschung, das sich mit dem Verständnis der Grundlagen geistiger, emotionaler oder verhaltensbezogener Störungen beschäftigt. Klinischer Sozialarbeiter Auf dem Gebiet psychischer Gesundheit tätige Personen, die durch ihre spezielle Ausbildung den sozialen Kontext des Problemumfelds besonders berücksichtigen können. Kognition Prozesse des Wissens, einschließlich Aufmerksamkeit, Erinnerung und Schlussfolgern; auch der Inhalt dieser Prozesse wie Begriffe und Gedächtnisinhalte. Kognition im Tierreich Die kognitiven Fähigkeiten von Tieren; die Forschung verfolgt die Spur der kognitiven Fähigkeiten zwischen den Spezies und das Kontinuum der kognitiven Fähigkeiten von Tieren bis zum Menschen. Kognitionswissenschaft Das interdisziplinäre Gebiet, das sich mit der Untersuchung der Informationsverarbeitung, ihren Prozessen und Zugangssystemen befasst. Kognitive Bewertung In Bezug auf Emotionen der Prozess, durch den die physiologische Erregung hinsichtlich der spezifischen situationalen Umstände interpretiert wird, in welchen sie erlebt wird; zudem die Wiedererkennung und Bewertung eines Stressors, um die Anforderung, das Ausmaß der Bedrohung, die zur Bewältigung verfügbaren Ressourcen und die geeigneten Copingstrategien einzuschätzen. Kognitive Dissonanz Die Theorie, der zufolge die spannungserzeugenden Effekte inkongruenter Kognitionen Menschen motivieren, diese Spannung zu reduzieren.
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Kognitive Entwicklung Die Entwicklung von geistigen Prozessen und Fähigkeiten wie der Vorstellungskraft, der Wahrnehmung, des Schlussfolgerns und des Problemlösens, sowie der zugehörigen Wissensgrundlagen. Kognitive Landkarte Eine mentale Repräsentation räumlicher Gegebenheiten. Kognitive Neurowissenschaften Ein multidisziplinäres Forschungsgebiet, das die Gehirnvorgänge untersucht, die den höheren kognitiven Funktionen beim Menschen zu Grunde liegen. Kognitive Perspektive Jene Perspektive auf Psychologie, die das menschliche Denken und wissensbasierte Prozesse betont, wie etwa Aufmerksamkeit, Denken, Erinnern, Erwartungen, Problemlösen, Phantasieren und Bewusstsein. Kognitive Prozesse Höhere geistige Prozesse wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache, Problemlösen und abstraktes Denken. Kognitive Psychologie Die Untersuchung der höheren geistigen Prozesse wie Aufmerksamkeit, Sprachverwendung, Gedächtnis, Wahrnehmung, Problemlösen und Denken. Kognitive Therapie Eine psychotherapeutische Behandlungsform, die versucht, Gefühle und Verhaltensweisen dadurch zu ändern, dass sie auf das Denken und die Wahrnehmung wichtiger Lebensereignisse des Klienten Einfluss nimmt. Kognitive Verhaltensmodifikation Ein therapeutischer Ansatz, der den kognitiven Schwerpunkt der Rolle von Gedanken und Einstellungen bei der Beeinflussung von Motivation und Verhaltensweisen betont und diesen mit dem behavioristischen Fokus auf Verhaltensänderungen, die durch Modifikation von Verstärkungskontingenzen erfolgen, kombiniert. Kollektives Unbewusstes Der Teil des Unbewussten einer Person, der ererbt wurde, evolutionär entstanden ist und den alle Mitglieder einer Spezies teilen. Komorbidität Das Vorhandensein von mehr als einer Störung zum gleichen Zeitpunkt. Komplementärfarben Farben, die sich im Farbenkreis direkt gegenüberliegen; werden sie additiv gemischt, dann erzeugen sie den Farbeindruck Weiß. Konditionierte Reaktion (CR) Beim klassischen Konditionieren eine Reaktion, die durch einen zuvor neutralen Stimulus ausgelöst wird. Die konditionierte Reaktion erfolgt als Ergebnis einer Paarung des neutralen Stimulus mit einem unkonditionierten Stimulus. Konditionierte Verstärker Im Rahmen des klassischen Konditionierens werden aus zuvor neutralen Stimuli nun Verstärker. Konditionierter Stimulus (CS) Beim klassischen Konditionieren ein zuvor neutraler Stimulus, der nun eine konditionierte Reaktion auslöst. Konditionierung Die Art und Weise, wie Ereignisse, Stimuli und Verhalten miteinander assoziiert werden.
Anhang B: Glossar
Konformität Die Tendenz bei Menschen, die Verhaltensweisen, Einstellungen und Werte anderer Mitglieder einer Referenzgruppe anzunehmen.
Korrelationsmethoden Forschungsmethoden, mit denen man bestimmen kann, inwieweit zwei Variablen, Eigenschaften oder Merkmale zusammenhängen.
Konfundierende Variable Ein Stimulus, der nicht vom Forscher explizit in den Untersuchungsaufbau einbezogen wurde, der aber dennoch das Verhalten der Probanden beeinflusst.
Kovariationsprinzip Eine Theorie, die nahe legt, dass Menschen Verhalten dann auf einen Kausalfaktor attribuieren, wenn dieser Faktor wirksam war, während das Verhalten auftrat, jedoch nicht wirksam war zu Zeiten, in denen das Verhalten nicht auftrat.
Konsensvalidierung Die wechselseitige Bestärkung der bewussten Sicht der Realität. Konsistenzparadox Die Beobachtung, dass Beurteilungen der Persönlichkeit im Laufe der Zeit und über verschiedene Beobachter hinweg konsistent sind, während Beurteilungen des Verhaltens situationsübergreifend nicht konsistent bleiben. Konstruktvalidität Der Grad, in dem ein zu Grunde gelegtes Konstrukt durch einen Test zutreffend gemessen wird. Kontakthypothese Die Vorstellung, dass alleine direkter Kontakt zwischen verfeindeten Gruppen Vorurteile reduzieren wird. Kontextuelle Unterscheidbarkeit Die Annahme, dass der serielle Positionseffekt durch den Kontext und die Unterscheidbarkeit der abzurufenden Erfahrungen verändert werden kann. Kontingenzen bei der Verstärkung Eine zuverlässige Beziehung zwischen einer Reaktion und den dadurch hervorgerufenen Änderungen in der Umwelt. Kontingenzmanagement Eine allgemeine Behandlungsstrategie zur Verhaltensänderung, wobei die Konsequenzen des Verhaltens verändert werden. Kontrollbedingungen Konsistente Verfahren zur Gabe von Instruktionen, Aufzeichnung der Antworten und die Konstanthaltung aller Variablen, die nicht systematisch variiert werden. Kontrollierte Prozesse Prozesse, die Aufmerksamkeit erfordern; es ist oft schwierig, mehr als einen kontrollierten Prozess gleichzeitig auszuführen. Konvergenz Das Ausmaß, in dem sich bei der Fixation eines Objekts die Augen nach innen drehen müssen. Konversionsstörung Eine Störung, in der psychische Konflikte oder Stress einen Verlust der motorischen oder sensorischen Funktionen verursachen. Konzepte Mentale Repräsentationen von Klassen oder Kategorien von Items oder Vorstellungen Körperliche Entwicklung Die körperlichen Veränderungen, Reifung und Wachstum eines Organismus, von der Empfängnis über die gesamte Lebensspanne hinweg. Körperliche Zuwendung Durch körperliche Zuwendung von der Mutter oder Fürsorgeperson entsteht Wohlbefinden bei Säuglingen.
Kreativität Die Fähigkeit, Ideen oder Lösungen hervorzubringen, die neu und situationsangemessen sind. Kristalline Intelligenz Der Intelligenzaspekt, der das erworbene Wissen einer Person und ihre Fähigkeit, dieses Wissen abzurufen, betrifft; wird durch Wortschatz-, Rechenfertigkeits- und Allgemeinwissenstests erfasst. Kriteriumsvalidität Das Ausmaß, in dem Testergebnisse als Hinweis auf das Ergebnis eines anderen, spezifischen Maßes dienen, das mit einem anderen Kriterium der gemessenen Eigenschaft übereinstimmt; auch bekannt als prädiktive Validität. Kulturvergleichende Perspektive Jene psychologische Perspektive, die sich auf interkulturelle Unterschiede in den Ursachen und Konsequenzen von Verhalten konzentriert. Kurzzeitgedächtnis (KZG) Gedächtnisprozesse, die kürzliche Erfahrungen aufrechterhalten und Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abrufen; das Kurzzeitgedächtnis besitzt begrenzte Kapazität und speichert Informationen, wenn sie nicht wiederholt werden, nur für kurze Dauer. Längsschnittplan Ein Forschungsdesign, bei dem dieselben Probanden mehrmals beobachtet werden, manchmal über viele Jahre hinweg. Langzeitgedächtnis (LZG) Gedächtnisprozesse zum Behalten von Informationen für den Abruf zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt. Läsionen Verletzungen oder Zerstörungen von Hirngewebe. Latenter Inhalt In der Freud‘schen Traumanalyse die verborgene Bedeutung eines Traums. Lautes Denken Berichte über mentale Prozesse und Strategien, die Probanden während der Bearbeitung einer Aufgabe einsetzen. Lautheit Eine Wahrnehmungsdimension von Schall, die durch die Amplitude der Schallwelle beeinflusst wird; Schallwellen großer Amplitude werden im Allgemeinen als laut, kleiner Amplitude als leise empfunden. Lebensalter Die Anzahl der seit der Geburt einer Person vergangenen Monate oder Jahre.
Körperschema Das subjektive Erleben des eigenen Körpers.
Lebensveränderungseinheiten In der Stressforschung das Maß für das Stressniveau, das durch unterschiedliche Veränderungen in einer Lebensperiode erfahren wird.
Korrelationskoeffizient (r) Eine statistische Größe, welche die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei Variablen wiedergibt.
Leistungsmotiv Ein postuliertes menschliches Grundbedürfnis, Ziele zu erreichen, das eine Reihe von Denkund Verhaltensweisen motiviert.
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Anha n g
Lernen Ein erfahrungsbasierter Prozess, der in einer relativ überdauernden Veränderung des Verhaltens oder des Verhaltenspotenzials resultiert.
Meditation Eine Form der Bewusstseinsveränderung, welche die Selbsterkenntnis und das Wohlbefinden durch eine reduzierte Bewusstheit des Selbst erhöhen soll.
Lernen von Geschmacksaversionen Eine biologische Beschränkung des Lernens, wobei das Lernen durch eine einzige Paarung von Nahrungsaufnahme und darauf folgender Krankheit erfolgt.
Medulla oblongata Die Region des Hirnstamms, die Atmung, Wachheit und Herzschlag reguliert.
Lernstörung Diese Störung wird durch eine große Diskrepanz zwischen dem gemessenen IQ eines Individuums und seiner tatsächlichen Leistung definiert.
Das Einsetzen der Menstruation.
Mentale Voreinstellung Die Tendenz, auf eine neue Problemstellung so zu reagieren, wie man es bei einem früheren Problem getan hat.
Libido Die psychische Energie, die ein Individuum zu sinnlichen Freuden aller Art treibt, insbesondere zu sexuellen Lüsten.
Metaanalyse Eine statistische Technik zur Hypothesenprüfung durch eine formale Vorgehensweise zur Entdeckung übergreifender Schlussfolgerungen aus Datensätzen vieler verschiedener Experimente.
Limbisches System Die Gehirnregion, die das emotionale Verhalten, grundlegende motivationale Bedürfnisse, Gedächtnis sowie wichtige physiologische Funktionen kontrolliert.
Metagedächtnis Implizites oder explizites Wissen über Gedächtnisfähigkeiten und effektive Gedächtnisstrategien; Kognition über das Gedächtnis.
Logisches Denken Der Prozess des Denkens, bei dem aus einer Menge von Tatsachen Schlussfolgerungen gezogen werden; das Denken auf ein vorgegebenes Ziel hin. Löschung (Extinktion) Beim Konditionieren bezeichnet Löschung das Abschwächen einer konditionierten Assoziation bei Abwesenheit eines vorherigen Verstärkers oder eines unkonditionierten Stimulus. Luzides Träumen Eine Theorie, die davon ausgeht, dass das bewusste Erleben des Träumens eine erlernbare Fähigkeit ist, mit der Träumende Richtung und Inhalt ihrer Träume kontrollieren können. Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) Ein Verfahren zur Abbildung des Gehirns, mit dem unter Verwendung magnetischer Felder und Radiowellen Aufnahmen vom Gehirn erstellt werden. Major Depression Eine affektive Störung, die durch intensive depressive Gefühle über einen längeren Zeitraum gekennzeichnet ist, ohne durch die manische Phase, wie sie bei einer bipolaren Störung auftritt, unterbrochen zu werden. Manifester Inhalt In der Freud’schen Traumanalyse der sichtbare Inhalt eines Traumes, der die tatsächliche Bedeutung des Traumes maskiert. Manische Episode Eine Komponente der bipolaren Störung, gekennzeichnet durch Perioden extremer freudiger Erregung, ungebändigter Euphorie ohne hinreichenden Grund, verbunden mit übertriebenen Gedanken und Gefühlen bezüglich der eigenen Fähigkeiten.
Methode der Erlebnisstichprobe Diese experimentelle Methode trägt dazu bei, die typischen Inhalte des Bewusstseins zu beschreiben; die Teilnehmer sollen aufzeichnen, was sie fühlen und denken, wann immer sie ein entsprechendes Signal erhalten. Methode des lauten Denkens Berichte der Experimentalteilnehmer über ihre mentalen Prozesse und Strategien, die sie bei der Aufgabenbearbeitung einsetzen. Mnemotechniken Strategien oder Methoden, bekannte Informationen während des Enkodierens mit der neuen Information zu assoziieren, um den späteren Abruf zu erleichtern. Modalwert Der häufigste Wert innerhalb einer Menge von Datenpunkten; ein Maß der zentralen Tendenz. Mögliche Selbst Die idealen Selbst, die eine Person gerne werden würde, die Selbst, die eine Person werden könnte und zu werden fürchtet; Komponenten der kognitiven Einschätzung des Selbst. Moral Ein System von Überzeugungen und Werten, das sicherstellt, dass Personen ihre Verpflichtungen gegenüber anderen in der Gesellschaft einhalten werden und dass sie sich in einer Art und Weise verhalten, die nicht zu Störungen der Rechte und Interessen anderer führt. Motivation Der Prozess der Initiierung, der Steuerung und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten; einschließlich jener Mechanismen, welche die Bevorzugung einer Aktivität sowie die Stärke und Beharrlichkeit von Reaktionen steuern.
Maß der zentralen Tendenz Ein statistischer Wert, wie das arithmetische Mittel, der Median oder der Modalwert, der eine Menge von Datenpunkten zu einem einzigen repräsentativen Wert zusammenfasst.
Motorcortex Diese Region der Großhirnrinde steuert die Willkürbewegungen.
Maße der Variabilität Ein statistisches Maß, wie die Spannweite oder die Standardabweichung, das angibt, wie eng die Werte innerhalb einer Menge von Datenpunkten zusammenliegen.
Narkolepsie Eine Schlafstörung, die sich durch den unwiderstehlichen Drang auszeichnet, am Tag plötzlich einzuschlafen.
Median Der Wert innerhalb einer Verteilung, über und unter dem jeweils 50 Prozent der anderen Werte liegen; ein Maß der zentralen Tendenz.
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Menarche
Motorneurone Die Neurone, die Botschaften weg von Zentralnervensystem hin zu Muskeln und Drüsen leiten.
Natürliche Selektion Darwins Theorie, dass eine geeignete Anpassung an die Merkmale der Umwelt einigen Mitgliedern einer Spezies erlaubt, sich erfolgreicher als andere fortzupflanzen.
Anhang B: Glossar
Negative Verstärkung Auf ein Verhalten (Reaktion) folgt die Entfernung eines aversiven Reizes. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Reaktion. Neurogenese
Die Schaffung neuer Neuronen.
Neuromodulator Jede Substanz, welche die Aktivitäten des postsynaptischen Neurons modifiziert oder moduliert. Neuron Eine Zelle im Nervensystem, die darauf spezialisiert ist, Informationen zu erhalten, zu verarbeiten und/ oder auf andere Zellen zu übertragen. Neuropathischer Schmerz Schmerz, der durch die Fehlfunktion oder Überaktivität von Nerven hervorgerufen wird; er entsteht durch Verletzung oder Erkrankung von Nerven. Neurotische Störungen Psychische Störungen, bei welchen weder Anzeichen einer Gehirnauffälligkeit noch das Auftreten stark irrationalen Denkens oder die Verletzung gängiger Normen vorhanden ist. Jedoch steht die Person unter subjektivem Leidensdruck. Diese Kategorie entstammt früheren Versionen des Diagnosemanuals und wurde ab DSM-III gestrichen. Neurotransmitter Chemische Botenstoffe, die von Neuronen freigesetzt werden und die Synapse von einem Neuron zum anderen überqueren, um das postsynaptische Neuron zu stimulieren. Neurowissenschaft Die wissenschaftliche Erforschung des Gehirns und der Verbindungen zwischen Gehirnaktivität und Verhalten. Non-REM- (NREM) Schlaf Die Phase, während der keine schnellen Augenbewegungen auftreten; charakterisiert durch weniger Traumaktivität als beim REM-Schlaf. Normalverteilung Eine symmetrische, glockenförmige Kurve, welche die Verteilung vieler psychologischer Merkmale wiedergibt. Sie ermöglicht es Forschern zu beurteilen, wie ungewöhnlich eine Beobachtung oder ein Ergebnis ist. Normative Untersuchungen Forschungsbemühungen, welche beschreiben, was für ein bestimmtes Alter charakteristisch ist. Normen Standards, die auf Messungen an großen Gruppen von Personen beruhen; sie werden verwendet, um die Testergebnisse eines Individuums mit denen anderer Personen zu vergleichen, die derselben wohldefinierten Gruppe angehören. Normeneinfluss Gruppeneffekte, die dadurch entstehen, dass Individuen von anderen gemocht, akzeptiert und geschätzt werden wollen. Normenkristallisierung Die Konvergenz der Erwartungen einer Gruppe von Individuen hin zu einer gemeinsamen Perspektive, die sich ergibt, wenn sie miteinander sprechen und gemeinsame Aktivitäten durchführen. Nozizeptiver Schmerz Schmerz, der durch einen schädigenden äußeren Reiz hervorgerufen wird; spezialisierte Nervenendigungen in der Haut senden diese Schmerzbotschaft von der Haut durch das Rückenmark zum Gehirn.
Objektbeziehungs-Theorie Psychoanalytische Theorie, die ihren Ursprung in Melanie Kleins Auffassung hat, dass sich die Bausteine der Wahrnehmung der Welt durch den Menschen durch ihre Beziehungen zu geliebten und gehassten Objekten (bedeutsamen Menschen in ihrem Leben) entwickeln. Objektpermanenz Die Erkenntnis, dass Objekte unabhängig von den Handlungen oder dem Bewusstsein einer Person existieren; ein wichtiger kognitiver Erwerb im Säuglingsalter. Okzipitallappen Hinterste Region des Gehirns; enthält den primären visuellen Cortex. Operant Das Verhalten eines Organismus, das sich anhand der beobachtbaren Effekte auf die Umwelt beschreiben lässt. Operante Löschung Wenn ein Verhalten nicht länger vorhersagbare Konsequenzen zeigt, geht seine Auftretenshäufigkeit auf das Niveau zurück, das es vor dem operanten Konditionieren besaß. Operantes Konditionieren Eine Lernform, bei der sich die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion auf Grund einer Veränderung ihrer Konsequenzen ändert. Operationale Definition Die Definition einer Variablen oder einer Bedingung anhand der spezifischen Methoden zu ihrer Messung oder zur Bestimmung ihres Auftretens. Organisationspsychologen Psychologen, die verschiedenste Aspekte der menschlichen Arbeitswelt untersuchen, wie beispielsweise die Kommunikation zwischen Mitarbeiten, Sozialisation und Inkulturation neuer Mitarbeiter, Führungsstil, Arbeitszufriedenheit, Stress und Burn-out sowie die Gesamtqualität des Arbeitslebens. Organismische Variablen Die inneren Determinanten des Verhaltens eines Organismus. Orientierungskonstanz Die Fähigkeit, die tatsächliche Orientierung eines Objekts in der Welt wahrzunehmen, trotz sich ändernder Orientierungen des retinalen Abbilds. Ortstheorie Die Theorie, dass Töne unterschiedlicher Frequenz maximale Aktivierung an unterschiedlichen Orten entlang der Basilarmembran produzieren. Tonhöhe kann somit durch den Ort enkodiert werden, an welchem die Aktivierung auftritt. Östrogen Das weibliche Sexualhormon, produziert von den Eierstöcken, das für den Eisprung und auch für die Entwicklung und die Aufrechterhaltung der weiblichen Fortpflanzungsstrukturen sowie für die sekundären Geschlechtsmerkmale verantwortlich ist. Out-Gruppen Die Gruppen, mit welchen sich Menschen nicht identifizieren. Panikstörung Eine Form der Angststörung, bei welcher die Betroffenen an unerwarteten schweren Panikattacken leiden, die mit einem Gefühl starker Besorgnis oder Furcht beginnen. Parallele Prozesse Zwei oder mehrere mentale Prozesse, die gleichzeitig ausgeführt werden.
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Anha n g
Parallelformen Unterschiedliche Versionen eines Tests, die zur Bestimmung der Testreliabilität dienen; durch die Verwendung unterschiedlicher Formen desselben Tests kann man dem Einfluss von Übung, Gedächtnis und Interesse der Probanden an einer konsistenten Selbstdarstellung durch identische Antworten entgegenwirken. Parasympathisches Nervensystem Der Teil des autonomen Nervensystems, der die Routineoperationen der internen Körperfunktionen überwacht und die Körperenergie bewahrt und erneuert. Parietallappen Gehirnregion hinter dem Frontallappen und oberhalb der Fissura lateralis; enthält den somatosensorischen Cortex.
Phasenkopplung Eine Erweiterung der Zeittheorie, die postuliert, dass, wenn die Spitzen einer Schallwelle zu dicht (hochfrequent) aufeinanderfolgen, als dass ein einzelnes Neuron bei jeder Spitze feuern könnte, ein koordinierter Neuronenverbund in der Frequenz des Stimulustons feuert. Pheromone Chemische Signale, die von Mitgliedern einer Tierart ausgesendet werden, um mit anderen Mitgliedern dieser Spezies zu kommunizieren; sie dienen oftmals als sexuelle Attraktoren über weite Distanzen.
Patient Begriff für die zu behandelnde Person, im Gebrauch von Experten, die psychische Probleme nach einem biomedizinischen Ansatz behandeln.
Phi-Phänomen Die einfachste Form der Scheinbewegung, wobei zwei oder mehrere unbewegliche Lichtpunkte in Folge an- und ausgeschaltet und als einzelnes sich bewegendes Licht wahrgenommen werden.
Peripheres Nervensystem (PNS) Diejenigen Nerven, die Gehirn und Rückenmark mit den anderen Teilen des Körpers verbinden, insbesondere mit den Sinnesrezeptoren, den Muskeln und Drüsen.
Phobie Eine beständige und irrationale Angst vor bestimmten Objekten, Aktivitäten oder Situationen, die angesichts der tatsächlichen Bedrohung stark übertrieben und unbegründet ist.
Persönlichkeit Die einzigartigen psychologischen Eigenschaften eines Individuums, die eine Vielzahl von charakteristischen (offenen und verdeckten) Verhaltensmustern über verschiedene Situation und den Lauf der Zeit hinweg beeinflussen.
Phoneme In jeder beliebigen Sprache die kleinsten Einheiten der gesprochenen Sprache, die bei der Sprachproduktion und der Sprachwahrnehmung bedeutungsunterscheidend sind. r und l sind zwei distinkte Phoneme des Deutschen und Englischen, aber lautliche Varianten desselben Phonems (= derselben Lautklasse) im Japanischen.
Persönlichkeitsstörung Ein lang anhaltendes (chronisches), unflexibles, fehlangepasstes Muster der Wahrnehmung, des Denkens und des Verhaltens, das die betroffene Person bei der Bewältigung ihres alltäglichen Lebens in sozialen und anderen Kontexten stark beeinträchtigt. Persönlichkeitstest Ein Fragebogen zur Erfassung der Persönlichkeit; beinhaltet eine Reihe von Items über persönliche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, über welche die befragte Person selbst Auskunft gibt. Persönlichkeitstypen Klar umgrenzte Muster von Persönlichkeitscharakteristika, die dazu verwendet werden, um Menschen zu kategorisieren; qualitative statt graduelle Unterschiede, die zur Unterscheidung zwischen Personen herangezogen werden. Persuasion Zielbewusste Anstrengung zur Änderung von Einstellungen. Perzeptuelle Organisation Prozesse, die sensorische Informationen zusammenfügen, um eine Wahrnehmung als kohärente Anordnung über das ganze Sehfeld hinweg zu gewährleisten. PET-Scans Detaillierte Bilder der Aktivität des lebenden Gehirns. Es wird eine radioaktive Substanz verabreicht und die Radioaktivität gemessen, die Zellen während unterschiedlicher kognitiver Aufgaben oder Verhaltensweisen abgeben. Phänotyp Die beobachtbaren Charakteristika eines Organismus. Sie resultieren aus der Interaktion zwischen dem Genotyp des Organismus und seiner Umwelt.
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Phantomschmerz Sehr starke oder chronische Schmerzen in einem nach Amputation nicht mehr vorhandenen Körperteil.
Photorezeptoren der Retina.
Lichtempfindliche Rezeptorzellen in
Physische (körperliche) Abhängigkeit Der Prozess, in dem sich der Körper auf eine Droge einstellt und von ihr abhängig wird. Placeboeffekt Eine Verhaltensänderung aufgrund von Erwartungen und nicht aufgrund experimenteller Manipulationen. Placebo-Kontrollgruppen Eine Experimentalbedingung, in der keine Behandlung oder Manipulation erfolgt. Sie wird eingesetzt, wenn Placeboeffekte auftreten könnten. Placebotherapie Eine Therapie, die nicht an ein spezifisches klinisches Verfahren gebunden ist und zu einer Zustandsverbesserung des Patienten führt. Plastizität Veränderungen in der Arbeitsweise des Gehirns; kann die Schaffung neuer Synapsen oder Funktionsänderung existenter Synapsen bedeuten. Population Die Gesamtmenge an Individuen, über die aufgrund der Stichprobe Rückschlüsse gezogen werden. Positive Verstärkung Auf ein Verhalten (Reaktion) folgt ein angenehmer Reiz, der die Wahrscheinlichkeit der Reaktion erhöht. Posttraumatische Belastungsstörung Eine Angststörung, welche durch das beständige, sich wiederholende Erleben von traumatischen Ereignissen aufgrund beunruhigender Erinnerungen, Träumen, Halluzinationen oder dissoziativer Flashbacks charakterisiert ist; sie entwi-
Anhang B: Glossar
ckelt sich als Reaktion auf Vergewaltigungen, lebensbedrohliche Ereignisse, schwere Unfälle und Naturkatastrophen. Präattentive Verarbeitung Die Verarbeitung sensorischer Informationen, die einer Aufmerksamkeitszuwendung auf spezifische Objekte vorausgeht. Prädiktive Validität
Siehe Kriteriumsvalidität.
Präfrontale Lobotomie Eine Operation, bei der jene Nervenfasern durchtrennt werden, welche die Frontallappen des Gehirns mit dem Zwischenhirn verbinden, im Speziellen die Fasern der thalamischen und hypothalamischen Bereiche; bekannteste Form der Psychochirurgie.
Prozedurales Gedächtnis Gedächtnis, wie Dinge getan werden; die Art und Weise wie perzeptuelle, kognitive und motorische Fertigkeiten erworben, aufrechterhalten und angewendet werden (= Wissen wie). Psychiater Personen mit einem abgeschlossenen Medizinstudium und einer Facharztausbildung in Psychiatrie. Psychiater dürfen Medikamente für die Behandlung psychischer Störungen verschreiben. Psychische Abhängigkeit Das psychische Bedürfnis oder Verlangen nach einer Droge. Psychische Störungen Störungen im Denken, emotionalen Erleben und Verhalten, die zu Leidensdruck führen oder die Erreichung wichtiger Ziele blockieren.
Prägung Eine primitive Form des Lernens, bei der bestimmte Tierjunge dem ersten sich bewegenden Objekt folgen, das sie sehen oder hören, und eine Bindung an dieses Objekt entwickeln.
Psychoaktive Substanzen Chemische Stoffe, die mentale Prozesse und Verhalten beeinflussen, indem sie die bewusste Wahrnehmung der Realität zeitweilig verändern.
Primacy-Effekt Verbesserte Erinnerungsleistung für Items zu Beginn einer Liste.
Psychoanalyse Die von Freud entwickelte psychodynamische Therapieform; eine intensive und langwierige Technik zur Erkundung unbewusster Motivationen und Konflikte bei neurotischen, angstgeplagten Personen.
Primäre Verstärker Biologisch begründete Verstärker wie beispielsweise Nahrung oder Wasser. Priming Beim Zugriff auf das implizite Gedächtnis entsteht ein Vorteil durch vorherige Darbietung eines Worts oder einer Situation. Proaktive Interferenz Liegt vor, wenn vorhandene Gedächtnisinhalte es erschweren, neue Information zu enkodieren und abzurufen. Proben von Verhaltensweisen Verfahren zum Aufbau und zur Festigung grundlegender Fertigkeiten; im Rahmen von Trainings zur Förderung sozialer Fertigkeiten beinhaltet es das mentale Proben der erwünschten Verhaltenssequenz.
Psychoanalytiker Ärzte oder Psychologen mit einer zusätzlichen Ausbildung in Psychoanalyse; sie sind auf den Freud‘schen Ansatz zum Verständnis und zur Behandlung psychischer Störungen spezialisiert. Psychobiografie Der Einsatz von psychologischen (insbesondere persönlichkeitspsychologischen) Theorien, um den Lebenslauf einer Person zu beschreiben und zu erklären. Psychochirurgie Ein chirurgisches Verfahren, das am Gehirngewebe ansetzt, um eine psychische Störung zu lindern.
Problemlösen Denkvorgänge, die auf die Lösung bestimmter Probleme gerichtet sind und die sich mit Hilfe einer Menge mentaler Operationen von einem Anfangszustand auf einen Zielzustand hin bewegen.
Psychodynamische Persönlichkeitstheorien Persönlichkeitstheorien, welchen die Annahme gemeinsam ist, dass die Persönlichkeit von mächtigen inneren Kräften geformt wird, die auch das Verhalten motivieren.
Problemraum Die Elemente, aus denen ein Problem besteht: der Anfangszustand, die unvollständige Information oder der unbefriedigende Zustand als Ausgangspunkt; der Zielzustand, der Informationsstand oder der Zustand, der erzielt werden soll; und die Menge der Operatoren, der Schritte, mit deren Hilfe man sich vom Anfangszustand zum Zielzustand bewegt.
Psychodynamische Perspektive Ein psychologisches Modell, in dem Verhalten auf vergangene Erfahrungen und motivationale Kräfte zurückgeführt wird. Nach diesem Ansatz rühren Handlungen von ererbten Instinkten, biologischen Trieben und dem Versuch her, Konflikte zwischen persönlichen Bedürfnissen und sozialen Erfordernissen zu lösen.
Projektiver Test Ein Verfahren der Persönlichkeitserfassung, bei dem einer Person eine standardisierte Menge mehrdeutiger, abstrakter Reize gezeigt wird, deren Bedeutung sie interpretieren soll; die gezeigten Reaktionen sollen tief liegende Gefühle, Motive und Konflikte enthüllen.
Psychologie Die wissenschaftliche Untersuchung von Verhalten von Individuen und ihren mentalen Prozessen.
Prosoziales Verhalten Verhaltensweisen, die mit dem Ziel ausgeführt werden, anderen zu helfen.
Psychologischer Determinismus Die Annahme, dass Reaktionen auf geistiger und auf verhaltensbezogener Ebene durch vorherige Erfahrungen determiniert, also vorherbestimmt sind.
Prototyp
Das repräsentativste Exemplar einer Kategorie
Proximaler Reiz Das optische Abbild auf der Retina; im Gegensatz zum distalen Reiz, dem physikalischen Objekt in der Außenwelt.
Psychologische Diagnostik Der Einsatz festgelegter Verfahren zur Evaluation der Fähigkeiten, Verhaltensweisen und persönlichen Eigenschaften von Personen.
Psychometrie Das Gebiet der Psychologie, das sich mit der Messung geistiger Fähigkeiten befasst.
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Anha n g
Psychometrische Funktion Ein Kurvenzug, der den Prozentsatz erkannter Reize (Y-Achse) gegen die Reizintensität (X-Achse) abträgt. Psychoneuroimmunologie Das Forschungsgebiet, das Interaktionen zwischen psychologischen Prozessen, wie beispielsweise Stressreaktionen, und Funktionen des Immunsystems untersucht. Psychopharmakologie Der Bereich der Psychologie, welcher sich mit der Wirkung von Medikamenten auf das Verhalten beschäftigt. Psychophysik Die Untersuchung der Beziehung zwischen physikalischem Reiz und psychischer Erfahrung. Psychosomatische Störungen Körperliche Störungen, die durch anhaltenden emotionalen Stress oder andere psychische Ursachen verschlimmert oder primär darauf zurückgeführt werden. Psychosoziale Stadien Den Annahmen Erik Eriksons zufolge sukzessive Entwicklungsstadien, die sich auf die Orientierung einer Person zu sich selbst und zu anderen konzentrieren; diese Stadien beinhalten sowohl die sexuellen als auch die sozialen Aspekte der Entwicklung einer Person und die sozialen Konflikte, die sich aus der Interaktion zwischen dem Individuum und der sozialen Umwelt ergeben. Psychotherapie Jede Therapieform aus einer Gruppe von Therapien, die zur Behandlung psychischer Störungen eingesetzt werden und sich auf Veränderungen fehlangepassten Verhaltens und Denkens, fehlangepasster Wahrnehmungen und Emotionen konzentrieren, die mit der spezifischen Störung im Zusammenhang stehen können. Psychotische Störungen Schwer wiegende psychische Störungen, die mit einer Beeinträchtigung des Realitätssinns einhergehen, was sich in Schwierigkeiten und Störungen des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens manifestiert. Diese diagnostische Kategorie entstammt früheren Versionen des Diagnosemanuals und wurde ab DSM-III gestrichen. Pubertät Das Erreichen der sexuellen Reife; bei Mädchen durch die Menarche gekennzeichnet, bei Jungen durch die Produktion fruchtbarer Spermien und das Erlangen der Ejakulationsfähigkeit. Puzzleklassen Klassen, die eine so genannte Puzzle-Technik verwenden. Jeder Schüler erhält einen Teil des zu lernenden Gesamtmaterials und soll dies dann mit anderen Schülern teilen. Querschnittplan Eine Forschungsmethode, bei der Gruppen von Personen unterschiedlichen Lebensalters zu einem Zeitpunkt beobachtet und verglichen werden. Rahmung Eine besondere Beschreibung einer Wahlsituation; die Perspektive, aus der eine Wahl beschrieben oder gerahmt wird, beeinflusst den Prozess der Entscheidung und die schlussendliche Auswahl einer Alternative. Rapid Eye Movement (REM) Ein Verhaltensmerkmal der Schlafphase, in der man mit hoher Wahrscheinlichkeit traumartige mentale Aktivitäten erlebt.
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Rassismus Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft. Rational-emotive Therapie (RET) Ein übergreifendes System der Persönlichkeitsänderung, das auf der Umformung irrationaler Überzeugungen basiert, welche unerwünschte, stark belastende emotionale Reaktionen, wie beispielsweise große Angst, hervorrufen. Recency-Effekt Verbesserte Erinnerungsleistung für Items am Ende einer Liste. Reflex Eine ungelernte Reaktion, hervorgerufen durch einen spezifischen Stimulus, der biologische Relevanz für den Organismus besitzt. Refraktärphase Die Ruheperiode, während der ein neuer Nervenimpuls in einem Teil eines Axons nicht ausgelöst werden kann. Regeln Verhaltensrichtlinien, die in bestimmten Situationen bestimmte Handlungen vorschreiben. Reifung Der fortwährende Einfluss der Gene im Laufe der Entwicklung; die altersbezogenen Veränderungen von Körper und Verhalten, die für eine Spezies typisch sind. Reizdiskrimination Ein Konditionierungsprozess, in dem ein Organismus lernt, unterschiedlich auf Reize zu reagieren, die sich von dem konditionierten Stimulus entlang einer Dimension unterscheiden. Reizinduzierte Vereinnahmung Ein bestimmender Faktor, warum Menschen einige Teile des sensorischen Inputs zur weiteren Verarbeitung auswählen; sie tritt auf, wenn Merkmale von Reizen – Objekten in der Umgebung – automatisch Aufmerksamkeit auf sich ziehen, unabhängig von den eigenen Zielen des Wahrnehmenden. Rekonstruktives Gedächtnis Der Prozess, Informationen zusammenzufassen, basierend auf allgemeinen Formen gespeicherten Wissens; tritt auf, wenn keine spezifischen Repräsentationen verfügbar sind. Relative Bewegungsparallaxe Informationsquelle zur Tiefenwahrnehmung, bei der die relativen Entfernungen zwischen Objekten und einem Betrachter die Strecke und Richtung ihrer relativen Bewegung als Bild auf der Retina des Betrachters bestimmen. Reliabilität Das Ausmaß, in dem ein Test bei jeder Anwendung ähnliche Ergebnisse liefert; Stabilität oder Konsistenz der von einem Instrument gelieferten Messwerte. Repetitive transkraniale magnetische Stimulation (rTMS) Eine Technik zur zeitlich begrenzten Inaktivierung von Hirnarealen mit Hilfe wiederholter magnetischer Stimulationspulse. Repräsentative Stichprobe Eine Stichprobe aus einer Population, die mit den Eigenschaften der Population möglichst genau übereinstimmt, beispielsweise in Hinblick auf die Geschlechterverteilung, die ethnischen Gruppierungen, den sozio-ökonomischen Status und so weiter. Repräsentativitätsheuristik Eine kognitive Strategie, die ein Objekt einer Kategorie zuweist auf der Basis von we-
Anhang B: Glossar
nigen Eigenschaften, die für diese Kategorie als repräsentativ erachtet werden. Residuales Belastungssyndrom Ein chronisches Syndrom, bei welchem die emotionalen Reaktionen des posttraumatischen Belastungssyndroms über lange Zeit bestehen bleiben. Response Bias Die systematische Tendenz von Probanden, in Folge nichtsensorischer Faktoren bevorzugt in einer bestimmten Art und Weise zu reagieren. Retest-Reliabilität Ein Maß der Korrelation zwischen den Ergebnissen derselben Personen in ein und demselben Test, der zu unterschiedlichen Zeiten vorgelegt wird. Retina (Netzhaut) Eine Schicht hinten im Augapfel, die Photorezeptoren enthält, welche Lichtenergie in neuronale Reaktionen umwandeln.
sichten eines Objekts in kurzer Folge dargeboten werden und sich das Objekt zu bewegen scheint; die einfachste Form der Scheinbewegung ist das Phi-Phänomen. Scheinkonturen In einer Figur wahrgenommene Konturen, die tatsächlich nicht vorhanden sind. Schemata (1.) Allgemeine konzeptuelle Rahmen oder Cluster von Wissen; sie betreffen Objekte, Menschen und Situationen; Wissenspakete, die Generalisierungen enkodieren über die Struktur der Umwelt. Schemata (2.) Piagets Begriff für die kognitiven Strukturen, die sich entwickeln, wenn Säuglinge und kleine Kinder lernen, die Welt zu interpretieren und sich an ihre Umgebung anzupassen.
Retinale Querdisparation Die horizontale Versetzung zweier korrespondierender Bilder in beiden Augen.
Schizophrenie Eine schwer wiegende psychische Störung, gekennzeichnet durch den Verlust einer integrierten Persönlichkeit, Rückzug aus der Realität, emotionale Störungen und Störungen der Denkprozesse.
Retroaktive Interferenz Liegt vor, wenn die Bildung neuer Gedächtnisinhalte es erschwert, frühere Gedächtnisinhalte zu erinnern..
Schlafapnoe Eine Schlafstörung der oberen Atemwege, die dazu führt, dass eine Person im Schlaf aufhört zu atmen.
Reversal-Theorie Eine Theorie, die menschliche Motivation anhand von Umkehrungen des einen metamotivationalen Zustands in einen anderen, entgegengesetzten erklärt.
Schlaflosigkeit Die chronische Unfähigkeit, normal zu schlafen; Symptome sind Einschlafprobleme, häufiges Aufwachen, die Unfähigkeit, wieder einzuschlafen, und sehr frühes morgendliches Erwachen.
Rezeptives Feld Jener Teil des Sehfelds, aus dem eine bestimmte Ganglienzelle ihre Informationen erhält.
Schläfrigkeit am Tag Das Empfinden exzessiver Schläfrigkeit während des Tagesgeschäftes; die Hauptbeschwerde von Patienten, die sich in Schlaflabors begeben.
Reziproker Altruismus Die Vorstellung, dass Menschen altruistisches Verhalten zeigen, weil sie erwarten, im Gegenzug altruistisches Verhalten von anderen zu erhalten. Reziproker Determinismus Ein Konzept aus Albert Banduras sozialer Lerntheorie, welches sich auf die Vorstellung bezieht, dass zwischen einem Individuum, seinem Verhalten und den Umweltreizen eine komplexe reziproke Interaktion besteht, in der jede dieser Komponenten die anderen beeinflusst. Reziprozitätsnorm Die Erwartung, dass Gefälligkeiten erwidert werden – wenn Person A etwas für Person B tut, sollte im Gegenzug B auch etwas für A tun. Rituelles Heilen Zeremonien, die eine starke emotionale Intensität hervorrufen und dem Heilungsprozess Bedeutung verleihen. Ruhepotenzial Die Polarisation der Zellflüssigkeit innerhalb eines Neurons, welche die Voraussetzung für die Auslösung eines Aktionspotenzials bildet. Sättigung Jene Dimension des Farbenraums, welche die Reinheit und Klarheit der Farbempfindung erfasst. Schalllokalisierung Die auditorischen Prozesse, mit welchen der räumliche Ursprung von Umgebungsgeräuschen festgestellt wird. Schamanismus Eine spirituelle Tradition, die sowohl Heilen als auch Kontaktaufnahme mit der spirituellen Welt umfasst. Scheinbewegung Eine Bewegungswahrnehmungstäuschung, bei der beispielsweise zwei oder mehrere An-
Schließungstendenz Ein perzeptueller Organisationsprozess, der Individuen unvollständige Figuren als vollständig wahrnehmen lässt. Schmerz Die Reaktion des Körpers auf schädigende Reize, die stark genug sind, Gewebeschäden zu verursachen oder drohen, dies zu tun. Schüchternheit Das Unbehagen und/oder die Hemmung einer Person in zwischenmenschlichen Situationen, die der Verfolgung zwischenmenschlicher oder beruflicher Ziele im Weg stehen. Seelsorger Mitglieder einer religiösen Gruppe, die sich auf die Behandlung psychischer Probleme spezialisiert haben. Seelsorger kombinieren häufig Spiritualität mit praktischer Problemlösung. Sehnerv Die Axone der Ganglienzellen, die Informationen vom Auge zum Gehirn transportieren. Selbst-Beeinträchtigung Ein Vorgang, in dem in Antizipation eines Misserfolgs Verhaltensreaktionen und Erklärungen entwickelt werden, um etwaige Fähigkeitsdefizite als mögliche Ursachen des Versagens zu minimieren. Selbstberichtsverfahren Das Verhalten einer Person, das durch die Beobachtungen und Aussagen der Person selbst erfasst wird. Selbst-Bewusstsein Die höchste Stufe des Bewusstseins; Erkennen des autobiographischen Charakters der persönlich erlebten Ereignisse.
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Selbstkonzept Das mentale Modell einer Person über ihre Fähigkeiten und Eigenschaften. Selbstverwirklichung Ein Konzept in der Persönlichkeitspsychologie, das sich auf das konstante Streben einer Person nach der Realisierung ihres Potenzials und der Entwicklung vorhandener Talente und Möglichkeiten bezieht. Selbstwahrnehmungstheorie Die Vorstellung, dass Menschen sich selbst beobachten, um herauszufinden, aus welchen Gründen sie so handeln, wie sie es tun; Menschen schlussfolgern, in welchem inneren Zustand sie sich befinden, indem sie wahrnehmen, wie sie in einer bestimmten Situation handeln. Selbstwertgefühl Eine generalisierte wertende Einstellung gegenüber dem Selbst, die sowohl Stimmung als auch Verhaltensweisen beeinflusst und starken Einfluss auf eine Reihe von persönlichen und sozialen Verhaltensweisen ausübt. Selbstwirksamkeit Die Menge an Überzeugungen, dass man in einer bestimmten Situation sich angemessen verhalten und angemessene Leistungen erbringen kann. Selektive Optimierung mit Kompensation Eine Strategie, um erfolgreich älter zu werden. Man nutzt die Zugewinne, die mit dem normalen Alterungsprozess einhergehen, optimal und minimiert gleichzeitig den Einfluss der eintretenden Verluste. Self-serving Bias Eine Klasse von Verzerrungen (Bias) in der Attribution, bei der Menschen dazu neigen, ihre Erfolge sich selbst zuzuschreiben und die Verantwortung für ihre Misserfolge abzulehnen. Self-fulfilling Prophecy Eine Vorhersage über ein zukünftiges Verhalten oder ein zukünftiges Ereignis, die Interaktionen so verändert, dass eintritt, was erwartet wurde. Semantisches Gedächtnis Generische kategoriale Gedächtnisinhalte, wie beispielsweise die Bedeutung von Wörtern und Konzepten. Sensorische Adaptation Das Phänomen, dass Rezeptorzellen nach einer Periode unveränderter Stimulation weniger stark reagieren; sie erlaubt eine schnellere Reaktion auf neue Informationsquellen. Sensorische Neurone Die Neurone, die Botschaften von sensorischen Rezeptoren zum Zentralnervensystem leiten. Sensorische Rezeptoren Spezialisierte Zellen, die physikalische Signale in Zellsignale umwandeln, die vom Nervensystem verarbeitet werden. Sensorisches Gedächtnis Der erste Gedächtnisprozess zur momentanen Aufrechterhaltung zerrinnender Eindrücke von sensorischen Reizen.
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Set Eine vorübergehende erhöhte Bereitschaft, einen Reiz in einer bestimmten Weise wahrzunehmen oder auf ihn zu reagieren. Sexismus Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Geschlechterzugehörigkeit. Sexuelle Erregung Der motivationale Zustand von Reizung und Spannung, welcher durch physiologische und kognitive Reaktionen auf erotische Reize hervorgerufen wird. Sexuelle Gewalt bei einer Verabredung (date rape) Ungewollte sexuelle Übergriffe durch einen Bekannten im Kontext einer ansonsten einvernehmlich eingegangenen Verabredung. Shaping durch schrittweise Annäherung Bei dieser Verhaltensmethode werden solche Reaktionen verstärkt, die sich der gewünschten Reaktion schrittweise annähern und schließlich mit ihr übereinstimmen. Signalentdeckungstheorie (SET) Ein systematischer Ansatz zum Problem des Response Bias. SET erlaubt die Identifikation und Trennung der Rolle sensorischer Reize einerseits und der Höhe des Kriteriums einer Person andererseits in ihrem Beitrag zur Reaktion. Signifikanter Unterschied Ein Unterschied zwischen Experimentalgruppen oder -bedingungen, der nur mit einer Wahrscheinlichkeit, die geringer ist als ein allgemein akzeptiertes Kriterium, durch Zufall zustande gekommen sein könnte. In der Psychologie ist das am häufigsten verwendete Kriterium eine geringere Wahrscheinlichkeit als 5 von 100, oder p « .05. Sinnesphysiologie Die Erforschung der Art und Weise, wie biologische Mechanismen physikalische in neuronale Ereignisse umwandeln. Situationale Variablen halten.
Externe Einflüsse auf das Ver-
Skripte des Sexualverhaltens Sozial vermittelte Programme sexueller Reagibilität. Soma Der Zellkörper eines Neurons; er enthält den Nukleus und das Zytoplasma. Somatisches Nervensystem Der Teil des peripheren Nervensystems, der das Zentralnervensystem mit den Skelettmuskeln und der Haut verbindet. Somatisierungsstörung Eine Störung, die durch unerklärte körperliche Beschwerden in mehreren Kategorien über mehrere Jahre hinweg gekennzeichnet ist. Somatoforme Störung Eine Störung, in der die Betroffenen an körperlichen Krankheiten oder Beschwerden leiden, die durch den tatsächlichen Gesundheitszustand nicht völlig erklärt werden können.
Serielle Prozesse Zwei oder mehrere mentale Prozesse, die nacheinander ausgeführt werden.
Somatosensorischer Cortex Das Areal in den Parietallappen, das sensorischen Input aus verschiedenen Köperteilen verarbeitet.
Serieller Positionseffekt Ein Charakteristikum der Suche im Gedächtnis. Beim Abruf werden Beginn und Ende einer Liste besser erinnert als Items in der Mitte.
Somnambulismus Schlafwandeln. Eine Störung, die Schlafende veranlasst, ihr Bett zu verlassen und herumzulaufen, ohne dabei aufzuwachen.
Anhang B: Glossar
Soziale Entwicklung Die Art und Weise, in der sich die sozialen Interaktionen und Erwartungen von Personen im Laufe des Lebens verändern. Soziale Intelligenz Eine Persönlichkeitstheorie, die sich auf die Expertise bezieht, die Menschen in ihre Erfahrung von Alltagsanforderungen einbringen. Soziale Kategorisierung Der Prozess, durch welchen Menschen ihre soziale Umgebung organisieren, indem sie sich und andere in Gruppen kategorisieren. Soziale Kognition Der Prozess, wenn Menschen soziale Informationen selektieren, interpretieren und erinnern. Soziale Lerntheorie Eine Lerntheorie, welche die Rolle von Beobachtung und Nachahmung der bei anderen beobachteten Verhaltensweisen betont. Soziale Normen Die Erwartungen einer Gruppe an ihre Mitglieder im Hinblick auf akzeptable und angemessene Einstellungen und Verhaltensweisen. Soziale Phobie Eine beständige irrationale Angst, die in der Antizipation öffentlicher Situationen entsteht, in denen eine Person von anderen beobachtet werden kann. Soziale Rolle Ein sozial definiertes Verhaltensmuster, das von einer Person erwartet wird, die innerhalb einer bestimmten Umgebung oder Gruppe agiert. Soziale Unterstützung Von anderen Menschen bereitgestellte Ressourcen, inklusive materieller Hilfe, sozioemotionaler Unterstützung und Hilfe durch Informationen, um einer Person beim Zurechtkommen mit Stress zu helfen. Soziale Wahrnehmung Der Prozess, durch den eine Person ihre eigenen persönlichen Merkmale, oder die anderer Menschen, versteht und wahrnimmt. Soziales Geschlecht Ein psychologisches Phänomen, das sich auf die gelernten geschlechtsbezogenen Verhaltensweisen und Einstellungen von Männern und Frauen bezieht. Sozialisation Der lebenslange Prozess, in dem die Verhaltensmuster, Werte, Standards, Fähigkeiten, Einstellungen und Motive eines Individuums so geformt werden, dass sie mit denen übereinstimmen, die in einer bestimmten Gesellschaft als wünschenswert gelten. Sozialpsychologie Das Gebiet der Psychologie, das sich mit dem Einfluss sozialer Variablen auf das Verhalten, die Einstellungen, Wahrnehmungen und Motive des Einzelnen befasst; Gruppen- und Intergruppenphänomene werden ebenfalls untersucht. Soziobiologie Ein Bereich der Forschung, der sich mit evolutionären Erklärungen für soziales Verhalten und soziale Systeme von Mensch und Tier befasst. Soziokulturelle Perspektive Psychologischer Ansatz, der sich auf interkulturelle Differenzen in den Ursachen und Folgen von Verhaltensweisen konzentriert. Spannweite Die Differenz zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Wert innerhalb einer Menge von Datenpunkten; das einfachste Maß der Variabilität.
Speicherung Das Behalten enkodierter Information über eine Zeitspanne hinweg. Spezifische Phobien Phobien, die im Zusammenhang mit bestimmten Objekten oder Situationen auftreten. Spontanremission Das Wiederauftreten einer gelöschten konditionierten Reaktion nach einer Pause. Spontanremission Die Verbesserung des Zustands mancher Patienten und Klienten in Psychotherapie ohne jede professionelle Intervention; ein Kriterium der Grundrate, gegen welches sich eine Therapie messen lassen muss. Spracherwerbsfähigkeit Die angeborenen Richtlinien und Operationsprinzipien, die Kinder für das Lernen einer Sprache mitbringen. Sprachproduktion Das, was Menschen sagen, durch Gebärden ausdrücken und schreiben, sowie die Prozesse, die dabei durchlaufen werden. Stäbchen Photorezeptoren, vorwiegend in der Peripherie der Retina, die bei schwachem Licht am aktivsten sind; Stäbchen lösen keine Farbempfindung aus. Standardabweichung Die durchschnittliche Differenz einer Menge von Werten von ihrem arithmetischen Mittel; ein Maß der Variabilität. Standardisierung Eine Menge einheitlicher Vorgehensweisen zur Datenerhebung oder zum Verhalten gegenüber Probanden in einem Test, Interview oder Experiment. Stereotypen Generalisierungen über eine Gruppe von Personen, wobei allen Mitgliedern dieser Gruppe die gleichen Merkmale zugewiesen werden. Stichprobe Eine Teilmenge der Population, die in einem Experiment untersucht wird. Stigma Die negative Reaktion von Menschen auf ein Individuum oder eine Gruppe aufgrund einer unterstellten Minderwertigkeit oder Unterlegenheit. Stimulusgeneralisierung Die automatische Erweiterung konditionierten Verhaltens auf ähnliche Stimuli, die niemals mit dem unkonditionierten Stimulus gepaart wurden. Stress Das Muster spezifischer und nichtspezifischer Reaktionen eines Organismus auf Ereignisse, die sein Gleichgewicht stören und seine Fähigkeit, diese zu bewältigen, stark beansprucht oder übersteigt. Stressmoderatorvariablen Variablen, welche die Auswirkungen eines Stressors auf eine bestimmte Stressreaktion verändern. Stressor Ein internes oder externes Ereignis, das Stress erzeugt. Strukturalismus Die Untersuchung der Struktur von Geist und Verhalten; die Auffassung, dass jede menschliche Erfahrung als Kombination einfacher Elemente oder Ereignisse verstanden werden kann. Sucht Ein Zustand, in dem der Körper eine Droge braucht, um ohne physische oder psychische Reaktionen bei Ausbleiben der Droge zu funktionieren; oft die Folge von Toleranz und Abhängigkeit.
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Sympathisches Nervensystem Der Teil des autonomen Nervensystems, der mit Notfallreaktionen und dem Mobilisieren von Energie befasst ist. Synapse
Der Spalt zwischen zwei Neuronen.
Synaptische Übertragung Das Übertragen von Informationen von einem Neuron zu einem anderen über den synaptischen Spalt. Systematische Desensibilisierung Eine Technik der Verhaltenstherapie, mit deren Hilfe der Klient angeleitet wird, das Auftreten von Angstzuständen zu verhindern, indem er mit dem Angst auslösenden Reiz konfrontiert wird, während er sich selbst im Zustand der Entspannung befindet. Teilnehmendes Modelllernen Eine therapeutische Technik, bei welcher der Therapeut wünschenswertes Verhalten vorführt und dem Klienten durch unterstützende Ermutigung dabei hilft, das gezeigte Verhalten nachzuahmen. Temperament Der biologisch bestimmte Level von emotionalen und Verhaltensreaktionen auf Umgebungseinflüsse bei einem Kind. Temporallappen Gehirnregion unterhalb der Fissura lateralis; enthält den auditorischen Cortex. Testhalbierungs-Reliabilität Ein Maß der Korrelation zwischen der Leistung der Probanden in unterschiedlichen Testhälften (beispielsweise den geradzahligen und ungeradzahligen Items) eines Tests. Testosteron Das männliche Sexualhormon, ausgeschüttet von den Testikeln, das die Produktion von Spermien anregt und zudem für die Entwicklung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale verantwortlich ist.
Tonhöhe Die Schallqualität hoch – tief; sie hängt vorwiegend von der Frequenz der Schallwelle ab. Top-down-Verarbeitung Wahrnehmungsprozesse, in welchen Informationen vergangener Erfahrungen, Wissen, Erwartungen, Motive und der Lebenshintergrund eines Menschen die Art und Weise beeinflussen, wie ein wahrgenommenes Objekt interpretiert und klassifiziert wird. Traits Überdauernde persönliche Eigenschaften oder Attribute, die das Verhalten über verschiedene Situationen hinweg beeinflussen. Transduktion Umwandlung einer Form von Energie in eine andere; beispielsweise wird Lichtenergie in neuronale Impulse umgewandelt. Transferadäquate Verarbeitung Die Auffassung, dass die Erinnerungsleistung am besten ist, wenn die Prozesse beim Enkodieren und beim Abruf übereinstimmen. Traumanalyse Die psychoanalytische Interpretation von Träumen; sie wird genutzt, um einen Einblick in die unbewussten Motive und Konflikte einer Person zu erhalten. Traumarbeit In der Freud‘schen Traumanalyse der Prozess, durch den ein interner Zensor den latenten in einen manifesten Trauminhalt transformiert. Trichromatische Theorie (Dreifarbentheorie) Nach dieser Theorie verfügt der Mensch über drei Arten von Farbrezeptoren, welche die primären Farbempfindungen Rot, Grün und Blau erzeugen.
Thalamus Die Gehirnstruktur, die sensorische Impulse an den cerebralen Cortex weiterleitet.
Triebe Innere Zustände, die bei einem Lebewesen als Reaktion auf ein Ungleichgewicht in seinen physiologischen Bedürfnissen entstehen.
Thematischer Apperzeptionstest (TAT) Ein projektiver Test, in dem Bilder mehrdeutiger Szenen gezeigt werden, zu denen sich die Testperson Geschichten ausdenken soll.
Übergeneralisierung Ein grammatischer Fehler, der für gewöhnlich zu Beginn des Spracherwerbs auftritt. Die Regeln einer Sprache werden zu weitgehend angewendet, was zu falschen Wortformen führt.
Theorie Eine geordnete Menge von Konzepten oder Aussagen, die ein Phänomen oder eine Gruppe von Phänomenen erklärt.
Über-Ich Der Aspekt der Persönlichkeit, der die Internalisierung der gesellschaftlichen Werte, Standards und Moralvorstellungen repräsentiert.
Theorie der ökologischen visuellen Wahrnehmung Eine Wahrnehmungstheorie, welche die Reichhaltigkeit der Reizinformationen betont und den Wahrnehmenden als aktiven Erkunder seiner Umwelt ansieht.
Übertragung Ein Prozess innerhalb der Psychoanalyse, bei dem der Patient dem Therapeuten Gefühle entgegenbringt, die ursprünglich für eine Person empfunden wurden, die Gegenstand früherer emotionaler Konflikte war.
Theorie der selektiven sozialen Interaktion Dieser Ansicht zufolge werden Menschen, wenn sie älter werden, wählerischer bei der Auswahl von Sozialpartnern, die ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen.
Umweltvariablen
Theorie der Verarbeitungstiefe Eine Theorie, die besagt, dass Informationen desto wahrscheinlicher im Gedächtnis gehalten werden können, je tiefer sie verarbeitet werden. Therapie des sozialen Lernens Eine Behandlungsform, bei der die Klienten Modelle beobachten, die für wünschenswerte Verhaltensweisen verstärkt werden.
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Toleranz (Gewöhnung) Eine Situation, die durch den kontinuierlichen Missbrauch einer Droge entsteht; ein Individuum braucht eine immer größere Dosis, um den gleichen Effekt zu erzielen.
Externe Einflüsse auf das Verhalten.
Unabhängige Konstruktionen des Selbst Konzeptualisierung des Selbst als Individuum, dessen Verhalten primär in Bezug zu den eigenen Gedanken, Gefühlen und Handlungen organisiert ist statt in Bezug zu den Gedanken, Gefühlen und Handlungen anderer. Unabhängige Variable Im Zusammenhang mit Experimenten versteht man hierunter die Stimulusbedingungen. Sie können frei und unabhängig von allen anderen Variablen variieren.
Anhang B: Glossar
Unbedingte positive Wertschätzung Vollständige Liebe und Akzeptanz einer Person durch eine andere, wie beispielsweise eines Kindes durch die Eltern, ohne dass daran Bedingungen geknüpft sind.
Vererbung Die biologische Übertragung von Eigenschaften von den Eltern auf die Nachkommen.
Unbewusst Dem Bewusstsein oder dem Erinnern gewöhnlich nicht zugänglich.
Verhalten Die Aktivitäten, durch die sich der Organismus an seine Umwelt anpasst.
Unbewusstes Der Bereich der Psyche, der verdrängte Bedürfnisse und primitive Impulse speichert.
Verhaltensanalyse Eine Richtung in der Psychologie, die sich vorwiegend damit befasst, wie Lernen und Verhalten durch die Umwelt bestimmt werden.
Unbewusste Schlussfolgerungen Die Bezeichnung von Helmholtz für Wahrnehmung, die außerhalb des Bewusstseins vonstatten geht. Unkonditionierte Reaktion (UCR) Beim klassischen Konditionieren jene Reaktion, die durch einen unkonditionierten Stimulus hervorgerufen wird, ohne dass zuvor geübt wurde oder Lernprozesse stattgefunden haben. Unkonditionierter Stimulus (UCS) Beim klassischen Konditionieren jener Stimulus, der eine unkonditionierte Reaktion hervorruft.
Verfügbarkeitsheuristik Ein Urteil, das auf der leicht verfügbaren Information aus dem Gedächtnis beruht.
Verhaltensdaten Aufzeichnungen aus Beobachtungen über das Verhalten von Organismen und über die Bedingungen, unter welchen dieses Verhalten auftritt oder sich ändert. Verhaltensgenetik Das Forschungsgebiet, das die genetischen Komponenten individueller Unterschiede im Verhalten und den Persönlichkeitseigenschaften untersucht.
Unterscheidung Lernen-Leistung Der Unterschied zwischen dem, was gelernt wurde, und jenem, was sich davon im offenen Verhalten ausdrückt.
Verhaltensmaße Offen gezeigtes Verhalten und Reaktionen, die beobachtet oder aufgezeichnet werden. Umfasst nicht Verhalten, das vom Proband selbst berichtet wird.
Unterschiedsschwelle Die kleinste physikalische Differenz zwischen zwei Reizen, die noch als Unterschied erkannt werden kann; operational ist sie als jener Punkt definiert, an dem in der Hälfte der Fälle die Reize als unterschiedlich erkannt werden.
Verhaltensmodifikation Die systematische Anwendung von Lernprinzipien, um die Auftretenshäufigkeit erwünschter Verhaltensweisen zu fördern und/oder die Auftretenshäufigkeit problematischer Verhaltensweisen zu reduzieren.
Unzurechnungsfähigkeit Die juristische (nicht klinische) Bezeichnung des Zustandes einer Person, die im Sinne des Gesetzes nicht für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden kann.
Verhaltensmuster Typ A Ein komplexes Muster von Verhalten und Emotionen mit besonderer Betonung von Wettbewerb, Aggression, Ungeduld und Feindseligkeit; Feindseligkeit steigert das Risiko für koronare Herzkrankheiten.
Urteilen Der Prozess, in dessen Verlauf Menschen Meinungen bilden, Schlussfolgerungen treffen und Ereignisse und Personen auf der Grundlage vorhandener Information kritisch bewerten. Das Produkt dieser mentalen Aktivität ist das Urteil. Validität Das Ausmaß, in dem ein Test das misst, was er zu messen vorgibt. Variable Im Zusammenhang mit Experimenten versteht man hierunter einen Faktor, der in Menge und Art variiert. Variabler Intervallplan (VI) Ein Verstärkerplan, unter dem ein Verstärker für die erste Reaktion nach Ablauf einer variablen Zeitspanne, die jedoch im Mittelwert festliegt, gegeben wird. Variabler Quotenplan (VR) Ein Verstärkerplan, unter dem eine Verstärkung für die erste Reaktion nach einer vorher vorgegebenen durchschnittlichen Anzahl von Reaktionen erfolgt.. Verantwortungsdiffusion Je größer in Notfallsituationen die Zahl Umstehender ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen sich zum Helfen verpflichtet fühlt. Verdrängung Der grundlegende Abwehrmechanismus: Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen, die Schmerz oder Schuldgefühle verursachen, werden aus dem Bewusstsein ausgeschlossen.
Verhaltensmuster Typ B Im Vergleich zum Verhaltensmuster Typ A weniger Betonung von Wettbewerb, Aggression, feindseligen Verhaltensmustern und feindseligen Emotionen. Verhaltensorientierte Neurowissenschaften Ein multidisziplinäres Forschungsgebiet, das Gehirnvorgänge untersucht, die dem Verhalten zu Grunde liegen. Verhaltenstherapie
siehe Verhaltensmodifikation
Verstärker Jeder Reiz, der, wenn er kontingent auf eine Reaktion erfolgt, die Wahrscheinlichkeit der Reaktion erhöht. Verstärkerpläne In der operanten Konditionierung die Muster der Gabe und des Vorenthaltens von Verstärkern. Visueller Cortex Das Areal in den Okzipitallappen, das visuelle Informationen verarbeitet. Völkermord Die systematische Auslöschung einer Gruppe von Menschen, oftmals einer ethnischen Gruppe oder Rasse, durch eine andere. Vorbewusste Gedächtnisinhalte Gedächtnisinhalte, die in einer Situation nicht bewusst sind, die aber nötigenfalls leicht ins Bewusstsein gerufen werden können. Vorurteil Eine gelernte Einstellung gegenüber einem Zielobjekt, die negative Gefühle (Abneigung oder Furcht),
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negative Überzeugungen (Stereotypen), welche die Einstellungen legitimieren, und eine Verhaltensabsicht umfasst, Objekte der Zielgruppe zu vermeiden, zu kontrollieren, zu dominieren oder auszulöschen. Wahnvorstellungen Falsche oder irrationale Überzeugungen, die trotz widerlegender Beweise beibehalten werden. Wahrgenommene Kontrolle Die Überzeugung, dass man den Verlauf oder die Folgen eines Ereignisses oder einer Erfahrung verändern kann; sie ist im Umgang mit Stressoren oft hilfreich. Wahrnehmung Jene Prozesse, welche die im sensorischen Abbild enthaltenen Informationen strukturieren und sie so interpretieren, dass sie durch Merkmale von Objekten oder Ereignissen in der externen, dreidimensionalen Welt ausgelöst erscheinen.
Yerkes-Dodson-Gesetz Die Beziehung zwischen der Leistung bei einer Aufgabe und dem optimalen Erregungsniveau. Zapfen Photorezeptoren, vorwiegend im Zentrum der Retina, die für Sehen unter normalen Bedingungen und für das Farbensehen verantwortlich sind. Zeittheorie Die Theorie, dass ein Ton Schwingungsraten (pro Zeiteinheit) der Basilarmembran produziert, die seiner Frequenz gleichen. Tonhöhe kann somit durch die Frequenz der neuronalen Reaktion enkodiert werden.
Wahrnehmungskonstanz Die Fähigkeit, ein unveränderliches Perzept eines Objekts trotz Änderungen seines retinalen Abbilds aufrechtzuerhalten.
Zentrales Nervensystem (ZNS) Der Teil des Nervensystems, der aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht.
Wahrnehmungstäuschung Ein Reizmuster wird so erlebt, dass es zu einem nachweislich falschen Ergebnis führt; Wahrnehmungstäuschungen funktionieren bei gleicher Wahrnehmungssituation bei allen Menschen gleichermaßen.
Zentrierung Ein Gedankenmuster, das zu Beginn des präoperatorischen Stadiums der kognitiven Entwicklung häufig auftritt; gekennzeichnet durch die Unfähigkeit des Kindes, mehr als einen perzeptuellen Faktor gleichzeitig zu berücksichtigen.
Weber’sches Gesetz Die Annahme, dass die Größe der Unterschiedsschwelle sich proportional zur Intensität von Standardreizen verhält. Weisheit Expertise in den grundlegenden praktischen Dingen des Lebens. Widerstand Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit eines Patienten, in der Psychoanalyse bestimmte Ideen, Wünsche und Erfahrungen zu besprechen. Wiedererkennen (Recognition) Eine Methode der Suche, wobei Reize als zuvor gesehen beurteilt werden sollen. Wissenschaftliche Methode Ein Satz von Vorgehensweisen zur Sammlung und Interpretation von Befunden, der Fehlerquellen minimiert und verlässliche Schlussfolgerungen ergibt. Within-Subjects-Design Ein Forschungsdesign, bei dem jeder Proband zu seiner eigenen Kontrollgruppe wird. Beispielsweise wird das Verhalten eines Probanden vor der Manipulation oder Behandlung mit seinem Verhalten nach der Manipulation verglichen.
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Wohlbefinden Optimale Gesundheit, verbunden mit der Fähigkeit, vollständig und aktiv in körperlichen, intellektuellen, emotionalen, geistigen, sozialen und sich in der Umwelt befindlichen Gesundheitsbereichen zu funktionieren.
Zielgesteuerte Wahl Ein bestimmender Faktor, warum Menschen einige Teile des sensorischen Inputs zur weiteren Verarbeitung auswählen; sie spiegelt die Auswahl aufgrund eigener Ziele wider. Zirkadianer Rhythmus Ein beständiges Muster zyklischer Köperaktivitäten, das gewöhnlich 24 bis 25 Stunden umfasst und von einer inneren biologischen Uhr festgelegt ist. Zwangsstörung Eine psychische Störung, die durch Zwangsgedanken – Ideen, Bilder oder Impulse, die trotz der Versuche der betroffenen Person, sie zu unterdrücken, immer wieder auftreten oder beständig vorhanden sind – oder durch Zwangshandlungen – wiederkehrende, zweckorientierte Handlungen, die in ritualisierter Form oder entsprechend spezifischer Regeln wiederholt werden – gekennzeichnet ist. Zygote Die Zelle, die aus der Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium resultiert.
Anhang C: Literaturverzeichnis
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Anhang D: Namensregister A Ader, Robert 494 Adler, Alfred 521 Ainsworth, Mary 391 Allport, Gordon 507 Apter, Michael 417 Aronson, Elliot 658 B Baddeley, Alan 242 Baillargeon, Renée 377 Baltes Margaret 381 Paul 381 Bandura, Albert 225, 528 – 529 Bartlett, Sir Frederic 263 Bartoshuk, Linda 140 Beck, Aaron 568, 613–615 Békésy, Georg von 133 Bem, Daryl 440 Benedict, Ruth 397, 419 Binet, Alfred 332 Bower, Gordon 465 Bowlby, John 391 Breland Keller 219 Marion 219 Broadbent, Donald 142 Broca, Paul 84 Bühler, Charlotte 20 Buss, David 487 C Calkins, Mary 20 Cannon, Walter 423, 461 Cantor, Nancy 529 Carstensen, Laura 401 Cattell, Raymond 338, 508 Cheney, Dorothy 293 Chomsky, Noam 386 Clark Herbert 283 Kenneth 653 Clarke-Stewart, Alison 299, 395 Cohen, Nicholas 494 D Darwin, Charles 67 Descartes, René 75 Dewey, John 10 Dix, Dorothea 600 Dollard, John 525 Domjan, M. 45
E Ebbinghaus, Herrmann 8, 252 Ekman, Paul 456 Ellis, Albert 615 Erikson, Erik 388 Eysenck, Hans 508 F Fantz, Robert 368 Fechner, Gustav 114 Festinger, Leon 649 Freud Anna 20, 397 Sigmund 11, 419, 515, 556 G Galton, Sir Francis 326 – 327 Garcia, John 220 Gardner, Howard 341 Gazzaniga, Michael 96 Gibson, Eleanor 369 Gilligan, Carol 407 Goodall, Jane 41 Gottesman, Irving 582 Grant Peter 68 Rosemary 68 Grice, H. Paul 283 Guilford, J. P. 339 H Hall, G. Stanley 397 Harlow, Harry 394 Hart, J. T. 257 Heider, Fritz 420, 637 Helmholtz, Hermann von 128 Hering, Ewald 128 Herman, Peter 427 Hess, Walter 85 Horney, Karen 521 Hull, Clark 416 Humayun, Mark 125 Hume, David 218 J James, William 9, 418, 460, 531 Johnson, Virginia 485 Jones, Mary Cover 606 Jung, Carl Gustav 521 K Kagan, Jerome 390 Kahneman, Daniel 312 Kelley, Harold 637 Kelman, Herbert 707 Kiecolt-Glaser, Janet 494
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Anha n g
Kinsey, Alfred 437 Kitayama, Shinobu 534 Klein, Melanie 603 Koffka, Kurt 143 Köhler, Wolfgang 143 Kraepelin, Emil 553 L Lashley, Karl 266 Lazarus, Richard 462 Lewin, Kurt 705 Liu, Wentai 125 Locke, John 373 Loftus, Elizabeth 265 Lorenz, Konrad 391, 687 M Maccoby, Eleanor 404 Markus, Hazel 532– 434 Maslach, Christina 497 Maslow, Abraham 12, 421 Masters, William 485 McClelland, David 442 Mead, Margaret 397, 419 Meichenbaum, Donald 482 Melzack, Robert 139 Mendel, Gregor 71 Milgram, Stanley 696 – 697 Miller George 239 Neal 493, 525 Moniz, Egas 625 Murray, Henry 494, 543 N Nolen-Hoeksema, Susan 570 P Pennebaker, James 495 Perls, Fritz 618 Piaget, Jean 373 Pinel, Philippe 552 Polivy, Janet 427 R Renzulli, Joseph 336 Rescorla, Robert 201 Rogers, Carl 12, 522 Rorschach, Hermann 542 Rosenhan, David 551 Rosenzweig, Mark 100 Ross, Lee 638 Rotter, Julian 420 Rousseau, Jean-Jacques 373 S Sapir, Edward 294 Satir, Virginia 620
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Savage-Rumbaugh, Sue 292 Schachter, Stanley 461 Seligman, Martin 445, 568 Selye, Hans 471 Seyfarth, Robert 293 Sheldon, William 505 Sherif, Muzafer 657 Siegel, Shepard 204 Simon, Herbert 311 Skinner, B. F. 12 Slobin, Dan 386 Snyder, Mark 642 Spearman, Charles 338 Sperry, Roger 96 Staub, Ervin 698 Steele, Claude 351 Strong, Edward 7 Sullivan, Harry Stack 603 Sulloway, Frank 506 Suomi, Stephen 394 Szasz, Thomas 551 T Taylor, Shelley 418 Tedlock, Barbara 176 Terman, Lewis 333 Tetlock, Philip 322 Thorndike, Edward L. 206 Tolman, Edward C. 223 Tomkins, Silvan 455 Tulving, Endel 245 Tversky, Amos 312 V Vaillant, George 401 W Walk, Richard 369 Washburn, Margaret 20 Watson, John 12 Werker, Janet 384 Wertheimer, Max 9, 143 Whorf, Benjamin Lee 294 Wolpe, Joseph 606 Wundt, Wilhelm 8 Wygotsky, Lew 378 Y Young, Sir Thomas 128 Z Zajonc, Robert 462
Anhang E: Stichwortverzeichnis A Abhängigkeit 183–184 Entzugserscheinungen 184 körperliche 183 psychische 184 Abhängigkeitsmodell 663 Abruf 235, 243, 251, 270 Langzeitgedächtnis 243–255 Abschlussgespräch 38, 45 Absolutschwelle 114–115 Abwehrstrategien 174 abweichendes Verhalten 549 Abweichung, als Etikett 589 Adaptation 471 sensorische 114, 116 Adaptationssyndrom 471 additive Farbmischung 127 ADHD siehe attention deficit hyperactivity disorder Adoleszenz körperliche Entwicklung 370–372 soziale Entwicklung 396–398 Adoptionsstudien, Schizophrenie 582 Adrenalin 459, 469 ADS siehe Aufmerksamkeits-Defizit-Störung Affekte 580 affektive Störungen 565–573 Ursachen 567–570 Aggression 15, 687–695 direkte Provokation 692 Eskalation 692–693 evolutionäre Perspektiven 687–688 individuelle Unterschiede 688–690 kulturelle Einschränkungen 693–695 Normen 695–696 situative Einflüsse 690–693 Temperaturabhängigkeit 691–692 Agoraphobie 559 Agranulozytose 623 Ähnlichkeit Gesetz der 144 Rolle bei Zuneigung 661 AIDS 490 Intervention 491 akademischer Erfolg, Einfluss der Motivation 448 Akkommodation 120, 373 Aktionspotenzial 77–79 Aktivationssynthese-Modell 176 akuter Stress 469 Akzentuierung, rekonstruktives Gedächtnis 263 Albtraum 177 Algorithmus 303 Alkohol 186 Alkoholismus 186
Alles-oder-nichts-Gesetz 78 Allport-Traits 507 Altern, soziale Entwicklung 409–410 Alternativerklärungen 31, 47 Altruismus und prosoziales Verhalten 680–686 Wurzeln 680–682 Alzheimer‘sche Krankheit 381 und Gedächtnis 267 Amakrinzellen 122 Ambiguität lexikalische 287–288 strukturelle 288–289 American Psychological Association (APA) 44, 47 Amerikanische Gesellschaft für Psychologie 44, 46 Ames‘scher Raum 150 Amnesie 268–269 anterograde 268 dissoziative 577 retrograde 268 Amphetamine 186 Amplitude 130 Amygdala 93, 267, 459, 510 analytische Psychologie 522 Anandamid 185 Androgene 431 Anforderungsmerkmale, Gehorsamkeit 698 Angst 519 Aufrechterhaltung 564 Angst lösende Medikamente 624 Angstsensibilität 564 Angststörungen 558–565 generalisierte 558 Ursachen 562–565 Ankerheuristik 315–316 Anlagen, Wechselspiel mit Umwelt 572 Anlage-Umwelt-Debatte 66, 373 Anlage und Umwelt 537, 572 Anorexia nervosa 427, 430 Anpassungsfähigkeit 335 Anreize 416 Antidepressiva 622–623 Antipsychotika 622–623 antisoziale Persönlichkeitsstörung 574–576 Ursachen 575 Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit 586 Apartheid, Versöhnung 708 Arbeitsgebiete von Psychologen 20 Arbeitsgedächtnis 241–243, 270 Arbeitsgedächtnisspanne 242 phonologische Schleife 242 visuell-räumlicher Notizblock 242 zentrale Exekutive 242 Arbeitsgedächtnisspanne 243 Arbeits- und Organisationspsychologen 18 Arbeitspsychologie 446–448 Archetyp 521 Archivdaten 42
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Anha n g
Asch-Effekt 675–676 Assimilation 373 rekonstruktives Gedächtnis 263 Assoziation 195, 200, 213 Erwerb 197 freie 601 Assoziationscortex 95 Ätiologie 555–558, 596 attention deficit hyperactivity disorder 587 Attraktivität, physische 660 Attribution Attribtionsstile 444 Erfolg und Mirsserfolg 444–446 optimistische 445 pessimistische 445 Attributionsfehler 638–639 Attributionsstil 569 Attributionstheorie 637 atypische Antipsychotika 623 Audience Design siehe Hörerbezug auditiver Cortex 131–132 auditives System 131 auditorischer Cortex 95 Auflösen von 657–659 Aufmerksamkeit 141–143, 166, 282 Filtertheorie 143 Fokus 141 Prozesse 280 Selektivität 280 unbeachtete Information 142 Aufmerksamkeits-Defizit-Störung 587–588 Aufmerksamkeits-Engpass 282 Aufmerksamkeitslenkung 142 aufschieben 473 Auge 119–120 Augenkammer 119 Augenkammerflüssigkeit 119 Augenscheinvalidität 329 Außergewöhnlichkeit 549 autistische Störung 587–589 Ursachen 588 autokinetischer Effekt 674 automatische Prozesse 280–281 autonomes Nervensystem 89, 459, 462, 469 Autonomie 389 autoritärer Erziehungsstil 393 Autoritäten, und Gehorsamkeit 699 autoritativer Erziehungsstil 393 Aversionstherapie 608 Axon 75 Azetylcholin 81 B Barbiturate 186 Basilarmembran 131–132 Basisebene 259 Bedürfnishierarchie 420–422 Bedürfnisse 420
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begleitende Liebe 662 Behaltensintervall 244 Behandlung 596 Gesundheitspsychologie 491 Behandlungsplan 552 behaviorales Modell 556 Behaviorismus 12, 193 radikaler 194 behavioristische Perspektive 11 behavioristisches Modell 563, 568 Behinderung 549 geistige 335 Belastungsstörung posttraumatische 475–476, 561–562 benefit finding 485 Benzodiazepinen 624–625 beobachtbares Verhalten 193 beobachterabhängige Urteilsverzerrung 28–29 Filter 28 beobachterabhängigie Urteilsverzerrung 48 Beobachtung direkte 41 unter natürlichen Bedingungen 41 Beobachtungslernen 225–228 Beratungspsychologen 598 Bereitschaftshypothese 562 Beruf, Burn-out und 497–498 Berufsverband Deutscher Psychologen und Psychologinnen (BDP) 44 Beruhigungsmittel 186 Berührungssinn 137–138 Bestrafung mittelbare 225 negative 209–210 positive 209–210 Bestrafungsreiz 209 Between-subjects-Designs 33 Bewegung für das menschliche Potenzial, humanistische Philosophie 617 Bewegungswahrnehmung 145–146 Bewusstsein 161–162 biologische Perspektive 166 exekutive Kontrollfunktion 167 Forschung 164, 167 Funktionen 166–169 Gewahr-Sein 162–164 Inhalte 162–166 Nutzen 166–167 Planungsfunktion 167 selektive Speicherfunktion 166 bewusstseinsverändernde Drogen 183–187 Bewusstseinsveränderungen 161–189 Bewusstseinszustände veränderte 177–183 Beziehungen soziale 659–666 über das Internet 665 Beziehungsdauer, Faktoren 663
Anhang E: Stichwortverzeichnis
Beziehungssystem 619 bildgebende Verfahren 100 Hirnforschung 269–271 Bindung 391–392 Fremde-Situation-Test 391 Bindungsstile, von Erwachsenen 662 Biofeedback 493 Biologie des Gedächtnisses 266–271 und Lernen 218–222 biologische Perspektive, Bewusstsein 166 biologische Ansätze affektive Störungen 567 Angststörungen 562 biologische Faktoren notwendige 585 Psychopathologie 556 biologische Geschlechtsunterschiede 402 biologische Marker, Gehirnfunktionen und 583 biologischen Uhr 169 biologische Perspektive 13 biologischer Marker 584 biologische Vorbereitung 221 biomedizinische Therapien 596, 621–626 biopsychosoziales Modell 486–487 bipolare Störung 566–567 Bipolarzellen 121 blinder Fleck 122 Blut-Hirn-Schranke 77 Body Mass Index 425 Bogengänge 138 Borderline-Persönlichkeitsstörung 573–574 Bottom-up-Prozesse 152–154 Botulismus 82 Bouffée delirante 555 Broca-Aphasie 96 Broca-Areal 84 Bulbus olfactorius 135 Bulimia nervosa 428, 430 Burn-out 497–498 soziale und situative Faktoren 497 C Cannabinoide 185 Cannabis 185 Cannon-Bard-Theorie der Emotion 461 Cerebellum 90, 92, 266 cerebrale Hemisphären 93 cerebraler Cortex 90, 93, 267 Cerebrum 90, 93 Chlorpromazin 623 Chromosomen 72 chronischer Stress 469, 471, 477 Chronotypen 30 Chunking 240 Cliquen 397 Clozapin 623 Cochlea 131–132
Compliance 491, 651–653 Coping 482 siehe auch Stresscoping Cornea siehe Hornhaut Cornu ammonis 270 Corpus callosum 93, 96 Cortex 460 auditiver 131–132 auditorischer 95 cerebraler 90, 93, 267 motorischer 94–95 visueller 122 cortikale Areale 124 cortikale Zellen 123 D Das-ist-noch-nicht-alles-Technik 655 Datenanalyse, und Schlussfolgerungen 52–63 date rape 438 deduktives Schließen 306–308 nicht-deduktive Strategie 308 Defizite, bipolare Störung 568 Deinstitutionalisierung 599–600 deklaratives Gedächtnis 245 Dendriten 75 Denken divergentes 353 kritisches 46 logisches 302–311 siehe auch kritisches Denken im Alltag Denken und Kultur, Sprachverwendung 293–294 Denkprotokolle, Methode des lauten Denkens 164 depolarisieren 78 Depression Geschlechterunterschiede 570–571 kognitive Therapie 613 Major 565–566, 569 Depressionstherapien, Evaluation 629 Deprivation 41, 194, 396 Desensibilisierung 226 systematische 606 deskriptive Dimensionen 507 deskriptive Statistik 54–59 desorganisierter Typus 581 Determinismus 26 psychologischer 517 reziproker 528 Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) 44, 47 Diagnose 596 psychologische 551 Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM) 553 Diagnostik 326–331 formale 327–331 Geschichte 326–327 und Gesellschaft 355–357 Persönlichkeit 538–544 im World Wide Web 339
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Anha n g
diagnostische Kategorien 553 Diagramme 55 Diät 427 Diathese-Stress-Hypothese 583 Diazepam 624 dichotisches Hören 143 differentielle Verstärkung 218 direkte Provokation 692 Disambiguierung 287 Diskriminationstraining 200 diskriminative Hinweisreize 210 diskriminative Reize 210 diskriminativer Hinweisreiz 211 dispositionale Faktoren 420 dispositionale Merkmale 620 Dispositionalität, humanistische Theorien 523 dispositionelle Variablen 5 Dissonanz, kognitive 649 Dissonanztheorie 648–650 dissoziative Amnesie 577 dissoziative Identitätsstörung 578 dissoziative Störungen 576–579 Ursachen 578 distaler Reiz 109–111 Distinktheit 638 Distraktion 382 Distress 469 divergentes Denken 353 DNS 72 Dopamin 82 Doppel-blind-Verfahren 32 Down-Syndrom 336 Drapetomanie 551 Drehtüreffekt 600 Dreifachkontingenz 210 Drogen bewusstseinsverändernde 183–187 Drogenabhängigkeit und Lernen 204 Drogenverlangen (Craving) 184 DSM siehe Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders DSM-IV-TR 335, 553–554 Dunkeladaptation 121 E eben merklicher Unterschied 117–118 Echolotortung 135 Ecstasy 187 Effekt, Gesetz des 206–207 Effekt glaubhaftigkeitsbasierter Urteilsneigung 307 Effekt partieller Verstärkung 216 Egozentrismus 374 eidetische Vorstellungskraft 238 Eifersucht 436 Eifersuchtswahn 582 Eigenschafts-Dimensionen 509 Einsichtstherapie 601 Einstellungen
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Compliance 651–653 und Handlungen 644–653 Persuasionsprozesse 646–651 Verfügbarkeit 645 und Verhalten 644–646 Ekstase, religiöse 182–183 ektomorph 505 Elaboration-Likelihood-Modell 646 elaborierendes Wiederholen 254 elaborierende Wiederholung 256 Elektroenzephalogramm (EEG) 87 Elektroenzephalogramms (EEG) 169 Elektrokrampftherapie 625–626 elektromagnetisches Spektrum 126 Elektroschock, Experiment von Milgram 697–698 elterliche Fürsorge 435 emotionale Defizite 568 emotionale Erinnerungen 562 emotionale Intelligenztheorien, Gardners 341–342 emotionales Einlassen 436 emotional writing 495 Emotionen 453–467 angeborene Reaktionen 455 Effekt der Darbietungshäufigkeit 462 Fehlinterpretation 462 Funktionen 463–466 Gesichtsausdrücke 456–457 kognitive Funktion 465 Kultureinfluss 457–458 Kulturvergleich 455–458 Motivation und Aufmerksamkeit 463 Physiologie 459 soziale Funktion 464 Theorien 459–463 Universalität 455–457 Emotionstheorie der kognitiven Bewertung 462, 479 Empathiefähigkeit 585 Empfindung 108 Empirismus 373 Endknöpfchen 76 endokrines System 98–100 endomorph 505 Endorphine 83, 139, 185 Engramm 266 Enkodieren 246, 251, 270 Enkodierspezifität 246, 256 Enkodierung 235, 249 Langzeitgedächtnis 243–255 Entscheiden 304, 311–322 Entscheidungsaversion 320 Entscheidungsfindung 316–317, 319 Bezugspunkte 318 in Gruppen 678 Entspannung 493 Entspannungsreaktion 493 Entwicklung 361–411 Erforschung 362–365 geistige 373
Anhang E: Stichwortverzeichnis
von Kindern 393 kognitive siehe kognitive Entwicklung körperliche siehe körperliche Entwicklung moralische 405–409 pränatale 365–370 psychosoziale 516 soziale siehe soziale Entwicklung Entwicklungsalter 363 Entwicklungspsychologie 362 Entzugserscheinungen, Abhängigkeit 184 Epilepsie 96 Equity-Theorie 447 Erblichkeit 72 Erblichkeitsschätzung 346 Ereignisse, von physikalischen zu mentalen 118 Erfolg akademischer 448 Attribution 444–446 Ergebnis 41 Ergenyl 624 Erikson, psychosoziale Stadien 388–390 Erinnern 263–266 stimmungsabhängiges 465 Erinnerungen emotionale 562 verdrängte 604 erlernte Hilflosigkeit 568 erogene Zonen 137, 516 Eros 515 erotische Reize 433 Erwachsenenalter körperliche Entwicklung 370–372 soziale Entwicklung 398–402 Erwartungen 641–643 Objekterkennung 154–155 Erwartungseffekte 31 Erwartungsmodell 447–448 Erwerb 200–202 Assoziation 197 Erziehungspraktiken 393 Erziehungsstile 393 Es 518 Eskalation 692–693 Essen 422–426 periphere Reaktionen 423 Physiologie 422–424 Psychologie 424–426 Sättigung 423 Übergewicht und Diäten 425 zentrale Reaktionen 423 Zwei-Zentren-Modell 423 Essstörungen 427, 430, 557 Essverhalten und Kultur 424 ethische Grundsätze der Forschung 43–48 Abschlussgespräch 45 Eugenik 327 Eustress 469, 485
Evolution Aggression 687–688 kulturelle 70 des Menschen 69 Sexualverhalten 435–437 Sprache 292–293 und Verhalten 67–71 evolutionäre Perspektive 14 evolutionäre Psychologie 74 Evolutionstheorie 69 exekutive Kontrollfunktion, Bewusstsein 167 Exemplare 262 existenzialistische Lehren 617 existenziellen Krisen 617 Experimentalbedingung 33 experimentelle Methoden 31, 43 Expositionstherapien 606–607 Expressed Emotion 585 Extension 387 Extinktion siehe Löschung Extraversion 508, 510 exzitatorische Inputs 77 Eysenck-Persönlichkeits-Kreis 508 F Fachterminologie 552 fade out 613 Fähigkeit zu kritischem Nachdenken 26 Faktorenanalyse 337 Fallstudie 42 Falschinformationseffekt 265 Familienähnlichkeit 259 Familienbeziehungen 585 Familienstudien, Schizophrenie 582 Familientherapie 619–620 Farbempfindungen 126 Farbenblindheit 128 Farbenkreis 127 Farbensehen 126–129 Theorie 128 Farbkombinationen 168 Farbmischung, subtraktive 128 Farbwerte 126 Fehlanpassungen 549 Feindbilder 702–703 Fernsehwerbespots im Nachtprogramm 655 feste Antwortalternativen 40 Fettleibigkeit 426 Figur und Grund 144 Filter-Kontrolltheorie 139 Filtertheorie, Aufmerksamkeit 143 FI-Pläne 217 Fissura lateralis 93 Fixierung 517 funktionale 305 Fluchtkonditionierung 209 Folter 608 formal-operatorisches Stadium 375
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Anha n g
Formatio reticularis 92 Formkonstanz 150–151 Forschung Bewusstsein 164, 167 ethische Grundsätze 43–48 Forschungsmethoden 25–49 Forschungsprozess, psychologischer 26–38 Fortpflanzung 431 Fortpflanzungsfähigkeit 372 Fovea 121 Fragebogen 40 Free Recall 247 freie Assoziation 601 Fremde-Situation-Test, Bindung 391 Frequenz 129 Freud‘sche Fehlleistung 517 Freud‘sche Psychoanalyse 515–522, 601–603 Kritik 520 psychologischer Determinismus 517 Struktur der Persönlichkeit 518 Triebe und psychosexuelle Entwicklung 515 Freud‘sche Traumanalyse 174 Freundschaften 397 Ende von 17 Frieden, und Konflikt 696–708 Friedenspsychologie 705–707 Frontallappen 93, 370 FR-Pläne 216 Frustrations-Aggressions-Hypothese 690 Führungsstile 705–706 Fünf-Faktoren-Modell 509 funktionale Fixierung 305 funktionale Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) 87 Funktionalismus 9 Furcht 559 Furchtkonditionierung 202 kleiner Albert 203 Furchtreaktion 200 Fürsorge 408 elterliche 435 Fuß-in-der-Tür-Technik 652 G GABA 82, 186, 426, 624 GAD2 426 Ganglienzellen 121, 123 Ganzberichtsmethode 237–238 Gardners multiple und emotionale Intelligenztheorien 341–342 Gebärmutterneid 521 Geburtskohorte 364 Geburtsreihenfolge 506 Gedächtnis 231–232, 281, 313, 381 Abruf 244 Alzheimer‘sche Krankheit 267 biologische Aspekte 266–271 deklaratives 234, 245 episodisches 245
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explizites 233, 244, 269 Hinweisreize beim Abruf 244 ikonisches 237–238 implizites 233, 244, 249–251, 269 kontextabhängige Gedächtnisleistungen 246–247 Langzeitgedächtnis 236 prozedurales 234 rekonstruktives 263–266 semantisches 245 sensorisches 236–243 Zeugenaussagen 264 Gedächtnisformen 233–235 Gedächtnisforschung, Hilfe bei Prüfungsvorbereitung 256 Gedächtnisinhalte 233 implizite 238 vorbewusste 163 Gedächtnisleistung, Verbesserung 254–255 Gedächtnisprotokolle 241 Gedächtnisprozesse 235–236 Gedächtnisrepräsentationen 262 Gedächtnisschwäche im Alter 381 Gedächtnisspanne 239–240 Gedächtnisstrukturen 258–263 Gefängnisexperiment, Stanford 671–673 Gegenfarbentheorie 128 Gegenkonditionierung 605–606 Gegenübertragung 602 Gehirn 83–86 Entwicklung 366 Plastizität 99 Prozesse 122–124 Strukturen 90–95, 268 Gehirnaktivität 87 bipolare Störung 567 Einfluss der Therapie 627 emotionale Erinnerungen 562 Gehirnfunktion im Alter 382 und biologische Marker 583 Gehorsamkeit, Experiment von Milgram 697–701 Gehorsamkeitsparadigma 697–698 geistige Behinderung 335 geistige Entwicklung 373 geistige Prozesse 277–282 Gender 402 Gene 72 Einfluss auf Psyche 86 und Übergewicht 426 generalisierte Angststörung 558, 624 Generalisierung 210 Generalisierungsgradienten 199 Generalisierungstechniken 612–613 General Procrastination Scale 473 Generativität 390, 401 Genetik 71, 86 genetische Faktoren, Übergewicht 426
Anhang E: Stichwortverzeichnis
genetische Ansätze 582 genetisches Risiko 583 Genom 72 Genotyp 69–70 Variationen 71–75 Geräusche 131 Gerechtigkeitsprinzip 408 Gerechtigkeitsstandard 408 Geruch 135 Geruchsrezeptoren 136 Geschlechterrollen, soziale Entwicklung 402–405 Geschlechterunterschiede, Depression 570–571 Geschlechtschromosomen 72 Geschlechtsidentität 404 Geschlechtsunterschiede 403, 408 Geschmack 135 Geschmacksaversionen 220–222 Lernen von 198 Geschmacksknospen 136 Geschmacksrezeptoren 137 Geschwisterkonflikte 36 Gesellschaft Einfluss auf Diagnostik 355–357 soziale Prozesse 670–708 Gesetz Alles-oder-nichts- 78 der Ähnlichkeit 144 der Geschlossenheit 144 der guten Fortsetzung 144 der Nähe 144 des Effekts 206–207 des gemeinsamen Schicksals 144 Weber‘sches 117–118 Gesichtsausdrücke 457 Gestaltpsychologie 143 Gestalttherapie 618 Gesundheit 453–500 biopsychosoziales Modell 486–487 Einfluss der Psyche 495 und Persönlichkeit 496–497 Vorsätze 498 Gesundheitsförderung 487–491 Gesundheitspraktiken 486 Gesundheitspsychologie 486–499 Behandlung 491 Gesundheitssystem, Burn-out und 497–498 Gesundheitsverhalten 487 Gewahr-Sein 162–164 Gewalt im Alltag 226 im Fernsehen 27, 32, 44, 226–227 Gewissen 518 g-Faktor 338 Glaskörperflüssigkeit 119 Gleichaltrige 397 Einfluss 398 Gleichgewichtssinn 138–139 Gliazellen 76
Glücklichsein 467 Grammatik, Spracherwerb 386–387 Größenkonstanz 150 Größenwahn 582 Großhirn 70, 90, 93 Großhirnrinde 94 Groupthink 678 Grundversorgungstheorie 394 Gruppen 397, 653–654 Entscheidungsfindung 678 und Völkermord 701–702 Gruppendynamik 705–706 Gruppenpolarisierung 678 Gruppentherapien 618–621 Gruppenvergleiche 345–346 Gyrus dentatus 270 H Habituation 193 Halluzinationen 112, 184, 580 Halluzinogene 184 Haloperidol 623 Handlungen und Einstellungen 644–653 zweckorientierte 560 Haschisch 185 Häufigkeitsverteilungen 54 Hautsinne 137–138 Heiler 629 Heldentum 701 Helligkeit 126 Helligkeitskonstanz 151 Hemisphärenlateralisation 95–98 Heroin 204 Heterosexualität 439 Heuristiken 304 und Urteilsbildung 311–316 Hexenprozesse 552 Hinweisreize 244 diskriminative 210 Hippocampus 92, 267, 270–271 Hirnanhangdrüse 99, 470 Hirnforschung, bildgebende Verfahren 269–271 Hirnstamm 90, 92 HIV 490, 495 Hochbegabung 336 Holismus 523 Homöostase 93, 204, 416 Homophobie 440 Homosexualität 439–442, 555 Anlage und Umwelt 439 und Gesellschaft 440 Hören 129–135, 371 dichotisches 143 Physiologie 131–135 Hörerbezug 283, 290, 292–293 Horizontalzellen 122 Hormone 98, 100
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Hörnerv 132 Hornhaut 119 Human Genome Project 72, 86 humanistische Perspektive 12 humanistische Theorien 522–525 Dispositionalität 523 Holismus 523 Kritik 524 Merkmale 522 Phänomenologismus 524 humanistische Therapien 617–618 human-potential movement 617 Hunger 423 Hyperaktivität 587 hyperkomplexe Zellen 123 Hyperthermie 187 Hypnose 178–180 Absorption 179 hypnotische Analgesie 180 Hypnotisierbarkeit 179 Induktion 179 Suggestion 179 Wirkungen 180 Hypochondrie 576 Hypothalamus 93, 99, 459, 469 lateraler 423 ventromedialer 423 Hypothese 27, 47 I ICD-10 335 Ich Abwehrmechanismen 518–519 materielles 531 soziales 531 spirituelles 531 Ich-Ideal 518 Ich-Integrität 390 Idee vom Selbst 162 Identifikation 108–114, 518–519 Prozesse 152–156 Identität 390 Identitätsstörung, dissoziative 578 ikonisches Gedächtnis 237–238 Immunsystemfunktion 494 Impulsivität 587 independentes Verständnis des Selbst 534, 639 induktives Schließen 309–311 Inferenzen 290–291 Inferenzstatistik 59–62 Informationseinfluss 674–675 Informationsverarbeitung 232, 465 In-Gruppen siehe Gruppen inhibitorische Inputs 77 Innenohr 132 Instinkte 418–419 Instinktverhalten 418 Instinktverschiebung 219–220
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Instrumentalität 447 instrumentelles Konditionieren 207 Integration räumliche 144–145 zeitliche 144–145 Intelligenz 325–355 analytische 340 außergewöhnliche 334–337 emotionale 342 fluide 338, 379 kreative 341 kristalline 338, 379 als Politikum 344–353 praktische 341 Quantifizierung 332 sensumotorische 373 Umwelt 348–349 Vererbung 346–347, 349 Intelligenzalter 332 Intelligenzdiagnostik 325–355 Intelligenzmessung, Ursprünge 332 Intelligenzminderung 335 Intelligenzquotient 333 siehe auch IQ Intelligenzstrukturmodell 338–339 Intelligenztheorien 337–341, 343 Gardners multiple und emotionale 341–342 psychometrische 337–340 Sternbergs triarchische 340–341 Interaktion 416 soziale 399 interaktionistische Perspektive 557 interdependentes Verständnis des Selbst 534, 639 Interferenz proaktive 253 retroaktive 253 Internalisierung 378–379 interne Konsistenz 328 internes Arbeitsmodell 391 Internet psychologische Informationen 47 das Selbst im 536 siehe auch World Wide Web Internet-Beziehungen 665 Interneurone 76 Interposition 148 Intervallpläne 216 fixierte 217 variable 217 intervenierende Variablen 507 Interventionsmethode, Versöhnung 708 Interview 40 Intimität 390, 398 Introspektion 193 Introspektionsfähigkeit 40 Invarianzprinzip 375–376 Ionenkanäle 78 IQ-Tests 332–334, 344, 351
Anhang E: Stichwortverzeichnis
Handlungsteil 333 HAWIE-R 333–334 Kultur und Validität von 350–353 Standford-Binet-Intelligenzskala 333 Verbalteil 333 IQ-Werte 336 Iris 119 Irrationalität 549 Isolation 390, 519 J James-Lange-Theorie der Emotion 460–461 Jetlag 169 Jugendliche, Suizid 571 K Kampf-oder-Flucht-Reaktion 469–470 Kataplexie 173 katatoner Typus 581 Katecholamine 82 Kategorien 224, 258 diagnostische 553 kausaler Faktoren 556 Kategorienassoziation 250 Kategorisierung 225, 258 soziale 653 Kategorisierungstheorien 261 Katharsis 601 Kausalität 36, 552 kinästhetischer Sinn 138–139 Kinder, Entwicklung von 393 Kindheit körperliche Entwicklung 365–370 psychische Störungen 587–589 soziale Entwicklung 390–396 kindorientierte Sprache 384 Kippfiguren 112 Klangfarbe 131 Klaps auf den Hintern 214 klassische Konditionierung 194–198, 200–202, 204–205, 209, 218, 222 Anwendungen 202–204 in der Krebstherapie 205 kleiner Albert, Furchtkonditionierung 203 Kleinhirn 90, 92 Klient 599 klientenzentrierte Therapie 617 klinische Psychologen 598 klinische Psychologie 548 klinische Sozialarbeiter 598 Knappheit 652 Kodierschema 328 Koffein 188 Kognition 465 Inhalte 276 bei Kleinkindern 377 und Lernen 222–228 Prozesse 276
Reaktionsauswahl 278 Reizkategorisierung/Reizklassifikation 278 soziale 635–666 im Tierreich 222–225 Untersuchung 277–283 visuelle 296–302 Kognitionswissenschaft 276–277 kognitive Aktivitäten 279 kognitive Bewertung 461, 463 primäre 479 sekundäre 479 kognitive Defizite 568 kognitive Dissonanz 649 kognitive Entwicklung 372–382 aktuelle Perspektiven 376 im Erwachsenenalter 379 Piagets Erkenntnisse 373–376 soziale und kulturelle Einflüsse 378 Stadien nach Piaget 374–375 kognitive Entwicklungspsychologie 372 kognitive Landkarte 223–224 kognitive Lerntheorien 525–531 kognitive Neurowissenschaften 14 kognitive Perspektive 13 kognitive Prozesse 275–323, 454 kognitive Psychologen 18 kognitive Psychologie 276 kognitives Modell 557, 564, 568 kognitive Strategien 482 kognitive Therapien 597, 613–617 kognitive Triade 568 kognitive Verhaltensmodifikation 616–617 Kohorte 364 Kohorteneffekt 364 Kokain 186 kollektives Unbewusstes 521 Kombinationspräparate 622 Kommunikationsfähigkeit 40 Komorbidität 553 Kompensation 381–382, 409 kompensatorische Reaktion 204 Kompetenz 389 Komplementärfarben 127 komplexe Zellen 123 konditionierte Reaktion 197 konditionierter Stimulus (CS) 197 Konditionierung 199–200 von Emotionen 202–203 klassische siehe klassische Konditionierung operante siehe operantes Konditionieren Pavlov‘sche 195–197 Prozesse 197–200 simultane 198 Wiederlernen 199 Konflikte, unbewusste 556 Konflikt und Frieden 696–708 Gehorsam gegenüber Autorität 696–701 Völkermord und Krieg 701–705
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Konformität 674–678 konkret-operatorisches Stadium 374 Konsens 638 Konsequenzen 210, 212 Lernen von 206–214 Konsistenz 638 interne 328 Konsistenzparadox 512 Konstruktvalidität 329 Kontakthypothese 658 Kontemplation 493 Kontext 246, 550 Objekterkennung 154–155 therapeutischer 596–601 kontextuelle Unterscheidbarkeit 248 Kontiguität 201 zeitliche 200 Kontingenz 198, 200–202, 211 bei der Verstärkung 208–212 Kontingenzmanagement 609–610 kontinuierliche Dimensionen 507 Kontinuum psychischer Gesundheit 550 Kontrastprinzip 385 Kontrollbedingungen 32–33 kontrollierte Prozesse 280–281 Kontrollwörter 564 konventionelle Moral 407 Konvergenz 146–147 Konversionsstörung 576 Konzepte 224, 258–259 Organisationsstruktur 260 konzeptuelles Verhalten 224 Kooperationsprinzip 283 Koro 555 körperliche Abhängigkeit 183 körperliche Entwicklung Adoleszenz 370–372 Erwachsenenalter 371 Kindheit 365–370 im Mutterleib 365 Phasen 365–372 pränatale 365–370 körperliche Zuwendung 394 Körpersäfte 505 Körperschema 427 Korrelation 58 und Kausalzusammenhang 36, 47 negative 35 positive 35 Korrelationskoeffizient negative Korrelation 35 Nullkorrelation 35 positive Korrelation 35 Korrelationsmethoden 35, 43 Krankheitsverlauf, Prognose 553 Kreativität 353–355 außergewöhnliche 354 Messung 353–354
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Krebstherapie und klassische Konditionierung 205 Krieg, Psychologie 703–705 Kriterium 329 Kriteriumsvalidität 329 kritisches Denken 46 kritisches Denken im Alltag Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit 586 Diagnostik im World Wide Web 339 Ecstasy 187 Einfluss der Gene auf Psyche 86 Einfluss der Therapie auf Gehirnaktivität 627 Ende von Freundschaften 17 Fernsehwerbespots im Nachtprogramm 655 Freiwillige gewinnen 686 Gesundheitspsychologie 492 Klaps auf den Hintern 214 Motivation und akademischer Erfolg 448 Politikexperten und Zukunftsvoraussagen 322 Prüfungsvorbereitung 256 psychologische Informationen im Internet 47 Sehfähigkeit 125 Selbst im Internet 536 Tagesstätten und Entwicklung von Kindern 393 Kultur und Aggression 693–694 Einfluss auf Essverhalten 424 individualistische 534 kollektivistische 534 soziale Prozesse 670–708 Validität von IQ-Tests 350–353 kulturell begrenzte Syndrome 555 kulturelle Konstruktionen der Realität 167 kulturvergleichende Perspektive 15 Kurzzeitgedächtnis 238–242 Kapazitätsbeschränkungen 239 L Lähmung des Willens 568 laissez-faire Erziehungsstil 393 Längsschnittplan 363–364 Längsschnittstudien 363 Langzeitgedächtnis 243–255, 270 Strukturen 258–268 Läsionen 85 latente Inhalte 517 latente Trauminhalte 602 Lautheit 130 Lautwahrnehmung und Wortwahrnehmung 384–385 LCU-Wert 473 Lebensalter 363 Lebensgeschichten 524 Lebensveränderungseinheiten 472 leidenschaftliche Liebe 662 Leidensdruck 549 Leistungsmotiv 443–444 Kontrollorientierung 444 Leistungsmotivation 442–450
Anhang E: Stichwortverzeichnis
leistungsorientierte Zielsetzung 448 leistungsvermeidende Zielsetzung 448 Lernbehinderung 336 Lernen 191–192, 195, 197, 199, 418 Biologie und 218–222 biologische Beschränkungen 219 und Drogenabhängigkeit 204 Erforschung 192–194 und Kognition 222–228 soziales 225, 610–612 Unterscheidung von Leistung 192 von Geschmacksaversionen 198 Lernerfolg 35 Lernprozesse 218 Lernschwächen 335 Lerntheorien nach Bandura 528–529 nach Cantor 529–530 kognitive 525–531 Kritik 530 nach Mischel 526–528 soziale 420, 525–531 lexikalische Ambiguität 287–288 Libido 516 Lichtintensität 126 Liebe 661–664 limbisches System 90, 92, 459 Linearperspektive 148 linguistischer Relativismus 294 Linse 119–120 Lithiumsalze 624 Lobotomie, präfrontale 625 logisches Denken 308 und Problemlösen 302–311 Löschung 197–198 Löschungsstrategien 609–610 LSD 185 Lügen, Gründe für 295 Lustprinzip 518 luzide Träume 177–178 M Macht der Situation 670–680 magnetische Stimulation, repetitive transkraniale 626 Magnetresonanztomographie (fMRT) 269 Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) 87 Major Depression 565–566 stimmungskongruentes Sicherinnern 569 manifeste Inhalte 517 manifeste Trauminhalte 602 manische Episode 566 MAO-Hemmer 623 Marihuana 185 Marker, biologischer 584 Maße, der zentralen Tendenz 56 maximizer 321 medikamentöse Therapie 621–625 Meditation 181–182
achtsame 181 konzentrative 181 religiöse Erfahrungen 182 Medulla oblongata 92 Mehrdeutigkeit 111–114, 287, 289 Mehrheiten, Konformität 674–678 Meinungsumfragen, und Einstellungsänderungen 38 Meissner-Körperchen 137 Menarche 370 Menopause 372 mentale Operationen 374 mentale Prozesse 277–282, 297 mentale Repräsentation 235 mentale Ressourcen 279–280 mentale Voreinstellung 310 mentale Vorstellungsbilder 298 Merkel-Zellen 137 mesomorph 505 Messung, psychologische 39–43 Metaanalyse 629 Metagedächtnis 256–258 Hypothese der Vertrautheit von Hinweisreizen 257 Zugänglichkeitshypothese 257 metamotivationale Zustände 417 Methode der Erlebnisstichprobe 165 Methode der Orte, Mnemotechniken 255 Methode des lauten Denkens 304 Denkprotokolle 164 Methoden experimentelle 31, 43 wissenschaftliche 2, 27 Milgram-Experiment 697–701 Minderheiten, Konformität 677 Misserfolg, Attribution 444–446 Mnemotechniken 254–256 Methode der Orte 255 Wäscheleinemethode 255 Modelle Aktivationssynthese 176 Angststörungen 563 behaviorale 556 behavioristische 563, 568 biopsychosoziale 486–487 bipolare Störung 568 Elaboration-Likelihood- 646 Fünf-Faktoren- 509 kognitive siehe kognitives Modell psychodynamische siehe psychodynamisches Modell Psychopathologie 556 räumliche mentale 299–300 soziokulturelle 557 Zwei-Zentren- 423 Modelllernen, Verhaltenstherapien 611 Monoaminoxidasehemmer 623 Moral 405 konventionelle 407 moralische Entwicklung 405–409 Dilemmata 406, 408
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Anha n g
moralisches Urteil 408 Geschlechterperspektive und kulturelle Perspektive 407 Stufen 406–407 Morphem 387 Morphium 185 Motivation 413–414, 421, 448 Definition 414–422 Einfluss auf akademischen Erfolg 448 Erwartungen 419–420 Funktion 414–415 kognitive Ansätze 419 Motivationsquellen 415–420 motivationale Defizite 568 motorischer Cortex 94–95 Motorneurone 76 multiple Interpretationen 111 multiple Persönlichkeitsstörung 578 multiple und emotionale Intelligenztheorien, Gardners 341–342 Musik, und Gefühle 102 Mustererkennung 122 Myelinscheide 76 N Nachahmung 610 Nachbild, negatives 127 nAch-Wert 443 Nahpunkt 120 Naloxon 83 Narkolepsie 173 Nativismus 373 natürliche Selektion 166 Nebennierenmark 469 Nebennierenrinde 470 Necker-Würfel 112 negative Korrelation 35 Negativität 581 neo-freudianische Therapieformen 603 Nervensystem 75–83, 88–90 autonomes siehe autonomes Nervensystem parasympathisches 90 peripheres 88 somatisches 89 Struktur 90 sympathisches 90 zentrales 88 Neurogenese 99–102 neuro-kulturelle Theorie 457 Neuromatrixtheorie 139 Neuron 75–76 Neurosen 553 neurotische Störungen 553 Neurotizismus 508 Neurotransmitter 80–83, 624 Neurowissenschaft 75, 84 neutraler Stimulus 197 nichtdirektive Therapie 618
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Nikotin 188 Nikotion-Ersatz-Therapie 490 Nivellierung, rekonstruktives Gedächtnis 263 Nonkonformität 677 Noradrenalin 459, 469 Norepinephrin 82 Normalverteilung 59 normative Untersuchungen 363 Normen 330, 363 aggressiven Verhaltens 695–696 Sexualverhalten 437–439 soziale 673–674 Normeneinfluss 675–676 Normenkristallisierung 674 Normenverletzung 549 Normstichprobe 330 Notfallreaktionen 469 Notfallreaktionssystem des Körpers 459 Notfallsituationen, Eingreifen Umstehender 683–685 Nötigung 211 notwendige Bedingung, psychische Störungen 550 NREM-Schlaf 169–171, 174 Konservierung 171 Regenerierung 171 Nucleus Cochlearis 132 Nullkorrelation 35 O Obdachlosigkeit 600 Oberflächenbeurteilungen 251 Objekterkennung Kontext und Erwartungen 154–155 objektive Tests 538–541 MMPI 539 NEO-PI 541 Objektivität 28, 31 psychische Störungen 550–551 Objektpermanenz 374, 378 observer bias siehe beobachterabhängige Urteilsverzerrung Ödipuskomplex 516 offene Fragen 40 Ohr 132 Ohrmuschel 131 Okklusion 148 ökologische Nischen 67 Okzipitallappen 93, 122 olfaktorische Zilien 135 operantes Konditionieren 206–209, 212, 218–219 Operationalisierung operationale Definition 29, 39–43, 47 Opiate 185, 204 Optimierung 381, 409 Optimismus 445 optischer Trakt 122 optisches Chiasma 122 Organisationspsychologie 446–448 organismische Variablen 5
Anhang E: Stichwortverzeichnis
Orientierungsreaktion 195 Ortserkennung 122 Ortstheorie 133 Östrogen 99, 431 Out-Gruppen siehe Gruppen P Paarbindung 435 Paartherapie 619–620 Panikstörung 558–559 Papillen 136 paranoider Typus 581 paranoide Wahnvorstellungen 188 parasympathisches Nervensystem 90 paratelische Zustände 418 Parental Bonding Instrument (PBI) 575 Parietallappen 93 Patient 599 Pavlov’sche Konditionierung 195–197 PBI siehe Parental Bonding Instrument PBS 561 PCP 185 peer group siehe Gleichaltrige peer review 47 peripheres Nervensystem (PNS) 88 Personenvariablen 527 persönliche Konstruktion der Realität 167 Persönlichkeit 503–504 Definition 504 und Gesundheit 496–497 Persönlichkeitsdiagnostik 538–544 Persönlichkeits-Kreis, nach Eysenck 508 Persönlichkeitsspaltung 578 Persönlichkeitsstörungen 573–576 multiple 578 Persönlichkeitsstruktur 508, 513 Persönlichkeitstests 538–544 Persönlichkeitstheorien 504–515 psychodynamische 515–522 Vergleich 537–538 Persönlichkeitstypen 505–513 Perspektive behavioristische 11 biologische 13, 166 evolutionäre 14 humanistische 12 interaktionistische 557 kognitive 13 kulturvergleichende 15 psychodynamische 11 Persuasionsprozesse 646–651 Perzept 108 perzeptuelle Instabilität 111 perzeptuelle Organisation 108–114 räumliche Integration 144 räumliche Tiefe 146–149 zeitliche Integration 144 Pessimismus 445
Phänomenologismus, humanistische Theorien 524 Phänotyp 69 Phantasie 519 Phasenkopplung 133 Phenylketonurie 336 Pheromone 135, 432 Phi-Phänomen 146 Phobien 221, 559–560 Phonem 383 Phonemergänzung 154 Photorezeptoren 121 Physik, des Schalls 129–130 Physiologie 431 Essen 422–424 Hören 131–135 physiologische Stressreaktionen 469–472 physische Attraktivität 660 Piagets Erkenntnisse, kognitive Entwicklung 373–376 Placeboeffekt 32–33, 37, 629 Placebo-Kontrollgruppe 33 Plastizität, und Neurogenese 99–102 Politikexperten, und Zukunftsvoraussagen 322 Pons 92 Ponzo-Täuschung 149 Population 33 positive Korrelation 35 positive Psychologie 485 positive Verstärkung 609 positive Wertschätzung, unbedingte 522 Positronen-Emissions-Tomographie (PET) 87, 269 postkonventionelle Moral 407 posttraumatische Belastungsstörung 475–476, 561–562 posttraumatisches Wachstum 485 prädiktive Validität siehe Kriteriumsvalidität Prädispositionen 507 Prävalenz Prävention präfrontale Lobotomie 625 pragmatisches Schlussfolgerungsschema 308 Prägung 391 Präkontemplation 493 präkonventionelle Moral 407 pränatale Entwicklung 365–370 pränatale Phase 365 präoperatorisches Stadium 374 Prävalenz, Autismus 588 Prävention sekundäre 631 tertiäre 631 Präventionsstrategien 628–632 Primacy-Effekt 248 primäre Verstärker 213 Prinzip der Erhaltung 375 Problem schlecht definiertes 303 wohldefiniertes 303 Problemlösen 466 analoges 309
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Anha n g
und logisches Denken 302–311 Problemraum 302–303 Prognose 596 des Krankheitsverlaufs 553 Projektion 519 projektive Tests 541–544 Rorschach-Test 542 TAT 543 Propositionen 290 prosoziales Verhalten 680–686 Effekte der Situation 683–685 Motive für 682–683 Prototypen 259, 262 Provokation, direkte 692 proximaler Reiz 109–111 Prozac 623 Prozesse automatische 280–281 Bottom-up- 152–154 Gehirn 122–124 geistige 277–282 Identifikation 152–156 kognitive 275–323, 454 Konditionierung 197–200 kontrollierte 280–281 mentale 277–282, 297 sensorische 107–157 soziale 670–708 Sprachproduktion 286 therapeutische 596 Top-down- 152–154 unbewusste 163 Wiedererkennen 152–156 Prüfungsvorbereitung, Gedächtnisforschung 256 Psychiater 598 psychische Abhängigkeit 184 psychische Erkrankung, Stigma 589–590 psychische Gesundheit, Kontinuum 550 psychische Störungen 547–591 Aufmerksamkeits-Defizit-Störung 587–588 ausreichende Bedingung 550 autistische 587–589 Beschaffenheit 548–558 Kindheit 587–589 Klassifikation 551–555 Objektivität 550–551 psychische Stressreaktionen 472–478 psychoaktive Substanzen Alkohol 186 Amphetamine 186 Barbiturate 186 Cannabis 185 Haschisch 185 Heroin 185 Koffein 188 Kokain 186 LSD 185 Marihuana 185
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Morphium 185 Nikotin 188 PCP 185 Psychoanalyse 174 Freud’sche 515–522, 601–603 Psychoanalytiker 598 psychoanalytische Ansätze, Psychotherapie 614 Psychobiografie 524 Psychochirurgie 625 psychodynamische Theorien 515–522 psychodynamische Perspektive 11 psychodynamischer Ansatz 597 psychodynamisches Modell 556, 563 affektive Störungen 568 psychodynamische Theorien, Erweiterungen 521 psychodynamische Therapien 601–604 Psychologie als Wissenschaft 1–22 analytische 522 Einzigartigkeit 2–8 Entwicklung 8–17 Essen 424–426 evolutionäre 74 klinische 548 kognitive 276 von Konflikt und Frieden 696–708 positive 485 Studium der 46 von Völkermord und Krieg 701–705 Ziele der 4 Psychologie im Alltag Alzheimer‘sche Krankheit 267 ausreichend Schlaf 175 Gehirnfunktion im Alter 382 Gene und Übergewicht 426 Glücklichsein 467 Intelligenztheorien 343 Internet-Beziehungen 665 klassische Konditionierung in der Krebstherapie 205 Lügen 295 Meinungsumfragen und Einstellungsänderungen 38 Musik und Gefühle 102 Psychologie studieren 7 scharfe Speisen und Schmerz 140 Schüchternheit 513 verdrängte Erinnerungen 604 Versöhnung 708 Wechselspiel von Anlage und Umwelt 572 psychologische Diagnose 551 psychologische Diagnostik 326 psychologische Faktoren hinreichende 585 Psychopathologie 556 psychologische Fragestellungen 19 psychologische Informationen, im Internet 47 psychologische Messung 39–43 psychologischer Determinismus 517 Psychometrie 337–340
Anhang E: Stichwortverzeichnis
psychometrische Funktion 115 psychomotorisches Verhalten 580 Psychoneuroimmunologie 494 Psychopathologie, Ätiologie 555–558 Psychopharmakologie 622 Psychophysik 114–118 Psychosen 555 psychosomatische Störungen 472 psychosoziale Entwicklung, Phasen nach Freud 516 psychosoziale Reife 402 psychosoziale Stadien, nach Erikson 388–389 Psychotherapie 595–596 psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Ansätze 614 psychotische Störungen 555 Psychotizismus 508 Psylocibin 183 pubertärer Wachstumsschub 370 Pubertät 370 Pupille 119–120 Pygmalion-Effekt 641 Q Quantifizierung 39 Querschnittplan 364 Querschnittstudien 363 Quotenpläne fixierte 216 variable 216 R Rahmung 317–318 Rahmungseffekt 318 Ranvier‘sche Schnürringe 79 Rapport 40 Rassismus 654 Versöhnung 708 rational-emotive Therapie 615 Rationalisierung 519 Rauchen Nikotion-Ersatz-Therapie 490 Phasen des Aufhörens 489 räumliche Integration 144–145 räumliches mentales Modell 299–300 räumliche Tiefe, Wahrnehmung 146–149 Reaktion 210 kompensatorische 204 konditionierte 197 Reaktionsbildung 519 Reaktionsentzug 213 Reaktionszeiten 278, 280 Realität kulturelle Konstruktion 167 soziale siehe soziale Realität Realitätsprinzip 518 Realitätsverleugnung 519 Reflex 197 Refraktärphase 79
Regeln, und Rollen 670–673 Regierungsformen, Friedenspsychologie 705–706 Regression 519 Rehearsal 239–240 Reifung 369–370 Reisdiskrimination 200 Reiz 116, 119, 155–158, 195 distaler 109–110 proximaler 109–111 Reizdiskrimination, Diskriminationstraining 200 Reizgeneralisierung 199–200, 203, 211 Reizgeneralisierungsgradienten 199 reizinduzierte Vereinnahmung 141 Reiz-Reaktions-Verbindung, S-R-Verbindung 207 rekonstruktives Gedächtnis 263–266 relative Bewegungsparallaxe 148 Reliabilität 39, 328, 330 religiöse Ekstase 182–183 REM 169 REM-Schlaf 170, 172–174 repetitive transkraniale magnetische Stimulation 626 Repräsentationen verbale 298–302 visuelle 296–298 Repräsentativitätsheuristik 314–316 residualer Typus 582 Response Bias 116 RET siehe rational-emotive Therapie Retina 119–122 retinale Bahnen 121 retinale Querdisparation 146–147 retinales Abbild 109 retroaktive 253 retroaktive Hemmung 253 Reversal-Theorie 417–418 Reversibilität 375 rezeptives Feld 123 Rezeptormoleküle 80 reziproken Inhibition 606 reziproker Altruismus 681 reziproker Determinismus 528 Reziprozität, Rolle bei Zuneigung 661 Reziprozitätsnorm 651 Risiko, genetisches 583 Risiko/Nutzen-Abwägung 44 Rollen, und Regeln 670–673 Rorschach-Test 542 rTMS siehe repetitive transkraniale magnetische Stimulation Rückenmark 88 Rückwärtskonditionierung 198 Ruhepotenzial 78 S Sacculus 138 satisficer 321 Sättigung 126 Satzbedeutung 282
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Anha n g
Satzstrukturen 288 Säugling, visuelles System 368 Schall Physik 129–130 psychische Dimensionen 130–131 Schalldruck 131 Schalllokalisierung 134 Schallquellen Lokalisierung 134 Schallschatten 134 scharfe Speisen, und Schmerz 140 Schema 260, 373 des Selbst 261 Schilddrüse 470 schizophrene Störungen 579–586 Prävalenz 579 Typen 581–582 Schizophrenie 47, 578 Hauptformen 580–582 medikamentöse Therapie 625 Ursachen 582–585 Schlaf 169–175 Notwendigkeit 175 Schlafapnoe 173 Schlaflosigkeit 172 Schlafmangel 175 Schlafmuster 171 Schlafphasen 170–171 Schlaf-Spindeln 170 Schlafstörungen 172–173 Schlafwandeln siehe Somnambulismus Schlafzyklus 169–170 Stadien 170 Schlüsselreiz 200 Schlussfolgern 310 Schlussfolgerungen, aus Datenanalyse 52–63 Schmerz, Sinn 139–140 Schmerzrückzugsreflex 77 Schüchternheit 507, 513–514 Schulpsychologen 18 Schwangerschaft 366 Seelsorger 598 Sehbahnen 123 Sehen 371 Sehfähigkeit, Verbesserung durch Technik 125 Sehnerven 122 sekundäre Prävention 631 Selbst Idee vom 162 independentes Verständnis 534, 639 interdependentes Verständnis 534, 639 im Internet 536 Schema des 261 Selbst-Beeinträchtigung 533 Selbstberichtsverfahren 40, 539 Selbstbild, Theorien 531–536 Selbstdarstellung 533 selbsterfüllende Prophezeiungen siehe Self-fulfilling
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Prophecies Selbsterhaltung 515 Selbstförderung 535–536 Selbsthilfegruppen 620–621 Selbstkonstrukte, Kultur und Aggression 693–694 Selbstkonzept 167, 531–532 kulturelle Konstruktion 534–536 Selbstregulation 493 Selbstschemata 531 Selbstverwirklichung 421, 522 Selbstwahrnehmungstheorie 650–651 Selbstwertgefühl 532–535 Selbstwertschätzung 523 Selbstwirksamkeit 528–529, 616 Selektion natürliche 67, 70, 166 selektive Speicherfunktion, Bewusstsein 166 selektive Optimierung mit Kompensation 381, 409 selektiver Vorteil 69 selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer 623 Selektivität, Aufmerksamkeit 280 Self-fulfilling Prophecies 641–642 Self-Serving Bias 640 Seltenheit, statistische 549 sensation seeking 489 sensorische Adaptation 114, 116 sensorische Neurone 76 sensorische Prozesse 107–157 sensorisches Gedächtnis 236–243 sensorisches Wissen 114–119 sensumotorische Intelligenz 373 sensumotorisches Stadium 374 Serial Recall 247 serielle Position 256 serieller Positionseffekt 247 Serotonin 83 Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer 624 Set mentales 155 motorisches 155 perzeptuelles 155 Sexismus 654 Sexualität 372 Sexualverhalten 431–442 Evolution 435–437 bei Menschen 433–434 Normen 437–439 Skripte 438 Stereotype 432 Strategien 435 bei Tieren 431–433 sexuelle Erregung 433 sexuelle Störungen 557 Shaping 208, 217–218 Shuttlebox 200–201 Sicherinnern 263–266 stimmungskongruentes 569 Signalentdeckungstheorie 116–117
Anhang E: Stichwortverzeichnis
Signifikanz, statistische 60–62 simultane Konditionierung 198 Sinnesrezeptoren 108, 119 Sinuswellen 129 Situation, Macht der 670–680 situationale Faktoren 420 situationale Variablen 5 situationsbedingte Schwierigkeiten 620 situative Einflüsse, Aggression 690–693 Skinnerbox 208, 217 SLIP-Technik 167, 286 Soma 75 Somatisationsstörung 576 somatisches Nervensystem 89 somatoforme Störungen 576–579 Ursachen 577 somatosensorischer Cortex 94–95 Somnambulismus 173 Sophora-Samen (Meskalin-Bohnen) 183 Source-Traits 508 Soziabilität 166 soziale Beziehungen 659–666 soziale Entwicklung 388–402 Adoleszenz 396–398 Altern 409–410 Beziehungen 397 Erwachsenenalter 398–402 Geschlechterrollen 402–405 Kindheit 390–396 Moral 405–409 Tagesstätten 395 soziale Erwünschtheit 40 soziale Fertigkeiten 611 soziale Interaktion 399 soziale Kategorisierung 653 soziale Kognition, und Beziehungen 635–666 soziale Lerntheorien 420, 525–531 soziale Normen 673–674 soziale Phobien 559–560 soziale Prozesse 670–708 soziale Realität Attributionsfehler 638–639 Attributionstheorie 637 Erwartungen 641–643 Konstruktion 636–643 Self-fulfilling Prophecies 641–642 Self-Serving Bias 640 soziale Rolle siehe Rollen und Regeln soziales Lernen 225, 610–612 soziale Unterstützung 483–484 soziale Wahrnehmung 637 Sozialisation 390 Sozialisationsziele 393 Sozialpsychologen 18 Sozialpsychologie 636 Soziobiologie 74 soziokulturelles Modell 557 Spannungsreduktion 525
Speicherung 235 Spezies 99 spezifische Phobien 559–560 Split-brain-Patienten 96 Spontanremission 198, 209, 628 Spoonerismus 167, 285 Sprache 580 und Evolution 292–293 kindorientierte 384 Struktur 383 Spracherwerb 383–387 Grammatik 386–387 Lautwahrnehmung und Wortwahrnehmung 384–385 Wortbedeutung 385–386 Spracherwerbsfähigkeit Operationsprinzipien 386–387 Stadium der Zwei-Wort-Sätze 386 Sprachproduktion 283–284 Gruppenmitgliedschaft 284 Hörerbezug 283 physische Kopräsenz 285 Prozesse 286 Repräsentationen 287 sprachliche Kopräsenz 284 Sprechvorgang 285 Versprecher 285 Sprachproduktionsplanung 286 Sprachstruktur 292 Sprachverstehen 287–292 lexikalische Ambiguität 287–288 strukturelle Ambiguität 288–289 Verstehensresultate 290 Sprachverwendung 282–295 Äußerungsbedeutung 282 Denken und Kultur 293–294 bei Tieren 292 Sprechvorgang 285 Spurenkonditionierung 198 Sresscoping emotionsorientiertes 480 SSRI siehe selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Stäbchen 121 Stammzellen 101 Standardisierung 29, 330–331 Standard-Recency-Effekt 248 Stanford Gefängnisexperiment 671–673 Statistik 52–63 deskriptive 54–59 Missbrauch 62 statistische Seltenheit 549 statistische Signifikanz 60–62 Stereotype 351–352, 355, 656–657 Sexualverhalten 432 Sternbergs triarchische Intelligenztheorien 340–341 Stichprobe repräsentative 33 Stigma, der psychischen Erkrankung 589–590 stimmungsabhängiges Erinnern 465
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Anha n g
stimmungskongruentes Sicherinnern 569 stimmungskongruente Verarbeitung 465 Stimmungstief 566 Stimulanzien 186 Stimulation, repetitive transkraniale magnetische 626 Stimulus 195 konditionierter 197 Störungen Stoffwechsel 426 Störungen affektive 565–573 bipolare 566–567 dissoziative 576–579 neurotische 553 psychische siehe psychische Störungen psychosomatische 472 psychotische 555 schizophrene siehe schizophrene Störungen sexuelle 557 somatoforme 576–579 substanzinduzierte 557 Stress 453–500 akuter 469 Alltagsprobleme 477 Anfälligkeit 483 chronischer 469, 471, 477 kognitive Bewertung 479 physiologische Reaktionen 469–472 positive Effekte 485–486 psychische Reaktionen 472–478 Reaktion 470 Stressimpfung 482 Stressmodell 468 traumatische Ereignisse 475 Stresscoping 478–485 antizipatorisches 480 Formen 480 Neubewertung 482 problemorientiertes 480 Restrukturierung 482 soziale Unterstützung 483 Stressoren 471, 477–478 chronische 476 kontrollierbare 481 umweltbedingte 585 unkontrollierbare 481 Stresszentrum 469 Striatum 266 Strukturalismus 9 strukturelle Ambiguität 288–289 Studium der Psychologie 46 Subiculum 270 Sublimierung 519 substanzinduzierte Störungen 557 Sucht 183–184 Suffix 293 Suggestion 179 Suizid 571
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Sulcus centralis 93 symbolisches Modelllernen 611 sympathisches Nervensystem 90 Symptomverschiebung 605 Synapse 80 synaptischer Spalt 80 synaptische Übertragung 80–81 synaptische Vesikel 80 systematische Desensibilisierung 606 T Tagesstätten, und Entwicklung von Kindern 393 Taijin kyofusho 555 TAT, projektive Tests 543 Teilberichtsmethode 237–238 teilnehmendes Modelllernen 611 Telegrammstil 386 telische Zustände 418 Temperament 390, 505 Temporallappen 93 tertiäre Prävention 631 Testhalbierungs-Reliabilität 328 Testosteron 99, 403, 433 Tests Persönlichkeit 538–544 projektive 541–544 Textsituationen 291 Texturgradient 149 Thalamus 90, 92 Thanatos 516 That‘s-Not-All (TNA) technique 655 thematischer Apperzeptionstest 442 Theorie des Bewusstseins 378 Cannon-Bard- 461 Equity- 447 des Geistes 589 James-Lange- 460–461 neuro-kulturelle 457 des Reaktionsentzugs 213 Reversal- 417–418 des Selbst 531–536 der selektiven sozialen Interaktion 401 trichromatische 128 Theorien 26, 47 der Emotion 460–461 humanistische siehe humanistische Theorien psychodynamische 515–522 Trait- 513 therapeutische Effektivität 628–632 therapeutischer Kontext 596–601 geschichtlicher und kultureller 599–601 Therapieziele und -formen 596–597 therapeutischer Prozess 596 therapeutisches Bündnis 599 Therapie Einfluss auf Gehirnaktivität 627 klientenzentrierte 617
Anhang E: Stichwortverzeichnis
Rahmenbedingungen 597–599 Ziele der 596 Therapieevaluation 628–632 Therapieformen 596–597 neo-freudianische 603 Therapien 595–633 biomedizinische 621–626 Entwicklung besserer 630 humanistische 617–618 kognitive 597, 613–617 psychodynamische 601–604 Therapieziele 596–597 Tiefenbeurteilungen 251 Tiefenkriterien binokulare und bewegungsinduzierte 146 monokulare 148 Texturgradient 149 Tiere Sexualverhalten 431–433 Sprachverwendung 292 Tierforschung 45 Tierreich, Kognitionen 222–225 Tierversuche 45 TNA siehe That‘s-Not-All technique Todesursachen 488 Token Economies 609 Tokensysteme 213 Tonhöhe 130 Tonhöhenwahrnehmung 133 Top-down-Prozesse 152–154 Traits 505–513 nach Allport 507 Dimensionen 508 Fünf-Faktoren-Modell 508 kardinale 507 sekundäre 508 situationsübergreifende Konsistenz 511 und Vererbung 510–511 Verhaltensvorhersage 511–513 zentrale 507 Trait-Theorien, Bewertung 513 Trance 178, 188 Transduktion 119 transferadäquate Verarbeitung 250–251 Tranylcypromin 623 Traum 169–174 Interpretation 174 latenter Inhalt 174 luzider 177–178 manifester Inhalt 174 physiologische Theorien 176 transitorische Psychosen 174 Wunsch 174 Zensur 174 Traumanalyse 174, 602 Traumarbeit 174 Traumdeutung 602 Traumforschung 176
triarchische Intelligenztheorien, Sternbergs 340–341 trichromatische Theorie 128 Triebe und psychosexuelle Entwicklung 515 Spannungsreduktion 416 Trizyklika 623 trizyklische Antidepressiva, Wirkungsweise 623 Trommelfell 131 Twenty Statements Test 534–535 Typen, Persönlichkeit 505–513 Typologien, Bewertung 513 U Übergeneralisierung 387 Übergewicht und Gene 426 genetische Faktoren 426 Über-Ich 518 Überprüfbarkeit 27 Übertragung 602 synaptische 80–81 Überzeugungssysteme, falsche 613–616 Übergewicht und Diäten 425 Umfrage 40 Umstehende, Eingreifen in Notfallsituationen 683–685 Umwelt Einfluss auf Intelligenz 348–350 Wechselspiel mit Anlagen 537, 572 umweltbedingte Stressoren 585 Umweltbedingungen 508 Umweltdeterminanten 194 Umweltvariablen 5 unbeachtete Informationen 163 Aufmerksamkeit 142 unbedingte positive Wertschätzung 522, 617 Unbehagen, bei Beobachtern 549 unbewusste Konflikte 556 Unbewusstsein 164 undifferenzierter Typus 582 unkonditionierte Reaktion 197 unkonditionierter Stimulus 197 Unterschiedsschwelle 117 unterschwellige Beeinflussung 36 Werbung 37 Unzurechnungsfähigkeit, Antrag auf 586 Urteilen 304, 311–322 Urteilsbildung, und Heuristiken 311–316 Urteilsverzerrung 28 beobachterabhängige 48 Betrachter 29 Utriculus 138 V Valenz 447 Validität 39, 329–330 prädiktive siehe Kriteriumsvalidität Valium 624 Variabilität 57
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Variable abhängige 29, 34 konfundierende 31 unabhängige 29, 34 Ventrikelgröße 584 veränderte Bewusstseinszustände 177–183 Verantwortungsdiffusion 684 Verarbeitungsressourcen 280 Verarbeitungstiefe 249 verbale Repräsentationen, Kombination mit visuellen 298–302 Verbindlichkeit 652 verdrängte Erinnerungen 604 Verdrängung 164, 518–519, 601 Vererbung 71 Intelligenz 346–347 Traits 510–511 und Verhalten 66–75 Verfolgungswahn 581 Verfügbarkeit, von Einstellungen 645 Verfügbarkeitsheuristik 312–313, 316 Vergessen 251–252 Vergessenskurve 252 Vergewaltigung 438 Verhalten 2 abweichendes 549 biologische Grundlagen 65–104 und Einstellungen 644–646 erwartungsbestätigendes 642–643 evolutionäre Grundlagen 65–104 konzeptuelles 224 prosoziales 680–686 psychomotorisches 580 Verhaltensanalyse 191–229 und Behaviorismus 193 experimentelle 207–208 verhaltensbezogenen Neurowissenschaften 14 Verhaltensdaten 4 Verhaltensgenetik 72, 510 Verhaltensmaße 40, 42 Verhaltensmodifikation 605 kognitive 616–617 Verhaltenspotenzial 192 verhaltenstherapeutische Ansätze, Psychotherapie 614 Verhaltenstherapien 597, 605–615 Verhaltensvariabilität 415 Verhaltensvorhersage, Traits 511–513 Verhaltensweisen erproben 611 Vermeidungskonditionierung 209 vernachlässigender Erziehungsstil 393 Verschiebung 519 Versöhnung 708 Versprecher 285 Verstärker 208 konditionierter 212–213 positiver 213 primärer 212–213 Verstärkereigenschaften 212–214
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Verstärkerpläne 214, 216–217 fixiert 216 variabel 216 Verstärkung 210–211 differentielle 218 Kontingenzen 208–212 mittelbare 225 negative 209–210 partielle 216 positive 209–210, 609 sekundärer Gewinn 212 Verstärkungsgeschichte 525 Verstärkungsprinzipien 227 Verstehensprozesse 290 Versuch und Irrtum 207 Vertrauen 388 Vertrautheit 530 verzögerte Konditionierung 198 Verzweiflung 390 VI-Pläne 217 visuell-räumlicher Notizblock, Arbeitsgedächtnis 242 visuelle Information 96 visuelle Klippe 368–369 visuelle Kognition 296–302 visueller Cortex 95 visuelle Repräsentationen 296–298 Kombination mit verbalen 298–302 visuelles System 119–125 bei Säuglingen 368 visuelle Vorstellungen 299 Völkermord, Psychologie 701–705 vorsätzliche Täuschung 44 Vorurteile 653–659 Auflösen von 657–659 Fernsehwerbespots im Nachtprogramm 655 kulturelle 696 Stereotypen 656–657 VR-Pläne 217 W Wachstum 369 posttraumatisches 485 Wachstumsmuster 369 Wäscheleinemethode, Mnemotechniken 255 Wahnvorstellungen 580 paranoide 188 Wahrnehmung 107–108 soziale 637 Stufen der 110–114 Wahrnehmungsgruppierung 143–144 Wahrnehmungskonstanz 149–152 Wahrnehmungsorganisation 141–152 Wahrnehmungstäuschungen 112–113 im Alltag 113 Wason‘sche Auswahlaufgabe 308 Weber‘sche Konstante 117–118 Weber‘sches Gesetz 117–118 Wechselblindheit 145
Anhang E: Stichwortverzeichnis
Weisheit 380 Wellenlängen 126 Wenn-dann-Persönlichkeitssignaturen 512 Werbung Nutzen von Vorurteilen 655 unterschwellige Beeinflussung 37 Wernicke-Areal 94 Wertschätzung, unbedingte positive 522, 617–618 Widerstand 602 Wiedererkennen 108–114, 244, 262 Prozesse 152–156 wissenschaftliche Methode 2, 27 Wissenszusammenfügung 235 Within-subjects-Design 33 Wohlbefinden 487–488 mentales 492 World Wide Web Diagnostik im 339 siehe auch Internet Wortbedeutung, Spracherwerb 385–386 Wortschatzexplosion 384 X Xanax 624
Z Zahlenverarbeitung 281 Zapfen 121 zeitliche Integration 144–145 zeitliche Kontiguität 200 Zeittheorie 133 zentrale Exekutive, Arbeitsgedächtnis 242 zentrales Nervensystem (ZNS) 88, 459 zentrale Tendenz, Maße 56 Zentrierung 374 Zeugenaussagen 265 Ziele der Psychologie 4 Ziele der Therapie 596 zielgesteuerten Wahl 141 zirkadianer Rhythmus 169, 171 Zukunftsvoraussagen, von Politikexperten 322 Zuneigung 660–661 Zunge 136 Zwangsstörungen 560–561 zweckorientierte Handlungen 560 Zwei-Zentren-Modell, Essen 423 Zwei-Wort-Sätze, Spracherwerbsfähigkeit 386 Zwillinge eineiige 439 zweieiige 439 Zwillingsstudien, Schizophrenie 582 Zygote 365
827
Anhang F: Abbildungsverzeichnis Kapitel 1, Opener: Erik Dreyer/Getty Images; S. 3, OL: Elizabeth Crews/The Image Works; S. 3, OR: Joel Gordon; S. 3, UL: Susan Kuklin/Photo Researchers Inc.; S. 3, UR: Tom McCarthy/Index Stock; S. 4: George S. Seurat, Bathers at Asnieres. National Gallery, London. Copyright Erich Lessing/Art Resource, NY; S. 6: Jeff Greenberg/PhotoEdit; S. 8: Archives of the History of American Psychology/University of Akron; S. 10: Tatiana Mironenko/fotolia.de; S. 11: The Granger Collection; S. 12: Benjamin Harris, Ph. D; S. 13: Roger Ressmeyer/CORBIS; S. 14: STR/AFP/Getty Images; S. 15: Wolfgang Kaehler/CORBIS; S. 20, O: David Kelly Crow/Photoedit; S. 20, U: Statistisches Bundesamt; S. 21: Archives of the History of American Psychology/ University of Akron; Kapitel 2, Opener: Scott Camazine & Sue Trainor/Photo Researchers, Inc.; S. 28: AP Images/ Amy Sancetta; S. 31: Edouard Berne/Stone/Getty Images; S. 36: David Young- Wolff/Alamy; S. 41: Dan McCoy/Rainbow; S. 42:Michael K. Nichols/National Geographic Image Collection; S. 45: Richard T. Nowitz/Phototake; S. 48: Ethan Miller/Getty Images; Kapitel 3, Opener: Michael Simpson/Getty Images; S. 66: VLC/Antonio Mo/Taxi/Getty Images; S. 67: Science Photo Library/Photo Researchers, Inc.; S. 71: Dan McCoy/Rainbow; S. 74: Ralf Graf; S. 75: D W. Fawcett/Komuro/Photo Researchers, Inc.; S. 82, OL: Tim Maylon and Paul Biddle/SPL/Photo Researchers, Inc.; S. 82, UR: AP Images/Joe Marquette; S. 83: Dr. Colin Chumbley/Photo Researchers, Inc.; S. 84: H. Damasio, Human Neuroanatomy and Neuroimaging Laboratory, Department of Neurology, University of Iowa; S. 87: Jiang Jin/ Superstock; S. 88, O: Marcus E. Raichle, M.D.,Washington University School of Medicine; S. 89, U: Stone/UHB Trust/ Getty Images; S. 98: John Coletti/Stock Boston; Kapitel 4, Opener: MedioImages/Getty Images; S. 108: David Lissy/ Index Stock; S. 112: Slave Market with the Disappearing Bust of Voltaire (1940). Salvador Dali Museum, St. Petersburg, Florida/Gala-Salvador Dali Foundation; S. 115: David Kelly Crow/PhotoEdit; S. 116: Stefan May/Stone Allstock/Getty Images; S. 120: W. E. Harvey/Photo Researchers, Inc.; S. 124 O: PE Downing et al., Science 293: 2473 (2001); S. 124 U: Alan Levanson/Stock Boston; S. 128: Brand X Pictures/Alamy; S. 130: vario images; S. 133: Bob Daemmrich/Stock Boston; S. 134: Juniors Bildarchiv/Alamy; S. 136: Seth Resnick/Stock Boston; S. 138, UL: David Ball/Index Stock; S. 138, OR: Popperfoto/Alamy; S. 140: Scott Foresman; S. 141: Fuji Photos/The Image Works; S. 146: Dennis O’Clair/Stone/Getty Images; S. 148: Andy Levin/ Photo Researchers, Inc.; S. 149, L: Michael Dwyer/Stock Boston; S. 149, R: William J. Herbert/Stone Allstock/Getty Images; S. 150: David Wells/The Image Works; S. 151: Bob Rowan/Corbis; Kapitel 5, Opener: Victoria Alexandrova/ fotolia.de; S. 163 OL: David Young-Wolff/PhotoEdit; S. 163, UR: Lisa F. Young/fotolia.de; S. 173: Spencer Grant/PhotoEdit; S. 178: Courtesy of Dr. Philip G. Zimbardo; S. 181: Peter Hvizdak/The Image Works; S. 182: Mike Maple/
Woodfin Camp & Assoc.; S. 185, UL: Photofusion Picture Library/Alamy; S. 185, UR: Doug Menuez/Getty Images; S. 186: Ace Stock Limited/Alamy; Kapitel 6, Opener: David Robbins/Getty Images; S. 193: Topham/The Image Works; S. 194: Ken Heyman/Woodfin Camp & Assoc.; S. 195: Bettman/Corbis; S. 199: Richard Heinzen/SuperStock; S. 203, OL: Dimension Films/Photofest; S. 203, OR: Archives of the History of American Psychology; S. 204, OL: Bill Aron/PhotoEdit; S. 204, OR:Maya Barnes/The Image Works; S. 207: Eric Isselée/fotolia.de; S. 212: Juliya Shumskaya/fotolia.de; S. 213: Yerkes Regional Primate Research Center, Emory University; S. 217: Stephen Ferry/Liaison Agency; S. 219: Gerald Davis/Woodfin Camp & Assoc.; S. 220: John Warden/Stone/Getty Images; S. 222: Courtesy Dr. Stuart R. Ellins, California State University, San Bernadino; S. 226: Courtesy Dr. Albert Bandura, Stanford University; S. Kapitel 7, Opener: Roy Mehta/Getty Images; S. 232 AP/Wide World Photos; S. 234: Corbis Royalty-Free; S. 239: Corbis Royalty-Free; S. 241, L: Caro/Kaiser; S. 241, R: Frank Chmura/Alamy; S. 245: Michael Newman/PhotoEdit; S. 246: allOver Bildagentur/Kroener; S. 254: Josef Polleross/The Image Works; S. 259: Liesa Johannssen/photothek.net; S. 264: Bildagentur Huber; S. 265: Scholz/teamwork; Kapitel 8, Opener: die bildstelle/Isopix SPRL; S. 280: David Young-Wolff/PhotoEdit; S. 283: Tony Savino/The Image Works; S. 286: Fred Bavendam/Peter Arnold; S. 289, OL: AP/Wide World Photos; S. 293: Great Ape Trust of Iowa; S. 294: Karl Muller/Woodfin Camp & Assoc.; S. 304: Will & Demi McIntyre/Photo Researchers, Inc.; S. 310: Cerebral Cortex,Vol. 11, S. 959, 2001. Parsons and Osherson, New evidence for distinct right and left brain systems for deductive versus probabilistic reasoning, Oxford University Press; S. 312: Jed and Kaoru Share/Corbis; S. 319: Zick, Jochen/ Keystone; Kapitel 9, Opener: Stockbyte Platinum/Alamy; S. 326: Science Library/Photo Researchers, Inc.; S. 334: A1PIX/BIS; S. 344: Brown Brothers; S. 347: Bettmann/ Corbis; S. 348: Robert Beck/Time Life Pictures/Getty Images; S. 349, OL: Ed Clark/TimePix; S. 349, OR: Gary Bus/Taxi/Getty Images; S. 354, L: Kaz Mori/The Image Bank/Getty Images; S. 354, R: SuperStock; S. 355: SuperStock, Inc./SuperStock; S. 356 Comstock Royalty Free/ Imagestate; Kapitel 10, Opener: vario images; S. 364, OL: Popperfoto/Hulton Archive; S. 364, OM: Hulton Archive; S. 364, OR: Tim Graham/ Corbis; S. 364, ML: Brown Brothers; S. 364, UL: Tom McCarthy/Photo Edit; S. 365: Lennart Nelson, A Child is Born/Bonniers; S. 367: Elizabeth Crews/ The Image Works; S. 368, L: Alan Carey/The Image Works; S. 368, R: Birnbach/Monkmeyer; S. 370: Mike Greenlar/ The Image Works; S. 371: Michael Kneffel; S. 372: Lisa F. Young/fotolia.de; S. 375: Lew Merrim/Photo Researchers, Inc.; S. 376:Marcia Wienstein; S. 378: McLaughlin/ The Image; Works; S. 379: AP Images; S. 386: Petra Steuer/ Joker; S. 388: Sarah Putnam/Index Stock; S. 391: Nina Leen/Timepix; S. 392: vario images; S. 394: Martin Rogers/ Stone/Getty Images; S. 400: vario images; S. 404, L: SuperStock/Alamy; S. 404, R: vario images; S. 410: Comstock Images/Alamy; Kapitel 11, Opener: Bildmaschine.de/Erwin Wodicka; S. 414: Jo McBride/Stone/Getty Images; S. 416:
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Anha n g
Aldo Liverani/Andia.fr; S. 419: imagebroker/Alamy; S. 421: absolut/fotolia.de; S. 422: Dynamic Graphics Group/Creatas/Alamy; S. 428, L:Michael Buckner/Reuters/Corbis; S. 428, R: AP Images/Wide World Photos; S. 432: SuperStock; S. 433: Bettmann/Corbis; S. 435: B. Bachman/The Image Works; S. 439: blickwinkel/m. baumann; S. 440: SuperStock; S. 442: Bob Daemmrich/Stock Boston; S. 443: Avenue Images GmbH; S. 447: Jed Jacobsohn/Getty Images; Kapitel 12, Opener: Kaluzny-Thatcher/Getty Images; S. 455: Photography Collection,Miriam and Ira D.Wallach Division of Art, Prints and Photographs. The New York Public Library, Astor, Lenox and Tilden Foundation; S. 456: Avenue Images GmbH; S. 457: Dr. Paul Ekman/Human Interaction Library/ University of California, San Francisco; S. 458, L: Burbank/ The Image Works; S. 458, R: AP Images/Wide World Photos/Kathy Willens; S. 460, L: Topham/The Image Works; S. 460, R: Michael J. Doolittle/The Image Works; S. 463: Action Plus/Alamy; S. 464: Rick Gomez/Corbis; S. 469: Volkmar Schulz/Keystone; S. 472: Avenue Images GmbH; S. 475: AP Images/Wide World Photos/Phil Coale; S. 477: Jim West/Impact Visuals; S. 481: Bill Aron/PhotoEdit; S. 484: Mary Kate Denny/Stone/Getty Images; S. 487: Terry Eiler/Stock Boston; S. 490: AP Images/Wide World Photos/ Ginnette S. Adams; S. 493: Jeff Greenberg/The Image Works; S. 497: Tony Savino/The Image Works; Kapitel 13, Opener: Joe McBride/Getty Images, Inc. S. 505: Zentralbibliothek, Zürich; S. 507, L: The Granger Collection; S. 507, M: Bettmann/Corbis; S. 507, R: AP Images/Chris Pizzello; S. 510: T. Canli et al., Science 296:2191 (2002); S. 511: SuperStock; S. 513, L: Doug Arman/Stone/Getty Images; S. 513, R: Gary Braasch/Woofin, Camp & Associates; S. 515: Plush Studios/ Getty Images; S. 517: Chuck Carlton/ Alamy; S. 519: Stock Image/Alamy; S. 522: Vital Pictures/Getty Images; S. 523: Zigy Kaluzny/Stone/Getty Images; S. 526: Elizabeth Crews/ The Image Works; S. 527: Michael Newman/PhotoEdit; S. 532: Steve Rubin/The Image Works; S. 533: Jeff Greenberg/Photo Researchers, Inc.; S. 535: Steve Maines/ Stock Boston; Kapitel 14, Opener: Sie Productions/zefa/ Corbis; S. 548: Jack Rezmicki/The Stock Market; S. 552: The Trial of George Jacobs, August 5, 1692, T. H.Mattenson, 1855, Peabody Essex Museum; S. 559: Bob Daemmrich/ The Image Works; S. 560: William Hubbell/Woodfin, Camp & Associates; S. 561: Arlene Collins/The Image Works; S. 562: Biological Psychiatry, 53, 204–210, RA Lanius et al., Recall of emotional states in posttraumatic stress disorder: An fMRI investigation 2004; S. 566: Melancholia, 1988, Amy Wicherski/SuperStock; S. 567: Archives of General Psychiatry, 60, 601–609, HP Blumberg et al., A functional magnetic resonance imaging study of bipolar disorder, 2003 American Medical Association; S. 570: Britt Erianson/The Image Bank/Getty Images; S. 571: AP Images/Wide World Photos; S. 575: Robert Essel NYC/Corbis; S. 578: Susan Greenwood/Liaison Agency; S. 586: Lab of Psychology and Psychopathy, National Institute of Mental Health/Edna Morlock; S. 588: Royalty-Free/Corbis; Kapitel 15, Opener: Michael Timm; S. 599: The Granger Collection; S. 602: AP Images/ Wide World Photos; S. 603: Wellcome Library, London; S. 608: Bob Mahoney/The Image Works; S. 611: Philip
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G. Zimbardo; S. 616: vario images; S. 617: Guido Frebel/ Lichtblick; S. 619: Bob Daemmrich/The Image Works; S. 624: Digital Vision, Ltd.; S. 626, L: James Wilson/Woodfin, Camp & Associates; S. 626, R: Will McIntyre/Photo Researchers, Inc.; S. 628: Archives of General Psychiatry, 59, 425– 433, T. Furmark, et al., Common changes in cerebral blood flow in patients with social phobia treated with citralopram or cognitive-behavioral therapy, 2004 American Medical Association; S. 631: Michael Kneffel; Kapitel 16, Opener: PhotoAlto/Alamy; S. 637: Andreas Pollok/Getty Images; S. 641: AJPhoto/Photo Researchers, Inc.; S. 644: Lee Besford/ Reuters/Corbis; S. 646: Bob Daemmrich/Stock Boston; S. 647: Caro / Teich; S. 649: Thomas Raupach/argus; S. 651: ecopix Fotoagentur; S. 652: Joly/Andia.fr; S. 653: AP Images/ World Wide Photos; S. 655: Markus Scholz/argus; S. 657, L: Bill Aron/PhotoEdit; S. 657, R: W. Hill, Jr./The Image Works; S. 658: Dr. O. J. Harvey, University of Colorado; S. 660: Rhoda Sidney/PhotoEdit; S. 663: A1PIX/RES; Kapitel 17, Opener: Jochen Eckel; S. 670: Michael S. Yamashita/ Woodfin, Camp & Associates; S. 672, O: Philip G. Zimbardo; S. 672, U: AP Images; S. 674: Kaku Kurita/Liaison Agency; S. 675: William Vandivert; S. 679: Everett Collection; S. 680: Mario Tama/Getty Images; S. 682: Jeff Greenberg/ The Image Works; S. 683: The New York Times Photo Archives; S. 688, L: M. Reardon/Photo Researchers, Inc.; S. 688, R: Catherine Ursillo/Photo Reasearchers, Inc.; S. 690: Royalty-Free/Corbis; S. 694: Hulton/Archive Photos; S. 695: Alex Segre/Alamy; S. 697: Aus dem Film Obedience, Stanley Milgram/Alexandra Milgram; S. 700: AP Images/ Wide World Photos; S. 702: AP Images/Wide World Photos; S. 703: Sam Keen, Faces of the Enemy: Reflections of the Hostile Imagination, 1986, HarperCollins Publishers, Inc.; S. 707: Global Children’s Organization.
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