PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE. NEUES JAHRBUCH
erscheint als Organ der „Stiftung zur Förderung der Begründungswissenschaft METAPHYSIK“, Sitz Würzburg – Justitiar und Mitherausgeber: RA Wolf Malo (FA f. Steuerrecht), Würzburg – in Zusammenarbeit mit der „Gesellschaft für Metaphysik, Tokio, Centre International pour Étude Comparée de Philosophie et d’Esthétique“. Wissenschaftlicher Beirat: Eric Blondel (Paris), Dieter Harmening (Würzburg), Tomonubu Imamichi (Tokio), Paul Janssen (Köln), Marco Olivetti (Rom), Franz Träger (Augsburg), Dietmar Willoweit (Würzburg), Josef Zumr (Prag).
Umschlaggestaltung: Bernard Vandemeulebroecke The paper on which this book is printed meets the requirements of "ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence". ISBN: 90-420-1977-8 © Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2005 Printed in The Netherlands
Satz: Dora Steigerwald, Würzburg
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger† Herausgegeben von Wiebke Schrader – Georges Goedert – Martina Scherbel
Band 31 – 2005
Amsterdam – New York, NY 2005
Die Intention des Jahrbuches PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE. NEUES JAHRBUCH
eröffnet Forschern, welche die Arbeit philosophischer Begründung und Rechtfertigung des Denkens auf sich nehmen, eine Publikationsmöglichkeit. Das Jahrbuch versteht sich nicht als Schulorgan einer philosophischen Lehrmeinung, sondern sieht seine Aufgabe darin, an der Intensivierung des wissenschaftlichen Philosophierens mitzuarbeiten.
Inhalt
I Von der Sinnlichkeit der Vernunft Andreas Dorschel (Graz) Sentimentalität. Über eine Kategorie ästhetischer und moralischer Abwertung ................................................. Achim Lohmar (Köln) Die Mystifikation ästhetischer Erfahrung ..................... Peter Nickl (Hannover) Philosophie als „scientia affectiva“? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit ............. Paola-Ludovika Coriando (Freiburg/Breisgau) „In dieser Skepsis kann niemand leben“. Über Nüchternheit und Enthusiasmus in der Philosophie ..........................................................
11 23
47
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II Über den schöpferischen Willen Theo Meyer (Würzburg) Kreative Subjektivität bei Nietzsche ............................. 87 Kurt Mager (Bochum) Subjekt und Geschichte bei Arthur Schopenhauer und Theodor Lessing ................................................... 125
Edgar Früchtel (München) Einige Überlegungen zum Schicksalsbegriff in der Antike ................................................................ 149 Jürgen-Eckardt Pleines (Karlsruhe) Tugend zwischen Sittlichkeit und Moral ..................... 177
III Zur wahren Schau Jorge Uscatescu Barrón (Freiburg/Breisgau) Zur Geschichte der Entgegensetzung des Guten und des Schlechten ...................................................... 237 Thomas Alexander Szlezák (Tübingen) Platonische Dialektik: Der Weg und das Ziel ............. 289 Salvatore Lavecchia (Würzburg) Die `moívsiw ye! in Platons Philosophie .................. 321
IV Buchbesprechung Andreas Lischewski (Eisingen) [Rez.] Erwin Schadel (Hrsg.): Johann Amos Comenius – Vordenker eines kreativen Friedens (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 24), Frankfurt/Main u.a. 2005, 610 S. ............................................................... 395
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Redaktionsnotiz Mitarbeiterliste Redaktion Inhalt der 30 Bände
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I Von der Sinnlichkeit der Vernunft
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Andreas Dorschel SENTIMENTALITÄT Über eine Kategorie ästhetischer und moralischer Abwertung ‚Sentimental‘: dies Beiwort scheint über zwei Jahrhunderte einen merkwürdigen Niedergang durchgemacht zu haben von einer empfehlenden Vokabel zu einer abwertenden. Daß das Wort im 18. Jahrhundert etwas ganz anderes bedeutet habe als im 20. und 21., ist freilich der naheliegendste Verdacht; er erweist sich indes als untriftig. An den gleichen Zügen von Sentimentalität, an denen etwa Sterne den Glanz der Phantasie feierte, erblickte man seit dem 19. Jahrhundert Male von Unwahrhaftigkeit. Was als bloßer Wandel des Sprachgebrauchs erscheinen könnte, zeigt also in Wahrheit eine Differenz in der Sache an. Die Argumente gegen Sentimentalität jedoch tragen nicht; diese ist kein Versagen vor einer Norm der Vernunft. Ob wir Sentimentales mögen oder nicht, ist Geschmacksache.
C’était une romance orientale, où il était question de poignards, de fleurs et d’étoiles. L’homme en haillons chantait cela d’une voix mordante; les battements de la machine coupaient la mélodie à fausse mesure; il pinçait plus fort: les cordes vibraient, et leurs sons métalliques semblaient exhaler des sanglots et comme la plainte d’un amour orgueilleux et vaincu. Des deux côtés de la rivière, des bois s’inclinaient jusqu’au bord de l’eau; un courant d’air frais passait; Madame Arnoux regardait au loin d’une manière vague. Quand la musique s’arrêta, elle remua les paupières plusieurs fois, comme si elle sortait d’un songe. Flaubert, L’Éducation Sentimentale
‚Sentimental‘: dies Beiwort scheint über zwei Jahrhunderte einen merkwürdigen Niedergang durchgemacht zu haben von einer empfehlenden Vokabel zu einer abwertenden. Denn als
12 Laurence Sternes von autobiographischen Fäden durchzogene Sentimental Journey through France and Italy 1768 auf dem englischen Buchmarkt erschien, war es gerade die Kennzeichnung der Reise als ‚sentimental‘, die den Roman dem lesenden Publikum anziehend machte. „The word“, schreibt Logan Pearsall Smith, „shone like pure gold“1. Ein Ausdruck, der einst Werbung war, geriet inzwischen längst zur Ächtung. Der Verdacht liegt freilich nahe, das gleiche Wort habe damals wohl etwas ganz anderes bedeutet als heute; es sehe nur so aus, als ob man unterschiedlich werte, während man in Wahrheit bloß auf Unterschiedliches Bezug nehme. Dieser Verdacht ist überprüfbar. Was Sterne mit der Wortwahl im Titel meint, gewinnt im Roman selber Umriß, spätestens an jener Stelle, welche der Autor unverkennbar als ‚sentimentalen‘ Höhepunkt des Buches konzipiert hat. Im Bourbonnais, „the sweetest part of France“, trifft der Landpfarrer Yorick ein geistesgestörtes („disorder’d“) Mädchen namens Maria,2 der er die Tränen trocknet, um sogleich es nötig zu finden, auch die eigenen zu trocknen.3 Yorick ist gerührt über die eigene Rührung über das Schicksal der jungen Frau, so sehr, daß diese ihm bald das Taschentuch waschen und an ihrem Busen trocknen muß.4 Der empfindsame Geistliche zerfließt vor beglückendem Selbstmitleid darüber, daß er ein so exquisit mitleidiger Mensch ist. Kaum ganz zufällig ist, daß im Roman eine Minderbemittelte Gegenstand der expansivsten Äußerung solcher Rührung wird, denn gerade als Minderbemittelte enträt sie der kritischen Wahrnehmung, als Anlaß von Gefühlen gebraucht zu werden, mit denen der Fühlende vorwiegend sich selber schmeichelt. Daß der Abschied von Maria in Moulins herzzerreißend ausfällt,5 versteht sich unter solchen Vorgaben beiderseits von selbst. Hatte der Ich-Erzähler seine Reise durch den Bourbonnais ohnehin als einen „riot of affections“ antizipiert, so stellt sich dieser nun auch ein, freilich nicht feucht-fröhlich, wie ihn die Weinlandschaft hatte erwarten lassen, sondern dunkel grundiert.6 Daß solche Grundierung dem Genuß keinen Eintrag tut, ja ihn womöglich noch zu steigern
13 vermag, belegt der nun folgende Ausbruch Yoricks, in dem Tränenseligkeit die antizipierte Weinseligkeit in jeder Hinsicht aussticht, selbst noch in puncto Wirrnis: – Dear sensibility! source inexhausted of all that’s precious in our joys, or costly in our sorrows! thou chainest thy martyr down upon his bed of straw – and ‘tis thou who lifts him up to HEAVEN – Eternal fountain of our feelings! – ‘tis here I trace thee – and this is thy divinity which stirs within me – not that, in some sad and sickening moments, „my soul shrinks back upon herself, and startles at destruction“ – mere pomp of words! – but that I feel some generous joys and generous cares beyond myself – All comes from thee, great, great SENSORIUM of the world! which vibrates, if a hair of our heads but falls upon the ground, in the remotest desert of thy creation. – Touch’d with thee, Eugenius draws my curtain when I languish – hears my tale of symptoms, and blames the weather for the disorder of his nerves. Thou giv’st a portion of it sometimes to the roughest peasant who traverses the bleakest mountains – he finds the lacerated lamb of another’s flock – This moment I beheld him leaning with his head against his crook, with piteous inclination looking down upon it! – Oh! had I come one moment sooner! – it bleeds to death – his gentle heart bleeds with it –.7
Dem sentimentalen Geistlichen drängt sich hier durchaus folgerichtig der heterodoxe Gedanke ins Gemüt, das Empfindungsvermögen selbst, „sensorium“ und „sensibility“, sei Gott. (Für Sterne und seine Zeitgenossen gingen ‚sentiment‘ und ‚sensibility‘ ineinander.) Denn allmächtig ist Sentimentalität zumindest in dem Sinne, daß sie aus jedem Gegenstand zu machen vermag, was sie wünscht, statt was er, der Gegenstand, von sich aus will. Just dies aber ist es, was Sentimentalität heute angekreidet wird; ihr Makel sei, daß sie keine gegebene Entsprechung in der objektiven Wirklichkeit habe. Genau in jenem Zug, in dem der Protagonist von Sternes Roman die kreative Leistung von Sentimentalität erblickt – „source inexhausted of all that’s precious in our joys, or costly in our sorrows“ –, einem Zug, welcher sie für ihn weit über die Passivität bloßen Empfindens, bloßen Registrierens der Außenwelt erhebt und mit Phantasie in Bund treten läßt, sieht der moderne Kritiker ihr Anstößiges: sie richte sich
14 nicht nach ihrem Gegenstand, sondern setze ihn zum Anlaß herab, von welchem sich abstoßend sie erst den ihr eigenen Kitsch aushecke.8 Der Hegelianer Friedrich Theodor Vischer, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine monumentale Ästhetik vorlegte, definiert Sentimentalität als „absichtliches Schwelgen in der Empfindung“9. Sternes Yorick, durch den das Wort erst in deutschsprachigen Landen bekannt wurde, verfügt bereits über diesen modernen Begriff von Sentimentalität, und fällt nur eine andere Wertung. Keineswegs koinzidiert ‚sentimental‘ im 18. Jahrhundert einfach mit dem zumindest im heutigen Sprachgebrauch eher unspezifischen und auch eher positiv konnotierten ‚empfindsam‘. Sentimental bezeichnet schon bei Sterne ein quid pro quo. Dieses quid pro quo eines Inneren für ein Äußeres gilt in A Sentimental Journey through France and Italy, allen Ironien des Textes zum Trotz, und galt nach allem, was wir wissen, dem den Roman hingerissen lesenden Publikum der Zeit als eigentliche Errungenschaft;10 mit Hinweis auf dieses quid pro quo ist Sentimentalität seit dem 19. und dann insbesondere im 20. Jahrhundert nahezu vollständig diskreditiert worden. In Sternes Roman dienen das Ausland und die Fremde dem sentimentalen Reisenden ja deutlich genug nur als Vorwand. Nicht nach Frankreich reist er in Wahrheit, sondern zu sich selbst. Für Sternes Helden und sein Publikum vollzieht sich darin eine Entdeckung nicht zugelassener Seiten der Subjektivität, von Aspekten zensierten und inkriminierten Selbstgenusses zumal, für die späteren Kritiker der Sentimentalität hingegen eine Verdeckung der Außenwelt durch ihren Mißbrauch als bloßen Materials der Innenwelt. Was genau ist, nach der seit dem 19. Jahrhundert um sich greifenden Auffassung, faul an Sentimentalität? Maßgebend als Antwort auf diese Frage ist wohl geworden, der sentimentale Mensch spiele mit seinen Gefühlen, statt von ihnen erfüllt zu sein. So beanstandet Achim von Arnim in seinem dem Wunderhorn beigegebenen Sendschreiben ‚Von Volksliedern‘ an senti-
15 mentalen Menschen „das Nachahmen und Aufsuchen des Gefühls, das Schauspielen mit dem Edelsten, was nur im Spiele damit verloren gehen kann“11. Spiel kontrastiert hier auf gut Deutsch dem angeblich dem Gefühl einzig angemessenen Ernst; und ernst wird es bei modernen Menschen nun freilich aller Nationen bekanntermaßen, geht es an die volle und bare Zahlung, ohne Rabatt und Abzug, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. „Sentimentalität ist Gefühl, das man sozusagen unter dem Einkaufspreis erstanden hat“, lautet eine bündige Formulierung, die Arthur Schnitzler einer Figur seines 1908 erschienenen Romans Der Weg ins Freie in den Mund gelegt hat.12 Und Oscar Wilde schrieb in dem etwa zur gleichen Zeit auszugsweise veröffentlichten, unter dem Titel ‚De profundis‘ bekannten großen Brief an Lord Alfred Douglas: „a sentimentalist is simply one who desires to have the luxury of an emotion without paying for it“13. Gilt in der Formulierung der Figur Schnitzlers Sentimentalität noch als ein Erstehen von Gefühlen gleichsam im Discount, so in der Wildes als glatter Betrug – denn: „emotions have to be paid for“14. Redlicherweise müßte man bezahlen – mit Leiden. Doch Wildes Schelte der Sentimentalität im Namen moderner Arbeits- und Zahlungsmoral unterhöhlt, was sein Text zugleich als das wahre Leben preisen will: ästhetischen Genuß. Folgte man seiner Bestimmung, dann wäre nämlich schlechterdings aller ästhetische Genuß sentimental. Gewiß kommt es billiger zu stehen, den Fidelio zu hören und sich von Beethoven durch Dunkel und Licht, Entsetzen und Freude schicken zu lassen, als selber gleich Leonore politische Gefangene zu befreien; wäre, was das Publikum erlebt, nur darum schon sentimental, und Sentimentalität eine zu beseitigende Infamie, wie Wilde meinte, so müßte man als erstes die Kunst aus der Welt schaffen. Und etwas mehr als sie. Ein Gutteil dessen, was dem Leben Farbe gibt, vom Zirkus bis zur Oper, vom Kinderspielplatz bis zur intelligenten Anspielung im Gespräch, lebt davon, Gefühle und Emotionen in ihrem ganzen Spektrum zwischen Angst und Begeisterung zu erregen, gerade ohne daß man den vollen Preis dafür zahlen, das heißt ihre Realursachen an sich erleiden müßte.
16 Wildes Kritik der Sentimentalität sucht ausgerechnet die rigideste Form moderner Rationalität, die ökonomische, auf das anzuwenden, was sich ihr am wenigsten fügt: Emotionen und Gefühle. Dies Unterfangen aber brächte sie, wäre es durchgeführt, um ihre Identität in jeder Form, sentimentaler wie nichtsentimentaler. Was wären etwa Liebe oder Begeisterung ohne ein Moment unbezahlter und niemals in Realem auszumünzender Verklärung ihres Gegenübers? Sie wären bloße Tatsachenurteile über die Welt und insofern auch keine Gefühle oder Emotionen mehr. Und am Ende ist Wildes Maßstab, der Sentimentalität blamieren soll, selbst vor Urteilen und den Überzeugungen, welche jene ausdrücken, überzogen. Denn jedes Ding hat unbestimmt viele Seiten; spreche ich ihm eine Eigenschaft zu, so tue ich das in Wahrheit, „without paying for it“, da niemand die indefinit vielen anderen Aspekte ohne Rest durchgehen könnte. Ich muß es tun mit einem Element der Gratiszuversicht, sie würden mein eine Qualität isolierendes Urteil nicht umstoßen.15 Alle Erkenntnis lebt ein Stück weit auf Kredit. Noch vor kognitiven Leistungen läuft Wildes Anspruch somit ins Leere. Der Wille, mit Sentimentalität abzurechnen, ihr gleichsam die Quittung zu präsentieren, scheint ihrer Beschreibung als Phänomen kaum förderlich. Und zur Frage nach ihrer Genese bietet er nichts als den pharisäischen Hinweis auf die unterstellte böse Absicht der Sentimentalen, billig einzukaufen, was die Guten, das heißt, Nichtsentimentalen teuer zu stehen kommt. Friedrich Nietzsche, der der kalkulierenden Rationalität ferner stand als irgendein Philosoph der Epoche, hat auch über Sentimentalität sowohl hinsichtlich ihrer Beschaffenheit wie hinsichtlich der Bedingungen ihres Zustandekommens Genaueres zu sagen gewußt: Sentimentalität in der Musik. – Man sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich meine: von jenen allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Ge-
17 schmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses Räthsel, dass es so ist, zum Rathen aufzugeben und selber ein Wenig daran herumzurathen. – Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals – es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens – hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst verstanden, die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muss nämlich auch für die geringsten „Offenbarungen“ der Kunst erst vorbereitet und eingelernt werden: es giebt durchaus keine „unmittelbare“ Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen – die stärksten unseres Lebens – knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italiänischen Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes, – das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. – Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt „Sentimentalität“ zu nennen pflegt, etwas gar zu hoffährtig, wie mir scheint, – es ist die Stimmung Faustens am Schlusse der ersten Scene – diese „Sentimentalität“ der Hörenden kommt der italiänischen Musik zu Gute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen „Aesthetiker“, zu ignoriren lieben. – Uebrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig werth zu sein: denn sie erregt noch keine „Sentimentalität“, welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für Jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag.16
Bei Nietzsche kommt zur Sprache, was sich phänomenologisch geradezu aufdrängt, doch worüber die Theorie der Sentimentalität als unbezahlter Emotion keinen rechten Aufschluß zu geben vermag: daß Sentimentalität und Nostalgie Hand in Hand gehen. Was geschieht, erinnert den Sentimentalen immer an ein Stück eigener Lebensgeschichte; wie bei ihm das Innere das Äußere
18 mediatisiert, so die Vergangenheit die Gegenwart. Wie bereits bei Sterne kenntlich wird, ist Sentimentalität nichts Primitives, sondern ein reflexiver Akt der Subjektivität. (Folgerichtig gibt Sterne Yorick die Aufzeichnung und Deutung seiner sentimentalen Erlebnisse selbst in die Hand.) Die sentimentale Emotion verhält sich zur schlicht auf ihren Gegenstand bezogenen wie intentio obliqua zu intentio recta: Rührung nicht mehr bloß über diesen oder jenen Gegenstand, sondern über die eigene Rührung – und dies Verhältnis wäre sogar noch weiter iterierbar. Unter zeitlichem Aspekt erweist sich die so begriffene Sentimentalität als paradox, wofür eben Nietzsche die unabgegoltene Formel gefunden hat: „das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes“. Denn im Herstellen einer Beziehung zu etwas ist jedes Erinnern zugleich ein Abstandnehmen von diesem. Was erinnert wird, auch nur werden kann, ist damit eindeutig als vergangen ausgewiesen. Die Erinnerung macht es zu einem nicht wiedererlebbaren Inhalt, selbst dann noch, wenn die Erinnerung mit dem Erinnern gehabter Gefühle gleichzeitig Gefühle gleicher Qualität erzeugen sollte; diese wären immer neue, eben anläßlich der Erinnerung entstandene Gefühle. Das „Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes“: im Kosten und Besitzen treten Ästhetik und Moral in eine Beziehung eigener Art. Ihr Verhältnis im Sentimentalen bestimmt Nietzsche spezifisch als „Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer“. Das heißt allerdings nicht, Sentimentalität sei dasselbe wie Sadismus. Genossen wird in dieser nämlich nicht unmittelbar die Misere, sondern die von ihr ausgelösten sympathetischen Gefühle. Diese freilich sind keine Kostverächter. Und insofern gilt von Sentimentalität in guter Annäherung die Proportion: je größer der moralische Kummer, desto satter die ästhetische Freude. Nun hegt die moderne Welt ein Vorurteil zugunsten säuberlicher Scheidung der Sphären, welche sie ausmachen; ihre Kunst tendiert zum, nach dem Schlagwort der französischen Romantik, „l’art pour l’art“17, und ihre Moral fordert, wie Kant formuliert
19 hat, „die pflichtmäßige Handlung aus Pflicht“18. Aus dem Blickwinkel der Puristen beider Sparten mußte Sentimentalität, wie Nietzsche ahnte, als Besudelung ihrer jeweiligen Majestät erscheinen. So geriet unter ihrer geteilten Voraussetzung in den Geruch der Unreinlichkeit, was unter umgekehrter Voraussetzung als fruchtbare Korrespondenz gegolten hätte und auch schon einmal gegolten hat. Jene Voraussetzungen aber, die eine so gut wie die andere, scheinen weniger von Argumenten abzuhängen als von historischen Moden. Jedenfalls besteht wenig Grund, die erstere, zugunsten des Einkastelns der einschlägigen Rubriken, absolut zu setzen. „Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer“: schon Yoricks Abschied von Maria bei Sterne ist dafür ein vollkommenes Beispiel. Was aber die italienische Oper anlangt, so stand ihr, als Nietzsche 1879 über sie schrieb, die grandioseste Manifestation von Sentimentalität gerade erst bevor: das Werk Giacomo Puccinis. In ihm begegnet der Zuschauer, sieht man von der letzten Oper, Turandot, ab, fast nur gequälten und verfolgten Menschen – oder aber quälenden und verfolgenden. Mord, Elend, Entwürdigung: für „moralischen Kummer“ ist jedenfalls reichlich gesorgt. Fragte man nun aber, was das Publikum in die Opernhäuser zieht, wenn Opern Puccinis gespielt werden, so stände als Antwort schwerlich an erster Stelle, es wolle sich wieder einmal klar machen, was für ein grauenhafter Ort diese Welt eigentlich sei. Aufs Typische gebracht, trifft wohl einzig die Antwort, dies Publikum wolle sich einmal wieder einen schönen, und das heißt hier: genußreichen Opernabend machen. Anscheinend divergieren bei Puccini Dargestelltes und Darstellung dergestalt, daß die „Fülle des Wohllauts“19 das Gefühl des Schmerzes hinwegschwemmt. Woran aber läßt sich erkennen, dies sei Sentimentalität, und nicht schlicht Trost? Letzterer wäre zu diagnostizieren, erschöpfte sich der Befund darin daß, wann immer Wunden aufgebrochen werden, Puccini den lindernden Balsam schöner Töne zur Hand hat. Im dritten Akt von La Bohème etwa, als Rodolfo singt „Una
20 terribil tosse l’e sil petto le scuote, già le smunte gote di sangue rosse“ („Ein schrecklicher Husten erschüttert ihre Brust, schon sind ihre abgezehrten Wangen gerötet von Blut“), liegt der gesangliche Höhepunkt der Phrase auf dem Wort „sangue“ („Blut“), das der Tenor auf einer Fermate ad libitum auskosten darf. Im Schlußakt von Madama Butterfly erfährt der zurückgekehrte Pinkerton die schreckliche Wahrheit. Kein Weg ist mehr offen, als der in den Tod: die Geisha will in Ehren sterben, weil sie nicht länger ehrenvoll zu leben vermag. Und just als dies klar wird, singt Pinkerton seine schönsten, strahlendsten Kantilenen. An Stellen wie diesen macht Puccini die Verzweiflung via Mitgefühl genießbar. Dies verleiht der ästhetischen Situation eine spezifische Uneigentlichkeit. Was Puccinis Schrecken so schön, seine Katastrophen so kulinarisch macht, ist eine wirkungsästhetische Ambivalenz: Moralischer Kummer wird, streng nach Nietzsche, mit ästhetischem Genuß derart gemischt, daß jener diesen steigert. Und dieser Effekt ist es, der nicht lediglich tröstlich, sondern sentimental zu nennen wäre. Der Weg zum anderen, den man auf der Bühne hört und sieht, ist nur ein Umweg des Hörenden und Sehenden zu den eigenen schwelgerischen Gefühlen zurück. Man hat sich angewöhnt, in solche Beschreibungen Bewertungen hineinzulesen – nicht erst deren Adressaten, sondern oft genug schon die Autoren. Im Jahr 1837 schrieb Heinrich Heine über die Franzosen nach Deutschland, wo man das gewiß gerne las, „ihren Dichtern“ sei „die Naivetät, das Gemüth, die Erkenntniß durch Anschauungen und das Aufgehen im angeschauten Gegenstande versagt. Sie haben nur Reflexion, Passion und Sentimentalität“20. Er glaubte, damit ein Verdikt ausgesprochen zu haben. Eines ausdrücklichen Arguments, weshalb „das Aufgehen im angeschauten Gegenstande“ besser sei als Sentimentalität, meinte Heine überhoben zu sein. Aus dem Verweis auf Gegenständlichkeit aber lugt bereits Wildes Beschwerde über die in der Realität unbezahlte Rechnung. Es ist eine dubiose Verbindlichkeit, auf die menschliche Gemütsbewegungen da festgelegt
21 werden sollen – einerseits wenigstens. Andererseits folgt daraus, daß der Beweis nicht gelungen ist, Sentimentalität sei etwas Schlechtes, gewiß nicht, sie sei eo ipso etwas Gutes. Die Sentimentalen sind anders als die Unsentimentalen. Sie interessieren sich allemal mehr für sich selber als für die Welt; ob sie sich über diese prinzipielle Präferenz nun im klaren sind oder nicht. Was aus ihr sich ergibt, muß nicht angenehm sein für die Welt, zu welcher ja auch diejenigen zählen, die mit Leuten solchen Schlages Umgang pflegen. Auch so bleibt indes, ob man gerne mit sentimentalen Menschen zusammen ist oder nicht, Geschmacksache, keine Frage eines Versagens dieser vor einer übergeordneten Norm. Anmerkungen Words and Idioms: Studies in the English Language, o.O.: Constable 19262, S. 51. 2 Laurence Sterne, A Sentimental Journey through France and Italy [1768], eingel. v. V. Woolf, London: Oxford University Press 1963, S. 210. 3 Ebd., S. 213. 4 Ebd., S. 215. 5 Ebd., S. 217. 6 Ebd., S. 218. 7 Ebd., S. 218 f. 8 Vgl. Ludwig Giesz, Phänomenologie des Kitsches [1960], Frankfurt/M.: Fischer 1994, S. 48. 9 Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen [1846-57], Bd. 2, hrsg. v. R. Vischer, München: Meyer & Jessen 19202, S. 612. 10 Vgl. Johann Georg Schlosser, Ueber Spott und Schwärmerey [1776], in: Johann Carl Wezel, Kritische Schriften, hrsg. v. A.R. Schmitt, Bd. 1, Stuttgart: Metzler 1971, S. 161-163, S. 162. 11 Achim von Arnim, Von Volksliedern [1805], in: ders. u. Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, hrsg. v. E. Grisebach, Leipzig: Hesse 1906, S. 287-315, S. 288. Unter dem Aspekt des Unernsten sucht Friedrich Georg Jünger Sentimentalität auf Ironie zu beziehen: Über das Komische, Frankfurt/M.: Klostermann 19483, S. 103 f. Zu Sentimentalität als ‚Schauspielen‘ bei Sterne vgl. Robert Markley, Sentimentality as Performance. Shaftesbury, Sterne, and the Theatrics of Virtue, in: The New Eighteenth Century. Theory. Politics. English Literature, hrsg. v. F. Nussbaum u. L. Brown, New York: Methuen 1987, S. 210-230. 1
22 Der Weg ins Freie [1908], hrsg. v. K. Fliedl, Salzburg/Wien: Residenz Verlag 1995, S. 215. 13 Wilde verfaßte diesen Brief zwischen Januar und März 1897. The Letters of Oscar Wilde, hrsg. v. R. Hart-Davis, London: Rupert Hart-Davis Ltd. 1962, S. 423-511, S. 501. Vgl. Lady Windermere’s Fan [1892], 3. Akt, The Collected Works of Oscar Wilde, hrsg. v. R. Ross, London: Routledge / Thoemmes 1993, Bd. 3, S. 134: „CECIL GRAHAM: And a sentimentalist, my dear Darlington, is a man who sees an absurd value in everything, and doesn’t know the market price of any single thing“. 14 Wilde (wie Anm. 13), S. 423-511, S. 501. Vgl. David H. Lawrence, John Galsworthy, in: Phoenix, London: Heinemann 1961, S. 545. 15 Vgl. Carl G. Hempel, Provisos. A Problem Concerning the Inferential Function of Theories, in: The Limitations of Deductivism, hrsg. v. W.C. Salmon u. A. Grünbaum, Berkeley: University of California Press 1988, S. 1936, S. 23, 31. 16 Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten [1879], § 168, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 2, München: Deutscher Taschenbuch Verlag – Berlin/ New York: de Gruyter 1980, S. 621-623. 17 „L’art pour l’art“. Der Beginn der modernen Kunstdebatte in französischen Quellen der Jahre 1818 bis 1847, hrsg. v. R. Luckscheiter, Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 16. 18 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785], Werke in zehn Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Bd. 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 19683, S. 23. 19 Thomas Mann, Der Zauberberg [1924], Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 3, Frankfurt/M.: Fischer 1974, S. 883. 20 Ueber die französische Bühne [1837], Vierter Brief, Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 12/I, hrsg. v. J.-R. Derré/Chr. Giesen, Hamburg: Hoffmann & Campe 1980, S. 227-290, S. 247. 12
Achim Lohmar DIE MYSTIFIKATION ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG Von einigen Ästhetikern ist die Auffassung vertreten worden, daß ästhetische Erfahrung der vorrangige oder sogar einzig legitime Gegenstand philosophischer Ästhetik sei. Diese Privilegierung ästhetischer Erfahrung läßt sich aber in keiner ihrer höchst unterschiedlichen Begründungsgestalten aufrechterhalten. Damit werden alle Konzeptionen, die ästhetische Erfahrung als eine Erfahrung sui generis konstruieren, hinfällig, und es stellt sich die Frage, ob es dann überhaupt noch einen legitimen Sinn gibt, in dem von ästhetischer Erfahrung die Rede sein kann. An der entfremdeten Erfahrungsgestalt einer rein auf Informationsbeschaffung abgestellten Wahrnehmung läßt sich ein solcher durchaus ablesen. Ästhetische Erlebnisse erweisen sich dabei aber als Aspekte ganz gewöhnlicher Erfahrungen.
Ästhetisches Erleben, ästhetische Wahrnehmung oder kurz: ästhetische Erfahrung kann in jeder beliebigen Ästhetik zum Thema werden. Eine Werkästhetik zeichnet sich schließlich nicht dadurch aus, daß sie zum Thema „ästhetische Erfahrung“ schweigt. Sie würde aber eine Behauptung wie die von Wolfgang Welsch zurückweisen, daß „nicht die Kunst, sondern die Wahrnehmung – die aisthesis die der Disziplin ihren Namen gab – im Zentrum ästhetischer Reflexion steht.“1 Insofern sie eine programmatische Aussage enthält, ist mit dieser Behauptung nämlich der Anspruch formuliert, daß ästhetischer Erfahrung ein Stellenwert zukommt, der sie zum vorrangigen oder gar zum die philosophische Ästhetik definierenden Thema macht. Diese programmatische Hinwendung der Ästhetik zur ästhetischen Erfahrung sowie die damit verbundene Konstruktion ästhetischer Erfahrung selbst sind das Thema meiner folgenden Ausführungen. Zunächst einmal stellt sich natürlich die Frage, woraus der Anspruch der Vorrangigkeit ästhetischer Erfahrung überhaupt er-
24 wächst. Dieser Frage gehe ich im ersten Abschnitt nach. Dabei wird sich zeigen, daß es nicht nur höchst unterschiedliche Begründungen für die Vorrangigkeit ästhetischer Erfahrung, sondern auch – diesen Begründungen korrespondierend – höchst unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, in welchem Sinne ästhetische Erfahrung einen besonderen Status genießt. Daß diese verschiedenen Auffassungen über die Rolle ästhetischer Erfahrung nicht nur höchst unterschiedlich, sondern sogar unvereinbar miteinander sind, lege ich zu Beginn des zweiten Abschnitts dar, um dann zu einer kritischen Diskussion der Positionen fortzugehen. Dabei zeigt sich, daß sich der programmatische Anspruch, ästhetische Erfahrung allein könne und müsse im Zentrum der ästhetischen Reflexion stehen, nicht aufrechterhalten läßt. Weil dieses Resultat die Konzeption ästhetischer Erfahrung selbst nicht unberührt lassen kann, stellt sich die Frage, was von der ästhetischen Erfahrung bleibt. Dieser Frage wende ich mich im dritten und letzten Abschnitt zu. Mein diagnostischer Punkt wird der sein, daß nicht die Rede von ästhetischen Erfahrungen oder Erlebnissen, sondern allein die Konstruktion ästhetischer Erfahrung als einer Erfahrung sui generis aufgegeben werden muß. Befreit von dieser Konstruktion ästhetischen Erlebens als einer autonomen Erfahrungsform, kann man beginnen, die Rolle zu beschreiben, die ästhetische Erlebnisse in unserer Erfahrung und für unser Verstehen spielen.
1. Der Stellenwert ästhetischer Erfahrung: Drei Positionen In Rüdiger Bubners bekanntem programmatischen Aufsatz Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik begegnen wir einer ersten Version der Rezeptionsästhetik. Die Ästhetik, so beschreibt Bubner ihre Situation, sieht sich vor die ihre eigene Geschichte prägende Alternative zwischen Kunstphilosophie und Theorie ästhetischer Erfahrung gestellt. Kunstphilosophie hat ihre tragende Stütze in der Kategorie des Kunstwerks und ist we-
25 sentlich Werkästhetik – wesentlich, insofern die paradigmatische Tradition von Hegel über Heidegger bis Adorno Kunst in den Dienst eines philosophischen Wahrheitsbegriffs nimmt und damit gezwungen ist, einen Träger jener in Kunst angeblich aufscheinenden Wahrheit zu postulieren. In eben dieser unumgänglichen Festlegung auf die Werkkategorie besteht aber nach Bubners Auffassung die prinzipielle und nicht behebbare Schwäche der Kunstphilosophie. Die Entwicklung der modernen Kunst habe nämlich gerade zu einer andauernden und fortschreitenden „Krise des Werkbegriffs“ geführt und damit die am Werk orientierte Ästhetik obsolet gemacht. Die Kunstphilosophie paßt nicht mehr auf ihren Gegenstand, denn die Krise des Werkbegriffs ist eine durch die Kunst selbst provozierte und inszenierte Krise: Kunst zielt selbst auf die „Überwindung und Sprengung der herkömmlichen Werkeinheit“, auf die Nivellierung oder Auflösung „der Sonderstellung des Werks“, sie inszeniert selbst „die Skepsis gegenüber der Geschlossenheit des Werks“ und ist so insgesamt von einer Tendenz zur „systematisch betriebenen Auflösung der Werkeinheit“ geprägt.2 Da die moderne Kunst damit jede Werkästhetik scheitern läßt, bleibt der philosophischen Ästhetik als ihr einzig legitimer Gegenstand die ästhetische Erfahrung. Rezeptionsästhetik, die sich von substantiellen Aussagen über die Kunst fernhält, ist die einzig verbleibende Gestalt einer Ästhetik, die nicht den Makel trägt, sich gegenüber wesentlichen Zügen der Moderne blind machen zu müssen. Bubners Fazit nimmt sich wie folgt aus: Insbesondere die moderne Kunst hat erkennbar werden lassen, daß philosophische Ästhetik genötigt ist, rein auf die ästhetische Erfahrung selbst zu rekurrieren, will sie sich nicht vollends den Zugang zu den Manifestationen abschneiden, in denen Kunst seit geraumer Zeit auftritt.3
Überraschenderweise begegnen wir bei Bubner aber auch einer andersartigen Begründung und damit auch einer zweiten Version der Rezeptionsästhetik. Während er sich in dem soeben genannten Aufsatz auf eine manifest gewordene Krise des Werkbegriffs beruft, um einer notwendigen Selbstbeschränkung philosophi-
26 scher Ästhetik das Wort zu reden, tritt in seinem Aufsatz Zur Analyse ästhetischer Erfahrung eine programmatische Tendenz ganz anderer Art hervor: Die Tendenz nämlich zu einer Reduktion des Kunstwerks auf die ästhetische Erfahrung: Die vertraute Rede von der Werkidentität erliegt leicht der Gefahr falscher Verdinglichung. Es gibt kein beständiges, in der Welt der Objekte vorfindliches Etwas, auf das sich als substantieller Träger ästhetischer Qualitäten der Finger legen ließe wie auf ein Ding mit Eigenschaften. Es gibt nur ein Werk zusammen mit der Geschichte seiner Auffassung und Interpretation. Die Identität bildet sich durch die Folge immer wieder realisierter ästhetischer Erfahrungen [...].4
Daß philosophische Ästhetik eine Theorie ästhetischer Erfahrung ist, liegt dieser Lesart zufolge also nicht daran, daß Werkästhetik obsolet oder unmöglich geworden ist, sondern daran, daß Werkästhetik notwendigerweise und nichts anderes als Rezeptionsästhetik ist. Denn Kunstwerke bestehen in ästhetischer Erfahrung bzw. in einer Folge ästhetischer Erfahrungen; und Aussagen über Kunstwerke sind daher Aussagen über ästhetische Erfahrungen. Die ‚Krise‘ des Werkbegriffs, scheint Bubner jetzt also sagen zu wollen, zwingt uns nicht etwa zu einer Aufgabe des Werkbegriffs selbst, sondern zu einer Neukonzeption oder Reinterpretation unserer Rede von Kunstwerken, welche der ‚Gefahr falscher Verdinglichung‘ entgeht, indem sie die Werkidentität als ein Produkt ‚immer wieder realisierter ästhetischer Erfahrungen‘ interpretiert. Klarer und vor allem auch mit deutlicherem Bewußtsein des eigenen Anspruchs finden wir diese radikale Auffassung schon bei Sartre. Eine der zentralen Fragen seines großen Essays Was ist Literatur? lautet „Warum schreiben?“ Diese Frage führt Sartre zu einer grundlegenden Untersuchung über das Verhältnis zwischen Autor, Werk und Leser und entsprechend zwischen Schreiben, Werk und Lektüre. Denn die Frage „Warum schreiben?“ bedarf der Untersuchung der Frage, worin sich das Schreiben erfüllt. Der uns allen vertrauten Sicht zufolge erfüllt sich das Schreiben natürlich im Werk – das literarische Werk ist das Ziel, in dem der Prozeß des Schreibens sein Ende findet. Die
27 Lektüre, die Rezeption, ist dann als eine Tätigkeit zu interpretieren, die sich an die Vollendung des Schreibens im Werk anschließt und wesenhaft auch nichts anderes sein kann als eben eine solche Anschlußhandlung. Denn ohne Werk keine Lektüre. Dieses uns allen vertraute Bild wird von Sartre jedoch umgestürzt, wenn er behauptet, daß das literarische Werk nicht das Produkt des Schreibens ist. Der Grund dafür ist, daß für den Schriftsteller seine Schöpfung unmöglich objektiv sein kann: „die Resultate, die wir auf der Leinwand oder auf dem Papier erhalten haben, scheinen uns niemals objektiv.“5 Objektivität verlangt nach Sartres Auffassung Fremdheit und das heißt, Opazität. Dem Schriftsteller, betont Sartre, ist aber das von ihm Geschriebene gerade nichts Fremdes oder Opakes. Das Geschriebene ist ihm vielmehr stets transparent; für ihn gibt es im Geschriebenen weder ein Moment der Überraschung, noch ein Moment der Enttäuschung. Daher ist er, was das von ihm Geschriebene betrifft, niemals und unmöglich enthüllendes Bewußtsein: „ich kann nicht gleichzeitig enthüllen und hervorbringen.“6 Und das führt Sartre nun zu der durchaus paradoxen Auffassung, daß der Schriftsteller, da sein Schreiben reines Entwerfen ist und er im Geschriebenen daher immer nur auf seine eigene Subjektivität stößt „nicht lesen kann, was er schreibt.“7 Das Geschriebene wird daher nur durch das Lesen des Lesers ein Werk. Das Schaffen findet seinen Abschluß oder seine Vollendung allererst in der Lektüre.8 Obwohl Sartre manchmal auch dazu neigt, das Werk als eine Koproduktion von Autor und Leser zu beschreiben, gewinnt die Lektüre doch immer wieder die Oberhand und wird wesentlich: So ist ihm „das Erscheinen des Kunstwerks ein neues Ereignis, das sich nicht durch frühere Gegebenheiten erklären läßt“; und die hervorbringende Lektüre ist „ein absoluter Anfang“ und wird „von der Freiheit des Lesers vollbracht.“9 Da es als eine ‚frühere Gegebenheit‘ also nicht einmal Teil der Erklärung der Werkidentität ist, kann das vom Schriftsteller Geschriebene keine andere Rolle als die eines unbestimmt unvordenklichen An-
28 stoßes für die Hervorbringung des Werks durch die Lektüre haben. Ein direktes Analogon zu dieser Beschreibung läßt sich übrigens bei Bubner finden, wenn er dem Gegenstand ästhetischer Erfahrung lediglich die Rolle eines unbestimmt bleibenden auslösenden Objekts zuschreibt und die Kunst „im Raume einer durch gewisse sinnliche Objekte ausgelösten Reflexionstätigkeit“ situiert.10 Charakteristisch für die beiden bisher betrachteten Versionen der Rezeptionsästhetik ist, daß sie eine vollständige Autonomisierung ästhetischer Erfahrung zur Folge haben. Das unterscheidet sie von einer dritten Version, die den Begriff ästhetischer Erfahrung im Rahmen einer Definition der Kunst zum tragenden Pfeiler der Ästhetik macht. So haben Autoren wie Monroe Beardsley und Harold Osborne11 vorgeschlagen, die Differenz von Kunst und Nicht-Kunst im Rückgriff auf ästhetische Erfahrung zu erklären. Kunstwerke werden dabei von Nicht-Kunst als Vehikel ästhetischer Erfahrung unterschieden, sind also, dieser Auffassung zu Folge, funktional durch ästhetische Erfahrung definiert. In einer sehr komprimierten Formulierung heißt es etwa bei Osborne: „whatever among artifacts is capable of arousing and sustaining aesthetic experience [...] we call a work of art.“12 Der Sinn dieser kompakten Formel läßt sich relativ schnell verdeutlichen. Artefakte werden funktional durch die Zwecke identifiziert, denen sie dienen. Als Zweck, dem ein Artefakt dient, gilt dabei natürlich nicht jeder Gebrauch, den man von ihm machen kann, sondern allein der intendierte Zweck oder auch der intendierte Gebrauch. Nun sind alle Kunstwerke Artefakte und daher sollte man annehmen können, daß auch Kunstwerke funktional durch einen sie auszeichnenden intendierten Zweck definiert sind. Die ästhetische Definition der Kunst besagt daher im Kern, daß ein Artefakt genau dann ein Kunstwerk ist, wenn es mit der Intention hervorgebracht wurde, ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen, zu unterstützen und anzuleiten. Was Kunstwerke, der ästhetischen Definition zufolge, von natürlichen Objekten unterscheidet, ist die Tatsache, daß Kunstwerke wie alle Ar-
29 tefakte absichtlich hervorgebrachte Gegenstände sind; was sie von anderen Artefakten unterscheidet, ist der Inhalt der Intention, mit der sie hervorgebracht werden. Obwohl damit dem Begriff ästhetischer Erfahrung eine fundamentale Rolle innerhalb der philosophischen Ästhetik zugewiesen wird, impliziert die ästhetische Definition der Kunst offenbar keine reduktionistische Interpretation des Kunstwerks. Daß Kunst von Nicht-Kunst durch die intendierte Kapazität, ästhetische Erfahrungen hervorzubringen, zu unterstützen oder anzuleiten, unterschieden ist, impliziert weder, daß Kunstwerke in solchen Intentionen, noch daß sie in den ästhetischen Erfahrungen bestehen, die zu ermöglichen der Künstler mit der Hervorbringung des Kunstwerks intendiert. Damit haben wir drei unterschiedliche Versionen der Rezeptionsästhetik kennen gelernt. Die erste Version ergibt sich aus dem Anspruch, daß ästhetische Erfahrung der einzig legitime Gegenstand einer philosophischen Ästhetik ist, weil Werkästhetik obsolet geworden ist. Die zweite Version entspringt der reduktionistischen These, daß Kunstwerke in ästhetischen Erfahrungen bestehen. Die dritte Version schließlich besteht in der Auffassung, daß der Begriff ästhetischer Erfahrung grundlegender ist als der Begriff der Kunst, da nur mit Hilfe des Begriffs ästhetischer Erfahrung erklärt werden kann, was Kunst ist und sie von Nicht-Kunst unterscheidet.
2. Kunstwerke und ästhetische Erfahrung: Kritik der drei Positionen Der von Welsch teils diagnostizierte, teils geforderte Vorrang der ästhetischen Wahrnehmung oder Erfahrung läßt sich, wie wir sehen konnten, keineswegs mit einem einheitlichen Paradigma der Ästhetik identifizieren. Sehr viel interessanter noch ist aber die Tatsache, daß die um den Begriff ästhetischer Erfahrung sich gruppierenden philosophischen Programme nicht nur ver-
30 schieden, sondern sogar miteinander unverträglich sind. So ist die These, daß Ästhetik ausschließlich eine Analyse ästhetischer Erfahrung sein könne, unverträglich mit dem Anspruch der ästhetischen Definition der Kunst. Unverträglich ist sie aber auch mit dem rezeptionsästhetischen Reduktionismus, da dieser eine These über den ontologischen Status des Kunstwerks ist. Und schließlich sind auch dieser Reduktionismus und die ästhetische Definition der Kunst miteinander unverträglich. Denn der ästhetischen Definition der Kunst gilt das Kunstwerk als ein wesentlicher Faktor in der Erklärung der ästhetischen Erfahrungen seiner Rezipienten. Der reduktionistischen Auffassung des Kunstwerks zufolge kann jedoch ästhetische Erfahrung gerade nicht im Rückgriff auf das Werk erklärt werden, da dieses ja in solchen Erfahrungen besteht. Die ästhetische Definition der Kunst und die rezeptionsästhetische Erklärung des Kunstwerks beinhalten also nichts weniger als miteinander unverträgliche Konzeptionen ästhetischer Erfahrung selbst. So wird die Konzeption ästhetischer Erfahrung wesentlich von den theoretischen Erfordernissen geprägt, denen ästhetische Erfahrung innerhalb der Ästhetik genügen soll. Daher ist die Untersuchung, ob ästhetische Erfahrung solchen Erfordernissen genügen kann, zugleich auch eine Untersuchung über die Angemessenheit und Tragfähigkeit der Konzeptualisierung ästhetischer Erfahrung selbst. Bubners Auffassung, daß der Ästhetik im begrifflich undurchdringlichen Dschungel der (modernen) Kunst einzig die ästhetische Erfahrung als letzte Zuflucht bleibe, wird durch diese Situation konterkariert. Betrachten wir seine Position nun etwas genauer. Sein zentrales Argument macht, wie gesehen, Gebrauch von generalisierenden Aussagen vor allem über die moderne Kunst. Die moderne Kunst, behauptet er, zeigt uns, daß ästhetische Erfahrung das einzig verbleibende Thema der Ästhetik sein kann. Aussagen wie diese stützen sich nun auf Beispiele wie das vielbeschworene Urinal von Duchamps. Nicht nur daß dabei vorausgesetzt wird, es gäbe einen verständlichen Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst; es wird dabei – und das ist
31 sehr viel wichtiger und auffälliger – auch unterstellt, daß ein Ausdruck wie „Fontaine von Duchamps“ einen Referenten hat. Zu behaupten, es wäre angesichts der modernen Kunst nicht mehr möglich, mit Hilfe des Werkbegriffs von Kunst zu sprechen, heißt nun nichts anderes als zu behaupten, daß es für solche Termini gar keine Referenten gibt. Wenn das richtig wäre, dann könnten wir uns aber gar nicht erst auf irgendwelche Beispiele der modernen Kunst beziehen, an denen sich angeblich zeigen soll, daß die Kategorie des Kunstwerks untauglich, obsolet oder leer geworden ist. Wenn also die Kategorie des Kunstwerks leer ist und es folglich nichts gibt, worauf wir uns beziehen können, wenn wir über Kunst oder unsere Erfahrungen von Kunst oder unser Verstehen von Kunst reden, dann können wir legitimerweise auch nicht mehr davon sprechen, daß an irgendwelchen Gebilden oder ‚Phänomenen‘ der Kunst sich irgendetwas zeigen könnte. In diesem minimalistischen Sinne verstanden gehört daher die Kategorie des Kunstwerks zweifellos zur Logik unserer Rede von Kunst und ohne diese Kategorie ist jeder Diskurs über Kunst leer. Gehört die Kategorie des Kunstwerks aber zur Logik unserer Rede von Kunst, dann kann keine Entwicklung der Kunst – und sei sie auch noch so revolutionär – diese Kategorie entleeren. Das Problem an Bubners These über das Veralten der Werkkategorie besteht darin, daß er diese minimalistische und fundamentale Rolle, die sie in jeder Rede über Kunst spielt, übersieht oder einfach übergeht. Er behandelt den Werkbegriff lediglich als einen ästhetisch stilistischen Begriff, so etwa wenn er von der „Auflösung der Werkeinheit“ als dem Signum oder der inneren Tendenz der Moderne spricht. Daraus zu folgern, daß man nicht mehr von Kunstwerken sprechen kann, ist aber ein schlichter Fehlschluß der Äquivokation. Der ästhetische Begriff der Einheit oder des einheitlichen Werks, der gebraucht wird, wenn man etwa von der Einheitlichkeit des Stils oder der Einheitlichkeit der Handlung oder der Einheitlichkeit der Materialien usw. spricht, ist nicht der ontologische Begriff der Werkidentität, son-
32 dern liegt auf einer ganz anderen Ebene: Ästhetische Heterogenität ist nicht nur vereinbar mit Werkidentität, sondern setzt diese offenbar sogar voraus. Ästhetische Heterogenität muß sich schließlich an etwas zeigen können – und dieses etwas, worauf wir uns beziehen, wenn wir es mit dem in ästhetischer (stilistischer oder kompositorischer) Hinsicht ‚einheitlichen‘ Werk kontrastieren ist eben das ästhetisch ‚uneinheitliche‘ Werk.13 Der besagte Fehlschluß aus der Äquivokation von „Werkeinheit“ schlägt nun auch auf Bubners eigentliches Thema – die ästhetische Erfahrung – durch. Ästhetischer Erfahrung schreibt Bubner offenbar eine kognitive und epistemische Relevanz zu. Das wird deutlich, wenn er etwa betont, daß allein über die ästhetische Erfahrung noch ein Zugang zu den Manifestationen der modernen Kunst gewonnen werden kann.14 Um ästhetische Erfahrung so konstruieren zu können, muß sie jedoch gewisse Minimalbedingungen erfüllen. Wenn es so etwas wie ästhetische Erfahrung gibt und ohne ästhetische Erfahrung Kunst unzugänglich ist, dann muß ästhetische Erfahrung veridisch sein. Sie bedarf dann also, um überhaupt als ästhetische Erfahrung gelten zu können, eines Gegenstandes, und zwar so, daß das Subjekt ästhetischer Erfahrung ein Bewußtsein von der Identität des Gegenstands seiner ästhetischen Erfahrung hat. Dazu gehört aber, daß es in der Lage ist, den Gegenstand seiner ästhetischen Erfahrung zu reidentifizieren. Soll sich ästhetischer Erfahrung etwa ein umfangreicher Roman erschließen, muß das Subjekt dieser Erfahrung das Bewußtsein der Wiederaufnahme der Lektüre haben können und das heißt, das Bewußtsein der Fortsetzung der Lektüre eines und desselben Werks. Wenn daher ästhetischer Erfahrung die epistemische Rolle der Erschließung oder des Zugangs zur Kunst zugeschrieben wird, kann sie ohne Bezugnahme auf Kunstwerke gar nicht adäquat beschrieben werden. Die Auffassung, daß ästhetische Erfahrung erschließend sei, steht daher in scharfem Gegensatz zu Bubners anderer Tendenz, ihr eine vollkommene Autonomie zuzuschreiben. Vollkommene Autonomie erhält sie, wenn sie als eine freisetzend reflexive
33 Aufmerksamkeit des Subjekts auf seine innere Erlebniswelt beschrieben wird, die der Logik des Diskurses über Kunst in keiner Weise mehr verpflichtet ist. Eine starke Tendenz zu dieser Auffassung deutet sich an, wenn Bubner die Charaktere moderner Kunst als etwas beschreibt, das sich „in der ästhetischen Erfahrung [...] abspielt“15. Keineswegs bloß Ausdruck methodischer Bescheidenheit und Selbstbeschränkung, handelt es sich hier um die substantielle These, daß Kunst sich nicht in Werken, sondern allein in Kunsterfahrungen manifestiert. Diese These ist schon insofern paradox, als wir Kunstwerken zweifellos Eigenschaften zuschreiben, die unmöglich Eigenschaften von Kunsterfahrungen sein können.16 Dieses Problem läßt sich nicht wirklich beheben, sondern allenfalls durch eine sehr radikale revisionistische Interpretation unsere Rede von Kunstwerken umgehen. Die Autonomisierung ästhetischer Erfahrung als des einzig legitimen Gegenstands philosophischer Ästhetik drängt also, wie ich meine, von selbst zu einer rezeptionsästhetischen Ontologie des Kunstwerks, welche es dann unmöglich macht, ästhetische Erfahrung noch im Sinne einer veridischen im Unterschied zu einer nicht-veridischen Erfahrung zu verstehen.17 Ästhetische Erfahrung wird dann autonom im Sinne eines ursprünglich schöpferischen Prozesses, der – zwar auf unbestimmte Weise angestoßen, durch diesen Anstoß aufgrund seiner vollkommenen Unbestimmtheit aber auch nicht erklärbar – seinen Gegenstand, das Kunstwerk, selbst hervorbringt. Die daraus resultierende Ontologie des Kunstwerks ist nun aber nicht nur in höchstem Maße paradox, weil sie den Rezipienten zum Künstler erhebt, sie hat vielmehr auch Implikationen, welche die soziale Praxis der Kunst mit ihren spezifischen Aktivitäten – die Kunstwelt – zu einem gänzlich unbegreiflichen Mysterium macht. Legen wir die eher individualistische Lesart zugrunde, wie sie besonders deutlich an manchen Stellen bei Sartre hervortritt, dann existieren etwa literarische Kunstwerke nur in und durch die jeweilige Lektüre. Diese Auffassung impliziert, daß etwa das Gedicht Die kleine Aster von Gottfried Benn nicht ein Werk, son-
34 dern viele Werke ist – und zwar so viele Werke wie es Lektüren dieses Gedichts gibt. Hier ist zu beachten, daß schon die Formulierung dieser Implikation offenbar auf logisch-semantische Schwierigkeiten stößt und die Grenze sinnvoller Rede zu verlassen droht. Denn der Terminus „Die kleine Aster von Gottfried Benn“ hat ja im Rahmen der Interpretation des Kunstwerks als einem Produkt schöpferischer ästhetischer Erfahrung keinen eindeutigen Bezug mehr. Er verhält sich vielmehr wie ein indexikalischer Ausdruck und hat je nach Kontext der Verwendung unterschiedliche Referenten. Aber nicht nur das. Denn es müßte sich zugleich um einen Ausdruck handeln, dessen Bezug nur seinem Verwender selbst bekannt sein kann.18 Hätte der rezeptionsästhetische Reduktionismus recht, könnte daher über Kunstwerke schwerlich noch kommuniziert werden, da zwei Personen mit der Verwendung von Namen für Kunstwerke unmöglich dasselbe meinen können.19 Was wir normalerweise als Namen für Kunstwerke gebrauchen, würde sich lediglich auf private, im ontologischen Sinne streng nicht-öffentliche Produkte einer schöpferischen Erfahrung beziehen, womit die Möglichkeit einer Kunstwissenschaft, einer Kunstkritik und auch die Möglichkeit der gesamten Praxis, die wir als Kunst bezeichnen, aufgehoben wäre. Die Möglichkeit einer Kommunikation über Kunst verlangt also, daß ästhetische Erfahrung, was sie sonst auch immer sei, jedenfalls gerade nicht autonom im Sinne eines ursprünglich schöpferischen Prozesses ist. Anders als Sartre scheint Bubner noch eine andere Lesart vorzuschweben, derzufolge das Werk seine Identität oder Einheit nicht in einer ästhetischen Erfahrung, sondern in der Gesamtheit solcher Erfahrungen hat. So schreibt er an einer schon oben zitierten Stelle: „Es gibt ein Werk nur zusammen mit der Geschichte seiner Auffassung […] Die Identität bildet sich durch die Folge immer wieder realisierter Erfahrungen hindurch […].“20 Aber auch diese Spielart kommt kaum besser davon, als die eben besprochene. Denn wenn ein Werk identisch ist mit der Geschichte seiner (!)21 Auffassung, dann reden wir, wenn wir
35 über Die kleine Aster reden, niemals über das Werk Die kleine Aster, sondern (bestenfalls) über ein Werkstadium: das Stadium nämlich, in dem sich dieses Gedicht gerade befindet.22 Leser zu verschiedenen Zeiten, möchte man sagen, reden dementsprechend über verschiedene Werkstadien, in dem sich das Gedicht befindet, nicht aber über das Gedicht selbst. Aber sie scheinen nur darüber zu reden. Denn wenn ein Werk mit seiner Rezeptionsgeschichte identisch wäre, könnten wir über so etwas wie ein Werkstadium in Wirklichkeit gar nicht reden – das heißt, wir können über gar nichts reden, worin sich Kunst ‚manifestiert‘. Über ein Werkstadium reden wir nämlich gerade in der ex post Perspektive des schon vollendeten Kunstwerks.23 Das heißt, daß wir Werkstadien als Werkstadien durch Bezugnahme auf das Kunstwerk, um dessen Entwicklungsstadium es sich eben handelt, identifizieren. Wäre nun aber, wie Bubner es will, ein Werk identisch mit der Geschichte seiner Auffassungen, dann könnten wir, deren Auffassungen ja jeweils nur Teile der Rezeptionsgeschichte sind, uns auf so etwas wie Die kleine Aster niemals beziehen, so daß wir unsere Auffassungen von diesem Gedicht auch nicht einmal sinnvoll als Auffassung von so etwas wie einem Werkstadium, dessen Vollendung noch aussteht, beschreiben können. Der Auffassung, ästhetische Erfahrung sei ursprünglich schöpferisch oder sei konstitutiv für die Identität des Kunstwerks, läßt sich also schwerlich ein kohärenter Sinn abgewinnen.24 Wie steht es mit der ästhetischen Definition der Kunst? Kunst läßt sich durch Bezugnahme auf ästhetische Erfahrung von Nicht-Kunst natürlich nur dann auf eine erhellende Weise unterscheiden, wenn die Art, wie wir einen Gegenstand erfahren, unabhängig von unserem Wissen um seine Einstufung als Kunstwerk ist. Wenn das nicht so ist, dann droht, wie Danto zurecht hervorhebt, „in jeder Definition von Kunst, bei der irgendeine Bezugnahme auf die ästhetische Reaktion eine zentrale Rolle spielen soll, die Gefahr eines Zirkels.“25 Die Frage ist also, ob das Wissen, daß etwas ein Kunstwerk ist, unsere Reaktionen ihm
36 gegenüber verändert oder ob es unsere Reaktionen, was schon ausreichen würde, verändern kann. Für die Entscheidung dieser Frage gibt es einen philosophischen Lackmustest: Wenn wir zwei Objekte betrachten, die qualitativ ununterscheidbar sind, von denen eins jedoch als Kunstwerk betrachtet wird, und wenn diese Objekte trotz ihrer qualitativ-sinnlichen Ununterscheidbarkeit, unterschiedliche Reaktionen hervorrufen oder unterstützen, dann können es nicht die ästhetischen Reaktionen sein, durch die Kunst von Nicht-Kunst unterschieden wird. Eben das aber scheint der Fall zu sein. Es gibt zahllose Urinale, die Duchamps Fontaine in ihren wahrnehmbaren Eigenschaften gleichen. Aber keines dieser Urinale ist „gewagt, unverschämt, respektlos, witzig und geistreich.“26 Die Auswirkung, welche die Einstufung eines Werks als ein Kunstwerk auf seine Betrachtung hat, ist dabei der Auswirkung vergleichbar, welche die Einstufung eines Textes als Fiktion hat: Es ändern sich die Art der Betrachtung, die Weise der Beschreibung und nicht zuletzt natürlich die Kriterien der Bewertung. So ist die Art unserer Reaktionen auf Simenons Die Phantome des Hutmachers, ja, die ganze Art unserer Lektüre, wesentlich von unserem Wissen abhängig, daß es sich dabei um eine Fiktion und nicht um einen historischen Bericht über einen Massenmörder handelt. Wenn das richtig ist, kann aber die Bezugnahme auf ästhetische Erfahrungen zur Erhellung der Differenz von Kunst und Nicht-Kunst ebenso wenig beitragen wie sie beispielsweise zur Erhellung der Differenz von Fiktion und Bericht beitragen kann.27 Wir kommen vielmehr zu dem Resultat, daß ästhetische Erfahrungen in Abhängigkeit von ihren Gegenständen unterschiedlich ausfallen oder unterschiedliche Rollen einnehmen. Der Begriff ästhetischer Erfahrung kann daher nicht grundlegender sein als die Begriffe, mit denen wir die Gegenstände der ästhetischen Erfahrung erfassen.28
37 3. Was bleibt von der ästhetischen Erfahrung? Einige Autoren haben geradezu bestritten, daß es so etwas wie ästhetische Erfahrung überhaupt gibt. Für George Dickie war sie ein Phantom, eine extravagant indirekte Weise über die ästhetischen Eigenschaften von Kunstwerken zu sprechen: Ästhetische Erfahrung ist einfach Erfahrung von ästhetischen Eigenschaften und das ergibt keinen besonderen Typus von Erfahrung.29 Andere haben zwar nicht bestritten, daß es spezifisch ästhetische Erfahrungen gibt, haben diese Tatsache aber für irrelevant erklärt. So war es für Danto eine ausgemachte Angelegenheit, daß ästhetische Überlegungen, wenn sie nichts zur Definition der Kunst beitragen, „philosophisch im Grunde nicht wichtiger [sind] als zahllose andere Dinge wie etwa die Kostbarkeit oder die Eignung zum Sammeln, die ebenfalls Teil der Praxis, wenn auch nicht des Begriffs der Kunst sind.“30 Die Frage ist, ob man sich aufgrund der Zurückweisung der drei diskutierten Positionen Verdikten dieser Art anschließen muß. Zunächst einmal ist klar, daß unsere Diskussion nicht ergeben hat, daß es überhaupt keinen legitimen Sinn geben kann, in dem man von ästhetischen Erfahrungen sprechen könnte. Und sie hat auch nicht ergeben, daß ästhetische Erfahrungen (wenn es denn einen legitimen Sinn gibt, von so etwas zu sprechen) gänzlich irrelevante Begleiterscheinungen der Praxis der Kunst sind. Was die Frage betrifft, ob es überhaupt einen legitimen Sinn gibt, von ästhetischer Erfahrung zu sprechen, hat die Zurückweisung der ersten beiden Versionen der Rezeptionsästhetik aber dennoch ein bedeutsames Resultat: daß ästhetische Erfahrung nämlich keine autonome Erfahrungsform oder keine Erfahrung sui generis sein kann.31 Eine autonome Erfahrungsform oder eine Erfahrung sui generis wäre ästhetische Erfahrung genau dann, wenn sie sich in dem Sinne vom Prozeß oder Verlauf unserer gewöhnlichen sinnlichen Erfahrung abhebt, daß sie von dieser unabhängig ist, sich in diese nicht integriert und in diese auch nicht integrieren läßt. Es ist in diesem Zusammenhang
38 überaus aufschlußreich, daß ästhetische Erfahrung so – als eine Erfahrung sui generis – zu interpretieren nicht nur ein Irrtum ist, dem einige Projekte der Ästhetik als Theorie ästhetischer Erfahrung erlegen sind. Denn es handelt sich auch um einen Irrtum derjenigen, die Erfahrung nach dem Modell wissenschaftlicher Beobachtung konstruieren und die subjektive Seite des Erlebens als nicht zur eigentlichen Erfahrung gehörig ausklammern und jeden Rekurs auf das Erleben zu einer irrationalen Mystifikation erklären. Die theoretisch induzierte Entfremdung des Subjekts von seinem eigenen Erleben war eins der zentralen Themen in John Deweys Ästhetik.32 Ich kann mir aber keinen besseren Ausgangspunkt für ein Nachdenken über den ästhetischen Erlebnisaspekt der Erfahrung vorstellen als die Gestalt dieser Entfremdung selbst.33 In Max Frischs Homo Faber gibt es eine denkwürdige Passage, in welcher der Ich-Erzähler, Walter Faber, über das Erleben der Natur räsoniert. Ich zitiere nur eine kurzes Stück daraus: Ich habe mich oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis?34
Faber rationalisiert sein Unverständnis, indem er das Erleben der Natur als eine Mystifikation abweist. Das aber gelingt ihm nur, weil er unterstellt, daß die Schönheit der Wüste im Mondschein oder die Schönheit des Mondes über der Wüstenlandschaft erleben heißt: die Dinge nicht so zu sehen, wie sie sind. Denn was sich in der Szenerie einem informierten Beobachter mit funktionsfähigem Wahrnehmungsapparat nicht erschließt, glaubt er, läßt sich auch in keinen kohärenten Zusammenhang mit Wahrnehmung und Wissen bringen: Wer die Dinge sieht, wie sie sind, der sieht zum Beispiel den Mond und die Wüstenlandschaft und nimmt wahr, daß die Wüste vom Mondlicht erhellt wird. Detailliertere Beschreibungen ergeben sich aus genaueren Beobach-
39 tungen, aber keine noch so genaue Beobachtung wird uns zeigen, daß die mondbeschienene Wüste geheimnisvoll oder unheimlich oder schön oder von erhabener Weite usw. ist. Diese Mystifikation des Naturerlebens liegt aber im Auge des Betrachters Faber und beruht auf einer fehlerhaften Beschreibung. Natürlich ist es richtig, daß ästhetische Erlebnisse durch sinnliche Wahrnehmung nicht erzwungen werden. Andernfalls wäre eine Figur wie Faber ja undenkbar. Wir müssen daher sagen, daß ästhetische Erlebnisqualitäten von den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften eines Objekts nicht impliziert werden. Die Starrheit des Materials einer Plastik impliziert nicht die Starrheit der dargestellten Figur, sondern ist verträglich mit deren Dynamik, wovon man sich etwa am Beispiel von Rodins Balzacplastiken überzeugen kann. Es gilt aber weiterhin, daß die Dynamik einer Figur von Rodin zu erleben nicht den irrigen Glauben an die Beweglichkeit des Materials voraussetzt. Entsprechend kann man auch den Wald als schwarz und schweigend erleben ohne darum glauben zu müssen, daß er manchmal spricht. Ästhetisches Erleben bedarf daher keiner Unterdrückung eines informierten Weltbildes. Anders als Halluzinationen, optische Täuschungen oder Träume hat jedes ästhetische Erleben einen von ihm selbst unabhängigen Gegenstand der Wahrnehmung. Dieser ist nicht nur ein unbestimmter Anstoß zur Aufblendung einer inneren Erlebnisfülle, sondern ein vom Subjekt des Erlebens identifizierbarer und beschreibbarer Gegenstand. Wer den silbrigen Glanz des Mondes als schön erlebt, muß auch wahrheitsgemäß urteilen können, daß der Mond silbrig scheint. Daher sind ästhetische Erlebnisse nicht nur beschreibbar, sondern auch genuin kommunizierbar. Die Kommunizierbarkeit ästhetischer Erlebnisse hängt daran, daß diese, wo sie auftreten, phänomenale Aspekte ganz gewöhnlicher Erfahrungen sind und gerade nicht autonom oder sui generis sind. Auch die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung als einer besonderen Aufmerksamkeitsrichtung oder einer besondern Art von Aufmerksamkeit scheint mir daher nicht angemessen zu sein. Daß sie keine besondere Aufmerksamkeits-
40 richtung ist, zeigt sich an der Figur Faber: Nichts von dem, worauf wir seine Aufmerksamkeit lenken könnten, kann es erzwingen, daß er die Szenerie als schön oder als geheimnisvoll usw. erlebt. Aber auch als eine besondere Art von Aufmerksamkeit – eine interessenlose Aufmerksamkeit – kann ästhetische Erfahrung schwerlich gelten. Fabers Blick auf den Mond ist weder ein theoretisch, noch ein praktisch interessierter Blick, und trotzdem ist an seiner Erfahrung nichts, was man als ein ästhetisches Erlebnis ansprechen könnte.35 Fabers Reaktion kann aber auch nicht einfach durch Unaufmerksamkeit erklärt werden. Seine Lage ist vielmehr vergleichbar mit der einer Person, die alle deskriptiven Details eines Gedichts wahrnimmt, für die sich aber, um mit den Worten Peter Rühmkorfs zu reden,36 im Zusammenklang kein Zusammenhang manifestiert. Sie ist auch vergleichbar mit der Lage einer Person, die alle deskriptiven Details eines Gesichts wahrnimmt, für die das Gesicht aber zugleich nicht ‚sprechend‘ ist – einer Person also, welcher der Ausdruck eines Gesichts unzugänglich bleibt.37 Fabers Unfähigkeit zu erleben erklärt sich also daraus, daß Deskription, Interpretation und Bewertung des von ihm Wahrgenommenen auseinandergefallen oder diskontinuierlich sind. Ästhetische Erlebnisse sind daher in der Tat Aspekte ganz gewöhnlicher Erfahrungen; aber dort, wo sie auftreten, gibt es für das Subjekt der Erfahrung eine Kontinuität von deskriptiven Details, Verstehen, und Wertschätzung. Was immer diese Kontinuität verhindert, untergräbt daher auch die Fähigkeit ästhetischen Erlebens. Aufgrund dieser impliziten Kontinuität haben ästhetische Erlebnisse, obwohl sie Aspekte unseres gewöhnlichen Erfahrungshaushaltes sind, eine signifikante Eigenschaft, an der sich ihr Unterschied zur rein deskriptiv orientierten Beobachtung am deutlichsten manifestiert. Sie sind nämlich unvertretbar. Beobachtungen können ohne Verlust arbeitsteilig durchgeführt werden. Die Mitteilung einer Beobachtung (Zuverlässigkeit des Beobachters unterstellt) macht das eigene Beobachten überflüssig. Bei ästhetischen Erfahrungen ist eben das nicht der Fall. Ihr
41 Wert liegt nicht in einer arbeitsteilig durchführbaren Informationsbeschaffung, sondern in ihrem Vollzug selbst. Und in diesem Sinne sind sie unvertretbar. Das erklärt auch, warum George Dickies Auffassung nicht ganz korrekt sein kann. Ästhetische Erfahrungen lassen sich nicht als Wahrnehmung oder Beobachtung ästhetischer Qualitäten beschreiben. Denn das ließe unerklärt, warum es darauf ankommt, daß man sie selbst macht. Wenn meine Beschreibung so weit richtig ist, dann müssen wir feststellen, daß nicht ästhetische Erfahrung, sondern allein die Konstruktion ästhetischer Erfahrung als einer Erfahrung sui generis aufgegeben werden muß. Damit möchte ich noch kurz auf Dantos Verdikt zu sprechen kommen. Daß ästhetische Erfahrung nicht definierend für Kunst ist, impliziert nicht, daß sie ein bedeutungsloses Epiphänomen der Kunstwelt ist. Das Potential von Kunstwerken, ästhetische Erfahrungen hervorzurufen, anzuleiten und zu unterstützen macht sicherlich einen wesentlichen Teil der Bedeutsamkeit aus, die Kunst für uns hat. „Diese zwei Strophen“, schrieb Johannes R. Becher einmal über Jakob van Hoddis’ Gedicht Weltende, „schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben, uns emporgehoben zu haben aus einer Welt stumpfer Bürgerlichkeit, die wir verachteten und von der wir nicht wußten, wie wir sie verlassen sollten. Diese acht Zeilen entführten uns. […] Was war geschehen? Wir kannten das Wort damals nicht: Verwandlung.“38 Ein Elitismus, der solche Erfahrungen zum dilettantischen Kunstgenuß abstempelt, verkennt eine der wesentlichsten Quellen des Werts und der Lebendigkeit der Kunst. Auch die philosophische Frage, was Kunst ist, zehrt von der Unterstellung, daß sie eine besondere Rolle im Leben spielt. Als Übung in Begriffsanalyse oder Ontologie hätte diese Frage niemals irgendein Interesse gewinnen können und auch niemals verdient. Die Abdrängung der affektiv-leidenschaftlichen Seite der Erfahrung künstlerischer Werke, verkennt aber auch, daß ästhetisches Erleben darin nicht aufgeht, sondern durchaus auch kognitive Relevanz hat. Denn viele Aspekte von Kunstwerken erschließen
42 sich nur einer Erfahrung bei der die Wahrnehmung deskriptiver Details, Verstehen und Wertschätzung nicht auseinanderfallen.39 Ohne das Erlebnis der Wucht und Dynamik der Figur erschließen sich Rodins Balzacplastiken nicht. Eine Beschreibung, die nicht an diese Erlebnisqualitäten appelliert, kann keine adäquate Beschreibung dieser Plastiken sein. Und da jede Interpretation dieser Plastiken sich auf deren Beschreibungen stützen muß, muß auch jede Interpretation Begriffe von Erlebnisqualitäten enthalten. Auch in diesem weiteren Sinne halte ich ästhetische Erfahrungen für unvertretbar. Auch wenn sie nicht zur ‚Logik‘ des Begriffs der Kunst gehören sollte, ist ästhetische Erfahrung sicherlich ein wichtiger Bestandteil der Kunst als einer Praxis verstanden. Anmerkungen 1 Wolfgang Welsch, Vorwort zu: Die Aktualität des Ästhetischen, hrsg. v. Wolfgang Welsch, München 1993. Welschs Behauptung hat sicher auch einen diagnostischen Aspekt. Als Diagnose gelesen, ist sie jedoch in unserem Zusammenhang uninteressant und wohl kaum mehr als eine voreilige Generalisierung. Eine genau gegenteilige, am Beispiel der angloamerikanischen Philosophie gewonnene Diagnose lautet nämlich, daß ästhetische Erfahrung „in den letzten fünfzig Jahren zunehmend in Verruf geraten ist.“ Vgl. Richard Shusterman, Am Ende ästhetischer Erfahrung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 859-878, hier: S. 859. Vgl. auch den von Michael H. Mitias herausgegebenen Band mit dem bezeichnenden Titel Possibility of the Aesthetic Experience (Dordrecht 1986). 2 Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 9-51, hier S. 33. 3 (wie Anm. 2), S. 44. 4 Rüdiger Bubner, Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, S. 52-69, hier S. 60. 5 Jean Paul Sartre, Was ist Literatur? (= Jean Paul Sartre, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Schriften zur Literatur Bd. 3), hrsg. und übers. von Traugott König, Hamburg 1981, S. 37. 6 (wie Anm. 5), S. 36. 7 (wie Anm. 5), S. 38. 8 (wie Anm. 5), S. 40. 9 (wie Anm. 5), S. 41 [Zweite Hervorhebung von mir]. 10 Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik (wie Anm. 2), S. 38. Daß diese Beschreibung schon von der Ausdrucksweise
43 her deutlich an Fichte gemahnt, ist – wenn auch vielleicht nicht intendiert – so doch alles andere als ein Zufall. 11 Vgl. Monroe Beardsley, An Aesthetic Definition of Art, in: What is Art, ed. by Hugh Curtler, New York 1983, S. 15-29; Harold Osborne, What is a Work of Art? British Journal of Aesthetics 23 (1981), S. 1-11; William Tolhurst, Toward an Aesthetic Account of the Nature of Art, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 42 (1979), S. 1-14. 12 Osborne (wie Anm. 11), S. 10. 13 Übrigens können gerade auch als experimentell und als paradigmatisch zur Moderne gehörende Kunstwerke wie etwa Peter Weiss’ Roman Der Schatten des Körpers des Kutschers oder Malewitschs Schwarzes Quadrat in höchstem Maße einheitlich sein. Die These von der Auflösung der Werkeinheit als einem Signum der Moderne ist also auch unter einer ästhetisch-stilistischen Interpretation von „Werkeinheit“ einfach falsch. 14 Vgl. Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik (wie Anm. 2), S. 44. 15 Ebd. (Hervorhebungen von mir). 16 Mathias Claudius’ Abendlied ist aus sieben Strophen mit jeweils sechs Versen komponiert. Ästhetische Erfahrungen können aber wohl kaum selbst die Eigenschaft haben, aus Strophen und Versen komponiert zu sein. 17 Es wäre für den Ästhetiker, der der ästhetischen Erfahrung einen zentralen Stellenwert in seiner Ästhetik einräumen möchte, sicherlich von Gewinn, sich einmal die Debatte über religiöse Erfahrungen anzuschauen. Diese dreht sich ja unter anderem darum, ob religiösen Erfahrungen überhaupt ein veridischer Charakter eignet oder ob sie nicht vielmehr vollständig ohne Bezug auf das erklärt werden können, wovon sie angeblich Erfahrungen sind. So weit ich sehe, ist jedoch bis jetzt noch niemand, der die Rationalität des theistischen Glauben unter anderem durch die religiöse Erfahrung verteidigen möchte, auf den Gedanken gekommen, Gott als etwas zu begreifen, das sich in der religiösen Erfahrung selbst ‚abspielt‘. 18 Namen für Kunstwerke wären also so etwas wie Russel’sche Eigennamen. Vgl. seine Philosophie des logischen Atomismus, in: Bertrand Russell, Die Philosophie des logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie 1908-1918, München 1979, S. 178-277, insbes. S. 200. 19 Gadamer hebt entsprechend hervor, daß „absolute Diskontinuität, d.h. Zerfall der Einheit des ästhetischen Gegenstandes in die Vielheit von Erlebnissen, die notwendige Konsequenz der Erlebnisästhetik [ist].“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. (= Gesammelte Werke, Bd. 1), Tübingen 1986, S. 101. 20 Rüdiger Bubner, Zur Analyse ästhetischer Erfahrung (wie Anm. 4), S. 52-69, hier S. 60. 21 Auch hier stoßen wir offenbar wieder an die Grenze der Möglichkeit einer kohärenten Formulierung. Denn so häufig anzutreffende und geradezu unkritisch eingeschliffene Formulierungen wie die, daß ein Kunstwerk identisch mit seiner Wirkungs-/Interpretations-/Rezeptionsgeschichte usw. ist,
44 übersieht, daß das darin verwendete Possessivpronomen anaphorisch auf eben denselben Gegenstand Bezug nimmt, auf den ein zuvor verwendeter singulärer Terminus Bezug nimmt: „Das Gedicht Die kleine Aster ist identisch mit seiner Rezeptionsgeschichte“ kann auch ausgedrückt werden als „Das Gedicht Die kleine Aster ist identisch mit der Rezeptionsgeschichte des Gedichts Die kleine Aster“. Wird die Bezugnahme des Pronomens durch die erneute Verwendung des singulären Terminus explizit gemacht, zeigt sich aber sofort, daß die rezeptionsästhetische Interpretation des Kunstwerks inkohärent ist und schon aus logisch-semantischen Gründen scheitert. Denn Rezeptionsgeschichten müssen offenbar selbst anhand von Werken identifiziert und unterschieden werden und können daher unmöglich die Identität eines Werks konstituieren. 22 Vgl. Reinhold Schmücker, Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998, S. 233, wo er hervorhebt, daß der „kollektivistischen Interpretation des rezeptionsästhetischen Mentalismus zufolge Kunstwerke […] prinzipiell nur als Fragmente existieren [könnten].“ 23 Der Künstler selbst könnte freilich auch prospektiv von einem Werkstadium reden. Aber das wäre nicht das Stadium seines Werks, sondern das Stadium des von ihm intendierten Werks. Vollendet er es nicht, so ist das von ihm intendierte Werk nicht realisiert, es handelt sich um ein Fragment. 24 Ironischerweise führt der Versuch einer Rekonstruktion der Werkeinheit durch Appell an die (an seine) Rezeptionsgeschichte, durch den eine ‚Verdinglichung‘ des Werks vermieden werden sollte, zu einer in der Tat fehlerhaften Hypostasierung der Rezeptionsgeschichte selbst. Wenn sich die Einheit des Werks durch die Folge immer wieder realisierter Erfahrungen bilden (herausbilden) soll, dann muß diese Folge von Erfahrungen offenbar selbst in einem interessanten und erklärungsstarken Sinn eine Einheit bilden. Wie es aber ohne die Unterstellung einer Art idealistischer Geschichtsphilosophie, die es uns grundsätzlich erlauben würde, von einer Vollendung der Geschichte und von ihrem einheitlichen Sinn zu sprechen, möglich sein sollte, Rezeptionsgeschichten als etwas in sich selbst Einheitliches zu begreifen, ist schwer zu sehen. 25 Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a. M. 1991, S. 143. Zu einer sehr viel ausführlicheren Würdigung und Kritik der ästhetischen Definition der Kunst vgl. Noël Carroll, Philosophy of Art. A contemporary Introduction, London/New York 1999, S. 155-204. 26 Danto (wie Anm. 25), S. 147. 27 Ein weiteres Problem mit der ästhetischen Definition der Kunst scheint darin zu bestehen, daß sie eine zu enge Auffassung über die Qualität oder über die Kriterien der Bewertung von Kunstwerken zumindest nahe legt. Denn wenn Kunstwerke von anderen Artefakten durch ihre spezifische Funktion, ästhetische Erfahrungen hervorzubringen, unterschieden sind, dann liegt es nahe, gute von schlechter Kunst eben anhand ihrer Leistung, solche Erfahrungen hervorzubringen, zu unterscheiden. 28 Vgl. Reinhold Schmücker (wie Anm. 22), S. 55.
45 Dickie hatte bei seiner Kritik insbesondere die Beardsley’sche Auffassung über die Natur ästhetischer Erfahrung im Auge. Vgl. George Dickie, Beardsleys Phantom Aesthetic Experience, in: Journal of Philosophy 62 (1965), S. 129-136. 30 Danto (wie Anm. 25), S. 144. 31 Das meint wahrscheinlich auch Jens Kulenkampff, wenn er in seinem Aufsatz Ästhetische Erfahrung – oder was von ihr zu halten ist (in: Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Jürg Freudinger, Andreas Graeser und Klaus Petrus, S. 178-198) die Auffassung zurückweist, es gäbe ästhetische Erfahrung im Sinne eines besonderen und eigenständigen Typs der Erfahrung. 32 Vgl. John Dewey, Kunst als Erfahrung, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, insbes. Kap. I-III; und auch John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt a. M. 1995, insbes. Kap. 1. 33 Von Entfremdung zu sprechen hat natürlich eine konzeptuelle Pointe: Die Unfähigkeit zu ästhetischem Erleben, wie sie uns in der Gestalt Walter Fabers entgegentritt, kann nicht als das Fehlen einer besonderen Fähigkeit, sondern muß privativ als Mangel der allgemeinen Erfahrungsfähigkeit beschrieben werden. Die Unfähigkeit zu ästhetischem Erleben ist daher kategorial verschieden von der Unfähigkeit des Blinden zu sehen oder der Unfähigkeit des Tauben zu hören. Wenn daher zum begrifflichen Instrumentarium, mit dem wir eine Gestalt wie Faber beschreiben, die Begriffe der Entfremdung, der Verdrängung oder der (schlechten) Rationalisierung gehören, müssen wir jede Theorie ästhetischer Erfahrung, die auf der Vorstellung aufbaut, es gäbe einen spezifisch ästhetischen Sinn, zurückweisen. Daß die umgangssprachliche Rede von einem Sinn fürs Schöne oder einem Sinn für Humor keinen Anlaß zur Postulierung spezifischer sinnlicher Fähigkeiten gibt, hat auf eine etwas andere Weise auch Arthur C. Danto gezeigt. Vgl. Danto (wie Anm. 25), S. 149 ff. Moritz Geigers Auffassung, es gäbe so etwas wie einen Dilettantismus im künstlerischen Erleben, steht dagegen auf einem ganz anderen Blatt und wird von meiner Interpretation der Unfähigkeit zu ästhetischem Erleben nicht impliziert. Geigers Rede vom Dilettantismus in Bezug auf das ästhetische Erleben zehrt von einem normativ anspruchsvollen Begriff der Unfähigkeit zum richtigen (angemessenen, authentischen, wahrhaften) ästhetischen Erleben. Während man an eine wohlverbreitete Fähigkeit und an eine ebenso wohlverbreitete Wertschätzung ästhetischer Erlebnisse appellieren kann, um die Beschreibung des Technikers Faber als einer entfremdeten Gestalt verständlich zu machen, ist dieser Weg verbaut, sobald man wie Geiger in einer normativen Dimension zwischen richtigem und falschem ästhetischem Erleben unterscheiden möchte. Der starke Zug zu einem Elitismus des Erlebens droht dabei in der paradoxen Situation zu enden, den Erlebnischarakter der ästhetischen Erfahrung als etwas in sich selbst Wertvolles und zugleich als etwas für sich genommen vollkommen Unbedeutendes beschreiben zu müssen. Zur Dilettantismus-These vgl. Moritz Geiger, Zugänge zur Ästhetik, in: ders., Die 29
46 Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik, hrsg. von Klaus Berger und Wolfhart Henckmann, München 1976, S. 133-293. Zum Problem normativer Distinktionen im Bereich sinnlichen Erlebens vgl. Carolyn Korsmeyer, Taste, in: The Routledge Companion to Aesthetics, ed. by Berys Gaut and Dominic McIver Lopes, London/New York 2002, S. 193202. 34 Max Frisch, Homo Faber. Ein Bericht, 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1979, S. 24. 35 Noël Carroll hat in diesem Zusammenhang auf den tiefergehenden Punkt hingewiesen, daß Aufmerksamkeit einfach nicht zu den Dingen gehört, von denen man sinnvollerweise sagen könnte, daß sie interesselos oder interessiert sind. Vgl. Carroll (wie Anm. 25), S. 184 ff. 36 Vgl. Peter Rühmkorf, agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Frankfurt a.M. 1985. 37 Zum Ausdrucksphänomen vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Die Phänomenologie der Erkenntnis, 8. Aufl. Darmstadt 1982, S. 68 ff. 38 Zitiert nach Karl Riha, ‚Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut‘, in: Gedichte und Interpretationen. Bd. 5: Vom Naturalismus bis zur Jahrhundertmitte, hrsg. v. Harald Hartung, Stuttgart 1987, S. 119. 39 Im Hinblick auf die Musik hat Roger Scruton unterstrichen, daß musikalische Bedeutung – wenn es überhaupt so etwas wie musikalische Bedeutung geben soll – im Hören der Musik verstanden werden muß. Was, anders gesagt, nicht im Hören verstanden werden kann, kann auch nicht als musikalische Bedeutung gelten. Vgl. Roger Scruton, Analytic Philosophy and the Meaning of Music, in: Analytic Aesthetics, ed. by Richard Shusterman, Oxford 1989, S. 85-96.
Peter Nickl PHILOSOPHIE ALS „SCIENTIA AFFECTIVA“? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit*
Läßt sich der Begriff „scientia affectiva“ von der Theologie des 13. Jahrhunderts auf die Philosophie übertragen? Die Frage setzt die Klärung dessen voraus, was mit „affectus“ gemeint ist – die auf gleicher Augenhöhe mit dem „intellectus“ stehende, komplementäre geistige Seelenkraft. Den „affectus“ privilegieren intellektkritische Philosophen wie Jacobi, Scheler, Levinas. Aber auch Kants Werk trägt affektive Züge. Ziel der Studie ist es, die erhellende Funktion des mittelalterlichen affectus-Begriffs – etwa als Hingabefähigkeit – so zur Sprache zu bringen, daß er als Korrektiv und Ergänzung des Intellekts plausibel wird. Ein Kurzschluß „Affekt sei gleich Bauch“ braucht dabei nicht befürchtet zu werden.
Wissenschaft mit dem Etikett „affektiv“ scheint eine contradictio in adiecto. Dennoch konnte in der mittelalterlichen Diskussion die Meinung vertreten werden, die Theologie sei eine „scientia affectiva“. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß diese Auffassung – wenn man die Fragestellung auf die Philosophie überträgt – nicht aufs Mittelalter beschränkt bleibt; es gibt eine ganze Reihe neuzeitlicher Philosophen, die den Primat des Affektiven (wenn man das Wort entsprechend versteht, wozu wiederum das Mittelalter treffend Auskunft gibt) vertreten. Darauf hinzuweisen und den Begriff der „scientia affectiva“ zur Geltung zu bringen in einer Diskussion, die einen Vergleich mit der mittelalterlichen Anthropologie zumindest einmal erwägen sollte, ist das Ziel des folgenden Beitrags. Seit einigen Jahren boomt „Das Andere der Vernunft“.1 Eine Flut von Büchern über Emotionen, Gefühle, Affekte zeigt, daß hier ein Nachholbedarf besteht.2 Während die einen diese Ten-
48 denz begrüßen, stehen die anderen ihr kritisch gegenüber und sehen die Philosophie in Esoterik abdriften. Dabei ist die Suche nach einer Verbindung von Intelligenz und Affektivität gar nicht die Spezialität einer rationalitätsüberdrüssigen Nachmoderne.
I. „Scientia affectiva“ im Mittelalter Allerdings: Philosophie als „scientia affectiva“ – das gibt es im Mittelalter nicht. Der Ausdruck „scientia affectiva“ fällt in anderem Zusammenhang: beim Versuch, die Theologie, die Leitwissenschaft jener Zeit, in ihrem Wesen zu bestimmen. Der Beginn der Sentenzenkommentare ist der locus classicus für die Frage: Was für eine Wissenschaft ist die Theologie? Zur Auswahl stehen folgende Antworten: – Die Theologie orientiert uns im Wissen, ist also eine spekulative, d.h. theoretische Wissenschaft (so Thomas von Aquin3). – Die Theologie orientiert uns im Handeln, ist also eine praktische Wissenschaft (so Duns Scotus4). – Die dritte Position sagt: Die Theologie ist eine affektive Wissenschaft, „scientia affectiva“. Diese Meinung vertreten Albertus Magnus, Bonaventura, Aegidius Romanus. Ein Schüler Alberts, Ulrich von Straßburg, erklärt sie so:5 Der Gegenstand [der Theologie] wird, da er Gott als das höchste Gut ist, das das letzte Ziel von allem ist, nicht genügend erkannt durch reine Spekulation ohne Affektion; denn ein Gut, das nicht geliebt wird, kann niemand vollkommen erkennen [...] Es ist also klar, dass das Ziel dieser Wissenschaft eine affektive Erkenntnis (notitia affectiva) ist [...] Diese Erkenntnis aber schließt dreierlei ein, nämlich eine spekulative Erkenntnis, weil wir Unbekanntes nicht lieben können […], und die Liebe, […] und drittens ein dem Geliebten wohlgefälliges Werk, denn die Liebe ist der Grund davon, weswegen auch in der Schrift von denen, die eine Kenntnis Gottes ohne Liebe und ohne gutes Werk haben, häufig gesagt wird, sie kennten Gott nicht [...]
Theologie wird von Ulrich von Straßburg als „scientia […] affectiva“6 verstanden, weil das affektive Moment das spekulative und das praktische integriert.
49 II. Was heißt „affectus“? 1. Versuch einer Annäherung Was verbinden wir mit dem Komplementärbegriff zum Intellekt – dem Affekt? – Zunächst zwei Vorbemerkungen. 1. Es ist daran zu erinnern, daß statt der uns geläufigen Einteilung seelischer Akte in Denken, Wollen und Fühlen, die sich in den drei Kantischen Kritiken spiegelt, im Mittelalter die Zweiteilung intellectus – affectus gängig war. 2. „Affekt“ soll hier nicht die Bedeutung haben, die anklingt, wenn von einer „Affekthandlung“ die Rede ist (wer im Affekt handelt, dem gesteht das Strafgesetzbuch mildernde Umstände zu, denn er war zum Zeitpunkt der Tat nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte). Affectus ist nicht etwa das Tierische im Menschen im Gegensatz zum intellectus. Der Affekt ist nicht minder geistig als der Intellekt. – Verdeutlichen wir uns den Affekt (wie wir einfachheitshalber für affectus sagen wollen) zunächst, indem wir ihm bzw. seinem Fehlen im Alltag nachgehen. Kinder z.B. sind in besonderer Weise affektiv begabt. Sie wissen genau, wie die Geschichte vom kleinen Bären, der nicht schlafen kann, weitergeht – und wollen sie doch wortwörtlich immer wieder hören. Dabei ist es offenbar nicht um die Information zu tun – worum also sonst? Wir finden eine Parallele im Kunstgenuß des Erwachsenen: eine Symphonie, ein Theaterstück kann man gut kennen und doch, wenn man „ganz dabei“ ist, wieder erleben wie beim ersten Mal. Dabei sind Intellekt und Affekt zugleich involviert. Genau besehen, eignet jedem menschlichen Akt ein intellektuelles und ein affektives Moment. – Umgekehrt gilt: Mit dem einen verschwindet das andere, das eine kann nicht sein ohne das andere. Dazu ein paar Beispiele: – Alten Menschen fällt es oft schwer, sich bestimmte alltägli-
50 che Dinge zu merken: welcher Wochentag z.B. ist. Sie entnehmen das Datum auch nicht der Zeitung, nicht einmal dem mit Kalenderanzeige versehenen Radiowecker. Sie erinnern sich nicht, ob sie schon zu Mittag gegessen haben. Das sieht aus wie intellektuelles Versagen. Das eigentliche Problem scheint aber anderer, affektiver Art zu sein: es gibt nichts mehr, was den alten Menschen (der nicht mehr im Beruf steht, dessen Lebenspartner schon gestorben ist, der keine Freunde mehr hat und dessen Kinder weggezogen sind) interessiert. Und deswegen merkt er sich nichts mehr. – Anders liegt der Fall bei manisch-depressiver Störung des Seelengleichgewichts. Mit welchem Recht spricht man den Maniker als ver-rückt an? Er kann bestens denken, er ist hell, ja zu hell im Kopf. Was ihm mangelt, ist nicht die Intelligenz, sondern die Affektivität. Er will hundertprozentige Aktivität, alles „machen“, nichts „erleiden“. Er will beeindrucken, sich nicht beeindrucken lassen. In seiner Vorstellungswelt geht alles sehr schnell, Luftschlösser werden im Handumdrehen gebaut, bezogen, verpachtet. Die Realität kann nicht mithalten, bzw. sie wird, mangels affektiver Verankerung in ihr, nicht richtig erfaßt. Kierkegaard beschreibt diese Situation als „Verzweiflung der Möglichkeit“ in Die Krankheit zum Tode.7 Der scholastische Spruch „intellectus supra tempus“, der Intellekt ist über der Zeit, ließe sich ergänzen: „affectus in tempore“ – der Affekt ist in der Zeit. Oder besser: durch den Affekt verankert sich der Mensch in der Zeit.8 (Heidegger hat diesen Zusammenhang gesehen.) – Ein letztes Beispiel: die Fortschritte der Computerentwicklung nähren die Vorstellung, ein Computer könne beinahe das Gleiche wie ein Mensch – er könne ja denken, und mit Hilfe seiner künstlichen Intelligenz sei er sogar in der Lage, gegen einen Schachmeister zu gewinnen. Doch wenn zwischen dem Computer und dem Schachmeister wirklich ein Spiel stattfände, dann müßte man sehen, wie der Computer sich über seinen Sieg freut, bzw. nach einer Niederlage zornig oder traurig ist. Aber der Au-
51 tomat spielt ja in Wirklichkeit gar nicht. Es geht ihm um nichts, wenn sein Benutzer die Verbindung zum Stromnetz herstellt und ein bestimmtes Programm wählt. Solange es keine „künstliche Affektivität“ gibt – und wie sollte es sie geben? –, dürfen wir getrost annehmen, daß wir den Computern immer das Wesentliche voraushaben werden.
2. Affectus und intellectus im Mittelalter Für die Autoren des Mittelalters ist die prinzipielle Unterscheidung zweier Seelenkräfte Gemeingut. „In der Seele gibt es eine erkennende (vis cognitiva) und eine strebende Kraft (vis appetitiva)“, schreibt Thomas von Aquin.9 Beide Kräfte können die Wirklichkeit im Ganzen umfassen, für beide gilt das Axiom, wonach die Seele „in gewisser Weise alles“ sei.10 Die Übereinkunft („convenientia“) des Seienden mit dem appetitus drückt sich im Begriff „gut“, die mit dem Intellekt im Begriff „wahr“ aus, fährt Thomas an der zitierten Stelle fort. (Es sollte den modernen Leser nicht stören, daß der Komplementärbegriff zu intellectus in verschiedener Weise bezeichnet werden kann: als affectus, oder, wie gesehen, als appetitus, oder, wie in einer sogleich zu betrachtenden Passage aus der Summa theologiae, als voluntas.11) Wir verhalten uns zum Wahren nicht auf die gleiche Weise wie zum Guten (obwohl beide nach der mittelalterlichen Transzendentalienlehre identisch sind). Das Wahre erfassen wir, vom Guten werden wir erfaßt. Es ist daher leichter, das Wahre zu definieren als das Gute – vom Guten kann man sich höchstens definieren lassen. Das bedeutet, daß unser Ausgriff auf das Wahre eine Aktivität darstellt, die je nach dem Seinsrang des zu begreifenden Gegenstandes diesen erreichen, verfehlen oder auch verzerren kann. Im Streben oder Wollen – d.h. im affectus – kehrt sich das Verhältnis um: wir sind sozusagen die Objekte, die sich anzie-
52 hen, packen lassen, denen etwas widerfährt, was je nach dem Seinsrang des uns bewegenden Guten uns fördert oder schadet (auch Geld ist ein Gut, aber schädlich, wenn es von der ganzen Seele des Menschen Besitz ergreift). Auch wenn uns die Vorstellung eines passiven Willens (gegenüber einem aktiven Intellekt) fremd erscheint – in der Neuzeit hat sich, in der Linie der Franziskaner, der Primat des Willens durchgesetzt12 –, ist doch auch das aristotelisch-thomistische Modell bedenkenswert. (Am Rande sei erlaubt, darauf hinzuweisen, daß sich das Mittelalter in dieser zentralen Frage das Nebeneinander von zwei konkurrierenden Ansätzen geleistet hat.) – Zwei Stellen aus der Summa theologiae erläutern den Unterschied der beiden Seelenkräfte. Thomas nennt sie im ersten Fall appetitus und intellectus, im zweiten voluntas und intellectus – er hätte ebensogut affectus und intellectus sagen können.13 […] wie das Gute dasjenige benennt, worauf das Streben (appetitus) zielt, so benennt das Wahre dasjenige, worauf der Intellekt zielt. Das aber ist der Unterschied von appetitus und intellectus, bzw. einer jeden Erkenntnis, dass bei der Erkenntnis das Erkannte im Erkennenden ist: beim appetitus aber neigt sich das Strebende der erstrebten Sache selbst zu. Und so ist das Ziel des Strebens, nämlich das Gute, in der erstrebenswerten Sache: das Ziel der Erkenntnis aber, das Wahre nämlich, im Intellekt selbst.14
Im Erkennen sind wir also aktiv und holen das Erkannte in uns hinein, im Wollen oder Streben sind wir passiv und lassen uns vom Erstrebten/Gewollten anziehen. Als Bewegung veranschaulicht, ist der Motor (und zugleich der Zielpunkt) der Erkenntnis der erkennende Intellekt; der Motor (und Zielpunkt) des appetitus die begehrte Sache. In der Frage, ob Wille oder Intellekt das höhere Seelenvermögen sei, wägt Thomas ab und kommt dabei zu einem Grundproblem der modernen Transzendentalphilosophie, das er mit Hilfe der Passivität des affectus (bzw. der voluntas) ohne Kantkrise löst. Wie nämlich oben gesagt wurde, besteht die Handlung des Intellekts darin, daß der Begriff der erkannten Sache im Erkennenden
53 ist; die Handlung des Willens hingegen findet ihren Abschluss darin, daß sich der Wille zur Sache selbst wie sie in sich ist hinneigt.15
Der Intellekt liefert uns also immer eine seiner (beschränkten) Kapazität angemessene Erkenntnis; er faßt, was er fassen kann (Kant würde sagen: die Erscheinung, das Ding für uns). Der Wille hingegen erfährt, ohne subjektive Verzerrung, die Einwirkung des Dinges an sich. Wenn daher die Sache, in der das Gute ist, edler ist als die Seele, in der der erkannte Begriff ist: so ist im Vergleich zu einem solchen Ding der Wille höher als der Intellekt. Wenn aber die Sache, in der das Gute ist [ergänze: in ihrem Seinsrang], tiefer als die Seele steht, dann ist […] im Vergleich zu einem solchen Ding der Intellekt höher als der Wille. Daher ist die Liebe zu Gott besser als seine Erkenntnis: hingegen ist die Erkenntnis der körperlichen Dinge besser als die Liebe.16
(Daß hier für voluntas auch amor stehen kann, bestätigt die Austauschbarkeit von Wille und Affekt.) Thomas betont am Ende, daß simpliciter, schlechthin also und ohne die Berücksichtigung des Bezugs auf höher- oder niederrangige Gegenstände, der Intellekt höher sei als der Wille.
3. Zusammenspiel von affectus und intellectus Die Scholastiker haben ihre Anthropologie in theologischen Zusammenhängen entwickelt. Die Frage, ob nun der Intellekt oder der Affekt das nobelste Vermögen des Menschen sei, wird erörtert unter der Überschrift: worin liegt die himmlische Seligkeit – in einem Akt des intellectus oder in einem Akt des affectus (bzw. der voluntas)? Mit anderen Worten: besteht die beatitudo darin, Gott zu schauen (das wäre Sache des intellectus) oder ihn zu lieben? Der im Hoch- und Spätmittelalter zum Teil erbittert geführte Streit zwischen Dominikanern auf der einen und Franziskanern auf der anderen Seite darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der scholastische common sense sich für ein Ineinanderfließen beider Akte aussprach: amor cognitivus et
54 cognitio amativa, wie es in einem Hohelied-Kommentar des 13. Jahrhunderts heißt.17 Wie auch immer die Akzentsetzung differieren mag, für Thomas wie für Duns Scotus gilt, daß „Erkennen und Wollen […] in der beatitudo zu einem einzigen, beseligenden Akt […] verschmelzen.“18 Allerdings ist noch eine mystische Note hervorzuheben, die Autoren beider Orden erklären läßt, das eigentlich entscheidende Moment der Einung mit Gott sei ein passives: die Hingabe, das Sich-beschenken-lassen. So sagt Meister Eckhart in einer Predigt: „Und deshalb werden wir im ewigen Leben viel seliger sein kraft des Hörens als kraft des Sehens. Denn […] das Hören erleide ich, das Sehen aber wirke ich.“19 Und Duns Scotus sieht es als Vollkommenheit des Menschen, daß sich seine „capacitas passiva“ weiter erstreckt als seine „causalitas activa“.20 Es ist kein Zufall, daß der Vorrang des affectus vor dem intellectus besonders in der Mystik betont wird: „[…] ibi non intrat intellectus, sed affectus“ (Bonaventura).21
III. „Scientia affectiva“ in der Neuzeit Versteht man „Affekt“ im erwähnten Sinn – als die dem Intellekt komplementäre Grundkraft der Seele, weshalb wir auch immer vom affectus im Singular gesprochen haben22 –, so zeigt sich, daß sich eine ganze Reihe von Philosophen der Neuzeit als Vertreter einer „affektiven Philosophie“ identifizieren läßt. Ich möchte nur drei Beispiele – Jacobi, Scheler, Levinas – herausgreifen und alsdann noch eine Gegenprobe anstellen bei einem Denker, der auf den ersten Blick eher als Antipode der hier dargestellten Richtung erscheint: Kant.
55 1. Friedrich Heinrich Jacobi Jemanden als „Gefühlsphilosophen“ kennzeichnen, heißt, ihn brandmarken. Das wußte niemand besser als Friedrich Heinrich Jacobi.23 Seine Berufung auf das Gefühl ist allerdings vielschichtiger, als sich oberflächlichem Hinsehen zeigt. Was Jacobi insbesondere Kants und Fichtes philosophischen Konstruktionen entgegenhält, die die Konstitution der Wirklichkeit weitestgehend der Spontaneität des Ich, des menschlichen Bewußtseins, verdankt wissen wollen, ist dies: Vernunft heißt vernehmen;24 das höchste Vermögen des Menschen ist nicht seine Spontaneität, sondern seine Rezeptivität. In ihr hat er Anteil an einer Wirklichkeit, die sein faktisches Sein übersteigt. Birgit Sandkaulen hat diesen Ansatz als „Umstellung des Denkens vom Konstruieren ins Finden“ charakterisiert.25 „Hat der Mensch Vernunft; oder hat Vernunft den Menschen?“26, ist eine berühmte Formulierung Jacobis für den wiederentdeckten Primat der Rezeptivität. Sie wird heute nicht mehr als Rückfall hinter das Niveau Kantischer und Fichtescher Reflexion, sondern als Gewinnung eines neuen Bodens auf demselben Niveau, aber mit grundsätzlich anderer Stoßrichtung gesehen. Worum geht es? Wenn die Grenzen des verständig Rekonstruierbaren erreicht sind, dann fängt das für den Menschen eigentlich Wertvolle erst an. So ergibt sich die Wahl: entweder hat man auf dieses „opake“ Wertvolle oder auf die vollständige rationale Rekonstruktion der Wirklichkeit zu verzichten. Jacobis Denken beruht, wie alle scientia affectiva, auf dem Primat der praktischen Philosophie. Wer eine wahrhaft gute Handlung ausführt (und dergleichen läßt sich nicht rekonstruieren, sondern höchstens in der Geschichte auffinden), kann sein Handeln nicht im Sinn des Kantischen Moralgesetzes als Ausfluß einer verallgemeinerbaren Maxime darstellen. Er kann dafür keine Letztbegründung liefern; und doch leuchtet jedermann das Gute einer solchen Handlung ein. Jacobi gibt hierfür Beispiele: die Spartaner Spertias und Bu-
56 lis, die nach einer Erzählung Herodots zu Xerxes gehen, um sich von ihm töten zu lassen (also keine Selbstmord-Attentäter!), weil nach der Ermordung zweier persischer Herolde ein spartanisches Heiligtum verstimmt ist.27 Die beiden kommen mit Hydarnes, einem Perser, ins Gespräch, der – offenbar Vertreter einer hedonistischen bzw. utilitaristischen Philosophie – die Spartaner von ihrem Vorhaben abbringen will. Umsonst. Jacobi kommentiert:28 Spertias und Bulis mochten leicht weniger Fertigkeit im Denken und im Schließen haben, als die Perser. Sie beriefen sich auch nicht auf ihren Verstand, auf ihr feines Urteil […] Sie rühmten sich dabei auch keiner Tugend; sie bekannten nur ihres Herzens Sinn, ihren Affekt. Sie hatten keine Philosophie, oder ihre Philosophie war bloß Geschichte.
Jacobi scheint sagen zu wollen, daß, wer nur seinen „Affekt“ ins Feld zu führen vermag, keine Philosophie hat – aber das stimmt nicht ganz: denn vom Wert, von der Wahrheitsnähe her ist dieser Affekt viel besser als jede Philosophie. Er begründet eine Philosophie des Anderen der Vernunft. Das ist das eigentliche Dilemma dieser Position: unser Verhältnis zum Wahren ist nicht das des Wissens – was wir wissen ist, eben weil es uns in dieser vermittelten (man könnte hinzusetzen: distanzierten, abgekühlten) Form vorliegt, nicht das Wahre. Wir haben ein Verhältnis zum Wahren – aber es kann in seiner Unmittelbarkeit nicht in allgemeiner Form dargestellt, es kann nur vom einzelnen gefühlt werden.29 Ein anderes Beispiel: Jacobi preist die Lüge der Desdemona, die doch dem Kantischen Sittengesetz offen widerspricht.30 Desdemona liegt im Sterben und leugnet ihrer Dienerin gegenüber, daß Othello ihr Mörder sei. Diese edle Lüge, in der sich eine über alles menschliche Maß hinausgehende Liebe zeigt, zu verurteilen, weil sie gegen die von Kant für sittliche Handlungen geforderte Verallgemeinerbarkeit der zugrunde liegenden Maxime verstößt, wäre „augenscheinlich absurd“31. Um das eigentlich Wertvolle, das dem Menschen nicht auf Grund der reinen Vernunft zugänglich ist, zu retten, muß Jacobi
57 auf solche Extremfälle verweisen. Was unbefriedigend bleibt, ist die Entgegensetzung von Denken und Fühlen, von intellectus und affectus, von der sich anscheinend Jacobi selbst nicht befreien konnte. So schreibt er in einem vielzitierten Brief an Reinhold, er sei „durchaus ein Heide mit dem Verstande, mit dem ganzen Gemüthe ein Christ“32. Eine solche Position fordert zu dialektischer Vermittlung und Überwindung geradezu heraus.33 Aber wenn Hegel, der diese Vermittlung geleistet hat, zwar ein Christ mit dem Verstande, dafür aber mit dem ganzen Gemüt ein Heide wäre – hätte dann nicht Jacobi den besseren Teil erwählt?
2. Max Scheler Max Scheler hat der aristotelischen Definition des Menschen als ens rationale die Formel vom ens amans gegenübergestellt.34 Der Mensch sei, noch ehe er denke oder wolle, ein liebendes Wesen. Scheler hat es in gewisser Weise leichter als Jacobi, diesen Primat der Liebe zu vertreten, weil die Zeit, in der er schreibt, die Zeit um den ersten Weltkrieg, nach neuen Grundlagen Ausschau hält, nachdem der Siegeszug einer einseitig rationalistischen Zivilisation in ein Fiasko geführt hatte. Scheler schickt sich an, „Liebe und Erkenntnis“ wieder zu verknüpfen – übrigens im Ausgang von einem Brief des jungen Goethe an Jacobi. Es heißt dort:35 „Man lernt nichts anderes kennen als was man liebt, und je tiefer und vollständiger die Kenntnis werden soll, desto stärker, kräftiger und lebendiger muß die Liebe, ja Leidenschaft sein […]“ Der Akt der Liebe, so zeigt Scheler, ist das Fundament „aller intellektuellen Akte“36: [...] das Interessenehmen „an etwas“, die Liebe „zu etwas“ sind die primärsten und alle anderen Akte fundierenden Akte, in denen unser Geist überhaupt einen „möglichen“ Gegenstand erfaßt. Sie sind zugleich Grundlage für die sich auf denselben Gegenstand richtenden Urteile, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Bedeutungsintentionen.37
Sicher ist dabei ein mehrdeutiger Begriff von Liebe im Spiel;
58 denn die Liebe als Grund eines jeden noch so alltäglichen Bewußtseinsaktes meint etwas anderes als die Liebe zwischen Personen. Der Ausdruck „Interessenehmen“ ist hier unverfänglicher. Jeder intellektuelle Bezug zur Wirklichkeit setzt einen affektiven Bezug voraus. Wir sehen das, was uns betrifft.38 Ein Liebhaber von alten Schallplatten wird auf einem Flohmarkt vor allem Schallplatten sehen, ein Sammler von Mokkatassen Mokkatassen. Wer sich gar für Schallplatten, Mokkatassen, Münzen und Bauernmöbel interessiert, sieht mehr als die beiden anderen zusammen. (Und nur wer alles liebt, kann alles wissen. Theologisch gewendet heißt das: die Allwissenheit Gottes geht aus seiner All-Liebe hervor.) – In der Liebe wendet sich der Mensch der Wertseite der Dinge zu. Scheler schreibt zum „Wesensverhältnis […] zwischen Werterkennen und Seinserkennen überhaupt“39, bzw. zum „Primat der Wertgegebenheit vor der Seinsgegebenheit“40, „daß in der Ordnung möglicher Gegebenheit der objektiven Sphäre überhaupt die dieser Ordnung angehörigen Wertqualitäten und Werteinheiten allem vorhergegeben sind, was der wertfreien Schicht des Seins angehört […]“41 Diese These wird historisch belegt:42 [...] für allen historischen Fortschritt der Erkenntnis gilt, daß die Gegenstände, die dieser Fortschritt des Erkennens ergreift, zuerst geliebt oder gehaßt werden mußten, ehe sie intellektuell erkannt, analysiert und beurteilt werden. Überall geht der „Liebhaber“ dem „Kenner“ voraus, und es gibt kein Seinsgebiet (seien es Zahlen, Sterne, Pflanzen, geschichtliche Wirklichkeitszusammenhänge, göttliche Dinge), dessen Erforschung nicht eine emphatische Phase durchlaufen hätte, bevor es in die Phase wertfreier Analyse trat [...]
So sehr Scheler einerseits die wirklichkeitserschließende Funktion des Fühlens und damit die enge Verbindung von Liebe und Erkenntnis betont, so scheint er in seiner bekanntesten Theorie, der Begründung einer materialen Wertethik, beides wieder zu trennen. Gegen Kant fordert er einen „Apriorismus des Emotionalen“43, und in Anknüpfung an Pascal heißt es:44 „Es gibt einen
59 ordre du cœur, eine logique du cœur, eine mathématique du cœur, die so streng, so objektiv, so absolut und unverbrüchlich ist wie die Sätze und Folgerungen der deduktiven Logik.“ Ist es Scheler gelungen, diese „Logik des Herzens“ zu entwickeln? Ich vermute, die mittelalterliche Idee eines affectus, der den intellectus in sich aufnehmen kann, leistet für den ja auch von Scheler angestrebten Ausgleich zwischen Rationalität und Emotionalität mehr als das Postulat zweier voneinander unabhängiger Logiken.
3. Emmanuel Levinas Emmanuel Levinas hat eine große, erstaunlich einfache Entdekkung gemacht: den Anderen. Die traditionelle abendländische Metaphysik war eine Metaphysik der Identität – des Selben, gedacht vom Ich her: Levinas konfrontiert sie mit einer Metaphysik, die vom Anderen her erfahren wird. Anders gesagt: einer Metaphysik des intellectus wird eine Metaphysik des affectus entgegengesetzt. Die dialogische Philosophie, in die man Levinas einreihen kann (wieder ein Brückenschlag zu Jacobi),45 trägt bei ihm ein besonderes Gepräge – sie geht nicht von einer Symmetrie der Ich-Du-Beziehung, sondern von der Priorität des Anderen aus. „Après vous, Monsieur.“46 Wie zeigt sich der Andere? Er ist, anders als Objekte es sind, nicht sichtbar. „Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen.“47 Man unterhält zum Anderen (sofern es tatsächlich um eine Begegnung geht) nicht eine theoretische, sondern eine ethische Beziehung. Sie stellt sich her über das Gewahrwerden des Antlitzes („le visage“, sagt Levinas, wofür manche Übersetzer das weniger pathetische „Gesicht“ vorziehen – man könnte vielleicht auch sagen „Angesicht“).
60 Es ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; es […] führt uns darüber hinaus. Gerade dadurch läßt die Bedeutung des Antlitzes es als Korrelativ eines Wissens aus dem Sein heraustreten. […] die Beziehung zum Antlitz ist von vornherein ethischer Art. Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: „Du darfst nicht töten.“48
Levinas spielt, wie die Widmung von Jenseits des Seins zeigt, an auf die Verfolgung und Ermordung der Juden. Die allereinfachste, für jede Beziehung unter Menschen grundlegende Botschaft, die vom Angesicht des Anderen ausgeht – das „Du sollst mich nicht töten“49 – war vergessen, nein: verdrängt worden, und zwar nicht nur durch eine menschenverachtende Ideologie; sondern der Nichtwahrnehmung des Anderen war Vorschub geleistet worden durch eine philosophische Tradition, die die Wirklichkeit vom Ich, vom Selben, von der Identität her erfassen wollte. Man müßte länger beim Werk von Levinas verweilen, als es hier möglich ist, um die ungeheure Fruchtbarkeit dieser Perspektivenumkehrung nachzuvollziehen. Nur zwei Punkte sollen noch erwähnt werden: einmal die frappierende Wendung, die Descartes’ Idee der Unendlichkeit erfährt:50 Bei Descartes bleibt die Idee des Unendlichen eine theoretische Idee, eine Betrachtung, ein Wissen. Was mich angeht, so denke ich, daß die Beziehung zum Unendlichen nicht ein Wissen, sondern ein Begehren darstellt (désir). […] das Begehren [gleicht] einem Denken […], das mehr denkt, als es denkt […] Gewiß eine paradoxe Struktur, aber nicht mehr paradox als diese Präsenz des Unendlichen in einem endlichen Akt.
Zum anderen knüpft Levinas an Platon und dessen Lehre an, daß das Gute „jenseits des Seins“ (Politeia 509 b) liegt. Es ist schon viel, wenn das Denken einen Zugang zum Sein findet – wie sollen wir uns ein Verhältnis zum Guten erschließen? Die Frage ist falsch gestellt: nicht wir erschließen etwas, sondern etwas begegnet uns, spricht uns an. Mit der Priorität des Guten vor dem Sein vertritt Levinas auch die Priorität des Sich-ansprechen-lassens vor der eigenen Rede, der Passivität vor der Aktivität.51
61 4. Kant Die Befunde einer „scientia affectiva“ in der Neuzeit (hierfür kämen u.a. auch Pascal, Rousseau, Schleiermacher, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche, Bergson in Frage) bleiben in ihrem argumentativen Wert solange relativ, als sie sich an der zentralen Gestalt der neuzeitlichen Philosophie vorbeistehlen, die anscheinend den hier skizzierten Gedankengängen fremd gegenübersteht: Kant. Der Wegbereiter der reinen (theoretischen und praktischen) Vernunft, der in der Einmischung von Gefühlen immer eine Verunreinigung der Triebfedern des sittlichen Handelns und eine Gefährdung der Autonomie sieht, scheint für den affectus nichts übrig zu haben. Und doch: wenn es aus sachlichen Gründen, aus dem Anspruch einer realistischen Anthropologie, nötig ist, den Menschen, der sich in der Wirklichkeit zurechtfinden soll, als intellektuell und affektiv begabt zu denken, dann müßte auch bei Kant ein Tribut an diesen Anspruch zu finden sein. Dazu nur ein paar Bemerkungen. In der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft attestiert Kant, mit Blick auf einen zentralen Begriff in diesem Werk – die Freiheit – deren „völlige Unbegreiflichkeit.“52 Daß wir frei, d.h., nicht unseren sinnlichen Neigungen unterworfen sind, sondern der Gesetzgebung der praktischen Vernunft unterstehen, bleibt für Kant ein „Factum“53 – etwas Vorgefundenes also, nichts vom Ich Konstruiertes. Das moralische Gesetz ist aber nun nicht etwas, was in der reinen Vernunft vorkommt wie irgendeine Kategorie des reinen Verstandes, vielmehr nötigt es zu einer positiven affektiven Stellungnahme, zum „Gefühl der Achtung fürs moralische Gesetz“54. Dieses Gefühl ist, wie Birgit Recki eindrucksvoll gezeigt hat, „in Analogie zum ästhetischen Gefühl des Erhabenen zu sehen“55, so daß aus einer Zusammenschau von zweiter und dritter Kritik gesagt werden kann:56 Die gefühlsmäßigen Ansprüche des vernünftigen Wesens geraten weder in die Gefahr, ins Leere einer rigoristischen Grundsatzrationalität zu gehen noch in die dunkle Ecke des Irrationalismus gestellt zu werden. Die Vernunft umfaßt vielmehr selbst das Moment
62 des Gefühls. Vernunft und Gefühl sind so einander nicht entgegengesetzt; sie bilden eine Einheit […]
Es sei hier auch an die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erinnert, wo vom Menschen als „Zweck an sich selbst“, von „etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert“, bzw. das „einen innern Wert, d.i. Würde“ hat, die Rede ist.57 Werte (hier gilt für Kant nichts anderes als für Scheler) werden nicht von uns gemacht, wir werden von ihnen betroffen – und das schlägt nicht theoretisch, auch nicht nur praktisch, sondern vor allem affektiv zu Buche. Das illustriert die Beobachtung, die Kant am „ärgste[n] Bösewicht“ anstellt: dieser nimmt ein Interesse am Guten, wünscht „einen größeren inneren Wert seiner Person“, selbst wenn er „wegen seiner Neigungen und Antriebe“ auch nicht den Anflug einer guten Handlung zustande bringt.58 Offenbar ist das moralische Gesetz nicht etwas, was der Mensch hat, sondern etwas, das ihn hat und zumindest von seinem besseren Teil Besitz ergreift. Ergriffenheit ist wohl auch der angemessene Ausdruck für die Haltung Kants gegenüber der Botschaft des moralischen Gesetzes – Bewunderung für das affektive Potential der praktischen Vernunft:59 Pflicht! du erhabener, großer Name, der du […] bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung […] erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen […]: welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft […]?
Wie man sieht, spielt bei Kant der affectus keine so kleine Rolle, wie ein z.T. von ihm selbst begünstigtes Klischee will.60 Es sind aber nicht nur einzelne Texte, die Kant als jemanden ausweisen, der gelegentlich Zugeständnisse an die Bedeutung des Gefühls macht. Es ist vielmehr der Duktus seiner ganzen, besonders seiner theoretischen Philosophie, der von einem tiefen Gefühl, von der Hingabe an die Wahrheit zeugt.61 Kant wäre nicht der große Philosoph, der er ist, ohne diese Hingabefähigkeit – ohne diesen affectus, der hinter der intellektuellen Leistung steht.
63 IV. Schluß Gibt es nun, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, Chancen für die Philosophie als scientia affectiva? Soll Philosophie es weiterhin mit Weisheit zu tun haben, so können wir, noch einmal aufs Mittelalter zurückgreifend, festhalten: Weisheit ist der Versuch, den ganzen Menschen ins Ganze der Wirklichkeit einzuordnen. Ein Weisheitsbegriff, der nur das intellektuelle, spekulative Vermögen des Menschen beträfe, würde unsere Wirklichkeit eben nur zum Teil erreichen. Deswegen ist von der Weisheit zu sagen, was auch von der Theologie gilt: sie ist spekulativ und praktisch zugleich.62 An einer Stelle der Summa theologiae heißt es: „[…] per sapientiam dirigitur et hominis intellectus, et hominis affectus“ – „durch die Weisheit erfährt sowohl der Intellekt als auch der Affekt des Menschen seine Ausrichtung.“63 Das Mittelalter sieht die beiden Seelenkräfte komplementär. Ein eher mystischer Autor wie Bonaventura setzt dabei einen klaren Akzent: „Der Akt der Gabe der Weisheit ist teils kognitiv, teils affektiv: und zwar so, dass er in der Erkenntnis beginnt und sich im Affekt vollendet.“64 Weisheit gilt hier als Gabe des Hl. Geistes. Doch auch die Philosophie täte gut daran, einem Vorurteil entgegenzutreten, das in unserer Zivilisation vielfach unkritisch hingenommen wird: daß der Intellekt kalt und der Affekt blind sei. Und wer der Vollendung der Philosophie im Affekt nichts abgewinnen kann, sollte sich zumindest daran erinnern lassen, daß ihr Anfang von jeher ein affektiver gewesen ist: das Staunen.65 Warum sollte sich der Kreis nicht wieder schließen? Wir haben den mittelalterlichen Ausdruck „scientia affectiva“, einen in theologischem Zusammenhang geprägten Begriff, auf die Philosophie zu übertragen gesucht. Aber man könnte noch viel weiter gehen: Wie Edgar Wind gezeigt hat, hebt auch die Erkenntnis des Experimentalwissenschaftlers und des Historikers mit einem Affiziertwerden, einem „sich einer nicht antizi-
64 pierbaren Erfahrung aussetzen“ an. Das Experiment, so Wind, ist die Schnittstelle zwischen der Metaphysik und dem in irgendeiner Weise zu affizierenden Körper des Wissenschaftlers; kein Experiment ohne Affektion, ohne Fühlen, ohne „in etwas involviert zu sein“66. Und beim Historiker? Er muß geschichtliche Fakten erst auf sich wirken lassen, sich ihnen aussetzen, um ihnen etwas abzugewinnen und ihnen in vertiefender Forschung nachzugehen.67 Das Verhältnis von „intellectus“ und „affectus“ wurde hier nicht systematisch durchleuchtet. Kein intellektueller Akt kann ohne affektive Beteiligung sein, das Zusammenspiel beider Seelenkräfte (ein Verlegenheitsausdruck – haben wir einen besseren?68) läßt sich aber unterschiedlich deuten, und je nach der Rolle, die der „affectus“ dabei spielt, wäre zu prüfen, ob oder in welcher Hinsicht die Rede von einer „scientia affectiva“ angebracht ist. Bei Jacobi, Scheler und Levinas schien die Rolle des Gefühls profiliert durch eine Konkurrenzsituation gegenüber dem Intellekt: das Gefühl eröffnet, vom Denken unabhängig, einen Gegenstandsbereich, der sich dem Intellekt entzieht. Bei Kant bleibt der Gegenstandsbereich, das „Was“ des Erkennens, fraglos eine Domäne der Vernunft, nicht aber das „Wie“: es trägt eindeutig affektive Züge – man vergegenwärtige sich nur die Leidenschaft, mit der etwa in den Prolegomena die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori gestellt wird.69 Und diese Leidenschaft ist wichtig! Wer sie nicht halbwegs teilt, wird Kant kaum verstehen können. Kierkegaard versucht, beides zur Deckung zu bringen: das objektive Was und das subjektive Wie.70 Und zwar gilt für „die ewige Seligkeit, das absolute Gut, daß es sich einzig und allein durch die Weise, wie es erworben wird, definieren läßt […] Von der ewigen Seligkeit aber läßt sich nichts anderes sagen, als daß sie das Gut ist, das dadurch erlangt wird, daß man absolut alles wagt.“71 Hier ist die adäquate leidenschaftliche Involviertheit des Subjekts72 das Indiz für das richtige Verhältnis zum Objekt – eines Objekts, das freilich nicht ergriffen wird, sondern das
65 ergreift, und das eben deshalb auch kein bloßes Objekt mehr ist. Kierkegaard beansprucht damit, das Maximum von Affekt (Leidenschaft, Pathos) bezeichnet zu haben. Das soll aber keineswegs heißen, daß sich „Leidenschaft und Reflexion ausschließend zueinander verhalten“73. Es bedeutet zugleich die maximale Steigerung des Intellekts, denn „das Dialektische und die Reflexion“ sollen „dazu benutzt werden, um die Leidenschaft zu potenzieren“.74 Der Verdacht „je mehr affectus, desto weniger intellectus“ bewahrheitet sich bei Kierkegaard so wenig wie bei den mittelalterlichen Verfechtern einer „scientia affectiva“: das Gegenteil ist der Fall. Der Pisa-Schock hat eifrige Aktivitäten zur Behebung intellektueller Bildungsmängel ausgelöst. Aber sollte das ganze Problem nicht auch etwas damit zu tun haben, daß wir nicht einmal ansatzweise über einen Begriff von affektiver Bildung verfügen? Unsere Spurensuche könnte sich am Ende als unverhofft aktuell erweisen. Anmerkungen * Ich danke Frau Prof. Dr. Susanne Möbuß für die Möglichkeit, die folgenden Überlegungen beim philosophischen Forschungskolloquium der Universität Oldenburg zur Diskussion zu stellen. 1 Hartmut und Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt am Main 1983; Karen Gloy, Vernunft und das Andere der Vernunft, Freiburg (Br.)/München 2001. 2 Vgl. (Autoren in alphabetischer Folge, ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u.a. 2000; Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 52000; ders., Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewußtseins, München 2 2000; Jon Elster, Alchemies of the Mind: Rationality and the Emotions; Hinrich Fink-Eitel (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 1993; Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, München 1996; Stefan Hübsch/Dominic Kaegi (Hrsg.), Affekte. Philosophische Beiträge zur Theorie der Emotionen, Heidelberg 1999; Carola Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1997; Martha C. Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001; William M. Reddy, The Navigation of Feeling, Cambridge 2001; Ro-
66 bert C. Solomon, Gefühle und der Sinn des Lebens, Frankfurt a.M. 32001 (in einem Jahr drei Auflagen!); Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a.M. 1997; Achim Stephan/Henrik Walter (Hrsg.), Natur und Theorie der Emotion, Paderborn 2004; Michael Stocker, Valuing Emotions, Cambridge 1996; Richard Wollheim, Emotionen. Eine Philosophie der Gefühle, München 2001. 3 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, qu. 1, a. 4. 4 Johannes Duns Scotus, Ordinatio, I, prol., pars 5, qu. 1-2, n. 303; ed. Vat., Bd. I, S. 200. Für einen Überblick über die vertretenen Positionen vgl. L. Amorós (Hrsg.), Fr. Gonsalvi Hispani Quaestiones disputatae et de Quodlibet, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1935, S. 80, Anm. 3 und 4. – Auch Gonsalvus Hispanus sieht in der Theologie eine praktische Wissenschaft: ebd., S. 82. – Vgl. Martin Grabmann, De quaestione: „Utrum theologia sit scientia speculativa an practica“ a B. Alberto Magno et S. Thoma Aquinate pertractata, in: Alberto Magno. Atti della Settimana Albertina celebrata in Roma nei giorni 9-14 Nov. 1931, S. 107-126. 5 Ulrich von Straßburg, De summo bono, liber 1, tract. 2, cap. 4, hrsg. von B. Mojsisch, Hamburg 1989, S. 37. – Ulrich bezieht sich auf den Sentenzenkommentar Alberts, I, dist. 1, a. 4; ed. Borgnet, Bd. XXV, S. 18 b. 6 Ebd., S. 36. 7 Hrsg. von Liselotte Richter, Hamburg 21995, S. 34 f. 8 Vgl. hierzu den Abschnitt „Affectus in tempore“ in: Vf., Zwischen Zeit und Ewigkeit. Zum anthropologisch-theologischen Verständnis des Horizontes im Mittelalter, in: Ralf Elm (Hrsg.), Horizonte des Horizontbegriffs, Sankt Augustin 2004, S. 47-60, hier S. 51 ff. – Daß die affektive Inkarnation in der Zeit als Weg zur Ewigkeit in Betracht kommen soll, davon steht freilich bei Heidegger nichts mehr. 9 Thomas von Aquin, De veritate, qu. 1, a. 1. 10 Aristoteles, Über die Seele, III, 8 (431 b 21). 11 Die Äquivalenz dieser Ausdrücke unterstreicht z.B. Melanchthon: „Die Kraft, aus der die Affekte (affectus) hervorgehen, ist die, mit der wir entweder das Erkannte verwerfen oder ihm folgen. Diese Kraft nennt man bald Wille (voluntas), bald Leidenschaft (affectus), bald Trieb (appetitus).“ (Die Stelle bietet zugleich einen Hinweis auf den Zusammenhang von affectus im Singular und affectus im Plural.) Loci communes 1521, Kap. 1, Nr. 9; lat./dt., übers. von H.G. Pöhlmann, Gütersloh 1993, S. 26 f. – Vgl. KarlHeinz zur Mühlen, Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 35 (1992), S. 93-114, hier S. 110. 12 Vgl. Mary E. Ingham, The Condemnation of 1277: Another Light on Scotist Ethics, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, Bd. 37 (1990), S. 91-103; Günther Mensching, Der Primat des Willens über den Intellekt: Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter, in: R.L. Fetz u.a. (Hrsg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Berlin/New York 1998, S. 487-507.
67 Vgl. Anm. 16 und das Thomas-Zitat zu Anm. 63. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, qu. 16, a. 1, c. (Vgl. Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 2, S. 79.) 15 A.a.O., qu. 82, a. 3, c. Hervorh. von mir. 16 Ebd. (Vgl. Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 6, S. 224.) – Vgl. De veritate, qu. 22, a. 11 ad 4: „[…] cum intellectus minus capere possit de divinis quam appetat et diligat affectus.“ (Hervorh. von mir.) Im 4. Einwand hatte Thomas von intellectus und voluntas gesprochen. 17 Weitere Belege in: Vf., Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, Hamburg 2001, S. 82, Anm. 352. – Die zitierte Stelle aus dem Kommentar Deiformis animae gemitus, im 2. Bd. des Thesaurus anecdotorum novissimus von B. Pez 1721 herausgegeben (Wien und Graz, hier: S. 624), wird inzwischen nicht mehr als Werk des Thomas Gallus angesehen. Vgl. Thomas Gallus, Commentaires du Cantique des Cantiques, Introduction par Jeanne Barbet, Paris 1967, S. 42. 18 So Walter Hoeres über Duns Scotus in: Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, München 1962, S. 274. Entsprechende Belege für Thomas bei Vf. (wie Anm. 17), S. 80-84. 19 Meister Eckhart, Predigt 58, in: Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. von Josef Quint, München 1963/79, S. 430 f. 20 Duns Scotus, Ordinatio, prol., pars 1, qu. un., n. 75 (ed. Vat., I, S. 46). Vgl. ebd., n. 93 (a.a.O., S. 57): „[…] superiora ordinantur ad perfectionem maiorem passive recipiendam quam ipsa active possunt producere […]“ – Weitere Belege bei Vf. (wie Anm. 17), S. 92, Anm. 385. 21 Bonaventura, Collationes in Hexaemeron. Das Sechstagewerk, II, 32, lat./dt., übers. von W. Nyssen, München 1964, S. 138 f.; Opera omnia, Bd. V, S. 342 a. (Hinweis bei Gilson, Der heilige Bonaventura, Hellerau 1929, S. 629.) 22 Im Gegensatz zur Vielzahl der Affekte bzw. Leidenschaften, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (II, 4) anspricht und die Thomas von Aquin in ein ausgearbeitetes System bringt (Summa theologiae, I-II, qu. 2248: De passionibus animae; dieser Traktat füllt den 10. Bd. der Deutschen Thomas-Ausgabe, Heidelberg u.a. 1955; vgl. Josef Jacob, Passiones. Ihr Wesen und ihre Anteilnahme an der Vernunft nach dem hl. Thomas von Aquin, Mödling bei Wien 1958). – Vgl. Anm. 11. 23 Jacobi, David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, in: Werke, Bd. II, S. 12. – Vgl. Klaus Hammacher, Kritik und Leben II. Die Philosophie F.H. Jacobis, München 1969, S. 167 mit Anm. 366. 24 „Von Vernunft ist die Wurzel, Vernehmen.“ Jacobi an Fichte (Sendschreiben), Hamburg 1799, in: W. Jaeschke (Hrsg.), Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799-1807), Quellenband, Hamburg 1993, S. 3-43, hier S. 10, Hervorh. im Orig. (vgl. ebd., S. 15). 25 Birgit Sandkaulen, „Oder hat Vernunft den Menschen?“ Zur Vernunft 13 14
68 des Gefühls bei Jacobi, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 49 (1995), S. 416-429, hier S. 420. 26 Zuerst in: Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Beilage VII in der 2. Aufl. Breslau 1789, jetzt Hamburg 2000, S. 286; Selbstzitat in: Über die Unzertrennlichkeit des Begriffes der Freiheit und der Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft (1799), in: Werke, Bd. II, S. 313. 27 Den Hintergrund der bei Jacobi nur angedeuteten Geschichte erläutert Susanna Kahlefeld, Dialektik und Sprung in Jacobis Philosophie, Würzburg 2000, S. 84. 28 Jacobi, Über die Lehre des Spinoza (wie Anm. 26), S. 132 f. 29 Jacobi an Fichte (wie Anm. 24), S. 15: „Ich verstehe unter dem Wahren etwas, was vor und außer dem Wissen ist; was dem Wissen […] und der Vernunft erst einen Wert gibt.“ „Selbst von unserem eigenen Dasein haben wir nur ein Gefühl; aber keinen Begriff.“ Ebd., S. 26. (Rechtschreibung modernisiert.) 30 Ebd., S. 16; dazu Kahlefeld (wie Anm. 27), S. 84. 31 Kahlefeld, ebd. 32 Brief an Reinhold vom 8.10.1817, in: Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel, hrsg. von F. Roth, 2. Bd., Leipzig 1827, S. 478. 33 Es gibt noch eine andere, nicht-dialektische Vermittlung, die den Verstand – zugleich dessen Grenzen erweiternd – zum Ausleger des Gemüts macht und so den Primat des letzteren anerkennt. Vgl. den Brief Schleiermachers an Jacobi vom 30.3.1818: „Die Religiosität ist die Sache des Gefühls; was wir zum Unterschiede davon Religion nennen, was aber immer mehr oder weniger Dogmatik ist, das ist nun die durch Reflexion entstandene Dolmetschung des Verstandes über das Gefühl. Wenn Ihr Gefühl christlich ist, kann dann Ihr Verstand heidnisch dolmetschen?“ Zit. in: Karl Homann, F.H. Jacobis Philosophie der Freiheit, Freiburg/München 1973, S. 188, Anm. 114. 34 Max Scheler, Ordo Amoris, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Bonn 3 1986, S. 345-476, hier S. 356. 35 Max Scheler, Liebe und Erkenntnis, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, 3 1986, S. 77-98, hier S. 77. 36 Ebd., S. 95. 37 Ebd., S. 96 (Hervorh. im Orig.). 38 Diesen Zusammenhang hat Jürgen Habermas wiederholt thematisiert: „Erkenntnis und Interesse“, Frankfurter Antrittsvorlesung (1965), in: ders., Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘, Frankfurt a.M. 1968, S. 146-168; ders., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968. 39 Max Scheler, Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens, in: ders., Vom Ewigen im Menschen, jetzt in: Gesammelte Werke, Bd. 5, Bern/München 51968, S. 61-99, hier S. 80 (Hervorh. im Orig.). 40 Ebd., S. 82. 41 Ebd., S. 80 (Hervorh. im Orig.).
69 Ebd., S. 81 (Hervorh. im Orig.). Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern/München 61980, S. 84. 44 Max Scheler, Ordo Amoris (wie Anm. 34), S. 362 (Hervorh. von mir); vgl. Der Formalismus (wie Anm. 43), S. 82, S. 260 f. 45 Vgl. Ze’ev Levy, Emmanuel Lévinas und die dialogische Philosophie, in: S. Fritsch-Oppermann (Hrsg.), Das Antlitz des „Anderen“. Emmanuel Lévinas’ Philosophie und Hermeneutik als Anfrage an Ethik, Theologie und interreligiösen Dialog, Rehburg-Loccum 2000 (Loccumer Protokolle 54/99); zu Buber/Jacobi vgl. Kahlefeld (wie Anm. 27), S. 145-148. 46 Zit. bei Levy (wie Anm. 45), S. 21. – Vgl. Levinas, Ethik und Unendliches, Wien 1992, S. 68. 47 Levinas, ebd., S. 64 (Hervorh. im Orig.). 48 Ebd., S. 65 f. (Hervorh. im Orig.). 49 Ebd., S. 68. 50 Ebd., S. 71. Andernorts spricht Levinas auch von „an affecting of the finite by the infinite“, vgl. Adriaan Peperzak, To the Other. An Introduction to the Philosophy of Emmanuel Levinas, West Lafayette 1993, S. 61, Hervorh. im Orig. 51 Vgl. Branko Klun, Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, Frankfurt a.M. u.a. 2000, bes. S. 273, Anm. 592, S. 275, Anm. 597, S. 282. – Bernhard H.F. Taureck, Emmanuel Lévinas zur Einführung, Hamburg 32002, S. 76. 52 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Ak.-Ausg., Bd. V, S. 7. 53 Ebd., S. 31. 54 Ebd., S. 75. 55 Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a.M. 2001, S. 288. 56 Ebd., S. 301, Hervorh. im Orig. 57 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Ak.-Ausg., Bd. IV, S. 428, 435 (Rechtschreibung modernisiert). 58 Ebd., S. 454. 59 Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 52), S. 86 (Rechtschreibung modernisiert). 60 Für eine „affektoffene“ Kantauslegung vgl. außer dem Buch von Birgit Recki das Kap. „Das Gefühl als heimliche Erkenntnisquelle bei Kant“ bei C. Meier-Seethaler (wie Anm. 2), S. 52-64, sowie Nancy Sherman, Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue, Cambridge 1997. – Für eine Annäherung Kants an Levinas vgl. Norbert Fischer/Dieter Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, Paderborn u.a. 1999; für eine Annäherung Kants an Jacobi vgl. Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000, insbesondere Kap. VII, wo die Beilage VII zur 2. Auflage von Jacobis Spinoza-Büchlein interpretiert wird. Die von Spaemann/Löw (Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 31991, hier S. 140) 42 43
70 bemerkte Abkehr vom Kausalitätsbegriff der Kritik der reinen Vernunft, die sich im Opus postumum dahingehend ausspricht, daß die Erfahrung eigener Leiblichkeit in Aktivität und Passivität die Voraussetzung für den Begriff von Kausalität sei, dürfte von Jacobi angestoßen sein. (Vgl. Jacobi, Über die Lehre des Spinoza – wie Anm. 26 –, S. 282.) 61 Es ist tiefster Ernst, wenn Kant – in einem kokettierenden Ton, der dazu eigentlich nicht paßt – sagt, er habe „das Schicksal“, in die Metaphysik „verliebt zu sein“. Träume eines Geistersehers (1766), Ak.-Ausg., Bd. II, S. 367. 62 Thomas von Aquin, Summa theol., II-II, qu. 45, a. 3 (sapientia); I, qu. 1, a. 4 (theologia). 63 Ebd., I-II, qu. 68, a. 4 ad 5. 64 Bonaventura, III Sent. 35, art. un., qu. 1, concl., in: Opera omnia, Bd. III, S. 774 – Hinweis bei Gilson (wie Anm. 21), S. 915, Anm. zu S. 632, Z. 14. 65 Platon, Theaitetos, 155 d; Aristoteles, Metaphysik, I, 2 (982b 11-13). – Vgl. Jörg Disse, Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik, Darmstadt 2001, S. 15. – Karl Albert, Philosophie als Religion, Sankt Augustin 2002, S. 119 ff. 66 So die Definition des Fühlens bei Agnes Heller, Theorie der Gefühle, Hamburg 1981, S. 19; vgl. Holmer Steinfath, Orientierung am Guten, Frankfurt a.M. 2001, S. 116 ff. 67 Vgl. den Abschnitt „ ,Eingriff‘ und ,Affekt‘ des Forschers“ in dem Aufsatz „Über einige Berührungspunkte zwischen Naturwissenschaft und Geschichte“ (1936), in: Edgar Wind, Das Experiment und die Metaphysik, Frankfurt a.M. 2001, S. 257 ff. – „Um Physik zu treiben, muß man physikalisch affiziert sein […]“ Ebd., S. 261. Von der „Wut oder Freude“ beim „Historiker, der von seinem Gegenstand ergriffen ist“, spricht Wind ebd., S. 262. – Ich verdanke diesen Hinweis dem Vortrag „Brüche und Störungen. Performativität in der modernen Wissenschaftsphilosophie“ von Dr. Ludger Schwarte (Berlin) auf der Tagung „Moderne im Widerstreit“ im Leibnizhaus Hannover, Februar 2005. 68 Steinfath (wie Anm. 66), S. 116, spricht (im Anschluß an Kant und Brentano) von „Dreigliederung des Psychischen“. 69 Kant, Prolegomena, Ak.-Ausg., Bd. IV, S. 276. 70 Vgl. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, 1. Teil, 3. Aufl. Gütersloh 1994, S. 193. 71 Kierkegaard (wie Anm. 70), 2. Teil, S. 134. 72 Es gibt auch eine inadäquate: Kierkegaard definiert sie als „Weltlichkeit“. „Weltlichkeit ist ja gerade, daß man dem Gleichgültigen unendlichen Wert zulegt.“ Die Krankheit zum Tode (wie Anm. 7), S. 31 f. 73 Kierkegaard, Nachschrift (wie Anm. 71), S. 325. 74 Ebd., S. 325 f.
Paola-Ludovika Coriando „IN DIESER SKEPSIS KANN NIEMAND LEBEN“ Über Nüchternheit und Enthusiasmus in der Philosophie
Der folgende Beitrag versucht im Ausgang von Nietzsche einige Aspekte des Verhältnisses von „Philosophie“ und „Leben“ hervorzuheben. Dazu soll die Philosophie nicht primär als akademische Disziplin, sondern als eine bestimmte Lebenshaltung verstanden werden, die sich in der Produktion von philosophischen Texten äußern kann, nicht aber muß. Die Interpretation einer nachgelassenen Notiz, in der Nietzsche sich mit Kant auseinandersetzt, dient als Leitfaden für Überlegungen und Fragen nicht philologischer, sondern grundsätzlicher Natur, die erörtern sollen, wie die Philosophie als Möglichkeit des menschlichen Lebens im Spannungsfeld von „Nüchternheit“ (Skepsis) und „Enthusiasmus“ (Vergessen der Skepsis) angesiedelt ist.
I Nietzsche schreibt in einer nachgelassenen Notiz aus dem Jahre 1872: „Es ist zu beweisen, daß alle Weltconstructionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat. Freilich giebt es hier einen Cirkelschluß – haben die Wissenschaften Recht, so stehen wir nicht auf Kant’s Grundlage: hat Kant Recht, so haben die Wissenschaften Unrecht. Gegen Kant ist dann immer noch einzuwenden, daß, alle seine Sätze zugegeben, doch noch die volle Möglichkeit bestehen bleibt, daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint. Persönlich ist übrigens diese ganze Position unbrauchbar. In dieser Skepsis kann niemand leben. Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen! Wie viel müssen wir nicht vergessen in dieser Welt! Kunst, die Idealgestalt, die Temperatur. Nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Heil! Im höchsten Scheine, in der edelsten Wallung liegt unsre Größe. Geht uns das Weltall nichts an, so wollen wir das Recht haben es zu verachten.“1
72 Zu Beginn des Textes spricht Nietzsche als Interpret Kants. Trifft Kants Hypothese zu, so Nietzsche, dann sind die Wissenschaften keine objektiven Systeme absolut geltender Erkenntnisse, sondern subjektive Vermenschlichungen der Realität, welche jeder objektiven und absoluten Gültigkeit entbehren. Diese Interpretation des Kantischen Kritizismus verkennt zwar dessen eigentliche Intention, verstand sich dieser doch gerade als der (geglückte) Versuch, die Metaphysik und die reinen Wissenschaften gegen die Angriffe des Empirismus und des Skeptizismus zu verteidigen. Dennoch trifft Nietzsches systemimmanent (historisch) betrachtet „falsche“ Deutung durchaus die innere Tendenz von Kants theoretischer Philosophie, unter der Voraussetzung freilich, daß diese „absolut“ – ohne die Ergänzung durch die praktische Vernunft – aufgefaßt wird. Erkennt der Verstand keine Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen, wird aber die Objektivität weiterhin als die (für den menschlichen Erkenntnisanspruch allein relevante) Grenzobjektivität der „wahren“, aber der menschlichen Erkenntnis unzugänglichen Welt der Dinge an sich angesetzt, dann ist streng genommen keine Wissenschaft und kein objektives Wissen möglich, da die Objektivität des Dings an sich per definitionem sich jeglichem bestimmenden Zugang entzieht. Der zweite Gedankenschritt präzisiert diese radikale Auslegung der kantischen Philosophie durch eine Hypothese: es könnte sein, daß Erscheinung und Ding an sich „dasselbe“ sind; es könnte sein, daß wir, obwohl wir die Welt nur anthropomorphisch „sehen“ können, in diesem Sehen die Welt gerade so sehen, wie sie „ist“. Wäre es so, dann hieße dies für Nietzsche, daß es eine Welt und ein „Sein“ der Dinge nur als Interpretation und Perspektive gibt. Das „Ding an sich“, die „Welt an sich“ wäre nicht nur, wie für Kant, der theoretischen Erkenntnis unzugänglich, sondern eine schlechthin unwirkliche Vorstellung, eine Selbstillusion. Nicht nur die Essenz und die Erkennbarkeit, sondern auch die Existenz der „wahren Welt“, die Existenz einer perspektiv- und interpretationsfreien „Wirklichkeit“, bleibt ver-
73 borgen und kehrt sich in ihr Gegenteil: die letzte „Wahrheit“ ist die absolute Perspektivität. Die Hypothese, „daß die Welt so ist, wie sie uns erscheint“ – das Wegfallen der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich – ist also grundsätzlich und gewollt zweideutig. In einer vorkantisch-rationalistischen Perspektive brächte sie die Annahme zum Ausdruck, daß zwischen dem, was wir erkennen können, und der letzten Wirklichkeit, dem „Sein“ der Dinge, keine Kluft, sondern ein rational einsehbares Verhältnis besteht. Die Identität von Erscheinung und Ding an sich (oder besser das Fehlen einer solchen sei es auch nur hypothetischen Unterscheidung) bedeutet in diesem Fall: das Seiende ist für den Verstand in seinen letzten Seinsstrukturen durchsichtig, so, daß der Mensch ungehindert und ursprünglich Zugang zur metaphysischen Wirklichkeit hat; es gibt keine absolute Kluft zwischen Erkennen und Gegenstand, zwischen Mensch und Sein; die ratio ist die Brücke, die das Seiende und das Sein verbindet und zusammenhält. Die mögliche „Identität“ von Erscheinung und Ding an sich besagt für Nietzsche jedoch etwas grundsätzlich Anderes. Sie drückt den gewandelten, postmetaphysischen Horizont aus, für den die Welt nur Erscheinung, nur Perspektive ist und sein kann; eine immer neue und immer anders seiende Setzung, eine Interpretation, hinter der sich keine letzte Wahrheit verbirgt. Wenn aber die Welt in diesem zweiten Sinne „so ist, wie sie uns erscheint“, dann ist nicht nur die Möglichkeit eines objektiven Wissens im Sinne der rationalen Metaphysik und der positiven Wissenschaften unterminiert. Wenn das Erscheinende – der „Vordergrund“, das „Leben“ – die einzige „Wahrheit“ ist, dann ist die Vergänglichkeit nichts Anderes als Vergänglichkeit, dann ist das Sinnlose, das Vergängliche, der Tod nicht die „uns zugekehrte Seite“ einer höheren und sinnvollen Wahrheit, sondern nichts anderes als Sinnlosigkeit, Vergänglichkeit und Tod. Die Annahme, daß die Welt in nachmetaphysischer Bedeutung so ist, wie sie erscheint – die absolute und radikale Skepsis – ver-
74 unmöglicht nicht nur die Wissenschaft, sondern letztlich jeden Lebensentwurf. Von dieser existenziellen Folge spricht der dritte Gedankenschritt: „Persönlich ist übrigens diese ganze Position unbrauchbar. In dieser Skepsis kann niemand leben.“ In der existenziellpersönlich gelebten Skepsis erweist sich der innerste Anspruch des Menschen, der Anspruch nicht nur auf eine Erkenntnis der Welt, sondern – ursprünglicher als dieser – der Anspruch auf einen „Sinn“, als ein absurder Anspruch. In der skeptischen Selbstpositionierung ist der Mensch auf sich selbst und die reine Immanenz des Lebens zurückgestellt (später wird Nietzsche für diese absolute Immanenz das Wort des Willens zur Macht prägen). Die absolute Skepsis ist eine „Ernüchterung“, die nicht nur das philosophische Denken, sondern die gesamte Selbstpositionierung des Menschen vor sich selbst und dem Ganzen seiner Welt betrifft. Die gesamte „Wirklichkeit“ begegnet nur noch in ihrer diesseitigen Schwere, ohne den Hinweis auf eine uns abgekehrte Seite, ohne ein Zentrum und einen „Sinn“ (ohne das „Ding an sich“). In einem vierten Gedankenschritt werden die Konsequenzen dieser Unmöglichkeit eines Lebens in der Skepsis gezogen: „wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen! Nicht im Erkennen, im Schaffen liegt unser Heil! Im höchsten Scheine, in der edelsten Wallung liegt unsre Größe.“ Wenn alles absolute Erkennen sich als Illusion und als Schein, wenn der Mensch sich als das absurde (Nietzsches Wort dafür: tragische) Wesen schlechthin erweist, und wenn in diesem Absurden noch (oder erst recht) ein „Heil“ und eine „Größe“ gesucht und erreicht werden kann, dann nur dadurch, daß der Mensch einen neuen und höchsten Schein ausdrücklich und bewußt, oder anders gewendet: getragen vom „tragischen“ Willen zum Absurden, vom Willen zum Widerspruch, ins Sein ruft. Wie Nietzsche es an anderer Stelle formuliert: „man muß die Illusion wollen – darin liegt das Tragische“2. Das im tragischen Willen gründende Schaffen ist ein unab-
75 schließbarer Prozeß, eine Therapie, die die Wunde (das Ende der Metaphysik, der Nihilismus) niemals vollständig heilen kann, aber dennoch ein offenes Ende anvisiert. Das Schaffen ist Therapie und Genesung zugleich. Von dieser offenen Genesung spricht der letzte Satz: „Geht uns das Weltall nichts an, so wollen wir das Recht haben es zu verachten.“ Weil „wir“ „viel“ vergessen müssen und (wesentliches) Leben nur möglich ist als Unterwegssein zu einer niemals eintreffenden Genesung (zum sich entziehenden Heil, zum „großen Verachten“), gibt es im Leben des Menschen die Kunst. „Kunst“ ist der Bereich des freien, gesetzgebenden Schaffens, den Nietzsche später als das „Sein“ des Übermenschen denken wird. In der so verstandenen Kunst geschieht die ursprüngliche Setzung von neuen Welten und Perspektiven. Doch warum erwähnt Nietzsche neben der Kunst die „Idealgestalt“ und die „Temperatur“, und was wird mit diesen beiden Begriffen angezeigt? Temperatur nennt Nietzsche meist die konkrete Lebensführung und ihre eigene, geschichtliche oder individuelle Gestimmtheit, die jeweilige Grundtonalität des Lebens und, damit verbunden, die Arbeit an sich selbst, welche die Arbeit am eigenen Körper einschließt (die „Diätetik“). Auch die Pflege, die Kultur des Selbst als Ganzes von Seele und Körper bringt über die absolute Skepsis hinaus (und umgekehrt, die Pflege des eigenen Selbst hat das Vergessen der Skepsis, das Vergessen der Verzweiflung zur Voraussetzung). Das Wort Idealgestalt erinnert an die Verklärung der Welt, an die Suche nach einer idealen, vollkommenen Form. Sie läßt an jenen bestimmten Blick auf die Wirklichkeit denken, den Nietzsche auch Metaphysik oder Platonismus nennt. So verstanden ist die Idealgestalt und die Suche danach, das „Schaffen“ von Idealgestalten, ein Wort für die metaphysische Verklärung der Welt. Dann wären auch diese Suche und diese Verklärung der Wirklichkeit, dann wäre auch die Metaphysik etwas, was der Mensch notwendigerweise vollziehen muß, um die große Skepsis zu vergessen. Auch die metaphysische Verklärung der Welt erwächst aus dem Vergessenmüssen der Skepsis, aus dem Vergessenmüssen der
76 Nüchternheit. Die Metaphysik – ähnlich wie die Kunst – als ein Mittel im Dienste des Vergessens – als ein Mittel im Dienste des Lebens. Ein befremdlicher Gedanke. Doch was heißt Vergessen der Skepsis? Heißt dies, daß „wir“ zwar eingesehen haben, daß die Welt so ist, wie sie erscheint, daß „wir“ den Blick in die Unmöglichkeit der Metaphysik geworfen haben, diesen Blick, diese Einsicht aber wieder vergessen sollen? Ist der Wille zum Schein nichts anderes als ein Wille zur bewußten oder unbewußten Selbstbetäubung des Geistes? Alles spricht dafür. Dennoch beschreibt Nietzsche hier keine psychologisch-subjektiven Vorgänge in der Seele des Menschen. Der Wille zum Schein ist kein Wille im gewöhnlichen Sinne, sondern das Wesen und die Wesensbedingung des Lebens als solchen. Deshalb spricht Nietzsche auch nicht von einem Vergessensollen oder Vergessenwollen, sondern von einem Vergessenmüssen. Alles Leben, alles Sein – und in ausgezeichneter Weise das menschliche – gründet im Vergessen. Nicht die Erinnerung, nicht das Sehen, nicht der Wissens- und Erkennensdrang ist der ursprüngliche Lebensvollzug. Wie Nietzsche es an einer anderen Stelle formuliert: „Es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben.“3 „Wie viel müssen wir nicht vergessen in dieser Welt!“ „Viel“ meint hier nicht oder nicht nur „viele Dinge“. „Viel“ nennt den Grund des Lebens selbst, den „Abgrund“ des Werdens und der Vergänglichkeit. Alles Lebendige muß, je nach seiner Wesensart, den Tod, aber auch seine eigene Geburt vergessen und immer schon vergessen haben, sofern beides eine Grenze ist, die vor das Unbegreifliche und Uns-Nicht-Gehörende – vor das Außerhalb des Lebens – bringt. Das Leben muß das zweifache Außerhalb, dem es entspringt, vergessen, um die ihm gehörende Zwischenspanne leben zu können. (Menschliches) Leben ist nur möglich im Zwischenreich zwischen Aufmerksamkeit und Ablenkung, zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Einsicht und Vergessen, zwischen Bewußtsein und Betäubung.
77 Wenn das (menschliche) Leben im wesentlichen Vergessen ist, wie steht es dann mit der Philosophie? Will die Philosophie nicht, ihrem Wesen nach, Erinnerung und Erkenntnis sein? Wie steht es um das Verhältnis von Leben und Philosophie? Dient die Philosophie dem Leben? Ist sie Förderung, Erhaltung und Pflege des Lebens? Oder ist sie etwas anderes und etwas mehr? Vielleicht sogar etwas, was dem Leben entgegengesetzt ist und sein muß, sofern die Philosophie immer wieder aus dem bloßen Lebensvollzug heraustritt und ihrer Tendenz nach ganz anders zum Leben steht als die vorphilosophische Existenz? Wer spricht bei Nietzsche den Satz „Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir müssen sie vergessen“? Wer sind „wir“? Wir die „Menschen überhaupt“? „Wir“ die „postmetaphysischen“ Menschen? Oder wir die „Philosophen“?
II An dieser Stelle wäre es angebracht, ausführlicher auf Nietzsches frühen Entwurf einer „Philosophie der tragischen Erkenntnis“4 einzugehen, die eben diese Spaltung zwischen Wissen und Vergessen, zwischen Willen zur Wahrheit und Willen zur Illusion bedenkt. Die in unserem Zusammenhang entscheidende Stelle lautet: „Der Philosoph der tragischen Erkenntniß. Er bändigt den entfesselten Willenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch am bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben: der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück. Der Philosoph der desperaten Erkenntniß wird in blinder Wissenschaft aufgehen: Wissen um jeden Preis. Für den tragischen Philosophen vollendet es das Bild des Daseins, daß das Metaphysische nur anthropomorphisch erscheint. Er ist nicht Skeptiker. Hier ist ein Begriff zu schaffen: denn Skepsis ist nicht das Ziel.“5
78 Anstatt jedoch diese Stelle im einzelnen zu kommentieren, möchte ich hier die beiden Möglichkeiten der Skepsis und des Vergessenmüssens der Skepsis etwas freier in den Blick nehmen. „Skepsis“ bezieht sich auf die „Möglichkeit“, daß die Welt nichts anders ist als die reine Immanenz des Lebens. Die Skepsis leitet das Ende der Metaphysik ein. Wenn alles so ist, wie es uns erscheint, dann heißt dies auch, für Nietzsche als Interpret Kants, daß die „Ideen der reinen Vernunft“ sich endgültig als Illusion und als ein absurder Anspruch erweisen. Dann sind die Unsterblichkeit der Seele, die Freiheit und Gott nicht nur (wie für Kant) nicht beweisbare, aber als Postulate weiterhin sinnvolle und absolut notwendige Vorstellungen, sondern schlechthin widersinnige Selbstillusionen. So lange das Denken, so lange der Mensch bei der reinen Skepsis verbleibt, kann er – philosophisch so wenig wie in seiner konkreten Existenz – nichts „postulieren“. Das skeptische Denken kann nicht mehr das, was der theoretische Verstand aufgeben mußte, auf praktischem Wege zurückgewinnen. Denn jedes Postulat, jede Annahme, die über den nüchternen Blick auf das Gegebene hinausgeht, ist Verklärung, ist Glaube, ist – ein Vergessen der Skepsis. Die Skepsis duldet keine Verklärung. Sie registriert die Unmöglichkeit jeglicher Setzung und jeglichen Grundes und verbleibt bei dieser Unmöglichkeit. Die Skepsis ist der Blick in den Abgrund, ein „nüchterner“ und „nächtlicher“ Blick, der nichts „vergißt“ und an einer Unmöglichkeit haftet. Der nüchterne Blick klärt die Nacht nicht auf und verklärt sie nicht, sondern er macht sie als Nacht durchsichtig, er ist – in der Sprache Nietzsches – reine Diagnose. Doch „Skepsis ist nicht das Ziel“. Müssen wir deshalb „viel vergessen“? Müssen wir den Abgrund vergessen und verdrängen um eines Zieles (des Lebens) willen? Ist das Vergessenmüssen ein notwendiges Zudecken, eine reine Selbstbetäubung im Dienste des „Lebens“? Heißt Vergessenmüssen „nicht mehr sehen wollen“? Oder werden die Dinge, wird die Welt auf eine ganz andere Weise sichtbar, weil der Mensch viel vergessen muß? Ist das Vergessen reine Negation oder ein setzender, positiver
79 Blick, der nicht minder wahr ist als der nüchterne Blick der Skepsis, ähnlich wie für Kant die praktische Vernunft eine andere (und höhere) Notwendigkeit hat als die theoretische? Träfe dies zu, dann wäre das Vergessenmüssen der Skepsis kein bloßes Sichabwenden des Blickes vom Abgrund, kein bloßes Verdrängen des eingesehenen Nihilismus. Es könnte sein, daß im Vergessen der Skepsis der Mensch jenem Anspruch des Sinnes, jenem Anspruch der Hoffnung Folge leistet und leisten muß, den Kant in den Postulaten der reinen Vernunft ein letztes Mal in die Sphäre des Wiß-, wenn auch nicht Erkennbaren einzuholen suchte und den Nietzsche – ganz anders und doch verwandt – mit diesen Worten andenkt: „Die Hoffnung ist der Regenbogen über den herabstürzenden jähen Bach des Lebens, hundertmal vom Gischt verschlungen und sich immer von neuem zusammensetzend, und mit zarter schöner Kühnheit ihn überspringend, dort wo er am wildesten und gefährlichsten braust.“6 Vergessend lebt der Mensch so, als ob es einen Grund, einen Sinn, als ob es eine absolut gegebene Hoffnung gäbe und geben könnte. Im Vergessen leben „wir“, mitten im Abgrund, den Enthusiasmus für neue Lebensgründe. „Wir“ – der Mensch überhaupt, sofern das Vergessen des Abgrundes zur Wesensbedingung des menschlichen Lebens überhaupt gehört. „Wir“ sind aber auch und vor allem die geschichtlichen Menschen im Zeitalter des Nihilismus. „Viel vergessend“ leben und denken wir so, als ob es mitten im Abgrund (der reinen, blinden Immanenz) einen Grund gäbe (das Außerhalb, die Transzendenz). Dieses Als-ob erinnert gewollt an Kants Postulate der reinen Vernunft. Doch das Postulierte hat jetzt allen Anschein der „Berechtigung“, der „Adäquatheit“ und der „Richtigkeit“ verloren. Das Als-ob des Vergessens ist keine Einsicht der Vernunft, sondern ein reiner Widerspruch, der als Widerspruch immer wieder danach verlangt, gelebt zu werden, ja als Widerspruch erst das „Leben“ ermöglicht. Das Leben überhaupt – das Leben in seinem innersten Grund: ein Als-ob, ein Vergessen, ein absurder Anspruch. Doch im Vergessen begegnet das Absurde nicht mehr
80 als Geist der Schwere und als das große Umsonst, das das Leben lähmt und zunichte macht. Das Als-ob des Vergessens ist das bejahende Trotzdem, die Haltung des Kindes, von dem Nietzsche im Zarathustra sagt: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen“. Das Als-ob als Wesensbedingung des Lebens ist, formal gesehen, sowohl bei Kant wie auch bei Nietzsche eine ethische Setzung. Sowohl bei Nietzsche wie auch bei Kant zeigt sich der Versuch, das aufkommende Absurde, den Nihilismus, durch eine Ethik des Enthusiasmus umzuwenden, eine Ethik freilich, die im wesentlichen Sinne nur gelebt werden kann in der Zusammengehörigkeit mit der Nüchternheit der skeptischen Ontologie.
III Was „ist“ dann Philosophie als Haltung und Möglichkeit des Lebens – die Ernüchterung oder der Enthusiasmus? Der nüchterne, skeptische, sehenwollende Blick oder der Enthusiasmus, der den Abgrund und die Nacht vergißt und an einen neuen Grund glaubt? Ich möchte die Frage jetzt etwas anders formulieren: Worauf kommt es „eigentlich“ und „letztlich“ im Leben des Menschen an? Kommt es darauf an, wesentlich zu leben? Ist das Ziel des Lebens das Leben selbst und seine eigene Fülle? Oder gibt es im Leben etwas, was noch höher steht als diese Fülle, höher als das wesentliche Leben selbst? Gibt es im Leben und „umwillen“ des Lebens eine Differenz auch noch vom Leben selbst, eine Differenz, die in der Möglichkeit und Notwendigkeit besteht, vom wesentlichen Leben zu erzählen, diese Möglichkeit zu denken, von ihr „Kunde zu bringen“? Wieder anders gefragt: gesetzt, daß die Skepsis „nicht das Ziel“ ist, ist dann das Ziel, ist das Telos des Menschen die (augenblickliche oder auch nur als Grenzfall anvisierte) Verschmelzung mit dem Wesen (mit dem Sinn), ist das Ziel das Erreichen eines bestimm-
81 ten Zustands der Lebenserfüllung oder gar des Glücks, ist das Ziel der Glaube an den Sinn – um jeden Preis? Oder ist das „Ziel“ das Sagen von diesem (vielleicht auch nur utopischen) Zustand, von dem (erwarteten) Glück, von einem unverfügbaren Augenblick des „Glaubens“? Noch ein wenig anders gefragt: ist der Mensch ein Wesen der Nähe, das sich ganz verlieren kann und vielleicht soll im Angesicht des Höchsten und Wesentlichen (im Enthusiasmus), oder ist der Mensch ein Wesen der Ferne, das die Differenz zum Größten und Wesentlichen (die Nüchternheit) braucht und damit auch und vor allem die Differenz zu sich selbst? Das Sagen-vom Leben, das Erzählen und Auslegen heißt griechisch hermeneuein. Hermeneutik ist Interpretation, Auslegung eines „Textes“, das Sichtbar- und Verständlichmachen von etwas, was irgendwie „schon da“ ist, aber in der Auslegung anders, freier, offener begegnen soll. Was ist nun aber der ursprüngliche Text, von dem die Philosophie, die wir mit Nietzsche als eine ursprüngliche Interpretation verstehen können, Kunde bringt? Was ist das Auszulegende, das „Zu-Wissende“ schlechthin? Ist es das „Weltall“? Ist es der Mensch? Ist es der Sinn des Lebens? Dies alles hat die Philosophie gesucht und auf ihre Weise – als Metaphysik – auch gefunden. Doch eine Philosophie, die den Anspruch des absoluten Erkennens aufgeben mußte, kann das zu Wissende nicht mehr unmittelbar antreffen, weder als ein Gegenstand der Erkenntnis noch als absolutes Postulat. Auf der Suche nach einem möglichen Urtext bleibt der Philosophie, als Haltung aber auch als konkrete Arbeit des Denkens, nicht mehr und nicht weniger als eine Möglichkeit, nichts anderes als die irgendwie immer schon gesuchte und angedachte Möglichkeit eines erfüllten Lebens, die Möglichkeit und die Gegenwart eines Lebens, das das Wesen „lebt“. Von dieser Möglichkeit – wir können es auch Glück nennen oder eudaimonía – „wissen“ wir im Enthusiasmus. Indem wir uns von einem „Sinn“ – oder wie wir auch sagen können: vom Theion – erfüllen lassen, sind wir
82 diese Möglichkeit. Indem wir diese Möglichkeit leben, sind wir selbst aber keine Ausleger und keine Philosophen: wir sind „Teil des Textes“. Wir wissen – wir fühlen – uns im Einklang mit dem Wesen. Doch wir sind dieses Wissen und Fühlen immer nur für Augenblicke, und auch dann niemals ganz und niemals absolut. Weil der Mensch zugleich und ursprünglich ein Wesen der Differenz ist, sind diese erfüllten Augenblicke immer von einem erahnten Abstand, von einem unüberwindbaren (und heilsamen) Fremdsein durchzogen. Auch die erfülltesten Augenblicke des Lebens verlangen danach, gesagt zu werden: sie verlangen nach einem Unterschied, nach einer Entgeisterung und Einrahmung, sie verlangen nach einer Erzählung. Der Enthusiasmus verlangt nach der Nüchternheit der Skepsis, er verlangt nach Differenz. Ohne die Skepsis, ohne diese Verdoppelung des Blickes, der Abstand nehmen muß auch noch von der höchsten Erfüllung, auch noch vom Glück, auch noch vom Sinn und auch noch vom Theion, ohne diese Skepsis und diese Nüchternheit wären selbst die Erfüllung, das Glück, wäre sogar das Theion etwas Blindes und Automatisches – ein animalisches Leben. Denn nicht nur in der Nähe, nicht nur im Sich-Vergessen, sondern gleichursprünglich auch in der Differenz zum Theion, in der Einrahmung, im Erzählen- und Sich-Unterscheiden-können liegt das Eigene des Menschen (was die Griechen den Logos nannten). Die Philosophie muß das Leben lieben. Denn worum sollte es dem Menschen sonst gehen, wenn nicht um ein „gutes“ und d.h. wesentliches Leben, um die eudaimonía. Doch das „gute Leben“ allein ist noch keine Philosophie: gut zu leben ist Lebenskunst. In die Differenz zum Leben, in die Differenz zum angedachten Glück treten und treten zu müssen heißt das Leben „betrachten“ (theorein), heißt Skepsis. Doch auch dieses nüchterne Betrachten allein, auch dieses Sagen „vom“ Leben ist, für sich genommen, noch keine Philosophie. Nur Betrachten, nur Sehen, ist (vielleicht) Wissenschaft, ist, wenn es hoch kommt, Welt-Theorie, aber keine Philosophie. Philosophie muß – immer wieder und immer anders – beides sein: Lebensvollzug und Ab-
83 stand, (Selbst)Vergessen und Erinnerung, Enthusiasmus und Nüchternheit. Beides – nicht gleichzeitig (denn diese Gleichzeitigkeit ist nichts Menschliches, sondern vielleicht: das Theion selbst), aber immer wieder: eine U-topie, sicherlich: die Utopie des großen Verachtens. „Geht uns das Weltall nichts an, so wollen wir das Recht haben es zu verachten“. Das Weltall – alles, was ist, alles, worauf der Mensch in seinem Erkennen- und Bestimmenwollen ausgerichtet ist: das Zuwissende und das Wissen davon: die Sophia. Verachten – kein einfaches Von-sich-weisen, sondern ein Nicht-Achten, ein Nicht-Besitzen-Wollen, ein Aufgeben und Freigeben, das zugleich ein Lieben7 ist – ein Philein. Philosophie – ein liebendes Verachten der Welt: der nüchterne Enthusiasmus für das Leben. Anmerkungen 1 Friedrich Nietszche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, DTV, München 1999, Band 7, S. 459. 2 Friedrich Nietzsche (wie Anm. 1), Band 7, S. 428. 3 Friedrich Nietzsche, II. Unzeitgemäße Betrachtung (wie Anm. 1), Band 1, S. 248. 4 Vgl. (wie Anm. 1), Band 7, S. 428. 5 Ebd. 6 Friedrich Nietzsche (wie Anm. 1), Band 8, S. 445. 7 Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (wie Anm. 1), Band 4, S. 278. Siehe darüber v. Vf.: Individuation und Einzelnsein. Nietzsche – Leibniz – Aristoteles, Klostermann, Frankfurt a.M. 2003, S. 125 ff.
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II Über den schöpferischen Willen
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Theo Meyer KREATIVE SUBJEKTIVITÄT BEI NIETZSCHE
Im Mittelpunkt steht das kreative Subjekt als höchste Potenz des Schöpferischen. Dabei ist die Entwicklung vom dionysischen Weltwillen (Tragödienschrift) zum schaffenden Individualwillen (Zarathustra) von zentraler Bedeutung. Relevant ist die Unterscheidung von (destruiertem) logischem Subjekt und (bejahtem) schaffendem Subjekt. Es dominiert eine ausgesprochene Schaffensästhetik. Das existentielle Grundmotiv ist die Einsamkeit, die Einsamkeit als Verhängnis und die Einsamkeit als schöpferischer Zustand, aus dem die Kunst erwächst, die höchste Form der Lebenssteigerung. Die wahre Kunst ist die monologische Kunst. Aus Mitteilungsdrang kann sie in das Pathos der Verkündigung umschlagen. Das Telos des Schaffens: der „Übermensch“.
„Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben […] Das ‚Ich‘ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine ‚Subjectivität‘ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung.“ (1,44-GT 5) Mit diesen Sentenzen aus der Geburt der Tragödie (1872) sagt der frühe Nietzsche dem herrschenden Subjekt-Begriff den Kampf an. Mit dem Abbau des Subjektbegriffs stellt er eine lange Tradition kritisch in Frage. Nietzsches Kritik richtet sich gegen das subiectum, das „Darunterliegende“ als das Zugrundeliegende, gegen die Substanz, die ousia als das eigentlich Seiende.1 Im neuzeitlichen Denken hat Descartes durch das cogito, ergo sum das ‚Ich denke‘ als den alleinigen Grund, die alleinige Gewißheit aller Erkenntnis herausgestellt. Die Unterscheidung von res cogitans und res extensa ist verquickt mit dem Substanzbegriff. Das denkende Ich ist eine Substanz, d.h. das in aller Skepsis, allem (methodischen) Zweifel einzig Gewisse. Subjekt und Substanz bilden eine ursprüngliche Einheit. In der Philosophie des
88 deutschen Idealismus erfolgt bei Fichte allerdings eine Lockerung bzw. ein Problematisieren dieser Relation. Fichte begreift das Subjekt als Aktivität. Für ihn ist das Ich ein sich selber setzendes Ich. Das Ich setzt sich selber in spontanen Akten, in einer „Thathandlung“2. Hier ist das Ich nicht mehr konstante Substanz, sondern produktive Aktivität. Dieser Selbstentwurf des Ich wird von Fichte in komplizierten Reflexionen entwickelt. Bei allen Modifikationen der Subjekt-Problematik kann man generell festhalten, daß das philosophische Denken bis ins 19. Jahrhundert das Subjekt, das denkende Subjekt, als die Grundlage von Welterkenntnis und Weltaneignung auffaßt. Aber dies ist nur der kognitive, erkenntnistheoretische Aspekt des Subjektbegriffs. Der weitere Aspekt ist der emotionale, kreative Aspekt. Im 18. Jahrhundert, im Sturm und Drang, in der ‚Genie‘-Epoche, der Empfindsamkeit, wird das empfindende, schöpferische Subjekt zum beherrschenden Thema, besonders im Hinblick auf die Dichtung. Dichtung, besonders die Lyrik, die „lyrische Poesie“, wird aufgefaßt als unmittelbare Selbstaussprache des Ich, als spontaner Gefühlsausdruck, als Erlebnisdichtung, als Konfession. So definiert Herder die „lyrische Poesie“ als den unmittelbaren „vollendeten Ausdruck einer Empfindung“3. Das Lyrische erscheint als Affektausdruck des Subjekts.4 Dieses Subjekt ist zugleich ein kreatives Subjekt, die schöpferische Potenz katexochen, das „Genie“. Das Genie ist ausgezeichnet durch das Schaffen, das künstlerische Schaffen, in dem es die tradierten, normativen Regeln überwindet und selbst neue Regeln setzt. Im Schaffen schafft sich das Genie einen Freiraum. Es ist eine autonome Kraft. Am stärksten gelangt dies im Sturm und Drang in der Prometheus-Hymne (1774) des jungen Goethe zum Ausdruck. In dieser Hymne greift Prometheus Zeus an, versagt ihm die Gefolgschaft und beruft sich auf die eigene Schöpferkraft: „Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde“ (HA 1,46). Das „glückliche Genie“ vermag „das Reizende, Vollendete hervorzubringen“ (HA 12,52-Propyläen). Der späte Goethe nennt „Genie“ „jene produktive Kraft, wo-
89 durch Taten entstehen, die vor Gott und der Natur sich zeigen können und die eben deswegen Folge haben und von Dauer sind“ (Eckermann, 673 – 11.3.1828). Der junge Nietzsche wendet sich nicht gegen das Genie, aber er faßt das schöpferische Subjekt als Organ des dionysischen Weltwillens auf, ausgehend vom Grundgedanken der (genetischen) Duplizität des Dionysischen und Apollinischen. Das Dionysische ist die dem Bewußtsein vorgeschaltete elementare Kraft, die Sprengkraft der Natur, das „Ur-Eine“ (1,38GT 4). Gedichte sind nicht Ausdruck des autonomen Subjekts, sondern des überindividuellen Weltwillens, der dionysischen Urkraft, die den Lyriker inspiriert und als Medium instrumentalisiert. Es sind die submentalen Schichten der Person, die Triebschichten, die den künstlerischen Prozeß in Gang setzen und stimulieren. Der Lyriker erscheint als ein von submentalen, archetypischen Kräften Inspirierter, der diese ‚dionysischen‘ Antriebe in eine apollinische Bilderwelt umsetzt.5 Das Dionysische ist die Urkraft, das Apollinische das geistige Prinzip. Nietzsche betont das unlösliche Wechselverhältnis zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen. Die Lyrik ist eine dionysischapollinische Kunst. Es ist das Problem des sich in den apollinischen Schein transzendierenden dionysischen Lebens.6 Nietzsches Konzeption läuft auf eine Entsubjektivierung des Subjekts hinaus. Nicht das subjektive Erlebnis, sondern das vorsubjektive Leben ist das Thema der Tragödienschrift. Nietzsche übt Kritik an Schopenhauer, dessen ästhetischer „Gegensatz“ von „Subjectivem“ und „Objectivem“ ein Mißgriff sei, während doch das „Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann“: Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert. (1,47-GT 5)
Während nach Schopenhauer der „lyrischen Poesie“ „eine gewisse Subjektivität wesentlich ist“ (WV I, 347), „in der lyri-
90 schen Poesie das subjektive Element vorherrscht“ (WV II, 554), vollzieht Nietzsche die Entsubjektivierung der Lyrik. Hegel definiert, im Zeichen des Subjekt–Objekt–Schemas, als „Inhalt“ der „Lyrik“ „das Subjektive, die innere Welt, das betrachtende, empfindende Gemüt […] Innerlichkeit […] das Sichaussprechen des Subjekts“ (Ästhetik II,400 – Die Gattungsunterschiede der Poesie). Im lyrischen Gedicht erfolgt nach F.Th. Vischer das „punctuelle Zünden der Welt im Subjecte“ (Aesthetik 3,1331). Goethe hatte „drei echte Naturformen der Poesie“ unterschieden: „die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama“ (HA 2,187 – Naturformen der Dichtung).7 Bei aller Kritik der Subjektivität – Nietzsche verleugnet nicht den genialischen Künstler, wie in der Tragödienschrift allein schon das enthusiastische Vorwort an Richard Wagner zeigt. Aufschlußreich ist seine Prometheus-Interpretation. In der Tragödie des Aischylos sei Prometheus „umleuchtet“ von der „Glorie der Activität“ (1,67-GT 9). Zugleich äußert er sich, unter Zitation von Versen, enthusiastisch zu den „verwegenen Worten“ des Prometheus in der Hymne des „jugendlichen Goethe“: „Der Mensch, in’s Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden“ (1,67-GT 9).8 Dies scheint ganz dem Genie-Kult des Sturm und Drang zu entsprechen: die Apotheose des freien Subjekts. Aber Nietzsche bleibt nicht bei dieser Konzeption stehen. Für ihn sind „alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus“; er konstatiert, daß „hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt“ (1,71-GT 10). Nicht Ödipus, der in einem Schicksalszusammenhang unwissend schuldig handelnde Mensch, sondern Dionysos, das sich selber wollende Leben, ist das Thema der Tragödie. In der Tragödie vollzieht sich die Manifestation des Dionysos, der sich der dramatischen Helden als eines Instruments bedient, in die Maske von dramatis personae schlüpfend. Das ‚Tragische‘ besteht für
91 Nietzsche nicht mehr im Antagonismus von Mensch und Schicksal, sondern läuft hinaus auf die Idee des aus dem Untergang des Individuums ‚siegreich‘ hervorgehenden Lebens. Der „tragische Held“ geht unter, aber aus diesem Untergang geht Dionysos neu hervor. „Jedesmal unterliegt das Individuum: und trotzdem empfinden wir seine Vernichtung als einen Sieg.“ Es ist ein „siegreiches Unterliegen“, ein „im Unterliegen zum Siege Gelangen“ (7,192-F, 1870/71). Das Tragische besteht in der Spannung von Weltwillen und Individuation9, in der Instrumentalisierung des Individuums zum Organ des dionysischen Lebens. In der Folgezeit betreibt Nietzsche die konsequente Destruktion des klassischen Subjektbegriffs. Vor allem in den achtziger Jahren übt er immer wieder Kritik an Kategorien wie ‚Subjekt‘, ‚Ich‘, ‚Substanz‘. Es sind bloße Fiktionen. Er spricht vom „Kunststück in der Erfindung des ‚Subjekts‘, des ‚Ichs‘ “ (III 480-NA). Er wendet sich gegen die „falsche Versubstanzialisierung des Ich“ (III 612-NA). Das „ ‚Ich‘ “ ist „nur eine begriffliche Synthesis“ (III 850-NA). Er enthüllt „unsern Glauben an das ‚Ich‘ als an eine Substanz, als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen“ (III 898-NA) als Fehlgriff. Das „ ‚Ich‘ “ ist „eine perspektivische Illusion“ (III 500-NA)! Nietzsches Kritik richtet sich gegen den Subjektbegriff der idealistischen und kritischen Philosophie, gegen Fichte, Kant und Hegel.10 Entscheidend hinsichtlich der Nietzscheschen Destruktion des Ich-Begriffs ist der Abbau des logischen, rationalen Subjekts zugunsten der vorrationalen, prälogischen Tiefenschichten des Menschen. Die Krise des Ich wird zum Zeitsymptom. So löst Ernst Mach in der Analyse der Empfindungen (1886) in dem berühmten Diktum „Das Ich ist unrettbar“ das Ich in ein bloßes Empfindungsbündel auf.11 Die Psychoanalyse betreibt dann die konsequente Reduktion des „Ich“, der bewußten Person, zugunsten des „Es“, des Unbewußten, der Triebdynamik. Diese Freudsche Individualpsychologie wird bei C.G. Jung zur Kollektivpsychologie erweitert, die die archetypische Regression verkündet, mit Bezug auf Nietzsche.12
92 Nun erschöpft sich das Problem der Subjektivität bei Nietzsche allerdings nicht in der Destruktion des Subjekts, sondern das Subjekt kann auch eine positive Qualität annehmen. Es ist zu unterscheiden zwischen logischem Subjekt und kreativem Subjekt. Was Nietzsche abbaut, ist das logische Subjekt, das rationale Ich, die Dominanz des diskursiven Bewußtseins. Demgegenüber erhebt er das schöpferische Ich, das weltgestaltende, Werte setzende Subjekt in den höchsten Rang, gemäß seiner Grundanschauung, daß die schöpferische Tätigkeit die höchste Möglichkeit des Menschen in der Bewältigung des Daseins sei. Dabei kommt dem „Schaffenden“, dem kreativen Subjekt par excellence herausragende, ja zentrale Bedeutung zu. Nicht ohne Grund ist das Wort „Ich“ ein Schlüsselwort des Zarathustra. Hatte Nietzsche in der Geburt der Tragödie die Entsubjektivierung des künstlerischen Prozesses verkündet, so rückt er in der Folgezeit das ästhetische Subjekt, ja das kreative Subjekt schlechthin in den Vordergrund. Die schöpferische Existenz wird zum dominanten Denkmotiv Nietzsches. Schon in der Schrift Richard Wagner in Bayreuth (1876), der vierten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘, verherrlicht Nietzsche das Genie Richard Wagners, d.h. das kreative Subjekt, freilich nicht ohne psychologisierende, kritische Untertöne. Wagner erscheint als ein neuer Columbus: „Es ist die erste Weltumsegelung im Reiche der Kunst: wobei, wie es scheint, nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst selber entdeckt wurde.“ (1,433-WB 1) Mit Bezug auf das Musikdrama (das ‚musikalische Drama‘) Wagners erfolgt die Apotheose des großen Künstlers. Dem schöpferischen Subjekt werden, wie in der klassischen GenieÄsthetik, besondere Lizenzen zugestanden. So ist die Rede vom „Hoheitsrecht des Schaffenden“ (1,443-WB 3), von dem „in ganz grossen Verhältnissen mit der Lust des Gesetzgebers“ agierenden Künstler, der „Einen Willen durchführen“ will (1,494WB 9). Dieses Diktum reicht mit seinem dekretierenden Gestus weit über das ästhetische ‚Regel‘-Setzen des traditionellen Genies hinaus. Damit ist bereits ein Zentralmotiv Nietzsches ange-
93 schlagen, ein Motiv, das später immer beherrschender wird: die weltformende, weltschaffende Kraft des ‚Schaffenden‘. Diese Idee gelangt auch in der Schrift Schopenhauer als Erzieher (1875), der dritten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘, zum Ausdruck. Dort heißt es: Denken wir uns das Auge des Philosophen auf dem Dasein ruhend: er will dessen Werth neu festsetzen. Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein. (1,360-SE 3)
Nietzsche steigert sich in einen Enthusiasmus des großen Menschen: „Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.“ (1,348-SE 2) Unter diesen Auspizien ist es kaum verwunderlich, daß Nietzsche den Sinn der Kultur im Hervorbringen großer Individuen sieht. Das „Ziel aller Cultur“ ist die „Erzeugung des Genius“ (1,358-SE 3). Nietzsche verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff ‚Genius‘ im Sinne von ‚Genie‘.13 Das Genie ist allerdings ein Produkt der schöpferischen Natur: „Die Natur schiesst den Philosophen wie einen Pfeil in die Menschen hinein, sie zielt nicht, aber sie hofft, dass der Pfeil irgendwo hängen bleiben wird.“ (1,405-SE 7) Nietzsche hat die Idee der schöpferischen Natur aus der Tragödienschrift nicht aufgegeben, aber die natura naturans konkretisiert sich nun im Subjekt. Dabei vertritt Nietzsche einen extensiven Geniebegriff. Nicht nur Künstler, sondern auch Philosophen und Staatsmänner und andere große Geister können schöpferische, weltverändernde Potenzen sein. Die Funktion der Kultur besteht im Streben nach Perfektibilität der Natur: Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten. (1,382-SE 5)
Nietzsches Naturbegriff hat seine historischen Vorläufer, von Spinozas Deus sive natura über Goethes ‚Pantheismus‘ bis zu Schellings Naturphilosophie. Im hymnischen Fragment Die Na-
94 tur (1783) preist Goethe die Schöpferkraft der Natur: „Natur! […] Sie schafft ewig neue Gestalten […] Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor […] (HA 13,45 f.). In Schellings Identitätsphilosophie, der Identität von ‚Natur‘ und ‚Geist‘, ist die Natur als schöpferische Energie unbewußter Geist, der den Künstler hervorbringt, in dessen Schaffensprozeß sich „Bewußtloses“ und „Bewußtes“ mischen. „Kunst beruht daher auf der Identität der bewußten und der bewußtlosen Thätigkeit.“14 Vom „Bewußtlosen, was in die Kunst mit eingeht“, heißt es, daß es nicht „gelernt“, „sondern allein durch freie Gunst der Natur angeboren sein kann“14a. Die Natur ist der Bereich, aus dem das schöpferische Individuum seine Energie bezieht. Das ist die Grundüberzeugung Goethes wie Nietzsches und Schellings, unbeschadet spezifischer Modifikationen: das naturreine, ‚naive‘ Genie (Goethe), die geistige Natur (Schelling), das voluntative Subjekt (Nietzsche). Der gemeinsame Nenner ist der Gedanke der Selbstvollendung der Natur in der Kultur, in der Kunst. Nach Nietzsche erwächst die Kultur aus der schöpferischen Natur, die ihren Gipfel in den kreativen Individuen gewinnt. Erst in großen Menschen vollenden sich Natur und Kultur. Gibt es Widerstände gegen die Selbstentfaltung des Individuums, gerät es in Opposition zu seiner Epoche. In Schopenhauer erblickt der agonale Nietzsche den „Kampf eines solchen Grossen gegen seine Zeit“; „in ihr bekämpft er das, was ihn hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein“ (1,362-SE 3). In dieser Hinsicht gewinnt der große Mensch Vorbildfunktion: „wie wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit erziehen können“ (1,363-SE 4). Mit diesem Affront gegen den (kulturlosen) Zeitgeist signalisiert Nietzsche, daß nicht das Individuum um der Gesellschaft willen, sondern umgekehrt die Gesellschaft um des Individuums willen da ist. Alles ist funktional auf das große Individuum ausgerichtet. Geniekult und Kulturkritik gehen bei Nietzsche Hand in Hand. Die Spannung zwischen Individuum und Zeit ist ein Grundthema Nietzsches. Es ist in allen Schaffensperioden ein Antrieb
95 seines Denkens und Schaffens. Dies führt zur vehementen Kritik der Wertsysteme der Epoche. Diese Kritik zielt nicht nur auf den Abbau der abendländischen Metaphysik, der christlich-platonischen Weltinterpretation, und den in kunstfremder Machtpolitik erstarrenden Nationalstaat, sondern den Nietzscheschen Verdikten können auch eigene, ehemals sakrosankte Motive und Begriffe zum Opfer fallen. In seiner kritisch-analytischen Schaffensperiode, in der Zeit von Menschliches, Allzumenschlisches (1878/1879), löst sich Nietzsche vom enthusiastischen Pathos des großen Individuums und betreibt eine provokative Psychologie der Enthüllung, eine Reduktion aller gängigen großen Motive, aller übermenschlichen Ideen auf rein menschliche Antriebe. „Genie“, „Inspiration“, „Intuition“ werden als bloße Fiktionen entlarvt. Der Geniekult ist „Aberglaube vom Genie“ (2,154MA I, Nr. 164). Die „Inspiration“ ist eine Manipulation der Künstler, die den Schaffensantrieb darstellen, als ob „ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte“ (2,146-MA I, Nr. 155 – Glaube an Inspiration). Die „Intuition“ ist ein „Wunder-Augenglas“ (2,152-MA I, Nr. 162). Der Genie-Enthusiasmus weicht der Genie-Demaskierung. Diese Kritik erfolgt im Zeichen der Wissenschaft. Nicht der Künstler, sondern der Wissenschaftler ist nun Nietzsches Leitfigur, denn während der Künstler Fiktionen huldigt und Selbststilisierung betreibt, ist der Wissenschaftler der bescheidene Jünger der Wahrheit. Der Titel eines Textstücks aus den Vermischten Meinungen und Sprüchen lautet: Warum Gelehrte edler als Künstler sind (2,467-MA II, Nr. 206). Im Textstück Die Kunst als Todtenbeschwörerin (2,142 f.-MA I, Nr. 147) reduziert Nietzsche die Kunst auf antiquarische Funktionen. Dennoch kann er nicht umhin, die geheime Suggestion der Kunst und ihre postreligiöse Intensität zu vermerken. Im Textstück Beseelung der Kunst heißt es: Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte (2,144-MA I, Nr. 150)
96 Im Textstück Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer reflektiert Nietzsche, daß auch im Denker, im „Freigeiste“, der „sich alles Metaphysischen entschlagen hat“, das „metaphysische Bedürfniss“ weiterhin „stark“ sei, wie beim Erklingen der „neunten Symphonie Beethoven’s“ (2,145-MA I, Nr. 153). So wahrt die Kunst in aller Enthüllungspsychologie ihre Dignität. Sie läßt sich nicht eskamotieren. Die Intensivierung der Empfindungen und der Impetus zum Erhabenen, diese von der Kunst, speziell der Musik, ausgehenden Wirkungen, lassen sich nicht tilgen. Nietzsche macht allerdings die Einschränkung, daß in diesem Kunstenthusiasmus der „intellectuale Charakter“ des aufgeklärten Geistes „auf die Probe gestellt“ werde (ebd.). Aber dies scheint eher eine Reservatio mentalis zu sein. Insgeheim sträubt sich das Kunstgefühl gegen den Abbau der Kunst in der aufgeklärten Realwelt. Damit behält auch der Künstler im Grunde seine kreative Sonderstellung. Ein großer Künstler, eine schöpferische Existenz wie Beethoven, ist immun gegen demaskierende Künstlerpsychologie. Freilich, in der Enthüllungsperiode wirft Nietzsche bereits das Problem der poetischen Lüge auf. Im Textstück Mit dem Leben spielen konstatiert er, mit Bezug auf die „Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie“, „wie alles Poetenvolk eine solche Lust an der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld dabei“ (2,145 f.-MA I, Nr. 154). Fortan ist die Dichterexistenz bei Nietzsche ins Zwielicht gerückt, da die Dichter eine Welt der Fiktionen erdichten. Nach dieser aufklärerisch-kritischen Periode tritt bei Nietzsche erneut das schaffende Subjekt in den Mittelpunkt seiner ästhetischen Reflexionen, und zwar nun mit entschiedenem Omnipotenzanspruch. Das schon früher hervorgehobene kreative Subjekt wird nun in wachsendem Maße in den höchsten Rang einer weltschaffenden Potenz erhoben. Es vollzieht sich, spätestens seit dem Zarathustra, eine Wende vom Universalwillen zum Indivualwillen, von der dionysischen Natur mit ihrer elementaren Sprengkraft zum schöpferischen Subjekt mit seinen Weltentwürfen. In Also sprach Zarathustra (1883-1885), im Kapitel Von
97 den Hinterweltlern, erteilt Zarathustra seinem „Wahn jenseits des Menschen“ eine Absage: Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die Welt. / Traum schien mir da die Welt und Dichtung eines Gottes; farbiger Rauch vor den Augen eines göttlich Unzufriednen […] Trunkne Lust und Selbst-sich-Verlieren dünkte mich einst die Welt. (4,35-Za)
Es ist die Absage an ein überindividuelles, metaphysisches Prinzip, und damit ist offenbar auch der Dionysos der Tragödienschrift gemeint.15 Jener Gott erscheint als bloßes Produkt menschlicher Entwürfe: „Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen Göttern!“ (4,35-Za) Im Zarathustra ist nicht mehr die überindividuelle, vorsubjektive Macht der elementaren Natur, sondern die individuelle Potenz des Schaffenden, Zarathustras, das entscheidende Agens. Zarathustra verkündet: Wahrlich, schwer zu beweisen ist alles Sein und schwer zum Reden zu bringen. […] Ja, diess Ich und des Ich’s Widerspruch und Wirrsal redet noch am redlichsten von seinem Sein, dieses schaffende, wollende, werthende Ich, welches das Maass und der Werth der Dinge ist. (4,36-Za, Von den Hinterweltlern)
Dies ist eine prägnante Bestimmung der kreativen Subjektivität Nietzsches. Das Ich ist ein wollendes Ich, das heißt, daß im Ich der Wille zur Macht tätig ist, jene Kraft, die allem Organischen inhärent ist. Das Ich ist ein schaffendes Ich, das heißt, das Ich will etwas hervorbringen, es will etwas über sich hinaus schaffen; dies ist sein immanenter Antrieb. Das Ich ist ein wertendes Ich, das heißt, das Ich orientiert sich nicht mehr an vorgegebenen Wertsystemen, sondern setzt selbst Werte, schafft neue Werte, vollzieht die Umwertung aller Werte. Das wollende, schaffende, wertende Ich – damit hat Nietzsche sein kreatives Subjekt, Zarathustra, präzise definiert. Das Prinzip des Schöpferischen wird zum zentralen Denkmotiv Nietzsches. Die Begriffe „Schaffen“ und „Schaffender“ werden zu Schlüsselbegriffen. Der Schaffende ist eine autonome Potenz. Er ist die causa prima und die causa efficiens der neuen Weltgestaltung. Zarathustra wirft die Frage auf: „Bist du eine
98 neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen, dass sie um dich sich drehen?“ (4,80-Za, Vom Wege des Schaffenden) Das Schaffen richtet sich auf ein Telos – so bestimmt oder unbestimmt dies auch sein mag. Das Schaffen ist ein Über-sich-hinaus-Schaffen. Vom „schaffenden Selbst“ heißt es: „– über sich hinaus zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst.“ (4,40-Za, Von den Verächtern des Leibes) Um seines Telos willen muß der Schaffende zum Selbstopfer bereit sein: „Ich liebe Den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zu Grunde geht.“ (4,83-Za, Vom Wege des Schaffenden) Es sind die Schaffenden, die dem Dasein überhaupt Sinn verleihen. Im Unterschied zu den öffentlichen „Schauspielern“, die auf dem „Markt“ Selbstdarstellung betreiben und vom „Volk“ „grosse Männer“ genannt werden, sind in Wahrheit („unsichtbar“) die Schaffenden die „Erfinder von neuen Werthen“ (4,65-Za, Von den Fliegen des Marktes). Angesichts des Nihilismus, des Verlustes aller metaphysischen, moralischen Inhalte, ist es allein der „Schaffende“, der einen neuen Sinn ins Dasein projiziert: Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst schafft es, dass Etwas gut und böse ist. (4,247-Za, Von alten und neuen Tafeln 2)
Nietzsche, Antipode der Vergangenheit und Kritiker der Gegenwart, erblickt allein in der Zukunft offene Horizonte und Erneuerungsmöglichkeiten. Zarathustra ist der Hoffnungsträger der Zukunft: „Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und eine Brücke zur Zukunft – und ach, auch noch gleichsam ein Krüppel an dieser Brücke: das Alles ist Zarathustra.“ (4,179-Za, Von der Erlösung) Nun hat Nietzsche seine Zukunftsutopie inhaltlich nie exakt definiert; auch der zu schaffende „Übermensch“ bleibt letztlich eine eigentümlich imaginäre Gestalt. Aber das Zukunftsmotiv ist als regulative Idee ein Befreiungs- und Freiheitsmotiv. Es entlastet von der Last der Vergangenheit und befreit vom Druck der Gegenwart, und es ist ein kreatives Agens, das die Mobilität des Denkens und Schaffens anstachelt und eine Aufbruchstimmung mit dem Blick in imaginäre Fernen erzeugt.
99 In letzter Konsequenz führt dies zu einer Verselbständigung des Schaffens. Nietzsche, Protagonist einer entschiedenen Schaffensästhetik, räumt dem Schaffen, dem Schaffenden den unbedingten Vorrang vor dem Werk ein. Nicht das Schaffensprodukt, das ergon, sondern der Schaffensprozeß, die energeia, ist sein primäres Anliegen. In der Morgenröthe verweist er auf „jene Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet“ (3,319-M, Nr. 548). Nietzsche geht noch einen Schritt weiter. In der Fröhlichen Wissenschaft, im Textstück Reiz der Unvollkommenheit, schreibt er, daß ein „letztes Unvermögen“ eines Dichters von „seiner reichen Kraft“ zeuge. „Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte“, und so reicht seine „Vision“ über das Werk hinaus. „Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle ‚Werke‘ hinaus […] Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein.“ (3,434 f.FW, Nr. 79) Es ist dies eine Überlegung ganz in der Konsequenz des Energetikers Nietzsche. Das vollendete, ästhetisch perfekte Werk würde auf einen finalen, statischen Zustand hinauslaufen und damit den energetischen Prozeß beenden. Das unvollendete Werk hingegen läßt der Phantasie weiterhin kreativen Spielraum. Nun erklärt Zarathustra allerdings: „Mein Leid und mein Mitleiden – was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!“ (4,408-Za, Das Zeichen; s. auch 4,295-Za, Das Honig-Opfer) Hier ist das „Werk“ gedacht als großer Gegenentwurf zum individuellen „Glück“. Das menschliche Glücksverlangen der empirischen Person wird irrelevant gegenüber der angestrebten Welterneuerung durch die kreative Existenz.16 Nietzsches „Werk“-Begriff meint nicht das abgeschlossene, statische Kunstgebilde, sondern die unaufhörliche, prozessuale Lebenssteigerung in einer zu schaffenden neuen Welt. Dabei huldigt Zarathustra der chiliastischen Utopie vom Tausendjährigen Reich: „Unser grosser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-Reich von tausend Jahren – –“ (4,298-Za, Das Honig-Opfer). An die Stelle des
100 heilsgeschichtlichen Gottesreiches ist ein säkularisiertes Menschenreich getreten.17 Da dieses Reich vom Menschen selbst geschaffen werden soll, sieht sich der einsame Zarathustra mit der Frage nach Mitstreitern konfrontiert. „Die Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben.“ (4,26Za, Vorrede 9) Da es die Mitschaffenden realiter nicht gibt bzw. Zarathustra sie nicht findet, sieht er sich genötigt, sie selbst hervorzubringen. „Gefährten suchte einst der Schaffende und Kinder seiner Hoffnung: und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden könne, es sei denn, er schaffe sie selber erst.“ (4,203-Za, Von der Seligkeit wider Willen) Damit erreicht das Schaffen eine extreme Zuspitzung. Das autonome Subjekt erklärt sich zum creator omnipotens. Bezeichnenderweise verkündet Zarathustra seine Selbstkrönung. In offenbarer Anspielung auf die Dornenkrone Jesu setzt er sich gegenüber dem Leiden Jesu in Napoleon-Pose lachend eine Rosenkranzkrone auf: Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. (4,366-Za, Vom höheren Menschen 18)18
Angesichts der Glorifizierung der eigenen Präpotenz ist es kaum verwunderlich, daß Nietzsche sich zu einem welthistorischen Ereignis stilisiert. In Ecce homo erklärt er, „dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde“, und daß er daher mitteilen müsse, „wer ich bin“, nicht zuletzt angesichts „der Grösse meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen“ (6, 257-EH, Vorwort 1).19 Die Frage nach dem eigenen Ich, nach Wesen, Bedeutung und Funktion des Ich, ist ein vordringliches Problem Nietzsches, das insbesondere in Ecce homo (1888/89) seinen (exzessiven) Niederschlag findet. Je mehr er sich von den Zeitgenossen unverstanden fühlt, um so stärker pocht er auf die eigene exzeptionelle Bedeutung, Hypertrophien nicht scheuend. „Wenn ich mich darnach messe, was ich kann, […] so habe ich
101 mehr als irgend ein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Grösse.“ (6,296-EH, Warum ich so klug bin 10) Er habe „lauter Sachen ersten Ranges gemacht, die kein Mensch mir nachmacht – oder vormacht, mit einer Verantwortlichkeit für alle Jahrtausende nach mir“ (ebd., S. 297). Nietzsche hebt seine ehrfurchtgebietende, „unsägliche Verantwortlichkeit“ hervor: „Denn ich trage das Schicksal der Menschheit auf der Schulter.“ (6,364EH, Der Fall Wagner 4; vgl. 6,365-374-EH, Warum ich ein Schicksal bin 1-9) Nietzsche verabsolutiert sich zum welthistorischen Ereignis. Dies birgt spezifische Probleme. Was existentiell ein Versuch zur unbedingten Durchsetzung revolutionärer Ideen ist, ist psychologisch eine Form von Kompensation. In dem Maße, in dem er der ständig wachsenden Einsamkeit und dem damit verbundenen Kommunikationsverlust ausgesetzt ist, steigert sich Nietzsche in einen Höhenrausch. Dies geschieht in apodiktischen Aussagen mit dekretierendem Gestus. Dies führt besonders im Zarathustra immer wieder zu großen rhetorischen Gebärden, zum sprachlichen Pathos des genus grande, zum hohen, stürmischen, affektischen Stil, zu einer erhabenen Schreibart mit appellierendem Impetus. Es ist die diktatorische Sprache des Willens zur Macht, die Nietzsche im Zarathustra mit allen ihm zur Verfügung stehenden rhetorischen Mitteln inszeniert. Es ist ein perspektivenreiches Arrangement aus hyperbolischen Metaphern, tiefgründigen Sentenzen, persuadierenden Apostrophen, vieldeutigen Assoziationen, allegorischen Figuren, rhapsodischen Sequenzen, imperativischen Gesten, bedeutungsvollen Exklamationen, eine Mischung aus Pathos und Satire, Erhabenheit und Parodie, Innerlichkeit und Provokation. Nietzsche war der Meinung, „mit diesem Z<arathustra> die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung gebracht zu haben. Es war, nach Luther und Goethe, noch ein dritter Schritt zu thun“ (B 6,479 – 22.2.1884, an Erwin Rohde). Auch ist er der Auffassung, „dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind“ (6,286-EH, Warum ich so klug bin 4).
102 Jedenfalls betont Nietzsche die Künstlerexistenz des kreativen Subjekts. Gerade im sprachlichen Virtuosentum des Zarathustra sieht er eine exorbitante Leistung. Er läßt die normale Informationssprache hinter sich zugunsten eines freien, artistischen Spiels mit der Sprache, einer expressiven Ausdruckssprache von höchster Elastizität und Mobilität. In diesem Lichte sieht Nietzsche jedenfalls sein opus maximum. Er schreibt, sich gegen Goethe abgrenzend: Ich habe die strengere, männlichere Linie vor ihm voraus, ohne doch, mit Luther, unter die Rüpel zu gerathen. Mein Stil ist ein Tanz; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. (B 6,479 – 22.2.1884, an Rohde)
Diese Sprache ist geprägt von einem realitätstranszendierenden Pathos. Die Kluft zwischen niederziehender Realität und idealem Telos, Mensch und „Übermensch“, soll durch dekretierende Sprachgebärden, gewissermaßen durch ein Ersprechen des Unbedingten überbrückt werden. Aufgrund dieser Spannung steht der Schaffende in radikaler Opposition zur etablierten Gesellschaft, für die er ein Outlaw ist. „Wen hassen sie am meisthen? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende.“ (4,26-Za, Vorrede 9) Nietzsches Denken ist geprägt von der Dialektik von Destruktion und Entwurf, Zerstörung der alten Werte und Entwurf neuer Werte, eine Haltung, die ihn in vibrierender Unruhe hält und ihn in den schroffen, kompromißlosen Gegensatz zum Zeitgeist treibt. Der Antagonismus von Subjekt und Gesellschaft ist ein Nietzsche permanent bedrängendes Problem, aber er ist zugleich ein kreatives Stimulans, da er das Provozieren ermöglicht. Und die Provokation ist ein Lebenselement Nietzsches – das verbindet ihn mit Heine. Nietzsche benötigt das Widerstandserlebnis, denn gerade an Widerständen entzündet sich seine kreative Energie. „Feind sein“ sei ein Antrieb „jeder starken Natur. Sie braucht Widerstände, folglich sucht sie Widerstand: das aggressive Pathos gehört […] zur Stärke“ (6,274-EH, Warum ich so weise bin 7). Unter
103 diesen Auspizien baut sich Nietzsche seine Gegner häufig allererst auf bzw. verleiht ihnen eine spezifische Größe oder reduziert sie auf negative Motivkomplexe – um sie auf diese Weise um so vehementer attackieren zu können. Ohne einen zu provozierenden Gegner würde geistiger Stillstand eintreten. Das Provozieren erzeugt ein Lustgefühl. So konstatiert Nietzsche, „dass ich kein ‚Hans der Träumer‘ war, dass es mir Vergnügen macht, den Degen zu ziehn“ (6,316-EH, Die Unzeitgemässen 1). Die Provokation ist ein Erproben der eigenen Stärke im geistigen Wettstreit. Der Agon ist die conditio sine qua non der produktiven Polemik. „Voraussetzung zu einem rechtschaffnen Duell“ ist der „gleiche Gegner“ (6,274-EH, Warum ich so weise bin 7). Nur der gleichrangige Antipode fordert dem Schaffenden die höchste Energie ab. Dabei betont Nietzsche: „ich greife nie Personen an, – ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrösserungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann“ (ebd.). Nun greift Nietzsche durchaus Personen an, vor Invektiven nicht zurückschreckend, aber die angegriffenen Personen sind in der Tat zumeist Repräsentanten einer von Nietzsche befehdeten Weltsicht.20 So hat die Polemik eine Doppelfunktion: Sie stimuliert die eigene Energie, und sie zielt in den angegriffenen Personen auf generelle Motive. Nietzsches kreative Subjektivität – sie ist geprägt von Einsamkeit, Verkündigung, Experiment, Künstlertum und Übermensch-Idee, im Zeichen einer Philosophie der Welterneuerung. Nietzsches Existenz steht im Zeichen der Einsamkeit, einer extrem zugespitzten, unüberbietbaren Einsamkeit. Aber Nietzsche will sich nicht über die Einsamkeit beklagen: Auch an der Einsamkeit leiden ist ein Einwand, – ich habe immer nur an der „Vielsamkeit“ gelitten … In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, dass mich nie ein menschliches Wort erreichen würde: hat man mich je darüber betrübt gesehn? (6,297-EH, Warum ich so klug bin 10)
Hatte Nietzsche noch in Menschliches, Allzumenschliches die „Einsamkeit“ als „würgende“, „furchtbare Göttin“ bezeichnet
104 (2,17-MA I, Vorrede 3), so wird ihm in der Folgezeit die Einsamkeit mehr und mehr zu einem Zustand euphorischer Freiheit. Nietzsche preist die Einsamkeit: „Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit“ (6,276-EH, Warum ich so weise bin 8). Nietzsche spricht von der absoluten „Distanz“, der „azurnen Einsamkeit, in der dies Werk lebt“ (6,343-EH, Also sprach Zarathustra 6). Zarathustra spricht die Einsamkeit wie eine Geliebte an: Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heimkehrte! (4,231-Za, Die Heimkehr)
Zarathustras Einsamkeit ist die höchstmögliche, undurchdringliche Einsamkeit. Aber er sucht diese Einsamkeit. Nachdem er „Sechs Einsamkeiten“ hinter sich hat, wirft er die „Angel“ „nach einer siebenten Einsamkeit“ aus: „meine siebente letzte Einsamkeit! – –“ (6,393 f.-DD, Das Feuerzeichen)21 Die Einsamkeit ist für Nietzsche nicht nur ein lähmender, abgründiger, sondern auch und vor allem ein schöpferischer Zustand. Erst in der Einsamkeit vollzieht sich das wahre Schaffen. Damit gewinnt der Monolog für Nietzsche zentrale Bedeutung. In der Fröhlichen Wissenschaft, im 5. Buch von 1887, trifft Nietzsche die für seine ästhetischen Anschauungen fundamentale Unterscheidung von „monologischer Kunst“ und „Kunst vor Zeugen“. Die „Kunst vor Zeugen“ schielt auf ein Publikum, auf suggestive Effekte, und Nietzsche zählt noch den „Glauben an Gott“ zu dieser Schau-Kunst, denn selbst der christliche Anachoret, der Einsiedler, hat noch einen Zeugen, Gott. In der „monologischen Kunst“ hingegen hat der Künstler „ ‚die Welt vergessen‘ “, „wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, – sie ruht auf dem Vergessen, sie ist die Musik des Vergessens“ (3,616-FW, Nr. 367). Damit vertritt Nietzsche eine reine Ausdrucksästhetik. Der wahre Künstler verleiht nur dem in ihm waltenden Schaffensimpuls Ausdruck. In einem Fragment vom Frühjahr 1888 deutet Nietzsche die Musik Beethovens als „monologische“ Musik, in Abgrenzung gegen die auf hypnotische
105 Wirkung zielende Musik Wagners, gegen den „größten Meister der Hypnotisirung“. „Nichts ist ihm gegensätzlicher als die monologische heimliche Göttlichkeit der Musik Beethovens, das Selbsterklingen der Einsamkeit, die Scham noch im Lautwerden …“ (13,405-F) Indem die Einsamkeit schöpferisch in Ausdruck umgesetzt wird, kann sie bewältigt werden. Nietzsche notiert: Zarathustra. Dies sind die Lieder Zarathustras, welche er sich selber zusang, daß er seine letzte Einsamkeit ertrüge: (11,339-F, 1884/85)
Nietzsche, die vielleicht einsamste Gestalt der Geistesgeschichte, ist der monologischen Reduktion ausgesetzt – die er produktiv bewältigt. Zarathustra: „Inzwischen rede ich als Einer, der Zeit hat, zu mir selber. Niemand erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber.“ (4,246-Za, Von alten und neuen Tafeln 1) Die Einsamkeit spitzt sich zur monologischen Abkapselung zu, aber gerade darin erfährt das Subjekt sein wahres Selbst: „[…] man erlebt endlich nur noch sich selber […] Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim – mein eigen Selbst“ (4,193-Za, Der Wanderer). Aber Nietzsche und mit ihm Zarathustra erschöpft sich nicht in diesem In-sich-Gekehrt-Sein, im Selbstgespräch, sondern im Monologisten ist ein Mitteilungsdrang wirksam. Nietzsche will bzw. kann nicht nur bei sich selber sein, sondern er will auch wirken. Die in der monologischen Reflexion aufsteigenden großen Gedanken drängen zur Mitteilung. Nietzsche notiert: „Das Alleinsein mit einem großen Gedanken ist unerträglich. / Plan. Ich suche und rufe Menschen denen ich diesen Gedanken mittheilen darf, die nicht daran zu Grunde gehen.“ (11,338-F, 1884/85) Dieser „große Gedanke“ ist der Wiederkunftsgedanke – den Nietzsche als überfallartiges Erleuchtungserlebnis gedeutet hat. Nietzsche berichtet, er habe den Wiederkunftsgedanken im August 1881 „am See von Silvaplana“ „bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block“ erlebt: „Da kam mir dieser Gedanke.“ (6,335-EH, Also sprach Zarathustra 1 = 14,495) Er hat dann im „Entwurf“ Die Wiederkunft des Gleichen (August 1881 in Sils-Maria) die Idee nieder-
106 geschrieben (s. 9,494-F). Die „plötzliche“ „Niederkunft“ des Gedankens sei aber erst im Februar 1883 erfolgt (6,335-EH) (also bei der Niederschrift des Zarathustra). Es ist offensichtlich Nietzsches Anliegen, die Sponaneität des Gedankens, das Erleuchtungserlebnis, im Hinblick auf den Zarathustra herauszustellen. Nun ist der Wiederkunftsgedanke im Prinzip kein originärer Gedanke Nietzsches. Er hat vielmehr seine historischen Vorläufer.22 Aber Nietzsche beharrt auf der Einzigartigkeit seines Erlebnisses, im Hinblick auf den psychologischen Effekt der Daseinsbewältigung durch die autogene Bejahung der Wiederkunft nicht zu Unrecht. Er geht aber noch einen Schritt weiter. Er deutet „Übermensch“ und „Wiederkunft“ als von ihm geschaffene Gedanken: Da ging ich in die Einsamkeit und schuf den Übermenschen. Und als ich ihn geschaffen, ordnete ich ihm den großen Schleier des Werdens und ließ den Mittag um ihn leuchten. / Unsterblich ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunft zeugte. Um dieses Augenblicks willen ertrage ich die Wiederkunft. (10,210-F, 1882/83)
Damit erreicht die kreative Subjektivität ihren absoluten Höhepunkt. Zarathustra ist „Einer, der die Wahtheit erst schafft, ein weltregierender Geist, ein Schicksal“ (6,343-EH, Also sprach Zarathustra 6). Nietzsche anerkennt nur von ihm selbst, dem Schaffenden, hervorgebrachte Ideen, ungeachtet der Frage, ob es sich um verifizierbare Phänomene oder ingeniöse Kopfgeburten handelt – aber da sind die Grenzen fließend, und die Realitätsentscheidung ist höchst schwierig, da der Realitätsbegriff perspektivistisch angesetzt ist und eine ‚objektive‘, allgemeinverbindliche ‚Wirklichkeit‘ sich aufgelöst hat. Bei Nietzsche erzeugen seine Ideen und Entwürfe ein elementares Sich-Äußern-Wollen im Hinblick auf potentielle Rezipienten. Der einsame Zarathustra wird von einem existentiellen Mitteilungsbedürfnis erfaßt. In hymnischem Pathos spricht er die Sonne an: Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! […] Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. (4,11-Za, Vorrede 1)
107 Aus einer Überenergie des Schöpferischen schlägt der Monolog um in die Verkündigung. Eine der Titelkonzeptionen Nietzsches lautet: „An die höheren Menschen. Herolds-Rufe eines Einsiedlers“ (11,220-F, 1884; s. auch 11,338). Um der in der Einsamkeit gemachten Seinserfahrung willen hat Nietzsche den Antrieb, zum Verkünder zu werden. Ein Fragment von 1884 lautet: Wenn ich mich jetzt nach einer langen freiwilligen Vereinsamung wieder den Menschen zuwende, und wenn ich rufe: wo seid ihr meine Freunde? So geschieht dies um großer Dinge willen. (11, 195-F)
Die „großen Dinge“ – das sind die Ideen des Schaffens, des Übermenschen und der Wiederkunft. Um dieser Ideen willen muß sich Nietzsche an die Menschen wenden. Und in diesem Fragment wird er konkreter als im Zarathustra: „ich will einen neuen Stand schaffen: einen Ordensbund höherer Menschen“ (ebd.).23 Die „höheren Menschen“ sind die Wegbereiter des „Übermenschen“. Zarathustra verkündet: „Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst der Berg der MenschenZukunft. Gott starb: nun wollen wir, – dass der Übermensch lebe.“ (4,357-Za, Vom höheren Menschen 2) Der „höhere Mensch“ ist noch nicht der „Übermensch“, sondern er ist der „Schaffende“, der den „Übermenschen“ gebären soll: „Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne Kind schwanger.“ (ebd., S. 362, Nr. 11) Der „höhere Mensch“ – mit dieser elitären, ‚aristokratischen‘ Bezeichnung meint Nietzsche die über sich hinaus strebenden kreativen Existenzen. Nietzsches Hinwendung zum Großen, Erhabenen findet ihren Niederschlag nicht zuletzt im Kult des großen Mannes. Hier zeigen sich Affinitäten zu Carlyles „Heroes“ und Emersons „Representative Men“.23a Vor allem aber hat Burckhardts Idee der „historischen Größe“ Nietzsche beeinflußt. Nach Burckhardt konzentriert sich die „Weltbewegung“ in „einzelnen Individuen“, in den „großen Männern“.23b Für Nietzsche sind die welthistorischen Individuen der positive Ausdruck des potenzierten Willens zur Macht. Für Burckhardt hingegen ist die Macht prinzipiell böse. „Und nun zeigt es sich – man denke dabei an
108 Louis XIV., an Napoleon und die revolutionären Volksregierungen –, daß die Macht an sich böse ist“23c. Sie ist Ausdruck einer zum Unglück der Menschen führenden „Gier“ der Machthaber gleich welcher Couleur.23d Es sind zwei Hauptantriebe, die den Schreibprozeß bei Nietzsche auslösen: zum einen der Schaffensdrang, die überschüssige Energie, zum anderen das Entwerfen-Wollen einer neuen Welt, eines neuen Menschen. Dabei bilden der ästhetische Aspekt, das Schaffen, und der philosophische Aspekt, die Ideen, eine unlösliche Einheit. Von Bedeutung ist die Unterscheidung von „dionysischer Kunst“ und „romantischer Kunst“, einer Kunst aus der „Überfülle des Lebens“ und einer Kunst aus der „Verarmung des Lebens“ (6,425-NW, Wir Antipoden = 3,620-FW, Nr. 370). „Die romantische Kunst ist nur ein Nothbehelf für eine manquirte ‚Realität‘ …“ (13,494-F). Die „dionysische Kunst“ hingegen ist eine „Apotheosenkunst“, eine nicht aus dem „Hunger“, sondern aus dem „Ueberfluss“ erwachsende Kunst (3,620 ff.-FW, Nr. 370), „Glorien-schein und Dithyrambus“ (12,119-F). Der wahrhaft schöpferische Künstler ist „Apotheosen-Künstler“, und als Prototypen werden Homer, Raffael, Rubens angeführt (12,119-F). Die „Apotheosenkunst“ kann sich in verschiedenen Formen äußern, „dithyrambisch vielleicht mit Rubens, seligspöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend“ (3,622-FW). Nietzsche verquickt den dionysisch-elementaren Impetus mehr und mehr mit dem spielerisch-artistischen Aspekt. Die „Fröhliche Wissenschaft“ sei Ausdruck von „Uebermuth, Unruhe, Widerspruch“, vom „Frohlocken der wiederkehrenden Kraft“, von „viel Unvernünftigem und Närrischem […] von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren“ (3,345 f.-FW, Vorrede 1). Der tragische Ernst wird aufgelockert in einem freien, spöttischen Spiel. „Denn mein Glück – es liebt das Necken!“ (3,355-FW, „Scherz, List und Rache“, Meine Rosen) Die freie Heiterkeit wird zum Stilprinzip. So sind für Nietzsche die Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887) eine moderne
109 Form der „provençalischen“ „ ‚gaya scienza‘ “ der Troubadoure, „jener Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist“ (6,333 f.-EH, Die fröhliche Wissenschaft). Es zeigt sich ein spezifischer Unterschied zwischen dem schwergewichtigen Zarathustra und den ‚leichten‘, heiteren Liedern. Nietzsche schreibt denn auch: „Man wird es nicht für möglich halten, daß es vom gleichen Verfasser wie Z<arathustra ist – noch weniger, daß hinter beiden Werken die gleichen Hintergedanken – – –“ (B 7,167 – März 1886, Entwurf an Unbekannt). Nietzsche bemerkt, daß mit den Gedichten des Prinzen Vogelfrei die „fröhliche Wissenschaft“ „zuletzt in lauter Lieder und Liederlichkeit ausläuft“ (B 8,15 – 26.1.1887, an die Schwester; vgl. B 8,23). Unbeschadet der Stildivergenzen signalisiert Nietzsche allerdings mit dem Hinweis auf die „gleichen Hintergedanken“, daß inhaltlich ein gemeinsamer Nenner vorliegt: die revolutionären Ideen. In diesem Sinne kann er denn auch Morgenröthe und Fröhliche Wissenschaft als „Commentar“ zum Zarathustra bezeichnen (B 6,496 – 7.4.1884, an Franz Overbeck). Es zeigt sich bei Nietzsche eine wachsende Tendenz zum Schein, zum apollinischen Schein. So bewundert er an den Griechen die Fähigkeit, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! […] Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler? (6,439-NW, Epilog 2 = 3,352-FW)
Die Schaffung einer ästhetischen Überwelt über der Realwelt ist schon ein Motiv der Tragödienschrift. Dort ist der „olympische Zauberberg“ die „glänzende Traumgeburt“ über den „Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“; die „Kunst“ als „verklärender Spiegel“ ist die „zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins“ (1,35 f.-GT 3). Die Kunst als die zum Leben verführende Macht, die im Dasein den Schein der Vollendung aufblitzen läßt, ist ein Grundmotiv Nietzsches, ein Motiv, das bei ihm mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Das in den Schein sich transzendierende Leben24 wirft die Frage
110 nach dem Spiel der Formen auf. Die ‚Anbetung‘ der „Formen“, „Töne“ und „Worte“, d.h. der bildenden, musikalischen und poetischen Künste, wirkt wie eine Vorwegnahme des modernen Form-Absolutismus, der Verselbständigung der Darstellungsmittel. Dennoch ist Nietzsches „Olymp des Scheins“ kein in sich ruhender mundus aestheticus, sondern die Kunst ist eine Funktion des Lebens. Nietzsche notiert: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. (13,521-F, 1888)
Bezeichnenderweise hebt Nietzsche die funktionale Bedeutung der Kunst für das Leben hervor, und zwar in antithetischer Abgrenzung gegen den Nihilismus. Die Kunst ist die „einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens“ (ebd.). Nach dem Verlust aller bisherigen metaphysischen Inhalte plädiert Nietzsche für eine Metaphysik der Kunst, eine „Artisten-Metaphysik“ (1,17 u. 1,21-GT [VS, 1886], Nr. 5 u. 7). Bereits in der Tragödienschrift ist Nietzsche „überzeugt“ „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens“ (1,24-GT, Vorwort an Richard Wagner). Später spricht Nietzsche von der „metaphysischen Thätigkeit des Menschen“ (10,238-F, 1883; 1,17-GT [VS]), damit das kreative Subjekt stärker akzentuierend. Nur durch kreative Akte ist Daseinslegitimation möglich. Schon in der Tragödienschrift verleiht Nietzsche der Überzeugung Ausdruck, daß „nur als aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt ist“, wobei diese Wendung hier noch auf den „wahren Schöpfer“, d.h. den dionysischen Weltenschöpfer, bezogen ist und die menschlichen Künstler nur dessen „künstlerische Projectionen“ sind (1,47-GT 5; vgl. 1,152-GT). Später ist die Formel unmittelbar auf den Menschen bezogen (s. 1,17-GT [VS 5]; 12,116-F, 1885/86). Ästhetische Rechtfertigung des Daseins bedeutet soviel wie schöpferische Rechtfertigung des Daseins. Dies erfolgt in potenzierter Form durch das kreative Subjekt, dessen höchste Ausprägung der Künstler ist.
111 Dabei ist allerdings die Dichterexistenz eine problematische Spezies. Sie ist verstrickt in die paradoxe Dialektik von Wahrheit und Lüge. Nietzsche, der Kritiker der poetischen Lüge, sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß auch Zarathustra, der Schaffende par excellence, als Dichter auf die Lüge angewiesen ist. „Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zuviel lügen? – Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.“ (4,163-Za, Von den Dichtern) Die Kritik Zarathustras ist aber weniger Selbstkritik als Generalkritik am Dichtertum schlechthin, am gängigen „Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss“, den von den Dichtern produzierten „bunten Bälgen“ der „Götter und Übermenschen“ (ebd., S. 164).25 Auch Zarathustra ist, nolens volens, auf die Dichtersprache angewiesen, wissend um den prinzipiellen Schein-Charakter der Sprache, aber durch rhetorische Suggestion verleiht er der Sprache kreative Impulse: Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen EwigGeschiedenem? […] Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt unsre Liebe auf bunten Regenbögen. (4,272-Za, Der Genesende 2)
Es ist bei Nietzsches Sprachauffassung zu unterscheiden zwischen allgemeiner Zeichensprache und schöpferischer Ausdruckssprache. Schon der frühe Nietzsche hat, entgegen der opinio communis, in der Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) die Metapher nicht in toto negiert, sondern unterschieden zwischen „usuellen Metaphern“, die Ausdruck der Diskrepanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem, verbum und res, sind, und „anschaulichen Metaphern“, die aus Mythos und Kunst erwachsen, die nicht „Begriff“, sondern „Bild“ sind (1,881-WL 1). Insofern kann die Metapher auch kreative Metapher sein. Dennoch kann Nietzsche sich dem grundsätzlichen Schein-Charakter der Metapher nicht entziehen. Im Dionysos-Dithrambus Nur Narr! Nur Dichter! ist das Ich der unlöslichen Spannung von Wahrheit und Lüge ausgesetzt: dass ich verbannt sei von aller Wahrheit!
112 Nur Narr! Nur Dichter! … (6,380-DD = 4,374-Za, Das Lied der Schwermuth 3)
Ungeachtet dieses Dilemmas ist die Schaffenskraft Nietzsches ungebrochen, ja existentielle Schwierigkeiten stacheln seine Schaffensenergie geradezu an. Dabei gewinnt das Experiment besondere Bedeutung. Es gehört zu seiner Existenz und seinen Daseinsentwürfen. Er begreift (und praktiziert) seine Existenz als Experimentalexistenz. Dies bedeutet: Das Leben ist nicht etwas Vorgegebenes, das es nach etablierten Regeln und Gewohnheiten auszufüllen gilt, indem man lebt, wie man lebt, sondern es ist eine Aufgabe, eine Forderung. Der Mensch ist aufgerufen, sein wahres Selbst zu verwirklichen, neue Daseinsentwürfe zu realisieren. Dies kann nicht in abstrakter Meditation, sondern nur in existentiellem Vollzug geschehen. Der Mensch soll seine höchsten Möglichkeiten erproben. Nietzsche notiert: „Dein Leben ein Versuch und Denkmal deines Versuchs.“ (10,183-F, 1882/83) „Ein Experiment jedes wirkliche Leben!“ (10,518-F, 1883) Das Experiment wird zum Selbstexperiment. Der Mensch ist „der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte“ (5,367-GM, Asketische Ideale 13). Die Existenz als gelebtes Experiment – das ist Nietzsches Form der vita activa. Er verweist auf die „Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe“ (13,492-F, 1888). Dies läuft auf die Aufhebung der Trennwand zwischen Philosophie und Leben hinaus. An die Stelle der abstrakten Philosophie tritt das konkrete Philosophieren, der existentielle Vollzug. Das Selbstexperiment ist Ausdruck von Freiheit: „Aus seinem Leben selbst ein Experiment machen – das erst ist Freiheit des Geistes, das wurde mir später zur Philosophie …“ (13,618-F, 1888)26 Eine Voraussetzung der unbedingten Freiheit ist die Liebe zur Gefahr. Die Gefahr reißt das Leben aus den Bahnen des Gewöhnlichen und provoziert das Gefühl einer extremen Lebenssteigerung. Daher sucht Nietzsche die Gefahr: „wo Gefahr ist, / da bin ich dabei, / da wachse ich aus der Erde“ (13,569-F, 1888). Die Experimentalexistenz ist eine Risiko-Existenz. Aber Nietzsche bejaht, ja will dies. Angesta-
113 chelt von der Lust an der Gefahr, erhebt Nietzsche das Experimentieren mit der Grenzsituation zum Postulat: […] das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! (3,526-FW, Nr. 283)
Nietzsche verkündet das große Ja zum Dasein. Zarathustra, der „Fürsprecher des Lebens“ (4,175-Za, Der Wahrsager), ist „ein Segnender und ein Ja-sager“ (4,208-Za, Vor Sonnen-Aufgang). Die Bejahung ist eine totale Bejahung, ein Ja zum Dasein in allen seinen Erscheinungsformen.27 Dies faßt Nietzsche in die Formel amor fati: „Das Nothwendige nicht bloss ertragen, […] sondern es lieben … (6,297-EH, Warum ich so klug bin 10). Der amor fati, die Aufnahme des Schicksals in den Willen, erreicht seinen Gipfelpunkt in der Wiederkunftsidee. Der „EwigeWiederkunfts-Gedanke“ ist die „höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ (6,335-EH, Also sprach Zarathustra 1). Im Ja-Sagen zum Dasein in allen seinen Erscheinungsformen, potenziert im Ja zur Wiederkunft aller Dinge, ist die höchste Form der Selbstbestimmung des kreativen Subjekts erreicht.28 Nietzsche begründet dies aus seiner Person: „Amor fati: das ist meine innerste Natur.“ (6,436-NW, Epilog 1 = 6,363-EH) Was sich rein psychologisch wie ein autogener Kraftakt, eine dekretierte Selbsterlösung ausnimmt, wird von Nietzsche philosophisch als dionysischer Lebensimpetus gedeutet. Die „Experimental-Philosophie“ kulminiert in einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten. Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati … (13,492-F, 1888)
Ein spezielles Problem ergibt sich nun allerdings aus dem Telos des Schaffens, dem „Übermenschen“. Es stellt sich die Frage, wie die zyklische „Wiederkunft“ mit dem futurischen „Übermenschen“ vereinbar ist. Wie läßt sich der „Übermensch“ in die „Wiederkunft“ einbinden, wenn Zarathustra erklärt: „Niemals
114 noch gab es einen Übermenschen.“ (4,119-Za, Von den Priestern)?29 Die Zukunftsutopie des „Übermenschen“ entzieht sich offenbar der Vergangenheitsobsession der „Wiederkunft“.30 Schwierig ist zudem die Relation amor fati – „Übermensch“. Da der „Übermensch“ der große Gegenentwurf zu allem Bestehenden, zum real existierenden Menschen, ist, wird die von Nietzsche dekretierte Daseinsbejahung „ohne Abzug“ zweifelhaft. Zu stark ist der Antagonismus zwischen dem „Übermenschen“ und dem „letzten Menschen“, dem „verächtlichsten Menschen“ (4,19-Za, Vorrede 5)31, als daß von einer Bejahung des Seienden im Ganzen die Rede sein kann. Hier zeigen sich dem ersten Anschein Aporien. Aber man muß davon ausgehen, daß der amor fati das tua res agitur betrifft, das heißt, daß die absolute Bejahung auf die das kreative Subjekt treffenden Schicksalsschläge zu beziehen ist. Zudem ist im Blickfeld zu halten, daß Nietzsches Denkmotive keinem Systemzwang unterliegen. Es kommt nicht auf ein logisch stimmiges Funktionsverhältnis der Einzelmotive an. Entscheidend ist vielmehr der jeweilige Problemkontext, in dem ein Zentralmotiv eingesetzt wird. Geht es um das ‚heroische‘ Trotzdem gegenüber allen Schicksalsschlägen, ist der amor-fati-Gedanke von besonderer Relevanz. Steht hingegen das höchste Telos des Schaffens an, wird die „Übermensch“-Idee aktiviert. Die Frage ist: Wie vermittelt man zwei unterschiedliche Ideen? Ein Systemzwang ist hier fehl am Platz.32 Die beiden Schlüsselmotive lassen sich nicht in ein kohärentes System zwingen. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner der Motive: die Selbstbehauptung und Selbststeigerung des kreativen Subjekts. Mit dem „Übermenschen“ setzt sich das kreative Subjekt das höchste Ziel. Er ist die Kulmination des Über-sich-hinaus-Schaffens. In der pathetischen Verkündigung des „Übermenschen“ wird der Monologist Nietzsche zum Orator. Zarathustra verkündet den „Übermenschen“ mit appellierender, fordernder Gebärde:
115 Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? / Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus […] Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. (4,14-Za, Vorrede 3)
Zarathustras triadisches Schema (Affe–Mensch–Übermensch) ist der Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Es ist speziell die Deszendenztheorie, die Abstammungslehre mit ihren biogenetischen Gesetzen, die in Zarathustras Entwicklungskonstrukt ihren Niederschlag findet. Aber das betrifft nur den zeittypischen Topos der Abstammung des Menschen vom Affen.33 Der Schritt vom Menschen zum „Übermenschen“ hingegen läßt die Evolutionstheorie hinter sich. Im Zarathustra ist der „Übermensch“ nicht eine biologische Züchtung, sondern ein spirituelle Konstruktion.34 Der „Übermensch“ ist nicht ein Produkt des bloßen Bios, sondern der Schaffende soll den „Übermenschen“ hervorbringen, in geistigen Akten, ja die Inspiration, das überfallartige Erleuchtungserlebnis, ist das entscheidende Agens.35 Zarathustra betont ausdrücklich das Exorbitanzerlebnis: „Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch.“ (4,18-Za, Vorrede 4; vgl. 4,23-Za)36 Der projektierte Umschlag vom „Menschen“ zum „Übermenschen“ ist nicht einfach nur ein Schritt, ein ‚Schritt‘ in der Evolution, sondern ein Sprung, eine Art von Spontanmutation durch Erleuchtungserlebnisse des Schaffenden. Zumindest im Zarathustra ist die Spontaneität, die Forderung nach dem spontanen Schaffensakt, das zentrale Anliegen. Nicht ohne Grund preist Nietzsche in Ecce homo, im Zarathustra-Abschnitt, die „Inspiration“ als den elementaren, spontanen Antrieb des Schaffenden, als überfallartige, übermächtige „Offenbarung“. „Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit …“ (6,339 f.-EH, Also sprach Zarathustra 3) Es ist bezeichnend für Nietzsches Vorstellung von „Inspiration“, daß
116 sich die ekstatische Eingebung mit dem Gefühl von „Macht“, dem kreativen Willen, verquickt.37 Diese Problematik ist verknüpft mit dem „Übermensch“Gedanken. Dabei stehen die Gott-ist-tot-Philosophie und die „Übermensch“-Idee in einem dialektischen Verhältnis. Zarathustras Wort, „dass Gott todt ist!“ (4,14-Za, Vorrede 2), ist nicht nur Ausdruck des Nihilismus, des Verlustes aller bisherigen metaphysischen Inhalte, sondern öffnet zugleich durch die komplementäre Idee des „Übermenschen“ einen Erwartungshorizont, einen Raum neuer Selbstentfaltung des Menschen.38 Der Tod Gottes bedeutet Freiheit des Menschen. Nietzsche deklariert die Omnipotenz des kreativen Subjekts. Im Grunde anerkennt er nur das vom Schaffenden Geschaffene. Zarathustra erklärt: Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber lehrte ich euch sagen: Übermensch. / Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass euer Muthmaassen nicht weiter reiche, als euer schaffender Wille. / Könntet ihr einen Gott schaffen? – So schweigt mir doch von allen Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. (4,109-Za, Auf den glückseligen Inseln)
Nietzsche verabsolutiert das Schaffensprinzip. Fast ist der Schaffensimpetus noch wichtiger als das Schaffensprodukt, denn auch der „Übermensch“ wäre, in Konsequenz der Nietzscheschen Schaffenstheorie, ein Über-sich-hinaus-Schaffender. Nietzsche hat dieses Problem nicht eigens reflektiert, aber der „Übermensch“ kann nicht als statische, sondern nur als dynamische Größe gedacht werden. Die Schwierigkeiten mit dem „Übermenschen“ sind nicht zuletzt darin begründet, daß Nietzsche ihn nie inhaltlich definiert hat. Möglicherweise war er für ihn (unbewußt) eine regulative Idee, die die Mobilität des Schaffens permanent anstachelt.39 Das punctum saliens dieser Problematik ist die im Schaffen sich manifestierende unbedingte Freiheit des Menschen, der Aufbruch in neue, offene, unbekannte Horizonte. In der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsche diesem Aufbruchenthusiasmus mit bewegten Worten Ausdruck verliehen: In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen
117 Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, […] das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offenes Meer“. (3,574-FW, Nr. 343)
Anmerkungen 1 Vgl. Aristoteles, Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, übersetzt u. hrsg. v. Franz F. Schwarz, Stuttgart 2000 (1970), S. 164-206 (VII. Buch). 2 J.G. Fichte, Wissenschaftslehre 1804. Wahrheits- und Vernunftlehre. I.-XV. Vortrag, Einleitung u. Kommentar v. Wolfgang Janke, Frankfurt a.M. 1966, S. 84. 3 Johann Gottfried Herder, Terpsichore II, S. 171, in: Herder, Terpsichore. Theil I-III. 1795/96, Berlin 1881 (= SW, Bd. 27 [Suphan]). 4 Herder deutet freilich den „lyrischen Dichter“ als Organ höherer Mächte. In der „lyrischen Poesie“ „spricht nicht die Person des Dichters, sondern ein Gottbegeisterter, ein Priester der Muse, also aus ihm die Muse, der Gott selbst“ (Terpsichore II, S. 173). 5 Nietzsche begreift dies allerdings nicht im Sinne einer modernen Psychoanalyse, sondern steht damit in der Tradition der romantischen Naturphilosophie. So deutet Schelling die „wahre Poesie“ als ästhetische Bewältigung der „dionysischen“ Eruption durch die „apollinische Begeisterung“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung. Bd. I u. II, Darmstadt 1966 [1858], II, S. 25). Zur romantischen Antizipation des Dionysischen vgl. auch Ernst Behler, Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 12, 1983, S. 335354. 6 Ohne den apollinischen Schein (Wort und Bild) würde im Tristan das Individuum sich in der dionysischen Musik auflösen (vgl. 1,135-GT 21). 7 Diese gattungspoetologische Klassifikation hat sich im Prinzip bis in die Gegenwart behauptet, exemplarisch in Emil Staigers Grundbegriffen der Poetik (zuerst 1946), wo die dichterischen Formen allerdings anthropologisch begründet werden, im „Lyrischen“, „Epischen“ und „Dramatischen“. 8 Nietzsches Prometheus ist ein entfesselter Prometheus. Die von dem jungen Bildhauer Leopold Rau entworfene Titelvignette zur Tragödienschrift findet Nietzsches Zustimmung, da sie den „von seinen Fesseln befreiten Prometheus“ zeigt (B 3,24– 27.11.1871, an den Verleger E.W. Fritzsch). 9 Im Prinzip ist dies in Hebbels Begriff des Tragischen, der Spannung von Weltwille und Individualwille, vorweggenommen, aber durch den Dionysos triumphans läßt Nietzsche den tragischen Untergang des Individuums hinter sich. 10 Zu diesem Problemfeld vgl. generell Edith Düsing, Wie das ‚Ich‘ zur Fabel ward – Nietzsches Destruktion des idealistischen Subjektbegriffs, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 27, 2001, S. 155-196.
118 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 51906, S. 20. 12 Nach Jung bedeutet Nietzsches „dionysisches Erlebnis“ den „Abgrund der leidenschaftlichen Auflösung aller menschlichen Besonderung in die tierhafte Göttlichkeit der uranfänglichen Seele“ (C.G. Jung, Traumsymbole des Individuationsprozesses [1944], S. 199, in: Jung, Traum und Traumdeutung, München 1960, S. 171-360). Zugleich aber sei Nietzsche bestrebt, die andrängende Macht des Archetypisch-Unbewußten durch Denkprozesse, „einen heroischen Bewußtseinskampf“, in den Griff zu bekommen (ebd., S. 235). Nietzsche erscheint als Entdecker und Verdränger des Unbewußten. 13 ‚Genie‘ und ‚Genius‘ werden weitgehend synonym benutzt. ‚Genie‘ bezeichnet die überragende schöpferische Existenz, ‚Genius‘ verweist auf das im Schaffenden wirksame übermächtige Wesen. 14 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1980 (1859), S. 28. 14a F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Mit einer Einleitung von Walter Schulz, hrsg. v. Ruth-Eva Schulz, Hamburg 1957 (1962), S. 287. 15 In diesem Kapitel scheint der Gottesbegriff ein mixtum compositum aus dionysischer und christlicher Gottesvorstellung, dem Dionysos der Tragödienschrift und der christlichen Überwelt, zu sein. 16 Stefan Georges Mahnung in seinem hymnischen Gedicht Nietzsche (1900), Nietzsche hätte sich aus den Eiszonen „in den kreis den liebe schliesst“ zurückkehren sollen (Werk I, 232), begegnet Gottfried Benn mit dem kritischen Hinweis auf „das unendliche Weitermüssen aus des Lebens Mittag in des Lebens Nacht“ (SW IV, 107 – Rede auf Stefan George, 1934). 17 Mit dem Mythos vom Tausendjährigen Reich rückt Nietzsche in hypertrophem Pathos Zarathustras Erneuerungsutopie in welthistorische Dimensionen, wobei er die Kreislauftheorie, den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen, durch die Telos-Idee, das zu gründende neue Reich, durchbricht. 18 In der Rosen-Rede läßt Nietzsche Zarathustra proklamieren: „Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setze mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu.“ (11,393-F, 1884/85; vgl. auch 10,632-F sowie den Hinweis 14,341 f.) 19 Schon in Menschliches, Allzumenschliches spricht Nietzsche „in Hinsicht auf die Zukunft“ von einem „ungeheuren Weitblick“, von erdumspannenden „Zielen“ als einer „neuen Aufgabe“, die „wir […] ohne Anmaassung selber in die Hand nehmen“ (2,457-MA II, Nr. 179). Im Zeichen eines antidemokratisch-elitären Individualismus wird für Nietzsche die „Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere“ zur Herausforderung einer alles umwälzenden „neuen Aufgabe“ (5,127 f. – JGB, Nr. 203). 20 Das Paradebeispiel der Mischung aus Personal- und Sachsatire ist 11
119 Nietzsches Wagner-Kritik. Er verurteilt Wagners christliche Wende, aber er will sich auch rächen für die „tödtliche Beleidigung“ (B 6,337 – 22.2.1883, an Franz Overbeck), d.h. für den von Wagner intern gegen ihn erhobenen Vorwurf „unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie“ (B 6,365 – 21.4.1883, an Heinrich Köselitz). 21 Zur Siebenzahl ist anzumerken, daß sie in der griechischen Antike zu den „heiligen, typischen und bedeutungsvollen Zahlen“ gehört (W.H. Roscher, Die Sieben- und Neunzahl im Kultus und Mythus der Griechen, Leipzig 1914, S. 3). So findet sich die Sieben im Kultus sowohl des Apollon (s. ebd., S. 4-19) als auch des Dionysos (s. ebd., S. 22-24). 22 Dazu Mihailo Djuriç, Die antiken Quellen der Wiederkunftslehre, in: Nietzsche-Studien 8, 1979, S. 1-16. Djuriç verweist auf Heraklit, die Pythagoreer und die Stoa als Vorläufer des Wiederkunftsgedankens, Nietzsche nicht unbekannt. Aber erst Nietzsche habe dem Gedanken die entscheidende Ausprägung gegeben. In der Tat ist der Wiederkunftsgedanke für Nietzsche primär nicht ein kosmologisches, sondern ein anthropologisches, existentielles Problem (die Bejahung der Wiederkunft als lebenserhaltende Idee). 23 Nietzsche hat eine Vorliebe für geschlossene Formationen – die ihm als Ausdruck einer überindividuellen Schöpfungskraft erscheinen, einer das Subjekt überspielenden Energie. „Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint z.B. als Leib, als Organisation (preußisches Offiziercorps, Jesuitenorden). In wiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Was bedeutet das ‚Subjekt‘ –? / Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk – –“ (12,118 f.F, 1885/86). 23a Einzelhinweise bei Theo Meyer, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, S. 278. 23b Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium, Darmstadt 1962, S. 151. 23c Ebd., S. 25. 23d Ebd., S. 70. 24 Schiller betont die Trennung von empirischer Realität und ästhetischem Schein. Frei ist der Mensch „nur in der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reich der Einbildungskraft“ (Nationalausgabe XX,401 – Ästhetische Erziehung 26). Nietzsche und Schiller huldigen gleichermaßen dem ästhetischen Schein. Aber für Schiller ist der Schein Ausdruck der Wahrheit. Der „Dichterschwung“, „in der Wahrheit Arme wird er gleiten“. „Von ihrer Zeit verstoßen, flüchte / die ernste Wahrheit zum Gedichte“ (Nationalausgabe I,213 – Die Künstler). Bei Nietzsche hingegen ist der Schein zwar leuchtender, aber trügerischer, lügnerischer Schein. Der „Künstler“ ist „von Natur Lügner“, geprägt vom „Willen zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der ‚Wahrheit‘, zur Verneinung der ‚Wahrheit‘ “ (13,520-F, 1888). 25 „Übermensch“ ist hier, ausnahmsweise, ein pejorativer Begriff, ein satirischer Seitenhieb gegen die schillernden Idole, die von den Kulturträgern gepriesenen Pseudo-Übermenschen. 26 Nietzsche hat die zunehmende Neigung, über das Selbstexperiment
120 hinaus das Menschheitsexperiment zu fordern und die Menschheit als Experimentalstoff aufzufassen, zum Zwecke der Hervorbringung großer Einzelner. Dabei verstrickt er sich in fatale Züchtungsideen. Um des Übermenschen willen postuliert er die Aufopferung der Menschheitsentwicklung, das klassische Prinzip der humanitären Menschheitserziehung negierend: „In gröberer Form gedacht: wie könnte man die Entwicklung der Menschheit opfern, um einer höheren Art, als der Mensch ist, zum Dasein zu helfen?“ (III, 908-NA) Er denkt „an die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste“ (5,195JGB, Nr. 251). Nietzsches Züchtungsidee, eine fatale Mischung aus kulturellen und biologistischen Elementen, läuft Gefahr, durch einen kruden Biologismus, die Degradierung des Menschen zum Material, die Freiheit in Unfreiheit umschlagen zu lassen. Zu den politischen und kulturpolitischen Aspekten vgl. Theo Meyer, Nietzsche und Europa – Kritik und Utopie, in: Nietzsche und die Kultur – ein Beitrag zu Europa?, hrsg. v. Georges Goedert u. Uschi Nussbaumer-Benz, Hildesheim 2002, S. 11-34. 27 Es ist „ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst …“ (6,311EH, Die Geburt der Tragödie 2). 28 Eine erstaunliche Vorwegnahme der Bejahung findet sich bei Seneca: „Was ist groß? Unglück mit heiterem Herzen ertragen zu können; was kommen mag, so hinnehmen, als entspräche es deinem Wunsch (du hättest es ja wollen müssen, hättest du gewußt, daß alles nach dem Willen der Gottheit geschieht; weinen, klagen und seufzen ist soviel wie revoltieren).“ (L. Annaeus Seneca, Naturales quaestiones. Naturwissenschaftliche Untersuchungen. Lateinisch/Deutsch, übersetzt u. hrsg. v. Otto u. Eva Schönberger, Stuttgart 1998, S. 161/163) Schicksalsschläge hinnehmen, als seien sie von einem selbst gewollt, diese Nietzschesche Maxime taucht damit schon bei Seneca auf. Freilich, bei Seneca ist noch der göttliche Logos, die Weltvernunft, das Leitprinzip, wie auch sein Verhalten der stoischen Ethik entspricht, während Nietzsche das menschliche Subjekt in seiner ‚dionysischen‘ Selbstentfaltung verabsolutiert. 29 Allerdings bezeichnet Nietzsche Napoleon als „Synthesis von Unmensch und Übermensch“ (5,288-GM, „Gut und Böse“, Nr. 16). Dies ist Ausdruck eines historischen Personenkults, der den Willen zur Macht zum Maßstab aller Wertungen macht. Während Hegel im Zeichen eines geschichtsphilosophischen Idealismus die „welthistorischen Individuen“, Gestalten wie Alexander, Cäsar und Napoleon, als die „Geschäftsführer des Weltgeistes“ auffaßt (Philosophie der Geschichte, S. 76), sind sie für Nietzsche potenzierte Willensmenschen, Akteure des Willens zur Macht. In diesem Sinne ist Napoleon für Nietzsche ein „Übermensch“, und er ist zugleich „Unmensch“, weil er jenseits von Gut und Böse, jenseits der Moral, agiert. Eine fatale Konsequenz dieses Immoralismus ist die Glorifizierung kruder Machtmenschen wie Cesare Borgia, in dem Nietzsche das „Raubthier“, den „Raubmenschen“ verherrlicht (5,117-JGB, Nr. 197). 30 Nach Heidegger ist der „Übermensch“ der in sein wahres „Wesen“ ge-
121 langende Mensch, der Mensch, der die Kraft hat, ja zu sagen zur „ewigen Wiederkehr“ (Martin Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 106 u. 118, in: M. H., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 101-126). Heideggers Diktum ist nicht unproblematisch, denn es ist die Frage, ob der „Übermensch“ sich in dieser Bestimmung erschöpft oder ob er nicht eine neue anthropologische Realität jenseits des Menschen sein soll. Immerhin gibt es bei Nietzsche Aussagen wie: „Ein höheres Wesen als wir selber sind zu schaffen, ist unser Wesen. Über uns hinaus schaffen! Das ist der Trieb der Zeugung, das ist der Trieb der That und des Werks.“ (10,209-F, 1882/83) 31 Nietzsches ätzende Satire richtet sich nicht nur gegen die öffentlichen Rollen- und Funktionsträger, die „Fliegen des Marktes“ (4,65-ZA), sondern darüber hinaus gegen den dekadenten „heutigen Europäer“ (5,83-JGB, Nr. 62), ja gegen den Menschen schlechthin; „Die Erde, sagte er, hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten. Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: ‚Mensch.‘ “ (4,168-Za, Von grossen Ereignissen) 32 Die Zentralmotive müssen aus dem jeweiligen Problemkontext verstanden werden. Es muß sich nicht unbedingt ein schlüssiger, systematischer Zusammenhang zwischen ihnen ergeben. „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ (6,63-GD, Sprüche und Pfeile 26) 33 Hinsichtlich der Evolution wendet sich Nietzsche gegen die Überschätzung der „ ‚äußeren Umstände‘ “, im Sinne der Darwinschen Anpassungstheorie und verweist stattdessen auf die „formschaffende Gewalt“ (12,304-F, 1886/87). Nicht der „ ‚Kampf um’s Dasein‘ “, sondern der „Wille zur Macht“ herrscht in der Evolution (3,585 f.-FW, Nr. 349). 34 Im Zarathustra dominiert im Hinblick auf den „Übermenschen“ der suggestive Appell an die spirituelle Energie des Schaffenden. In apodiktischen Sentenzen dekretiert Zarathustra den „Übermenschen“ als absolutes Postulat. Dabei kommt der Sprache besondere Bedeutung zu. In rhetorischen Aufschwunggebärden, die sich zu hyperbolischem Verbalismus steigern können, erfolgt gewissermaßen ein Ersprechen-Wollen des „Übermenschen“. 35 Nietzsche begreift die Sprache des Zarathustra als Sprachdiktat durch Inspiration. So schreibt er zum Entstehungsprozeß: „Vollkommener Zustand eines ‚Inspirirten‘, Alles unterwegs, auf starken Märschen concipirt: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz Einem zugerufen wäre. Gleichzeitig mit dem Gefühl größter körperlicher Elastizität und Fülle –“ (B 8,287 – 10.4.1888, an Georg Brandes). Die als-ob-Figur mit dem hypothetischen Konjunktiv signalisiert allerdings, daß Nietzsche nicht an die Realwirkung höherer Mächte glaubt, sondern daß die Sprache selbst als Ausdruck des schöpferischen Lebens ihm den Zarathustra diktiert. 36 Mit der „Blitz“-Metapher artikuliert Nietzsche den Überraschungseffekt, die grelle Erhellung und das Überwältigende des Vorgangs. Aber der Blitz trifft Zarathustra nicht einfach von außen, völlig unvorbereitet, wie etwas Fremdes, sondern er ist in ihm selbst angelegt. Zarathustra: „Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und dunkler. So thut jede Weisheit, welche einst Blitze gebären soll.“ (4,360-Za,
122 Vom höheren Menschen 7) Dies bedeutet, daß der „Blitz“ letztlich doch vom kreativen Subjekt, vom denkenden, wissenden Subjekt, ausgeht. Zarathustra verkündet dies mit diktatorischer, martialischer Attitüde: „Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht heissen. Die – will ich blenden: Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen die Augen aus!“ (ebd.) Es ist der Schaffende, der den „schöpferischen Blitz“ erzeugt (4,288-Za, Die sieben Siegel 3). 37 Im Unterschied zum Rilke der Duineser Elegien, der vom Glauben an echte Inspiration getragen ist und sich als Organ überindividueller Mächte versteht und über die Elegien und die Sonette an Orpheus schreibt: „Beide Arbeiten sind mir so, als ob es nicht meine wären […] nun eigentlich geschenkt worden“ (Materialien zu Rainer Maria Rilkes >Duineser Elegien<, hrsg. v. Ulrich Fülleborn u. Manfred Engel, Bd. I, Frankfurt a.M. 1980, S. 271 - 23.6.1922), im Unterschied zu diesem Inspirationserlebnis geht Nietzsche entschieden vom schöpferischen Willen des Subjekts aus. Im Brief an André Gide vom 15.5.1922 bezieht Rilke allerdings den Willen in die Inspiration ein und nennt die Elegien ein „Werk des Willens und der Gnade“ (ebd., S. 266). 38 Der Tod Gottes ist nicht nur ein Verhängnis, sondern auch eine Hoffnung. Der Tod Gottes ist eine Tötung Gottes durch den Menschen, wie Nietzsche dies emphatisch im Textstück Der tolle Mensch ausführt: „Es gab nie eine grössere That […] Diess ungeheure Ereigniss […] eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“ (3,481-FW, Nr. 125) Die Destruktion Gottes zielt auf den „christlichen Gott“ (3,573-FW, Nr. 343), die christlich-platonische Überwelt, aber sie stellt darüber hinaus Gott schlechthin, jedes überindividuelle metaphysische Prinzip, in Frage: „Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes …“ (III, 588-NA) „Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt.“ (6,97-GD, Die vier grossen Irrthümer 8) Es geht nicht nur – wie dies die Nietzsche-Forschung generell annimmt – um den Abbau des christlichen Gottes, sondern um die Befreiung vom Gottesprinzip überhaupt. Es war dies für Nietzsche offenbar nicht nur ein historisches, sondern auch ein anthropologisches Problem, nicht nur eine Krise der abendländischen Metaphysik, sondern darüber hinaus eine zeitüberdauernde, zeitlose Grundsatzentscheidung für den freien, schöpferischen Menschen – wie Nietzsche ihn sah. Der entschiedenste Vorläufer Nietzsches auf diesem Problemfeld ist Max Stirner. Schon Stirner verneint „Gott“, die „Menschheit“, die „Humanität“, in einer radikalen Reduktion aller Perspektiven auf das „Ich“: „Mir geht nichts über Mich!“ Schon Stirner erklärt, „daß der Mensch den Gott getötet hat“. „An dem Eingange der neuen Zeit steht der ‚Gottmensch‘.“ (Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort hrsg. v. Ahlrich Meyer, Stuttgart 1972, S. 3, 4, 5, 170) Stirner erreicht allerdings noch nicht das existentielle Niveau der Nietzscheschen Problemstellungen. 39 Das Problem des „Übermenschen“ (Ursprung, Phänomen, Wirkung) wird vom Verfasser in einem gesonderten Aufsatz behandelt.
123 Ausgaben und Siglen Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980 – Zitatangabe: arabische Band- u. Seitenzahl mit Sigle.
Siglen: DD EH F FW GD GM GT JGB M MA NW SE VS WB WL Za
Dionysos-Dithyramben Ecce homo Fragmente Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Zur Genealogie der Moral Die Geburt der Tragödie Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I-II) Nietzsche contra Wagner Schopenhauer als Erzieher Versuch einer Selbstkritik Richard Wagner in Bayreuth Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Also sprach Zarathustra
Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1966 – Zitatangabe: römische Band- u. arabische Seitenzahl, Sigle: NA Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1986 – Zitatangabe: Sigle B mit arabischer Band- u. Seitenzahl. Johann Wolfgang von Goethe, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich Trunz, München 1982 – Zitatangabe: Sigle HA mit arabischer Band- und Seitenzahl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung hrsg. v. Ernst Beutler, München 1976. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Ästhetik. Bd. I u. II, Berlin/Weimar 1965. Nach der 2. Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert v. Friedrich Bassenge – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Mit einer Einführung v. Theodor Litt. Stuttgart 1961. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. I u. II, Darmstadt 1982 u. 1980, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen – Zitatangabe: Sigle WV mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl.
124 Stefan George, Werke. Ausgabe in zwei Bänden. 2. Aufl. Düsseldorf/München 1968 (11958). Gottfried Benn, Rede auf Stefan George, in: Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe) IV 100-112. Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. 3. Theil, Stuttgart 1857.
Kurt Mager SUBJEKT UND GESCHICHTE BEI ARTHUR SCHOPENHAUER UND THEODOR LESSING Arthur Schopenhauer hat Theodor Lessings Denken nachhaltig beeinflußt. Dies gilt auch für das Konzept der Struktur eines Subjekts. Schopenhauer spaltet die Leistungskraft des Subjektes auf in ein empirisch-wollendes und ein „reines Bewußtsein“, Lessing unterscheidet das empirisch-psychologisch wollende Vermögen des Subjektes von dem der intuitiven Vernunft. Dem Subjekt wird bei Schopenhauer und Lessing zugunsten des irrationalen Willens die Autonomie abgesprochen. Das denkende Bewußtsein, ein prinzipienmächtiges freies Subjekt kann hier gegenüber dem Willen keine Priorität mehr beanspruchen. Der Bedeutung und Funktion dieses nur als Faktum begriffenen Subjektes wird in der Geschichtsauffassung von Schopenhauer und Lessing nachgegangen. Dieses Subjekt vermag eine Authentizität und Objektivität von Geschichte und damit auch von sich selbst nicht mehr zu vermitteln.
Die philosophische Diskussion um ein Subjekt hatte sich in den letzten Jahrzehnten von Europa in die angelsächsische Geisteswelt verlagert. Ursprünglich bei Descartes, Kant, Hegel und Fichte als ein zentraler Gesichtspunkt philosophischen Denkens der Neuzeit begriffen, wird dieses Subjekt in der Postmoderne und im Zeitalter des Dekonstruktivismus in Frage gestellt. Das Subjekt wird nun als „Störenfried“1 empfunden. Eine Wiederaufnahme der Diskussion um dieses Subjekt, das näherhin in seiner Bedeutung als Individuum und Person interpretiert wird, ist neuerdings in Deutschland2 zu verzeichnen. Manfred Frank3, wesentlich an dieser Diskussion beteiligt, unterscheidet methodisch erkenntnistheoretische, hermeneutische und semantische Zugänge zu diesem Subjekt. Einen erkenntniskritischen und hermeneutischen Beitrag soll nachfolgender Bericht über Subjekt und Geschichte bei Arthur Schopenhauer und Theodor Lessing
126 leisten. Auf die dabei auftauchende und berechtigte Frage nach der sachlichen Unterscheidung von Subjekt, Individuum und Person konnte an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Subjektivität bei Schopenhauer In dem Kapitel über Geschichte aus dem 3. Buch der Welt als Wille und Vorstellung bestreitet Schopenhauer den wissenschaftlichen Charakter von Geschichte gegenüber einer klassischen Vorstellung von Philosophie: „Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen: Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen; welches einen Widerspruch besagt.“4 Wissenschaften und Philosophie reden von dem, was immer ist; Geschichte von dem „was nur einmal und dann nicht mehr ist“5. Geschichte habe es mit dem Einzelnen und Individuellen zu tun, welches seiner Natur nach „unerschöpflich“ sei. Wenn auch in einem formalen Sinn Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine stattfinde, wie das etwa bei der Unterordnung unter Epochen, Regierungen „und sonstigen Staatsveränderungen“ der Fall sei, so würde dies „auf einer falschen Fassung des Begriffes vom Allgemeinen beruhen“6. Das hier aufgeführte Allgemeine in der Geschichte „ist bloß ein subjektives, d.h. ein solches, dessen Allgemeinheit allein aus der Unzulänglichkeit der individuellen Kenntnis von den Dingen entspringt, nicht aber ein objektives, d.h. ein Begriff, in welchem die Dinge wirklich schon mitgedacht wären. „Selbst das Allgemeinste in der Geschichte ist doch nur ein Einzelnes und Individuelles“. Nach einer invektiven Wendung gegen die „verdummende Hegelsche Afterphilosophie“, die die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen versucht, die die Erscheinung für das Wesen an sich hält, kommt er auf das Individuum zurück, welches nur „unmittelbare Einheit des Bewußtseins hat“7. Nur die Individuen und ihr Lebenslauf seien real, „Völker und
127 ihr Leben“ seien „bloße Abstraktionen“8. Er geißelt die Hegelschen Konstruktionsgeschichten, den platten Fortschrittsoptimismus. „Das Moralische aber ist es, worauf nach dem Zeugnis unseres innersten Bewußtseins alles ankommt: und dieses liegt allein im Individuo als die Richtung seines Willens“9. Nur die „inneren Vorgänge, sofern sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und sind wirkliche Begebenheiten; weil der Wille allein das Ding an sich ist“10. Die hier vorgestellte Denkfigur des Individuums in der Geschichte bedarf der weiteren Erläuterung.11 Schopenhauer versteht sich selbst als Schüler Kants. Das empirische Bewußtsein Kants zeigte sich als ein Vorgestelltsein der ihm erscheinenden Welt. Bei ihm ist diese Welt des Scheines keineswegs als eine Welt der Täuschung und des Betrugs aufzufassen. Nach Schopenhauer erfährt das empirische Bewußtsein eine zweifache Deutung. Einmal ist dieses empirische Bewußtsein die transzendental nachgewiesene Beschränkung unseres Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögens, auf der anderen Seite bedeutet es das Gefesseltsein an ein der Täuschung und dem Trug anheimgegebenes Leben, das ein falsches ist. Die Welt der Erscheinung wird bei Schopenhauer zu einer Welt des Scheins und des Betrugs herabgesetzt. Der Wille und nicht der Geist wird zur zentralen Instanz allen Seins. Dieser Wille ist kein als Objekt vorgestellter Wille. Der Wille ist eine am Leib spürbare Erfahrung. „Wenn ich meinen Leib sehe, seine Aktionen beobachte und erkläre, so ist dieses Wahrgenommene und Erkannte immer noch Vorstellung, aber hier am eigenen Leibe verspüre ich, daß zugleich auch jene Antriebe, jenes Begehren, jenen Schmerz, jene Lust was alles sich auch gleichzeitig in Aktionen des Leibes meinen Vorstellungen und den Vorstellungen der anderen präsentiert.“12 Nur in mir selbst bin ich zugleich, was sich mir in den Vorstellungen zeigt und worüber sich nachdenken läßt. „Die Welt ‚draußen‘ hat für mich ein vorgestelltes ‚Drinnen‘,
128 nur in mir selbst bin ich selbst dieses ‚Drinnen‘.“13 Die damit verbundene Selbsterkenntnis ist keine Selbsterkenntnis im Stile einer Reflexion, die aus dem Subjekt die Wahrheit der objektiven Welt erkennt, Schopenhauer macht vielmehr die Erfahrung des Willens am eigenen Leibe zum Mittel des Verständnisses von Welt. Damit gibt es zwei Bewegungen: die „kontraktive“, die sich ins eigene Erleben versenkt und die „expansive“14, die das Ganze der Welt nach diesem inneren Erleben deutet. Das Subjekt unternimmt es bei Schopenhauer, die Welt als Wille zu verstehen. Verstehen ist von Erklären zu unterscheiden. Das Verstehen ermittelt nicht die Ursache und Wirkung des Willens, der Wille wird von diesem Subjekt nicht als Objekt betrachtet, Verstehen erfaßt vielmehr die Bedeutung und „fragt danach, was der Wille eigentlich sei“15. Dies aber können wir nur in uns selbst erfahren. Verstehen meint nicht Analytik der empirischen Welt, Verstehen entspricht vielmehr einer Hermeneutik des Daseins. Es vollzieht sich hier keine kausale Erklärung von zueinander bestehenden Verbindungen, es wird gefragt, was das Sein ist. Im Gegensatz zur philosophischen Tradition faßt Schopenhauer also diesen Begriff des Willens nicht als Absicht, Ziel oder Zweck, der mit der Bewußtheit eines Wollens identisch wäre. Wille ist eine vitale Strebung und Bewegung, die sich am Ende ihrer selbst bewußt werden kann. Es wird kein absichtsvoller Wille im Sinne einer Bewußtseinsphilosophie in die Natur gesetzt. „Schopenhauer will nicht Natur vergeistigen, sondern den Geist naturalisieren“16. „Ich aber sage, daß jede Bewegung, Gestaltung, Streben, Seyn, daß dies Alles Erscheinung, Objektivität des Willens ist; indem er das An-sich aller Dinge ist, d.h. dasjenige, was von der Welt noch übrig bleibt, nachdem man davon absieht, daß sie unsre Vorstellung ist“17. Der Wille ist also bei Schopenhauer in einem a-theoretisch gegebenen ganz fundamentalen Sinn zu verstehen. Im Gegensatz zu dem Ichbewußtsein eines Fichte oder Hegel, der etwa eine Gedoppeltheit des Subjekts in Anschlag bringt,
129 kann das vorstellende Ich sich bei Schopenhauer nie selbst erkennen. Es ist zwar das notwendige Korrelat aller Vorstellungen, es ist Bedingung, es kann aber selbst nie Vorstellung und Objekt werden. „Daher ist das Erkennen des Erkennens unmöglich“18. „Die Strukturen unseres wahrnehmenden und erkennenden Vermögens“ hat er „nicht durch (objektlose) Selbstreflexion“ gewonnen, sondern „durch die Abstraktion aus verschiedenen Arten der Objekterkenntnis“19, er hat sich nicht über das Subjekt der Erkenntnis gebeugt, sondern vielmehr über die möglichen Objekte der Erkenntnis. „Nun könnte man aber fragen, woher uns, wenn das Subjekt nicht erkannt wird, seine verschiedenen Erkenntnißkräfte, Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, bekannt seyen. – Diese sind uns nicht dadurch bekannt, daß das Erkennen Objekt für uns geworden ist“20, sie sind vielmehr „allgemeine Ausdrücke für die aufgestellten Klassen der Vorstellungen, die man zu jeder Zeit, eben in jenen Erkenntnißkräften“21 unterschied. Sie sind „mit Rücksicht auf das als Bedingung notwendige Korrelat jener Vorstellung, das Subjekt, von ihnen abstrahirt, verhalten sich folglich zu den Klassen der Vorstellungen grade so, wie das Subjekt überhaupt zum Objekt überhaupt“22. Reflexionsphilosophie hatte das „Ding an sich“ ins Denken gesetzt, Schopenhauer entdeckt es im Willen. Die Rückseite der Vorstellung ist nicht der Geist, der sein Tun mit Bewußtsein begleitet, sondern die Natur. Diese Natur ist nicht die Natur als äußeres Objekt, sondern die erlebte Natur in uns. Das bessere Bewußtsein „Man war im Theoretischen auf eben die Art thörigt, wie wir Alle es beständig im Praktischen sind, wo wir vom Wunsch zur Befriedigung und dann zum neuen Wunsch eilen und so das Glück endlich zu finden hoffen; statt nur ein einziges Mal in uns zu gehen, vom Wollen uns loszureißen und im besseren Bewußtseyn zu verharren.“23
130 Schopenhauer kommt so zu einer Unterscheidung von reinem („besserem“) Bewußtsein und dem empirischen vom Wollen bestimmten Bewußtsein. Das Sein ist nichts anderes als der blinde Wille, das auf nicht Gemeintes und Bezwecktes hinweist, es hat keine Bedeutung, es ist nur. Das Wesen des Lebens ist Wille zum Leben. Bei der Bestimmung des „Dings an sich“ geht Schopenhauer von der Subjekt-Objekt-Konstellation aus, die es nun zu durchbrechen gilt. Weder über das Subjekt noch über das Objekt führt ein Weg hinaus. Es gibt kein logisches Prius. Das Subjekt läßt sich nicht aus dem Objekt erklären und das Objekt nicht aus dem Subjekt. Bei dem jeweils einen ist das andere immer schon mitgedacht, sie bedingen sich gegenseitig. Wie aber gelangen wir in das „bessere“ Bewußtsein? Wir müssen einen Punkt finden, wo wir die Welt nicht nur als Vorstellung, nicht nur im Subjekt-Objekt-Verhältnis haben. Das innerste Wesen, „das Ding an sich“ ist in einem von der Vorstellung gänzlich verschiedenen Bereich. Wenn die Welt neben ihrer Anschaulichkeit Wille ist, so wird nach dem bisher Gesagten Wille zum Namen für die Selbsterfahrung des eigenen Leibes. Nur der Leib ist jene eigene Realität, die ich nicht nur als Vorstellung habe, sondern die ich selber bin. „Die Selbsterfahrung des eigenen Leibes ist der einzige Punkt, wo ich erfahren kann, was die Welt ist, außer, daß sie meine Vorstellung ist.“24 Das konkrete Individuum und mit ihm die Welt der Erscheinung muß hier außer Acht gelassen werden. Das Subjekt des Wollens kann als das unterindividuelle „Ding-an-sich“ nur angeschaut werden vom Über-Individuellen, nämlich vom reinen Subjekt der Erkenntnis. Das reine Subjekt ist gelöst vom Willen und damit von den empirischen Interessen des Individuums. Es vollzieht sich eine willenlose Anschauung des Willens. Zwischen dem Unterindividuellen und dem Überindividuellen vollzieht sich, wie es Rüdiger Safranski nennt, „eine heikle Transaktion“. „Der metaphysische Charme des Willens (seine Raum-, Zeit-Grundlosigkeit) soll in den Anschauungsakt hinüberwandern, nicht aber die Substanz dieses Willens, sein Begehren, Drängen, Treiben“25.
131 Der Übergang vom Realsten des am eigenen Leibe erfahrenen Willens zur Interpretation von Welt wird von Schopenhauer im Rahmen einer Analogie geleistet: „Wir werden demzufolge die nunmehr zur Deutlichkeit erhobene doppelte, auf zwei völlig heterogene Weisen gegebene Erkenntniß, welche wir vom Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, weiterhin als einen Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen und alle Objekte, die nicht unser eigener Leib, daher nicht auf doppelte Weise, sondern allein als Vorstellungen unserm Bewußtseyn gegeben sind, eben nach Analogie jenes Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende seinem innern Wesen nach, das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen.“26 Mit dem erlebten Willen schließen wir als „Zauberwort“ das innerste Wesen jedes Dinges in der Natur auf. Mit dem analogen Übergang in die Außenwelt spricht überall der Wille zu uns. Diesen Anspruch vernehmen wir aber nur in der Haltung der Kontemplation. Die Erfahrung des Leibes vermittelt uns das Geheimnis der Welt. Der Leib ist aber nun nicht mehr das Medium dieser Erfahrung, vielmehr sind wir ganz „Weltauge“27 geworden. Diese Ästhetik Schopenhauers will die Welt nicht erklären, sondern Auskunft darüber geben, was Welt eigentlich ist. „Diese Willenlosigkeit der Anschauung verwandelt das Objekt der Anschauung nicht nur in ein Schauspiel, sondern läßt das hervortreten, was Schopenhauer ‚die reine Objektivation des Willens‘ oder auch die ‚Idee‘ nennt.“28 Diese vom Willen gelöste Erkenntnis ist eine ästhetische Haltung, es ist die Verwandlung der Welt in ein Schauspiel, das sich nun mit interesselosem Wohlgefallen betrachten läßt. Die Kunst, aber auch die Philosophie laden den Betrachter zu dieser Haltung ein. „Der Genuß alles Schönen, der Trost, den die Kunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers, welcher ihn die Mü-
132 hen des Lebens vergessen läßt, […] – dieses Alles beruht darauf, daß […] das Ansich des Lebens, der Wille, das Daseyn selbst, ein stetes Leiden und theils jämmerlich, theils schrecklich ist; dasselbe hingegen als Vorstellung allein, rein angeschaut, oder durch die Kunst wiederholt, frei von Quaal, ein bedeutsames Schauspiel gewährt“29. Was bei Schopenhauer für die Kunst gilt, gilt ohne Einschränkung für die Philosophie. Philosophie setzt solches Anschauen lediglich in eine andere Sprache um, in die Sprache der Begriffe. Begriffe aber sind für Schopenhauer nur der uneigentliche Ausdruck der Wahrheit, und Philosophie ist die Mittlerin von Kunst und Wissenschaft.
Subjekt, Gesellschaft und Staat bei Schopenhauer Wie nun sieht Schopenhauer das Individuum in seiner gesellschaftlichen und politisch-sozial geprägten Zeit? Die herrschenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen erscheinen ihm als unabänderlich. Was in den dialektischen Ansätzen Kants und Hegels als ein durch Vernunft im Prozeß der Entwicklung lösbarer Widerspruch erscheint, bleibt bei Schopenhauer eine unaufhebbare Kluft, die durch eine Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem auf inneren Frieden und Wohlfahrt ausgerichteten Staat nicht geschlossen werden kann. „Die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Schein und Wesen, zwischen Theorie und Praxis, und schließlich auch die Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten erscheinen ihm als unaufhebbare Gegensätze“30. Für Schopenhauer zählt zuallererst das isolierte Individuum mit seinem Egoismus. Gesellschaft oder Menschheit sind leere Abstraktionen, denen gegenüber dieses Individuum keine Verantwortung trägt. In der politischen Sphäre bezweifelt er, daß der Staat jemals Gerechtigkeit wird herstellen können. Zwar hielt er den Wohlfahrtsstaat für wünschenswert, doch gemäß sei-
133 ner liberalen Staatstheorie schloß er jedes Erzwingen von Wohltaten durch den Staat aus. Der Staat war nur „indirekt und in engen Grenzen“31 an der Einhaltung von Gerechtigkeit beteiligt. In seinen freilich nur fragmentarisch gebliebenen Rechtsvorstellungen plädiert Schopenhauer für einen Schutz nach außen und für einen Schutz nach innen. Dieser Schutz nach innen sollte für die Individuen voreinander und gegeneinander durch die Sicherung der Gesellschaftlichkeit im Privatrecht gewährleistet sein. Schließlich trat Schopenhauer auch noch für den Schutz gegen den Beschützer ein. Im Gegensatz zu den Staatsvorstellungen Fichtes und Hegels vertrat Schopenhauer auf naturrechtlicher Grundlage eine Trennung von Staatszweckbestimmungen und Fragen der Moral. Eine Vermischung von beiden betrachtete er als einen gefährlichen Angriff auf den Einzelnen. In sarkastischem Stil formuliert er: „Einige deutsche Philosophaster dieses feilen Zeitalters“ möchten den Staat zu einer „Moralitäts-, Erziehungs- und ErbauungsAnstalt“ verdrehen. Im Hintergrund lauere aber der „Jesuitische Zweck“, „die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung des Einzelnen aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer Chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen“32. Das Subjekt bei Theodor Lessing33 Um das Subjekt in seiner erkenntnistheoretischen Problematik bei Lessing zu erfassen, ist es zunächst notwendig, seine DreiSphären-Theorie vorzustellen. An den Sündenfall des Geistes bei Hegel erinnernd gilt, daß der Geist irgendwann notgeboren aus der Natur herausgetreten ist. Dieser Geist entschärft menschliche Notlagen, er schafft aber damit auch erneut Not und Hemmungen. Geschichte kann bei Lessing verstanden werden als eine Geschichte der Entstehung von Not und Beseitigung von Not durch den Geist des Menschen. Der hier vorliegende Natur-Geist-Dualismus wird aber
134 nicht durch den Geist aufgehoben. Lessing erkennt vielmehr, daß die Erde am Geist zugrunde gehen wird. Ein Ende der Geschichte tritt dann ein, wenn dieser Geist wieder mit der Natur unmittelbar zusammenfällt. Dieses Ende wird kommen. Doch Lessing anerkennt Geist als ein in der Geschichte nicht rückgängig zu machendes Phänomen an. Er gehört zum Menschsein. Dieser Geist ist aus der ursprünglichen Einheit von verité und vitalité entsprungen, die bei Lessing im Stadium ihrer Noch-Verbundenheit als absolutes Sein gefaßt wird. Dieser entsprungene Geist steht nun in der Sphäre der Bewußtseinswirklichkeit. Die Bewußtseinswirklichkeit ist das Reich der Tat, der Gestaltung und Konstruktion von Geschichte, und letztlich auch die Dimension, in der Geschichte erkannt und verstanden wird. Aus der Dimension des absoluten Seins als Einheit von verité und vitalité herausgetreten, entwickelt das denkende Subjekt die Bestimmungen des Lebens. Verité als selbständige Dimension ist nur der schauenden intuitiven Vernunft als Metawirklichkeit zugänglich. Hier werden in einem platonischen Sinne Ideen, Ideale als kategoriale Richtformen zur Gestaltung des Lebens geschaut. Diese Ideen sind Wesen sinnlicher Phänomene, die von diesem Subjekt in eben jener Ebene der realité zur Wirklichkeit gebracht werden sollen. Ideen aber sind zeitlos. Mathematische logische Denkformen sind dieser auch logomathisch genannten Sphäre zuzuordnen. Die Wahrheit, die Geltung der Ideen kann von den Voraussetzungen Lessings her gesehen jedoch nur intuitiv, nicht aber demonstrativ gewiß sein. Bei Lessing bleibt auch das Problem des Übergangs von zeitloser Idee und ihrer empirisch-sinnlichen Verwirklichung seitens des Subjekts ungelöst. Die in der realité vollzogene Spaltung des absoluten Seins (von verité und vitalité) gibt den Blick auf die Sphäre der vitalité frei. Diese ist die außerzeitliche, vorbewußte Sphäre, sie ist die Fülle des Lebendigen, die mit dem wachen Auge des Bewußtseins nicht faßbar ist. Hier haben für den Erkennenden Naturwissenschaft, Mechanik und Physik ihren Ursprung. Eine be-
135 griffliche Erfassung dieser Sphäre ist nicht möglich. Dennoch kann sie annäherungsweise durch Erleben wahrgenommen werden. Leben und Sinn sind in dieser Dimension noch ungetrennt. Die Abtrennung von Leben, Sinn und Ziel vollzieht sich innerhalb von Bewußtsein und Zeit in der Dimension der realité. Lessing definiert vitalité als Leben, das „weder logisch noch unlogisch, weder rational noch irrational; weder gut noch schlecht, weder gesund noch krank, weder wertvoll noch wertlos“ ist. „Es ist All-Eines“34. Vorformen von Raum, Zeit, Ursächlichkeit sind nach Lessing nicht, wie in der idealistischen Philosophie angenommen, theoretischer Natur, „sondern werden getragen von der willensmäßigen Absicht des Gerichtetseins-auf.“35 Jedem Erkenntnisakt geht ein Willensakt vorher. Das Erkennen hinkt dem Wollen nach. Alle Erkenntnis ist letztlich ein Wertungsakt, „ein Akt des Sichentscheidens“36. Der „wollende, begehrende, praktische Mensch ist somit der umfassendere, welcher den erkennenden oder theoretischen Menschen schon in sich schließt“37. Damit ist wie bei Schopenhauer eine Erweiterung des Subjektes vorgenommen worden, die über die reflexiv-theoretische Ebene hinausgeht, die aber gleichzeitig eine Einschränkung der Autonomie und Priorität des denkenden Bewußtseins gegenüber dem Willen zum Ausdruck bringt. Die Sphäre der Wirklichkeit entsteht also „durch das künstliche Wiederzusammenfügen der ursprünglich vereint gewesenen, durch die Heraufkunft, den Ursprung des Geistes aber voneinander getrennten Sphären ‚Leben‘ und ‚Wahrheit‘ “38. Diese Sphäre, auch Reich der Mitte genannt, ist die Dimension, in der sich das endliche Bewußtsein und damit auch das Subjekt konstituiert. In dieser Sphäre konstituieren sich Sinn, Zweck und Ziel. „Alle Bewußtseinswirklichkeit ist eo ipso: sinnvoll. Bewußtwerden und Sinnvollwerden sind dasselbe. Sie ist teleologische – sinnvoll gewordene Natur, eben darum mechanische Natur. Sie ist sinnvoll durchaus nur nach ‚Anbild‘ des Menschen“39. Die Wirklichkeit ist immer relativ auf das Subjekt bezogen.
136 Diese gesamte Bewußtseinswirklichkeit wird nun lebensphilosophisch abgewertet als „lebensvergegenständlichende“ und mithin „lebensabtötende Mechanik“. Vergleicht man Funktion und Leistung des Subjektes im Hinblick auf die Wahrnehmung, ja den Genuß von Kunst, Religion, Musik oder Philosophie bei Lessing mit dem Subjekt bei Schopenhauer, so sind große Ähnlichkeiten zu erkennen. Ist es bei Schopenhauer die Entindividualisierung des empirischen Subjektes, die die schmerz- und willensfreie ästhetische Wahrnehmung von Welt im Medium von Philosophie, Kunst und Musik ermöglicht, so sind es bei Lessing antirationale, das Bewußtsein retardierende Lebensgewalten, die im Gefühl gründen. In diesem Gefühl gründet das religiöse und ästhetische Erleben. Schönheit und Religion sind hier von den Fesseln des Geistes und des Bewußtseins befreit. Sie gewährleisten eine seelische Erneuerung. Der Entindividualisierung bei Schopenhauer entspricht die Verschmelzung des Menschen mit den außermenschlichen Bereichen von Religion und dem ästhetischen Erleben von Kunst. Kunst ist die „kontemplativ einfühlende, zwecklos-betrachtende, ästhetische Stellungnahme zu den bunten empirischen Dingen dieser ‚Welt‘.“40 Sie ist eine unmittelbare Lebensmacht.
Subjekt und Geschichte bei Lessing In Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen begreift Lessing Geschichte als den Zusammenhang der Ereignisse: „Es ist vollkommen klar, daß dieser Zusammenhang die Konstante eines tragenden Ich (nenne man das nun: Staat, Nation, genereller Mensch, objektiver Geist oder sonstwie) voraussetzt: jenes geschichtliche Subjekt, auf welches wir alle Geschichte beziehen, als seine Geschichte und welches keineswegs in den Inhalten der Geschichte durch Erfahrung gefunden wird.“41 Dieses Subjekt der Geschichte ist als wirklich vorausgesetzt, es entsteht nicht mit und durch Geschichte. Dieses durch die Geschichte schrei-
137 tende Subjekt ist aber nichts anderes als die „ichbezügliche Spiegelung unseres eigenen Bildes“42. Der Mensch sucht hinter den Ereignisfolgen der Geschichte lediglich seine eigene Gewordenheit, er sucht seine Formung durch sich selbst, der Mensch ist selbst Material seiner Formgebung. Der Geist, der Geschichte erforscht, begegnet immer sich selbst. Er bildet eine Subjektivität nach, die nicht die seine ist. „Seine Subjektivität ist der Spiegel der nachempfundenen Subjektivität. Er löst seine Empfindungen von sich ab und stülpt sie der von ihm gemimten Persönlichkeit über“. Er fühlt, was er nicht fühlt, er motiviert Entscheidungen, die er selbst nicht gefällt hat, er attribuiert seine Gefühle einem historischen Subjekt, dem sie von nun an „als dessen Gefühle und Motive unterstellt werden“43. In diesem Sinne ist der generelle Mensch für Lessing der „zu bloßer Gedankenschablone gewordene, völlig person- und eigenheitsfreie, völlig uninteressante, sozusagen ausgelaugte Mensch, der Mensch ohne Sonderzüge.“44 Geschichtliche Wahrheit wird durch den „denkend-ordnenden Verstand“ aus der Unmittelbarkeit des Lebens „herausgefiltert“45. Geschichte als Geschichte objektiver Geschichteträger ist zuletzt „die völlig leere Form, welche erst mein Wollen, mein Leiden, mein Bedürfen, meine Liebe und mein Haß, kurz gesagt meine Eins- oder Gegenfühlung mit bestimmter Lebendigkeit bestimmter Wirklichkeiten erfüllen kann; mit meiner Lebendigkeit!“46. Angenommene Zusammenhänge sind lediglich Arbeitsleitgedanken unseres Kulturkreises. „Wir beurteilen beispielsweise die gräßlichen Blutorgien des alten Römerreiches darum als historisch vernünftig und notwendig, weil wir uns selber an ihrem Ende als Erben ihrer Resultate vorfanden.“47 Auf der anderen Seite wächst die Einzelperson gerade so weit in die Geschichte hinein, „als sie, mit einer durchaus mystischen Verbundenheit, sei es auf Grund von Verwandtschaft und Ähnlichkeit, sei es auf Grund von Phantasie- und Glaubensakten, zum Vertreter der Massenbedürfnisse und Gemeinschaftshoff-
138 nungen tauglich ist“48. Mit dieser Abstraktion vom konkreten Individuum, die für Lessing unter Berufung auf Kants „logisches Bewußtsein überhaupt“ und auf Fichtes absolutes Ich zustandekommt, ist es unmöglich, „daß die ganz zarte überaus verfeinerte oder die völlig einmalige, die ganz unzugängliche und artfremde oder die extreme und allzu hochgesteigerte Persönlichkeit je in die Geschichte eingehen kann“49. Unter dieser Rücksicht wird die Person zu nichts anderem als zum Sprachrohr und der Stimme „mittelst derer sich die Menge entäußern will“50. Die Vielfalt der persönlichen Züge des Menschen verschwindet bei der Objektivierung des lebendigen Menschen. „Papst, Kaiser, Kanzler“ und „Erzbischöfe“ brauchen für die „große Menge kein bestimmtes Gesicht zu tragen,“ sie werden zu repräsentativen Symbolen. Das geschichtliche Individuum wirkt nicht aus sich selbst, vielmehr spricht „die geschichtliche Gruppe“ „nur durch Individuen“51. So erfüllt nur derjenige den Sinn der Welt, der ohne Rücksicht auf Masse und Übereinkunft „einzig nur auf das Barometer der persönlichsten Gefühle blickt“52. Der „einsamste Punkt jeder Seele“ sei derjenige, „in welchem das Überpersönliche und Allweltliche lebendig wird“53. Die Einzelperson, so schließt Lessing diesen Gedanken ab, kann nur „als Aussager und Anzeiger von Klassenbedürfnissen und Massenidolen“54 betrachtet werden. Wenn es seelische Bedürfnisse erfordern, kann eine Person „von heute auf morgen umgestürzt und von einem anderen Standpunkt aus gesehen werde.“55 Es gäbe „nirgendwo eine feststehende historische Dinglichkeit“. Wie sich Ideen in der Natur „einkörpern“, so verkörpern sich Ideale und Idole vom Geist aus in der Bestimmung von Personen. Die sogenannte geschichtliche Wirklichkeit spiele dabei keine andere Rolle als der fiktive Stoff, „welcher durch die Gestalten hindurchgehend in immer neue und doch immer gleiche Bildungen eingekörpert wird“56. Es gibt eine „sehr große Reihung verschiedener Bonaparte, Sokrates, Bismarck und Goethe.“ Keine vermag diese verschiedenen Bilder „zur einheitlichen
139 Persönlichkeit zu verschmelzen“ und dennoch sei „jedes Bild folgerichtig und wahr in sich selbst“57. Von der Naturwissenschaft unterscheidet sich Geschichte dadurch, daß die Kategorien, nach denen das historische Material geformt wird, zumindest teilweise im Material vorgefunden werden, insofern dieses bereits eine geistige Formung impliziert. Das Interesse Lessings an der Geschichte ist vorwiegend psychologisch orientiert. Er entwirft deshalb eine Psychologie der empirischen Erkenntnissubjekte. Zwei christliche Jahrtausende haben nach Lessing mit der Entwicklung von Logik und Ethik nichts anderes als den Machtwillen und Geltungswillen in der Geschichte durchgesetzt. Während dieser Machtwahn wächst, geht das Seinsgefühl verloren. Diese Entwicklung führt über Luther zu Kant und damit zur Vergeistigung und Verherrlichung des eigenen Ichs. Mit der Entdeckung dieses Ichs geht die Verdinglichung der Seele in Raum-Zeitform einher. Mit dem Gedanken der Selbstverwirklichung und der Persönlichkeitsentfaltung entwickelt sich ein ruchloser Individualismus europäisch-amerikanischer Prägung. Schon die Beschäftigung mit dem Ich sei ein Anzeichen der Erkrankung unserer Zeit. Subjekt, Gesellschaft und Staat bei Lessing Wie bei Schopenhauer ist der angesprochene Einzelmensch „aus Fleisch und Blut schon von früh auf eingestellt“ in das große „Riesenreich der imaginären Gespenster: als da sind Gesellschaft, Behörde, Staat, Kirche, Kaste und Gruppe und alle die unbarmherzigen und rein imaginären Abstrakta: das Recht, das Gesetz, die Schule, die gute Sache, die Majestät, der Mensch, die Ehre, die Ehe, das Gemeinwohl, die Ordnung, die Wissenschaft, die Familie, das Vaterland usw.“58 Innerhalb dieser eingebildeten Gewalten wird auch der beste lebendige Einzelmensch zum „Spürhund“ und „Teufel“ wider jeden anderen erzogen.
140 Schopenhauer meinte in ähnlicher Weise, daß das Leben der Völker eine bloße Abstraktion sei und spricht in seiner Kritik der Hegelschen Geschichtsphilosophie vom „behaglichen, nahrhaften, fetten Staat mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie“, der „höchstens auf intellektuelle Vervollkommnung“59 hinausläuft, das Moralische aber unverändert lasse. Die Entwicklung der modernen Staaten wird jedoch nach einer extremen Individualisierung zu einer Entindividualisierung der Subjekte führen. Der aus seinem tragenden Lebenselement herausgetretene Mensch vertraut sich einem „Hilfsfahrzeug“ an, das für ihn als „tragendes Brett“ der Staat ist.60 Zwar steht am Anfang der Zivilisation die Verselbständigung der freien, sich selber bestimmenden Persönlichkeiten. Jede neue Freiheit macht die Menschen aber „selbstwilliger, dünkelhafter, und unfroher“61. Die zunehmende Differenzierung der Bildungsmenschheit in eine immer größere Anzahl intimer Charaktere stärkt deshalb notwendig das Bedürfnis nach einer „überpersönlichen, absolut bündigen Autorität“62. Diese Autorität ist in der symbolisierenden Macht der Staatsoberhäupter zu suchen. In Wahrheit vermögen die Menschen nicht, sich selber zu bestimmen. Jede Demokratie führt zu einer Zersplitterung der Kräfte, „bis sie in eine neue Form der Diktatur mündet“63. Die wachsende Selbstverantwortlichkeit der Einzelmenschen würde in Wahrheit aus der Menschheit „ein Tollhaus“ machen. Das „wertende Bewußtsein des Geistes zerbricht diese alogische Allverbundenheit dank der Wahlfreiheit des geistigen Selbst“64. Bei Lessing bedeutet dies einerseits die Vereinheitlichung (Assoziation) des Menschengeschlechts „als eines einheitlichen, die menschliche Gegenstands- und Wissens-Welt tragenden, kontinuierlich-identischen Weltbewußtseins und weltformenden Willens“65. Sie bedeutet aber auch die „Zerstückelung (Dissoziation) dieser allmenschlichen Gesamtheit in unzählige einander gegenläufige seelische Iche“66. Mit der Soziabilität des geistigen (logischethischen) geschichtlichen Menschen wächst auch die seelische
141 Egozentrizität. „Die natürliche Gemeinschaft zersplittert“ und es entsteht der „chaotische Isolmensch“. Eine Rückkehr in den Naturverband ist dem Menschen aber nicht möglich. Er wird die „Naturunmittelbarkeit“ dem höheren Moloch: „Sitte, Wert und Recht“67 opfern. Es ist der Weg in die heute schon herrschende Sachlichkeit, den der Mensch gehen muß. „Es ist der Sieg des überlogischen Ich über die Lebenskindschaft: die Geburt Gottes aus der Weltgeschichte“68. Um dem „Wirrwarr und Verbrechen“ oder der „Herrschaft der stärksten Faust“ zu entkommen, wird der Mensch dazu gebracht, sich freiwillig „unter die Tyrannis einer autonom-rationalen Sachlichkeit“69 und damit seiner eigenen Entindividualisierung zu beugen. „Auf eisern gesund gezüchteten, wenig leidensbereiten und zu jedem Sport befähigten, durchaus zuverlässigen, aber auch merkwürdig eindrucksengen und gegen zahllose zarte Einflüsse abgesperrten Leibern sitzen Köpfe von auffälliger Gleichheit, klar und gewitzt. Die Männer: alle ein einheitlich gerichteter, willensstarker Chauffeurtypus; die Frauen sehr gepflegte, zierliche und nach Erregung hungrige, schlanke Raubkatzen. Alle überaus befähigt, reinlich, aber schablonenhaft. Innerlich sehr gestuft und psychisch unlenkbar, aber äußerlich wohlgeordnet und von überpersönlicher Vernunft richtig geführt.“70 Zusammenfassung und Kritik Wir haben versucht, Gestalt, Leistung und Funktion von Subjektivität bei Schopenhauer und Lessing nachzuzeichnen. Bei beiden ist von einer nahezu gleichgestimmten Subjektivität auszugehen. Das empirische Ich ist bei Schopenhauer und Lessing überfordert, einen Vermittlungsakt zwischen Subjekt und Objekt zu leisten. Es bleibt bei einer unauflöslichen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. Das Ding-an-sich ist nicht erkennbar. Die vom praktischen Wollen geleitete Subjektivität von Lessing als eine weitgehend empirisch-psychologisch verfaßte, ge-
142 schichtlich gewordene und in der Zeit wirksame wird nur in ihrer faktischen Funktionalität berücksichtigt. Im individuellen Wollen werden psychische Bedingungen zum Grund des Geistes überhaupt hypostasiert. Während sich Schopenhauer in einer pessimistisch verfaßten erkenntniskritischen Distanz zur Welt als Geschichte verhält, die sich freilich als semper idem sed aliter repräsentiert, thematisiert Lessing die absichtsvolle Sinngebung von Geschichte und das Subjekt unter Voraussetzung seiner lebensphilosophischen Grundannahmen. Bei beiden ist der Ausgangspunkt für eine geschichtliche Hermeneutik das Individuum in einer a-theoretischen Faktizität. Bei beiden wird aber die Möglichkeit eines prinzipienmächtigen, autonomen und im Verstehen und Handeln prokreativen freien Subjektes verneint. Das geschichtliche Subjekt, wie die Geschichte selbst, erfahren vielmehr nicht nur erkenntniskritisch eine Abwertung. Bei Schopenhauer ist das Individuum wissenschaftlich nicht faßbar, bei beiden erfährt dieses Individuum als Subjekt eine merkwürdige Spaltung und Entmächtigung. Das Moment der Leiblichkeit nimmt bei Schopenhauer einen bedeutenden Rang ein. Ein reines („besseres“) Bewußtsein steht dem wollenden Bewußtsein gegenüber. Geschichte und Philosophie sind bei beiden keine wirklichen Wissenschaften. Das in intuitive Vernunft und in einen empirisch-psychologischen Bereich des Verstandes gespaltene Subjekt von Lessing wird angesichts der damit verbundenen Formalisierung der Erkenntnisarten, mit der Schematisierung der klassifizierten Erkenntnisbereiche und Erkenntnisarten einem Anspruch nach Authentizität des Subjektes wie der Geschichte nicht gerecht. Im Medium dieser intuitiven Vernunft werden die reinen Ideen, Ideale und Werte in der Sphäre der Wahrheit als Richtmaße für geschichtliche Praxis unmittelbar geschaut. Diese Ideen sind nach Lessing zwar intelligibel, nicht aber erkenntnistheoretisch zugänglich. Mit den von ihm in Anschlag gebrachten Lei-
143 stungen eines Subjektes, das vor allem als ein nur zeitlich konstituiertes und empirisch willentliches relevant ist, kann er zwar im sinnlich empirischen Bereich diese Wirklichkeit erkennen, verändern und kreativ gestalten. Den Nachweis der Gewißheit, daß dieses Subjekt im Horizont der zeitlosen und bei ihm ontologisch nicht konstituierbaren Ideen handelt und Prinzipien dieser zeitlosen Ideen in einer Bewegung des Denkens in zeitliche, sinnliche, empirische Geistigkeit verwandelt, diese Ideen zum Wesen der Basis sinnlicher Phänomene macht, muß er schuldig bleiben. Die Verwandlung der zeitlosen Idee in ihre zeitliche Bewegtheit kann nicht von dem von Lessing vorausgesetzten denkenden Bewußtsein begleitet werden. Da wir jedoch auf ein authentisches, d.h. ein wirkliches, eindeutiges und widerspruchsfreies Verstehen von Geschichte in seiner Notwendigkeit und Eindeutigkeit angewiesen sind, wie oft diese Bemühungen auch scheitern mögen und einen neuen Versuch zum Erkennen und Verstehen erforderlich machen, der sich nicht nur im Sinne Nietzsches als psychologisch und lebensphilosophisch gegründete Notwendigkeit aus der jeweiligen Gegenwart ergibt, ist es Aufgabe der Philosophie, Subjekt und Geschichte in anderer Weise zu begreifen, als dies bei Schopenhauer und Lessing der Fall ist. Nur ein begriffenes Subjekt, das in seiner Authentizität aufgewiesen ist, ist Grund der Möglichkeit für ein der Sache nach angemessenes Verstehen, Erkennen von Geschichte und Handeln in der Geschichte.71 Der im Subjekt zur Vernunft gekommene Verstand wäre es, der zu den vielen möglichen Formen zufälliger assoziativer Verknüpfung jene Einheit und Basis der sinnlichen Phänomene herstellen kann, die diese sinnlichen Phänomene in ihrer objektiven Realität ausweisen kann. Wenn wir eingangs davon sprachen, daß bei Schopenhauer und Lessing der Wille immer schon der Erkenntnis vorhergeht, so bedeutet dies, daß der wollende Geist des empirischen Subjektes „immer nur im Zusammenhang“ mit dem Willen zu sehen
144 ist. Dies besagt, daß nicht Wahrheit und Wirklichkeit des Lebens als Voraussetzung für das Schaffen des kreativen Subjektes in Zeit und Geschichte zur Erkenntnis kommen, sondern, daß der Wille die objektive Wirklichkeit „dem ‚wollenden Geist‘ im ‚Phänomen der Transparenz‘ zur Anschauung bringt“72. Der Wille bestimmt „nicht nur den praktischen Akt der Erkenntnis“, sondern auch „die theoretische Struktur des Verstandes“73. Der Wille wird zum Bestimmungsgrund des Geistes und zum Ermöglichungsgrund für Erfahrungswirklichkeit. Die Dimension der Verstand und Vernunft umgreifenden Subjektivität, die ein Moment der Zeitenthobenheit als Prinzip in sich begreift und erst deshalb ein freies prinzipiengeführtes Denken und Handeln und eine Verfügbarkeit über Zeit und Geschichte ermöglicht, wird bei Schopenhauer und Lessing nicht erreicht. Das empirisch-psychologische Bewußtsein bleibt vielmehr bei Lessing in Gestalt des empirisch wollenden Subjektes nur auf eine mechanische Praxis hin ausgelegt. Es überholt und vernichtet sich mit jedem neuen Akt der Selbstverwirklichung in Zeit. Dieses denkende Subjekt kommt sich nicht „als die Einheit seines Prinzips, als die eine Prinzipienwahrheit Mensch“74 auf die Spur. „Die Einheit“ dieses denkenden Subjektes, das die verschiedenen Gestalten seiner willensmäßigen Selbstverwirklichung in Zeit in der Erinnerung unterscheiden kann, „ist aber nur dann begründete“ und zur Begründung von Wissen fähige „Einheit, wenn das Denken wahres Prinzip seiner selbst ist“75. Die Identität des Denkens ist bei Lessing aber nur „ein seiend Gesetztes“76, es bleibt nurmehr bei einem funktionalen Denken: „Man kann im Identitätssatz freilich die Vorschrift sehen, ein einmal als seiend Gesetztes im ganzen Verlauf weiterer Erfahrung als identisch seiend festzuhalten“77. Bei Schopenhauer und Lessing steht mit der Bestimmung von Subjektivität der Wille in einer Priorität vor dem Geist. Lessing geht allerdings über Schopenhauer weit hinaus, wenn er von einem „individuellen Apriori“ des Willens spricht, das geschichtsteleologische Züge aufweist. „Nicht nur am erkennenden Ich,
145 das sich als Träger eines Weltbewußtseins betätigt, haften alles Erfahren vorausbestimmende Richtungskonstanten, deren Ausdruck die Prädikamente der Logik sind, sondern auch jede speziellere Bewußtseinsgruppe, jede soziale Schicht, jede Rasse, jede Nation, schließlich jede Familie und jedes Individuum bringt sein Karma zur Welt, seinen transzendentalen Charakter, sein individuelles Apriori, d.h. die Vorausbestimmung dessen, was ein jedes Leben erfahren wird.“78 Lessing beruft sich mit diesen individuellen Vorstellungen zu Unrecht auf Schopenhauer. Schopenhauer ging es in Wirklichkeit immer nur um das „allgemeine Willens-Apriori“79. Wenn aber dem Erkenntnisvorgang ungeachtet dieser Unterschiede bei Schopenhauer und Lessing immer schon der blinde irrationale Wille vorgeschaltet ist, so erinnert dieser blinde Wille, an Freuds Rede vom Unbewußten und daran, daß das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei. Lessing selbst zitiert diesen Gedanken Freuds, ohne ihn beim Namen zu nennen. Er bezeichnet diesen Gedanken als eine Kränkung für den stolzen Menschen, die die gleiche Wertigkeit hat, wie die Entdeckung, daß die Erde eben nicht mehr Mittelpunkt der Welt ist.80 Diese Rede „verlangt aber eine Aufklärung über die prinzipielle Möglichkeit, daß im Verlauf z.B. eines psychoanalytischen Gesprächs das Ich sich als den Träger seiner eigenen ungewußten Geschichte wiedererkennen kann (und nicht wie nach einer Gehirnwäsche als ein anderer aus dem Gespräch hervorgeht), was im Falle einer ontischen Trennung beider topischen Bereiche gänzlich ausgeschlossen“81 bleibt. Auch diese Frage wäre als Frage nach dem Verhältnis von blindem Willen und denkendem Erkennen an die von Schopenhauer und Lessing dem Subjekt zugestandene Leistungskraft heranzutragen. Lessing freilich würde von einer Transformation der Willensenergie, von einer „Intellektualisierung psychischer Energie“82 sprechen. Die Frage des Übergangs von psychischer Energie in Geistigkeit bleibt jedoch unter Lessings Voraussetzungen eine offene Frage.
146 Anmerkungen 1 Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt: Suhrkamp 1986, S. 18. 2 So z.B. Fluchtpunkt Subjekt. Facetten und Chancen des Subjektgedankens, hrsg. v. Gerhard Krieger und Hans-Ludwig Ollig, Paderborn: Schöningh 2001, (Sammelband der Tagung der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Philosophiedozenten und -dozentinnen im Studium der katholischen Theologie im Jahre 2000 in Trier). 3 Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt: Suhrkamp 1986; ders., Subjekt, Person, Individuum, in: Individualität, München: Fink 1988; ders., Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart: Reclam 1991; Die Frage nach dem Subjekt, hrsg, von Manfred Frank, Frankfurt: Suhrkamp 1988; Analytische Theorien des Selbstbewußtseins, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt: Suhrkamp 1994. 4 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1968, S. 564. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 567. 8 Ebd., S. 568. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, München: Hanser-Verlag 1987, S. 298 ff. 12 Ebd., S. 300. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 301. 15 Ebd., S. 306. 16 Ebd., S. 307. 17 Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlass. Erster Band, Frankfurt a.M.: Kramer 1966, S. 353. 18 Ders., Sämtliche Werke. Siebenter Band, 2. Aufl. Wiesbaden 1950, S. 68. 19 Safranski (wie Anm. 11), S. 310. 20 Schopenhauer (wie Anm. 18), S. 69. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 69 f. 23 Schopenhauer (wie Anm. 17), S. 155. 24 Safranski (wie Anm. 11), S. 317. 25 Ebd., S. 324. 26 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Bd., Zürich: Haffmanns Verlag 1988, S. 157. 27 Schopenhauer (wie Anm. 4), S. 424.
147 Safranski (wie Anm. 11), S. 326. Schopenhauer, 1. Bd. (wie Anm. 26), S. 352 f. 30 Reinhard Kühnl, Die großen Fragen der Epoche und die Antwort Schopenhauers, in: Schopenhauer im Denken der Gegenwart, hrsg. v. Volker Spierling, München/Zürich 1987, S. 205. 31 Herfried Münkler, Ein janusköpfiger Konservatismus. Arthur Schopenhauers politische Ideen, in: Schopenhauer im Denken (wie Anm. 30), S. 228. 32 Schopenhauer, Sämtliche Werke. Vierter Band (wie Anm. 18), S, 217. Vgl. Münkler (wie Anm. 30). 33 Es wurde sowohl die überarbeitete 4. Auflage der Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen 1927, wie auch die 1983 als Neudruck erschienene Erstausgabe von 1919 herangezogen. 34 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 4. Aufl. Leipzig 1927, S. 132. 35 Ebd., S. 249. 36 Theodor Lessing, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche, München 1906, S. 348. 37 Ebd. 38 Bernward Baule, Kulturerkenntnis und Kulturerwerbung bei Theodor Lessing, Hildesheim 1992, S. 95. 39 Theodor Lessing, Prinzipien der Charakterologie, Halle 1926, S. 42. 40 Theodor Lessing, Der Lärm. Eine Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens, Wiesbaden 1908, S. 5. 41 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1983, S. 22. 42 Ebd. 43 Ebd., Nachwort von Rita Bischof, S. 275. 44 Ebd., S. 22. 45 Ebd., S. 23. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 4. Aufl. (wie Anm. 34), S. 195. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 196. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 273. 56 Ebd. 57 Ebd. 58 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (wie Anm. 41), S. 35. 59 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II (wie Anm. 4), S. 568. 28 29
148 Theodor Lessing, Europa und Asien, 5. Aufl. Leipzig 1930, S. 317. Ebd., S. 328. 62 Ebd., S. 329. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 330. 65 Ebd., S. 331. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 332. 69 Ebd. 70 Theodor Lessing, Europa und Asien, (wie Anm. 60), S. 327 f. 71 Vgl. hierzu auch Matthias Lutz-Bachmann, Subjekt und Geschichte, in: Fluchtpunkt Subjekt (wie Anm. 2), S. 132. 72 Peter Böhm, Theodor Lessings Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung von Welt, Würzburg: Königshausen & Neumann 1985, S. 85. 73 Ebd., S. 96. 74 Ebd., S. 89. 75 Ebd., S. 95. 76 Theodor Lessing, Studien zur Wertaxiomatik, 2. Aufl. Leipzig 1914, S. 74. 77 Ebd. 78 Theodor Lessing, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche (wie Anm. 36), S. 78 f. 79 Berward Baule (wie Anm. 38), S. 113. 80 Theodor Lessing (wie Anm. 34), S. 23. 81 Manfred Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis (wie Anm. 3), S. 30. 82 Theodor Lessing, Der fröhliche Lebensquell. Gedanken über Theater, Schauspieler, Drama, Berlin 1912, S. 273. 60 61
Edgar Früchtel EINIGE ÜBERLEGUNGEN ZUM SCHICKSALSBEGRIFF IN DER ANTIKE
Die Unabänderlichkeit der Kontingenzen wird zunächst als Götterwille empfunden und gedeutet, der mit menschlicher Einsicht nicht begriffen werden kann. Erst Platon interpretiert die Lebensschicksale als Ergebnis der die „Lebenslose wählenden Seele“. Mit der Entfaltung eines transzendenten Weltengrundes entsteht das Bedürfnis einer Deutung der Kontingenzen als Teile der Kosmosordnung. Die jüdisch-christliche personale Interpretation Gottes setzt schließlich die Vertrauensbasis für die durch den Erlösungsglauben ermöglichte Lebensfreude und Weltoffenheit.
Doch unverständlich ist Das Wünschen vor dem Schicksal Die Blindesten aber Sind Göttersöhne. Denn es kennet der Mensch Sein Haus und dem Tier ward, wo Es bauen solle, doch jenen ist Der Fehl, daß sie nicht wissen wohin In die unerfahrene Seele gegeben. Hölderlin, Der Rhein
Bei Diogenes Laertius1 wird überliefert, daß Thales oder gar Sokrates dem Schicksal, der Tyche, für drei Umstände seines Lebens gedankt habe, nämlich daß er als Mensch und nicht als Tier, daß er als Mann und nicht als Frau und drittens, daß er als Grieche und nicht als Barbar geboren worden sei. Der Tyche galt der Dank, da diese Göttin für alles zuständig war, was hier in der Welt ohne Zutun des handelnden Menschen geschieht. Trifft solches Geschehen den Menschen, dann hat er dies zu ertragen und zu erdulden, es ist das, was ihm zufällt, was Aristote-
150 les \ndexómenon bezeichnet und was mit dunatón, dem Möglichen, bedeutungsgleich ist.2 Diese Zufälligkeiten oder wie man in der Fachsprache zu sagen pflegt, diese Kontingenzen, sind für niemanden zu ändern – oder nur unter bestimmten Bedingungen abzumildern. und sie werfen dennoch die – wie es aus der Natur dieser Gegebenheiten folgt – nicht beantwortbare Frage des „Warum“ auf. Die durch diese Fragestellung sich ergebende Aporie kann zur prinzipiellen Überlegung geführt werden, ob nicht die erwähnten Kontingenzen als Teildeterminanten einer „vollen Weltdetermination“3 zu deuten sind. Dadurch wäre jedoch der Mensch derart in ein Netz von Kausalreihen eingebunden, daß er keinerlei Freiheit hätte und damit keine Möglichkeit zur Selbstbestimmung bestünde. Ein solches Netz mit seinen Zwängen beraubte den Menschen seiner Freiheit und nähme ihm die Verantwortung für sein Tun. Ohne die Problematik von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik aufzuwerfen, sollen lediglich einige Traditionslinien aufgezeigt werden, die die modernen Strategien der Lebensbewältigung mitgeprägt haben. „Wer über die Natur des Menschen etwas aussagen will, muß aus den unendlich verschiedenartigen kulturellen Ausformungen, in denen allein sich diese Natur ausspricht, auf die erblichen angeborenen Anlagen zurückschließen und nach phylogenetischen Erbschaften suchen, die das menschliche Verhalten aber nicht in festen Mustern ausformen, sondern nur angeborene Dispositionen ergeben“4. Wie in der Vielfalt phylogenetischen Erbgutes findet sich auch in den angeborenen Dispositionen eines Individuums eine fast unübersichtliche Variationsfülle als unveränderbare Gegebenheit. Dieser Strang von Determinanten erweitert sich nun fast ins Unermeßliche, wenn man die für jeden Menschen unumgängliche Phase seiner Erziehung bedenkt. In der Erziehung durchläuft der Mensch ja eine Zeit der mehr oder weniger stark gegebenen Formbarkeit, wobei verschiedenste Kräfte auf das heranwachsende Subjekt einzuwirken versuchen. Nicht ohne Grund haben
151 „alle Völker, die eine gewisse Stufe der Entwicklung erreichen, […] von Natur den Trieb zur Erziehung“5. Wenngleich die Erziehung in ihrer Eigenstruktur wiederum kontingenten Charakter hat – kein Kind kann sich die Erziehungsmethoden seiner Eltern und Erzieher aussuchen – so ist doch die Notwendigkeit von Erziehung überhaupt unbestritten. Umstritten ist jedoch die Wirkung und damit die Effizienz von Erziehung. Wenn Kant noch erklärt: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts als was Erziehung aus ihm macht“6, so ist diese Aussage wohl zu modifizieren. Zumindest beeinflußt die wohl vom Erbgut bedingte Möglichkeit der eigenen Mitarbeit des „Erziehungsobjektes“ den Erziehungsprozeß. Fraglich freilich bleibt, ob auch diese Faktoren und damit die Willensermöglichung selbst als biologisch bedingt unter die Kontingenzen zu rechnen sind. Weil der Mensch ein animal educandum ist, wird er in diesem Prozeß durch die Tradition der jeweiligen Kultur geprägt. Damit er als animal sociale leben kann, werden in dem von ihm selbst kaum beeinflußbaren Erziehungsprozeß die Grenzen seiner Selbstbestimmung gesetzt, die in den frühen Stadien einer Kulturentwicklung relativ eng sind. Diese Beschränkung und die damit durch die Herkunft fast schon vorgezeichnete Biographie des einzelnen Individuums scheint sich im Laufe der Kulturentwicklungen allmählich zu lockern und einem vom eigenen Willen abhängigen Prozeß der Eigengestaltung zu weichen. Überspitzt ausgedrückt weicht der Adel der Geburt dem Adel des Geistes und damit setzt ein aus der recognitio sui gesteuertes Selbstbewußtsein der als Last empfundenen Heteronomie die Grenzen und versucht den Bereich der Eigenentwicklung innerhalb der jeweiligen Gesellschaft zu erweitern. Aber auch dieses Selbstbewußtsein mit seiner jeweiligen Weltsicht ist kulturell mitgeprägt. In der westlichen Kultur wird die Last der Kontingenzen wohl auch deshalb so drückend empfunden, weil unsere Tradition eine Welt vermittelt, die im Prinzip verstehbar sein soll. „Es
152 ist die Idee einer Welt, in der wir verstehen können, warum etwas geschieht“7. Wir werden in eine Kultur hineingeboren, die die Ursachen und Bedingungen der Geschehnisse, vielleicht zwar erst in Zukunft, grundsätzlich aber als zumindest deutbar, wenn nicht begreifbar, annimmt. So scheint es nicht verwunderlich, wenn unser Selbstbewußtsein die Frage nach dem „Woher“ und dem „Wohin“ unserer eigenen Existenz, nach deren Gesetzen und Strukturen aufwirft. „Weiß nit woher, weiß nit wohin, mich wunderts, daß ich fröhlich bin“ – so umschreibt der Volksmund dieses Problem. Die Frage des „Woher“ und die des „Wohin“ ist nicht mit unserer Erkenntnisfähigkeit beantwortbar. Deshalb sind diese Fragestellungen Ausgangspunkt von Deutungen, die aus „außermenschlichen – menschlichen“ Quellen behaupten, Antworten zu finden. Alle diese Versuche, Kontingenzen aus dem Wirken der Transzendenz in der menschlichen Sprache zu erklären, sind von der historischen Situation der jeweiligen Kultur und dem entsprechenden religiösen Bewußtsein der Erklärer abhängig. Das kulturelle Gedächtnis8 verwahrt solche Erklärungen und Deutungen über lange Zeit und bildet damit eine oft über Jahrhunderte weiterwirkende Tradition. Diese Erklärungen weisen auf den metaphysischen Grund und werden in den Religionen zur Sprache gebracht. Damit erhält Religion im Rahmen der Lebensbewältigung ihre vornehmste, wenngleich auch schwierigste Aufgabe, nämlich die der Kontingenzbewältigung. Dabei haben sich Vorstellungen des Volksglaubens, also solche der indigenen Tiefenschicht der Religion, oft latent erhalten und die religiösen Erscheinungsformen weitgehend mitgestaltet. An ausgewählten Beispielen der griechischen Antike soll gezeigt werden, inwieweit das Bewußtsein von Schicksal und Zufall eine Art von religiöser Kontingenzerklärung gefunden hat. In diesem Zusammenhang muß man darauf aufmerksam machen, daß im griechischen Denken der Freiheitsbegriff zunächst nicht thematisiert wird und erst spät Reflexionen darüber greifbar sind. In der klassischen Zeit verbinden sich mit diesem Terminus fast nur politische Konnotationen. Wir beginnen mit einigen Bemerkungen zur Religion der vorklassischen Zeit.
153 Der Schicksalsbegriff in der vorklassischen Periode Die Götter Homers sind in ihrer anthropomorphen Gestaltung das Idealbild einer hierarchisch geordneten Adelsgesellschaft. So stellten sich die Menschen der homerischen Zeit ihre Götter vor und davon berichten ihre Erzählungen. Wahrscheinlich sind in diese Erzählungen viele uralte Traditionen aufgenommen worden. Diese Götter führen die Menschen oder kümmern sich um sie, wofür sie als Gegengabe den Vollzug bestimmter Riten fordern. Zeus lenkt diese Welt. „Durch ihn sind sterbliche Männer beides: namenlos oder mit Namen, berühmt oder ohne Ruf, nach Zeus, des Erhabenen, Willen“ sagt Hesiod.9 Für den adeligen Helden sind Ruhm und Ehre wie auch der Name ein wichtiges Zeichen von Macht und damit Grundlage des Selbstverständnisses des eigenen Standes.10 Die adelige Abkunft bildet dabei nur die Ausgangsposition für ein tatenreiches Leben. Das „Erbgut“ ermöglicht die Bewährung durch die Tat, fehlt diese, muß an der echten Abkunft gezweifelt werden. Athene formuliert daher in ihrer Aufmunterung an den Odysseussohn Telemach: „Hast du von deinem Vater die Lebenskraft (ménow) geerbt, bist du wie jener gewaltig an Worten und Tat, […] Bist du jedoch nicht Abkömmling von ihm und Penelope, dann verzweifle ich, du wirst nie das Beginnen vollenden“11. Die durch die Geburt gegebene Möglichkeit muß durch die eigene Tätigkeit verwirklicht werden und zwar in der für den Sterblichen festgelegten Lebenszeit. Denn daß dem Sterblichen nur eine begrenzte Zeit auf Erden geschenkt wird, ist den homerischen Helden selbstverständlich. Das schlimme Ende, der Potmos, das, was einem zufällt und als Todeszeitpunkt vom Schicksal bestimmt ist, wird bei Homer immer wieder erwähnt.12 Aber nicht allein über Geburt und Tod herrschen die Götter, sie sind es, die dem Menschen Glück und Erfolg wie auch Unheil und Leid bringen. Der Mensch selbst ist, „von allem, was auf Erden atmet und wandelt das gebrechlichste Wesen“13. Im Glück unbekümmert um etwaiges Unglück ist er stolz auf sich,
154 „aber, wenn die seligen Götter Leid bringen“, dann erträgt er dies „aufgezwungene Los mit duldendem Gemüt“14. Aus dem Potmos, dem homerischen Todeslos, entwickelt sich allgemein das Schicksal, von dem das Leben beherrscht wird. Potmos wird bei Pindar15 der „Herrscher, der die ‚Areta‘, die Kraft, verleiht“, von der man weiß, „daß die Zeit, die kriechende, sie ans vorbestimmte Ende bringt.“ Diese Zuversicht zeigt ein Vertrauen auf die göttliche Gabe des Schicksals, das über das „duldende Gemüt“ gleichsam durch den Potmos den Sieg davonträgt. Höchstes Glück erfährt der Mensch dann, „wenn das Schicksal Reichtum mit Weisheit paarte“16. Doch dies liegt im Ermessen des Gottes, „der gemäß seinen Wünschen jegliches Ziel erreicht“17. In diesem Sinne rechtfertigt Pindar in einem – nicht ganz unumstrittenen – Fragment die Recht setzende Gewalt im Mythos des Herakles. Wörtlich heißt es in diesem Fragment: „Nomos, der König von allen, von den Sterblichen und den Unsterblichen lenkt Recht setzend, das Gewaltsamste mit höchster Hand. Ich beweise es durch die Taten des Herakles“18. Damit spielt Pindar auf den Rinderdiebstahl des Herakles an, der gegen das Recht geschieht. Aber dies ereignet sich im göttlichen Bereich, den zu kritisieren der Dichter sich scheut, denn er will „ganz von dem schweigen, was Zeus minder genehm ist“19. Doch die menschlichen Schicksale bieten eine stete Veränderung vom Guten zum Schlechten und umgekehrt. „Geben doch Frucht weder die Äcker, die schwarzen, noch auch die Bäume wollen in jedem Umlauf des Jahres die wohl duftenden Blüten tragen in gleicher Fülle, sondern sie wechseln. So auch führt das Schicksal, die Moira, das sterbliche Volk; von Zeus aber kommt den Menschen kein deutliches Zeichen“20. Nach Pindar muß also der Mensch das wechselnde Geschick ertragen, ohne daß er eine Erklärung dafür von Zeus erwarten kann, ja es kommt von ihm „keine Verheißung, keine erkennbare Weisung“ (tékmar). Der Mensch muß sich mit dem Wechsel des eigenen Loses abfinden, denn er ist seinem Wesen nach \pámerow. Dieser Begriff ist kaum mit einem deutschen Wort zu
155 übersetzen, denn er bedeutet etwas, das von Tag zu Tag kommen kann, oder was die von Tag zu Tag sich einstellende Veränderung erleidet, oder was nur einen Tag lebt. In diesem Sinne übersetzt Fränkel den berühmten Vers aus Pindars 8. pythischer Ode (8,95): „Tageswesen; was ist man, was nicht? Eines Schattens Traum ist der Mensch“21. Dabei ist nicht mitbedacht, daß der Mensch als Tageswesen nur für einen Tag bisweilen vorsorgt oder sich täglich verändert oder aber in sich stets verwandelnde Situationen gerät und seine Nichtigkeit überspielt und damit sich selbst nicht wirklich zu erkennen vermag. Oder aber der Mensch ist ein „Eintageswesen“ also ein ganz kurzlebiges Wesen, dessen Kraft, wie wir oben hörten, die Zeit zu Ende bringt, und der deshalb mit der Irrealität des Traumes eines Schatten verglichen werden kann. Diese kurze Zeit gibt die Moira vor. Moira ist zunächst ebenso wie das homerische aÂsa, in dem die Wurzel von Êsow steckt, im Sinne von meríw als „gleicher Anteil am Opferfleisch“ zu deuten und in dieser Bedeutung noch lange gebräuchlich.22 Wie Moira und Potmos hat auch Tyche, die Göttin des Schicksals, das den Menschen trifft, eine ambivalente Konnotation. Daher ist sie sowohl Göttin des Glücks als auch die Göttin, die dem Mensch Unglück schickt. Tyche ist als Schicksalsgöttin von der Dichtung viel öfters für unerklärliche Ereignisse und Glücksfälle in Anspruch genommen worden als Potmos. Pindar hat der Tyche eine eigene Ode gewidmet und feiert darin die Göttin als Retterin, sQteira, als Beschützerin, die diese Eigenschaft als Tochter „des befreienden Zeus“ besitzt.23 Alle Tätigkeiten der Menschen werden von ihr gelenkt, seien es die „schnellen Schiffe“ oder „die schlimmen Kriege“ oder die „Ratsversammlungen“. Aber die Menschen können das Wirken der Göttin nicht begreifen, denn „noch keiner der Sterblichen fand über künftiges Tun ein sicheres Zeichen von Gott her. Blind für die Zukunft ist jegliche Klugheit. Oftmals täuscht der Erfolg die Erwartung der Menschen, Freuden vereitelnd und wer gekämpft gegen widrige Stürme, tauscht für Leid in kurzer Zeit
156 tiefes Glück“24. Aus solchen Vorstellungen entsteht dann das Bild vom blinden Zufall und vom schnell wechselnden Schicksal, das die auf einer Kugel stehende Tyche, da sie keinen festen Stand haben kann, verursacht. Fast parallel zur Vorstellung von Potmos, Tyche und Moira, entwickelt sich der Mythos von den drei Moiren. Aus der aÂsa, der Schicksalsgöttin, die dem Achill bei seiner Geburt den Lebensfaden zuspinnt,25 und dann in der Odyssee mit Spinnerinnen genannt wird,26 werden die Moiren. Wahrscheinlich aus der dreifaltig vorgestellten Mondgöttin vorgriechischer Tradition entwickelt27, teilen sie ihre Gaben zu und gestalten Leben. Als Schicksalsgöttinnen sind sie drei Schwestern – vielleicht auch Töchter der Nacht –28 Klotho, Lacheris und Atropos.29 Klotho, die Spinnerin, spinnt den Lebensfaden, den Lacheris, die Zuteilerin für die einzelnen Menschen bestimmt, während Atropos, die Unabwendbare, die Aufgabe hat, den Lebensfaden abzuschneiden. Die Ausgestaltung dieser Göttinnen ist das Werk der Dichter, die dabei auf alte Traditionen zurückgreifen. Erst Platon30 stellt mit seinem großartigen Bild der Weltspindel der Notwendigkeit die drei Schwestern in einen kosmischen Zusammenhang und begründet damit eine Tradition, die über die Antike hinaus wirkt. Doch bevor wir näher auf Platon und seine Vorstellung vom Schicksal eingehen, soll die Dichtung, besonders aber die griechische Tragödie kurz gestreift werden. Solons Vorstellung über göttliches Eingreifen in diese Welt gilt dem Zusammenleben der Menschen. Er leitet dabei eine Entwicklung ein, die mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit in die Welt der griechischen Tragödie führt.
Das „Eingreifen“ der Götter in die immanente Welt bei Solon und in der Tragödie Daß Zeus „auf das Ende von allem sieht“ ist für Solon unbezweifelbare Gewißheit. Daraus leitet er sein Vertrauen auf die
157 Gerechtigkeit ab. Die Menschen erkennen den Zusammenhang von Schuld und Sühne nicht richtig. Die irdische Strafe folgt nicht immer unmittelbar auf ein Verbrechen. Zeus aber straft die Übeltäter; freilich: „Nicht bei jedem bißchen wird er nach Art der Sterblichen zornig und heftig erregt. Nie entgeht ihm jedoch, wer listigen Sinnes frevelt […] [Denn] die Götter allein schenken bleibendes Gut, aber auch Verhängnis kommt von ihnen, wenn Zeus dieses als Strafe schickt, rings auf der Erde umher“31. „Die Moira, [das Schicksal] ist es, die den Menschen Schlechtes bringt und Gutes und unentrinnbar ist, was Götter geben, die unsterblich sind“32. Dieses unbedingte Vertrauen auf göttliches Eingreifen in die Welt der Menschen, steigert Aischylos, für den Zeus „in seinem [des Dichters] Denken hoch über den olympischen und doch so menschlichen Göttervater des Epos emporstieg, zum Hort des Rechtes, zum Sinne der Welt überhaupt“33. Den Gedanken Solons, daß die Götter oder auch Zeus eine Schuld oft erst an Kindern und Kindeskindern bestrafen, differenziert Aischylos. Er sieht – ähnlich wie im Alten Testament – Schuld im Zusammenhang mit der Vorstellung des Fluches, der auf einem Geschlechte ruht. Dabei werden nicht etwa Unschuldige bestraft, sondern die Auswirkung des Fluches läßt verschiedene Generationen eines Geschlechtes durch eigenes Handeln schuldig werden. Der Mensch ist am „Jochriemen der Notwendigkeit“34 festgebunden, wobei diese der göttlichen Ordnung des Kosmos entspringt, wie die Urkraft des Eros, die Leben und besonders menschliches Leben erst ermöglicht. Diesen Gesetzen muß der Mensch sich unterordnen, wie alles Leben.35 Gegenüber der Notwendigkeit aber ist der Kunstgriff machtlos, „die Moiren“ führen das „Steuer der Notwendigkeit.“36 Ein Verständnis für diesen Zwang aufzubringen, ist für den Menschen schwierig, „denn des Zeus’ Entschluß aus Neigung ist nicht einfach zu ergreifen, wirft er auch hellen Schein durch alle Nacht, so verdunkelt ihn mit schwarzer Düsternis die Schicksalsgöttin, die Tyche.“37 Hat bei Aischylos des Menschen Geschick und besonders
158 sein Leiden eine, wenn auch nur schwer zu begreifende Erklärung, etwa aus eigener oder der Vorfahren Schuld, gefunden, so ist für Sophokles das irdische Geschehen durch die Götter so gestaltet, daß dem Menschen kein Einblick in die Gründe der Götter möglich ist. Die Frage nach der Kontingenzbewältigung wird nur indirekt gestellt und von den ethischen Normen abgeleitet. „Die anständigen Menschen lieben die Götter, die schlimmen hassen sie“, sagt Athene zu Odysseus.38 Betroffen vom Schicksal des mit Wahnsinn geschlagenen Aias sieht Odysseus darin ein Beispiel des eigenen Loses, denn ähnlich wie Pindar39 spricht er vom Menschen als von einem „flüchtigen Schattenbild“40. Deshalb darf der Mensch, so gewaltig seine Fähigkeit auch ist, sich nie gegen den göttlichen Nomos, gegen das Gesetz unter dem er steht, vergehen: Im erfindenden Geiste Nimmer verhoffter Dinge Meister Geht er die Bahn, so des Guten Wie des Bösen; Hält er hoch Gesetz der Heimat und der Götter beschworene Rechte Volkes Zier: Volkes Fluch Wem des Guten Widerspiel Sich gesellt in Empörung.41
Diesem Ordnungsgefüge sind die Helden bei Sophokles unterworfen und sie können nur wie Aias sagen: „Ich werde dorthin gehen, wohin ich gehen muß“42. Das Schicksal ist festgelegt und der Götterfluch wie auch die Göttergaben sind unabwendbar und für den Menschen ohne Gründe. In ähnlicher Festlegung durch die Vorgeschichte seiner Geburt und seines Geschlechtes erleidet bei Euripides Herakles sein Leid. Von Hera mit Wahnsinn geschlagen, tötet er seine eigenen Kinder. Nun aber zeigt der Dichter eine neue bis dahin in der Tragödie nicht gestaltete Bewußtseinshaltung. Durch seinen Freund Theseus, der ihn aus seinen Selbstmordgedanken, seiner unermeßlichen Trauer und seinem Schuldbewußtsein herauszuführen sucht, kommt Herakles zur Götterkritik und zum Widerstand gegen das Schicksal. Theseus ruft ihn auf zum Kampf
159 gegen „Zeus’ Gemahlin“ und bringt die „Untaten“ und unrechtmäßigen Liebschaften der Götter vor, was Herakles zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der homerischen Götterwelt führt: „Doch daß die Götter unrecht Lager lieben, glaub ich nicht, daß Fesseln sie um Hände legen, hielt ich nie für wahr, noch auch daß einer eines anderen Gottes Herr ist. Gott nämlich bedarf, wenn wirklich er ein Gott ist, nichts.“43 Das Vertrauen in die Götterwelt der Dichter ist einem philosophischen Gottesbegriff gewichen und mit dem Widerstand gegen den vorbestimmten Schicksalslauf, dessen Zwang auch für Herakles gilt, führt Euripides, sozusagen auf der Bühne, den ersten Schritt zu einer, wenn auch beschränkten, Autonomie vor. Die Verläßlichkeit der einem Gotte zugesprochenen Orakel weicht dem kritischen Zweifel. Orest stellt fest: „O Phoibos, du verkündigst wirklich viel Unverstand“44. Der Prägekraft von Abkunft und Geburt wie dem durch göttliche Einwirkung gestalteten Lebenslos vertraute Euripides in seinen frühen Werken fast ohne Einschränkung. Die Anlage war das Prägende im Menschen. „Einen schlechten Menschen kann niemand, auch wenn man ihn gut pflegt und hegt, zu einem brauchbaren Menschen machen“45 heißt es in einem Fragment aus dem nicht erhaltenen Drama Phoinix. Später jedoch – vielleicht unter dem Einfluß der Sophistik – erkennt Euripides der Erziehung ein weitaus größeres Gewicht zu: „Die Tüchtigkeit des Mannes ist erlernbar, wenn das kleine Kind in den Dingen zu sagen und zu hören unterrichtet wird, wovon es keine Kenntnis hat; und was man gelernt hat, das pflegt erhalten zu werden bis ins Alter“46. Diese Sinnesänderung kann als Versuch gedeutet werden, die Kontingenz der Abstammung durch Paideia in gewisser Weise erträglicher zu machen. So versucht Euripides zum einen die Determinanten der Geburt zu entschärfen und zum anderen löst er durch die Kritik an der homerischen Götterwelt47 die Absolutsetzung der göttlichen Vorbestimmung eines Lebenslaufes auf. Diesen Prozeß der Aufklärung erweitert die Philosophie Platons.
160 Platons Vorstellung von der Schicksalsmacht Hatte Euripides bereits den Versuch unternommen, die absolute Vorbestimmung in Frage zu stellen und dem menschlichen Handeln damit Verantwortung zu geben, so bleibt für ihn das Schicksal dem Wesen nach unberechenbar und der menschlichen Logik uneinsichtig. Der „Götterwille“ scheint zu dominieren.48 Platon spricht zwar im oben genannten Bilde der Spindel der Notwendigkeit von der Vorbestimmtheit der Lebenslose durch die Moiren, aber im weiteren Verlauf der Erzählung von der Zuteilung der Seelenlose im Ermythos wählen die Seelen ihr Lebenslos selbst. Dabei wird ausdrücklich gesagt, daß die Gottheit bei dieser Wahl nicht beteiligt ist. „Gott ist schuldlos, Schuld haben die Wählenden.“49 In den Nomoi wird dieser Ansatz der Selbstbestimmung erweitert. „Daß zwar Gott und in Verbindung mit ihm die Tyche, [das Schicksal] und der Kairos, [der richtig gewählte Zeitpunkt] alle menschlichen Angelegenheiten regeln [ist das eine,] daß aber bei weniger schroffer Auffassung zuzugeben ist, daß als ein Drittes menschliches ‚Können‘ hinzukommen muß“ ist das andere.50 Dieses menschliche „Können“ ist die téxnh, die auf der Tüchtigkeit, der ˙ret}, beruht und als solche einer „göttlichen Gabe“, also einer Gnade, zu verdanken ist, denn sie ist yeíŸ moírŸ, was man auch mit „durch die göttliche Moira“, also durch die Schicksalsgöttin bestimmt, übersetzen kann.51 Doch die irdischen Verhältnisse trüben solche Gottesgaben, deshalb gibt es hier keinen Staatsmann, der „Zeit seines Lebens dem Gemeinwohl als dem unbedingt obersten Interesse zu dienen“ imstande wäre.52 Vielmehr wird seine „Menschennatur ihn immer zur Habsucht treiben und zum selbstsüchtigen Handeln“53. Platon spielt in diesem Zusammenhang mit der Utopie eines Staatsmannes, der nur das Staatsinteresse kennt. Ein solcher Fall könnte nur durch göttliche Schicksalsgabe eintreten, in der Welt des Werdens ist dies jedoch nicht vorstellbar. Käme ein solcher durch Gottes Gnade, bräuchte er als von Gott gesandt keine Ge-
161 setze für sein Handeln.54 Deshalb muß man Staatsmänner, die unter irdischen Bedingungen „durch ihre Ratschläge so manche Angelegenheit in die richtige Bahn lenken“ „göttlich“ nennen. Sie sind nämlich – wie Wahrsager und Dichter – „berührt vom Hauche der Gottheit und von des Gottes Macht ergriffen“55. Sie verdanken ihren Erfolg göttlicher Eingebung. Nur eine solche Beziehung zur göttlichen Welt, zur Welt der ewigen Ideen, führt zum gewünschten Ziel. Deshalb zielt jede richtige Erziehung auf die Annäherung an diese göttliche Sphäre. Erziehung muß also versuchen „die der Seele innewohnende Geisteskraft und das Organ, mit dem jeder lernt, zusammen mit der ganzen Seele aus der Welt des Werdens herumzudrehen bis sie fähig wird, den Blick in das Seiende, ja in das Hellste des Seienden, auszuhalten“56. Diese Zielvorstellung gilt für den Idealfall, für den erst noch geeignete Lehrer zu finden sind. Vorerst müssen die durch ihre Erkenntnis des Wahren dafür geeigneten Philosophen diese Dienste leisten, die deshalb verpflichtet sind aus der Welt des wahren Seins in die Düsternis der Welt des Werdens zurückzukehren. Die Veranlagung zum Erlangen der auf der Arete, der Tüchtigkeit, beruhenden Fähigkeiten bleibt im Kontingenzbereich: es ist die göttliche Moira, die der Mensch bei seiner Geburt als Schicksalsgabe erhält. Wenn Diotima im Symposion57 die vergöttlichte „Schönheit als Schicksals- und Entbindungsgöttin über die Geburt walten“ läßt, so mag damit vielleicht das Faktum der Konzeption und der Geburt angesprochen sein, die Möglichkeit des Mißlingens von Lebensläufen ist dabei nicht bedacht. Die Sorge um das Wohl des eigenen Selbst, also um das Seelenheil, bleibt dem Einzelnen überlassen. Er hat sich um die Ertüchtigung seiner Seele zu kümmern. Diese Aufgabe des Menschen stellt bereits die Paideia vor Schwierigkeiten. Nicht jeder ist in der glücklichen Lage wie ein persischer Prinz, der nach der sicher idealisierten Schilderung im wohl platonischen Alkibiades die in den vier Tugenden, Weisheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit, je besten Perser zu Erziehern hat.58
162 Für Platon ist das Sich-um-die-Seele-Kümmern sozusagen eine Lebensaufgabe, denn nur durch die Fürsorge um sein eigenes Selbst kommt man zur Selbsterkenntnis, die –, wie im Augengleichnis dargelegt wird,59 – nur in der Erkenntnis des anderen seiner selbst möglich ist. Denn die Seele muß „wenn sie sich selbst erkennen will, vor allem in den Teil der Seele blicken, dem ihre beste Kraft, die Weisheit angehört“, und dazu benötigt sie eine gleichartige Seele als Spiegel, nur so „blickt einer auf das Göttliche der Seele und erkennt so Gott“.60 Die Selbsterkenntnis zusammen mit der Besonnenheit läßt uns die eigenen Mängel und Vorzüge erst erkennen.61 Der Erkenntnisakt führt als Ergebnis zur Selbstbewertung und zum möglichen Einordnen der eigenen Person in die Gemeinschaft der Polis, was gleichsam die Grundlage für ein geordnetes und gerechtes Leben darstellt. Ein „gerechtes“ Leben erträgt die Kontingenzen dieser Welt und damit alles das, was man als gebührenden Anteil vom Schicksal empfangen hat. Aus dem dafür gebräuchlichen Verbum meíromai hat man deshalb Heimarmene als weiteren Begriff für Schicksal abgeleitet. So kann Platon Sokrates sagen lassen, daß „nach einem gerechten Leben ein Mensch bereit sei, die Wanderung in den Hades anzutreten, sobald die Heimarmene, das Schicksal, ruft“62. Er kann dann ohne Furcht vor den Totenrichter treten und darf die Sorge „um sein Leben der Gottheit überlassen und dabei der Weisheit der Frauen vertrauen, die da sagen, daß niemand der Heimarmene entrinnen kann“63. Wenn Sokrates bei Platon mit den Aussagen über die Gerechtigkeit vor dem Totenrichter oder über die Hadesreise der Seele mythische Bilder verwendet, so ist dabei vorausgesetzt – und das gilt für Heimarmene, Moira oder Tyche –, daß die mythische Erzählung die dem Einzelmenschen ermöglichte „gerechte“ Verhaltensform besser berücksichtigt. „Weder idealisierte Normen noch in irgendeiner Weise im Geist erschaute Gegenstände sind Beispiele für das, woran man sich nach Platon orientieren kann, um zu erkennen, was wirklich gerechtes, tapferes, besonnenes (u.s.w.) Handeln ausmacht“64. Gerechtes Handeln oder allge-
163 mein tugendhaftes Verhalten bleibt dabei auf die Veranlagung des Einzelnen bezogen. Wie schwierig dies ist, zeigt Platon in der Politeia.65 Deshalb bleibt bei all diesen Bildern jener Rest des Unergründbaren, was man „modern“ Kontingenz genannt hat. Den Mythos aber setzt Platon dann ein, wenn er die innere Ordnung des Geschehens zeigen will. In diesem Sinne findet Kontingenzbewältigung mit den Mitteln der Erziehung statt. Der Mensch, der sich um sein Seelenheil gekümmert und durch Erziehung und echte Eigenvorsorge ein gerechtes Leben geführt hat, kann eben „sein Leben der Gottheit überlassen“66. Diese Art von Kontingenzinterpretation konnte natürlich nur dann angenommen werden, wenn die Voraussetzungen philosophischer und zwar platonischer Weltsicht als verläßliche Wahrheit akzeptiert und gegen jeglichen Zweifel abgeschirmt waren. Doch bereits der große Platonschüler Aristoteles zieht seine eigene Wahrheit der Auffassung seines verehrten Lehrers vor,67 woraus sich früh das Sprichwort entwickelt: „amicus Plato, sed magis amica veritas“.
Schicksal und Zufall in der nachplatonischen Tradition Aristoteles sieht die Aufgabe der philosophischen Ethik darin, aufzuzeigen, was das eigentliche Glück des Menschen sei, das er Eudaimonia nennt. Dabei greift er auf die Vorstellung zurück, daß dem Menschen ein göttliches Wesen, ein Daimon, beigesellt sei, der über sein Leben wacht.68 E[daímvn ist zunächst fast gleichbedeutend mit ªlbiow (glücklich) und bezeichnet den Zustand, der dann eintritt, wenn der Daimon „gut gibt“. Daimon entspricht dabei fast Tyche mit einem Gradunterschied, denn Tyche meint das gute Gelingen.69 Aus alter Tradition stammt die Vorstellung, daß den Menschen „bald diese, bald jene Dämonen begleiten, einige, um Menschen vom herannahenden Bösen zu befreien,
“70. Der
164 individuelle Daimon eines Menschen hat in der Seele „seinen Wohnsitz“71, steuert also das, was man – modern ausgedrückt – das Bewußtsein nennt. Schon Heraklit hat im Charakter des Menschen, in dem ihm mitgegebenen Zustand, gleichsam die Wurzel seiner Biographie seines Schicksals gesehen und sagt deshalb: „Seine Wesensart wird dem Menschen zum Daimon“. Er interpretiert die „bleibende Verfassung, in die sich der Mensch selbst bringt“ als prägendes Moment seiner je eigenen Zukunft. Dieses Fragment72 zeigt, daß Heraklit bereits ein fast autonomes Menschenbild hatte, das sich jedoch gegen die Erfahrung der Alltagswelt nicht durchsetzen konnte.73 Das allgemeine Bewußtsein blieb weiterhin durchgriffen vom mythischen Denken, das im Göttlichen die nicht zu hinterfragende Instanz der kosmischen Ordnung sah. So kennt zwar Xenophon die durch die Sophistik ausgelöste Kritik an der göttlichen Fügung menschlicher Schicksale, ist aber persönlich von der göttlichen Weltregierung überzeugt, die durch Orakel, Träume und Zeichen zu den Menschen spricht und in menschliche Schicksale eingreift.74 In abstrakterer Form schildert Hypereides (390-322) die Ziele der Menschen, wenn er den Tod verneint und feststellt, daß die Menschen, wenn sie das irdische Leben „verlieren“ dieses nur eintauschen „mit einem Leben in der göttlichen Ordnung.“75 Rationaler sieht Aristoteles die Relation von Menschen und Göttern. Wie es keine Möglichkeit gibt, die Differenz Mensch und Tier zu überwinden, so kann auch der Unterschied von Gott und Mensch nicht aufgehoben werden.76 Doch verfügt der Mensch über die Fähigkeit durch Steigerung seiner Arete, diesen Abstand möglichst gering werden zu lassen. Aristoteles trennt daher bei seinen Reflexionen über das menschliche Glück äußere Güter und Arete. Die Tüchtigkeit muß der Mensch sich erarbeiten: „Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter Trefflichkeit tätig und dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausgestattet ist.“77 Die Eudaimonia hängt damit von der kontingenten Situation
165 ab, die mit „äußeren Gütern“ umschrieben ist. So läßt sich vielleicht erklären, warum Aristoteles das volle Glück, das er makarióthw nennt und den Göttern vorbehält, von der Eudaimonia, dem Glück der Menschen, unterscheidet. Götter bedürfen der irdischen Güter nicht, welche die Menschen zur Eudaimonia nötig haben.78 Die Frage, warum deshalb ein Sklave der vollkommenen Eudaimonia nicht teilhaftig werden kann, wird nicht gestellt, da auch die Mächtigen, wie das Beispiel von Kroisos zeigt, die Voraussetzungen zur Eudaimonia verlieren können. Dahinter steckt die Vorstellung, die aus der allgemeinen Erfahrung stammt, daß diese Kontingenzen für die menschliche Erkenntnis unerklärlich sind. Deshalb bleibt in der allgemeinen Vorstellung die Aussage des Euripides lebendig, daß nämlich die Tyche stärker sei als alle Götter.79 Wie weit verbreitet dieser Glaube an die Allmacht dieser Göttin war, zeigt die späte Zusammenstellung derartiger Gedichte über das Walten der Tyche des Stobaios. Daraus soll hier nur ein Beispiel zitiert werden: „Tyche, Anfang und Ende der Sterblichen, du nimmst ein der Weisheit Sitze und gibst den Werken der Sterblichen Ehre; mehr des Guten als des Bösen kommt von dir, Anmut umleuchtet deine goldenen Fittiche, und was durch deine Waage gegeben worden, zeigt sich als ganz holdselig. Du kennst den Weg in den unausweichlichen Schmerzen und glänzendes Licht führst du in der Finsternis, du vorzüglichste der Götter.“80 Aus dieser eher positiven, einem Hymnus entsprechenden Lobpreisung wird in hellenistischer Zeit eine negative, weil unberechenbare göttliche Instanz, die für das menschliche Unglück81 zuständig ist und insofern eine Art Entlastunginstanz für menschliche Fehler und politische Katastrophen darstellt. So soll, wie Polybios82 überliefert, Demetrios von Phaleron (ca. 350-283) aus dem blinden Walten der Tyche geschichtsphilosophisch die jeweilige Zerstörung der irdischen Reiche abgeleitet haben. Dieser Schicksalsglaube muß sich bisweilen zu einer Art von Fatalismus entwickelt haben. Nur daraus läßt sich erklären, daß Epikur den Rat gegeben haben soll, eher auf die
166 Bitten an die Götter zu vertrauen, als sich dem blinden Glauben an ein Schicksalslos hinzugeben. Denn dann bestehe für die Bittenden wenigstens noch die Hoffnung auf Erhörung.83 Die stoischen Philosophen binden ihre Reflexionen über das Schicksal in ihre Logosspekulation ein. Chrysipp sucht – modern gesprochen – geradezu nach einer „Weltformel“. Dazu nimmt er den vorsokratischen Begriff der Heimarmene und dessen Tradition in seine Interpretation des Logosbegriffes auf. Heimarmene ist für ihn der Logos des Weltalls84, die überirdische Gesetzesordnung, „nach der das, was vergangen ist, geschah und das, was geschieht, läuft nach dieser Ordnung ab und das, was geschehen wird, ist nach ihr gestaltet“85. Chrysipp überbietet damit den berühmten Hymnus des Kleanthes an Zeus86, indem er durch Abstraktion aus dem Gotte ein Naturgesetz, den Logos, konstruiert, der die gesamten Determinanten des Kosmos enthält. Kleanthes wählt noch die Gebetsform bzw. den Hymnus, wie er bei Gottesdiensten gesungen wurde, und stellt Schicksal und Zeus nebeneinander, wenn er dichtet: „Zeus, führe mich, mein Schicksal, führe mich zu meinem Ziel, wie ihr es mir bestimmtet. Ich folge willig. Sträubt’ ich mich, so wär’ es Feigheit und Sünde – und folgen müßt’ ich doch.“87 Nach dem Zeugnis des Kirchenlehrers Hippolyt hat Chrysipp zur Verdeutlichung dieser Schicksalsdominanz folgendes Bild benutzt. Der Mensch sei mit einem an einem Wagen angebundenen Hund zu vergleichen. „Wenn dieser folgen will, wird er [mit dem Wagen] gleichzeitig mitgezogen und läuft so freiwillig; will er aber nicht folgen, so wird er doch unter allen Umständen gezwungen mitzulaufen. So geht es auch den Menschen. Wenn sie sich nicht fügen wollen, werden sie doch unter allen Umständen dorthin zu gehen gezwungen, wohin das Schicksal es bestimmt hat.“88 Wenn nun alles vorbestimmt ist, dann „ist es einsichtig, daß die Götter die Zukunft vorauswissen, denn es wäre unsinnig, zu behaupten, jene kennten irgendetwas dessen, was eintreten wird, nicht.“89 Aus dieser Interpretation des Verhältnisses von Göttlichem und Menschlichem entwickelt sich später die Lehre
167 von der Allwissenheit Gottes und von der Prädestination der Gläubigen, wie sie das Christentum bestimmter Prägung aus der Tradition des Deuteronomium entwickelt. Aus der stoischen Lehre von dem Vorherwissen der Götter von allen Geschehnissen erhält zumindest in der hellenistischen Zeit die Mantik ihre Begründung, denn „die Voraussagen der Seher wären nicht wahr, wenn nicht alles von der Heimarmene umgriffen wäre“90. Da Chrysipp die Mantik als Fähigkeit definiert, „die Zeichen zu erkennen, zu verstehen und zu deuten, die den Menschen von den Göttern als Wahrsagungen gegeben werden“91, kann er darauf eine Art „Gottesbeweis“ aufbauen: Denn „Wenn es von etwas ‚Erklärer‘ gibt, so ist es gewiß notwendig, daß es dieses Etwas selbst auch gibt.“92 Die Probleme der Zukunft einerseits, andererseits aber auch die Entscheidungen der Gegenwart wurden durch Zeichendeutung beeinflußt. Mantik und Orakeldeutung spielen bei der Aufgabe der Kontingenzbewältigung eine für uns kaum zu ermessende Rolle. Wunderbare Geschichten werden von den Voraussagungen der Orakel und den Deutungen der Priester erzählt, wobei nicht nur Probleme des Privatlebens, sondern auch politische Entscheidungen von Orakeldeutungen nicht nur beeinflußt, sondern manchmal sogar durch sie getroffen werden. Die darüber berichtenden Zeugnisse vor allem die nun entzifferten Inschriften zeigen das Gewicht solcher Orakelsprüche.93 Kritik an derartigen Weissagungen setzt relativ spät ein. Epikur hat sich gegen die Mantik ausgesprochen,94 argumentativ hat Karneades versucht, die Unmöglichkeiten von Prophezeiungen zu erweisen. Cicero hat uns diese Schlußfolgerungen überliefert.95 Verkürzt ergibt sich für Karneades dabei folgendes: Wenn alles nach vorangehenden Ursachen geschieht, ist es die Notwendigkeit, die alles bewirkt. Wenn dies wahr ist, steht nichts in unserer Entscheidungsmacht. Nun liegt aber etwas in unserer Entscheidungsmacht. Also geschieht nicht alles aufgrund des Fatums. Da aber alle den menschlichen Bereich berührenden Ereignisse nicht determiniert sind, kann Karneades sagen: „Nicht
168 einmal Apoll könne Aussagen über die Zukunft machen, außer in den Fällen, in denen die Ursachen so fest in der Natur gegründet seien, daß die Folge mit Notwendigkeit eintrete.“96 Karneades räumt so dem Menschen einen Entscheidungsfreiraum ein und vermeidet die Schwierigkeiten, in die Chrysipp durch seine Lehre von der Determination allen Geschehens gerät. Nur mit „Hilfskonstruktionen“ kann dieser Probleme des verantwortlichen Handelns oder etwa die Frage der Theodizee angehen, kommt aber zu keiner angemessenen Lösung. Es bleibt ein Ausweg in den Mythos, wenn Chrysipp versucht, Naturkatastrophen als Straf- oder Ordnungsmaßnahmen Gottes zu erklären.97 Freilich geht der Philosoph damit auf eine seit eh und je vorhandene Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit ein und bedient sich eines Modells der Kontingenzbewältigung, das auf eine transzendente Ursache als moralische Instanz zurückgreift, wie es die christlichen Kirchen bis weit in die Neuzeit ganz selbstverständlich zugrundelegen. Ein weitaus gravierenderes Problem stellt die durch den rigorosen Determinismus des Chrysipp entstandene Aufhebung der menschlichen Verantwortung dar. Sein Ansatz, verschiedene Ursachen als Auslöser für eine Handlung anzunehmen, kann das Dilemma nicht beheben. So hat bereits Cicero und dann Plutarch auf die logische Inkonsequenz Chrysipps bei der Behandlung dieses Problems hingewiesen.98 Freiheit kann es im System des Chrysipp nicht geben. Die Aussage, daß der Weise allein frei sei, weil er „ein Leben führen könne gemäß der auf Erfahrung beruhenden Kenntnis dessen, was sich von Natur aus ereignet“99, bedeutet im Grunde, daß ein solches Leben nur ein Wesen mit überirdischer Kenntniskraft, nicht aber ein Mensch führen kann. Doch mit der Aussage, „allein der Weise ist frei“, ist für die folgenden Jahrhunderte ein Dauerthema der philosophischen Auseinandersetzung angesprochen worden.100 Im Rückgriff auf die platonische Unterscheidung von Situationen und Gegebenheiten die in unserer Gewalt sind und solchen, die wir hinnehmen müssen, weil wir sie nicht ändern kön-
169 nen, gibt die pseudoplutarchische Schrift über die Heimarmene der menschlichen Freiheit innerhalb der dem Menschen gesetzten Möglichkeiten Raum.101 Mit dieser Unterscheidung ist die bis heute relevante Frage aufgeworfen, inwieweit der Mensch denn wirklich „Herr im eigenen Haus“ ist. Dabei wird diese Frage immer noch unter der Voraussetzung gestellt, daß die Welt verstehbar und menschliches Handeln dann richtig sei, wenn es vernunftgeleitet ist und damit der rationalen Struktur des Kosmos entspricht, die auch die Grenzen menschlicher Freiheit bestimmt. Mit dieser im Prinzip griechisch-platonisch geprägten Weltsicht kommt zunächst wohl hauptsächlich in Alexandria eine anfangs sicher noch in sich geschlossene Gruppe von Juden in Berührung, die im Gegensatz zur alexandrinischen Umwelt nach ihrer Buchreligion lebt. In ihren heiligen Schriften ist das Alltagsleben geregelt und zwar durch Weisungen eines personal gedachten Gottes, als dessen auserwähltes Volk sie sich verstehen. Aus diesem Bewußtsein resultiert die Selbstverständlichkeit ihres Gehorsams gegenüber den göttlichen Weisungen. „Wissen und Weisheit“ kommen bei ihnen nicht aus dem menschlich geistigen Erkenntnisstreben, sondern „aus steten Versuchen, Gottes Willen besser zu erfassen und setzen den Akt des Gehorsams oder Vertrauens als Anfang voraus (z.B. Ps. 40,9; 119,97)“.102 Deshalb gilt jeder amoralische Akt als Sünde. Sünde bedeutet in diesem Sinne eine Absonderung von Gott, durch die sich der Sündigende der Gemeinschaft der von Gott Auserwählten entzieht. Menschliche Handlungen beruhen immer auf einer Willensentscheidung. Dabei stellt man sich vor, daß der Mensch zwischen einer guten und einer schlechten Handlung zu wählen hat. Die Entscheidung ist nicht mehr schicksalsbedingt, sondern wird als freier Akt gesehen. Die Entscheidung selbst wird dabei oft auf zwei gegensätzliche Seelenkräfte im Menschen zurückgeführt, oder aber – wie im Testament des Judas103 – auf zwei im Widerspruch zueinander stehende Geistwesen, denen sich der
170 Mensch zuwendet. Der Mythos der Engelwesen und ihres Abfalls von Gott in der Schilderung des Engelsturzes bildet vielleicht den Ausgangspunkt dieses Dualismus, der in der Diskussion ethischer Entscheidungen über das Mittelalter hinaus gewirkt hat.104 Die Entscheidung für die Macht des Bösen wird in diesem Sinne als Abfall von dem alles besorgenden Gott gewertet. Die platonische Maxime: „Schuld hat nur der Wählende“ trifft nun den Sünder. Wie schwierig es ist, diese Sicht von Welt und Gott, Mensch und Schicksal mit den griechisch-philosophischen Weltinterpretationen und ihrer Grundannahme der Rationalität allen Seins in Übereinstimmung zu bringen, zeigt das Werk Philons des Alexandriners und – oft in Abhängigkeit dieses hochgebildeten hellenistischen Juden – die Mannigfaltigkeit der Versuche der frühen Patristik. Die frühe Theologie des Christentums expliziert zwar den jüdischen Gottesbegriff ontologisch, indem sie die Septuagintaübersetzung von Exodus e†mi ` ≈n (3,14) platonisch interpretiert, kann aber die Personalität und damit eine theologische Willensmetaphysik noch nicht entfalten. Die Gemeindetheologie ist von dieser Problematik nicht berührt. Aus dem christologischen Erlösungsglaube wird die Lebensfreude und Zuversicht, das Gottvertrauen und die Weltoffenheit abgeleitet, die den aus dem hellenistischen Denken ererbten Fatalismus zu überwinden trachten. Dennoch bleibt in dieser Zeit eine Art Existenzangst, die nicht zum geringsten von den politischen Unruhen herrührt, die oft die Lebensgrundlagen der Bürger zerstören und dadurch latent ein Unsicherheitsgefühl hinsichtlich des eigenen Schicksals trotz der Zusage eines ewigen Lebens durch die „neue Religion“ des Christentums hervorrufen. Mochte das Christentum Orakel und Moiren auch überwunden haben, so lebten die verdrängten Gottheiten und Schicksalsgötter aber zumindest im Aberglauben weiter oder aber in Metaphern und Bildern als Engel und Teufel, als blinder Zufall oder als unberechenbares Glück, das auf der Kugel nur unsicheren Stand haben kann, oder als Glücksrad, das die Unsicherheit der Lebensgeschicke zu ver-
171 anschaulichen versucht. „[…] lang schon reden sie nimmer Trost den bedürftigen, die prophetischen Haine Dodonas, Stumm ist der delphische Gott und einsam liegen und öde Längst die Pfade, wo einst von Hoffnungen leise geleitet, fragend der Mann zur Stadt des redlichen Sehers hinaufstieg.“ (Hölderlin)105 Anmerkungen Diogenes Laertios I, 33. Vgl. Hoering, Hist. Wört. d. Phil. IV, Sp. 1028. 3 Vgl. N. Hartmann, Ethik, Berlin/Leipzig 1926, S. 643. 4 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt/Bonn 1970, S. 37. 5 Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 19594, Bd. I, S. 1. 6 Kant, Vorlesung über Pädagogik, Akad. Ausg. IX, 443. 7 Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München/Wien 2001, S. 15. 8 Zum Problem vgl. J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000; und ders., Das kulturelle Gedächtnis, München 19992. 9 Hesiod, Erga 4 ff. Zur Notwendigkeit einer hierarchischen Struktur einer Gesellschaft, die letztlich biologisch bedingt ist, vgl. Walter Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998, S. 102 f. 10 „Namenlos ist das Gruppenwesen, mit dem Eigennamen beginnt das Eigensein der Person“ (Richard Harder, Eigenart der Griechen, in: Richard Harder, Kleine Schriften, München 1960, S. 3). 11 Homer, Odyssee II, 271 f. 12 Z.B. Ilias IV 396; II, 359; XX, 337 u. Odyssee IV, 562; XI, 197; u.a. 13 Odyssee XVIII, 129; zur Interpretation vgl. Hermann Fränkel, Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 1955, S. 26: „Die genaue Bedeutung von ˙kidnów ist unbekannt.“ 14 Ebd. 15 Pindar, Nem. IV, 42 ff. 16 Pindar, Pyth. II, 56. 17 Ebd., II 50 vgl. Frg. 108 (= 117 Turyn). 18 Frg. 169 (= 187 Turyn). Zur Problematik der Interpretation vgl. Wilamowitz-Moellendorf, Platon, Berlin 1920, Bd. II, S. 95 ff.; ferner ders., Pindar, Berlin 1922, S. 462; W. Theiler, Nómow ` pántvn basileúw, in: Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, S. 192 ff.; vgl. G. Agamben, Homo sacer, Frankfurt 2002, S. 41-49. 19 Frg. 81 (= 88 Turyn). 20 Pindar, Nem. XI, 39 ff., vgl. Olymp. XII, 10 f. 21 Zur Interpretation dieser Pindarstelle ist grundlegend heranzuziehen: 1 2
172 Hermann Fränkel, EFHMEROS als Kennwort für die menschliche Natur, in: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 1955, S. 23-39. 22 Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf, Der Glaube der Hellenen, Darmstadt 19593, S. 352. 23 Pindar, Olymp. XII. 24 Ebd., XII, 7 ff. 25 Ilias XX, 127. 26 Odyssee VII, 197. 27 Vgl. Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen, München 1966, Bd. 1, S. 31. Moiren nennt Orpheus bei Clemens Alexandrinus, Str. V, 8, 49 (GCS II, 360, 10 f., Frg. 253) die Mondphasen, die weißgewandet genannt werden. Vgl. Eurip. Prom. 516; Eum. 333; vgl. Eurip. Frg. 1022 (Nauck, S. 685/686). Vgl. E.R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 19705, S. 6 f. 28 Im älteren Mythos ist Erebos der Vater und Nyx die Mutter, später werden dafür Zeus und Themis gesetzt; Hesiod kennt beide Genealogien: Theog. 904; 217. 29 Hesiod, Theog. 217 f.; Asp. 258. 30 Platon, Resp. 617 e. 31 Solon, Eleg. I, 17 und 74 f. 32 Ebd., 63 f. Zum Problem vgl. Karl Hönn, Solon. Staatsmann und Weiser, Wien 1948, S. 60 ff. 33 Albin Lesky, Griechische Tragödie, Stuttgart 1956, S. 94 ff. Vgl. Aisch., Agamem. 160 ff. Zum Problem vgl. Bernhard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit, Polis I, Berlin 2000, S. 150 ff. 34 Agamem. 218. 35 Aisch., Fr. 44 (Nauck, S. 16). 36 Aisch., Prom. 514 f. 37 Aisch., Hik. 86-89. Die Textgestaltung ist umstritten. 38 Sophokles, Aias 132/133. 39 Vgl. Anm. 21 zu Pindar Nem. XI, 39. 40 Sophokles, Aias 125: „Denn wir sind Scheingestalten allzumal, die wir da leben oder flüchtige Schatten (koúfhn skián). 41 Sophokles, Antigone 365 ff., Übersetzung von Karl Reinhardt. 42 Sophokles, Aias 690. 43 Eurip., Herakles 1341 ff. 44 Eurip., Elektra 971; vgl. ebd., 1245/46. 45 Frg. 810 (Nauck, S. 623); vgl. Hekabe 595 ff., wo das Bild vom Acker und Samen für den Menschen und sein Erbgut abgelehnt wird, was vielleicht eine Anspielung auf das von Antiphon in Frg. 60 verwendete Gleichnis (FVS II, S. 365) ist. 46 Euripid., Hiketiden 913-916. 47 Vgl. Xenophanes Frg. 11, 12 (FVS I, S. 132). 48 Eurip., Hyppol. 22 ff.; vgl. Williams (wie Anm. 33), S. 173. 49 Platon, Resp. 617 e; legg. 960 c.
173 Platon, legg. 709 b. Legg. 642 c9: ihre Tüchtigkeit verdanken die Athener yeíŸ moírŸ. 52 Legg. 875 b. 53 Ebd. 54 Legg. 875 c. 55 Menon 99 d. 56 Resp. 518 c. 57 Symp. 206 d = Kallon} ist vergöttlicht und ist dabei „vergleichbar mit der Göttin Aphrodite“; vgl. Wilhelm Schmidt, Die Geburt der Philosophie im Garten der Lüste, Frankfurt 19953, S. 91. 58 Alkibiades I, 121 e8. 59 Ebd., 133 c5 ff. 60 Ebd. 61 Ebd., 133 c21 f. 62 Platon Phaidon 115 a2 ff. nimmt wohl den vorsokratischen Begriff auf; vgl. Heraklit, Frg. B 137 (FVS I, S. 182). 63 Platon, Gorg. 512 e. Zum Problem der richtigen „Sorge um die Seele“ vgl. die Interpretation, die Foucault in seinen Vorlesungen 1981/82 gab: Michael Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004. 64 Arbogast Schmitt, Mythos bei Platon, in: Mythos und Mythologie, hrsg. v. Reinhard Brandt und Steffen Schmidt, Berlin 2004, S. 73. 65 Resp. 501 c. 66 Vgl. Anm. 63 und A. Schmitt (wie Anm. 64), S. 81 ff. 67 Arist. Eth. Nic. I, 4, 1096 a16. Zugrunde liegt wohl Platon, Phaidon 91 c bez. Resp. 595 b9. Die Wahrheit ist höher einzuschätzen als die Worte eines Homer oder Sokrates. 68 Ähnlich wie Moira und Aisa wird bei Homer jedem Menschen die „ker“ von Zeus bei der Geburt zugeteilt, die das Lebensende bestimmt (Ilias II, 302; IX, 411; Odyssee II, 283; u.ö.). Daraus entwickelt sich die Vorstellung des persönlichen Daimon, der von daíomai „zuteilen“ abgeleitet wird und als göttliche Wirkkraft bei Homer mit yeów fast gleichbedeutend ist. In der Ilias von neutralem Wesen kennt die Odyssee im Daimon eher ein Wesen, was Böses bewirkt (vgl. Johanna ter Vrugt-Lenz, RAC IX, 601). 69 Euripid., Orest. 667: –tan ` daímvn e[ did!; vgl. Wilamowitz-Moellendorf, Euripides, Herakles, Bd. II, S. 138: „túxh kommt von tugxánein und wird also von der Philosophie dem a[tómaton zugesellt.“ 70 Phokylides Frg. 16 Diehl ergänzt von ter Vrugt-Lenz (wie Anm. 68), 605. 71 Demokrit, VS. B 171. 72 Heraklit, VS. B 119. Zum Problem der Interpretation dieses Fragments vgl. Klaus Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, Berlin/New York 1980, S. 447 ff. 73 Vgl. Erec Robertson Doods, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, S. 29. Dort wird auf Theognis verwiesen, der den Menschen in seiner Abhängigkeit vom Daimon geradezu heteronom interpretiert. Derarti50 51
174 ges kann auch latent bereits bei Heraklit Frg. B 85 (FVS I, S. 170) vorliegen. Wie weit dabei der Daimon im Thymos verborgen sein kann, findet sich bei Eurip., Medea 1056 ff.: Medea bittet ihren Thymos, also ihr Innerstes, „wie ein Sklave Gnade von seinem Herrn erfleht“, die Kinder nicht zu töten: „Nein, Thymos, du darfst das nicht tun.“ Doods, S. 98. 74 Xenophon, Anab. I, IV, 18; III, IV, 12. Agesilaos ist göttlicher Abkunft: Ag. I, 1. Götter verleihen die Befähigung zum Herrschen: Oec. XXI, 12. 75 Hypereides, Epit. 27 vgl. 24 und Ende. 76 Aristot., Eth. Nik. VII, 1,1 = 1145 a205. 77 Aristot., Eth. Nik. I, 11. Dabei ist die Bedingung gegeben, daß diese Voraussetzungen nicht nur eine Zeitspanne, sondern während des ganzen Lebens bis zu dessen Vollendung bestehen. 78 Aristot., Eth. Nik. X, 8, 1178 b20 ff. 79 Euripides, Ion 1512; Hek. 488, vgl. Walter Burkert, Griechische Religion, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977, S. 287. 80 Stobaios, Ekl I, VI, 13 (Wachsmuth, I, S. 86). 81 Z.B. Menander, Frg. 463 (Koerte). 82 Polybios XXIX, 21. 83 Epikur, Brief an Menoikos 134. Epicurea (Usener, S. 65); vgl. „Schicksal“, Hist. Wörtb. d. Phil. VIII, Sp. 1275. 84 Chrysipp Frg. 913, SVF II, S. 264. 85 Ebd. 86 Kleanthes Fr. 537, SVF I, S. 121. Der von Stobaios überlieferte Text ist verbessert worden: Übersetzung v. Wilamowitz-Moellendorf (Hellenistische Dichtung, Berlin 1924, Bd. II, S. 257 f.) hat die Textgrundlage vorgelegt, den Hymnus interpretiert und ihn in Reden und Vorträge (Berlin 1925, Bd. I, S. 306) in die Hymnenliteratur eingeordnet. 87 Kleanthes, Frg. 527, SVF I, S. 118. Übersetzung von WilamowitzMoellendorf, Reden u. Vorträge (wie Anm. 86), S. 321. 88 Chrysipp, Frg. 975, SVF II, S. 284; Hippol. Ref. I, 21, PTS 25, 83 (Marc.). 89 Chrysipp, Frg. 940, SVF II, S. 271; vgl. Zenon, Frg. 174, 176, SVF I, S. 44 f. 90 Chrysipp, Frg. 939, SVF II, S. 270. 91 Chrysipp, Frg. 1189, SVF II, S. 342. 92 Cicero, De nat. deor. II, 12. Einen ähnlichen merkwürdigen Schluß machten die Stoiker auch umgekehrt, indem sie von den Göttern auf die Notwendigkeit einer divinatio schlossen: Cic., De div. I, 10. 93 Vgl. Veit Rosenberger, Griechische Orakel, Darmstadt 2001, bes. S. 78 ff. 94 Epikur, Frg. 27 (Usener), vgl. Grundriß der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 4,1, hrsg. v. Hellmut Flashar, Basel 1994, Epikur v. Michael Erler, S. 88.
175 Cicero, De fato XIV, 31; vgl. Grundriß d. Phil. (wie Anm. 94), Bd. 4, 2 Görler, Karneades, S. 888 f. 96 Cicero, De fato XIV, 32, vgl. Görler (wie Anm. 95), S. 889. Cicero selbst hat die Mantik dem Aberglauben zugerechnet und diesen von der Religion unterschieden. Im Gegensatz zu dem Angst verbreitenden Aberglauben sei die Religion der Ahnen eine Verehrung der ewigen Natur, die ihrerseits dazu zwinge, „die Schönheit der Welt und die Ordnung der himmlischen Dinge zu bekennen“ (De div. II, LXXII, 148). Das ciceronische Bekenntnis („cogit confiteri“) beruht auf platonisch-akademischer Tradition der Gotteserkenntnis. Platon kennt zwei Wege, die zum Glauben an die Götter führen (legg. 966 e). Einmal ist es die Seele, die „das Ursprünglichste und Göttlichste von allen ist, deren Bewegung […] das immer neu strömende Sein hervorbringt“, zum anderen ist es – und diesen Gedanken nimmt Cicero auf – der Anblick der ewigen Regelmäßigkeit in der Bewegung der Gestirne. Dies übernimmt Aristoteles in seiner frühen Zeit. Für ihn hat die Seele, wenn sie im Traum oder im Enthusiasmos vom Leibe befreit ist, hellseherische Kräfte, weil dann göttliche Inspiration einsetzen kann (Eth. Eud. VIII, 2, 1248 a30 ff. und De phil. frg. 12 a). Dies übernimmt auch Poseidonios (Cicero, De div. I, XXX, 63), wodurch es zur verbreiteten Meinung wird. In seiner späteren Zeit lehnt Aristoteles die Mantik ab (De div. in somn. I, 462 b20 ff.) bleibt aber bei der Aussage über die Rationalität Gottes (De phil. 12 a vgl. Ps.-Arist. De mund. 399 a32). Beide Quellen der Gotteserkenntnis vergleicht Werner Jaeger (Aristoteles, Berlin 1923, S. 165) mit Kants Kritik der praktischen Vernunft (289), was wohl mit der Berührungsmetaphorik im platonischen Sonnengleichnis im Zusammenhang zu sehen ist. Vgl. Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt 1989, S. 139. 97 Chrysipp, Frg. 1176-1179 (SVF II, S. 338). 98 Cicero, De fato XVII, 39-IXX, 45; Plutarch, De Stoicorum repug. 47, 1056 b f. 99 Chrysipp., Frg. 3, 12, 13, (SVF III, S. 3-5) vgl. Görler (wie Anm. 95), S. 613. 100 Vgl. Dieter Nestle, „Freiheit“ in: RAC VIII, 275; vgl. Ansatz dazu Horaz, Sat. II, 7, Cicero, Para. V. 101 Plutarch, Moralia, De fato 5, = III, 472 f. = 570 b. 102 A. Diehle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, S. 85 f. 103 Testaments of the twelve Patriarchs, ed. Charles: Diay}kh &Ioúya XX, S. 95: „Erkennet also, meine Kinder, daß sich zwei Geister mit dem Menschen befassen, einer der Wahrheit und einer des Irrtums und zwischen ihnen steht die Einsicht des Verstandes, wohin sie sich neigen will. Sowohl das, was zur Wahrheit gehört wie auch das, was zu Irrtum gehört ist auf die Brust des Menschen geschrieben.“ Vgl. Diay}kh &As}r, I, 5, S. 172, vgl. Philon, Quaes. Ex I, 23. 104 Zum Engelsturz vgl. Hans Martin v. Erffa, Ikonologie der Genesis, München 1989, Bd. I, S. 66 ff. Interessant ist dabei, daß bereits in der Ge95
176 meinderegel von Qumran (I QS III, 18) die beiden Geister dem Menschen die Verantwortung über sein Handeln vermindern, wenn nicht gar abnehmen. Gott nämlich – so heißt es dort –„bestimmte dem Menschen zwei Geister darin zu wandeln bis zur bestimmten Zeit seiner Heimsuchung. Das sind die Geister der Wahrheit und des Frevels […] Aber in der Hand des Engels der Finsternis liegt alle Herrschaft über die Söhne des Frevels und auf den Wegen der Finsternis wandeln sie. Und durch den Engel der Finsternis geschieht Verirrung aller Söhne der Gerechtigkeit und alle ihre Sünde, Missetaten und Schuld und die Verstöße ihrer Taten kommen durch seine Herrschaft“ (Übers. E. Lohse). Während also für die Gemeinderegel die Engel „Herrschaft“ ausüben, werden die zwei Engel in christlicher Tradition als Kräfte im Inneren des Menschen interpretiert so etwa im Hirten des Hermas (Hermae Pastor, mand. VI, 2): „Zwei Engel sind bei dem Menschen, einer der Gerechtigkeit und einer der Schlechtigkeit […] Der Engel der Gerechtigkeit ist zart, milde und ruhig. Wenn nun dieser in deinem Herzen sich regt, spricht er sogleich mit dir über Gerechtigkeit […] und über jede rühmliche Tugend […] [Der Engel] der Schlechtigkeit ist vor allem jähzornig, verbittert und unverständig und seine Werke sind böse und verführen die Diener Gottes; wenn also dieser sich in deinem Herzen regt, dann erkenne ihn an seinen Werken“ (Übers. Fr. Zeller). Vgl. Greg. v. Nyssa, vita Moysis II 340 M (Muswillo, S. 46). Bei Origenes werden die beiden Mächte mit Reitern verglichen, die auf dem freien Willen reiten, ein Bild, das als allegorische Interpretation benutzt wird, um Exod. XV, 1 f. zu erklären (Hom. in Exod. VI, 2 = IX, Lomm., S. 59 ). Luthers Metapher von Gott oder dem Teufel, die auf dem Menschen als Reittier sitzen und sich um dessen Besitz streiten (sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum, de servo arbitrio, S. 635 W). Zur Deutung innerhalb der Erbsündenlehre des Augustinus vgl. E. Früchtel, Einige Beobachtungen zur Geschichte der augustinischen Erbsündenlehre als dem im Christen zu überwindenden Prinzip des Bösen, in: Ritter/Schlumberger (Hrsg.), Das Böse in der Geschichte (Bayreuther Historische Kolloquien, Bd. 16), Dettelbach 2003, S. 59 ff. 105 Hölderlin, Der Archipelagus.
Jürgen-Eckardt Pleines TUGEND ZWISCHEN SITTLICHKEIT UND MORAL In den Sozialwissenschaften unserer Tage ist von Tugend kaum noch die Rede. Zu stark wirkt die Kritik an der moralischen Weltinterpretation nach, in deren Strudel die ehemals hochgeschätzten Tugenden geraten waren. So überrascht es kaum, daß auch die philosophische Ethik gegenwärtig eine eigene Tugendlehre nicht entwickelt. Doch die weit verbreitete Moralisierung der griechischen aretai und der lateinischen mores sowie deren Kritiker gehen zumeist von falschen Voraussetzungen aus, wenn sie von Tugendhaftigkeit, von Sittlichkeit oder von Moral sprechen. Die griechische arete meinte ursprünglich ebenso wie die althochdeutsche tugund keine moralische Haltung oder Qualität, sondern eine besondere Tüchtigkeit oder Eignung, die einem Werkzeug ebenso zukam wie einem Körperteil oder einem Fachmann. So verstanden ist die Tugendlehre weiterhin ein wesentlicher Bestandteil einer praktischen Philosophie.
Bevor man sich pädagogischerseits der althergebrachten Frage zuwendet, ob Tugend lehrbar ist, muß man sich erst einmal darüber verständigen, was eigentlich unter einer Tugend zu verstehen ist. Dabei zeigt sich, daß wir auch in diesem Fall in eine Denkgeschichte eingebunden sind, die man nicht ohne Schaden für das eigene Selbstverständnis überspringt.1 Wenn die Philosophie und die Pädagogik unserer Tage überhaupt noch auf Tugend zu sprechen kommen, dann geraten sie aus geschichtlichen und aus systematischen Gründen in ein Dilemma. Auf der einen Seite sind die Zeiten, in denen man die Tugenden eines Ritters, der Frauen oder des Glaubens allseits hoch zu schätzen wußte, längst vergangen. Auf der anderen Seite gibt es auch keine allseits anerkannte Tugendlehre mehr, unter der wir unser eigenes Verhalten und Handeln durchgängig verstehen würden. Deshalb meiden wir heute Worte wie Tugend
178 oder tugendhaft ebenso wie wir es weitgehend verlernt haben, von Sittlichkeit oder von Moral zu sprechen. Näher liegt es uns, im Falle zweifelhafter Handlungsorientierung an die Gesinnung zu appellieren oder die möglichen Folgen des Handelns abzuwägen. Von Tugendhaftigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht mehr die Rede, zumal wir auch gar nicht mehr wissen, was unter einer Tugend zu verstehen ist, nachdem uns die sittlichen und moralischen Kategorien des Handelns in einem von Wissenschaft und Technik unverwechselbar geprägten Zeitalter weitgehend abhanden gekommen sind. Macht es da noch einen Sinn, zur Tugend erziehen zu wollen? Bevor wir diese Frage verhandeln, sollten wir zunächst einmal die Voten derer zu Wort kommen lassen, die seit der Antike in der Tugend die spezifische Mächtigkeit, bzw. das Vermögen eines Dinges und schließlich die Grundhaltung typisch menschlichen Verhaltens und sittlichen Handelns sahen. Diese beiden Redeweisen sind bei uns schon nicht mehr üblich. Vor allem die Annahme, daß ein beliebiger Gegenstand eine ihm eigene Tugend habe, erscheint uns befremdlich. Wenn wir überhaupt noch von Tugend reden, dann meinen wir allein die charakterliche Güte eines Menschen oder die Absicht einer Handlung, die hohen sittlichen oder moralischen Ansprüchen genügt. Bezeichnend für die Stellung des Gedankens war die von Rousseau bearbeitete Preisfrage der Akademie in Dijon (1750) insofern, als in ihr eine eingeengte Wissenschaft vor das Tribunal der Tugend gestellt und zu untersuchen war, ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und der Künste etwas zur „Läuterung“ der (heruntergekommenen) Sitten beigetragen habe.2 Der Grieche dagegen konnte ganz unbefangen von der arete eines Messers sprechen, die darin bestand, gut zu schneiden.3 Entsprechend bestand die Tugend eines Schiffsbauers, eines Arztes oder eines Gesetzgebers ehemals darin, über eine Fertigkeit zu verfügen, die es ihm erlaubte, auf seinem Gebiet die ihm zufallende Aufgabe gut zu erledigen. In allen genannten Fällen bezeichnete das Wort Tugend bei den Griechen in einem vormo-
179 ralischen Sinne die spezifische Tauglichkeit eines Dinges oder das Vermögen eines Menschen, etwas zu vollbringen, das für die Natur zweckmäßig oder für das menschliche Leben von Nutzen ist.4 So betrachtet war die Tugend ehemals etwas durchaus Zweckmäßiges oder Pragmatisches. Als diese Fähigkeit und als dieses Vermögen hatte sie offensichtlich noch nicht jene charakterliche oder innerliche Qualität,5 die ihr später zugelegt und die ihr langfristig zum Verhängnis wurde. Doch der Weg von der griechischen arete über die lateinische virtus und über den mos zum neuzeitlichen, eher einseitigen Verständnis von Tugend oder von moralischer Tugendhaftigkeit war weit. Gemessen an dem nachkantischen, leicht stoischen Sprachgebrauch von „reiner Moral“ oder von „Tugendpflicht“ gibt schon die Unterscheidung und spätere Identifikation von den eher an der Mannhaftigkeit, der Tüchtigkeit und Tapferkeit orientierten virtutes und den mores zu denken, die deutlicher auf das abhoben, was wir heute als gemeinsamen Brauch, als gute oder schlechte Sitte, bzw. als einen allgemeinen Willen bezeichnen würden, der dem Bürger zurecht etwas abverlangt. Doch diese Differenz und deren Akzentverschiebung innerhalb der Ethik wird erst dann verständlich, wenn man sich die philosophischen Anfangsbedingungen der Tugendlehre vor Augen führt.6 Diese kreiste ursprünglich um die von Sokrates gegen die Sophisten aufgeworfene und von Plato hernach kunstvoll entwickelte Frage, ob arete – d.h. ob das Wissen und Können des Rechten und des Guten – mit Blick auf vernünftiges Handeln lehr- und lernbar sei. Die Konzentration auf die Tugend, die später gern mit der Figur des Sokrates in Verbindung gebracht wurde,7 hatte freilich zwei Seiten, die ideengeschichtlich zusammengesehen werden müssen. Auf der einen Seite führte sie dazu, den sophistischen Liberalismus in Fragen der Handlungsorientierung durch praktische Philosophie (episteme tou agathou) zu entlarven. Auf der anderen Seite verdrängte sie dadurch das Interesse an den Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, der Natur wie der Kunst, das die
180 vorsokratische Philosophie auf den Weg gebracht hatte. Die Philosophie wurde auf diesem Weg ein erstes Mal „moralisch“, indem sie sich fast ausschließungsweise auf die Frage der richtigen Lebensführung zurückzog.8 Die Folge war, daß schließlich in der stoischen Gnosis der enkyklia mathemata nur noch ein relativer Wert beigemessen wurde.9 Ein ähnlicher Vorgang zeigte sich unter veränderten Voraussetzungen an der neuzeitlichen Moral, die wegen ihrer Verinnerlichung und Weltabgewandtheit die starken Tugenden abermals in Mißkredit brachte. Denn diese, von allem inhaltlichen Ballast befreite Moral pochte am Ende nur noch auf ihre Freiheit und Autonomie. In dieser Abstraktheit trug sie wesentlich dazu bei, daß die ehemals hochgeschätzten aretai bald in einem recht zweifelhaften Licht erschienen. Die vormalige Anerkennung dessen, der sich vorzüglich auf etwas verstand, der also zu etwas taugte (dugan), war auf diesem Weg einem eher mitleidigen Bedauern über den geworden, der zwar ganz gemäß seiner Tugend und Moral lebte, der aber die Welt nicht mehr recht wahrnahm und verstand. Hilfe war dann nur für den Fall angezeigt, daß diese isolierte Moral wieder handelnd in die konkreten Gestalten des Sittlichen zurückfand und ihren Anspruch aufgab, die ganze ungeteilte Wahrheit zu sein, statt in „begreifendes Denken“ überzugehen.10 Auf diese Weise wurde aus einem fachkundigen und tüchtigen Mitarbeiter an der Kultur, an der Wissenschaft und an der Kunst ein zwar liebenswerter, aber am Ende handlungsunfähiger Moralist. Dessen Wahrheit war entweder ein utopisches Ideal oder am Ende ein Glauben wider alle Vernunft.11 Vor einer solchen verinnerlichten und moralisierten Tugend schreckten viele kritisch gesonnene Philosophen aus guten Gründen zurück, denn mit einer gedoppelten Gewißheit und Wahrheit war auf Dauer nicht zu leben.12 Aber hatte die Tugend ehemals überhaupt diese Bedeutung oder Tendenz gehabt? Vieles spricht dagegen, wenn man sich an die Stellung und an die Funktion der arete erinnert, die sie zweifelsohne innerhalb der griechischen Ethik hatte. Bei deren Rekonstruktionsversuch wird
181 man sich deshalb nicht von jener moralischen Weltinterpretation verleiten lassen dürfen, die noch in der Moderne dazu neigt, die Tugend als moralische Instanz zu verinnerlichen und sie damit um ihre Handlungsfähigkeit zu bringen. Auf diesem Hintergrund bekam die von Plato oder von Xenophon gestellte Frage, ob Tugend lehrbar sei,13 für viele einen bitteren Beigeschmack, denn eine Tugend, die in die Entfremdung führte, verdiente nicht einmal, gelehrt und tradiert zu werden. Anders steht es freilich, wenn sich zeigen läßt, daß arete und virtus ehemals zu den unerläßlichen Kräften einer jeden zivilisierten und kultivierten Welt gezählt wurden. In diesem Fall war die Tugend nicht Ausdruck eines resignierten moralischen Bewußtseins, sondern sie bezeichnete die Tauglichkeit eines gebildeten und tüchtigen Menschen, die Dinge und Begebenheiten der Welt wahrheitsgemäß aufzufassen und im Sinne praktischer Vernunft innovativ zu gestalten (dugan). Unter dieser Voraussetzung gewinnt die alte Frage neue Aktualität, ob das Wissen um das im Handeln erstrebte Gut auf allgemeine Weise dargestellt und direkt gelehrt werden könne. Schon die sogenannten dissoi logoi bezweifelten allerdings eine solche Möglichkeit mit dem Argument, Weisheit (sophia) und Tüchtigkeit (arete) seien weder lehrbar noch erlernbar, denn solche Fähigkeiten könne man weder wie eine Ware oder ein Gut übertragen, noch fertig übernehmen.14 Ähnliches gilt übrigens für die andere, uns näher liegende Frage, ob das Wissen um das, was sich gehört, so vermittelt werden kann, wie es sich mancher brave Bürger wünscht, der auf die guten Sitten bedacht ist. Auch diese Frage hat wiederum verschiedene Facetten, die auseinandergehalten werden sollten, um sich nicht in dem zu versehen, was eine Tugend eigentlich ist und leistet. Denn oftmals sind bei dieser Frage falsche Erwartungen im Spiel, die das sittliche Urteil verzerren. Zunächst ist tugendhaftes Handeln gewiß auch eine Sache des Charakters, so wie wir dieses Wort gemeinhin verstehen, ohne dabei dessen heimliche Voraussetzungen in Zweifel zu ziehen.
182 Dieser, unserer Auffassung gemäß, wird einem Menschen entweder ein guter, tugendhafter Charakter zugeschrieben, oder es wird ihm wegen seines Wankelmuts oder wegen seiner Bosheit am Ende jeglicher Charakter abgesprochen. Dem charakterlosen Lump steht somit ein tugendhaft gesonnener und moralisch gefestigter Charakter gegenüber.15 Doch das übliche Lob über einen durch und durch tugendhaften Menschen weiß in zweierlei Hinsicht nicht zu gefallen: 1. Unter der Voraussetzung, daß unter dem Wort Charakter ehemals eine Kennzeichnung verstanden wurde, an der jemand im Handeln so oder so erkannt wurde, machte es keinen Sinn, von Charakterlosigkeit zu sprechen. Der Leichtsinnige, der Tölpel oder der von Haus aus Böse hatte auch einen Charakter, seine Natur.16 2. Ehemals bezeichnete die arete, wie gezeigt, die besondere Tauglichkeit eines Menschen zu etwas, zu dem andere nicht fähig waren. So wurde der Charakter (charassein) stets im Hinblick auf die Art des Handelns verstanden, die den Tieren, den Kindern und Göttern abgesprochen wurde. So betrachtet bestanden Untugend und Charakterlosigkeit in einem vormoralischen Sinne darin, Situationen des Handelns entweder nicht zu erkennen oder nicht wahrzunehmen. Diese Unfähigkeit führte bei dummen oder verstockten Menschen dazu, die Dinge nicht zu tun, die im eigenen oder gemeinsamen Interesse lagen. Folglich fühlte sich dieser Mensch weder für sich noch für andere zum Handeln genötigt, wo die Vernunft gebot, das als notwendig Erachtete in die Tat umzusetzen oder ins Werk zu setzen (poiein).17 So betrachtet hatten Götter keinen Charakter, denn wegen ihrer Selbstgenügsamkeit (autarkeia) handelten sie nicht.18 Auf dem Hintergrund dieser Voraussetzung müßte man mit Aristoteles die Möglichkeit einer intentionalen Charaktererziehung in Zweifel ziehen, eben weil sich der sittliche Charakter im Laufe der Zeit von selbst und auf höchst unterschiedliche Weise im Handeln bildete. Solche Charakterbildung und eine auf sie reflektierende Tugendlehre war, so betrachtet, weder ein prakti-
183 scher noch ein theoretischer Gegenstand der paideia. Wenn die Pädagogik unserer Tage dennoch von sittlichen Forderungen und von moralischen Maximen spricht, dann muß sie sich darüber im klaren sein, daß deren Rechtfertigung nur gelingt, wenn alle Seiten wenigstens diese conditio humana anerkennen, die Aristoteles „praktische Wahrheit“ genannt hatte.19 Wird diese gemeinsame Basis freilich verlassen, kommt es zu einer „Verzweiflung an der Vernunft“20, dann hat alles Reden über die Tugend und über die Notwendigkeit einer Charaktererziehung im Grunde nur noch postulatorischen Charakter. Dagegen macht es weiterhin Sinn, das „Auge der Seele“21 dafür zu öffnen, was unter Vernunftbedingungen im gegebenen Fall zu tun und zu lassen wäre, um im Handeln sich und anderen zu genügen, mithin jedem das Seine zu geben.22 Eine solche Ethik und Tugendlehre verfährt jedoch nicht more geometrico, wie sie Spinoza vorschwebte, denn sie führt nur die Gründe praktischer Vernunft, d.h. der Vernunft im Modus des Handelns, bei sich. Diese Wahrheit ist nun nicht wie das mathematische Wissen aus abstrakten Prämissen oder aus Axiomen mit Notwendigkeit herzuleiten, so daß die Aufgabe lediglich darin bestünde, die „reinen“ moralischen Prinzipien erfolgreich anzuwenden. Wir fragen uns deshalb, in dieser Hinsicht skeptischer geworden, eher, ob es überhaupt möglich ist, praktische Urteile, die über einen technischen Gebrauch von Dingen hinausgehen, jenseits aller persönlichen Weltanschauungen und öffentlicher Meinungen so darzustellen, daß ihnen jedermann zustimmen müßte.23 Dieser nämliche Zweifel brachte die traditionelle Tugendlehre aus dem Tritt, die von einer gemeinsamen sittlichen Welt und Kultur ausging, die den menschlichen Bedürfnissen entsprach und für die sich jeder Bürger nach Kräften einsetzte. Doch diese Grundeinstellung wurde dann vor allem in der „bürgerlichen Gesellschaft“ durch Parteiungen und private Interessen weitgehend suspendiert. Die Folge war, daß die Frage nach den maßgeblichen Zwecken menschlichen Handelns und Schaffens zugunsten
184 der anderen Frage zurückgedrängt wurde, wie man sein Tun erfolgversprechend planen und gestalten könnte, welches Ziel man dabei auch immer im Auge haben mochte. Auf diese Weise wurden schließlich sogar Mittel und Zweck vertauscht. Die Tugend wurde ebenso wie die Bildung höchstens noch hinsichtlich ihres Nutzens in der Gesellschaft geschätzt. Statt an sich zu gelten, wurde sie zu einem Mittel zu Zwecken, die ihr selbst ursprünglich nicht angehörten. Diese Instrumentalisierung der Bildung wie der Tugenden hatte noch eine andere Nebenwirkung, die vielfach nicht beachtet wurde: Unter dieser Voraussetzung waren die verschiedenen Tugenden, die das theoretische, praktische und poietische Verhalten ehemals durchgängig bestimmten, nicht mehr unter eine ihnen gemeinsame Zielvorstellung zu bringen. Aus diesem Grund scheiterten im Prinzip alle Versuche, das Tugendwissen entweder hierarchisch aufzustufen, oder es aus einem differenzlosen Einheitsprinzip herzuleiten. Doch diese bittere Erfahrung hatte auch eine gute Seite, wenn man bedenkt, daß es Formen des Urteils gibt, die weder von dem Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigen, noch den umgekehrten Weg beschreiten, ohne damit das Wissen zu zerreißen. Mit anderen Worten, der Zusammenhang der Tugenden, der gelingendes Handeln erst ermöglichte, war weder einseitig an die induktive, noch an die deduktive Methode gebunden. Das zeigte vor allem der tragische Konflikt, der in sittlicher wie in moralischer Hinsicht widerspruchslos nicht gelöst werden konnte. Das Beispiel der Antigone ließ jedenfalls keine einwandfreie und elegante Lösung mehr zu. Auf diese Weise hing die Einschätzung einzelner Tugenden sowie die Frage nach deren Zusammenhang von Anfang an sehr eng mit Problemen praktischer Philosophie und deren Logik zusammen.24 Dabei galt schon zu Beginn nur dasjenige Handeln als vernünftig (phronimon), das nicht nur die eigenen Bedürfnisse befriedigte, sondern das zugleich gemeinschaftlichen Interessen diente.25 Von derlei praktischen Begründungsstrategien war die moralisierende Tugendleh-
185 re im Zeitalter der neuzeitlichen Aufklärung zumeist jedoch weit entfernt. Sie hatte Mühe, die noch bestehenden und miteinander zerstrittenen Tugenden zu rechtfertigen, nachdem der traditionelle Sittenkodex durch die anhaltende Kritik an den vermeintlich eindeutigen Gesetzen der Natur und an den Geboten des göttlichen Willens ins Wanken geraten waren. Die Folge war, daß alle bisher geltenden Werte und üblichen Verhaltensweisen dem Vorwurf der Fremdbestimmung (Heteronomie) ausgesetzt wurden. Was fortan vor dem Standpunkt der Vernunft allein noch allgemein anerkannt wurde, waren im Bereich der Sitte wie der Politik autonome Gesetze und Tugenden, die deren Kriterien genügten. Dabei wurde der Unterschied zwischen der Vernunft im Modus der Gesetzesprüfung und der Gesetzgebung zumeist nicht genügend beachtet,26 als wäre die Idee der Selbstbestimmung voraussetzungslos vom Himmel gefallen. Von den autonomen Gesetzen hatte ansatzweise schon Aristoteles gesprochen, als er behauptete: „Der freie und gebildete (charieis) Mensch wird sich von selbst so verhalten, indem er sich selbst gleichsam Gesetz ist“27. Diese philosophische Grundeinstellung, aus der die Kantische Moralphilosophie später noch hervorgehen sollte, sah das Urbild ihres Verhaltens und Handelns freilich weder in dem Willen eines Gottes noch in den Gesetzen der Natur, da aus deren Befolgen nicht notwendig einsichtiges und vertretbares Handeln hervorging. Kants Plädoyer für die ausnahmslose Gültigkeit des autonomen Sittengesetzes, dem alle Vernunftwesen unterworfen gedacht wurden, und die daraus abgeleitete Rechtfertigung eines kategorischen Imperativs, verrieten eine deutliche Sprache, und sie forderten eine Prüfung aller Tugenden vor dem Standpunkt praktischer Vernunft.28 Ein Vergleich mit der griechischen Vorgabe zeigt also schon auf den ersten Blick eine andere Denkweise, deren Herkunft aus der Dichtkunst und Rhetorik keineswegs zufällig war. So stellte Homer in seiner Odyssee der pathetischen, von plötzlichen Einfällen und Emotionen bewegten Rede das verläßliche und tu-
186 gendhafte Ethos gegenüber.29 Solche Logik hielt sich in der Darstellung von Dingen und Begebenheiten an die jeweilige Natur der Sache und jagte nicht nach rhetorischen Effekten. Diese Geisteshaltung wurde danach unter etwas veränderter Perspektive vor allem in der Stoa geschätzt. Sie sah in tugendhafter Haltung und Gesinnung den Grund aller menschlichen Zivilisation und Kultur. So sprach Hesiod vorwurfsvoll von einem hündischen Sinn und einer betrügerischen Art (epiklopon ythos), die als Charakter das ganze Denken und Handeln eines Menschen bestimmen kann.30 In die Richtung einer eher verinnerlichten Sittlichkeit wies auch der Ausdruck ythos als Quelle des Lebens, bzw. der Lebensführung, aus der die einzelnen Taten herausfließen würden.31 Ähnlich ist auch das bekannte Beispiel des Herakles am Scheideweg zu verstehen. Er wurde bekanntlich vor die Entscheidung gestellt, entweder ein Leben des Genusses und des Glücks oder der Entbehrungen und der Tugend zu führen.32 Später knüpfte man an diese Tradition der Griechen an, als man die ruhige und besonnene Art der ethischen Tugend generell der zügellosen Leidenschaft entgegenhielt.33 Am Ende dieses Wegs standen sich dann aber in der Philosophie Leidenschaft und Glücksverlangen einerseits, Besonnenheit, Enthaltsamkeit und Tugend andererseits unvermittelt gegenüber. Damit wurde der Leidenschaft indirekt die Vernunft und der Tugend das unerläßliche Risiko des Handelns abgesprochen.34 Gewiß gab es immer wieder auch Gegenstimmen,35 die auf eine Vermittlung von pathos und logos sannen, zumal erst deren ungehindertes Zusammenspiel sinnvolles Handeln und kunstvolles Schaffen ermöglichten; aber die Tendenz war schon in nuce zu erkennen, Moral und Tugend aus dem Fluß der Ereignisse herauszuhalten und an Ideen festzumachen, die allem Wechsel enthoben sein sollten.36 Das Gute, das Gerechte und selbst das Billige wurden aus diesem Grund im Urteil einseitig an die vermeintlich unwandelbaren Forderungen der allgemeinen Vernunft gebunden, wohingegen die sich verändernden Situationen des Handelns, mit de-
187 nen es die Tugenden immer auch zu tun hatten, dem Pathos, den leidenschaftlichen und unkontrollierbaren Emotionen, überantwortet wurden. Auf diese Weise wurde zunächst der tiefgreifende Wandel im Wissen über die Dinge des Kosmos wie der Natur, der durch die wissenschaftliche Aufklärung seit Thales eingetreten war, heruntergespielt und schrittweise in die Ecke der Antithese von Sinnlichkeit und Verstand getrieben. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr in der Neuzeit den praktischen Urteilen, die immer weiter formalisiert wurden und deren empirischer Inhalt schrittweise suspendiert wurde. Folglich verloren die Tugenden ihre Bodenhaftung und sie überlebten in verinnerlichter Form nur dadurch, daß sie sich am Ende – jenseits aller Praxis, aller Ökonomie und Staatslehre – nur mit sich selbst beschäftigten. Das ganze Interesse konzentrierte die ethischpraktische Reflexion jetzt auf die Wahl der Maximen, unter denen man sein Leben zu führen gedachte. Doch diese Art von Selbstreflexion war mehr als doppelsinnig. In dieser Hinsicht hatte Kant für viele Zeitgenossen wenigstens den Tenor vorgegeben, als er gegen die üblichen Erwartungen in einer Ethikvorlesung zu verstehen gab: „Jeder Mensch, der wider die Sittlichkeit ist, hat seine Maximen“. Gegen diese Form von Selbstsicherheit gewandt, fährt der Text bezeichnenderweise fort: „Vorschrift ist ein objektives Gesetz, nachdem man handeln soll; Maxime aber ist ein subjektives Gesetz, nach dem man wirklich handelt“37. Auf diese Weise wird der Status einer moralischen Argumentation eingekreist, deren Vernünftigkeit gerade darin gesehen wird, „sich selber aus einem äußerlichen Standpunkt zu betrachten […] gleichsam in der Persönlichkeit der Vernunft: da man sich im Allgemeinen fühlt und sein Individuum als ein zufälliges Subjekt wie ein Accidenz des Allgemeinen ansieht“38. Unter dieser Voraussetzung fährt der zuvor zitierte Text fort: „Jeder sieht das moralische Gesetz als ein solches an, welches er öffentlich deklarieren kann, aber ein jeder sieht seine Maximen als solche an, die verborgen werden müssen, weil sie der Moralität zuwider sind und zur allgemeinen Regel nicht dienen können“.
188 In dieser Formulierung klingt nicht nur der kategorische Imperativ, sondern auch die Frage an, welches Verhältnis der „moralische Mensch“ zu sich und seiner Welt hat. Angesichts dieser Reflexion änderte sich naturgemäß auch der Sinn der überlieferten Frage, ob das Tugendwissen lehr- und lernbar sei. Denn es hatte sich unter dieser Voraussetzung auch das Wissen um die Tugend gewandelt. Deutlich wurde das am Beispiel Kants insofern, als er im § 49 seiner „ethischen Didaktik“ im Zusammenhang der Tugendlehre, einer „Doktrin“, darauf bestand, daß Tugend nicht angeboren sei, sondern daß sie erworben werden müsse. Auffallend ist bei dieser Formulierung, daß Kant unter Tugend keine Tauglichkeit, keine Tüchtigkeit oder ein Vermögen, sondern darunter lediglich eine moralische Qualität versteht.39 Infolgedessen werden Natur (physis) und Gewohnheit (ethos) zurückgesetzt, die im Fall der Tauglichkeit sehr wohl eine Rolle spielen. Alles Gewicht fällt demgemäß auf den eher psychologischen Kampf mit den eigenen Neigungen und Schwächen, sofern diese den objektiven Anforderungen der Vernunft nicht genügen. Bei dieser Betrachtungsweise lag es nahe, die doppeldeutige Macht der Gewohnheit nicht zu erwähnen, deren Einfluß auch auf das von grundlegender Bedeutung ist, was der Zeit gemäß in einer bestimmten Situation des Abwägens, Entscheidens und Handelns als sittlich oder aus Pflicht geboten erscheint.40 Ein ebenso trübes Licht fiel bei dieser Betrachtungsweise auf die Tugend und die Sittlichkeit, die ihren Ursprung längst vergessen hatten und, zwischenzeitlich auf die bloße Anständigkeit zurückgefallen, unter die Botmäßigkeit einer über sich selbst nicht hinlänglich aufgeklärten Moral geraten war. Beide gehörten fortan in den Verweisungsbreich eines „empirischen Systems der Moralität“, wobei sich Kant gleichermaßen auf Baumgarten wie auf Wolff berufen konnte.41 Sitte bestand fortan in bloßer Anständigkeit, wohingegen zur Moralität „ein gewisser Grad der sittlichen Bonität“, ein gewisser „Selbstzwang und Selbstbeherr-
189 schung“ gehörte. Und der Text fährt gemäß der weiterhin maßgebenden Unterscheidung von Sittlichkeit und Tugend fort: „Völker können Sitten haben, aber keine Tugend, andere können Tugend haben, aber keine Sitten“. Aufschlußreicher für diesen Zusammenhang ist die weitere Anmerkung, das sich auf die Sitte beziehende Wort Sittlichkeit würde man zeitgemäß für Moralität halten, weil man die Tugend dafür nicht nehmen könne.42 In der Entgegensetzung von bloßer Sittlichkeit und moralischer Tugend verlor die Arbeit an der Sitte keineswegs ihre praktische Bedeutung, aber sie verlor im Spiegel der Moral ihre ehemalige, herausragende Funktion innerhalb der Sittenlehre. Unter dieser Voraussetzung konnte Kant behaupten, die Kultur der Sitten sei zwar „ein glänzendes Elend“, gehöre aber dennoch zum Endzweck der Natur.43 Noch belastender sollte dieses Verständnis von Tugend für den Standpunkt praktischer Vernunft sein, wenn man sich dem Argument anschloß, das Kant in einer Vorlesung vertreten haben soll. Danach sollte Tugend eine bloße Idee sein, so daß keiner die wahre Tugend besitzen könne. Der Zusatz wird noch deutlicher, wenn betont wird: „Tugend ist eine Fertigkeit nach moralischen Grundsätzen“, die darin bestehen sollte, „die Neigung zum Bösen zu überwinden“. Unter dieser Voraussetzung war es konsequent zu behaupten, heilige Wesen seien nicht tugendhaft, weil sie keine Neigung zum Bösen zu überwinden hätten; ihr Wille sei dem ebenso „heiligen Gesetz“ adäquat. Dieser Auffassung wird man die Frage entgegenhalten, ob Tugend ursprünglich wirklich eine „Tatfertigkeit nach moralischen Grundsätzen“ oder eine Idee war, der niemand gerecht wurde. Vieles spricht dagegen, nicht zuletzt die Tatsache, daß es wenig Sinn macht, zwischen einer wahren und einer falschen Tugend zu unterscheiden. In dieser Absicht wird die Tugend im Zusammenhang der Suche nach den „Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ abgehandelt, wobei ihr in ihrer höchsten Form eine „moralische Gesinnung im Kampfe“ attestiert wird. Diese wiederum wird gegen eine „bloß moralische Schwärmerei“ über die vermeintlich
190 alles verzeihende Liebe Gottes gekehrt und entschieden von der Annahme eines Besitzes von Tugend abgehoben.44 Schließlich fragt sich auf dem Hintergrund einer vormoralischen Weltinterpretation, ob es zutreffend ist, die Tugend darauf festzulegen, „die Neigungen zum Bösen“ zu überwinden – und wie steht es dann um die natürliche und sittliche Neigung zum Guten? Darf sie tugendhaft genannt werden? Gegen die moralische Verzeichnung der Tugend spricht wiederum die Sprachgeschichte, wobei das griechische Wort arete ebenso wie die Herkunft des deutschen Wortes Tugend aus der althochdeutschen tugund eher eine Tauglichkeit von etwas für etwas meinte, als die Standfestigkeit eines erprobten Charakters gegen das Böse in sich und seiner Welt. Aus diesem Grund konnte Aristoteles ohne Vorbehalt von der Tugend eines Messers oder eines Arztes sprechen, ohne damit auf dessen kämpferische Fertigkeit oder charakterlichen Vorzüge abzuheben. Eine solche Tauglichkeit bestand demnach nicht darin, sich einem natürlichen Hang entgegenzusetzen, der alle Sittlichkeit und Moral zu zerstören drohte. Auch das deutsche Wort tugund reflektierte auf spezielle Tauglichkeiten und nicht auf einen ursprünglichen Hang zum Bösen. Ohnehin stand einer solchen Auffassung religionsgeschichtlich die andere Überzeugung entgegen, daß der Mensch von Natur aus gut sei und er nach seiner eigenen Vollkommenheit strebe. Doch noch der endlose Streit darüber, ob der Mensch ursprünglich gut oder böse sei, bzw. ob man in der Sittenlehre und Moralphilosophie von einem verhängnisvollen Hang zum Bösen ausgehen müsse, geht von Voraussetzungen aus, die mit dem Standpunkt der Vernunft im Modus des Handelns nicht vereinbar sind. Das zeigt sich daran, daß das Handlungswissen ursprünglich nicht unter der obigen Dialektik stand. Deshalb hatte es dieses Wissen am Anfang auch nicht mit einem moralischen Kampf gegen das Böse im Menschen zu tun. Auf der Gegenseite beteiligte es sich auch nicht an einer vergeblichen Suche nach einem absolut Guten, mit dem nur ein „heiliger Wille“ unmittelbar übereinstimmen würde.
191 Eine sich beratende und sinnvoll handelnde Vernunft reflektiert, so gesehen, weder auf die echte Gesinnung noch auf den Erfolg; und sie versteht sich auch nicht auf die Idee eines uneingeschränkt Guten, das keinerlei Ausnahme gestattet. Sie versteht das Gute (agathon) mit Aristoteles viel eher als den inneren Zweck einer Praxis, die in einer bestimmten Situation (kairos) bemüht ist, das zu tun und zu lassen, was eine dem Menschen gemeinsam Vernunft gebietet (ha dei). Die Schwäche einer moralisierten Tugendlehre, auf die später vor allem Hegel wie Nietzsche unter sehr verschiedenen Voraussetzungen aufmerksam machten, bestand in einem abgrundtiefen Mißtrauen gegen alle menschlichen Vermögen und Werke. Hierzu paßt die Beobachtung, daß es wenig später ausgerechnet die neuzeitlichen Moralisten waren, die der Stärke der Tugend mißtrauten: und diese Schwäche wurde auch dadurch nicht überwunden, daß Kant an der oben zitierten Stelle die Stoa zum Zeugen aufrief. Nach dieser Lesart hätten die Stoiker schon damals darauf bestanden, daß Tugend nicht durch Ermahnungen gelernt werden könne. Sie müsse vielmehr „durch Versuche der Bekämpfung des inneren Feindes der Menschen“ kultiviert und geübt werden. Auf diese Weise wurde das Abwägen des jeweils Guten, Gerechten und in sich Zweckmäßigen durch praktische Urteilskraft in ein moralisches Exerzitium oder endlich in eine Gewissensprüfung überführt. Interessanter, da für die gegenwärtige Diskussion um das Verhältnis von Ethikunterricht und Religionslehre bedeutsamer, dürfte in diesem Zusammenhang die Rolle und Funktion sein, die Kant einem „moralischen Katechismus“ zuschreibt, der keineswegs als bloßes „Einschiebsel in die Religionslehre“ angesehen werden dürfe. Dieser müsse vielmehr „abgesondert als ein für sich bestehendes Ganzes vorgetragen werden; denn nur durch rein moralische Grundsätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion getan werden“45. Hierin zeigt sich, daß das Prinzip einer „reinen Moralphilosophie“ oder einer „Metaphysik der Sitten“ nicht nur die Enge und Zufälligkeit einer bloß empirischen Sitten- und Tugendlehre
192 überschreitet,46 sondern daß sie vernunftgemäß in sich selbst begründet ist und keiner Legitimation von außen bedarf. In ähnlicher Hinsicht sah sich schon der frühere Shaftesbury in seiner „Untersuchung über die Tugend“ veranlaßt zu untersuchen, „was Redlichkeit oder Tugend an sich selbst betrachtet sei und in welcher Weise sie durch Religion beeinflußt werde; inwieweit Religion notwendig Tugend einschließe, und ob es richtig sei zu sagen, ein Atheist könne unmöglich tugendhaft sein“47. Auf diese Weise fiel man schließlich in ideologischer Hinsicht auf die unselige Alternative zurück: entweder sind die sittlichen Ideen, an denen die Tugenden auf unterschiedliche Weise teilhaben, von Natur aus angeboren, oder sie werden durch eigene Erfahrung und durch Erziehung erworben. Dagegen läßt sich zeigen, daß die Frage, ob das Tugendwissen und dessen Fähigkeiten lehr- und lernbar seien, innerhalb der antiken rhetorischen Tradition eine andere Bedeutung hatte, und die nicht in der eben erläuterten Alternative endete. Denn die anfängliche Aufgabe der Rhetorik, die aus dem Bruch mit dem tradierten Mythos und dem bisherigen Sittenkodex hervorging, bestand doch darin, herauszufinden, was sich unter Menschen aus vernünftigen Gründen (kata logon) gemeinsam wissen, wollen und schätzen ließ. Auch stand in der erwachenden Rhetorik keineswegs die sophistische Streitkunst (Eristik) im Vordergrund, sondern die ernstere Sorge um ein Gemeinsames des Wissens und Wollens, das schon Heraklit unter Berufung auf das xynon, auf das Gemeinsame und Einende, vor Augen hatte und geltend machte.48 Mit der arete, mit der Tugend, kam allerdings auf praktischem Gebiet ein subjektives Interesse ins Spiel, das vorerst noch nicht dem Vorwurf des Egoismus ausgesetzt war. Denn ein Leben, das um sich wußte und handelnd für sich aufzukommen hatte, existierte nicht auf allgemeine Weise. Somit war auch das Wissen um den letzten Zweck vernünftigen Handelns unangesehen der jeweiligen Situation und der besonderen Person gar nicht möglich. Das Tugendwissen fußte also subjektiv allemal
193 auf individuellen Kenntnissen, auf Erfahrungen und auf Fähigkeiten, die sich allerdings erst in der Gemeinschaft zu bewähren hatten. Von diesem besonders ausgezeichneten Wissen, das die Urteilskraft schärfte und schließlich einen sittlichen Charakter prägte, ist in der modernen Maximenreflexion kaum noch die Rede. Indem die Tugend moralisiert wurde, unterlag sie einem entscheidenden Bedeutungswandel. Aus der griechischen arete, aus der Tauglichkeit und Tüchtigkeit, wurde schließlich Sittsamkeit, Demut oder Gehorsam.49 Der Tugendhafte steht bei uns auch deshalb in dem Ruf, ein zwar liebenswerter Mensch, aber letztlich ein lebensfremder Trottel zu sein, der mit den bestehenden Verhältnissen nicht zurecht käme, und der sich deshalb an eine überkommene Moral hielte, die schon lange nicht mehr gelte.50 Auf diese Weise geriet die Tugend, im Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Bedeutung, in den Ruf der Lebensuntüchtigkeit und der Handlungsunfähigkeit.51 Dieser Bedeutungswandel hatte, wie bereits angedeutet, eine längere Vorgeschichte, die bedacht sein will, ehe man heute über Wert und Unwert von Tugenden zu befinden gedenkt. Dabei führte der Wandel des sittlichen Bewußtseins, der sich in der Neuzeit unter dem Eindruck der Aufklärung und ihrer Kritiker innerhalb der praktischen Bildung vollziehen sollte, mit einer gewissen Notwendigkeit zum Prinzip der Autonomie. Danach galten fortan nur diejenigen Verhaltensweisen und Handlungen als sittlich, die vor dem Standpunkt eigener Moral gerechtfertigt erschienen. Auf diese Weise traten vor allem im deutschsprachigen Raum Sittlichkeit und Moral in praktischen Urteilen auseinander. Was gemeinhin als sittlich galt, war noch lange nicht moralisch gerechtfertigt. Gleiches galt für den Gegensatz von Legalität und Moralität: was als rechtmäßig erschien, war nicht deshalb schon vernünftig oder moralisch. Wie aber stand es jetzt um die Tugenden?52 Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich auf die Entwicklungsgeschichte der praktischen Philosophie im Abendland wenigstens in groben Zügen einlassen. Denn der
194 Übergang vom griechischen ethos zu den lateinischen mores wirkte bis in die nachkantische Gegenüberstellung von Sittlichkeit und Moralität noch nach, ohne daß sie bislang ideengeschichtlich eigens gewürdigt worden wäre. Das lag einerseits daran, daß der Einfluß der Stoa auf die praktische Philosophie der Neuzeit bislang unterbewertet und vernachlässigt wurde, als habe die Geschichte des Denkens mit der vorurteilslosen Aufklärung neu angefangen. Andererseits lag diese Misere an einer mangelhaften Rezeption der Aristotelischen Ethik, die mit der Unterscheidung von ethischen und dianoetischen Tugenden in gewisser Weise die nämliche Differenz von dem, was die Sitte und was die Moral fordert, vorbereitet hatte. Denn mit der dianoia53 war eine folgenschwere Vorentscheidung auch darüber gefallen, was fortan – in Abhebung von einem natürlichen Handlungsmotiv (physis) und der Gewohnheit (ethos) – unter dem verstanden wurde, was später unter Berufung auf das Prinzip der Autonomie als Moral bezeichnet werden sollte. Nur unter diesen beiden Voraussetzungen konnte sich – vor allem im deutschsprachigen Raum – die „reine Moral“ und deren Tugend von der „einfachen Sittlichkeit“ abheben, die inzwischen in den Verdacht einer geistlosen Gewohnheit, der Üblichkeit oder der Routine geraten war. Wie doppeldeutig das Verhältnis von Sittlichkeit und Moralität unter dem Blickwinkel einer „Phänomenologie des Geistes“, bzw. der Rechtsphilosophie ist, zeigte Hegel.54 Dabei wurde der Übergang von der Sittlichkeit zum Standpunkt der Moral immer dann notwendig, wenn die eingespielte Lebensweise, die herrschende Sitte oder das geltende Recht keine hinreichende Handlungsorientierung mehr boten, und die Vernunft im Interesse sinnvollen und gerechten Handelns gefordert war, autonom für sich selbst aufzukommen. Auf diese Weise diente die Moral als Ergänzung oder als Ersatz für eine lückenhafte oder heruntergekommene Sittlichkeit. Diese Aufklärungs- und Erneuerungsfunktion erkannte Hegel am Beispiel des Sokrates. Dieser sei keineswegs wie ein Pilz aus der Erde gewachsen, sondern er hät-
195 te mit seinem kritischen Ansinnen „in der bestimmten Kontinuität mit seiner Zeit“ gestanden55, wobei er erkannt hatte, „daß der Mensch was ihm Bestimmung, was sein Zweck sei […], daß er dies aus sich selbst zu finden habe, daß er zur Wahrheit durch sich selbst gelangen müsse“56. Galt also das Sittliche bislang als „ewige Gesetze der Götter“, von denen man nicht wußte, woher sie kamen, so sei inzwischen das Bewußtsein eingetreten, „daß das, was wahr ist, durch das Denken vermittelt sein soll“57. Wie gezeigt, hatte Hegel den Übergang von der unbefangenen Sittlichkeit zur in sich reflektierten Moral an der „welthistorischen Person“ des Sokrates festgemacht, als er behauptete: „Die Athener vor Sokrates waren sittliche, nicht moralische Menschen; sie haben das Vernünftige ihrer Verhältnisse getan, ohne Reflexion, ohne zu wissen, daß sie vortreffliche Menschen waren“58. Das Kennzeichen einer solchen Moral wurde zuvor wie folgt beschrieben: „Bei der Moral ist das Hauptmoment meine Einsicht, Absicht, die subjektive Seite, meine Meinung von dem Guten ist hier das Überwiegende“. Aus dieser Charakterisierung folgt der erwähnte Schluß, die „mit Reflexion verbundene Sittlichkeit“ sei Moralität.59 Dabei verwundert es nicht, wenn in Ansehung solcher „Meinung vom Guten“ bald von moralischem Geschwätz und schließlich von der „Popularphilosophie“ gesprochen wird, die Sokrates zu ihrem Patron und Heiligen erklärt habe, womit dieser schließlich als „Deckmantel“ für alle „Unphilosophie“ gedient habe. Indem aber die Moral auf die „Absicht“ eingegrenzt wurde, traf sie am Ende der Vorwurf: „Aber es ist ebenso wesentlich, daß nicht nur die Absicht, sondern auch die Handlung gut ist“60. Die in praktischer Absicht angemahnte Rückkehr zur umsichtig tätigen Sittlichkeit bedeutete für Hegel demnach keine Wiederholung eines im Prinzip überholten Standpunkts, sondern eine nochmalige Verwandlung einer in sich gekehrten Moral in Handlungswissen, in praktische Vernunft. Diese Sittlichkeit kehrte also nicht reumütig zu den alten Gewohnheiten und Tugenden zurück; sie war vielmehr bestrebt, das neugewonnene
196 Wissen in die Tat umzusetzen, um dem als vernünftig Erkannten eine adäquate Gestalt zu geben. Die Differenz von sittlichen und moralischen Forderungen wurde also nicht hinterlaufen, wohl aber bestand das vorrangige Interesse fortan darin, das Vernünftige redend, denkend und handelnd zu verwirklichen. Doch eben dieser Übergang wollte nicht gelingen, so lange der Wille hartnäckig an seiner Absicht und Gesinnung festhielt und das Bewußtsein das Gute nur als jenseitiges Ideal oder als unendliche Forderung kannte. Diesem moralischen Standpunkt hielt Hegel die tiefere Einsicht entgegen: „Die Selbstbestimmung ist in der Moralität als die reine Unruhe und Tätigkeit zu denken, die noch zu keinem, was ist, kommen kann. Erst im Sittlichen ist der Wille identisch mit dem Begriff des Willens und hat diesen zu seinem Inhalt […] Das Sollen, welches daher noch in der Moralität ist, ist erst im Sittlichen erreicht […] Wenn das Gute auch im subjektiven Willen gesetzt wäre, so wäre es somit noch nicht ausgeführt“61. In der Enzyklopädie von 1830 wurde eine ähnliche Klage geführt: „Was in diesen Idealen wahr ist, erhält sich in der praktischen Tätigkeit; nur das Unwahre, die leeren Abstraktionen, muß sich der Mann abarbeiten […] Die bloße Bildung macht ihn noch nicht zu einem vollkommen fertigen Menschen; dies wird er erst durch die eigene verständige Sorge für seine zeitlichen Interessen“62. Sind also die Tugenden bloß sittlich und nicht moralisch? Oder sind einige sittlich und andere moralisch? Und welche Instanz entscheidet nun über den jeweiligen Status der Tugenden? Ist es aber am Ende die Vernunft, die über diese Differenz im praktischen Wissen entscheidet, dann hätte sie sowohl an der Sittlichkeit als auch an der Moral teil, ohne daß sie sich für eine der beiden Seiten entscheiden könnte. Sollte man nicht angesichts dieses Dilemmas ganz auf den ohnehin belasteten Begriff der Tugend verzichten und alles, was ehemals tugendhaft genannt wurde, nach seiner Moralität beurteilen? Doch bevor man sich zu dieser radikalen Lösung hinreißen läßt, will der philosophiegeschichtliche Hintergrund nochmals bedacht sein, der in
197 diese begriffliche wie gedankliche Misere geführt hatte und der schließlich auf eine Vermittlung der entgegengesetzten Positionen drängte: 1. Die griechische praktische Philosophie verstand sich problemlos als Ethik.63 Dabei schloß das ethos den einfachen Brauch ebenso ein wie die Verbindlichkeiten einer gemeinsamen Sitte und auch die Verpflichtungen, die dem Bürger aus den Gesetzen des Staates erwuchsen. Zu diesen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen der Sitte gehörten auch die allgemein anerkannten Tugenden wie Tapferkeit und Besonnenheit, Gerechtigkeit oder Freundschaft. Unter dieser Voraussetzung gab Aristoteles zu bedenken, es gäbe keine umsichtige Willenswahl (prohairesis) ohne Verstand (nous) und Denken (dianoia) einerseits und ohne sittliches Verhalten (ethike hexis) andererseits. Denn richtiges Handeln (eupraxia) und dessen Gegenteil seien nur möglich, wenn Einsicht (dianoia) und Sittlichkeit (ethos) im Urteil zusammengesehen würden.64 Auffallend ist für den heutigen Leser die Tatsache, daß Aristoteles an zitierter Stelle im Zusammenhang der prohairesis, der Vorwegnahme von Handlungssituationen in einem überlegten Urteil, weder auf den Willen (boule, bzw. boulesis) noch auf dessen Freiheit zu sprechen kommt. Doch in diesem Fall sind Erwartungen im Spiel, die Aristoteles seiner Zeit gemäß nicht teilte, weil für ihn – gemessen an der neuzeitlichen Argumentation – Wille und Vernunft fast identisch waren. Das Wort boule bedeutete deshalb ehemals eher Beratung und Ratschluß als ein Wille, der als selbständiges Aktivitätszentrum erst unter die Leitung der Vernunft gebracht werden müßte. In dem bouleuomai beriet ich mich und beschloß, aus guten Gründen das zu tun, was mir vernünftig und vertretbar erschien. Das Wollen oder das Mögen fiele demgemäß ebenso wie die moderne Auffassung von der Willensstärke eher auf die Seite der Übung (askesis) und der sittlichen Handlung, auf das ethos. Das Problem der prohairesis wie der arete besteht bei Aristoteles nicht in einer Willensdisposition oder in einer Willensentscheidung, sondern darin, bei den richtigen Dingen Lust und Unlust zu empfinden.65
198 2. Die lateinischen mores wiederholten unter veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen zunächst den griechischen Kanon sittlichen Verhaltens, bürgerlicher Rechte und auch der Pflichten. Dabei schob sich der Gedanke des öffentlichen Ansehens (honestum) und des Rechts in den Vordergrund, ohne deshalb den Wert der Tugenden in Zweifel zu ziehen.66 Auf diesem Weg wurde aus der griechischen arete – der Tauglichkeit, das jeweils Gute zu erkennen, und der Fähigkeit, es zu verwirklichen – jene lateinische Gestalt der mores, die Gegenstand des Lobes und des Tadels wurden und die zusehends als Kriterium zur Beurteilung von Bürgern, von ihren Charakteren und Verhaltensformen, dienten. Infolgedessen führten die gelobten virtutes ein öffentliches Interesse bei sich und hatten sich im strittigen Fall auch öffentlich (publices) zu verantworten. Dieser schleifende Übergang von den griechischen aretai zu den lateinischen virtutes und mores fand jedoch unter sich wandelnden ökonomischen und politischen Verhältnissen statt, an deren vorläufigem Ende sich im Ansatz eine „bürgerliche“ Gesellschaft, eine Republik, herausbildete, deren vorrangiges Interesse daran bestand, öffentliche Angelegenheiten (res-publica) gemeinsam zu fördern und zu verteidigen. Dementsprechend fiel dem publico aspecto der Sitte ebenso wie dem schon weitgehend formalisierten, stets übergreifendem Recht eine bislang ungeahnte Rolle bei der Beurteilung und Begründung der einzelnen Tugenden (virtutes) und Sitten (mores) zu, die nach eigenem Urteil von einem zunehmenden Sittenverfall (mores perditi oder corrupti) bedroht waren. Die Sitten und Tugenden wurden somit zu einer gemeinsamen politischen Aufgabe in dem Sinn, daß sie in der Lehre (doctrina) wie in dem Recht (iustitia) begründet und eingeklagt wurden. Das Entstehen der Rhetorenschule und der praefectura mororum sind ein Zeichen für ein gewandeltes Verständnis von Tugend und Gerechtigkeit, zumal beide Institutionen bereits in den Ruf der Sophisterei und der Rechtsverdrehung geraten wa-
199 ren. Im Gegenzug zu diesem schillernden Streben nach der Verwirklichung allgemeiner Interessen und nach öffentlicher Anerkennung der eigenen Tugenden zog sich eine eher skeptisch gewordene und enttäuschte Sittlichkeit in die nunmehr verinnerlichte Moral zurück, die sich selbst eher als eine ratio honeste vivendi, bzw. im Sinne der Stoa als eine ars vitae verstand. Der sich nunmehr anbahnende Gegensatz von angeborener, eingespielter und öffentlicher Sittlichkeit einerseits und dem Standpunkt einer vernünftigen Moral andererseits, die das Prinzip einer eigenen Lebensführung einschloß,67 entwickelte sich auf die genannte Weise im Ansatz bereits im zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhundert, ohne daß er schon größeren Einfluß auf das System der praktischen Philosophie jener Tage gewonnen hätte. Dennoch, Ciceros Schrift über die Pflichten (De officiis) und Senecas Überlegungen zur Vorsehung (providentia) oder zur Unerschütterlichkeit des Weisen (ataraxia) und vom glücklichen Leben oder zuvor schon viel früher Epikurs Reflexionen zur rechten Lebensführung68 bzw. zur Gerechtigkeit69 sind Zeugnisse einer sich wandelnden Stellung des antiken Menschen zu den Dingen der natürlichen und sittlichen Welt. Eingedenk dieses Wandels in der Weltperspektive und im praktischen Bewußtsein eines Römers überrascht es nicht, daß gelegentlich der Übersetzung des griechischen Vorbilds in die eigene Vorstellungswelt und Sprache inhaltliche Verschiebungen eintraten, die den Übergang vom ethos in die virtutes und den mos empfindlich belasten sollten. Waren es wirklich der gleiche Geist und Gedankenhorizont, die sich bei kritischer Betrachtung der arete und der virtus zu erkennen gaben? Der problematische Übergang vom griechischen logos in die lateinische ratio sollte ebenso für die nachfolgende Philosophie belastend bleiben,70 bis diese in der Neuzeit in den noch fragwürdigeren Gegensatz von empirischen und rationalen Gründen innerhalb theoretischer und praktischer Urteile gerieten. Im Gefolge dieser Moral und deren „bürgerlichen“ Tugenden sollte man danach später einerseits die heruntergekommenen Sitten nach dem Motto beklagen: o tempora, o mores. Auf der an-
200 deren Seite lag es dem bestellten Pädagogen und Erzieher nahe, entweder andere mores zu lehren oder zwecks Schärfung der Urteilskraft an jene moralischen Prinzipien zu erinnern, die das Entscheiden und Handeln der Menschen vernunftgemäß leiteten (morigerari). Auf diesem Weg verließen die griechischen Tugenden, die aretai, den verläßlichen Boden menschlicher Grunderfahrungen71 und gingen in jene mores über, die Gegenstand einer öffentlichen Bekümmerung und konkurrierender Legitimationsversuche wurden, an derem Ende die ratio als Basis der Lebensführung und des Handelns in Zweifel gezogen werden konnte. Die mittlere und späte Stoa war das Exerzierfeld der so bestimmten mores. In Verbindung mit dem jüdisch-christlichen Erbe sollte schließlich der Platonische Tugendkatalog72 um die Bestimmungen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung erweitert werden. Damit war wiederum eine Akzentverschiebung innerhalb der Tugendlehre verbunden, die vielfach nicht genügend beachtet wird73 und die schließlich den logos aus seiner zentralen Stellung verdrängte, nachdem zwischenzeitlich bereits die sophia und die phronesis aus dem Zentrum der griechischen arete und techne verdrängt worden waren. 3. Vollends veränderte sich die Situation für das öffentlich-sittliche und für das praktische Bewußtsein im Übergang von der traditionellen Ethik zur neuzeitlichen Moralphilosophie. In dieser Zeit schwand das Vertrauen auf die Gesetze der Natur, der Gesellschaft und der Kultur. An deren Stelle trat die absolute Forderung, im Denken wie im Handeln nur diejenigen Gesetze zu achten und zu befolgen, von deren Vernünftigkeit man selbst überzeugt war. Nur solche selbsterzeugten oder eigens anerkannten Gesetze fanden fortan die Billigung und Anerkennung durch die Vernunft. Dieser Devise folgend fiel in Fragen zweifelhafter Handlungsorientierung alles auf das Bewußtsein einer selbstauferlegten Pflicht, deren Forderungen mit denen der Vernunft identisch sein sollten. Dabei wurden die Unterschiede in der Beurteilung pflichtgemäßen Handelns, wie sie beispielsweise Ci-
201 cero aus gewichtigen Gründen geltend gemacht hatte,74 weitgehend an den Rand gedrängt. Bei dieser Argumentationskette wurde vorausgesetzt, daß – wie schon in der spätscholastischen Theologie – Wille und Vernunft zwei vorerst getrennte Vermögen sein sollten, die gegeneinander in Konkurrenz treten konnten. Deshalb bestand die Aufgabe der Moralphilosophie darin, den autonomen Willen unter die Gesetzgebung der Vernunft und die Vernunft dazu zu bringen, die von ihr anerkannten Prinzipien und Forderungen in der Welt auch handelnd zu verwirklichen. Auf diese Weise standen sich, wenigstens anfangs, ein vernunftloser, womöglich wahnsinniger Wille und eine willenlose Vernunft gegenüber, deren Übergang zur Sittlichkeit und zu praktischer Urteilskraft nicht gesichert war. Letzteres spielte denn auch bei Kant – von wenigen Ausnahmen abgesehen75 – innerhalb der praktischen Philosophie zumeist nur in der Form einer Maximenprüfung oder als Anwendungsproblem rein moralischer Prinzipien auf die sittliche Welt eine Rolle.76 Angesichts dieser, ganz ungriechischen Diskrepanz von Wille und Vernunft versuchten beispielsweise Schiller wie Herbart, die praktische Urteilskraft aus der ästhetischen Erfahrung herzuleiten, um auf diesem Weg der Hypothese eines freien und zweckfreien Willens zu entkommen, zu dessen Bezähmung die Vernunft aufzukommen hatte. Die Kantische Forderung nach Selbstbestimmung auf allen Gebieten des Wissens und auf Selbstgesetzgebung des Wollens darf freilich nicht mit dem heutigen Drang nach unmittelbarer Selbstverwirklichung gleichgesetzt werden, so lange nicht einmal sicher ist, welches Selbst in der Tugend verwirklicht werden soll. In seiner Darstellung der französischen Philosophie im Zeitalter der Aufklärung sprach Hegel denn auch mit Bedacht von dem „Negativen“ der aufgeklärten Bildung, die sich von allen Vorurteilen zu befreien gedachte, und er fügte hinzu: „Es ist der Charakter merkwürdig, der Charakter des Gefühls der tiefsten Empörung gegen alles dies Geltende, was dem Selbstbewußtsein ein fremdes Wesen, was ohne es sein will, worin es
202 nicht sich selbst findet, – eine Gewißheit von der Wahrheit der Vernunft, die es mit der ganzen entfernten Intellektualwelt aufnimmt und ihrer Zerstörung gewiß ist. Sie hat die Vorurteile alle zerschlagen und den Sieg davongetragen. Das Positive sind sogenannte unmittelbar einleuchtende Wahrheiten des gesunden Menschenverstands – des Menschenverstands, der nichts enthält als nur diese Wahrheit und Forderung, sich selbst zu finden, und in dieser Form stehen bleibt“77. Das damals offensichtlich gängige Motiv der Selbstfindung erschien Hegel aus den erwähnten Gründen wenigstens doppelzüngig, zumal ja nicht einmal sicher war, zu was das solchermaßen gefundene Selbst fähig war und sich berechtigt fühlte. Ein ähnlich zweifelhafter Schatten fiel auf jene selbstbewußte Moral, die unter Berufung auf die Autonomie oder auf die Willensfreiheit gegen die vermeintlich träumende Sittlichkeit und gegen eine bloß folgsame Tugend antrat, um ihnen indirekt mangelndes Selbstwertgefühl oder gar Selbstlosigkeit und Geistlosigkeit vorzuwerfen. Unbemerkt blieb in diesem, in sich reflektierten Urteil die Tatsache, daß diese Moral die sittliche Welt, in der gehandelt und gelitten wird, zum Nebenschauplatz erklärt hatte und sie damit den Schein einer unangreifbaren Position erweckte, die über alle Tugend und über alles Recht erhaben war. Doch eine solche Erhabenheit war nur um den Preis von Handlungskompetenz zu erwerben, was die Moral von seiten der praktischen Vernunft ihrerseits angreifbar machte, so lange das erstrebte, aber in Wahrheit handlungsentlastete Ideal des reinen und unwandelbaren Guten in der sittlichen Welt in keiner Weise verwirklicht werden konnte. Die Folge dieser Moralisierung der Praxis bestand darin, daß der überkommenen Tugendlehre in Ansehung der öffentlichen Sitten und der Charakterbildung eine eher nebengeordnete Rolle zufiel. Ja, sie geriet sogar im Verein mit der Sittlichkeit in den Verdacht einer womöglich geistlosen Gewohnheit oder einer latenten Fremdbestimmung. Denn was war nicht schon alles im Namen der vermeintlich guten Sitten oder der überlieferten Tugenden gefordert worden, das sich spä-
203 ter als blinder Gehorsam oder gar als unmoralisch herausstellte. Schon der frühe Kant war für diese Veränderung im praktischen Bewußtsein ein gutes Beispiel. Für ihn war die Tugend, die er nur im neuzeitlichen Gewand kannte, Ausdruck einer latenten „Gesinnung“, wohingegen er Mitleid oder Gefälligkeit lediglich „adoptierte Tugenden“ nannte.78 Dagegen bestand nach seiner Auffassung eine tugendhafte Gesinnung vornehmlich in der Willensstärke, insbesondere der „Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung“ in der Befolgung moralischer Forderungen.79 Dieser Tenor hielt sich als Leitfaden ungebrochen bis zur Kritik der praktischen Vernunft durch, wenn dort schließlich die Tugend mit dem sittlichen Gedanken und der Glückseligkeit in Verbindung gesetzt wurde, wonach die arete jetzt als Ausweis für die „Würdigkeit glücklich zu sein“ angesehen wurde.80 Dabei darf in diesem Zusammenhang nicht an den mühevollen Erwerb der ewigen Glückseligkeit gedacht werden, wenn man der Kantischen Moral gerecht werden will.81 Andererseits hielt Kant daran fest, daß Tugend- und Glückseligkeitslehre in der Idee vom höchsten Gut unmittelbar zusammengehören,82 so daß tugendhaftes Verhalten oder Handeln niemals als Mittel zu einem anderen oder höheren Zweck angesehen wurden. Auf diese Weise fiel in der Neuzeit ein eher trübes Licht auf die Ethik und auf deren Tugendlehre, was das Beispiel Kants, aber auch Hegels hinreichend belegen.83 Was fortan bei Kant vorrangig zählte, waren die Prinzipien der reinen – d.h. die von allem Empirischen (Neigung) gereinigten – Moral, denen nachfolgend die Rechts- und Staatsphilosophie angefügt wurden. Die Tugend, da sie aus bloßer Gewohnheit hervorgegangen war und nur über gewisse Fertigkeiten verfügte, konnte nur legale Handlungen, aber keine „aus Pflicht“ hervorbringen. Dazu hätte es einer „standhaften Gesinnung solcher Handlungen aus Pflicht“84 – einer Reform des ganzen Verhaltens bedurft, die nicht innerhalb der sittlichen Welt nach und nach erworben werden konnte,85 sondern die allein durch eine „Umwandlung der Denkungsart“ erreicht werden könne.86
204 Wie schon die bekannte Entgegensetzung der Handlungen aus Pflicht und aus Neigung läuft die Verinnerlichung der arete in die Gesinnung bzw. in den Vorsatz also letztlich, allen Apologeten zum Trotz, auf eine radikale Gegenüberstellung von Tugend- und Pflichtethik hinaus, die ebenso Fichte wie Schiller oder Schleiermacher beklagten. Diese nämliche Kluft wurde auch dadurch nicht geschlossen, daß Kant in Ansehung der „Echtheit tugendhafter Gesinnung“ von einer fröhlichen Gemütsstimmung spricht, „ohne welche man nie gewiß ist, das Gute auch liebgewonnen, d.h. es in seine Maxime aufgenommen zu haben“87. Dieser vermögenspsychologischen Einstellung gemäß88 soll die Tugendlehre – im Gegensatz zur Rechtslehre – nicht die Handlungen, sondern die Maxime der Handlungen reflektieren.89 Was fortan in der Ethik zählte, waren allein die Prinzipien der Moral sowie Überlegungen zur Rechts- und Staatsphilosophie. Dagegen wurden die Tugenden – zumal deren Auffassung als natürlicher habitus90 oder als von Gott geforderter Handlungen – weitgehend dem vorkritischen Denken überantwortet.91 Das geschah in der Überzeugung, daß Sitte, Anstand und Tugend lediglich das bezeichneten, was man aus Natur, aus Gewohnheit oder auf Befehl hin tat. Dabei handelte es sich nach dieser Lesart bei der Tugend zumeist um kein eigens überdachtes und entschiedenes Handeln, das hernach auch verantwortet werden konnte. Unter dieser Voraussetzung ist es verständlich, warum Kant in seiner schon vom Titel her bezeichnenden Schrift Metaphysik der Sitten innerhalb der „ethischen Didaktik“ einen „moralischen Katechismus“ einklagt, der als „Grundlehre der Tugendpflichten […] aus der gemeinen Menschenvernunft“ hergeleitet werden könne, und der deshalb vor dem „Überschritt von Tugendlehre zur Religion“ entwickelt werden müsse. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, daß Kant nicht einfach von Tugenden, sondern von Tugendpflichten spricht, weil für ihn die Berufung auf die Tugend nicht nur mehrdeutig, sondern verfänglich ist. Denn erst unter dem Blickwinkel der Pflicht
205 erschließt sich ihm der tiefere Sinn von dem, was eine Tugend ist. Der Wandel, der sich im Zuge der Aufklärung im politischen wie im sittlichen Bereich vollzog, resultierte demnach aus einer bösen Erfahrung im Umgang mit einer Tradition, die das Denken der Gegenwart zu verstellen und zu ersticken drohte. Begleitet von einem zum Teil bodenlosen Mißtrauen gegenüber den überkommenen Sitten und Gewohnheiten entwickelte sich bei vielen die Bereitschaft, im Denken wie im Handeln für sich selbst aufzukommen, indem man zunächst die geistige und sittliche Welt auf der Grundlage der eigenen Vernunft kritisch beurteilte, um sich hernach das Gesetz des Handelns selbst zu geben. Auf diese Weise standen sich fortan Heteronomie und Autonomie ebenso unversöhnlich gegenüber wie die Forderungen, die mit den Vorstellungen der Sittlichkeit verbunden waren, und jener Selbstverpflichtung, die fortan als moralisch bezeichnet werden sollte. Unter dieser Voraussetzung galten nur diejenigen praktischen Postulate als gerechtfertigt, die bei kritischer Prüfung vor dem Standpunkt der reinen Moral Bestand hatten. Mit der Berufung auf die Autonomie waren hinsichtlich des Handelns und der Tugenden die natürlichen Motive der Gewohnheit und Sitte nicht einfach verworfen, aber sie taugten fortan nicht mehr als letzte Rechtfertigungsgründe des Handelns. Selbst die Annahme göttlicher Gebote und die Erwartung, bei deren Befolgen dereinst belohnt zu werden, genügten dem moralischen Bewußtsein nicht, weil sie dessen reinen Prinzipien zuwiderliefen.92 Allein die Vorstellung, daß durch tugendhaftes Verhalten und Handeln etwas an sich Gutes bewirkt oder hervorgebracht würde, überzeugte fortan die aufgeklärte, autonome Vernunft, ohne dabei verächtlich auf die natürlichen Triebe und sittlichen Beweggründe herabzuschauen. Kants Auseinandersetzung mit der traditionellen Tugendlehre und mit der sogenannten Ethikotheologie93 ist wohl seitens der Philosophie jener Zeit der beste Beleg für eine Moral, die sich durchgängig dem Prinzip der Selbstgesetzgebung und einer Tugend verpflichtet wußte, die als Gesinnung aus eigener Stärke und Selbstverpflichtung hervorgegangen war.94
206 Doch das die Maximenreflexion begleitende, zumeist recht abschätzige Urteil über alles Gewohnte, Bestehende und Überkommene täuschte sich seinerseits über seine eigenen Voraussetzungen, was den Kritikern nicht verborgen blieb. Sie bemängelten zurecht den fehlenden Übergang vom Standpunkt der eigenen Moral zu den Forderungen der sittlichen Welt und deren Handlungsorientierungen. Schließlich war es die Orientierungslosigkeit im Denken und Handeln, die den enttäuschten Moralisten in die selbstgewählte Isolation trieb, bis er sich entsetzt zum Opfer einer verkehrten und verkommenen Welt erklärte. Hegels Kritik an solcher „reinen Moral“, die im wesentlichen mit der Reflexion auf die eigenen Maximen beschäftigt war,95 entlarvte dieses romantische „Selbstbewußtsein“, das vor falschem Stolz oder aus Verzweiflung weithin handlungsunfähig geworden war.96 Auf dem Hintergrund dieser Kritik am moralischen Selbstbewußtsein muß auch der Übergang von der Sittlichkeit zur Moralität bei Hegel verstanden werden, der keineswegs problemlos gesehen wird. Die antike Sittlichkeit sei „unbefangen“ gewesen, wohingegen die neuzeitliche Moralität „eine mit Reflexion verbundene Sittlichkeit“ sei.97 In diesem Sinn wird Sokrates geradezu als Begründer der Moralphilosophie bezeichnet,98 insofern mit ihm der aufgeklärte Geist aus dem Schlaf „unbefangener Sittlichkeit“ erwacht sei99 und gelernt habe, „für sich selbst, für seine Sittlichkeit“, zu sorgen.100 Doch mit diesem Erwachen war zugleich der Gegensatz von Tugend und Untugend oder von gut und böse gesetzt. Deshalb behauptete Hegel, mit dem Prinzip der Moralität, das eintreten mußte, wäre der „Anfang des Verderbens“ eingetreten.101 Denn die sich selbst bestimmende Moral, „das Reflexionsurteil der Freiheit“102, habe das Individuum „zu jener Aufgeblasenheit“ verleitet, die aus der „eigenen Meinung von sich“ und aus dem „Bewußtsein der Wahl“ hervorgegangen war.103 Das Unbehagen an diesem Selbstbewußtsein der Moderne steigert sich bei Hegel bis zu dem beißenden Vorwurf, der Standpunkt der Moral sei in Wahrheit „ein ganzes Nest
207 gedankenloser Widersprüche“104. Aus dieser Kritik resultierte schließlich der Verdacht, die Prinzipien der neuesten Moralphilosophie könnten unter Umständen „den Standpunkt der Sittlichkeit sogar unmöglich machen, ja ihn selbst ausdrücklich zernichten und empören“.105 Von einer solchen Moral und von deren Tugenden war nicht nur in Fragen zweifelhafter Handlungsorientierung in der Tat nicht mehr viel zu erwarten. Gewiß, das Prinzip der Autonomie bewahrte den Urteilenden davor, im Denken wie im Handeln blindlings der öffentlichen Moral oder einer geistigen Tradition zu folgen, die die Gründe der Vernunft nicht mehr bei sich führte. Doch die Befreiung von aller Bevormundung und Fremdbestimmung, die dem Subjekt die Möglichkeit der Selbstbestimmung zurückgab, war auch nur die halbe Wahrheit. Denn noch ermangelte es einer Zielsetzung, die vor dem Standpunkt handelnder Vernunft gerechtfertigt erschien. Deren Fehlen innerhalb der moralischen Weltinterpretation beklagte später Nietzsche beißend mit den Worten: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?“106. Dabei war es gerade dieses Wissen, das ehemals an der Tugend so hoch geschätzt wurde. Es war doch die Fähigkeit, Handlungssituationen recht einzuschätzen, und das Vermögen, das als zweckmäßig und gut Erkannte in Wort, Werk und Tat vernunftgemäß zu verwirklichen. Und bewegte das auf die Prinzipien gerichtete, abstrakte Denken (dianoia) allein noch nichts, dann mußte die Einsicht in den jeweiligen Handlungszweck (heneka tou praktike) hinzukommen,107 damit ein Handeln gelang und am Ende auch einen sittlichen Charakter ausprägte. Auf diese Weise gehörten für Aristoteles Klugheit (phronesis) und sittlich-praktisches Vermögen (ethike arete) zusammen,108 zumal ihm vernünftiges Handeln ohne praktische Urteilskraft nicht möglich erschien.109 In dieser Bedeutung sollte Ion, einer der sieben griechischen Weisen, dreierlei am Tugendhaften gelobt haben: Einsicht (synesis), eigenes Vermögen (kraton) und das Gelingen seiner Taten (tyche).110
208 In dieser Absicht bedeutete „mächtig sein“ keineswegs, gewaltsam oder rücksichtslos mit den Dingen und Wesen der Welt umzugehen. Im Gegenteil, der wirklich Kundige und Erfahrene ließ das, auf das er sich verstand (epistasthai), gerade frei, ließ es gewähren. So war er in der Beobachtung wie in der Handhabe der Dinge eher deren Mitwisser und Verwalter als deren Vormund oder Beherrscher. Diese gleichwohl distanzierte wie engagierte Stellung den Dingen gegenüber (hexis) und die Art, etwas in einem vernünftigen Urteil zu „bescheiden“, indem man den Dingen auf den Grund ging, war bekanntlich bei den ionischen Griechen die Geburtsstunde der Wissenschaft. Diese war aber auch die Voraussetzung einer besonnenen Technik und einer Tugend, die noch nicht unter die Botmäßigkeit eines Herrschaftswillens oder einer engstirnigen Moral geraten war. Die ursprüngliche Bedeutung der Worte episteme und techne wiesen ebenso wie die ihnen zugeordneten Tugenden in die nämliche Richtung.111 Spuren dieser zugleich geistigen wie sittlichen Haltung finden sich noch in unserem eigenen Sprachgebrauch. Tugend artikulierte ehemals eher eine besondere Tüchtigkeit, eine Tauglichkeit oder ein Vermögen, aber durchaus keinen schrankenlosen Willen zur Macht und auch keine verinnerlichte, moralische Qualität.112 Wenn man also begreifen will, was Tugend ehemals in unserer Sprache vor der neuzeitlichen, moralischen Weltinterpretation bedeutete, dann müssen wir die Spuren weiter zurückverfolgen. In dieser Hinsicht erweist sich Plato immer noch als ein verläßlicher Zeuge, der das theoretische und praktische Verhalten des antiken Menschen zur Welt durch die später sogenannten vier Kardinaltugenden auf den Begriff brachte: Klugheit und Weisheit (sophia), Tapferkeit (andreia), Besonnenheit (sophrosyne) und Gerechtigkeit (dikaiosyne). Innerhalb dieses Quartetts kam der sophia bezeichnenderweise eine besondere Stellung zu.113 Es war doch die Weisheit, die sowohl über die Vernunft in den Wissenschaften als auch über eine techne befand, die sich noch nicht als Mittel zur Beherrschung der Natur verstand.114
209 Diese vier Tugenden erschlossen die einzelnen Bereiche des menschlichen Wissens und Könnens, sofern sie dem logos entsprachen. Sie brachten damit dasjenige zur Sprache, was sich unter Menschen jener Zeit aus vernünftigen Gründen gemeinsam wissen, wollen und schätzen ließ. Schon Heraklit und danach Demokrit sollten in ähnlicher Absicht von der phronesis, von einem denkenden Umgang mit den Dingen, behauptet haben, Klugheit bestünde darin, gut zu überlegen, in der Sache überzeugend zu reden und das zu tun, was not-wendig erscheint.115 Von diesem Denken soll wiederum Heraklit sagen, daß es die höchste Tugend sei. Demokrit sollte in diesem Zusammenhang wohl häufiger von der Tugend gesprochen haben – freilich in einer Bedeutung, die sich in unserer Übersetzung von arete mit Tugendhaftigkeit kaum noch zu erkennen gibt. Besser erscheint die Wiedergabe mit „Tauglichkeit“, „Tüchtigkeit“ oder „Trefflichkeit“. Der Tugendhafte wäre dann derjenige, der das Rechte im Auge hat und verwirklicht. Die Übersetzer von Demokrits Fragmenten, Hermann Diels und Walter Kranz, hatten ein gutes Gespür dafür, als sie nicht von tugendhafter Gesinnung, sondern von der Trefflichkeit des Tugendhaften sprachen. Diese Übersetzung deckt sich mit Aristoteles, der gelegentlich von dem spoudaios, von einem eifrigen und besorgten Menschen sprach. Dabei galt ihm der spoudaios als jemand, der um das Richtige in richtiger Weise bemüht war.116 Dessen Auszeichnung bestand darin, im Denken und Reden die jeweilige Sache zu treffen und handelnd ganz bei der Sache zu sein. Eine solche Sachlichkeit setzte freilich eine praktische Urteilskraft voraus, die sich ihrer Möglichkeiten und ihrer Grenzen bewußt war. So galt es beispielsweise als ein Zeichen von Tugend, in Fragen des Maßes die Mitte zu treffen, und nicht einfach das zu tun, was einem einfiel oder was man vorhatte.117 Dabei orientierte sich Aristoteles sowohl an der Erfahrung des Ästhetischen wie des Praktischen, galt doch für beide, daß das Schöne wie das Gute gleichermaßen auf Größe und Anordnung118 beruhten. Das Mittlere war demnach das, was zwischen
210 den Extremen des Kleinsten und des Größten als etwas wahrgenommen und begriffen wurde, in dem Erfahrung und konkrete Vernunftideen übereinkamen.119 Gerade diese Eingrenzung praktischer Urteilskraft gab später Anlaß zu mancherlei Mißverständnissen, als ob man durch das Abmessen entgegengesetzter Standpunkte das mittlere Maß herausfinden könne, das dann mit dem Vernünftigen identisch wäre. Noch irreführender war der vulgäre Vorwurf, Aristoteles sei mit seinem Plädoyer für eine „maßvolle“ Tugend ein bürgerlicher Vertreter der Mittelmäßigkeit (mediokritas) gewesen. Er hätte sich statt dessen besser nach den höchsten Möglichkeiten des menschlichen Daseins in Kunst, Kultur und Wissenschaft richten sollen. Doch Vorwürfe dieser Art gehen an der Sache vorbei, indem sie den Spielraum des Ermessens und des Handelns entweder überschätzen oder zu geringachten.120 Es lohnt sich deshalb, unter dieser Voraussetzung länger bei Aristoteles zu verweilen, zumal er als erster innerhalb der Ethik so etwas wie eine Tugendlehre entwickelte. Dabei zeigt sich auf Anhieb eine große Distanz zwischen dem, was die Griechen arete nannten, und dem, was die neuzeitliche Philosophie und Sittenlehre unter einer Tugend verstand. So sind wir noch heute gewohnt, nur Personen, aber keinen Instrumenten eine Tugend zuzuschreiben. Schließlich ist für uns unter moralischen Voraussetzungen nur ein Mensch entweder tugendhaft oder lasterhaft.121 In dieser Hinsicht schätzen wir am Tugendhaften dessen Absicht oder hohe Gesinnung. Und wenn dessen Taten an äußeren Umständen scheiterten und nicht den gewünschten Erfolg zeitigten, dann entschuldigen wir dies mit dem Hinweis: aber seine Absicht war gut. Dabei bemerken wir nicht, daß wir uns mit der „Absicht“ und dem „Erfolg“ nur auf die entgegengesetzte Weise aus dem Handlungswissen herausreflektieren. Aristoteles dagegen verstand die arete zunächst im Hinblick auf in sich geschlossene Funktionskreise und auf das Gelingen von Handlungen. Deshalb konnte er ohne Vorbehalt von dem Gutsein eines Messers oder Pferdes, eines Arztes oder Politikers
211 reden. Dabei schaute er entweder auf den äußeren Zweck (telos) einer Sache oder auf die innere Zweckmäßigkeit einer Handlung. Auf diesem Weg wurde die überlegte und tätige Tugend problemlos in das agathon, in das Gute, überführt.122 Das Gute war dann nach Aristotelischer Auffassung der oftmals verborgene Zweck allen Handelns. Denn wer immer sich zum Handeln genötigt sah, wollte doch das verwirklichen, was ihm gut erschien – auch wenn er sich darin täuschen mochte. Dazu bedurfte es allerdings geeigneter Mittel, die zweckmäßig, d.h. dazu gut waren, wie das scharfe Messer zum Schneiden. Eben diese Tauglichkeit meinte ursprünglich die griechische arete123. Selbst der Arzt, der Gesetzgeber oder der Pädagoge wurden auf diese Weise deshalb geschätzt, weil sie sich in vorzüglicher Weise auf das verstanden, was es innerhalb ihrer Berufssparte zu tun gab; und so wurden sie nicht nach ihrer sittlichen Ausstattung oder nach ihrer moralischen Haltung, sondern nach ihrer arete, nach der Fähigkeit beurteilt, auf ihrem Gebiet das Erforderliche zu erkennen und zu verwirklichen. Unter dieser Voraussetzung schrieb Aristoteles dem Sokrates die uns auf Anhieb problematisch erscheinende Behauptung zu, die verschiedenen Tugenden seien insgesamt Wissenschaften (episteme)124. Dagegen wandte Aristoteles einschränkend ein, Tugend sei eine mit der rechten Vernunft (meta tou orthou logou) verbundene Haltung den Dingen und Begebenheiten der Welt gegenüber.125 Es mag in diesem Zusammenhang offen bleiben, was in diesem Fall von beiden Seiten unter einer episteme verstanden wurde. Aber soviel ist wohl sicher, es ging in dieser Kontroverse um das Wissen dessen, was unter Vernunftbedingungen zu tun und zu lassen wäre – und insofern vorrangig um die Tugend eines sachkundigen Praktikers – und nicht um die eigene Vortrefflichkeit oder um die öffentliche Moral im modernen Sinne. Also weder gute Gesinnungen noch Erfolge waren gefragt, wenn von der arete eines Arztes gesprochen wurde, sondern dessen fachliche Kompetenz, dessen techne. Diese wiederum war jedoch kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um einen als vernünftig
212 unterstellten Zweck zu erreichen. Damit war die Tugend ebenso wie die Technik ursprünglich in einem Handlungszusammenhang eingebettet, innerhalb dessen sie erst ihr Gutsein zeigten. Unter dieser Voraussetzung war allen Tugenden und Techniken ehemals daran gelegen, hilfreiche Taten und überzeugende Werke hervorzubringen. Es dürfte Aristoteles gewesen sein, der diesen Gedanken das erste Mal konsequent durchspielte, ohne damit einer Gesinnungs- oder Erfolgsethik im modernen Verstand das Wort zu reden.126 Er fragte unter dem Blickwinkel der Praxis vielmehr vorrangig nach der inneren Zweckmäßigkeit eines an sich vernünftigen Wissens und Wollens. Daß er sich in diesem Kontext mit der arete beschäftigte, lag in der Natur der Sache. Dabei war es wiederum die Art, wie diese Erörterung durchgeführt wurde, die uns heute zu denken gibt. Aristoteles sprach ganz unbenommen von der Tugend des Auges oder des Pferdes, von der arete eines Besitzstückes127, ehe er sich der Frage zuwandte, worin denn die dem Menschen allgemein zukommende Tugend bestehe – im Unterschied zu dem Wissen und Können eines Fachmanns. Und diese Frage war nach seiner Ansicht nur über das andere Problem zu entscheiden, was dem Menschen als das letztlich Gute im Handeln erschien. Dieser Suche nach dem anthropinon agathon, nach dem durch menschliches Wissen und Handeln erreichbare Gut,128 lag allerdings eine folgenschwere Vorentscheidung in der Naturphilosophie voraus. Um nämlich Selbstbewegtes und sich selbst Organisierendes von bewegungsloser Masse, von totem Gestein und von leblosen Dingen (apsychos) sprachlich unterscheiden zu können, mußte dem Gegenstand ein eigenes Bewegungsprinzip zugesprochen werden.129 Bereits die Vorsokratiker schrieben deshalb dem selbstbewegten Stern oder dem Magnetstein ebenso wie der Pflanze, dem Tier oder dem Menschen etwas Seelenhaftes zu. Aristoteles unterschied denn auch im Menschen drei Sphären: die des Organischen, die des Lebendigen und die des Geistigen, denen er jeweils eine eigene psyche zuschrieb.
213 Freilich verstand er das Verhältnis von Leib (soma) und Seele (psyche) streng korrelativ, denn es machte für ihn keinen vernünftigen Sinn, in Ansehung belebter und kunstvoller Phänomene (empsychon) Leib und Seele zu trennen.130 Ferner steigerte sich die jeweilige Tugend der Seele je nach ihrer Stufe und ihrer Seinsart. Das Gutsein einer Pflanze war wesenhaft von dem Vermögen eines Tieres, eines Kindes und eines vollentwickelten Menschen zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage war es endlich auch möglich, menschliche Fähigkeiten und Vermögen, d.h. deren Tugenden, recht abzuschätzen und ins Verhältnis zueinander zu setzen. Die zweite Quelle, aus der die erwachende philosophische Ethik schöpfte, waren die überlieferten Mythen, in denen von großen Taten der Götter und Heroen, bzw. von deren Schwächen und Untugenden, berichtet wurde. In ihnen wurden indirekt jene Fähigkeiten beschrieben, die den Menschen tauglich machten, in der Natur wie in der Gesellschaft ein vernünftiges Leben zu führen. Oftmals standen bei solchen Geschichten freilich bittere Erfahrungen der Menschen im Hintergrund. Diese wollten geistig verarbeitet sein; und sie warfen die Frage auf, welche Tugenden für eine überzeugende Lebensführung und für eine menschliche Gesellschaft unerläßlich seien. Fragen dieser Art stellten sich vor allem in Zeiten, in denen die einzelnen Tugenden nicht mehr trugen und deshalb in Zweifel gezogen wurden. Schließlich wurde man sich des Wertes einer Tugend erst bewußt, wenn sie verloren schien. So berichtete Thukydides von Tagen, in denen unter dem Druck von Hunger, Seuchen oder Krieg die öffentlichen Sitten und selbst die privaten Tugenden großen Schaden erlitten hatten. In dieser Situation hätte ein jeder nur um seine eigene Existenz gekämpft, ohne sich an die tradierten Wertvorstellungen oder Gesetze zu halten. Aus dieser bitteren Erfahrung wären nicht nur den Athenern Zweifel an der Verläßlichkeit und Sicherheit aller überkommenen Tugenden, Sitten und Gesetze erwachsen.131 War es in dieser Situation nicht klüger, sich an die Einfachheit
214 und an die unmittelbare Überzeugungskraft der Natur zu halten, deren Gesetze nicht auf menschlicher Übereinkunft beruhten und deshalb unwandelbar und verläßlich erschienen?132 An diesen Zweifel knüpften die Sophisten133 an, um daraus den Schluß zu ziehen, im Kampf ums nackte Überleben würden alle Gesetze von Anstand und Sitte außer Kraft gesetzt. Im Überlebenskampf würden sich nur die Stärksten und nicht die Tugendhaften durchsetzen. Gorgias sollte endlich behaupten, daß die öffentliche Sitte wie das bestehende Recht nur Konventionen seien, hinter denen sich die Schwächeren verschanzen würden, um zu überleben. Dauerhaft und verläßlich sei lediglich das Recht des Stärkeren, das „Gesetz der Natur“134. Auf diese Weise wurde die Idee der Tugend ebenso wie der Gedanke der Gerechtigkeit suspendiert, wenn nicht gar negiert. Diese These rief die praktische Philosophie auf den Plan, wissend, daß ohne wechselseitige Verpflichtungen und tugendhaftes Handeln alle menschlichen Gemeinschaften zerbrechen würden.135 Denn was war eine Familie ohne Freundschaft und Liebe (philia) oder ein Staat ohne Gesetze, die von seinen Bürgern anerkannt und befolgt würden?136 Auf diese Weise verdankte die praktische Philosophie ihre Herkunft der Sophistik, um die sie auch später nicht mehr herumkommen sollte. Die Aristotelische Grundlegung praktischer Philosophie, die „Ethik“ genannt werden sollte, kann hier begrifflich nicht ausführlich nachgezeichnet werden. Aber so viel darf mit Blick auf die Möglichkeit einer zeitgemäßen Tugendlehre festgehalten werden: 1. Alles Wissen, das einen Bezug zum Handeln hat und deshalb gelegentlich Entscheidungen treffen muß, versteht sich im Hinblick auf einen Zweck. Dieser Zweck ist in einem vormoralischen Sinne das Gute, um dessen Erkenntnis und Verwirklichung das Handeln bemüht ist. Aristoteles sprach in diesem Zusammenhang von dem Worum-Willen (hou heneka) des Handelns, ohne dessen Erkenntnis eine Handlung als Handlung weder wahrgenommen, noch vollendet werden konnte.
215 2. Um aber zweckmäßig handeln zu können, dazu bedarf es gewisser natürlicher, geistiger und charakterlicher Fähigkeiten – eben der Tugenden, die einen Menschen erst tauglich machen, etwas zu vollbringen oder hervorzubringen. Aus diesem Grund besteht die Aufgabe einer in Wahrheit praktischen Philosophie weiterhin darin, nicht nur das Wissen über das Gute und die Tugenden über sich selbst aufzuklären. Zugleich muß danach gefragt werden, wie die Tugenden entstehen und unter welchen äußeren und inneren Verhältnissen sie das menschliche Verhalten und Handeln bestimmen können.137 In der nunmehr nochmals anstehenden Frage, ob die arete, ob Tugendwissen, lehr- und lernbar sei, verhielt sich Aristoteles demgemäß eher zurückhaltend;138 und das hatte seine Gründe, wenn man mit dem Wissen um das Tugendhafte, um das Gerechte und um das Gute nicht oberflächlich umging. Und auch hier galt es, sorgsam zu unterscheiden, was nicht zusammengehörte, und zu vereinen, was auf Anhieb getrennt erschien. So sollte einer der unbekannten Sophisten über die Tugend gesagt haben: „Der natürlichen Anlage bedarf es zuerst. Was aber allein in der Macht des Menschen steht ist dies: ein Strebender nach dem Edlen und Guten zu sein, indem man keine Mühe scheut, um es sehr frühzeitig zu erlernen und lange bei ihm zu verweilen“139. Berücksichtigt man diesen Hinweis, dann ist es sinnvoll und nützlich, am Ende unserer Überlegungen über den sittlichen und moralischen Wert der Tugenden eine etwas längere, ähnlich lautende Passage aus der Nikomachischen Ethik zu zitieren, die uns noch in der deutschen Übersetzung zu denken gibt: „Tugendhaft (agathous) wird man aber nach einer Meinung von Natur (physei), nach einer anderen durch Gewöhnung (ethei) und nach einer dritten durch Lehre (didache). Als Naturlage steht die Tugend offenbar nicht bei uns, sondern ist aufgrund gewisser göttlicher Ursachen Besitz der wahrhaft Glücklichen. Wort (logos) und Lehre (didache) aber haben nicht bei allen hinlängliche Kraft, sondern die Seele des Hörers muß wie die zur Auf-
216 nahme des Samens bestimmte Erde zuvor durch Gewöhnung kultiviert worden sein, um recht zu lieben und zu hassen. Denn es würde einer auf das warnende Wort nicht hören, ja es nicht einmal verstehen, wenn er [lediglich] der Leidenschaft nachlebt; und wie ist es dann möglich, ihn durch Worte anderen Sinnes zu machen? […] Demnach muß ein der Tugend verwandter Sinn, der das sittlich Schöne liebt und das Häßliche verabscheut, schon in gewisser Weise vorhanden sein“140. Dieses Zitat überrascht uns schon deshalb, weil Aristoteles den entwickelten Sinn für das Schöne und den Abscheu vor dem Scheußlichen (aischron) zur Voraussetzung dafür macht, daß jemand sich auf die arete verstehe und darauf angesprochen werden könne. Wir denken dabei unwillkürlich an Schiller, der auf seine Weise diesen Gedanken wiederholte, als er das Schöne geradezu als Vorschein des Sittlichen erklärte.141 Näher betrachtet fragen wir uns, ob es sinnvoll sei, im Zuge der deutschen Romantik eine selbständige und autonome Ästhetik gegen die Erkenntnistheorie und gegen eine moralisierte Ethik auszuspielen, um Freiräume für die Kunst und deren Produktionen zu schaffen. Einer solchen Isolierung des Ästhetischen, wie sie Schlegel vor Augen hatte, hätte Aristoteles schon deshalb seine Zustimmung versagt, weil eine solche Schönheit den Übergang zum Guten erschwert oder verhindert.142 Wenn man auf dieser Grundlage jetzt die Frage wiederholt, ob und in welchem Sinn die Tugend und das Wissen um das Tugendhafte lehr- und lernbar sei, dann gibt uns Aristoteles eine dreifache Antwort: 1. Von den Verhaltensweisen und Handlungen, die wir gemeinhin tugendhaft nennen, gehört ein Teil der Natur an. Zum Beispiel sind Freigebigkeit und Edelmut, Mitleid oder Mut Naturgaben, über die der Mensch so wenig verfügt wie über Glücksgaben, zu denen Gesundheit oder ererbtes Vermögen zu zählen sind. Für solche Talente des Geistes und Gaben des Zufalls kommt der sittlich Handelnde nicht auf. 2. Anders verhält es sich mit gewohnheitsmäßig eingeschliffenen Verhaltensweisen, die bekanntlich einen genauso großen
217 Einfluß auf die Sittlichkeit und Moral haben. Das gilt gleichermaßen für die guten wie für die schlechten Gewohnheiten, deren wir uns zumeist gar nicht bewußt sind. Dabei ist das Phänomen der Gewohnheit bekanntlich doppeldeutig. Auf der einen Seite ist die Gewohnheit der Weg, sich in die sittliche und geistige Welt „einzuwohnen“143. So lernen wir durch nachahmende Einübung und mit dem Erwerb der Sprache, uns in den Sitten und Gebräuchen eines Volkes ebenso zurechtzufinden wie in dessen Kultur und geistigem Erbe. Auf der anderen Seite ist es die „dumme Gewohnheit“ und „geistlose Routine“, die uns blendet und zu ersticken droht. In dieser Hinsicht liegt es sehr wohl an uns, sich durch Einsicht und Übung von einer schlechten Angewohnheit zu befreien. 3. Bleibt noch die Lehre, bzw. die wechselseitige Verständigung mit sich und anderen über das, was sich aus vernünftigen Gründen gemeinsam wissen, wollen und schätzen läßt. In neuerer Zeit sollte Paul Natorp in dieser Bedeutung einmal von „Mitvernunft“ gesprochen haben.144 Hier gibt es sehr wohl die Möglichkeit, sich durch Wissensaustausch und Bildung darüber zu verständigen, was in einer menschlichen Gesellschaft als tugendhaft gilt und zurecht gefordert wird. Ob man freilich auf diese Weise allein lernen kann, was Tugend ist, und ob allein durch das Wort eine sittliche Erziehung möglich ist, das bezweifelte Aristoteles mit dem Argument, es müsse schon jemand zuvor gelernt haben, auf rechte Weise zu lieben und zu hassen. Erst dann könne der Mensch begreifen, was er aus guten Gründen zu tun und zu lassen hätte, um seiner sittlichen und moralischen Bestimmung gerecht zu werden.145 Aus diesen Überlegungen zog Aristoteles den Schluß, daß es notwendig sei, zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden zu unterscheiden. Schließlich mache es einen wesentlichen Unterschied, ob etwas von Natur aus, bzw. aus Gewohnheit (ethos) oder aus Einsicht (dianoia) getan werde.146 Um freilich herauszufinden, was im jeweils konkreten Fall (kat’ hekaston) die eigene und gemeinschaftliche Vernunft gebietet, dazu bedarf es,
218 wie bereits angemerkt, einer durch Erfahrung geschulten Urteilskraft und der Einsicht in das, was die praktische Vernunft im gegebenen Fall fordert.147 Ein solches Vermögen, das jeweils Erforderliche zu erkennen und die Mittel zu finden, die hier und jetzt (kairos) helfen könnten, ist bekanntlich eine hohe Kunst, die deshalb nicht gelehrt und gelernt werden kann, weil weder der Handelnde selbst noch der Augenblick, in dem gehandelt wird, einer allgemeinen Regel folgen.148 Aristoteles brachte diese innere Begrenzung allen praktischen Wissens149 auf den Punkt, als er schon zu Beginn der Nikomachischen Ethik vor falschen Hoffnungen warnte und zu verstehen gab: „Was aber dem Bereich des sittlichen Handelns und des dem Leben Nützlichen angehört, hat nichts an sich, was ein für allemal feststünde, so wenig wie das Gesunde. Und wenn das schon für die allgemeinen Regeln gilt, dann läßt das Einzelne und Konkrete noch weniger genaue und absolut gültige Vorschriften zu, da es unter keine Kunst oder Lehrüberlieferung fällt. Hier muß vielmehr der Handelnde selbst wissen, was dem gegebenen Fall entspricht, wie dies auch in der Heilkunst und in der Steuermannskunst geschieht“150. Damit ist im vulgären Verstand nicht gleich alles relativ geworden. Wohl aber ist die Vorstellung zum Scheitern verurteilt, die unterschiedlichen sittlichen Werte und moralischen Tugenden seien auf ein universal gültiges Prinzip zu verpflichten, oder sie seien aus einer absoluten All-Einheit herzuleiten. Auch aus diesem Grund muß noch heute eine direkte Lehr- und Lernbarkeit der Tugend bezweifelt werden. An dieser Einschränkung scheitern weiterhin alle Gesetzesethiken, die in dem Befolgen der öffenlichen Sitte, ihrer Normen und Gesetze ihr höchstes und einziges Ziel sehen. Schon Plato hatte vor einer solchen Normenethik und Gesetzestreue151 gewarnt, die davon ausgeht, daß in jedem Fall das allgemeine Gesetz die Gründe der Vernunft auf seiner Seite führt.152 Dagegen wird eine einsichtige und durch Erfahrung geschulte Urteilskraft153 an der Handlung deren einzelne und allgemeine Bestimmtheit sehr wohl zu unter-
219 scheiden wissen und beide Momente wiederum in einem Vernunfturteil aufeinander beziehen, um vernünftig handeln zu können. Eine solche Urteilskraft, die nicht erlernt oder allgemein demonstriert werden kann,154 verläßt sich im strittigen Fall weder auf die „eigene Moral“, noch folgt sie unbedacht dem juridischen Schema von Gesetz und Fall. Das gilt gleichermaßen für die Bewertung von Handlungen hinsichtlich ihrer sittlichen Relevanz wie für die Beurteilung des Handelnden und Schaffenden nach seinem Vermögen und charakterlichen Dispositionen, sofern diese Einfluß auf das Handeln nehmen. Unter dieser Voraussetzung war der Charakter für Aristoteles eine subjektiv-allgemeine Bestimmung, die der Handlung wie dem Produkt eine eigentümliche, nicht gattungsbestimmte Färbung gab.155 Im Verein mit dem Gegensatz von Gesinnungs- und Erfolgsethik waren es dann aber gerade diese beiden Urteilsformen, die uns in der Neuzeit den Blick für die Frage trübten, weshalb Aristoteles die Lehre von den verschiedenen Tugenden in das eudaimonein, in das Gestimmtsein auf das Gute, überführte. Unsere Wiedergabe des eudaimonein mit Glücklichsein, mit seelischer Zufriedenheit oder mit Tugendhaftigkeit und die gewöhnliche Übersetzung der eudaimonia mit Glückseligkeit trifft freilich die von Aristoteles gemeinte Sache nicht oder nur am Rande.156 Diese Bedeutungsverschiebung setzte bereits unter dem Einfluß des Hedonismus und der frühen Stoa ein, sofern beide Strömungen entweder auf unmittelbare Befriedigung durch das Glück oder auf das Glück des Tugendhaften und Beherrschten abhoben.157 Gegen die erste Tendenz gab schon Aristoteles zu verstehen, daß es einen wesentlichen Unterschied mache, ob man sein Leben unter der Idee des Wohlseins (euzen) oder eines gelingenden Handelns (euprattein) zu führen gedenkt.158 Im zweiten Fall galt ihm die Tugend nicht als Selbstzweck. Er verstand die arete vielmehr als Tauglichkeit oder als Fähigkeit für ein Handeln, das nach den Kriterien praktischer Vernunft beurteilt wurde.
220 Auch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Tugenden ergab sich erst unter dem Blickwinkel eines Lebens, das sich in gelingendem Handeln (praxis) an sich selbst erfüllte. Das aber war für Aristoteles die vollendete Glückseligkeit, auf die alle Tugenden gemeinsam hinwiesen.159 Dieser Gedanke wurde später durch die jüdisch-christliche Tradition überlagert und vielfach verzerrt. Sie vermutete in der griechischen eudaimonia das heidnische, aber vergebliche Streben nach ewiger Glückseligkeit, wovon Aristoteles freilich nie gesprochen hatte. Die nunmehr veränderte Gedankenführung sollte naturgemäß auf die spätere Tugendlehre durchschlagen und sie dadurch leicht angreifbar machen. Denn ein tugendhaftes Leben erschien unter dieser Voraussetzung lediglich als Mittel, die künftige Glückseligkeit zu erwerben. Damit war die Tugend sich selbst fremd geworden und sie geriet in den Verdacht eines Krämergeistes oder eines raffinierten Selbstbetrugs. Mit anderen Worten, die ehemals hochgeschätzte Tugend galt nicht mehr an sich und ihre Erfüllung wurde nur noch als Mittel zu anderen Zwecken verstanden. Der Vorstellung, daß tugendhaftes Handeln dereinst aufgerechnet und belohnt würde, war deshalb Kant entschieden mit dem Argument entgegengetreten, daß das Gute, das zu tun die praktische Vernunft unablässig gebiete, unmittelbar an sich gelte.160 Unter dieser Voraussetzung geriet auch die Vorstellung einer jenseitigen Glückseligkeit in die Kritik, ohne daß Kant diesen Gedanken einfach verwarf. Er erinnerte auf seine Weise vielmehr daran, daß dem Menschen immer daran gelegen sei, daß sein Leben gelinge. In diesem Sinne sprach das Mittelhochdeutsche von gelukken, von gelingendem Leben und Handeln. Wir wiederholten mit diesem Ausdruck wohl unwissend einen altgriechischen Gedanken; denn auch die eudaimonia meinte urprünglich jene Gestimmtheit eines Geistes, der bei sich war und sich in dem erfüllte, was er redend, denkend und handelnd auf überzeugende Weise vor sich brachte. Und eben diese Tauglichkeit zu einem im
221 ganzen erfüllten Leben war für die Griechen die höchste Tugend. Folgt man dem eben skizzierten Verständnis von praktischer Urteilskraft, das die Möglichkeit vernünftigen Handelns erst eröffnet, dann läßt sich die Mißlichkeit besser verstehen, in die die Tugendlehre im Übergang von der traditionellen Ethik in die neuzeitliche Moralphilosophie geriet. Dabei konnte sich auch das Wissen um das Tugendhafte nicht aus dem anstehenden Widerstreit zwischen den Positionen der Sittlichkeit und der Moral heraushalten, zumal diese Kontroverse in der Neuzeit das ganze praktische Wissen zu spalten drohte. In dieser Hinsicht besteht eines der schwierigsten Probleme praktischer Philosophie unserer Tage in der Frage, wie das Verhältnis einer handlungsorientierten Tugendlehre zu einer Moralphilosophie zu denken sei, die das Entscheiden und Handeln der Menschen nach Maßgabe universalisierbarer Maximen oder absoluter Gesetze beurteilen. Dabei changierte die Farbe der Tugend je nach Einschätzung der beiden Positionen. Auf der einen Seite erschien die neuzeitliche Moral als eine verinnerlichte, ins Subjektive gesteigerte Form von Tugend. Auf der anderen Seite bewirkte die Moralisierung sittlicher Verhältnisse, die durch die Romantik noch verstärkt wurde, eine zunehmende Entfremdung zwischen dem nunmehr erreichten „Selbstbewußtsein“ und der sittlichen Welt. Doch eine solche Entgegensetzung war den ethischen und den dianoetischen Tugenden bei Aristoteles von Haus aus fremd. Denn die Weisheit (sophia) so wie die Klugheit (phronesis) und die Besonnenheit (sophrosyne) kannten diesen Widerstreit nicht, weshalb auch die neuere, moralisierte Tugendethik nicht helfen konnte, die neuzeitliche Moralphilosophie mit ihren inneren Widersprüchen über sich selbst aufzuklären. Auf der Gegenseite begreift man, daß das Interesse einer empirisch gereinigten, abstrakten Moralphilosophie auf ihrer Suche nach universalen Vernunftprinzipien an der Weiterentwicklung einer praxisorientierten Tugendlehre nicht sonderlich groß war. Das schon deshalb nicht, weil es so schien, als ob die einzelnen, sozial und
222 kulturell vermittelten Tugenden von eingespielten und begrenzten Handlungssituationen ausgingen, die einem Relativismus der Einstellungen und Werte Vorschub leisteten, die die sittliche Welt zu zerstören drohten. Dagegen schien das moralisch Gute dafür zu bürgen, daß auf dem Umweg über das Prinzip eine Gemeinsamkeit des Wissens und Wollens erhalten blieb. Auf diese Weise geriet das Tugendwissen, auf das sich die griechische arete verpflichtet wußte, vollends in der bürgerlichen Gesellschaft ins Zwielicht. Der Verdacht war ja auch nicht unbegründet, daß auf diesem Weg die Sittlichkeit in die Arme von Weltanschauungen getrieben würde, die schließlich jeglichen gemeinsamen Vernunftgrund des Handelns leugnen und nur noch technischen Regeln und pragmatischen Ratschlägen folgen würden. Die Moralphilosophie erwartete deshalb von der Tugendlehre eine Zuordnung und Rangordnung von Werten und Normen, auf die die Tugenden festgelegt werden könnten. Denn ohne derlei Relationen schien der Willkür und Beliebigkeit im Handeln Tor und Tür geöffnet. Die Sophistik des Meinens hätte über das moralische Gesetz und über dessen Verbindlichkeit gesiegt. Folglich hätten in praktischer Hinsicht lediglich die Nachahmung womöglich zweifelhafter Vorbilder und die Einübung in überlieferte Rituale gegolten, die allerdings schnell in geistlose Routine umzuschlagen drohten. Auf dieser Erfahrungs- und Verstandesgrundlage war höchstens noch die Anerkennung einzelner Konventionen und die Mitarbeit an Institutionen zu erwarten, sofern diese dem eigenen Nutzen dienten. Doch das Plädoyer für die alleinige Vernünftigkeit und für die ausnahmslose Gültigkeit des allgemeinen Sittengesetzes und des universalen Moralprinzips wußte auch nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen. Es geriet seinerseits in den Verdacht, die Besonderheit der menschlichen Entscheidungen und Handlungen entweder zu nivellieren oder zu überfordern. Denn nicht jede Situation ist Fall eines Gesetzes und eignet sich auch nicht dazu, ohne Zwang verallgemeinert zu werden. Dazu kommt ein anderes Bedenken, das die Auffassung betrifft, die verschiede-
223 nen Tugenden und Werte ließen sich nach Art einer Pyramide aufstufen, an deren Spitze eine Bestimmung von höchster Allgemeinheit und Einfachheit stünde. Doch diese Lehrmeinung will nicht wahrhaben, daß sich so wie die Menschen auch die sittlichen Gesetze und moralischen Vorstellungen notwendig ändern, ohne daß deshalb alles im vulgären Verstand relativ oder beliebig würde. Beides spricht gegen die geläufige Annahme, in Fragen zweifelhafter Handlungsorientierung würden die allgemeinen Bestimmungen und die vermeintlich absoluten Ideen des Guten und Gerechten die Gründe der Vernunft uneingeschränkt auf ihrer Seite führen. Doch das schwerste Problem, mit dem es die praktische Philosophie seit der Antike unabweisbar zu tun hat, steht uns noch bevor. Dabei setze ich einmal voraus, daß eine philosophische Ethik ebenso wie alle Moralphilosophie die Erfahrung der Menschen hinsichtlich der Möglichkeit sinnvollen und vertretbaren Handelns möglichst vollständig zu erfassen und begrifflich artikuliert darzustellen hat. Schon diese didaktische Aufgabe stößt an Grenzen, die nicht übersehen werden können. Aristoteles warnte denn auch die Ethik davor, das praktische Wissen nicht zu überfordern. In Ansehung des Handlungswissens müsse man sich „damit zufrieden geben, die Wahrheit in gröberen Umrissen zu beschreiben“161. Der Kenner der Materie zeige sich daran, daß er auf den verschiedenen Gebieten des Wissens nur den Grad an Genauigkeit verlange, den „die Natur der Sache“ zuließe. So könne man beispielsweise dem Redner in einer Ratsversammlung keine mathematisch strengen Beweise abverlangen. Diese Warnung hat paradigmatische Bedeutung, wenn man bedenkt, daß gelegentlich innerhalb der sittlichen Welt allseits anerkannte Werte und Tugenden konkurrierend gegeneinander antreten, ohne daß der strittige Fall durch Unterordnung unter ein Gesetz oder durch eine Vorzugswahl befriedigend entschieden werden kann. Schon in dieser mißlichen Situation, da die getreue Befolgung der einen Tugend die Vernachlässigung einer anderen, ebenso
224 verpflichtenden Tugend zur Folge hat, geraten Weisheit und Tugend in arge Bedrängnis. Vollends aber scheint die abwägende und handelnde Vernunft im tragischen Konflikt zu versagen, in dem der Mensch so oder so schuldig wird und am Ende stolz oder verzweifelt scheitert. Dabei war es die Erfahrung risikobehafteten Handelns und des Scheiterns, die alle praktische Vernunft begleitete und die die Antike Ethik und Tugendlehre davor bewahrte, in hierarchischen Strukturen oder in Gesetzen mit universalem Anspruch zu denken, ohne deshalb der Sophistik des Meinens oder einer beliebigen Weltanschauung zu verfallen. Und es war nicht zuletzt der Gedanke eines in sich zweckmäßigen Lebens, das sich in vernünftigem Denken, Reden und Handeln noch im Scheitern erfüllte, der das praktische Wissen ehemals davor bewahrte, in das typisch neuzeitliche, vermögenspsychologische Gegenspiel von Wille und Vernunft abzugleiten, für das am Ende galt: entweder Erfolg oder Gesinnung, entweder die Unmittelbarkeit eines erträumten Glücks oder die Verantwortung für alle Taten und eigene Schöpfungen. Doch auf diesem Weg wurde das Handlungswissen – nur auf die jeweils entgegengesetzte Weise – sich selbst entfremdet und es suspendierte schließlich sein eigenes Motiv: das Prinzip einer dem Menschen gemeinsamen Vernunft. Anmerkungen Georg Picht (in: Clemens Münster und Georg Picht, Naturwissenschaft und Bildung, Würzburg 1953, S. 56): „Kein Denken hat die Möglichkeit, aus dem Gang der Geschichte herauszutreten […] Kein Weg führt in einen absoluten Raum außerhalb der Geschichte“. – Im folgenden: Vortrag an der Katholischen Akademie in Bayern, 16. Okt. 2003 (hier Langfassung mit Anmerkungen). – Vgl. v. Vf., Studien zur Ethik, Hildesheim/Zürich/New York 1992, Abs. 13.1: „Ist Tugend lehrbar?“ Dort weitere Literatur, insb. Hugo Koop, Über die Lehrbarkeit der Tugend. Untersuchungen zum Problem des Lehrens und Lernens, Würzburg 1940. 2 J.J. Rousseau, Preisschrift der Akademie von Dijon 1750 (Ausg. Ph.B. 243), S. 19: „So wie die alten Perser, eine einzigartige Nation, bei der man die Tugend (la vertu) lernte wie (comme) bei uns die Wissenschaft (la science)“. 1
225 H. Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1960. W. Bopp, Die Geschichte des Wortes „Tugend“, Diss. Heidelberg 1932. 4 Vgl. P. Stemmer, Art. „Tugend“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1998, Bd. 10, Sp. 1532 ff. (arete = Gutsein). 5 Davon sollte erst Thomas von Aquin sprechen: „Tugend ist eine gute Qualität der geistigen Kräfte (mens), wodurch man richtig lebt […], die Gott in uns ohne uns wirkt“ (S.Th. I/II 35 a 4). Von einem solchen habitus infusa ist bei Aristoteles nicht die Rede. – Vgl. Martin Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tugend, in: Kl.P. Rippe/P. Schaber (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, S. 166-184. 6 Vgl. v. Vf., Studien zur Ethik, Abs. 8: Bildungstheorie im Spannungsfeld der Antinomie von Sittlichkeit und Moralität. 7 Sokrates habe die Ideen vom Himmel unter die Menschen in die Städte gebracht: Cicero, Tusculum V. 10. 8 Vgl. die sich anbahnende Gegenüberstellung von Verstandes- und Charakterschulung bei Aristoteles (Polit. 1337 a 38: pros ten dianoian / pros to tes psyches ethos). 9 Das Ziel der Kyniker und Stoiker bestand darin, ein Leben unmittelbar gemäß der Tugend zu führen (kat’ areten zen, Diogenes Laertius VI 104 oder VI 11 Antisthenes). Vgl. Sextus Empirikus über Epikur, Adv. mathem. I 1: die mathemata würden nichts zur Glückseligkeit beitragen. 10 Vgl. v. Vf., Begreifendes Denken, insb. Abs. I. 2: Moralische Reflexion und praktische Urteilskraft. 11 Hegel warnt auch hinsichtlich des Ideals vor dem „Laternenlicht der allgemeinen Begriffe“: H. Nohl (Hrsg.), Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907, S. 142. 12 Vgl. Hegel, WW 13.80 (Suhrkamp). 13 Kallias soll die Absicht öffentlich vertreten haben, die Menschen besser zu machen (Symp. 3. 1 beltious poiein). 14 Dissoi logoi 6. 15 Vgl. Kant, wonach Charakter die „eigentümliche Beschaffenheit“ eines freien Willens sein soll – nicht das Merkmal eines bestimmten oder zu erwartenden Handelns (GMS 393). – Ähnlich hatte schon G.W. Leibniz argumentiert: die Tugend sei eine „Neigung des Willens“ zum Guten (ders., Monad. § 90), bzw. eine Art der Selbstvergessenheit. Vgl. Ph. Melanchton, Philos. moralis, WW 3. 174. 16 Xenokrates von Chalkendon soll sich vor einem Rivalen mit dem Argument gebrüstet haben, ein Philosoph sei immer auf der Suche nach der Tugend. Darauf habe jener geantwortet, es wäre besser, sie auch einmal zu finden. 17 Tugend wird hier zu einem Habitus des Menschen, wodurch er selbst gut ist und sein Werk gut verrichtet: Arist., EN 1106 a 22, bzw. ein Habitus der Willenswahl, 1139 a 20. 18 Arist., EN 1139 a 31. Vgl. zur Untugendhaftigkeit der Götter: EN 1045 a 25-27 oder 1178 a 10 ff. 19 Arist., EN 1139 a 27 ff. (aletheia praktike). Vgl. Arist., EN 1094 b 20: 3
226 auf diesem Gebiet des Wissens müsse man sich damit begnügen, die Wahrheit in gröberen Umrissen (en typo) einzufordern. – Vgl. Anselm W. Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, Freiburg/München 1982. 20 Schelling, WW IX. 354. 21 Arist., EN 1144 a 29. – Vgl. EN 1080 a 5-18: Ziel der Erziehung sei, das wahrhaft Angenehme schmecken zu lehren. 22 Plato, Pol. 331 e 1 ff. 23 Selbst der Versuch, auf christlicher oder auf humanistischer Grundlage auf dem Weg über die anthropologische Wesensfrage die Tugendlehre zu rehabilitieren, weiß in dieser Situation kaum zu gefallen. Vgl. z.B. Josef Pieper (ders., Über die Hoffnung, 1958, S. 25), der in der Tugend die „wahrhafte Verwirklichung“ des menschlichen Wesens erblickte. Ähnlich Otto Friedrich Bollnow (ders., Wesen und Wandel der Tugenden, 1958, S. 18), wonach die Tugenden als „Ausdruck des menschlichen Wesens“ zu verstehen seien. – Vgl. dagegen die entgegengesetzte These von L. Mettrie (ders., Œeuvre philos. 2. 256), die Tugend sei ein „leerer Schall“, zumal sie nur relativ zu den Interessen einer bestimmten Gesellschaft existiere. Machiavelli konnte in ihr nur ein moralisch indifferentes Mittel zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen sehen (Il Principe 1. 62). 24 Vgl. Plato., Men. 71 a ff. 25 Vgl. Heraklit, DK 22 B 113: „Einsicht zu haben (phronein) ist etwas Gemeinsames (zynon)“. 26 Vgl. Hegel, Phänomenologie, zur Differenz von gesetzgebender und gesetzprüfender Vernunft: WW 3. 311-322. 27 Arist., EN 1128 a 32. 28 Vgl. Kant, GMS 410-412. 29 Homer, Odys. 19. 23 ff. Später sollte dieser Gedanke unter anderen Vorzeichen bei Petrarca wiederholt werden. Er empfahl die virtus als Heilmittel gegen die Zufälle der fortuna (ders., De remediis utriusque fortunae, lib. II, dial. 1). 30 Hesiod, Erga Vs. 67 u. 78. 31 Zenon als Begründer der stoischen Ethik, vgl. Stoicorum veterum fragmenta (ed. J. v. Arnim), Stuttgart 1978 (1905), Vol. I Eth. V. De virtute, insb. Nr. 203 bzw. 204. 32 Vgl. Albrecht Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985. 33 Vgl. Quintilianus, Institutio oratoria 6. 2. Vorbote dieser Auffassung von Tugend war die Stoa, die – im Gegensatz zu Aristoteles (peri psyche) – in einer Abwesenheit der Affekte (apatheia) das höchste Glück des Menschen sah. Unter dieser Voraussetzung war die arete das Wissen von dem, was gut, schlecht und indifferent ist (vgl. Diog. Laert., Vitae VII, 92); vgl. Cicero, Tusc. Disp. V, 28, 82. 34 Es ist mehr als irreführend zu behaupten, die traditionelle Aufgabe der Tugend habe darin bestanden, „den Überschuß oder Mangel an Leidenschaften zu korrigieren“ (O. Höffe u. Chr. Rapp, Artikel „Tugend“, in: Hist. Wb. d. Philos. Bd. 10, Sp. 1554).
227 Vgl. z.B. Hegel, WW 12. 34 (Leidenschaft als Triebfeder menschlicher Tätigkeiten); 12. 38 (nichts Großes in der Welt sei ohne Leidenschaft vollbracht worden). 36 Vgl. zusammenfassend Platos 7. Brief. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Dialektik und Sophistik im VII. Platonischen Brief, in: ders., Platos dialektische Ethik, Hamburg 1968, S. 223-247. – Vgl. die Kritik des Aristoteles an dieser Auffassung von einer Idee, die nicht den Dingen selbst immament wäre: Arist., Met. 1079 b 5 ff. 37 Paul Menzer (Hrsg.), Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 1924, S. 52. 38 Kant, Reflexionen 6598. 39 Kant, Refl. 6619: „Das kräftigste Mittel, die Menschen zu moralisch Gutem anzutreiben, ist also die Vorstellung der reinen Tugend“. Man könne sich selbst nur schätzen, insofern man ihr gemäß sei. 40 Kant, Ethische Methodenlehre. Die ethische Didaktik § 49. Vgl. neuerlich: Lutz Koch, Kants ethische Didaktik, Würzburg 2003, insb. Abs. 3 u. 4. 41 Vgl. Kant, WW XXVII.253. 42 A.a.O. 300. – Vgl. insg.: Gerhard Lehmann, Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation Kants, Berlin 1980, S. 59-95. 43 Kant, WW V. 432 f. 44 Kant, KpV V. 151: „nicht Heiligkeit im vermeintlichen Besitz einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens“. 45 Kant, Ethische Didaktik, § 51. 46 Kant, Brief an Lambert, Winter 1770-1771. Kant beabsichtigt, „Untersuchungen über die reine moralische Weltweisheit, in der keine empirischen Prinzipien anzutreffen sind, und gleichsam die Metaphysik der Sitten in Ordnung zu bringen und auszufertigen“. 47 Anthony A.C. Shaftesbury, Untersuchungen über die Tugend, hrsg. u. übers. v. P. Ziertmann, Leipzig 1905 (orig. 1699 u. 1711), S. 2; orig. S. 3 to enquire How far Virtue alone could go. 48 Heraklit, DK 22 B 2. 49 In der Einleitung zur Philosophie der Geschichte sprach Hegel von der „Litanei von Privattugenden der Bescheidenheit, der Demut, Menschenliebe und Mildtätigkeit“ (Hegel, WW. 12. 91). Hegel sprach zuvor von den „wahrhaften Grundsätzen der Moralität oder vielmehr der Sittlichkeit“, die er der „falschen Moralität“ entgegensetzte (a.a.O., S. 90). An anderer Stelle geißelte er die „Eitelkeit“ typisch moralischer Selbstgefälligkeit (Hegel, WW. 4., 262 [unter dem Titel: „Pflichtenlehre oder Moral“]. – Gehorsam gehört zusammen mit der Pünktlichkeit, der Sparsamkeit, dem Fleiß und der Sorgfalt zu den Sekundärtugenden. 50 Nietzsche sprach von den „treuherzigen und vierschrötigen Tugenden“ (ders., Krit. GA 6/2 157). Max Scheler beteuerte, die Tugenden seien in der Zwischenzeit so mißliebig geworden, „daß wir uns eines Lächelns kaum erwehren können“ (ders., GW 3. 15); vgl. insg. a.a.O.: „Zur Rehabilitierung der Tugend“. Tugend wird hier gelegentlich mit einer „alten, keifenden, zahnlo35
228 sen Jungfer“ verglichen. – Fr. Hebbel: „Unsere Tugenden sind zumeist die Bastarde unserer Sünden“ (zitiert nach M. Honecker, Schwierigkeiten mit dem Begriff der Tugend, S. 166). 51 Vgl. Hegel, WW. 10. 84 ff. 52 Vgl. neuerlich: Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt/M. 1986. 53 Vgl. Arist., EN 11789 b 22 u. EN 1103 a 1 ff. 54 Hegel, WW. 3. 441-464; ders., WW. 7. 286-292. 55 Hegel, WW. 18. 441; vgl. 10. 329. 56 Hegel, WW. 18. 443. 57 A.a.O. 58 A.a.O., S. 445. 59 A.a.O. 60 Vgl. Hegel, WW. 4. 269 und die Erläuterungen zu den §§ 64 u. 65. 61 Hegel, WW. 7. 207 (Zusatz). – Vgl. Heidelberger Enzyklopädie § 418 u. ff. (Jub.-Ausgabe 6. 288): „Der allgemeine Schluß ist, daß das moralische Subjekt als […] dieser innere Widerspruch der Trieb ist, denselben aufzuheben, d.h. zu handeln, den Zweck zu realisieren und die äußerliche Welt dem Zweck gemäß zu machen“. – Vgl. Hegel, WW. 3. 444; 13. 51. 62 Hegel, WW. 10. 85. 63 Vgl. Arist., insb. die Nikomachische und Eudemische Ethik. 64 Arist., EN 1139 a 16 ff. – Das ethos schließt bei Aristoteles ebenso das animalische Verhalten und die Lebensgewohnheiten der Tiere ein (kata to ethos: Zoon hist. 487 a 12 f. oder 488 b 12) wie die Dispositionen und Gewohnheiten der Menschen, wobei sich die ethike hexis im Verein mit der Einsicht (dianoia) im Hinblick auf die Möglichkeit vernünftigen Handelns versteht (Arist., Pol. 1281 b 7 oder 1337 a 39 u.ö.). 65 Vgl. Arist., EN 1139 a 20, 1172 c 22 oder 1170 a 8. – Vgl. die Rolle des spoudaios bei Aristoteles in der Darstellung von R. Schottlaender, Der aristotelische ‚spoudaios‘, in: Zs.f.philos.F. Bd. 34 (1980); v. Vf., Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles, Würzburg 1984, S. 73 ff. und 88 ff. 66 M.T. Cicero, De finibus bonorum et malorum III. 14; ders., De officiis (lat.-dt.), Frankfurt/Leipzig 1991, S. 160 ff. 67 Vgl. Cicero, De officiis, (lat.-dt.), Frankfurt/Leipzig 1991, S. 160 ff: quae enim esset ista mens vel quae vita potius, non modo disputandi, sed etiam vivendi ratione sublata (was wäre das für eine Geisteshaltung, wenn den wissenschaftlichen Diskursen und sogar der Lebensführung jegliche vernünftige Grundlage entzogen würde?). Vgl. die zeitgemäße Wiederholung der griechischen Reihung von physike, dialektike und ythike in der Steigerung von naturalis, rationalis und moralis (Hinweis von R. Löbl). 68 Epikur, Briefe. Sprüche. Fragmente (Übers. und Hrsg. Hans-Wolfgang Krautz), gr.-dt., Stuttgart 1980, S. 43 ff. u. S. 67 (Brief an Memoikeus; Sprüche V). 69 A.a.O., S. 77 (Sprüche XXXIII u. XXXVI). 70 Vgl. Hegel, Jenenser Philosophie des Geistes 1805/06, Ph.B. 67. 183:
229 „logos (ist Vernunft), Wesen der Dinge und Rede, Sache und Sage, Kategorie“. Vgl. Hegel. WW. 20. 106. – Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 21960, S. 20: „Die griechische Sprache, und sie allein ist logos“. 71 Vgl. Martha Nussbaum, Nicht-relative Tugenden: ein aristotelischer Ansatz, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (wie Anm. 5), S. 129. 72 Vgl. Plato, Pol. 428 e ff.; Arist., EN 1103 a 4 ff. 73 Vgl. z.B. Philippa Foot, Tugenden und Laster, in: Tugendethik (wie Anm. 5), S. 69, wonach Thomas von Aquin (Summa Theologica, lat.-dt. Ausg., Bd. 11, Salzburg/Leipzig 1940): „im großen und ganzen“ Aristoteles gefolgt sei. Das gilt weder für die Schöpfungstheologie noch für die Vorstellung Gottes als eines Gesetzgebers oder Erlösers. 74 Vgl. Cicero, De officiis (lat.-dt.), Frankfurt/Leipzig 1991, S. 162 ff. Dort werden fünf verschiedene Formen der Verpflichtung in ihrer Zielsetzung unterschieden, wobei sich die ratio honestum und die ratio utilitatis sowie deren Widerstreit in der Urteilskraft gegenüberstehen. 75 Vgl. Kants Anspielung auf das sentiment: Arnold Kowalewski, Die Hauptvorlesungen Immanuel Kants I. 242; vgl. II. 25 ff. oder Kant, WW VII. 139. 76 Kant, WW IV. 389. 77 Hegel, WW 20. 291. 78 Kant,WW II 217; vgl. VI 23: Tugend = „die fest gegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen“. 79 Vgl. Paul Menzer (Hrsg.), Eine Vorlesung Kants über Ethik, Berlin 21925, S. 90 ff. 80 Kant, WW V 110. – Vgl. zum Begriff der „Tugendpflicht“ bei Kant: WW VI 282 ff. 81 Kant spricht immerhin von einer gleichwohl mutigen und „fröhlichen Gemütsstimmung“, ja von einem „fröhlichen Herz in Befolgung seiner Pflicht“ (WW VI 24). 82 Kant, WW V 110 in Auseinandersetzung mit den Epikureern und Stoikern: „Der Stoiker behauptete, Tugend sei das ganze Gut und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzes derselben als zum Zustand des Subjekts gehörig. Der Epikureer behauptete, Glückseligkeit sei das ganz höchste Gut und Tugend nur die Form der Maxime, sich um sie zu bewerben“. 83 Zur Tugendlehre a) bei Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Königsberg 1797, insb. I Ethische Elementarlehre – b) bei Hegel: insb. WW 3. 270 ff.: „Die Tugend und der Weltlauf“, oder WW 7. 299: Die Lehre von den Tugenden als „geistige Naturgeschichte“. 84 Kant, WW VI 14. – Vgl. WW VI 394: „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht“. – Ob es so überzeugend ist, vor diesem Hintergrund von einer „Tugendethik“ zu sprechen, bleibt zweifelhaft; vgl. Robert B. Louden, Einige Laster der Tugendethik, in: Rippe/Schaber, Tugendethik (wie Anm. 5), S. 185-213. 85 A.a.O., S. 47. – Kant sprach zuvor von einer „rigoristischen Entscheidungsart“ (a.a.O., S. 23).
230 A.a.O., S. 48 (virtus noumenon). A.a.O., S. 24 Anm. – Auf diese Weise wurden Schillers „Gewissensskrupel“ wenigstens gemildert, gern den Freunden zu dienen, dies aber „leider mit Neigung“ zu tun (ders., Xenien, Nat.-Ausg. 1. 357). Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, GW 2, 50 ff. u. 213 ff. Ähnlich Paul Natorps Kritik am Kantischen Formalismus in der Ethik (ders., Sozialpädagogik, 1899, § 11). 88 Vgl. Kant, WW VI 383: die Tugend enthielte das „Bewußtsein des Vermögens […], über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden“. – Vgl. Leibniz, Monad. § 90. 89 Kant, a.a.O., S. 379. 90 Vgl. Augustinus, De civitate Dei IV 20. 91 Vgl. Nietzsches These, innerhalb der konventionellen Sittlichkeit neige jede Tugend zur Dummheit und jede Dummheit zur Tugend (ders., Krit. GA 6/2 169). 92 Vgl. Shaftesbury, Untersuchungen über die Tugend (wie Anm. 47), S. 2: Es sei zu untersuchen, „was Rechtschaffenheit oder Tugend an sich selbst betrachtet sei und in welcher Weise sie durch Religion beeinflußt werde; inwieweit Religion notwendig Tugend einschließe, und ob es richtig sei zu sagen, ein Atheist könne unmöglich tugendhaft sein“. 93 Vgl. Kant, KU § 86. – Vgl. Lutz Koch, Kants ethische Didaktik, Würzburg 2003. 94 Vgl. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre § 49: „Daß Tugend erworben werden müsse (nicht angeboren sei), liegt […] schon in dem Begriff derselben. Denn das sittliche Vermögen des Menschen wäre nicht Tugend, wenn es nicht durch die Stärke des Vorsatzes in dem Streit mit so mächtigen entgegenstehenden Neigungen hervorgebracht wäre. Sie ist das Produkt aus der reinen praktischen Vernunft, sofern diese im Bewußtsein ihrer Überlegenheit (aus Freiheit) über jene die Oberhand gewinnt“. 95 Vgl. Hegel, WW 7. 283: „Dies Negative selbst gehört darum der Bildung, der Charakter des Gefühls der tiefsten Empörung gegen dies Geltende, was dem Selbstbewußtsein ein fremdes Wesen, was ohne es sein will […] Das Positive sind sogenannte unmittelbar einleuchtende Wahrheiten des gesunden Menschenverstands – des Menschenverstands, der nichts enthält als nur diese Wahrheit und Forderung, sich selbst zu finden, und in dieser Forderung stehen bleibt“. 96 Vgl. Hegel, WW 10. 84. 97 Hegel, WW 18. 445. 98 Hegel, WW 19. 61. 99 Hegel, WW 12. 137. 100 Hegel, WW 18. 468 ff. 101 Hegel, WW 12. 323. 102 Hegel, Heidelberger Enzyklopädie (Glockner-Ausg.), Stuttgart 41968, § 417, S. 287. 103 Hegel, WW 18. 472 ff. 104 Hegel, WW 3. 453; vgl. Kontext. 86 87
231 Hegel, WW 7. 88. Vgl. v. Vf., Studien zur Ethik (wie Anm. 1), Abs. 7: Praktische Bildung und Moral. 106 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 75. 67 (Kröner). 107 Arist., EN 1139 a 35 ff. 108 Arist., EN 1144 a 6 ff. – Vgl. die Rolle des phronimos in diesem Kontext: EN 1140 a 25 ff. 109 Arist., EN 1144 b 30 f.: „Dieses Ziel aber offenbart sich nur dem Tugendhaften. Denn die Schlechtigkeit verkehrt das Urteil der Vernunft und führt hinsichtlich der Prinzipien des Handelns in die Irre, und so ist es offenbar unmöglich, klug zu sein, ohne tugendhaft zu sein“. Arist., Phys. 197 b 123; vgl. neuerlich: C.C.W. Taylor, Aristoteles über den praktischen Intellekt, in: Th. Buchheim u.a. (Hrsg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003; v. Vf., Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft, Würzburg/Amsterdam 1983; ders., Studien zur Ethik (wie Anm. 1), Abs. 12: „Verstand, Glaube, Vernunft. Ein Traktat zu praktischer Vernunft“. 110 Ion, DK 36 B 1; vgl. Arist., De cael. 268 a 10. 111 Vgl. R. Löbl, Techne – Technik, 2 Bde., Würzburg 1997/2003. 112 Es ist bemerkenswert, daß Nietzsche im Antichrist von „moralinfreier Tugend“ spricht und in diesem Zusammenhang fordert: „nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit“ (Nietzsche, WW Kröner 77. 192). An anderer Stelle bezieht er sich auf die vormoralische Bedeutung des Wortes mit dem Argument: „Man soll die Tugend gegen die Tugendprediger verteidigen: das sind ihre schlimmsten Feinde“ (WW 78. 220). – Vorausgesetzt wird dabei die Auffassung, daß alle Moral das Leben verneine (WW 77. 3) und man deshalb die Moral vernichten müsse, um das Leben zu befreien (WW 78. 238). 113 Vgl. Demokrit, DK 68 B 197: „Toren formen sich durch die Gaben des Zufalls (tyches), Kenner dagegen durch die Werke der Weisheit (sophies)“. 114 Plato, Pol. 428 E ff. 115 Heraklit, DK 22 B 112: „Verständigsein (sophronein) ist die höchste Tugend; die Weisheit (sophia) besteht darin, das Wahre zu sagen und zu handeln in Übereinstimmung mit der Natur (kata physin). Vgl. Demokrit, DK 68 B 2 (Die dreigebürtige Athene). 116 Arist., EN 1113 a 29 ff.; 1166 a 12 ff.; u. 1176 a 16 ff.; vgl. Plato, Nom. 874 e-875. 117 Arist., EN 1107 a 6 ff. – Dem Begriff nach eine Mitte, dem Rang nach ein Äußerstes: Arist., EN 1107 a b, denn dessen Ziel ist das Gute und Schöne (EN 1115 b 13). – Vgl. Harald Schilling, Das Ethos der Mesotes, in: Heidelberger Abh. d. Philos. und ihrer Geschichte 22, Tübingen 1930. 118 Arist., Poet. 1450 b 38 f.: megistei kai taxei. „Das Schöne […] bei jedem Gegenstand, der aus etwas zusammengesetzt ist, ist nicht nur dadurch bedingt, daß die Teile in bestimmter Weise angeordnet sind; er muß vielmehr auch eine bestimmte Größe haben“. Solchermaßen werden alle Handlungen und Kunstwerke durch innere Gliederung und das Maß bestimmt. 105
232 Vgl. Stephen Halliwell, Aristoteles und die Geschichte der Ästhetik, in: Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? (wie Anm. 109), S. 177 ff. 120 Vgl. v. Vf., Praxis und Vernunft (wie Anm. 109), insb. Abs. 5. 2. 121 Vgl. den Ansatz dieses begrifflichen Gegensatzes bei Theophrast (Horneffer, Übers. und Hrsg., Ethische Charaktere, 2 Bde., in: Antike Kultur 1909). 122 Arist., EN 1094 a; vgl. Plato, Pol. 505 d. – Vgl. zuvor bereits Demokrit, DK 68 B 229. 123 Vgl. v. Vf., Teleologie als metaphysisches Problem, Würzburg 1995, insb. Abs. 4. 2. 124 Vgl. Arist., EN 1129 a 13; 1145 b 21 ff.; insb. 1182 a 16 oder 1216 b 6. 125 Arist., EN 1144 b 17. 126 Vgl. bereits Karl Ludwig Michelet, Die Ethik des Aristoteles in ihrem Verhältnis zum System der Moral, Berlin 1827, S. 37 u. 63 ff. 127 Arist., EN 1106 a 17; bzw. 1122 b 15. 128 Arist., EN 1094 a 1 ff. 129 Vgl. Arist., Phys. 192 b 13 f. oder Met. 1025 b 19 ff. 130 Arist., De an., 412 b 4-413 a. – Vgl. J. Hübner, Die Aristotelische Konzeption der Seele als Aktivität, in: Arch. f. Gesch. d. Philos. 81 (1999), S. 1-33 ff. H. Busche, Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001. Vgl. ferner: Arist., EE 1219 b 27-40; EN 1139 a 4-15; Arist., Phys. 192 b 8 ff. oder Met. 1035 b 14-25 oder 1036 b 30 ff. – Vgl. H. Cassirer, Aristoteles’ Schrift von der Seele und ihre Stellung innerhalb der Aristotelischen Philosophie, Tübingen 1932. 131 Vgl. Thuk., 2. 52 ff. 132 Bezüglich der Staatskunst faßte der Athener in Platos Gesetzen diesen zweifelhaften Standpunkt zusammen: „So sei denn insbesondere die ganze Gesetzgebung nicht Sache der Natur, sondern der Kunst (techne); und daher entbehren denn ihre Satzungen (theseis) der Wahrheit“ (Plato, Nom. 889 d ff.). Plato läßt aber im folgenden keinen Zweifel darüber aufkommen, wohin eine solche Auffassung von Tugend und Gerechtigkeit führen wird: „das Gerechteste sei das, was einer sich durch siegreiche Gewalt zu erzwingen weiß“. Das „angeblich einzig richtige Leben“ wird sinngemäß darin gesehen, „daß man als Herr und Gebieter über die anderen lebt, nicht aber, wie es das Gesetz will“ (a.a.O., 890 a 5 ff.). Vgl. Thrasymachos, in: Plato, Pol. 348: arete habe nicht der, der Rücksicht auf andere nehme und sich moralisch verhalte, sondern der, der seine Begierden und Wünsche so weit wie möglich auslebe. 133 Vgl. Plato, Men. 95 b 10 oder Prot. 327 e 1-328 d 5: die Sophisten als didaskaloi aretes (Lehrer der Tugend). Vgl. Xenokrates in der Gefolgschaft Platos (nach Diog. Laert., Vitae IV 12). 134 Plato, Gorg. 483 c-d. 135 Vgl. Plato, Prot. 322 b-d. 136 Vgl. H.-G. Gadamer, Hermeneutische Entwürfe, Tübingen 2000, 119
233 Abs. 7. Vgl. v. Vf., Über die Freundschaft, in: Vs.f.wiss.Päd., 71. Jg. (1995), S. 148-157. 137 Cicero wird das Diktum zugeschrieben, Sokrates habe „als erster die Philosophie vom Himmel herabgerufen und in den Städten der Menschen angesiedelt […] und die Menschen dazu gezwungen, über die Lebensform, das richtige Handeln und das Gute und das Schlechte nachzudenken.“ (ders., Tusculum V. 10). 138 Vgl. Arist., An. post. 71 a 1-4; vgl. auch Met. 980 b 28-982 a 2. 139 Anonymus Iamblichi, 1 p. 75, 16-20. 140 Arist., EN 1179 b 22; vgl. 1178 a 8 ff.; EE 1234 a 24 ff.; EN 1103 a 30 ff. 141 Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), 24. Brief: „Schönheit ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung“, vgl. 25. Brief. 142 Vgl. die Idee der kalokagathia bei Aristoteles, EN 1124 a 1-4 oder 1179 b 7-10; Plato, Symp., 201 c. 143 Arist., Pol., 1340 a 23-25: „die rechte Gewöhnung der Ablehnung und Freude“. Auf diesem Weg wird die Gewohnheit zur „zweiten Natur“. 144 P. Natorp, Sozialpädagogik, Paderborn 71974 (1902), S. 221. 145 Tugend besteht im Zusammenhang mit der Willenswahl (prohairesis; Arist., EN 1139 a 20) darin, bei den richtigen Dingen Lust und Unlust zu empfinden (EN 1172 c 22 oder 1170 a 8). 146 Arist., EN 1103 a 1 ff. 147 Arist., EN 1104 a 2-10. 148 Arist., MM 1250 a 4 f.; vgl. 1250 b 6. 149 Gorg., Frag. 13 (DK). Vgl. M. Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairos, in: Zs. f. philos. F., Bd. 27 (1973), S. 256-274. 150 Arist., EN 1104 b 6 ff.; vgl. 1094 b 24: vgl. v. Vf., Studien zur Ethik (wie Anm. 1), Abs. 3. 2: Zur Lage der Ethik. 151 Vgl. unserer Tage Annemarie Pieper, Pragmatische und ethische Normenbegründung, Freiburg/München 1979 oder Manfred Riedel, Norm und Werturteil. Grundlegung der Ethik, Stuttgart 1979, S. 5 u. S. 91. Schon Plato hatte den Standpunkt der Normen und des Rechts mit einem alten, ungelehrigen Mann verglichen, der nichts Neues dazu lernen wolle (Plato, Pol. 294 a). Vgl. v. Vf., Studien zur Ethik (wie Anm. 1), Abs. 5: Sittliche Einsicht und Normenethik. 152 Plato, Pol. 294 a 153 Vgl. Plato, Pol., 294 a: „Weil das Gesetz nicht imstande ist, das für alle Zuträgliche und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähnlichkeit der Menschen und der Handlungen und daß nirgend irgend etwas sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, daß irgend eine Kunst in irgend etwas für alle und zu aller Zeit Einartiges hinstelle“. – Vgl. Arist., EN 1104 a 6 ff. 154 In seinen Vorlesungen über Metaphysik (Erfurt 1821, S. 160 u. ff.) gab Kant zu bedenken, daß eine solche Urteilskraft nicht erlernt werden kön-
234 ne. Man müsse vielmehr „durch Übung zur Fertigkeit in derselben gelangen“. Der Verstand ließe sich „instruieren, aber nicht die Urteilskraft“. 155 Vgl. neuerlich Arbogast Schmitt, Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Th. Buchheim u.a. (Hrsg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, S. 193: „Der Charakter und zwar der individuelle Charakter – die Gattung Mensch hat keinen Charakter –, ist für Aristoteles etwas Allgemeines nicht im Sinne einer leeren Abstraktion […]“. 156 Vgl. v. Vf., Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles, Würzburg 1994; ders., Studien zur Ethik (wie Anm. 1), Abs. 6. Unter dieser Voraussetzung verstand sich weder die griechische Ethik noch die neuzeitliche Moralphilosophie als pragmatische Handreichung noch als Anweisung zu einem mustergültigen oder gar seligen Leben. – Ebenso irreführend ist die Wiedergabe der eudaimonia mit Glück bei Otfried Höffe (ders., Aristoteles’ universalistische Tugendethik, in: K.P. Rippe u. P. Schaber, Hrsg., Tugendethik (wie Anm. 5), S. 53 ff. oder S. 65 ff.) mit der ebenso verfänglichen Einschränkung: „Die eudämonistische Vollendung des Lebens liegt nicht in der Hand des Menschen; sie bleibt ein Geschenk des Schicksals bzw. der Götter“ (a.a.O., S. 65). 157 Eine ähnliche Auffassung klingt noch bei Kierkegaard nach, wenn er in seiner Gliederung der „Stadien auf des Lebens Weg“ das ästhetische, unmittelbare Erlebnis des Augenblicks in die beständige und verläßliche Lebensform des Ethischen überführt und dabei der Ehe eine herausragende Rolle zuspielt: SV VI 87 ff. oder III 177 ff. u.ö. 158 Arist., EN 1095 a 16. 159 Ein Leben, das gelingt, ist für Aristoteles eudaimon. Tugendhaftes Handeln zielt deshalb nicht darauf ab, die Glückseligkeit zu erwerben; vgl. Arist., EN 1095 a 14 ff., 1100 a 13 oder 1176 b 1 ff. Genauso irreführend ist die Übersetzung des Wortes eudaimonia mit Glück oder dem Streben nach Glück. Vgl. z.B. Ottfried Höffe, Aristoteles’ universalistische Tugendethik, in: Tugendethik (wie Anm. 5), S. 53 ff. u. S. 65, wonach der bios theoretikos „die […] höchste Form eines dem Glück verpflichteten Lebens“ sein soll. 160 Vgl. Kant, GMS 412-421; KpV, insb. § 5 ff. 161 Arist, EN 1094 b 20 (typo); vgl. ff.
III Zur wahren Schau
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Jorge Uscatescu Barrón ZUR GESCHICHTE DER ENTGEGENSETZUNG DES GUTEN UND DES SCHLECHTEN1
Der Einblick in die Geschichte der Entgegensetzung von Gutem und Schlechtem vermittelt nicht nur die einzelnen Stationen (Aristoteles, Proklos, Simplicius, Thomas von Aquin und Kant) der Auseinandersetzung mit diesem Problem, sondern erörtert es auch unter sachlichen Gesichtspunkten. Wenngleich jede Entgegensetzung einen den entgegenzustellenden Gliedern gemeinsamen Bezugspunkt fordert, lassen sich Gutes und Schlechtes weder einer gemeinsamen Gattung unterordnen, noch als Gattungen in irgendeinem Sinne begreifen. Trotzdem sind Gutes und Schlechtes einander entgegengesetzt. Dies zeigt, daß die Entgegensetzung nicht nur „eine Sache“ des Denkens ist, sondern auch von der Seinsstruktur beider Glieder abhängt. Diese Entgegensetzung ist zudem als eine Wesenszusammengehörigkeit zu deuten, die mit der Entgegensetzung von Sein und Nichts wesenhaft verknüpft ist.
In der philosophischen Tradition wird das Schlechte immer nur in seiner wesentlichen Entgegensetzung zum Guten faßbar. Um welche Art von Entgegensetzung handelt es sich aber? Und ist „entgegensetzen“ nur eine Handlung des Denkens, durch die die Wirklichkeit strukturiert wird, oder erweist sich die Entgegensetzung auch als eine Struktur des Seins? Die systematische Vorgabe für die Diskussion über das Verhältnis von gut und schlecht liefert Aristoteles mit seiner Gegensatzlehre. Doch die eigenartige Entgegensetzung von gut und schlecht, die entweder als wahrer Gegensatz oder als privative Entgegensetzung gedeutet wird, sprengt bereits früh den von Aristoteles abgesteckten Bereich des Gegensätzlichen. Denn jede Entgegensetzung fordert einen den entgegenzustellenden Gliedern gemeinsamen Bezugspunkt. Gutes und Schlechtes aber lassen sich weder einer
238 gemeinsamen Gattung unterordnen, noch als Gattungen in irgendeinem Sinne begreifen. Trotzdem sind Gutes und Schlechtes einander entgegengesetzt. Der vorliegende Einblick in die Geschichte dieser Problematik erhebt als historische Darstellung keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will lediglich wesentliche Lösungsversuche dieses fraglichen Gegensatzes von gut und schlecht in ihrer jeweiligen ontologischen Verankerung aufzeigen, um den Sachbefund deutlich hervortreten zu lassen, daß die Entgegensetzung nicht nur „eine Sache“ des Denkens ist, sondern von der Seinsstruktur beider Glieder abhängt. Aus theologischer, aber zugleich philosophischer Perspektive behandelt L.-B. Gillon2 einen Abschnitt dieser Geschichte, allerdings nur die Zeitspanne von Wilhelm von Auvergne bis Thomas von Aquin, also etwa 50 Jahre. Unabhängig von diesem Beitrag entfaltet Klaus Jacobi3 diese Problematik kurz bei Aristoteles und ausführlicher bei einigen Kommentatoren, vor allem bei Simplikios. Die vorliegende Studie stützt sich zwar auf diese beiden Arbeiten, spannt jedoch einen größeren Bogen, der von Aristoteles bis Kant reicht, und lenkt zugleich das Augenmerk vornehmlich auf die Entgegensetzung von gut und schlecht im allgemeinen, ohne dabei jedoch das von den beiden Autoren betrachtete besondere Verhältnis des sittlich Guten und der Sünde außer acht zu lassen, das vor allem im Mittelalter die Geschichte der Entgegensetzung von gut und schlecht entscheidend mitbestimmt. Der Blick ist nicht auf die Geschichte der Begriffsbestimmungen von gut und schlecht, sondern nur auf die geschichtlich belegbaren Positionen über die Entgegensetzung gerichtet. Mit dieser Aktzentverschiebung entfallen viele Autoren und Positionen, die sich zwar mit dem Schlechten und dem Guten auseinandersetzen, nicht jedoch mit dieser besonderen Problematik, die vor allem in der an Aristoteles anknüpfenden Tradition beachtet wurde. Deshalb kann man einen Leitfaden von Aristoteles bis Kant über den Neuplatonismus, Thomas von Aquin und Spätscholastik ziehen, obwohl die Verschiedenheit der Ansätze und
239 Lösungsversuche im Horizont des Gegensatzverhältnisses von gut und schlecht unverkennbar ist.
1. Die Entgegensetzung von gut und schlecht bei Aristoteles Aristoteles’ Ansicht über die Entgegensetzung von Gutem und Schlechtem läßt sich nur aus seiner allgemeinen Theorie der Gegensätze verstehen, die im folgenden kurz nachgezeichnet wird. In seiner Gegensatzlehre4 stellt Aristoteles fest, daß sich die Entgegensetzung sowohl auf Begriffe als auch auf Sätze beziehen kann. An anderer Stelle liefert er die allgemeine Bestimmung der Gegensätze, wonach Gegensätzliches alles ist, was nicht zugleich ist5 – und man sollte auch hinzufügen: in derselben Hinsicht und in demselben Subjekt (dektikón) sein kann. Unterschieden werden vier Arten der Entgegensetzung. Der relative Gegensatz (prów ti) läßt zwei Dinge in ein Verhältnis treten, in dem das eine von dem gesagt wird, was ihm entgegengesetzt ist. Im Verhältnis doppelt/halb wird das Doppelte im Bezug auf das Halbe ausgesagt, so daß es das Doppelte eines Halben ist. Der relative Gegensatz setzt Reziprozität und Gleichzeitigkeit der Relativa voraus. Der konträre Gegensatz bezeichnet ein Verhältnis, in dem das eine Glied nicht auf das andere bezogen wird. Etwa das Gute, das dem Schlechten entgegengesetzt wird, ist nicht das Gute des Schlechten, sondern sein Gegensatz. Diese Entgegensetzung hat zwei Arten. Die eine läßt ein Drittes zwischen den konträren Gliedern zu, die andere aber keines. Zur ersten Art gehören Gegensätze wie Gutes und Schlechtes, schwarz und weiß. Zwischen dem Guten und dem Schlechten gibt es ein den beiden Indifferentes. Vom Schwarzen zum Weißen breitet sich nämlich eine ganze Palette von Farben aus. Zur zweiten gehört der Gegensatz Krankheit/Gesundsein, denn nur eins von beiden kommt dem Körper zu, so daß beide nicht gleichzeitig in ihm sein können: Der Körper ist entweder krank oder gesund, ein dritter Zustand ist nicht zulässig.6
240 Zwischen dem Habhaftwerden eines Habitus und dessen Beraubung liegt ein privativer Gegensatz vor. Das Entbehren von etwas ist nicht eo ipso eine Beraubung, weil das nicht Besessene etwas sein muß, das diesem Entbehrenden natürlicherweise zukommen sollte. In der Privation sind Beraubung und Habitus nicht wie Relativa aufeinander bezogen. So ist die Sehkraft beispielsweise weder die Sehkraft der Blindheit, noch ist die Blindheit Blindheit der Sehkraft.7 Der kontradiktorische Gegensatz gilt nur für Aussagen und besteht allein zwischen einer Behauptung und einer Verneinung desselben. Zwischen Begriffen waltet er jedoch nicht. Aus dieser Darlegung wird erstens deutlich, daß Aristoteles das Verhältnis von Gutem und Schlechtem als einen konträren Gegensatz auffaßt, der ein Drittes zuläßt.8 Gutes und Schlechtes sind nach Aristoteles Abwandlungen der Kategorie der Beschaffenheit, die einem Ding als Träger bzw. Substanz zukommt.9 Zweitens lassen die konträren Gegensätze im Unterschied zu den privativen (Hexeis/Beraubung) einen Übergang oder Fortschritt zu, denn das Schlechte kann durch eine Verbesserung zu einem Besseren werden oder umgekehrt.10 Von schlecht/gut bemerkt Aristoteles zudem11, daß in einigen Fällen das Gute zwei Übeln entgegengesetzt werden kann. Die Mäßigung als Mitte zwischen der Dürftigkeit und dem Übermaß ist diesen beiden entgegengesetzt. Dies gilt von allen Tugenden, die sich je zwei Lastern entgegensetzen, insofern sie sich als Mitte zwischen einem Übermaß und einem Mangel am Gefühlsmäßigen verstehen. Die Tapferkeit etwa bildet die Mitte zwischen zwei Extremen, der Furchtlosigkeit und der Feigheit.12 Drittens überträgt Aristoteles das ontologische Widerspruchsprinzip auf den Bereich der Gegensätze, indem er sagt, daß das eine und das andere nicht gleichzeitig in demselben Subjekt sein können, und somit verstärkt er die Kontrarietät selbst. Auf diese Weise wird deutlich, daß die konträren Gegensätze als Qualitäten einander ausschließen. Wenn man aber das Widerspruchsprinzip uneingeschränkt angewandt wissen will, dann muß man
241 hinzufügen, daß diese wechselseitige Ausschließung nur in derselben Hinsicht gilt. Obwohl Aristoteles in bezug auf die Kontrarietät für eine beiden Gliedern gemeinsame Gattung plädiert,13 unterscheidet er zwischen konträren Gliedern, die unter dieselbe Gattung fallen (wie schwarz und weiß unter die Gattung „Farbe“), solchen, die zu konträren Gattungen gehören (wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, die den Gattungen „Tugend“ und „Laster“ zugeordnet sind), und zuletzt solchen, die selbst Gattungen sind.14 Zu dieser Art gehören das Gute und das Schlechte als eigene Gattungen bestimmter Gegenstände.15 Ist dies nicht ein Widerspruch? Um die Kontrarietät von gut und schlecht aus Aristotelischer Sicht besser zu verstehen, soll seine Lehre der Kontrarietät etwas genauer dargelegt werden. Die Kontrarietät ist allgemein gesprochen eine Art des Unterschieds (diaforá)16. Im Gegensatz zur Verschiedenheit teilt die Kontrarietät mit dem Unterschied das Aufeinanderbezogensein der voneinander zu unterscheidenden Glieder. Das Unterschiedene ist immer Unterschiedenes von Etwas im Gegensatz zur ∞teróthw, der dieses Bezogensein auf ein anderes fehlt.17 Kontrarietät besteht zwischen dem Beiläufigen und dem unter die neun Kategorien fallenden Seienden. Sie hat daher keine Anwendung auf die Substanzen, unter denen keine Kontrarietät zulässig ist, und betrifft nur das, was der Substanz zu- und abgesprochen werden kann: das Beiläufige (sumbebhków). Aber die o[sía, insofern sie diese beiläufigen Seienden aufnehmen kann, die einander konträr entgegenstehen: warm/kalt, gut/schlecht, feucht/trocken, ist die Grundlage der Akzidenzien19. Ein zweites auf den Satz des Widerspruchs zurückgehendes Prinzip ist, daß Konträres nicht bei demselben Subjekt (dektikón) auftreten kann.20 Das aufnehmende Substrat kann der Möglichkeit nach zwar beide Gegensätze aufnehmen, nicht aber der Wirklichkeit nach. Ein Mensch ist etwa entweder weißhäutig oder schwarzhäutig,21 so daß die dem Menschen anhaftende Weißhäutigkeit die Schwarzhäutigkeit von sich weist, denn das Aufeinanderbe-
242 zogensein der Konträren schließt das Mitvorhandensein beider aus.22 Konträre Gegensätze brauchen außerdem nicht nur Gegründetheit in einer o[sía, sie müssen auch etwas Gemeinsames teilen, um überhaupt einander konträr entgegenstehen zu können, denn ohne gemeinsame Basis besteht keine Kontrarietät, sondern nur \teróthw. Deshalb ist diese Gemeinsamkeit eine gattungsmäßige: Konträres muß einer und derselben Gattung zugeordnet werden: konträre Arten.23 Daraus erklärt sich, daß Aristoteles die Kontrarietät als einen Artunterschied konzipiert,24 weil er den vollkommenen Unterschied als einen artbildenden Unterschied in einer Gattung auffaßt. Dieser Ansicht widerstreiten andere Behauptungen, in denen eine dritte Form der Kontrarietät in den Blick genommen wird, nämlich die zwischen Gattungen (gut und schlecht).25 Da Aristoteles sich hier nicht auf seine frühere Äußerung in den Kategorien bezieht, wird sich an diesem Punkt die nachfolgende Philosophie abarbeiten. In der Metaphysik finden sich zwei Listen von Kontrarietätsarten. In D 10 (1018 a25-38) führt Aristoteles eine lange, nicht abschließbare Liste von Gegensatzweisen an. Konträr sind die, die sich gattungsmäßig unterscheiden und nicht zugleich in demselben Zugrundeliegenden sind. Zweitens sind diejenigen konträr, die derselben Gattung angehören und sich voneinander am weitesten unterscheiden (weiß/schwarz). Drittens sind die konträr, die in demselben Vermögen vorkommen und sich am meisten unterscheiden gesund/krank). Die vierte Art betrifft die, die sich in demselben Vermögen befinden und sich am stärksten unterscheiden. Fünftens schließlich nennt er die art- und gattungsmäßige Kontrarietät. Die unterschiedliche Bedeutung von Kontrarietät wandelt sich je nach Kategorie, so daß konträr diejenigen sind, die solches haben, oder diejenigen, die solches aufnehmen, oder diejenigen, die solches erleiden oder bewirken. Aber konträr sind Ursachen und Wirkungen, Abnahme und Zunahme des Selben, und schließlich Beraubungen oder Weisen des Habens von solchem. In Metaphysik I 4 1055 a27-33 betrachtet Aristoteles nur drei
243 Gegensatzweisen, da er die Gattungsgemeinsamkeit als Basis für die Kontrarietät zugrundelegt, weshalb er auch die erste oben genannte Art von Kontrarietät ausscheidet. So bleibt nur die Kontrarietät von Gliedern, die derselben Gattung angehören, die in demselben Aufnehmenden sind und die in demselben Vermögen sind. Damit aber ist Aristoteles’ Darstellung der Problematik nicht erschöpft. In Metaphysik I 4 liegt ein für unsere Fragestellung wichtiger Passus vor, in dem die Natur der Entgegensetzung vertieft wird. Obwohl Aristoteles in den Kategorien die privative Entgegensetzung kenntlich macht und von den anderen Arten scharf unterscheidet, bezeichnet er hier das Verhältnis von £jiw/stérhsiw als erste Entgegensetzung (1055 a33), wobei er die Beraubung als vollkommene privatio erscheinen läßt und alle Formen der Entgegensetzung auf sie zurückführt (1055 b1415). In diesem Passus wird im Gegensatz zu den Kategorien, Kap. 10 die privative Entgegensetzung, die kein Drittes zuläßt (gleich/nicht gleich), von der privativen Entgegensetzung unterschieden, die ein Drittes zuläßt (gut/schlecht: 1055 b10-11). Daraus wird ersichtlich, daß Aristoteles hier, in einer wohl späteren Phase seines Denkens, das Verhältnis von gut und schlecht als eine privative Entgegensetzung auffaßt, die ein Drittes zuläßt, indem er Elemente der Kontrarietät in die privative Entgegensetzung einfließen läßt. Aus den Überlegungen des Aristoteles zur Frage nach der Entgegensetzung von gut/schlecht ergeben sich einige Probleme, die in der nachfolgenden Philosophie aufgegriffen werden. In welchem Sinne sind Gattungen gut und schlecht? Widerspricht diese Aussage nicht der Ansicht in der Nikomachischen Ethik, wonach das Gute keine Gattung, keine Idee sei? Widerspricht sich Aristoteles, wenn er zudem sagt, daß die Kontrarietät eine gemeinsame Gattung der Glieder erfordert? Steht die These, daß gut und schlecht konträr entgegenstehen (Kategorien) in Widerspruch zu der These, daß Tugend und Untugend einander privativ entgegengesetzt sind (Metaphysik)?
244 2. Die Rezeption der Aristotelischen Auffassung über die konträre Entgegensetzung von gut und schlecht in der späteren griechischen Philosophie
a) Vom Mittelplatonismus zu Proklos: die Ausbildung der konträren Entgegensetzung Dem Neuplatoniker und großen Aristoteles-Kommentator Simplikios (1. Hälfte des 6. Jh’s n.Chr.) verdanken wir zahlreiche Nachrichten über die Rezeption der in den Kategorien ausgearbeiteten Gegensatzlehre der nacharistotelischen Philosophie. Im folgenden wird diese Geschichte anhand der von Simplikios zusammengetragenen Zeugnisse sowie anderer von ihm nicht erwähnter antiker Quellen, die uns vollständig überliefert sind, in groben Zügen nachgezeichnet. Schon im Peripatos beginnt die Diskussion über die Gegensatzlehre. Theophrast bemerkt in seinem Kommentar zur Topik, daß Aristoteles auch andere konträre Gegensätze einräumt, wie Bewegung/Ruhe, Übermaß/Mangel, Gestalt/Beraubung und gut/ schlecht, die nicht unter eine Gattung fallen.26 Der aus Athen stammende Platoniker Nikostratos27 (um die Mitte des 2. Jh’s n.Chr.) verwirft im Rückgriff auf die Aristotelische Auffassung, daß eine gemeinsame Gattung für die konträren Glieder erforderlich ist, entschieden Aristoteles’ eigenen Unterschied zwischen konträren Gliedern, die unter dieselbe Gattung fallen (schwarz und weiß unter die Gattung „Farbe“), und solchen, die konträren Gattungen angehören (Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unter die Gattungen „Tugend“ und „Laster“), und zuletzt solchen, die selbst Gattungen sind (gut/schlecht)28, indem er das dritte Glied der Einteilung, das die unmittelbare generische Kontrarietät vorsieht, fallen läßt. Als gemeinsame Gattung für gut und schlecht betrachtet er die Qualität, Hexis oder Disposition (diáyesiw) und berichtigt somit seine Behauptung aus den Kategorien.29
245 Nach den Neuplatonikern erwähnt Simplikios die Pythagoräische Position, die er fälschlich dem Altpythagoräer Archytas zuschreibt. Die Zitate im Kommentar des Simplikios stammen nicht von Archytas, sondern von den spätantiken Pseudopythagorea, einer Sammlung von Schriften, die unter dem Vorzeichen einer vermeintlichen Erneuerung des Pythagoräismus zwischen dem ersten und dritten Jahrhundert entstanden sind. Simplikios zitiert vor allem aus der Schrift Über die Gegensätze. Pseudo-Archytas30 bestimmt im Sinne der Pythagoräer, aber auch des Aristoteles, das Gute und das Schlechte als Gattungen, denen jeweils die Tugenden und die Laster als ihre Arten zugerechnet werden, wobei er die Möglichkeit offenläßt, ob die Gattungen auf eine Gattung zurückgeführt werden können, wie etwa Gutes und Schlechtes auf die Qualität. Die Diskussion um die Art der Entgegensetzung von gut/ schlecht wurde auch außerhalb der Kommentierung des Aristotelischen Textes entfaltet. Simplikios erwähnt Plotin (205-270 oder 271 n.Chr.). Da uns Plotins Werk vorliegt, ist es hier ratsamer, seine komplexe Position, die die nachfolgende Diskussion nicht nur beeinflußt, sondern ihr einen neuen philosophischen Horizont erschließt, kurz aus seinen eigenen Schriften ohne Anknüpfung an das knappe Referat seiner Lehre bei Simplikios zu skizzieren. Plotin stellt die Frage nach dem Gegensatz von gut/schlecht nicht mehr aus einer ethischen, sondern aus einer metaphysischen Perspektive. Das Gute wird als das Urprinzip der Realität (also keine Hexis wie bei Aristoteles in den Kategorien) jenseits des Seienden bestimmt. Das Schlechte dagegen wird als ein Nichtseiendes, als eine Beraubung (stérhsiw) so definiert, daß es weder zu den Gütern noch zu den Seienden31, sondern zu den Nichtseienden zu zählen ist. Während das Gute den Anfangsgrund (˙rx}) bildet, kann das Schlechte (kakón) nur als ein ¡sxaton begriffen werden. Im Gegensatz zu der Gestalt wäre es stérhsiw oder ein Mangel (¡lleiciw) am Guten. Das Schlechte als solches hat, wie die falschen Meinungen über die Dinge, keinen Bestand, keine o[sía.32
246 Das Schlechte wird nicht nur mit dem Nichtseienden, sondern auch mit der Materie identifiziert, die Plotin als den totalen Mangel am Guten33 bestimmt. Die totale Abwesenheit von Gutem ist nichts anderes als das Schlechte oder die Materie: %H o{n ¡lleiciw ¡xei mèn tò m| ˙gayòn eÂnai, = dè pantel|w tò kakón34. Andererseits gibt es auch partielle Mängel am Guten wie Laster oder Krankheiten, die sich nicht dem absoluten Bösen gleichsetzen lassen, mögen sie auch zuletzt von diesem Bösen oder der Materie als ihrem Ursprung herkommen. Die Materie wird zwar zum ersten Schlechten erhoben, läßt sich aber nicht hochstilisieren zu einem Gegenprinzip des Guten schlechthin wie im Zoroastrismus oder im Gnostizismus, wo Gutes und Schlechtes zwei Prinzipien darstellen, gleicht doch die Entgegensetzung zwischen gut und schlecht nicht der von Prinzipien, sondern dem Abstand zwischen Anfang (dem Guten) und Ende, wobei das Schlechte gleichsam aus dem Guten erwächst. Diese Entgegensetzung läßt kein Mittelglied zu und ist so aufgebaut, daß das Gute zuerst „ist“. Dann erst kommt das Schlechte. Sie ist nicht beiläufig, sondern wesentlich, insofern das Gute ein ihm Entgegengesetztes fordert.35 Ohne das Gute gäbe es nichts, kein Seiendes, oder alles wäre ˙diáfora36. Dem Guten gebührt gegenüber dem Schlechten ein Vorrang, weil das Schlechte entstanden ist, nicht aber im Sinne des Hervorgangs, sondern als dasjenige, was „entsteht“ bzw. zurückbleibt, wenn die Wirksamkeit des Guten (\nérgeia) nachläßt. Das bedeutet nicht, daß die Materie oder das Böse aus dem Guten entsprungen sind. Wie aber versteht Plotin angesichts dieser Bestimmung des Schlechten als Beraubung die Entgegensetzung? Unerwarteterweise faßt Plotin das Übel als ein dem Guten konträr Entgegengesetztes auf.37 Dieser Gegensatz ist allerdings ungewöhnlich, weil er zunächst gegen das Prinzip verstößt, daß beide konträren Glieder vorhanden sein müssen.38 Später versucht Plotin dieses Prinzip dadurch zu retten, daß er die Notwendigkeit des Bösen oder der Materie aus dem Entstehungsprozeß aus dem Guten erweist, der ein Letztes als Ende des gutartigen Ausflusses erforderlich macht: die Materie.39
247 Wenn die Kontrarietät das Verhältnis von gut und schlecht erklären soll, dann trifft die Forderung einer gemeinsamen Gattung dafür nicht zu. Zunächst einmal handelt es sich hier um den Gegensatz zwischen einer Wesenheit (o[sía) und einer Nichtwesenheit.40 Aber wie kann es eine Gemeinsamkeit unter so radikal verschiedenen Gliedern geben, die nicht einmal das Sein teilen, denn das Gute liegt außerhalb der Seiendheit und das Nichtseiende ist eben nicht? Plotin faßt Gutes und Schlechtes im Sinne einander entgegengesetzter Prinzipien (Gattungen im Aristotelischen Sinne) auf,41 auf die alle anderen Gegensätze zurückzuführen sind. Deshalb unterscheidet sich dieser höchste Gegensatz von dem für andere Dinge gültigen Gegensatz dadurch, daß Gutes und Schlechtes ihrerseits nicht unter eine gemeinsame Gattung fallen.42 Dieser Gegensatz beruht auf dem höchsten Abstand zwischen den Gliedern ohne irgendeine vermittelnde Gattungs- oder Artgemeinsamkeit.43 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Plotin wie Aristoteles an der konträren Entgegensetzung von Gutem und Schlechtem festhält, die Einzigartigkeit und Anfänglichkeit dieses Gegensatzes jedoch unterstreicht, obwohl er die privative Natur des Schlechten erkennt, die eher einen privativen Gegensatz nahelegt. Mit Plotins Ansatz haben wir den kategorialen Boden bereits verlassen und den transzendentalen, transkategorialen betreten. Darauf aufbauend scheint Porphyrius (233-305 n.Chr.), soweit Simplikios seine Meinung wiedergibt,44 in bezug auf gut/ schlecht auch für einen konträren Gegensatz einzutreten. Seine Auseinandersetzung gedeiht auf dem Boden einer ausgearbeiteten Ontologie und Prädikationslehre im Anschluß an Aristoteles und Plotin. Zunächst unterscheidet er je nach dem Verhältnis der Glieder zur Gattungszugehörigkeit drei konträre Gegensatzarten, indem er die Problematik der Prädikation in das Verhältnis von Gattung zu Gattung und Gattung zu Art setzt. Mit der Unterscheidung zwischen homonym und nicht homonym konträren Gliedern greift Porphyrius (oder Philosophen aus seinem Um-
248 kreis) auf die grundlegende Aristotelische Überlegung zurück, daß bei homonymen Dingen zwar die Bezeichnung oder Benennung dieselbe ist, ihre Definition aber verschieden im Unterschied zu synonymen Dingen, die dieselbe Definition haben.45 Mit diesem Begriffspaar beleuchtet Porphyrius das Verhältnis zwischen Gattungen und Arten, in dem er die Gattung zu ihren eigenen Arten synonymisch in Verbindung treten läßt.46 Die Gattung „Lebewesen“ und die Art „Mensch“ etwa haben denselben Namen und dieselbe Definition bzw. Wesenheit. Das Seiende aber wird homonym von all dem, was seiend ist, ausgesagt, denn alles Seiende hat denselben Namen, obwohl die Wesenheit jeweils eine andere ist. Denn das Seiende ist keine Gattung, deren Arten etwa die zehn Kategorien wären.47 Zu synonym konträren Gegensätzen zählen die ersten zwei Arten. Der erste Gegensatz betrifft Glieder, die zu einer Gattung gehören, wie schwarz und weiß Arten der Gattung „Farbe“ sind. Der zweite betrifft Glieder, die jeweils einer nächsthöheren Gattung angehören: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehören zu den Gattungen „Laster“ und „Tugend“, die ihrerseits unter die Gattung „Hexis“ oder „Qualität“ fallen.48 Der dritte Gegensatz von homonym konträr Entgegengesetztem betrifft Glieder, die sich von vielem aussagen lassen. Porphyrius aber faßt das Gute und das Schlechte als eigenständige, anscheinend selbst nicht mehr rückführbare Gattungen auf. Obwohl das Gute wie das Seiende keine Gattung ist, weil beide als transcendentalia alle genera übertreffen, und sich in allen Kategorien finden, verhalten sie sich wie genera. Porphyrius klammert sich nicht an den Wortlaut des Aristotelischen Textes, sondern greift auf Aristoteles’ eigene Überlegung über das Gute in der Nikomachischen Ethik zurück, in der das Gute als das dargestellt wird, was sich von vielem aussagen läßt, insofern es sich in jeder Kategorie findet, ohne daß es sich einer Kategorie oder Gattung zuordnen läßt. Aus Porphyrius’ Sicht sind das Gute und das Schlechte keine Gattungen im strengen Sinne, sondern wie das Seiende gleichsam transgenerische Einheiten, die sich von
249 vielen, wesensverschiedenen Dingen aussagen lassen.49 In seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gattung bemerkt er, daß in den Genealogien des Menschengeschlechts am Ende Zeus als Vater aller Menschen steht. Bei den Gattungen und Arten verhält es sich anders, denn es gibt keine oberste Gattung, nämlich das Sein, von dem alles sich ableiten ließe. Mit Aristoteles deutet Porphyrius die zehn Kategorien als ˙rxaì déka prôtai, die sich einerseits nicht auf die oberste Gattung des Seins zurückführen und sich anderseits von anderen Arten, Gattungen, Individuen und Propria nicht synonymisch, sondern homonymisch aussagen lassen.50 Das Gute ist dementsprechend keine Gattung. Während sich die Gattung synonymisch von den Arten prädizieren läßt, kann das Gute von den anderen nicht synonymisch, sondern nur homonym ausgesagt werden. Der Ansatz des Porphyrius ist demnach zwar rein aristotelisch, bemüht sich jedoch darum, in Aristotelischer Begrifflichkeit die von Plotin vorgeschlagene konträre Entgegensetzung besser zu fassen. Auch Iamblichos (240-325 n.Chr.)51 stellt die Frage nach dem Verhältnis von gut und schlecht in diese Blickbahn. Wenn es die zehn Kategorien als Gattungen zu betrachten gilt, müssen alle Gegensätze unter diesen vereint werden. Diese Unterordnung kann sich auf drei Weisen vollziehen. Entweder alle Gegensätze werden einer und derselben Gattung zugeordnet oder jedes Gegensätzliche wird der jeweiligen Gattung zugeordnet, oder jedes läßt sich verschiedenen Gattungen zuweisen. Iamblichos übernimmt die dreifache Einteilung der Kontrarietät von Porphyrius, wendet aber ein, daß hier die konträren Gegensätze nicht die Gattung teilen, sondern selbst entgegengesetzte Gattungen sind, die sich nicht oberen Gattungen zuordnen lassen, wie etwa das Übermaß und der Mangel unter die Gattung „Qualität“ fallen. Die ersten konträren Gegensätze sind nicht im eigentlichen Sinne (o[ kurívw) Gattungen, weil sie homonym sind. Iamblichos führt dies darauf zurück, daß Aristoteles die Gegensatztafel der Pythagoräer übernommen und die entgegengesetzten Prinzipien der Pythagoräer in Gattungen umbenannt hat. Ist das Wort „Gat-
250 tung“ in diesem Fall als Kategorie zu fassen? Iamblichos ist der Ansicht, daß Aristoteles das Wort „Gattung“ hier nicht gleichbedeutend mit Kategorie gebraucht. Von einem Schüler Iamblichos, Dexippos (4. Jahrhundert), liegt eines der drei Bücher seines Kommentars zu den Kategorien vor. Der Text ist weitgehend von den verlorengegangenen Kommentaren des Porphyrius und des Iamblichos abhängig.52 Die Entgegensetzung von Hexis und Beraubung interpretiert Dexippos unter Berufung auf eine Stelle in der Physik, an der Aristoteles Beispiele von Beraubung und entsprechender Hexis als Fälle von konträren Gegensätzen auffaßt,53 sieht hier aber keinen Widerspruch zu dem bekannten Prinzip, wonach dem Seienden (o[sía) keine o[sía entgegengesetzt ist, weil die Form der entsprechenden Beraubung nicht wie ein Seiendes einem Seienden entgegengesetzt ist, sondern wie ein Seiendes einem Nichtseienden. Die Entgegensetzung von Seiendem und Nichtseiendem, von Form und Beraubung und zuletzt von Gutem und Schlechtem wird von Dexippos unmißverständlich als konträr bestimmt.54 Mit Proklos (418-485) tritt eine Wende in der Frage nach dem Gegensatz von gut und schlecht ein. Gegen Plotin hält Proklos das Übel und die Materie auseinander und vertieft die Natur des Übels als Mangel und Beraubung. In seiner Ontologie ist das Gute als das Eine der Urgrund und die Quelle alles Seienden jenseits des Seins, nach dem alle Seienden trachten. Wenn es sich so verhält, ist das Schlechte nie anzustreben. Deshalb kann es dem Guten nur subkonträr entgegengesetzt werden.55 Mit der subkonträren Entgegensetzung will Proklos erklärt wissen, daß das Gute angestrebt, das Schlechte gemieden wird. Andererseits entfällt die Kontrarietät, weil das Schlechte nie angestrebt wird, solange es kein Streben nach dem Schlechten an sich gibt, das dem Streben nach dem Guten entgegenstünde. Nach dieser anfänglichen Überlegung führt Proklos zwei Arten von Schlechtem ein: akraton et non mixtum malum und Schlechtes, das mit dem Guten gemischt ist.56 Nun lautet die Frage: Welches Schlechtes
251 ist dem Guten subkonträr entgegengesetzt? Das Schlechte an sich steht am weitesten entfernt vom Guten, unterscheidet sich aber auch vom Nichtseienden, insofern es eine „Natur“ hat, die sich als Abfall vom ersten Guten ohne Teilhabe am Seienden verstehen läßt.57 Im Grunde ist es diesseits des Seienden, analog dem Guten an sich, das sich jenseits des Seienden befindet, und als solches keinen Anteil am Guten hat.58 Zwischen dem absolut Guten und dem absolut Schlechten besteht kein Gegensatz, geschweige denn Kontrarietät, insofern diese eine gemeinsame Gattung erfordert, die hier aufgrund der Transzendentalität des Guten nicht gegeben ist. Um desto weniger kann eine Subkontrarität als Art der Kontrarietät vorliegen. Aber es gibt einen tieferen Grund, der die Frage nach der Art der Entgegensetzung zwischen dem absoluten Guten und dem absoluten Schlechten unmöglich macht: das faktische und notwendige Nichtvorhandensein des Schlechten an sich. Aber das gemischte Schlechte ist dem Guten subkonträr entgegengesetzt, insofern es am Guten teilhat. Es schließt sich an jedes Gute an.59 Und dieses Schlechte ist irgendwie ein Seiendes, das bei den Seienden ist, die das Schlechte haben, nämlich bei den Seienden, die nicht gut an sich sind.60 In welchem Sinne spricht Proklos von Subkontrarietät? Ich glaube nicht, daß hier eine besondere abgegrenzte Art der Entgegensetzung vorliegt. In der scholastischen Tradition, die auf die griechische Logik zurückgeht,61 ist von Subkontrarietät die Rede in bezug auf Sätze, die einander entgegengesetzt sind, die aber zugleich wahr, nicht jedoch falsch sein können: Irgendein Mensch ist gut; irgendein Mensch ist schlecht. Proklos, der diesen Terminus von Plato entlehnt, will damit vielmehr die Entgegensetzung von gut und schlecht in ihrer Einzigartigkeit faßbar machen. Da Schlechtes dasjenige ist, was vom Guten wegführt und wovor das Gute flieht,62 kann es sich um keine einfache, vollständige Beraubung des Guten handeln.63 Da Schlechtes zudem als ein Mangel am Guten, der sich in der Schwachheit, Unbestimmtheit und Unwirksamkeit zeigt, definiert wird, kann es dem Guten subkonträr entgegengesetzt sein, weil es an ihm teil-
252 hat, ihm anhängt.64 Der Grund dafür liegt darin, daß ein diesem Entgegengesetztes eine entgegengesetzte Natur haben müßte, da aber alles von Gutem herrührt, kann es so etwas nicht geben. Aber das Gute, von dem hier die Rede ist, ist nicht das Gute an sich, sondern das beiläufige Gute, denn dem Guten an sich kann nichts entgegengesetzt werden. Zudem kann das Gute an sich keiner höheren Gattung zugeordnet werden, die es mit einem möglichen Entgegenstehenden gemeinsam hätte. Deshalb kann die Subkontrarietät nur zwischen dem relativ Guten und dem relativ Schlechten bestehen. Als gut und schlecht sind sie einander entgegengesetzt, aber insofern das relativ Schlechte einem Guten als seinem Träger beiwohnen muß, von dem es seine Wirklichkeit und Möglichkeit bzw. Kraft schöpft,65 kann es keine vollkommene Entgegensetzung geben. Darüber hinaus ist in diesem Fall etwas Gemeinsames vorgegeben, das Gute selbst. Aufgrund der Teilhabe des relativ Schlechten am Guten sind beide nicht einander entgegengesetzt.
b) Simplikios: Die privative Entgegensetzung von Gutem und Schlechtem Simplikios66 begnügt sich nicht damit, die Meinung der anderen zu referieren, sondern leistet auch einen entscheidenden Beitrag zu dieser Frage. Ich will mich zuerst seinem Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles zuwenden. Die Hauptthesen des Simplikios zum Verhältnis von gut und schlecht kommen in seinen Argumenten gegen Plotin, der das überseiende Gute im Blick nehmend am Bestand eines Gegensatzes zwischen Gutem und Schlechtem festhält, erst zum Vorschein.67 Nach Simplikios vertritt Plotin die Meinung, daß dem Seienden (o[sía) das Nichtseiende (m| o[sía) entgegengesetzt sei, ähnlich wie der Natur des Guten die des Schlechten. Entgegen der tatsächlichen Ansicht Plotins, der das Gute von Seiendem (der zweiten Hypostase, als Geist) unterscheidet, setzt Simplikios Gutes und Schlech-
253 tes mit dem Seienden und dem Nichtseienden gleich und spricht statt von der Entgegensetzung von gut und schlecht von der von seiend und nichtseiend. Sieht man aber einmal von der Fragwürdigkeit dieser Gleichsetzung ab, so läßt sich der Ertrag der Auseinandersetzung des Simplikios mit Plotin besser einschätzen. Ein erstes Argument gegen Plotin lautet sinngemäß so: Wenn das Nichtseiende dem Seienden konträr entgegengesetzt werden soll, dann müßte jenes eine gewisse Eigenständigkeit haben, um einen Bezug auf ein anderes (sxésiw pròw £teron) erlangen zu können. Angenommen das Nichtseiende wäre etwas, um überhaupt in ein Gegensatzverhältnis zu einem Seienden treten zu können, dann wäre es nicht vom Seienden getrennt, insofern das Nichtseiende doch etwas wäre. Seiendes und Nichtseiendes hätten demnach das Sein (a[tò tò eÂnai £n) gemeinsam. Mit diesem Argument führt man Plotins Position ad absurdum, weil man zum einen das Nichtseiende als eine o[sía auffaßt und zum anderen die Trennung beider Glieder unmöglich macht, so daß auch der Gegensatz selbst zugrunde geht.68 Als zweites Argument wendet Simplikios gegen Plotin ein, daß, wenn diese konträre Entgegensetzung als eine transzendentale Verschiedenheit (katà \kbebhkuîan ∞teróthta) angenommen wird, die erste Bedingung für eine Entgegensetzung entfiele, nämlich eine gemeinsame Gattung für beide Glieder. Hier stützt sich Simplikios natürlich auf die Aristotelische Unterscheidung zwischen der Verschiedenheit, die zwischen einem und einem anderen ohne Drittes vorliegt, und dem Unterschied, der dem konträren Gegensatz als einem seiner Spielarten zuzurechnen ist.69 Das dritte auf Plotins Emanationsgedanken basierende Argument lautet: Wenn das Nichtseiende vom Seienden herkommt, dann hat das Nichtseiende dieselbe Natur wie sein Ursprung. Mit der Annahme einer Wesensgleichheit entfällt nicht nur die Möglichkeit einer Verschiedenheit, sondern vor allem eines Unterschieds und schließlich des konträren Gegensatzes.70 Ein viertes Argument hebt die Unvergleichbarkeit und die Er-
254 habenheit des ersten Prinzips gegenüber jedem Gegensatz hervor, weil die konträre Entgegensetzung eine Gleichheit oder Vergleichbarkeit der einander entgegenzustellenden Elemente voraussetzt, die eben der Natur des ersten unvergleichbaren Prinzips widerstreitet.71 Ein fünftes, dem ersten am engsten verwandtes Argument macht darauf aufmerksam, daß die konträre Entgegensetzung eine Gleichheit erfordert, was zur Folge hätte, daß das Nichtseiende oder das Schlechte eine øpóstasiw haben müßte. Dies aber widerspricht der nicht subsistierenden Natur des Schlechten.72 Ein sechstes Argument richtet sich gegen die Annahme, daß ein Drittes erforderlich wäre, worauf sie sich beziehen könnten. Dies aber hätte zur Folge, daß das Gute kein Prinzip wäre.73 Zuletzt argumentiert Simplikios, daß es ohne wechselseitige Wirkung kein Weltall gäbe. Der Grund liegt in der Aristotelischen Einsicht, daß die Entstehung von etwas aus etwas als das Werden einer Qualität aus dem Entgegengesetzten verstanden wird. Und ohne diese Entstehung könnte das Weltall nicht zusammengehalten werden.74 Simplikios unterbricht die Aneinanderreihung von Gegenargumenten mit einer allgemeinen Betrachtung über den Neuplatonismus, der das Eine und das Gute als Prinzip ansetzt, das Vielfältige aber als etwas Hinzugekommenes (\peisiôdew) betrachtet, und das Schlechte zu etwas Beiläufigem abstempelt.75 Ein achtes Argument betrachtet nun das Schlechte als ein Ende (¡sxaton), das sich nicht einem Ersten entgegensetzen kann.76 Das neunte Argument als abgewandelte Form des 2. Arguments macht die Entgegensetzung zunichte, insofern die Herkunft des Schlechten aus dem Guten die Entgegensetzung beider aufhebt. Zehntes: Wenn das Letzte vom Ersten getrennt wäre, entfiele aufgrund der fehlenden Gemeinsamkeit die Entgegensetzung. Denn es wäre unmöglich, daß etwas von der Ursache von sich selbst völlig abgetrennt wäre.77 Ein gewichtiger Einwand, der im Grunde alle Einwände wieder aufnimmt, ist das Aristotelische Prinzip, das Simplikios ge-
255 nau an dieser Stelle kommentiert, wonach der o[sía nichts entgegengesetzt werden kann.78 Dieser Einwand gilt nur, wie gesagt, wenn man das Gute mit dem Seienden gleichsetzt und somit die o[sía dem Guten zurechnet. Diese Gleichsetzung lehnt Plotin aber oft expressis verbis ab. Ein weiterer, auf das erste Argument zurückgehender Einwand richtet sich gegen die Eigenständigkeit des Schlechten als Voraussetzung für seine konträre Entgegensetzung. Da dieses weder wirkt (Zeichen der Substanz) noch erleidet (sonst gäbe es keine Entgegensetzung), kann dem Seienden nichts Konträres entgegengesetzt werden.79 Was kann man dieser Auseinandersetzung des Simplikios mit Plotin für Simplikios’ eigenes Denken entnehmen? Zunächst einmal tritt Simplikios ganz entschieden für die Gültigkeit des Aristotelischen Prinzips ein, daß dem Seienden bzw. dem Guten nichts konträr entgegengesetzt werden kann, weil die Ousia nicht Gegensätzliches hat. Aus all diesen Argumenten ist zudem die Ansicht herauszuhören, daß das Schlechte keine Wesenheit (øpóstasiw) haben kann, kraft deren es dem Guten entgegenstünde. Zum anderen sind Schlechtes und Gutes wesensungleich, so daß zwischen ihnen kein konträrer Gegensatz vorliegen kann. Wenn dies nicht der Fall ist, wie setzt Simplikios dann das Gegensatzverhältnis von Gutem und Schlechtem an? In der Diskussion mit Porphyrius verlagert Simplikios den Akzent auf den Begriff der Gattung und die Angemessenheit der Rede von Gattung in bezug auf das Gute und Schlechte. Gegen Porphyrius bekräftigt Simplikios80, daß Gattung hier erstens im Sinne der Homonymie (analogia) in sensu lato (˙kúrvw) ausgesagt wird und gut/schlecht zweitens keine Qualitäten sind. Beide Neuplatoniker machen auf ein Problem des Gattungsbegriffes bei Aristoteles aufmerksam. Während Porphyrius das Wort „Gattung“ im strengen Sinne zu verwenden scheint, um zu bestreiten, daß das Gute eine Gattung sei, faßt Simplikios es im weiteren Sinne.
256 Andere Denker, die Simplikios nicht namhaft macht, schlagen dazu folgende Lösung vor: „Gutes und Schlechtes fallen nicht unter eine Gattung, sondern sind selbst Gattungen, und zwar unmittelbar entgegengesetzte Gattungen.“ Dies entspricht der dritten Art von Kontrarietät nach Aristoteles und Porphyrius, in der das Gute und das Schlechte Gattungen sind. Doch diese von Simplikios referierten Lösungsvorschläge bleiben dabei nicht stehen, sondern behaupten sogar, daß beide Gattungen trotzdem unter die Gattung „Qualität“ fallen, der aber keine andere Gattung mehr entgegengesetzt ist.81 Sie setzen die Gattung oder die Kategorie der Qualität als eine besondere Gattung audessus de la melée an. Wenn letzten Endes gut/schlecht unter die Gattung Qualität fiele, argumentiert Simplikios dagegen, dann unterschiede sich die zweite Klasse von Kontrarietät nicht von der dritten, der homonymen – diese besteht zwischen Arten, die letztlich einer Gattung zuzuordnen sind –,82 in der Gutes und Schlechtes als Gattungen nicht sensu stricto gelten können. Nach Simplikios besteht kein Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Klasse von synonym konträren Gliedern, weil in der zweiten Klasse, diejenigen Glieder der entgegengesetzten Gattungen, letztlich unter eine und dieselbe Gattung fallen. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehen jeweils auf Tugend und Untugend zurück, die ihrerseits der obersten Gattung „Qualität“ angehören. An der Position des Iamblichos, soweit sie dargestellt ist, kritisiert Simplikios83 die Annahme von zwei entgegengesetzten Gattungen, indem er einwendet, daß der Unterschied fallen muß zwischen einander entgegengesetzten Gattungen, die unter eine und dieselbe Gattung fallen, und denen, die sich entgegengesetzten Gattungen zuordnen lassen, die ihrerseits zu einer gemeinsamen, obersten Gattung gehören. Rot und weiß etwa lassen sich der Gattung Farbe zuordnen, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit dagegen jeweils der entgegengesetzten Gattung, nämlich der Tugend und dem Laster, die ihrerseits auf die Gattung Qualität zurückgehen. Jedenfalls handelt es sich immer um eine auflösbare,
257 gattungsmäßige Entgegensetzung unterhalb einer obersten Gattung. Nach dieser Diskussion84 der betreffenden Aristoteles-Stelle mit Porphyrius, Theophrast, Iamblichos und den spätantiken Pythagoräern stellt Simpliklios fest, daß der fragliche Gegensatz kein konträrer ist, wie zuerst die Pythagoräer85 und dann Aristoteles nahegelegt hatten, sondern ein privativer Gegensatz. Die angeführten Beispiele: gut/schlecht, Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit, Sehkraft/Blindheit … sind eher Beispiele von Hexeis und entsprechenden Beraubungen. Der Grund, den konträren Gegensatz nicht für diese Paare zu beanspruchen, liegt nicht mehr in dem Aristotelischen Grundsatz der Gattungsgemeinsamkeit, sondern in einem Grundsatz, der eher als „schulmäßige Fassung der Aristotelischen Lehre“ gelten kann,86 wonach die konträren Glieder (tà \nantía) gleich stark, auf ähnliche Weise hervorgegangen und naturgemäß sind87 – ein Prinzip, das sich vom ontologischen Status der artbildenden Unterschiede und auch der untergeordneten Gattungen ableitet. Wenn dieses Prinzip gilt, dann ist der fragliche Gegensatz nicht konträr, weil das Schlechte etwas wider die Natur (tò parà fúsin) ist.88 Und dann liegt es nahe, daß es sich um einen privativen Gegensatz handelt, weil das Schlechte eher eine Beraubung des Guten ist.89 Simplikios macht auf den Unterschied zwischen den konträren Gegensätzen schwarz/weiß und kalt/warm, sowie den privativ Entgegengesetzten (gut/schlecht, krank/gesund), die respective der Hexis und ihrer Beraubung zuzusprechen sind, aufmerksam.90 Der Unterschied zwischen den im Werden begriffenen Beraubungen (sterískesyai), wie etwa der Krankheit, die die Gesundheit nicht völlig löscht, und den reinen Beraubungen, die die Hexeis völlig löschen (\sterêsyai), etwa dem Tod und der Blindheit, wird ersichtlich.91 Dabei greift Simplikios auf Gedankengut der Spätpythagoräer zurück, die die reine Beraubung als die einzige betrachten, während sie die relative Beraubung nicht als Beraubung bestimmen, sondern einem konträren Gegensatz
258 zuordnen, insofern diese eine gewisse Kraft aufgrund ihrer Mischung mit der entsprechenden Hexis besitzt. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Pythagoräer den Entgegengesetzten eine Kraft zuschreiben, aufgrund der sie einander entgegengesetzt werden können, und diese Kraft mit Sein identifizieren. Simplikios erwähnt eine von Pseudo-Archytas stammende, dreifache Unterscheidung92: die absolute Beraubung (Blindheit, Stummheit, Unwissenheit), verminderte Beraubung (Schwerhörigkeit, Augenliderkrankheit) und eine nicht gebührende Hexis (schlechte Stimme). Gegen die neupythagoräische These wendet Simplikios ein, daß die relative Beraubung, etwa die Augenliderkrankheit, als eine absolute Beraubung zu gelten hat.93 Zweitens kann der fortschreitenden zum Endpunkt gelangten Krankheit, etwa einer bis zur Blindheit fortschreitenden Augenkrankheit, nichts Konträres entgegenstehen, wie die Neupythagoräer oder Pseudo-Archytas vermuten.94 Zudem unterscheidet Simplikios die Beraubung von dem reinen Mangel an etwas, von der Verneinung, denn nicht jede ˙pousía ist eine stérhsiw, wie etwa das Brot einen Mangel an Fleisch hat, was aber nicht widernatürlich ist und also für das Brot keine Beraubung bedeutet. In diesem Fall besteht eine Andersheit, eine konträre Entgegensetzung, aber kein privativer Gegensatz.95 Damit erachtet Simplikios die Pythagoräische Position als widerlegt. Das ist die Antwort, die Iamblichos96 und anderen97 entgangen ist, weil sie an der Pythagoräischen Tafel der Gegensätze so festhielten, daß sie die Natur dieses Gegensatzes verkannten, obwohl sie eingesehen hatten, daß das Schlechte eine Beraubung darstellt, die eine Unkraft (˙dunamía), ein Unwesen (parupóstasiw), eine Widernatur (parafúsin) und Abfall von der Idee (˙potuxía toû eÊdouw) ist.98 In dieser Hinsicht erweist sich Simplikios als wahrer Neuplatoniker, der die ganze Problematik des Guten und des Bösen im transzendentalen Sinne, und nicht allein im Sittlichen, wie es bei Aristoteles in den Kategorien der Fall ist, in den Blick nimmt. Der neuplatonische Ansatz und die
259 Aristotelische Lehre der Gegensätze klaffen aufgrund verschiedener Perspektiven auseinander. Aristoteles’ Auffassung kann nur für das sittlich Gute und Böse als Arten einer gemeinsamen Gattung, der Qualität, nicht aber für das Gute und Schlechte in den zehn Kategorien gelten. Genau aus dieser Perspektive argumentieren die Neuplatoniker.99 In seinem Kommentar zu Epiktet führt Simplikios seine Auseinandersetzung mit dem Wesen des Schlechten, diesmal jedoch gegen den Manichäismus polemisierend, fort.100 Er hatte sich mit dem im 6. Jahrhundert wiederauflebenden Manichäismus befaßt und die Vorstellung eines dem Gutem ebenbürtigen schlechten Prinzips widerlegt, ohne jedoch auf Proklos’ Widerlegung Bezug zu nehmen. Ich will hier weder die besonderen religiösen und kosmologischen Lehren dieser Religion der Spätantike noch die gesamte Kritik und Polemik des Simplikios in Betracht ziehen, sondern nur seine Hauptargumente gegen den manichäistischen Dualismus aufgreifen, mit der Absicht, seine eigene Wesensbestimmung des Schlechten zu verdeutlichen.101 Zunächst zeigt Simplikios den internen Widerspruch dieser Lehre auf, die zwei gleichwertige einander entgegengesetzte Prinzipien ansetzt.102 Wenn dem gutartigen Prinzip etwas Gleichrangiges entgegengesetzt wäre, dann käme ihm seine Allursächlichkeit, seine höchste Kraft (dúnamiw) abhanden, denn ein Prinzip sähe sich durch ein anderes begrenzt. Zweitens würde Gott, der sich um das Schlechte fürchtet, zu einem feigen Gott degradiert, was gegen seine Wesenheit verstieße. Oder er würde sogar drittens zu einem ungerechten, insofern er das Gute mit dem Schlechten mischte.103 Die Manichäer lehrten offensichtlich, daß das Schlechte in den Bereich des Göttlichen, des Guten, gelangt sei. Dagegen argumentiert Simplikios mit einem Gedankengang aus seiner Gegensatzlehre, mit dem er die oben dargelegte Diskussion noch vertieft, indem er auf die Lehre hinweist, daß das Entgegengesetzte nicht das Andere entgegennehmen kann, wie etwa das Schwarze das Weiße nicht empfangen kann, ohne dabei vernich-
260 tet zu werden.104 Das Gute kann das Schlechte nicht empfangen, ohne sich mit ihm zu mischen und so selbst zu einem Schlechten zu werden. Wenn die auf Platon zurückgehende Gegensatzlehre105 stichhaltig ist, dann ist diese Lehre der Manichäer nicht haltbar. Nach einer Folge ähnlicher Argumente gegen die Manichäer bringt Simplikios seine Auffassung106 des Schlechten zum Ausdruck, die sich größtenteils mit der des Proklos deckt. Wenn man das Schlechte zu einem Entgegengesetzten macht, dann verleiht man ihm Kraft und Wesenheit, ohne die es sich keinem anderen entgegensetzten könnte. Aber das Schlechte hat weder eine Wesenheit, noch ein Ansichsein (kay& ∞autó), und muß deshalb als etwas Beiläufiges einer anderen Sache anhaften. Folglich ist das Schlechte eine Disposition (diáyesiw) desjenigen, dem das Schlechte als Beiläufiges zukommt. Diese Disposition ist aber insofern widernatürlich, als sein Träger einer Sache beraubt ist, die er gemäß seiner Natur hätte haben sollen. Das Schlechte steht neben dem Guten107, und deshalb kann es kein Entgegenstehen von beiden, dem Guten und dem Schlechten (†sostásia ˙ll}lloiw108), geben, wie es bei Gegensätzen der Fall ist. Denn hier handelt es sich um eine Beraubung, die immer Beraubung von etwas anderem bedeutet, während die Gegensätze ihre jeweilige Vollkommenheit und Natur haben. Aber warum erblickt Simplikios in der Nebenläufigkeit den Grundzug des Schlechten? Wie ist diese parupóstasiw zu verstehen? Zunächst einmal ist die Beraubung als Wesensbestimmung des Schlechten nichts anderes als ein Verfehlen oder Ausbleiben der entsprechenden Form oder Gestalt (˙potuxía toû eÊdouw109). Hinter dem Verfehlen steht eine Art Bewegung der dem Seienden innewohnenden Kraft oder Tätigkeit (\nérgeia), die auf die Vervollkommnung des Seienden gemäß dem eigenen Wesen ausgerichtet ist. Wenn diese Tätigkeit das Ziel verfehlt und demnach die anvisierte Vollkommenheit nicht verwirklicht, dann tritt eine Verfehlung des wesensgemäßen Ziels ein, etwas wider die Natur (parà fúsin).110 Da das Intendierte in jeder Tä-
261 tigkeit immer das Gute oder die Vollkommenheit ist, soll das Ergebnis der Zielverfehlung (˙potuxía toû skopoû) als eine Nebenläufigkeit (parupóstasiw) interpretiert werden.111 Simplikios greift den Aristotelischen Spruch auf, daß das Gute allein das Angestrebte sei (\fetón) und zeigt, wie alle Tätigkeit nur auf das Gute ausgerichtet sein kann.112 Daraus ergibt sich, daß das Schlechte keine Wesenheit ist. Das Angestrebtsein ist dann ein Zeichen für die Seinsmäßigkeit des Guten und den entsprechenden Seinsschwund bei dem Schlechten, weil dabei die Konvertibilität des Guten mit dem Seienden de facto vorausgesetzt wird. Im Ausklang des Neuplatonismus und wohl von Simplikios abhängig, weist auch Philoponos (gestorben gegen 580 n.Chr.) die Kontrarietät für diesen Gegensatz zurück.113 Stattdessen spricht er sich deutlich für den privativen Gegensatz aus, indem er sich desselben Arguments wie Simplikios bedient, daß der konträre Gegensatz Glieder mit einer bestimmten Wesenheit (qrisménhn ¡xein fúsin) voraussetzt. In unserem Fall erfüllt das Schlechte als eine Unangemessenheit (˙metría) diese Bedingung nicht, denn es ist als Beraubung (stéresiw) durch Abwesenheit eines Habens oder Besitzes (£jiw) charakterisiert. Ebenso verhält es sich mit der kakía oder Abwesenheit der Tugend durch Übermaß oder Mangel. Philoponos weist darauf hin, daß das von Aristoteles gemeinte Gute, das in Gegensatz zum Schlechten tritt, kein überseiendes Gutes (˙gayòn øperousíon) ist, dem nämlich nichts entgegengesetzt werden kann. Dies ist das Gute an sich, das Gott wesentlich innewohnt. Das von Aristoteles gemeinte Gute ist das beiläufige Gute. Der Grund liegt im Aristotelischen Grundsatz, daß der Substanz nichts entgegengesetzt werden kann.114 Deshalb gilt der Gegensatz nur für das beiläufige, im Werden begriffene Gute.115 Zum Schluß begegnet Philoponos einer Schwierigkeit, die die Struktur dieser Entgegensetzung betrifft. Diese Entgegensetzung liegt eigentlich nur zwischen zwei Gliedern vor, aber das Gute ist als Mitte zwei Schlechten entgegengesetzt: den Lastern.
262 Die Gerechtigkeit etwa ist dem Mehrhabenwollen und dem Wenigerhabenwollen als Lastern entgegengesetzt. Wie läßt sich diese Schwierigkeit überwinden? Wenn man die Tugend als eine Symmetrie auffaßt, dann werden das Übermaß und der Mangel der ˙metría zugerechnet, und somit wird beides, Übermaß und Mangel, wie eins einem anderen entgegengesetzt.116
3. Der Gegensatz von gut und schlecht im Horizont der Sündentheologie117: Von Augustinus bis zum Anfang der Hochscholastik Mit der Frage nach dem Gegensatz von gut und schlecht beschäftigt sich auch die mittelalterliche Tradition, die aber nicht unmittelbar an die oben dargestellte Diskussion in der Spätantike anknüpft, sondern die Lehre über diesen Gegensatz im Horizont der Sündentheologie entfaltet. Augustinus entwickelt seine Lehre vom Schlechten auch in Abgrenzung gegen den Manichäismus und erkennt die Natur des Schlechten ebenfalls in der Beraubung.118 Die mittelalterliche Diskussion wird mit seiner Aussage (Ench. 4, 14) eröffnet, daß gut und schlecht Gegensätze sind, die aber der logischen Regel (illa dialectorum regula) widerstreiten, wonach zwei Gegensätze an demselben Subjekt nicht zugleich sein können: Keine Speise kann gleichzeitig süß und sauer sein. Das Gegenteil ereignet sich im Sittlichen, weil man das Böse immer bei einem Guten antrifft, das als Träger von jenem dient. Dabei vergißt Augustinus, daß dieser Regel der Zusatz „in derselben Hinsicht“ hinzugefügt werden muß. Erst dann löst sich der Widerstreit auf. Augustinus jedoch kommt es vielmehr darauf an, die besondere Verknüpfung des Schlechten mit dem Guten als seinem Subjekt, d.h. das Gleichzeitigsein des Schlechten mit dem Guten, zu betonen. Dennoch bildet diese Aussage den Ausgangspunkt für die Diskussion über das Verhältnis von gut und schlecht im Mittelalter.
263 In seinem Kommentar zu den Kategorien macht schon Boethius auf den Gegensatzcharakter des Verhältnisses gut/schlecht aufmerksam,119 eine wahre Polemik entfacht in der Hochscholastik aber erst Petrus Lombardus, als er folgende Aussage des Augustinus wieder in Erinnerung bringt:120 „Gut und schlecht sind Glieder eines Gegensatzes, der das gleichzeitige Sichbefinden beider in einem Seienden verbietet“. Mit der wachsenden Kenntnis der Schriften des Aristoteles, zunächst durch Vermittlung seiner arabischen Kommentatoren, erst durch Avicenna und dann durch Averroes, nimmt die Auseinandersetzung mit der Problematik immer mehr Platz in der theologischen und philosophischen Diskussion des beginnenden 13. Jahrhunderts ein. Wilhelm von Auvergne faßt in seiner Abhandlung De bono et malo (geschrieben vor 1228) das Böse in Anlehnung an Avicenna als Potentialität auf,121 das Gute dagegen als Tätigkeit, als eine überquellende Kraft, in der die Potentialität von der Vollkommenheit zurückgedrängt wird.122 In seiner großen Abhandlung De universo geht er auf die Entgegensetzung von gut und schlecht ein. Gutes und Schlechtes verhalten sich wie Gegensätze zueinander, das höchst Schlechte aber, das sich diametral dem höchsten Guten entgegensetzt, besteht entgegen der manichäistischen Sicht keineswegs, und deshalb können Gutes und Schlechtes nicht der obersten Gattung des Seins zugeordnet werden, was gerade gegen den Gegensatzcharakter dieses Verhältnisses spricht.123 Aus eigener, direkter Kenntnis der Aristotelischen Schriften setzt sich Philipp der Kanzler in seiner berühmten Summa de bono mit der Entgegensetzung von Gutem und Schlechtem auseinander.124 Zunächst erklärt er, daß das Verhältnis Seiendes/ Nichtseiendes nicht mit dem Verhältnis gut/schlecht gleichzusetzen ist, weil das Schlechte eben kein Nichtseiendes ist, sondern etwas Mögliches: malum reliquit possibile. Was meint er damit? Um dies zu verstehen, sollen seine Überlegungen zur Natur des Schlechten dargetan werden, in denen er ausdrücklich stark von der Augustinischen Auffassung des Schlechten als Berau-
264 bung abweicht, weil er das Schlechte nicht als reines Nichtseiendes auffaßt.125 In Anlehnung an Avicenna definiert er das Gute als indivisio potentiae ab actu, die sich am reinsten im höchsten Seienden, in Gott, findet, in dem Akt und Potenz zusammenfallen.126 Danach gibt es Schlechtes, in dem eine Potentialität zurückbleibt. Dann verbindet er diese auf Avicenna zurückgehende Auffassung des Wesens des Schlechten mit der neuplatonischen Deutung des Gegensatzes von gut/schlecht als eines privativen im Unterschied zum kontradiktorischen Gegensatz von Seiendem/Nichtseiendem.127 Im Sinne einer recessio oder intensio interpretiert Philipp den privativen Gegensatz, insofern er das Schlechte als einen recessus a summo bono extra lineam vel ordinationem boni definiert.128 Auch wenn im Schlechten das Gute abnimmt, verläßt das Schlechte in seinem höchsten Abstand oder der äußersten Abkehr vom Guten den Seinsbereich nicht, sondern bleibt immer etwas am Guten haften.129 Dem Schlechten wird zwar der ontologische Status einer Gattung zugewiesen, insofern ihm eine Reihe von Beraubungen zugeordnet wird. Wirklichkeit aber kann ihm dadurch noch nicht zugesprochen werden. Da Gattung hier nur logische Bedeutung hat, kann das Schlechte als logische Gattung der Gattung des Guten entgegengesetzt werden. Eine wahre Gattung ist es jedoch nicht, weil seine Arten und die einzelnen Individuen nur Beraubungen vom Seienden sind.130 An anderer Stelle greift Philipp die Frage erneut auf, diesmal allerdings im Kontext der Abhebung des Guten im allgemeinen gegen das sittlich Gute und das gnadenhafte Gute. Zunächst betrachtet er das Verhältnis von Gutem im allgemeinen und Schlechtem im allgemeinen, denen die einzelnen menschlichen Akte zuzuordnen sind. Da bonum in genere und malum in genere zwei unterschiedene Gattungen ohne einen gemeinsamen Nenner sind, kann kein Gegensatz zwischen ihnen vorliegen.131 Trotzdem sieht er eine Möglichkeit, die Glieder als Gegensatz zu bestimmen, wenn man beide auf die Materie oder den Gegenstand der entsprechenden einzelnen Handlungen bezieht. Die Le-
265 bensrettung eines anderen als guter Akt steht z.B. im Gegensatz zum Töten als schlechtem Akt. Beide Akte sind der Form nach gleich, der Materie nach aber einander entgegengesetzt. In der Franziskanerschule, die dem Augustinismus näher stand, entfaltet sich eine eigene, jedoch von Augustinus stark abhängige Theorie. Alexander von Hales spricht in seiner Summa Theologiae in der Frage De oppositione mali das Thema nicht im allgemeinen an, sondern angewandt auf das Verhältnis von Sünde und Gnade. Die gute Handlung ist der bösen Handlung konträr entgegengesetzt, die Sünde aber dem sittlich Guten nur privativ. Da beide Sätze keine allgemeine Aussage über das Verhältnis von gut und schlecht überhaupt zulassen, sieht er sich dazu gezwungen, eine Zwischenlösung zu finden: malum non est bono contrarium absolute, sed sub privatione132, weil nach Augustinus entgegen der logischen Regel Gutes und Schlechtes gleichzeitig innerhalb desselben Subjekts sein können. Als Beraubung kann das Schlechte gleichzeitig mit dem Guten koexistieren, als konträr entgegengesetzt jedoch kann es dies nicht. Gutes und Schlechtes gehören nicht der ersten Klasse der konträren Gegensätze an. In bezug auf das Verhältnis von bonum in genere und malum in genere im Sittlichen handelt es sich dann um keinen Gegensatz, weil sie weder einer gemeinsamen Gattung angehören noch ein gemeinsames Subjekt haben. Und deshalb sind sie auseinanderdriftende Wirklichkeiten (disparata).133 Bonaventura dagegen spricht sich in seinem Kommentar zu den Sentenzen für einen Gegensatz aus,134 wobei er bemerkt, daß das Schlechte in dem ihm entgegengesetzten Guten ist. Andererseits lehrt er explizit, daß das Wesen des Schlechten (malum abstractive) eine privatio ist, geht aber nicht auf eine genauere Bestimmung des Gegensatzverhältnisses ein.135 Albertus Magnus wiederum weist in seinem Kommentar zu den Sentenzen136 den Gegensatz für das Verhältnis von gut und schlecht strikt zurück mit der Begründung, daß es sich nicht um zwei einander ausschließende Formen mit Bezug auf ein gemeinsames Subjekt handelt. Zudem sei das Schlechte qua und schlecht eine privatio, „omnino nihil est“. Deshalb könnten sie
266 in einem weiten Sinne als Gegensätzliches aufgefaßt werden.137 In einer rigorosen Anwendung der privatio-Lehre faßt er auch das Verhältnis von sittlich Gutem und Bösen nicht als einen Gegensatz auf.138
4. Die Stellungnahme des Thomas von Aquin zur Frage des Gegensatzes von gut und schlecht Sowohl in der disputatio de malo als auch in der quaestio 48 aus dem ersten Teil der Summa Theologiae behandelt Thomas von Aquin die Frage nach dem Wesen des Schlechten nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg einer logischen Betrachtung der durch die Neuplatoniker vermittelten Aristotelischen Gegensatzlehre. Die ausführlichste Darstellung des Problems der Entgegensetzung von gut und schlecht, die in der Summa Theologiae unter Verlust vieler interessanter Nuancen stark verkürzt worden ist, liefert Thomas von Aquin in De malo. Folgende Analyse stützt sich deshalb auf diese Darstellung, um seine Auffassung des Schlechten als Beraubung in Anlehnung an seine Vorgänger herauszuarbeiten. In De malo (q. 1)139 zeigt sich, daß Thomas von Aquin einen Teil der seit der Antike ausgetragenen Diskussion um die Entgegensetzung von bonum et malum kennt. Ihm standen aber weder Plotins Enneaden noch Proklos’ De subsistentia malorum, sondern allein der Kommentar des Simplikios zur Verfügung, den er als seine einzige Quelle – abgesehen von Augustinus und einigen seiner Vorgänger im 13. Jahrhundert – aber auch nicht ganz ausschöpft. In De malo (q. 1, a. 1), der wichtigsten Textstelle, findet sich eine breite Auseinandersetzung mit dieser Problematik. In den Einwänden ist die Position derjenigen zu erkennen, die das Verhältnis von gut und schlecht als eine konträre Entgegensetzung auffassen. Seine Interpretation basiert auf zwei Grundgedanken, auf der Einsicht, daß das Schlechte, um sich dem Guten entgegenzustellen, etwas sein muß,140 und daß die
267 privative Entgegensetzung nicht angemessen ist, weil sich zwischen das Gute und das Schlechte ein Drittes schiebt, ein Indifferentes.141 Mit einigen Einschränkungen schließt sich Thomas der Interpretation des Simplikios an.142 Vom Simplikios übernimmt er den wichtigen Unterschied zwischen einer reinen bzw. totalen Beraubung und einer nicht reinen bzw. partiellen Beraubung. Die eine bedeutet die absolute Abwesenheit einer Form, wie die Finsternis die Abwesenheit des Lichtes und der Tod die absolute Abwesenheit des Leben ist. Die andere Form von Beraubung begreift er als ein Unterwegssein zur vollen Beraubung, wie etwa die Krankheit als Störung der Gesundheit nur eine Durchgangsphase zum Tod oder eine Augenkrankheit nur ein Schritt zur Blindheit ist.143 Dank des Kommentars des Simplikios kann sich Thomas von Aquin ein Bild von der Diskussion in der Antike machen. Seine Darstellung fällt gegenüber dem ausführlichen Bericht des Kommentators sehr knapp aus. Zunächst unterstreicht Thomas, daß, wenn man gut und schlecht nicht als Arten einer gemeinsamen Gattung auffaßt, sondern als eigenständige Gattungen behandelt, von denen das Schlechte die Beraubung einer Form der anderen wäre, dies einen Verstoß gegen die Lehre des Aristoteles darstellen würde. Simplikios folgend führt er zwei Lösungen an, die des Porphyrius und die eines Ungenannten. Interessant sind seine Präzisierungen in bezug auf die Interpretation des Porphyrius. Thomas von Aquin gibt die homonymen Gattungen als genera aequivoca wieder, fügt aber hinzu, daß das Gute und das Schlechte alle Gattungen übersteigen.144 Anschließend wird Simplikios’ Lösung vorgestellt. Gutes und Schlechtes sind Gattungen der Entgegengesetzten, wobei das eine ein Mangel des anderen ist. All die konträr Entgegengesetzten, wie weiß/schwarz oder süß/sauer, lassen sich auf entgegengesetzte Gattungen zurückführen. Die vierte Lösung geht auf das Konto der Pythagoräer, die das Gute und das Schlechte als Ordnungen oder Prinzipien der Seienden ansetzen. Dieser Ansatz scheint für Thomas einer geläufigen Meinung zu folgen.
268 Für welche Lösung entscheidet sich Thomas? Thomas vertritt keine allgemeine These für alle Arten des Guten und des Schlechten, sondern schlägt jeweils eine Art der Entgegensetzung für die jeweilige Art des Guten und des Schlechten vor. So spricht er sich einerseits für einen privativen Gegensatz im Falle des Verhältnisses des natürlichen Guten zum natürlichen Schlechten aus.145 Für diese nicht reinen oder partiellen Beraubungen räumt er jedoch eine konträre Entgegensetzung ein, weil die Beraubungen etwas von dem, was sie verderben, behalten, so daß etwas Gutes zurückbleibt.146 Andererseits spricht er sich für den konträren Gegensatz im Sittlichen aus, und dies geschieht sicherlich im Sinne des Aristoteles, der das sittlich Gute und Schlechte als Arten der Beschaffenheit auffaßt.147 Der Grund ist, daß das sittlich Gute und Böse als Gegenstände eines Willens dem Freiwilligen untergeordnet werden, das nun als eine gemeinsame Gattung fungiert, deren Arten die sittlich guten und bösen Handlungen wären,148 so wie die Farbe die gemeinsame Gattung für schwarz und weiß ist. In diesem Punkt schließt sich Thomas auch Simplikios an, wenn er sagt, daß sich zwischen dem sittlich Guten und Bösen ein Drittes findet, ein actus indifferens. Von Simplikios jedoch unterscheidet er sich nicht dadurch, daß er den privativen Gegensatz für partielle und totale Beraubungen gelten läßt, sondern insofern er mit der Ansicht der Neupythagoräer übereinstimmt, wonach die partielle Beraubung und die entsprechende Form als Glieder eines konträren Gegensatzes anzusehen seien, ohne diese Lösung aber auf das Sittliche anzuwenden. Einerseits zeigt sich Thomas gegenüber der griechischen Vorlage souverän, andererseits schafft er damit eine Kluft zwischen den mannigfachen Arten des Guten und des Schlechten und setzt sich zugleich dem Einwand des Simplikios gegen diese Ansicht aus, die die notwendige Rückführung der relativen Beraubungen auf die absoluten einfach ignoriert. Verwickelt sich Thomas von Aquin mit dieser Lösung nicht in einen Widerspruch? Und läßt sich eine allgemeine Lösung finden?
269 In der Summa Theologiae149 bietet er eine zwar sehr knappe Fassung der besprochenen Stelle in De malo, die aber äußerst wichtige Überlegungen enthält. Simplikios und die Diskussion in der Antike werden völlig ausgeblendet, stattdessen legt er die Aristotelische Position dar und erklärt sie. In den Einwänden gegen den Aristotelischen Ansatz, wonach das Verhältnis gut/schlecht eine konträre Entgegensetzung sei, verabschiedet er sich de facto von dieser Position und spricht sich unmißverständlich für den privativen Gegensatz im ganzen Bereich des Guten und des Schlechten aus. Nachdem er darüber hinaus das Schlechte eindeutig als einen Mangel an einer Vollkommenheit ausweist, begreift er auch das sittlich Schlechte, das Böse, als einen Mangel. Wenn er das Schlechte richtig als einen Mangel bestimmt, muß er dann nicht auch Aristoteles’ Aussage verwerfen? Zweierlei unternimmt Thomas von Aquin. Einerseits150 führt er im stillschweigenden Anschluß an Simplikios den Ansatz des Aristoteles auf dessen Übernahme Pythagoräischen Gedankengutes zurück, wonach das Gute und Schlechte Prinzipien sind. Aristoteles habe sich zwar von den Pythagoräern verleiten lassen, aber dennoch erkannt, daß alle konträren Entgegensetzungen letzten Endes auf den privativen Gegensatz von Hexis und Beraubung zurückzuführen sind.151 Gutes und Schlechtes fungierten zwar als Gattungen für die konträren Gegensatzglieder, wie etwa süß/sauer, weiß/schwarz …, seien es in einem strengen Sinne aber nicht, da das Schlechte als Nichts keinen Bestand habe.152 Auf diese Weise versucht Thomas Aristoteles vor dem Widerspruch zu bewahren, in den er in den Kategorien gerät, wenn er den Gegensatz gut/schlecht als einen konträren bestimmt und damit die Natur des Schlechten als Beraubung nicht berücksichtigt. In der Metaphysik dagegen vertrete Aristoteles diese Einsicht in das Wesen des Schlechten. Die Harmonisierung beider Texte und Ansichten ist ein Verdienst des Thomas von Aquin, nicht aber des Simplikios, der diesen Gedanken aus der Metaphysik erstaunlicherweise nicht heranzieht. Widerspricht diese Lösung nicht der These, daß das sitt-
270 lich Gute dem Bösen konträr entgegengesetzt ist? Gutes und Böses wären im Moralischen wie differentiae specificae. Das Schlechte entspräche dann einer differentia constitutiva. Thomas schlägt eine Interpretation vor, die einerseits die Bestimmung des Schlechten unangetastet läßt und den privativen Gegensatz von gut und schlecht aufrechterhält, und die andererseits die These über den konträren Gegensatz im Sittlichen beibehält. Obwohl das Böse eine Abweichung von einem gebührenden Zweck ist, verbindet es sich mit einem Guten, und nicht das Böse selbst als Mangel, sondern das mit einem Guten verbundene Böse ist eine differentia constitutiva im Sittlichen. Allein dieses mit Gutem verknüpfte Böse steht zu dem sittlich Guten in einer konträren Entgegensetzung, weil sie beide einer gemeinsamen Gattung angehören. Diese differentia constitutiva kann nicht das Böse als Böses (Schlechtigkeit oder malum simpliciter) sein,153 sondern nur das Böse als konkrete res mala. In der Summa Theologiae (I-II, q. 18) vertieft Thomas von Aquin diesen konträren Gegensatz des sittlich Guten und Bösen. Anstatt sich vornehmlich am Willensakt zu orientieren, nimmt er den Gegenstand in den Blick, von dem her sich der Wille bestimmen und konkretisieren läßt. Das sittlich Gute ist das, was der Vernunftregel, der Klugheit (prudentia) entspricht, das Böse dagegen das, was der Vernunftregel widerstreitet.154 Ein Gegensatz kann aber nur dann bestehen, wenn die beiden konträren Glieder irgendwie existieren. Das Böse als solches im Sinne der Abweichung von der Vernunftregel oder des Widerstreits gegen die Klugheit ist eine Beraubung der richtigen Form, nämlich der Entsprechung der Klugheit. Insofern das Böse ein Akt ist, wie etwa Raub, Ehebruch oder Mord, ist das Böse aliud positive, und kann demnach als eine differentia constitutiva für böse Handlungen bezeichnet werden. Das Schlechte als Beraubung ist nicht die differentia constitutiva, sondern die Beraubung als Abweichung von einem gebührenden Ziel, insofern sie sich mit der Absicht eines nicht gebührenden Ziels verbindet.155 Deshalb ist die hier behauptete Positivität des Bösen nicht in einem strengen
271 Sinne zu fassen, so daß das sittlich Schlechte als solches Bestand hätte. Denn die schlechte Sache ist nur deshalb etwas, weil sie sich aus dem als gut geltenden Zugrundeliegenden und einer bösartigen Qualität zusammensetzt, wobei die Positivität eher im Zugrundeliegenden zu suchen ist. Ist diese Lösung richtig? Ist der ontologische Übergang von einem Einzelnen zum Universalen überhaupt zulässig? Wie kann ein einzelnes Ding, eine res mala, zu einem artbildenden Unterschied im Sittlichen werden? Dieser Lösungsversuch erwächst aus dem Bemühen um die Harmonisierung dreier heterogener Gedanken, der konträren Entgegensetzung von sittlich Gutem und Bösem (Aristoteles), der Notwendigkeit einer gemeinsamen Gattung für die Kontrarietät, von der sittlich Gutes und Böses artbildende Unterschiede wären, und zuletzt der neuplatonischen Auffassung des Schlechten als einer Beraubung ohne Bestand. Die res mala kann nicht als ein Universal gedeutet werden, denn prädizierbar sind nach Porphyrius nur Gattung, Art, Unterschied, Akzidenzien und Propria. Außerdem besteht die Entgegensetzung nicht zwischen Substanzen, sondern zwischen Qualitäten oder Substanzen zweiter Ordnung. In der Nachfolge von Thomas von Aquin findet sich kein grundlegend neuer Ansatz. Entweder wird sein Ansatz akzeptiert, oder es wird auf die ältere Position, die auf Augustinus zurückgeht, zurückgegriffen. Duns Scotus geht auf dieses Thema ein, schränkt aber die Tragweite der Fragestellung auf das bonum primo modo (das intrinsisch, wesentlich Vollkommene) und das bonum secundo modo (das extrinsisch Vollkommene) ein. Dem Guten im ersten Sinne ist nichts entgegengesetzt, weder konträr noch privativ, weil es keinem Seienden anhaftet. Zwischen dem absolut Gutem und dem Nicht-Guten liegt nur eine kontradiktorische Entgegensetzung vor. Das Gute im zweiten Sinne aber steht dem Schlechten privativ entgegen.156 Daß er sich in dieser Frage Thomas von Aquin anschließt, bestätigt sich auch in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Thomas’schen Interpretation des actus indifferens, wenn er die pri-
272 vative Entgegensetzung für gut/schlecht im allgemeinen und die Kontrarietät für das sittlich Gute/Böse bevorzugt.157 Am Ende dieser Diskussion im Mittelalter faßt Suárez die gesamte Problematik zusammen. Zunächst können gut und schlecht der Form nach (formaliter) oder der Materie nach (materialiter) miteinander verglichen werden. Das eine Verhältnis besteht zwischen dem Wesen des Guten und dem Wesen des Schlechten, das andere zwischen einer res bona und einer res mala. Das Wesen des Guten steht dem Wesen des Schlechten privativ entgegen, denn das Wesen des Guten liegt in der Vollkommenheit und Zuträglichkeit für etwas anderes, das Wesen des Schlechten aber in der Verfehlung der geschuldeten Vollkommenheit und in der Abträglichkeit für etwas anderes. Die einzelnen Güter dagegen stehen den entsprechenden einzelnen schlechten Dingen konträr entgegen, sofern sie einander ausschließen, und dies gilt für das Natürliche und das Sittliche.158 In diesem letzten Punkt wird der Boden der Aristotelischen Auslegung in doppelter Hinsicht verlassen. Das Böse wird erstens nicht als eine differentia constitutiva, sondern als eine res mala aufgefaßt. Die konträre Entgegensetzung wird dann zweitens auf das Verhältnis von Dingen und nicht mehr auf das Verhältnis von Gattungen oder Arten angewandt, entgegen der Ansicht des Aristoteles, wonach dem einzelnen Ding nichts entgegengesetzt werden kann. Damit wird eine neue Perspektive in die Betrachtung eingeführt, die in Verbindung mit der Heraufkunft einer mathematisch-physikalischen Auffassung des Seins zu einer physischen Konzeption des Verhältnisses von gut und schlecht als quantitativ bestimmbaren Größen führen wird.
5. Der Gegensatz von gut und schlecht im Horizont der Newtonschen Naturphilosophie: Kants neuer Ansatz In seiner kleinen vorkritischen Schrift Versuch den Begriff der negativen Größe in die Weltweisheit einzuführen von 1763159
273 präsentiert Kant eine Theorie der Gegensätze, in der er einen teilweise neuen Ansatz in bezug auf das Verhältnis von Gutem und Schlechtem ausarbeitet. Das Werk nimmt eine nicht unbedeutende Stellung innerhalb der Entwicklung Kants in seiner vorkritischen Periode ein. Es steht nämlich unter dem Vorzeichen seiner Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie Newtons und der Anwendung dieser auf die metaphysischen Gegenstände. Zudem bemüht Kant sich hier entgegen dem von Crusius verfochtenen Rationalismus um eine Trennung von Denken und Sein sowie von Logik und Ontologie. Eine Interpretation der gesamten Schrift in ihrer Bedeutung für den Kantischen Ansatz ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, vielmehr kommt es darauf an, ihren Inhalt im Lichte der hier entfalteten Problematik auszuleuchten. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, daß die Dinge im Sinne der Newtonschen Physik als mit Kraft behaftet aufgefaßt werden. Die Entgegensetzung zweier realer Dinge erweist sich als ein regelrechtes Kräftespiel, in dem das eine einem anderen mit der jeweiligen Kraft entgegengesetzt ist, so daß es sich immer um die Entgegensetzung von Kräften handelt. Kant reduziert die vierfache Aristotelische Einteilung der Entgegensetzung auf eine zweifache. Zunächst nennt er die logische Entgegensetzung, die darin besteht, daß von einem und demselben Ding etwas zugleich bejaht und verneint wird.160 Die logische Entgegensetzung wird vom Prinzip des Widerspruchs beherrscht, wonach das eine und das ihm Entgegengesetzte nicht zugleich bei demselben Subjekt anwesend sein können. Ihr Resultat ist das nihil negativum.161 Dagegen tritt die reale Opposition dann ein, wenn zwei Prädikate eines Dinges entgegengesetzt sind, die einander aber nicht aufheben, wie bei der logischen Entgegensetzung. Wenn der Bewegkraft eines Körpers in einer Richtung die Bewegung dieses Körpers in eine andere Richtung entgegengesetzt ist, dann liegt eine reale Entgegensetzung vor, deren Folge die Ruhe ist, weil beide entgegengesetzten Bewegungen einander aufheben. Diese
274 Ruhe ist ein nihil privativum.162 Im Unterschied zur logischen Repugnanz oder Entgegensetzung sind die aufeinander prallenden Prädikate beide real bzw. wirklich und bejahend. Die reale Entgegensetzung kann ihrerseits entweder actualis oder potentialis sein. Eine aktuell reale Opposition besteht, wenn sich etwa zwei Körper gegeneinander auf derselben Linie mit gleicher Kraft bewegen. Wenn sich diese beiden Körper in entgegengesetzter Richtung auf derselben Linie bewegen, liegt nur eine mögliche reale Entgegensetzung vor.163 Aus dieser kurzen Erläuterung der Kantischen Position wird ihr Unterschied zur Aristotelischen Auffassung sofort klar. Denn die reale Entgegensetzung im Kantischen Sinne wird von Aristoteles ausdrücklich zurückgewiesen, weil die Entgegensetzung nur in der Qualität gegeben ist. In der Tat ist die Kantische reale Opposition weder ein Gegensatz noch eine privative Entgegensetzung, die es nur in bezug auf die Qualität gibt. Ein weiteres Merkmal der realen Opposition nach Kant ist der Umstand, daß die entgegengesetzten Glieder als reale oder positive Gründe oder Ursachen begriffen werden, die als solche in der Wirklichkeit als Kräfte existieren und so aufeinanderprallen, daß es zu einem Gleichstand kommt: die Aufhebung. Obwohl beide Prädikate als bejahend zu betrachten sind, versteht Kant das eine als Positives, das andere als Negatives. Daraus resultiert die Positivität oder Wirklichkeit des Negativen. Rekapitulierend faßt Kant die Bedingung für die Realrepugnanz zusammen.164 Zuerst müssen die widerstreitenden Bestimmungen in einem und demselben Subjekt angetroffen werden. Zweitens entfällt bei ihnen das Widerspruchsprinzip. Drittens muß aber das eine setzen, was das andere verneint, denn beide können nicht verneinend sein. Und deshalb muß fünftens das Ergebnis dieser Entgegensetzung Null sein. Die Beraubung ist nach Kant die Verneinung, die als Folge einer realen Entgegensetzung auftritt, während die Verneinung, die aus einer nicht realen Entgegensetzung entspringt, Mangel oder defectus heißt.165 Dies wird am Beispiel der Bewegung erläutert. Wenn die Ruhe einfach nur die Verneinung einer Bewe-
275 gung ohne Bezug auf eine entgegengesetzte Kraft ist, die etwas zum Stillstand bringt, dann liegt einfach ein Mangel an Bewegung vor. Wenn diese Ruhe jedoch als Folge des Aufeinanderprallens zweier entgegengesetzter Kräfte zu verstehen ist, dann liegt eine Beraubung vor, insofern weder die eine noch die andere Bewegung ausschlaggebend sind und kein Vorwärtskommen stattfindet. Diese physikalisch quantitative Auffassung der Entgegensetzung überträgt Kant auf das Verhältnis von Gutem und Schlechtem. Kant hält die Entgegensetzung von Gutem und Schlechtem für real, weil beide Glieder wirklich sind. Nach Kant behandelten die meisten Philosophen das Übel als bloße Verneinung, ohne zwischen dem Mangel oder defectus, der tatsächlich einer Verneinung gleichkommt, und der Beraubung oder privatio, die eher einen positiven, ja wirklichen Grund voraussetzt, zu unterscheiden.166 Bei dem Phänomen des sinnlichen Guten verhält es sich ebenso wie bei den Körpern in Bewegung. Die Unlust oder der Schmerz ist nicht einfach ein Mangel, sondern eine positive Empfindung, eine Beraubung, insofern sie als positiver Grund oder als positive Ursache eine ihr entgegengesetzte Lust aufhebt. Von dieser Unlust unterscheidet Kant dann den Mangel an Lust bzw. das reine Fehlen der Lust (Gleichgewicht).167 Die Untugend ist ebenfalls keine bloße Verneinung, sondern eine negative Tugend, die sich dem Bewußtsein eines positiven Gesetzes, das die Ausübung einer Tugend erfordert, entgegensetzt. Kant unterscheidet die Untugenden scharf von den Unterlassungsfehlern oder dem Fehlen an einer Tugend. Gegen die Reduktion auf das Quantitative in der Auffassung Kants ist einzuwenden, daß die privative Entgegensetzung aber von qualitativer Natur ist. Kant kennt nur eine quantitative Beraubung, die aber keine ist,168 und insistiert darauf, daß das eine Prädikat oder die eine Bestimmung die andere verneint. Aber dies ist im eigentlichen Sinne keine Verneinung, da beide Bestimmungen positiv sind: eine Bewegung in eine Richtung, eine
276 andere Bewegung in eine andere Richtung. Eine Entgegensetzung liegt prinzipiell nicht vor, weil beide Bestimmungen in einem und demselben Subjekt zugleich angetroffen werden können, was der Voraussetzung für die Kontrarietät und die privative Entgegensetzung gerade widerspricht. Ein zweiter Einwand richtet sich gegen Kants Übertragung der physikalischen Weltbetrachtung auf den Bereich des Sittlichen oder der sinnlichen Lust. Kant faßt die Seele im Grunde als einen Ort im Sinne der Physik auf, an dem der Kampf von Vorstellungen und Begierden, die mit Kraft ausgestattet sind, ausgefochten wird, an dem eine Vorstellung oder Begierde die andere aufhebt oder ablöst.169 Kann die Seele des Menschen aber als ein physikalisches Ding, das sich nur aus Kräften zusammensetzt, adäquat interpretiert werden? In der Deutung Kants wird die Seele mit ihren Elemente (Vorstellungen, Begierden …) nur als ein physikalisches, quantifizierbares Ding verstanden, ohne ihren qualitativen Aspekten gerecht zu werden. Die Seele wäre dann nur ein Teil der physikalisch verstandenen Natur als großer Schauplatz des Aufeinanderprallens naturhafter Kräfte.
6. Schlußbetrachtung In all den besprochenen Ansätzen wird das Schlechte in seiner wesentlichen Entgegensetzung zum Guten gesehen. Diese Entgegensetzung wird entweder als wahrer Gegensatz oder als privative Entgegensetzung aufgefaßt. Da die entgegengesetzten Glieder einen gemeinsamen Bezugspunkt fordern, Gutes und Schlechtes aber keine Gattungen in irgendeinem Sinne darstellen, übersteigt diese eigenartige Entgegensetzung den von Aristoteles vorgegebenen Bereich des Gegensätzlichen. Dennoch sind Gutes und Schlechtes einander entgegengesetzt. Ist diese Problematik eine rein logische Angelegenheit? Trotz der unterschiedlichen Lösungen wird in all diesen Ansätzen das Schlechte überhaupt ontologisch als ein Mangel cha-
277 rakterisiert, als eine Beraubung von etwas, von einer Vollkommenheit, die mit dem Guten gleichgesetzt wird. Das Schlechte als Beraubung ist die Abwesenheit von etwas, das hätte sein sollen. Da das Schlechte aufgrund dieser ontologischen Bestimmung in den Bereich des Nichtseienden rückt, nimmt sich diese Entgegensetzung ganz anders aus als andere Entgegensetzungen. Wie kann das „Nichts“ dem Guten überhaupt entgegengesetzt werden? Wenn das Gute auf irgendeine Weise mit dem Sein verknüpft ist, insofern alles, was ist, irgendwie an einer Vollkommenheit teil hat, und das Schlechte als Beraubung sich als eine „Art“ von Nichts erweist, steht dann die Entgegensetzung von Gutem und Nichts auf demselben Boden wie der Gegensatz von Sein und Nichts? Das Verhältnis des Gutem zum Schlechten kann aber nicht auf den Gegensatz Sein/Nichts zurückgeführt werden, weil das Gute etwas anderes als das Sein bedeutet, so wie das Schlechte keine reine Verneinung ist. Dennoch ist eine Wesenszugehörigkeit zu diesem Urgegensatz gegeben. Beide Gegensätze liegen nicht im Horizont einer gemeinsamen Gattung, ihre Glieder sind weder Gattungen noch etwas, was sich darauf reduzieren läßt. Diese Kategorien erweisen sich als unbrauchbar. Dies liegt im Nicht-Charakter des Schlechten, der es in den Bereich des „Nichts“ stellt, das gerade keine Gemeinsamkeit mit etwas in sich schließt. Das Schlechte gehört zum Guten nur im Sinne des möglichen Nachlassens seiner Macht, also insofern Macht und Ohnmacht wesentlich zueinander gehören. Aber Ohnmacht ist weder ein Unterschied von der Gattung Macht, noch sind beide etwas, was einer übergeordneten Gattung angehört. Andererseits ist diese Wesenszusammengehörigkeit von gut und schlecht ein Sachbefund, dem in den unterschiedlichen Gegensatzlehren nicht genügend Rechnung getragen wird. Denn als Macht zeigt sich das Gute als solches erst in der Entfaltung seiner Möglichkeit. Wenn es nicht zur vollen Entfaltung kommt und demnach ein Mangel eintritt, dann ist das Schlechte im Sin-
278 ne der Ohmacht gegeben. Diese Entfaltung der Macht als Möglichkeit schließt wesentlich den Verweis auf eine Fehlentfaltung ein, auf das Schlechte, so daß Gutes und Schlechtes zusammengehören. Im Guten ist vorgezeichnet, daß die Entfaltung der eigenen Macht nicht aus eigener Verfehlung, sondern aus einer Begrenzung verhindert werden kann. Ist diese Wesenszusammengehörigkeit folglich als Komplementarietät zu deuten? In diesem Fall müßte man das Verhältnis zwischen einer Kraft und einer Gegenkraft, die einander brauchen, auffassen. Auf diese Weise bewährt sich das Gute, das sich dann gegen die Kraft des Schlechten durchsetzt, so wie es am Beispiel der Lust gezeigt werden kann, die sich im Kampf gegen den Schmerz läutert und behauptet. Aber dann ist dieses Schlechte im Sinne des Ansporns zum Guten wiederum etwas Förderliches, das Schlechte an sich jedoch ist dem Charakter des Zuträglichen und der Macht als Kraft völlig abhold. Die Gegenkraft, die das Schlechte gegen das Gute aufbietet, stellt sich in gewisser Hinsicht als ein Gutes heraus, weil sie das Gute zum Gedeihen anreizt. Aber in dem Komplementaritätsverhältnis im Sinne der Kräfteverhältnisse bleiben das Gute und das Schlechte einander fremd, in der Wesenszusammengehörigkeit jedoch ist das Schlechte selbst im Guten als Ohnmacht, nicht aber als eine sich diesem entgegenstemmende Kraft. Anmerkungen 1 Die vorliegende Arbeit ist eine Fortsetzung des Aufsatzes Das Wesen des Schlechten als privatio boni. Zur Frage seiner Bestimmung, in: Perspektiven der Philosophie, Bd. 30 (2004), S. 125-187. Deshalb kann das Problem der Wesensbestimmung des Schlechten hier nur knapp behandelt werden. Für die genaue sprachliche Durchsicht des Textes bedanke ich mich bei der Redaktion der Zeitschrift, insbesondere bei Frau Martina Scherbel. 2 L.B. Gillon, La théorie des oppositions et la théologie du péché au XIII siécle, Vrin, Paris 1937. 3 Klaus Jacobi, „Gut“ und „schlecht“ – die Analyse ihrer Entgegensetzung bei Aristoteles, bei einigen Aristoteles-Kommentatoren und bei Thomas von Aquin, in: Studien zur mittelalterlichen Geistesgeschichte und ihren Quellen (Miscellanea Mediaevalia; 15), hrsg. von Albert Zimmermann, Walter de Gruyter, Berlin 1982, S. 25-52.
279 Cat. c. 10; Top. II 8; Met. D, 10; I 3-5. Der Darstellung liegt Categoriae, c. 10 zugrunde, auf die abweichenden Darstellungen im Corpus Aristotelicum wird jedoch gelegentlich eingegangen. In Met. D, c. 10 wird die Liste von Entgegensetzungsweisen um die Entgegensetzung vom Woraus und Wohin des Entstehens und des Zugrundeliegenden erweitert, sowie speziellere Arten von diesen 5 Weisen angegeben (1018 a25 ff.). Zur Gegensatzlehre vgl. Johan P. Anton, Aristotle’s Theory of Contrariety (1957), 2 nd edition, UP of America, Lanhan/New York/London 1987. O.N. Guariglia, Quellenkritische Untersuchungen zur Gegensatzlehre des Aristoteles, Olms, Hildesheim 1978. Martin Hohelüchter, Kontrarietät. Explikation in Auseinandersetzung mit Aristoteles (Diss. Münster 1988), Nodus-Publikationen, Münster 1988. 5 Met. D 10, 1018 a22-23. 6 Cat. 10, 12 a14-25 (allgemein zur Entgegensetzung). Zum Unterschied in der Entgegensetzung Met. I 4, 1055 b23-25. 7 Cat. 10, 12 b16-25. 8 Cat. 7, 6 b15-16 (hier ist die Rede ˙ret} und kakía); 10, 11 b21, 3536 (˙gayón/kakón); 12 a12 ff. (hier ist die Rede von faûlon und spoudaîon); 12 a 24 (díkaion/ƒdikon); 11, 13 b36-14 a6, 19-24. 9 Cat. 10, 11 b34-12 a25. 10 Cat. 10, 13 a19-31. 11 Cat. 11, 13 b36-14 a6. 12 An einer anderen Stelle (Met. I 5, 1055 a19-21) vertritt Aristoteles die entgegengesetzte These, wonach nur eins einem anderen konträr entgegengesetzt ist. Diese Ungereimtheit im Text hat keineswegs einen großen Widerhall in der nachfolgenden Diskussion gefunden. Vgl. dazu Hohelüchter (wie Anm. 4), S. 108-110. 13 Cat. 6, 6 a15-18. Met. I 3. Denn ohne gemeinsamen Bezugspunkt kann es überhaupt keine Entgegensetzung geben. Zunächst wird ein wichtiges, in den Kategorien unerwähnt gelassenes Merkmal der Entgegensetzung zur Sprache gebracht, nämlich, daß die Entgegensetzung zweier Seiender eine gemeinsame Gattung voraussetzt, denn keine Entgegensetzung liegt zwischen gattungsverschiedenen Seienden vor (1055 a25-27). 14 Cat. 11, 14 a23-25 jedoch: ˙gayòn dè kakòn o[k ¡stin \n génei, ˙ll a[tà tugxánei génh tinôn ªnta. 15 Cat. 11, 14 a15-25. Top. D 3, 123 b9 ff. Wobei Gemeinsamkeit als Voraussetzung für jede Entgegensetzung gewahrt bleibt, insofern gut/schlecht Dispositionen sind, d.h. derselben Gattung (Hexis) angehören, die ihrerseits in der Kategorie der Qualität fundiert sind. Gut/schlecht sind nur insofern selbst Gattungen, als die einzelnen Tugenden und die einzelnen Laster jeweils konträren Gattungen (Tugend und Laster) angehören, ihre Eigenständigkeit ist jedoch begrenzt. 16 Met. I 3, 1054 b32. 17 Met. I 3, 1054 b23-26. 18 Cat. 3 b24-26; Phys. A 6, 189 a29-33. 19 Cat. 5, 4 a10-b19. 20 Top. B 7, 113 a22-25, b6-14. 4
280 Met. G 5, 1009 a35-36. Cat. 11, 14 a6-10. 23 Met. I 8, 1058 a10-28. 24 Met. I 4, 1054 b29 ss. De generatione et corruptione A 7, 324 a2. 25 Top. D 3, 123 b8-12. 26 Bei Simplikios, in Simplicii in Aristoteles Categorias Commentarium, edidit Carolus Kalbfleisch, in Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG), Berolini, typis et impensis Georgii Reimeri, 1907, t. 8, 415, 15-20 (Zitat) = fr. 15 Wimmer. Gestalt und Beraubung jedoch sind nach Aristoteles deutlich dem privativen Gegensatz zuzurechnen, wobei er in Physik A 7, 190 b30 ff. diese Entgegensetzung als konträr auffaßt. 27 CAG 8, 414, 26-33 und 388, 4-11. Nikostratos, der offensichtlich einen Kommentar zu den Kategorien verfaßt hat (CAG 8, 1, 19), wird häufig von Simplikios zitiert. Zu dieser Gestalt des mittleren Platonismus siehe Karl Praechter, Nikostratos der Platoniker, in: Hermes 57 (1922), S. 481-517 (= Kleine Schriften, 101-137). Paul Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen, Bd. 2: Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias (Peripatoi; 6), Walter de Gruyter, Berlin 1984, S. 528-563 (insbes. zur Gegensatzlehre S. 552-559). 28 Cat. 11, 14 a19-25. 29 CAG 8, 414, 27-30 und 388, 4-13. Moraux (wie Anm. 27), II, S. 554 u. 558-60. Eine weitere, auf der stoischen Lehre fußende Kritik des Nikostratos an Aristoteles betrifft die Kontrarietät von Indifferenten (CAG 8, 410, 25-29). Moraux, ebd., II 559. 30 CAG 8, 416, 8-20. Zu seiner Gegensatzlehre Moraux (wie Anm. 27), II, S. 623-28. 31 Plotini opera, ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer, editio minor, Oxonii 1964-1983, hier Enn. I 8, 3, 1-3. Zu dieser Schrift Plotins (Nr. 51) vgl. folgende Kommentare: Schröder, Plotins Abhandlung póyen tà kaká, Diss. Rostock 1914. Dominic O’Meara, Traité 51 (Les écrits de Plotin), Cerf, Paris 1999. 32 Enn. III 5, 7, 40-55. 33 Enn. I 8, 5, 8-10. 34 Enn. I 8, 5, 12-13. 35 Enn. I 8, 6. 36 Enn. VI 7, 23, 9-18. 37 Enn. I 8, 6, 20 ff. 38 Enn. I 8, 6, 20-27. 39 Enn.I 8, 7 passim. 40 Enn. I 8, 6, 27-32. 41 Enn. I 8, 6, 31-35. 42 Enn. I 8, 6, 35-48. 43 Enn. I 8, 6, 53-58. 44 F 74 Smith= Simplicius, in CAG 8, 414, 26-415, 9. 45 Vgl. Aristoteles, Cat. 1, 1 a1 ff. 21 22
281 Isagoge, in CAG 4, 1, p. 6-24 ed. Busse. Hier: p. 16, 6 ff. Is. 6, 1-10. 48 CAG 8, 414, 34-415, 2. 49 CAG 8, 415, 2-9. 50 Is., p. 5,17- 6, 23. 51 CAG 8, 415, 20-34. 52 Dexippus, In Categorias, ed. Adolfus Busse, CAG 4, 2, (1888): p. 1-71. 53 Phys. A 7, 190 b30 ff. Dexippus, CAG 4, 2, 52, 20-53, 4. 54 CAG 4, 2, 2, 26-30. 55 De malorum subsistentia 1, 2, 23-32, in: Procli Diadochi Tria opuscula (De providentia, libertate et malo) (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie; 1) latine Guilelmo de Moerbeka vertente et graece ex Isaacii Sebastocratis aliorumque scriptis collecta. Edidit H. Boese Berolini apud W. de Gruyter et socios 1960: hier p. 174. 56 De mal. subs. 1, 8, 7-10: p. 186 Boese. 57 De mal. subs. 1, 9, 8-11: p. 189 Boese. 58 De mal. subs. 19, 51, 7: p. 247 Boese: ƒmoiron ˙gayôn. 59 De mal. subs. 1, 9: p. 186 Boese. Schon Platon setzte etwas an, was dem Guten subkonträr entgegengesetzt war (Thaetetus 176 a). 60 De mal. subs. 1, 10, 28-20, p. 191 Boese. 61 Stephanus, In Peri Hermeneias, ed. Michael Hayduck, CAG 18, 3 (1885): 30, 35 ff. 62 De mal. subs. 11, 36, 16-17, p. 228 Boese. 63 De mal. subs. 12, 38: p. 222-223 Boese. 64 De mal. subs. 20, 54, 20-22: p. 253 Boese.Vgl. auch 1, 9, 10-13: p. 189 Boese. 65 De mal. subs. 20, 53: p. 251-253 Boese. 66 Über ihn Karl Praechter, Art. „Simplikios“, in: Pauly-Wissowa (RE), 2. Reihe, 5. Hlbd (1927), Sp. 204-213. 67 CAG 8, 109, 5-110, 25. Vgl. die recht knappe Zusammenfassung bei Jacobi (wie Anm. 3), S. 31. Obwohl Simplikios Neuplatoniker war, teilt er die Annahme eines absoluten Einen nicht, verficht jedoch die Prinzipienhaftigkeit des Guten (In Enchiridion ad c. 27, c. 35: p. 322-344 Hadot: vgl. Anm. 99). Über den Charakter und das Ziel seines Kommentars zu den Kategorien des Aristoteles vgl. Philippe Hoffmann, Catégories et language selon Simplicius. La question du „skopos“ du traité aristotélicien des „Catégories“, in: Ilsetraut Hadot (Hrsg.): Simplicius, sa vie, son oeuvre, sa survie (Peripatoi; 15), Walter de Gruyter, Berlin/New York 1985, S. 61-90. 68 CAG 8, 109, 5-11. 69 CAG 8, 109, 11-13. 70 CAG 8, 109, 13-17. 71 CAG 8, 109, 17-20. 72 CAG 8, 109, 20-25. 73 CAG 8, 109, 25-27. 74 CAG 8, 109, 27-29. 46 47
282 CAG 8, 109, 29-110, 4. CAG 8, 110, 5-6. 77 CAG 8, 110, 9-12. 78 Aristoteles, Cat., 3 b24-27. CAG 8, 110, 11-15. 79 CAG 8, 110, 15-18. 80 CAG 8, 415, 7-9. 81 CAG 8, 415, 9-13. 82 CAG 8, 415, 13-15. 83 CAG 8, 415, 34-416, 7. 84 Vgl. dazu Jacobi (wie Anm. 3), S. 31-34, der diese Diskussion genau verfolgt hat. 85 Aristoteles überliefert eine Pythagoräische Tafel der Gegensätze (Met. A 5): Grenze/Grenzenloses, Gerade/Ungerade, Eins/Vieles, Rechts/Links, Männlich/Weiblich, Ruhendes/Bewegtes, Gerade/Krumm, Licht/Finsternis, Gut/Schlecht, gleichseitiges/ungleichseitiges Viereck. Diese Gegensätze wurden als Seinsprinzipien aufgefaßt, bei denen der Gegensatz gut/schlecht eine entscheidende Rolle spielt, seine genauere Charakterisierung ist jedoch nicht überliefert. Zu dieser Problematik vgl. Walter Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft; 10), Hans Carl, Nürnberg 1962, insbes. S. 45 f. 86 Vgl. Jacobi (wie Anm. 3), S. 35. Der Ursprung dieser Vorstellung wird aber von Jacobi nicht weiter verfolgt. Es ist nicht ganz klar, ob es sich um eine peripatetische oder neuplatonische Lehre handelt. Es könnte auch eine neupythagoräische sein, wie ich weiter unten vermute. 87 CAG 8, 416, 29-30. 88 CAG 8, 416, 31-33. Diese wird mit Termini umschrieben wie: ˙potuxía (Verfehlung) parállajiw (Abkehr oder Abweichung), paratrop} (Abkehr, Abirrung), parupóstasiw (Neben-Existenz), einem wohl seit Porphyrius geläufigen, seit Iamblichos und Proklos aber festen Terminus für die besondere Seinsweise des Schlechten. 89 CAG 8, 417, 33-418, 3. 90 CAG 8, 417, 7-9. 91 CAG 8, 417, 9-15. Moerbeke übersetzt: privatum esse und privari. Vgl. Jacobi (wie Anm. 3), S. 35. 92 CAG 8, 417, 17-21. 93 CAG 8, 417, 21-23. 94 CAG 8, 417, 23-27. 95 CAG 8, 417, 27-418, 2. 96 CAG 8, 418, 4-6. Simplikios wundert sich darüber, daß Iamblichos, obwohl er von dem Schlechten als einer ˙potuxía und parupóstasiw spricht, an der Pythagoräischen Ansicht festhält. 97 CAG 8, 418, 6-9. 98 CAG 8, 418, 16-18. 99 Jacobi sieht dies als Makel im Ansatz des Simplikios, weil er die phä75 76
283 nomenologische Einsicht des Aristoteles in das Sittliche verfälscht haben soll. Aber damit wird er dem neuplatonischen Ansatz nicht gerecht, der letzten Endes die Aristotelische Universalisierung und Kategorialisierung des Guten aufs äußerste getrieben hat. Daß Aristoteles den Blick nicht auf das Sittliche eingeengt hat, habe ich in meinem Aufsatz Zur Frage nach den mannigfachen Bedeutungen des Guten bei Aristoteles, in: Perspektiven der Philosophie 28 (2002), S. 47-85, zu zeigen versucht. 100 Vgl. Ilsetraut Hadot, Die Widerlegung des Manichäismus im EpiktetKommentar des Simplikios, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 31-37. Die Verfasserin besorgte auch die erste kritische Ausgabe des Textes: Simplicius. Commentaire sur le Manuel d’Epictète. Introduction et édition critique du text grecq, (Philosophia Antiqua; 66). Brill, Leiden 1996. Auf S. 114-144 analysiert sie diese Problematik noch einmal, der Schwerpunkt ihrer Darstellung liegt vor allem in der Rekonstruktion des Manichäismus, so daß das neuplatonische Gedankengut aus den Augen gerät. 101 Commentaire 35, 245-412. Ich zitiere das Kapitel mit den Zeilen der Ausgabe von Hadot. 102 Commentaire 35, 31-38. 103 Commentaire 35, 38-55. 104 Commentaire 35, 69-73: pôw dè dunatón, ‘n tò \nantíon kaì m| fyeirómenon dejásyai tò \nantíon (71-72). 105 Vgl. Phaidon 103 a. 106 Commentaire 35, 155-183. 107 Commentaire 35, 184-187. 108 Commentaire 35, 193. 109 Commentaire 35, 196. 110 Commentaire 35, 198-212. 111 Commentaire 35, 492-501. 112 Commentaire 35, 213-239. 113 CAG 13, 1, 190, 28-191, 15 zu Cat. 11, 14 a19-21. Vgl. Jacobi (wie Anm. 3), S. 28-29. 114 CAG 13, 1, 170, 31-171, 3, zu Cat. 11 b21: t_ o[sía gàr o[dén \stin \nantíon. 115 CAG 13, 1, 171, 14-15. 116 CAG 13, 1, 187, 25-188, 17: insbesondere 188, 10-17. Aristoteles hatte (Cat. 11, 13 b36-14 a7) die Möglichkeit zweier konträr entgegengesetzter Glieder zum Guten eingeräumt. In Met. I 4, 1055 a20 schließt er dies absolut aus und fordert die Entgegensetzung von einem konträren Glied allein zu einem anderen. 117 Vgl. im allgemeinen L.B. Gillon (wie Anm. 2). 118 Confessiones 3, 7, 12: quia non noveram malum non esse nisi privationem boni usque ad quod omnino non est; Enchiridion 3, 11: quid est autem aliud quod malum dicitur, nisi privatio boni, wobei er die Beraubung mit den Termini contra naturam, corruptio, defectus identifiziert. 119 In Cat. Aristotelis IV: PL 64, 264 c; 283 b.
284 Libri Sententiarum II, d. 34, c. 5: in Sententiae in III libris distinctae (Specilegium Bonaventurianum; 4), Quaracchi, Grotaferrata 1971: t. 2, p. 528. Vgl. Gillon (wie Anm. 2), S. XII-XIII. 121 „[…] potentialitas sola aut quod est via ad illam, malum aut malitia nominatur“, in: De bono et de malo, hrsg. von J.R. O’Donell, in: Mediaeval Studies 8 (1946), S. 245-299: hier S. 251. 122 „[…] manifestum est bonitatem non aliud vocari in rebus, in quantum fines sunt, nisi perfectionem seu actum, seu actualitatem, et universalem totius potentialitatis eius quod movetur, et particularem alicuius ex potentialitatibus suis. Et quoniam omni motu fugitur potentialitas ipsa et petitur aut quaeritur actualitas potentialitas sola est quae malum vocatur aut quod in potentialitatem reducit“. Bei Gillon (wie Anm. 2), S. 20, Anm. 1. Vgl auch Avicenna, Liber de philosophia prima sive scientia divina, édition critique de la traduction latine médiévale par S. Van Riet, introduction doctrinale par G. Verbeke, Peters/Brill, Leuven/Leiden 1977-1980: hier lib. IV, cap. 2, S. 212, und die italienische Übersetzung des nach der Ausgabe von El Cairo kritisch edierten arabischen Textes in der von Lizzini besorgten Ausgabe, die auch den Arabischen Text und die alte lateinische Übersetzung abdruckt (Avicenna, Metafisica: la scienza delle cose divine (Al-Iâhiyyât) dal libro della Guarigione (Kitâ al-Ã ifâ). Testo arabo a fronte. Testo latino in nota. Traduzione dall’arabo, introduzzioni, note e apparati di Olga Lizzini. Prefazzione, revisione del testo latino e cura editoriale di Pasquale Porro. Bompiani, Milano 2002: hier S. 409-410). Avicenna geht jedoch auf die Frage nach der Entgegensetzung nicht ein. Wilhelm unterscheidet die potentialitas von der potentia und versöhnt somit seine Auffassung mit der Augustinischen Deutung des Schlechten als Beraubung. Vgl. Gillon, ebd., S. 22 ff. 123 De universo, I 1, c. 4, in: Guilielmi Alverni Opera omnia (2 Bände), ex typographia Hoto, Parisiis 1674 (Nachdruck, Minerva, Frankfurt am Main 1963): t. 1, p. 596. 124 Philippi Cancellarii parisiensis Summa de bono ad codicum primum edita studio et cura Nicolai Wicki (Corpus philosophorum Medii Aevi, Opera philosophica 2), Francke, Bern 1985. Insbes. die Frage mit dem Titel Utrum omni bono opponatur malum I 23-26 (Die römische Ziffer steht für den Band, die arabische für die Seite). 125 Summa de bono I 39. 126 Summa de bono I 41. 127 Summa de bono I 23. Zur Auffassung des Schlechten bei Philipp dem Kanzler muß man sagen, daß ihre Konturen eher fließend sind und daß er verschiedene Auffassungen in seiner Summa de bono ins Spiel bringt, die nicht miteinander zusammenstimmen. Nachdem er das Schlechte als etwas, was das Mögliche zurückläßt, definiert hat, bestimmt er das Schlechte als einen Wesensmangel in der Ausrichtung auf eine Zweckursache. 128 Summa de bono I 24. 129 Ebd. 130 Summa de bono I 47. 120
285 Summa de bono I 345 und 47. Summa Theol. II, II, n. 20: in ed. Quaracchi 1930, t. 3, p. 57-58. Vgl. Gillon (wie Anm. 2), S. 73-74. 133 Summa Theol. II, II, n. 21, in ed. Quaracchi 1930: t. 3, p. 31-33. Vgl. Glossa in IV libros Sententiarum (Bibliotheca Franciscana scholastica 13), Quaracchi 1952: In II, d. 34, n. 7 (t. 2, p. 333). 134 In II Sent., d. 34, art. 2, q. 2, in: Opera omnia, Quaracchi 1935, t. 2, p. 812-813. 135 In II Sent., d. 34, art. 2, q. 3, in: Opera omnia, t. 2, p. 815 a. 136 In Sent. II, d. 34, a. 1, in: Opera omnia, ed. Borgnet, Parisiis 1894: t. 27, S. 547. Vgl. Gillon (wie Anm. 2), S. 96-97. 137 In Sent. II., d. 34, a. 5: t. 27, S. 558 b. 138 Commentarium in de divinis nominibus, Vat. fol. 214ra. Vgl. Gillon (wie Anm. 2), S. 108. 139 Vgl. die Parallelstelle bei Summa contra Gentes III c. 8-9. Zur Frage über die Art der Entgegensetzung von gut und schlecht bei Thomas von Aquin und die griechischen Kommentatoren der Kategorienschrift vgl. Klaus Jacobi (wie Anm. 3). In seinem Thomas-Referat (S. 37-52) analysiert er die sittlich relevante Handlung anhand von I-II, q. 18 und De malo, q. 2 überzeugend. Thomas’ Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von gut und schlecht in I, q. 48 und in De malo, q. 1 wie sein Einsatz für die Kontrarietät zwischen sittlich Gutem und Bösem werden überraschenderweise jedoch nicht berücksichtigt. 140 De malo, q. 1, a. 1 videtur 1 und 3, in: Quaestiones disputatae, t. II, cura et studio P. Bazzi et M. Pession, editio octava revisa, Marietti, Turin/Rom 1949, S. 445-699. 141 De malo, q. 1, a. videtur 7. 142 De malo, q. 1, a. 1, ad 2: sed alia quorum unum est secundum naturam et aliud recessus a natura, non opponuntur proprie ut contraria, sed ut privatio et habitus. 143 In De malo, q. 1. a. 1 ad 2 benutzt er die Ausdrücke privatum esse und privari, in der Summa Theologiae bevorzugt er die Termini privatio pura und privatio non pura. 144 De malo, q. 1. a. 1, ad 11. 145 De malo, q. 1. a. 1, ad 4; q. 2, a. 5 ad 3. Vgl. Jacobi (wie Anm. 3), S. 37-52. Dieser Autor sieht nur den ersten Gedanken, übersieht aber Thomas’ Zugeständnis an Simplicius im Falle des natürlichen Guten und Schlechten. Sicherlich liegt in dieser Frage die Gewichtung auf dem Sittlichen, aber eine Verengung der Perspektive auf das Sittliche verfälscht auch Thomas’ Ansatz. 146 De malo, q. 1, a. 1, ad 2: et huiusmodi privationes interdum dicuntur contrariae in quantum adhuc retinent aliquid de eo quod privatur; et hoc modo malum dicitur contrarium, quia non privat totum bonum, sed aliquid de bono removet. 147 Sum. Th. I, q. 48, a.1, ad 1. 131 132
286 De malo, q. 1, a. 1, ad 4. I, q. 48, a. 1. Die zwei quaestiones der Summa theologiae (I, q. 4849) sind von De malo, q. 1 abhängig. Da in q. 1 Simplikios’ Kommentar oft herangezogen wird, in der Summa der Name aber nicht erwähnt wird, der Inhalt jedoch bekannt ist, ist wohl anzunehmen, daß die zwei quaestiones aus der Summa nach der q. 1 von De malo geschrieben worden sind, also irgendwann in der Zeitspanne von 1266-1268. Der Text vertieft manche Einsicht von De malo auch hinsichtlich der Polemik um Aristoteles’ Gegensatzlehre, was auf eine tiefere Auseinandersetzung des Thomas mit der Problematik hindeutet. 150 Sum. Th. I, q. 48, a.1, ad 1. 151 Aristoteles, Met. I 4, 1055 a33: prQth dè \nantívsiw £jiw kaì stérhsíw \stin. Vgl. auch Met. I 4, 1055 b14-19: die Entgegensetzung wird ausdrücklich als eine Art von Beraubung angesehen. Beraubung und Form wären die Gattungen, auf welche die andere Entgegensetzung zurückzuführen wäre: Met. I 4, 1055 b26-29. Vgl. Jacobi (wie Anm. 3), S. 28, der zu Recht betont, daß diese Rückführung das Verschwinden der Unterschiede zwischen den verschiedenen Gegensatzarten nicht nach sich zieht. 152 Sum. Th., I, q. 48, a.1, ad 1: Vel dicendum sicut dicit Philosophus in Met. IX, c.6 [1055 a33], quod „prima contrarietas est habitus et privatio“, quia scilicet in omnibus contrariis salvatur, cum semper unum contrariorum est imperfectum respectu alterius, ut nigrum respectu albi, et amarum respectu dulcis. Et pro tanto bonum et malum dicuntur genera non simpliciter, sed contrariorum; quia sicut omnis forma habent rationem boni, ita omnis privatio, inquantum huiusmodi, habet rationem mali. 153 Sum. Th., I, q. 48, a.1 ad 2. 154 Sum. Th., I-II, q. 18, a.8 resp. 155 De potentia, q. 3, a.6 ad 12: dicendum, quod malum in quantum est privatio sola, non ponitur differentia constitutiva habitus vitiosi, sed secundum quod adiungitur intentioni finis indebite, in qua non invenitur ratio mali ex fine intento, nisi in quantum cum hoc fine delectationis carnalis non potest stare debitus finis; sicut cum fine delectationis carnalis non potest stare bonum rationis. Die Ausrichtung auf das unangemessene Ziel ist genau die privatio boni moralis, und das ist der Unterschied, nicht die res mala oder das konkrete Übel. 156 Reportata Parisiensia II, dist. 34, q. u., n. 3: in: Opera omnia, ed. Vivès, Parisiis 1893, t. 23, 170 b. Die klassische Philosophie akzeptierte dies nicht als Gegensatz. Vgl. Philoponos, S. 261 f. des vorliegenden Aufsatzes. 157 Opus Oxoniense II, d. 41, q. u., n. 5: Opera omnia, t. 13, 436 a. 158 Disputationes metaphysicae, disp. 11, sect. 1, n. 21, in: Opera omnia, ed. Carolus Breton, Vivès, Parisiis 1866, t. 25, 361 b. 159 In: Kant, Gesammelten Werke, 1. Abt., 2. Bd. (Akademie-Ausgabe), Reimer, Berlin 1903, S. 165-204, insbes. S. 182 f. 160 GW 1, 2, 171. 161 Zum nihil negativum vgl. Kritik der reinen Vernunft B 348: dieses wird als „ein leerer Gegenstand ohne Begriff“ oder als Gegenstand eines sich 148 149
287 selbst widersprechenden Begriffs definiert. Das nihil negativum ist ein Unmögliches. Offensichtlich klaffen beide Ansichten Kants auseinander, denn die Ruhe als nihil negativum ist nicht gerade ein leerer Gegenstand ohne Begriff (Unmögliches). 162 GW 1, 2, 171. Zum nihil privativum vgl. Kritik der reinen Vernunft B 367, wo das Nichts als ein Begriff vom Mangel eines Gegenstandes definiert wird. Interessanterweise entfällt hier Kants Unterschied zwischen Beraubung und Mangel, weil das Privative stattdessen mit dem Mangelbegriff erläutert wird. Vgl. unten. 163 GW 1, 2, 193. 164 GW 1, 2, 176. 165 GW 1, 2, 177-178. 166 Eigentlich hat er nur Leibniz’ Auffassung im Blick, wonach das Schlechte ein nihil im Sinne des nihil privativum ist: „Le mal est donc comme des tenebres et non seulement l’ignorance, mais encor l’erreur et la malice consistent formellement dans une certaine espece de privation.“ (Essais de Théodicée, in: Die philosophischen Schriften, hrsg. von C.J. Gerhardt, Berlin 1885: Band VI, S. 121). 167 GW 1, 2, 181. 168 Aristoteles weist das Verhältnis groß/klein als Entgegensetzung zurück, weil im Quantitativen einem Quantum mehrere Quanta entgegengesetzt werden können (Met. I 5, 1056 a6-15), und deshalb besteht ein Verstoß gegen das Prinzip: einem kann nur ein anderes entgegengestellt werden (Met. I 4, 1056 a20. Cat. 6, 5 b11 ff.). 169 GW 1, 2, 191.
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Thomas Alexander Szlezák PLATONISCHE DIALEKTIK: DER WEG UND DAS ZIEL1 Die durch ‚Dialektik‘ ermöglichte Erkenntnis der Ideenwelt ist die Voraussetzung der von Platon als Ziel der philosophischen Existenz geforderten ‚Angleichung an Gott‘ (`moívsiw ye!). So klar die grundlegende Bedeutung der Dialektik ist, so deutlich wird auch die Entscheidung Platons, sie dem Bereich der Mündlichkeit vorzubehalten. Eine zusammenfassende Orientierung über Eigenart, Wege und Arten der Dialektik wird im Dialogwerk nur einmal vom Gesprächspartner gefordert und vom Gesprächsführer sogleich abgelehnt (Politeia 532 d-533 a). Gleichwohl erlauben die verstreuten Hinweise der Dialoge, in aller Vorsicht ein Gesamtbild der Dialektik zu entwerfen, was hier in zehn Punkten versucht wird, die u.a. ihre Methodik, ihre Teildisziplinen, ihre Durchführbarkeit und schließlich ihre Selbsttranszendierung in der Ideenschau (yéa) thematisieren.
1. Dialektik als Aufgabe Das Schicksal des Menschen, von dem Sokrates erzählt, daß er, von den Fesseln befreit, aus der Höhle hinaufgestiegen war ans Licht der oberen Welt und dort schließlich der Sonne selbst ansichtig geworden war und sie als Ursache in gewissem Sinne von allem, was er gesehen hatte, erkannt hatte, und der dann freiwillig hinabgestiegen war an seinen Ausgangspunkt, ist im Höhlengleichnis bekanntlich kein anderes als das Schicksal des Sokrates selbst: beim Versuch, ihre Fesseln zu lösen, wird er von den ‚ewigen Gefangenen‘ umgebracht (Politeia 517 a5-7). In einem künftigen idealen Staat hingegen erwartet den Dialektiker, der bis zur Erkenntnis der Idee des Guten als Prinzip von allem aufgestiegen war und gleichwohl wieder ‚herabstieg‘ und die Mühe des Regierens auf sich nahm, eine ganz andere
290 Bestimmung: die Philosophenherrscher wechseln im Tod über auf die Inseln der Seligen, die Stadt aber sorgt für Denkmäler und Opfer, als für daimones, also Wesen zwischen Göttern und Menschen, falls die Pythia dem zustimmt, andernfalls als für glückselige und göttliche Menschen (Politeia 540 b6-c2). Heroisierung und staatlicher Kult ist also das Los des Dialektikers nach seinem Tod. Der Dialektiker ist mithin ein Mensch, der den Bereich des Menschlichen in irgendeinem Sinne verläßt. Er wird auf eine Stufe gehoben, die die menschliche Existenz übersteigt und die ihn in die Nähe des Gottes bringt: er wird daimon. Handelt es sich hier um eine antizipierende Mystifizierung der künftigen, bloß utopischen Figur des Philosophenherrschers? Auch zu Beginn des Dialogs Sophistes, in einer recht ‚realistischen‘, in keiner Weise ‚mystifizierenden‘ Szene, sagt der Mathematiker Theodoros, für ihn seien alle Philosophen ‚göttlich‘ (216 cl). Und Sokrates sagt im Phaidros, wenn er jemanden für einen Dialektiker halte, so folge er seiner Spur wie der eines Gottes (266 b6-7). Die Rechtfertigung solcher Redeweise, die auf uns Heutige definitiv befremdlich wirkt, gibt Sokrates in der Politeia: die Gegenstände, denen der Philosoph sich zuwendet, sind göttlich, der Mensch gleicht sich aber stets dem an, was er bewundernd verfolgt. So wird der Philosoph durch Angleichung an das Göttliche – oder, wie es anderswo auch heißt: durch Angleichung an Gott, `moívsiw ye! (Tht. 176 bl) – selbst nach Möglichkeit ‚göttlich‘ (Politeia 500 b8-d2). Was hier als Tatsache und realer Vorgang hingestellt ist, läßt sich natürlich auch als Aufgabe formulieren. Wir sollen unsere ursprüngliche Natur wiederherstellen, so lesen wir im Timaios, indem wir unsere durcheinandergeratenen Denkbewegungen ausrichten an den harmonischen Umläufen des Alls, wodurch das Erkennende dem Erkannten gleich wird und wir das gottgesetzte Ziel des bestmöglichen menschlichen Lebens erreichen (Tim. 90 b1-d7, bes. d1 ff.; ähnlich Politeia 611 b10-612 a6).
291 Hier begegnen wir dem dynamischen Menschenbild Platons: der Mensch muß sich selbst erst formen (∞autòn pláttein Politeia 500 d6, vgl. 540 b1, 592 b3, Phdr. 252 d7), er definiert sich durch seinen ‚Umgang‘ (`milía 611 e2, vgl. 500 c6, 9). Darin liegt ein starker Appell: wir sollen das Geistige suchen, weil wir so unsere alte, wahre Natur wiederfinden werden. Und so wahr nichts und niemand sein eigentliches Wesen verlieren will, streben wir alle nach Erkenntnis des Intelligiblen und Immerseienden und ‚Göttlichen‘, wozu letztlich Dialektik nötig ist. Der erste Satz der aristotelischen Metaphysik meint nichts anderes: pántew ƒnyrvpoi toû e†dénai •régontai fúsei: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“.
2. Wie wird man Dialektiker? Die Mündlichkeit der Dialektik Wir sollen also Dialektiker werden, weil wir es unserer wahren Natur nach eigentlich schon sind. Und wie werden wir Dialektiker? Für den heutigen Platoniker scheint nichts näher zu liegen als die Antwort: durch Lesen der Dialoge. Denn in den Dialogen ist die Dialektik Platons enthalten – sollte man denken –, und was in einer Schrift aufbewahrt ist, läßt sich dem aufgeschlossenen Leser auch vermitteln im Sinne eines erstmaligen Erweckens genuin philosophischer Einsicht. Ich persönlich hätte gegen diese Auffassung nichts einzuwenden. Platon lesen empfehle ich schon lange allen, und betreibe es selbst leidenschaftlich gerne. Es gibt aber einen, der in beiden Punkten widerspricht, auch wenn er damit selten ernst genommen wird: die Dialektik Platons sei nicht in den Dialogen zu finden, und die Schrift sei prinzipiell nicht geeignet, erstmalig genuine Erkenntnis zu vermitteln. Dieser eine – dieser Quertreiber – ist, wie man weiß, Platon selbst. Drei seiner Äußerungen zu dieser Frage will ich kurz in Erinnerung rufen.
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Im siebten Buch der Politeia verlangt Glaukon von Sokrates eine Darstellung der Art (trópow) des Vermögens der Dialektik, ihrer Gliederung in eÊdh, sowie ihrer ‚Wege‘ (`doí). Die Darstellung soll so sein wie die soeben gegebene Darstellung der propädeutischen mathematischen Studien (532 d6-el). Wenige Interpreten machen sich klar, was das heißt: die mathematischen Studien wurden nur von außen geschildert, ihr Verfahren nur ganz allgemein charakterisiert, die einzelnen Disziplinen nur ganz grob skizziert (Politeia 522 c-531 d) – in keiner Weise stieg Sokrates in die Mathematik selbst ein. Solch eine knappe Skizze ‚von außen‘ wünscht sich Glaukon auch von der Dialektik. Seine Bitte ist also ausgesprochen bescheiden. Aber auch so schlägt sie ihm Sokrates rundweg ab: „Lieber Glaukon, sagte ich, du wirst nicht mehr in der Lage sein zu folgen – denn meinerseits würde es keineswegs an Bereitschaft fehlen“ (533 a1-2). Die Bitte des Glaukon ist, wenn ich nichts übersehen habe, die einzige Stelle in Platons Werk, an der der Leser für einen Augenblick auf eine autoritative Erklärung der Eigenart (trópow) und einen in den Hauptpunkten vollständigen Überblick über die ‚Arten‘ und ‚Wege‘, also wohl die Frageweisen oder Teilgebiete (eÊdh) und die Methoden (`doí) der Dialektik hoffen darf. Keine andere Stelle in irgendeinem Dialog erweckt eine solche Erwartung – abgesehen natürlich von den Dialogen Sophistes und Politikos, die als ganze den Eindruck erwecken, Teil 1 und 2 einer Trilogie zu sein, deren dritter Teil den Titel „Philosophos“ haben wird. Aber dieser Dialog „Philosophos“ existiert nun einmal nicht – Platon hat ihn vermutlich nur im fiktiven dramatischen Kontext, nicht aber realiter geplant –, und in den anderen beiden gibt es keinen Passus, der eine umfassende Beschreibung in Aussicht stellen würde.2 Um so auffälliger und wirkungsvoller ist die Gestaltung der zweifellos wohlkalkulierten Aussparungsstelle im 7. Buch der Politeia: mit dem Gesprächspartner Glaukon
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macht sich auch der Leser eine Erwartung zu eigen, deren glatte Zurückweisung die Lücke umso fühlbarer werden läßt, die die Politeia und das gesamte Schriftwerk Platons hinsichtlich einer detaillierten Vorstellung der Dialektik als des höchsten máyhma läßt. Im Phaidros sagt Sokrates, der Dialektiker werde es so machen wie ein kluger Bauer, der es vermeidet, das Saatgut, an dem ihm gelegen ist und von dem er Ertrag erwartet, ernsthaft in Adonisgärten zu säen, in denen die Pflanzen zwar binnen acht Tagen hübsch aufschießen, aber ertraglos bleiben. Ebenso werde der Dialektiker seine ‚Adonisgärten‘, d.h. seine Schriften, nur spielerisch bepflanzen, während sein Ernst der Ausübung der Kunst der Dialektik vorbehalten bleibt, der im Gleichnis wiederum der seriöse Landbau entspricht (Phdr. 276 bl-e7). Es heißt den Sinn des Gleichnisses verfehlen, wenn man, wie es oft geschieht, die Interpretation einzig auf den Gegensatz ‚spielerisch – ernsthaft‘ ausrichtet. Dann kommt man zu der Auffassung, daß der Dialektiker alles, was er zu sagen hat, in seinen Schriften niederlegt, nur in verspielter oder spielerischer Haltung, während der nicht-philosophische Autor zwar dasselbe tut, aber mit vollem Ernst. Wenn es allein um den Gegensatz ‚Ernst – Spiel‘ ginge, dann wäre das Gleichnis vom Bauern überflüssig, ja sogar störend, denn die beiden Bauern, der kluge und der törichte, tun ja im Gleichnis durchaus nicht dasselbe mit ihrem Saatgut, während der Philosoph und der Nichtphilosoph in dieser Deutung faktisch dasselbe tun – sie veröffentlichen alles –, nur nicht in derselben Haltung.3 Der Gegensatz ‚Spiel – Ernst‘ reicht also nicht. Und in der Tat ist durch die Einführung der Adonisgärten zugleich und zuvor schon ein anderer Gegensatz eingeführt, den der antike Leser unmittelbar verstand, weil er den Ritus der Adonisgärten kannte. Es ist der Gegensatz zwischen dem geringen Teil des Saatgutes, der ins Adonisgärtchen geht, und dem Großteil der
294 Saatkörner, die auf dem Acker ausgebracht werden. Die Option, allen Samen in Adonisgärtchen auszubringen, aber eben spielerisch, gibt es für den klugen Bauern einfach nicht, denn so hätte er im nächsten Sommer keine Ernte, seine Familie müßte verhungern – und er wäre eo ipso nicht der noûn ¡xvn gevrgów, der vernünftige Bauer. Wenn wir das Gleichnis vom Bauern also nicht funktionslos machen wollen, so müssen wir anerkennen, daß Platon damit ebenso auch auf der Seite des Dialektikers die Option ausschließt, alles ‚Saatgut‘, d.h. die Gesamtheit seiner dialektischen Gedankengänge, Analysen und Beweisführungen, der Schrift anzuvertrauen. Ein Teil davon, und zwar der weit größere Teil, kann Ertrag nur dann bringen, wenn er in den richtigen Boden, d.h. in die Seelen geeigneter Hörer, ‚gepflanzt‘ wird, und zwar mit der richtigen Methode, der mündlichen dialektik| téxnh oder ‚Kunst der Unterredung‘. (3) Die dritte Stelle, an die ich erinnern möchte, ist der Schluß des ‚philosophischen Exkurses‘ im 7. Brief. Wer Vernunft hat, wird das wahrhaft Ernsthafte und sein Ernsthaftestes (tà ªntvw spoudaîa, tà spoudaiótata 344 c2/6) nicht in die Schrift geben (344 c1-d2, vgl. 343 a1-4). Wieder der Appell an die Vernunft, wie beim vernünftigen Bauern. Ein anderes Verhalten wäre also denkbar, die fraglichen Inhalte ließen sich mit Sicherheit verschriftlichen und verbreiten. Aus Vernunft, und das heißt ebenso: aus freiem Willen, wird der Dialektiker darauf verzichten. Wozu diese Einschränkungen an den drei genannten Stellen? Einen Teil der Antwort kennen wir schon aus der ersten Stelle: „Du wirst nicht mehr in der Lage sein zu folgen“, sagt Sokrates zu Glaukon. Was dort personalisiert ist, auf ein bestimmtes Individuum zugeschnitten, wird im 7. Brief generalisiert: die Gegenstände von Platons ‚Ernst‘ bringen immense Schwierigkeiten mit sich. Das Schlimmste ist, daß bloße Intelligenz nicht genügt: der Text fordert außerdem eine spezifische ‚Verwandtschaft‘ mit
295 der Sache (344 a2-bl), was – in Übereinstimmung mit dem Katalog der für die Herrscher erforderlichen Tugenden in der Politeia (485 a-487a) – einschließt, daß der künftige Dialektiker sich auch sittlich geläutert hat. Die Gegenstände der Philosophie einerseits und die menschlichen Erkenntnismittel andererseits sind so beschaffen, daß sich philosophische Einsicht nie erzwingen läßt. Wer blockieren will, wer auf sophistische Obstruktion aus ist, wird vor Nichtphilosophen stets siegreich dastehen (343 c5-344 cl). Durch die Schrift, die sich bekanntlich nicht selbst verteidigen kann (Phdr. 275 e), wird der Eindruck der Hilflosigkeit des Dialektikers vor unsachgemäßer Kritik noch verstärkt. Geschriebenes kann die Wahrheit nicht hinreichend lehren (Phdr. 276 c8-9). Daher der Appell, diese Form der Verbreitung für die wichtigsten Themen gar nicht erst zu wählen – ganz abgesehen davon, daß auch die Würde des Gegenstandes eine Profanierung verbietet (Epist. 7, 344 d7-9). Wir Heutige sind, so scheint es, von einem authentischen Zugang zu Platons Dialektik ausgeschlossen. Wir müssen eine andere Zugangsart suchen als die der direkten Belehrung durch das Buch.
3. Wie wurde man Dialektiker zu Platons Zeit? Das philosophische suzên Fragen wir uns daher kurz, wie man Dialektiker wird – oder wurde – nach dem Zeugnis der Dialoge. Sie bieten in dieser Frage ein zweifaches Bild. (1) Zu Lebzeiten des Sokrates kann nur der Umgang mit ihm das Entscheidende gewesen sein. Die unbedingte Entschlossenheit der Personen in den Rahmengesprächen der Dialoge Symposion, Theaitetos und Parmenides, an authentische Berichte über Gespräche mit ihm heranzukommen, zeigt das zur Genüge. Sokrates’ Bereitschaft, seinen Begriff von Dialektik darzulegen, bezeugt er gegenüber
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Glaukon (Politeia 533 a2). Indes ist der ‚längere Weg‘ der Dialektik nicht von der Art, daß er in einem der Dialoge, die stets nur Einzelgespräche darstellen, begangen werden könnte. Darauf weisen die Dialoge selbst immer wieder hin (Politeia 435 c9-d3, 504 bl-dl, 506 d8-e3, Phaidros 246 a4-6, vgl. 274 a2, Tim. 48 c5, vgl. 28 c3-5). Im Theaitetos erwähnt Sokrates auch die Möglichkeit des längeren Umgangs mit ihm. Ein sicherer Weg zur Dialektik war das indes für niemanden, und zwar deswegen, weil über den Erfolg, ja über die Durchführung selbst letztlich ‚der Gott‘ und das Daimonion des Sokrates entschieden (Tht. 150 d4, 8. 151 a2-5). Wir begegnen hier der platonischen Überzeugung – von ‚Sokrates‘ in quasi-biographischer Manier ausgedrückt –, daß das Gelingen des dialektischen Philosophierens weder in der Hand des Adepten liegt, noch in der des Lehrers allein, auch nicht von beider Zusammenwirken garantiert wird, sondern in ganz entscheidendem Maß vom ‚Göttlichen‘ abhängt. Im Idealstaat wird sich wohl niemand auf sein Daimonion berufen, vielmehr werden die Herrschenden ganz gezielt alle Unwürdigen und Ungeeigneten von der ‚genauesten Erziehung‘, d.h. von der Ausbildung in Dialektik, fernhalten (Politeia 503 d7-9). Sokrates versteht das als die unerläßliche Korrektur des heutigen Mißstandes, des nûn perì tò dialégesyai kakòn gignómenon (537 el-2), nämlich daß jeder Beliebige, der mit der Sache nichts zu tun hat, zur Dialektik zugelassen wird (539 d5-6). Der Ausschluß der unreifen Jugendlichen ist die eine Vorsichtsmaßnahme (e[lábeia 539 bl), die andere die strenge Auslese unter den reiferen Anwärtern. Dialektik verlangt sittlich hochstehende und stabile Charaktere (539 d4-5). Der Sinn der Vorsichtsmaßnahmen ist ein doppelter: sie nützen den Kandidaten, indem sie ihnen die charakterliche Entstellung, die die Perversion der Dialektik zur Antilogik und Eristik mit sich bringt, ersparen, und sie heben das gesell-
297 schaftliche Ansehen des Geschäftes des Philosophierens (539 c8-dl). Eine nicht ausgesprochene Konsequenz der Vorsichtsmaßnahmen ist, daß es im Idealstaat keine schriftlichen Darstellungen zu den Kernbereichen der Dialektik geben wird. Denn Bücher können sich überall herumtreiben, das wußte Platon – er sagt es ja im Phaidros (275 el) –, und wenn die Ungeeigneten solche Bücher in die Hand bekämen, drohte der Rückfall in die alten Zustände. Was Platon über Sokrates und über die Verhältnisse im Idealstaat sagt, können wir nicht unmittelbar auf die Lehre in der Akademie übertragen. Falsch wäre es aber auch, so zu tun, als wäre schon bewiesen, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun haben könne. Maßvoller und realistischer als die beiden Extrempositionen scheint mir die Annahme, daß Platon jedenfalls ernsthaft bemüht war, all das von den optimalen Verhältnissen in seiner Akademie zu verwirklichen, was sich erreichen läßt ohne einen Sokrates mit seinem unfehlbaren Daimonion zur Hand zu haben und ohne den Idealstaat gleich selbst zu errichten. Unter dieser Annahme kommen wir zu etwa folgendem Bild vom Dialektik-Studium in der Akademie. 1. Der Dialektiker lehrt labWn cux|n pros}kousan (Phdr. 276 e6), „indem er eine geeignete Seele wählt“. Dialektik war kein Kurs, für den man sich einschreiben konnte. Die Auslese unter den Interessenten und das ständige Testen der Auserlesenen, also die \klog} und das basanízein, von dem in der Politeia so viel geredet wird, hängen nicht vom Vorliegen idealstaatlicher Verhältnisse ab. Ungeeignete ausschließen kann man auch ohne ein Daimonion. Die peîra, die Probe, der der Tyrann Dionysios II. unterzogen wurde, gehörte nach dem 7. Brief zur Methode Platons (340 b4-341 a7). Die Peira ist als Kommunikationsprozeß, der die Sache der Philosophie im Auge behält, durchaus ein Teil der Dialektik. 2. Zu den Kriterien der Auswahl gehörte auch die moralische
298 Verfassung der Interessenten. Ein Chaos im Inneren macht das Philosophieren unmöglich. ‚Verwandtschaft‘ zur intendierten Sache muß bestehen. Intelligenz allein genügt nicht. Wer das verstanden hat, wird sich über esoterische Handhabung der Inhalte nicht mehr wundern: der Autor eines Buches kann schließlich nie wissen, in welchem moralischen Zustand sich die künftigen Leser befinden werden. 3. Dialektik betreiben ist ein Prozeß unter Freunden, der immense Zeit – im idealen Fall ein Leben – in Anspruch nimmt. Der Siebte Brief spricht von viel gemeinsamem Bemühen um die Sache und von philosophischem Zusammenleben (suzên, 341 c7). Daß hierfür mehr noch als der Kreis um Sokrates die pythagoreischen Freundschaftsbünde als Vorbild dienten, ist biographisch sehr wahrscheinlich. Platon schätzte toùw \n Táranti jénouw te kaì ∞taírouw, die Gastfreunde und Gefährten in Tarent um Archytas (7. Brief, 339 e2-3 mit d2). 4. Dialektik als Verständigungsprozeß unter Gleichgesinnten bedarf keiner Bücher. Der scheinbar projektierte Dialog Philosophos wurde nie geschrieben, auch die nur von außen abschildernde Skizze der gesamten Dialektik, die Glaukon verlangt, liegt nirgends schriftlich vor. Aber Dionysios II. muß wohl genau so etwas mündlich vorgetragen bekommen haben, denn von der Peira wird gesagt, man müsse den Aspiranten zeigen, was die ganze Beschäftigung ist, mit welchen Schwierigkeiten verbunden und wie schwierig (340 b7-c1).4 Nach diesem Gespräch schrieb Dionysios ein Buch über das, was er von Platon gehört hatte, während Platon versichert, es gebe keine Schrift (súggramma) von ihm darüber, und es werde auch keine geben (341 b3-5, c4-5). Was sollen wir tun angesichts dieser Erklärung? Wir verstehen jetzt, daß Dialektik ein Prozeß philosophischer Verständigung in langen sunousíai ist. Der Prozeß hat zwar zu tun mit konkreten, schriftlich fixierbaren Inhalten. Diese sollen jedoch,
299 da die schriftliche Fixierung das Einsichtgewinnen als solches niemals mitliefern kann, vom vernünftigen Autor nicht niedergeschrieben werden. Die Gefahr des Mißbrauchs durch verständnislose und böswillige Rezipienten wäre zu groß. Dialektik läßt sich also verschriftlichen ihren Inhalten nach, und zugleich läßt sie sich nicht verschriftlichen ihrem Wesen nach, denn die Seinsweise der Dialektik ist lebendiges Denken, ein Prozeß in der Seele (vgl. Epist. 7, 344 c7-8), der als solcher in die toten Schriftzeichen nicht eingeht. Und das ist der entscheidende Gesichtspunkt für Platon. Er blieb bis zum Schluß bei seiner Weigerung, eine Schrift zu liefern über das, perì @n \gW spoudázv, womit ihm Ernst war.
4. Die verstreuten Hinweise der Dialoge Muß diese Weigerung den Endpunkt unserer Bemühungen um Platons Dialektik bedeuten? Zum Glück nicht. Denn wenn die Schrift auch das philosophisch Entscheidende nicht mitliefern kann, so kann sie doch eines: Informationen aufbewahren, die den Wissenden an etwas erinnern, was er auf andere Weise schon erworben hat – so lesen wir es im Phaidros (øpomn}mata 276 d3, e†dótvn øpómnhsiw 278 a1). Gehen wir also versuchsweise davon aus, daß die Dialoge trotz Platons Mißtrauen gegen die Erkenntnisleistung der Schrift Passagen enthalten, die an seinen Dialektikbegriff ‚erinnern‘ möchten. Eine kleine Schwierigkeit bleibt auch so (ein echt sokratisches smikrón ti): keiner von uns Heutigen kann für sich beanspruchen, ein ‚Wissender‘ (ein e†dQw) zu sein hinsichtlich der genuin platonischen Dialektik, so daß er nur daran erinnert zu werden braucht. Folglich wird es Unsicherheiten geben schon bei der Auswahl der Stellen, die wir in Betracht ziehen wollen. Wir können nur vermuten, daß bestimmte Stellen als Erinnerungshilfen, øpomn}mata, für schon Wissende gedacht sind. Die Verwendung von Schlüsselwörtern wie dialektik| \pist}mh
300 oder = toû dialégesyai dúnamiw ist kein sicherer Leitfaden, einmal weil Platon Wichtiges sagen kann auch ohne eine bestimmte Terminologie zu benützen, sodann weil die Abgrenzung des Relevanten in jedem Fall ein Problem bleibt. Es kommt hinzu, daß der für den Dialektikbegriff so wichtige Dialog Phaidros die Explikation mit der Feststellung beginnt, Sokrates’ Eros-Reden enthielten Beispiele dafür, wie der Dialektiker (der e†dWw to ˙lhyéw) seine Hörer spielerisch in die Irre führen könne – das gehöre zur philosophischen Kunst der Rede (262 c10-d6). Eine Schwierigkeit ganz anderer Art besteht darin, daß, wie erwähnt, keine der Stellen, von denen wir vermuten, daß sie øpomn}mata an Platons Dialektikbegriff sein wollen, den von Glaukon gewünschten summarischen Überblick über das Ganze enthält. Folglich bleibt die Zusammenordnung der verstreut gebotenen Teilaspekte zu einem Ganzen immer die Aufgabe des Interpreten. Ungeachtet dieser Hindernisse und Gefahren sei die Frage gewagt, was wir trotz Platons Weigerung, ein autoritatives Gesamtbild zu geben, von seiner Dialektik wissen können. Ich hoffe unter den folgenden zehn Gesichtspunkten das Wichtigste benennen zu können. (1) Die platonische Dialektik ersetzt eine schon bestehende ältere Disputierkunst. Platon belegt diese mit den Namen ˙ntilogik} und \ristik| téxnh, Widerspruchs- und Streitkunst. Sie wird von intellektuell und moralisch fragwürdigen Typen betrieben, die Platon im Euthydemos sehr ausführlich, zugleich aber auch höchst kurzweilig porträtiert. Sie sind in allem das genaue Gegenbild des Philosophen.5 Die Antilogik wird gerne aufgegriffen von streitlustigen jungen Leuten, auf die sie jedoch eine intellektuell verwirrende und moralisch zersetzende Wirkung hat. Hübsche Karikaturen der Disputiermanie junger Eristiker finden sich im Sophistes (259 cd) und besonders im Philebos (15 e-16 a). Gleichwohl betont Platon nicht allein den Gegensatz zu seiner Dialektik, er weiß
301 auch um die Kontinuität. Im 7. Buch der Politeia wird davor gewarnt, die ‚jetzt‘ üblichen Fehler im Umgang mit den Logoi und mit tò dialégesyai im Idealstaat fortzusetzen (537 e539 d) – das klingt fast so, als wären Antilogik und Dialektik im Grunde dasselbe, nur bedürfe es gewisser Vorsichtsmaßnahmen (s. oben zu e[lábeia 539 bl) gegen möglichen Mißbrauch. Noch mehr betont die Kontinuität der Dialog Parmenides, wo der Vertreter der unzureichenden Dialektik kein fragwürdiger Sophist ist, sondern Zenon von Elea. Dessen älterer Freund Parmenides versichert dem jungen Sokrates, daß die Methode (der trópow) bei seiner dialektischen Übung die gleiche bleibe wie bei Zenon – nur daß die Wendung weg von den Sinnendingen und hin zu den Ideen, die Sokrates in scharfer Kritik an Zenon gefordert hatte (129 al-130 a2), von Parmenides problemlos übernommen wird (135 d7-e4), zweifellos weil sie ihm selbst bereits vertraut ist (vgl. 130 a3-7, 135 b5-c3). Wir haben also dasselbe Verfahren, aber eine andere ontologische Orientierung und damit letztlich einen anderen Gegenstand der Dialektik. Denn während es sehr leicht ist, von einem wahrnehmbaren Einzelding zu zeigen, daß es eines ist und zugleich vieles, und überhaupt alle gegensätzlichen Prädikate gleichzeitig hat, wird das Verhältnis von Einheit und Vielheit in Anwendung auf die Ideen zu einem philosophisch alles entscheidenden Problem (Parm. 129 bl-d6, ähnlich Phil. 14 cl-15 c3). Diese Übertragung zenonischer Frageweisen auf den Bereich des Intelligiblen bedeutet für die alte Dialektik einen qualitativen Sprung, der übrigens mit dem historischen Sokrates nichts zu tun hat, sondern allein Platon verdankt wird. Aristoteles, der sehr wohl wußte, daß Zenon der Urheber der Dialektik alten Stils war, sagt von Sokrates, zu seiner Zeit sei die dialektik| †sxuw noch nicht hinreichend entwickelt gewesen (Met. M 4, 1078 b25 f.), und im Platon-Kapitel des ersten Buchs der Metaphysik sagt er schlicht o¥ gàr próteroi dialektikêw o[ meteîxon, „die Früheren hatten nicht Teil an der Dialektik“ (Met. A 6, 987 b32 f.). (2) Platons Bezeichnung für seine neue Disziplin ist = dia-
302 lektik| méyodow (z.B. Politeia 533 c7), ‚das dialektische Verfahren‘ bzw. ‚das Unterredungsverfahren‘, oder auch = dialektik| téxnh (Phdr. 276 e5 f.), ‚die dialektische Kunst‘ bzw. ‚die Unterredungskunst‘, wobei das Wort téxnh auch wegfallen kann: = dialektik} (ohne Zusatz) heißt die fragliche Bemühung etwa im zusammenfassenden und wertenden Schlußsatz der Ausführungen des Sokrates über die may}mata, in denen die Herrscher im Idealstaat auszubilden sein werden (Politeia 534 e3). Häufig begegnen wir auch der neutralen Bezeichnung = toû dialégesyai dúnamiw, ‚das Vermögen des Sich-Unterredens oder Sich-Unterhaltens‘ (Politeia 511 b7, 532 d8, 537 d5, Phil. 57 e7, Parm. 135 c2). Fragt man aber nach dem epistemologischen Anspruch dieses ‚Vermögens‘, so geben die weiteren Bezeichnungen = dialektik| \pist}mh (Soph. 253 d2-3) und = toû dialégesyai \pist}mh (Politeia 511 c5) Auskunft. Platons ‚Vermögen‘, ‚Verfahren‘ oder ‚Kunst‘ der Unterredung beansprucht also \pist}mh, sicheres Wissen, Wissenschaft zu sein. Sie beansprucht es so emphatisch, daß die bisher für die mathematischen Disziplinen gebrauchte Bezeichnung \pist}mh diesen abgesprochen und durch die bescheideneren Bezeichnungen diánoia und téxnh ersetzt wird (Politeia 533 d4-6). Nur die Ideenerkenntnis schafft \pist}mh in der Seele, nur die dialektik| méyodow führt zur Ideenerkenntnis und zum Prinzip, zur ˙rx} (Pol. 533 c7-8). Ein eigener, wenn auch knapper Nachweis, daß eine \pist}mh nötig ist für die Betrachtung der Kombinierbarkeit der génh oder höchsten dialektischen Begriffe findet sich im Sophistes (253 b8-c5). Der Gast aus Elea bedient sich dabei der Analogie der Wissenschaft der Grammatik: so wie diese die stoixeîa (die letzten, nicht weiter zerlegbaren Bestandteile) der Sprache aufspürt und die Gesetze ihrer Kombinierbarkeit erforscht, so verfährt die Dialektik mit den stoixeîa der gesamten Wirklichkeit. Als der letztlich einzigen Disziplin, die den Namen \pist}mh verdient, kommt der Dialektik der höchste Grad von Genauigkeit (˙kríbeia, vgl. Pol. 504 e2-3) und Klarheit und Evidenz (saf}neia, 511 e3, 533 e4) zu.
303 (3) Das dialektische Verfahren ist umfassend. Das ist der Punkt, der in allen Texten zur Dialektik vielleicht mit der größten Konstanz und Eindringlichkeit betont wird. Weder der Sophist noch sonst irgendein génow, so lesen wir im Sophistes, wird sich jemals rühmen können, der Dihairesis-Methode, die die Begriffe nach Gattung und Art eingrenzt, entkommen zu sein (235 c4-6). Das Ziel dieser umfassenden Methode ist die Definition, daher ist es nur folgerichtig, wenn gesagt wird (Parm. 135 a2-3, dl), daß Definitionen von allen Ideen angestrebt sind. Ohne den Durchgang durch alles – ƒneu têw dià pántvn diejódou – ist es unmöglich, auf die Wahrheit zu treffen und Einsicht zu gewinnen (Parm. 136 el-2). Im Theaitetos wird das Denken des Philosophen charakterisiert als „überall jegliche Natur (oder Beschaffenheit) eines jeden Seienden als eines Ganzen erforschend“, pâsan pánt+ fúsin \reunvménh tôn ªntvn ∞kástou –lou (174 al). Auch die im Philebos geforderte Methode der zahlenmäßig genauen Festlegung aller eÊdh und ihrer Bestimmungen soll ausdrücklich von jedem Einen und Vielen gelten (Phil. 17 d6-7). Nichts anderes meint Sokrates im Phaidros, wenn er sagt, hinsichtlich der Natur eines jeden Dinges, perì `touoûn fúsevw, müsse zuerst die Frage nach ihrer Einheitlichkeit bzw. der Zahl ihrer Teile gestellt werden, dann die nach dem Vermögen und den Eigenschaften der Teile (270 c10-d7). Nichts kann ohne dieses Verfahren kunstgemäß (téxn+) gesagt werden (271 b7-c1), und ein Vorgehen ohne es gliche dem Gang eines Blinden (270 d9-el). Platonische Dialektik will also eine Allwissenschaft sein, die alles erfaßt und von allem die Elemente (stoixeîa) aufsucht (wovon gleich mehr zu sagen sein wird). Gegen eine Wissenschaft dieses Typs wendet Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik ein, daß sie von nichts ausgehen könnte, denn wer eine Wissenschaft erwirbt, kann anderes zuvor schon kennen, nicht aber den Gegenstand dieser Wissenschaft – das wäre hier ‚alles‘, folglich gäbe es keinerlei Vorwissen. Das aber würde jedes Lernen unmöglich machen, denn ob das Lernen durch Beweis,
304 durch Definition oder durch Induktion erfolgt, in jedem Fall macht es Gebrauch von vorhandenen Wissenselementen (Met. A 9, 992 b18-33). Wie Platon darauf geantwortet hätte, macht Aristoteles selbst klar, wenn er gleich anschließend die Anamnesislehre ablehnt (992 b33-993 a2). So weit ist die Intention der Dialektik, schlichtweg alles zu erfassen, nur als Faktum vorgeführt worden. Wir verstehen den Anspruch besser, wenn wir hören, warum Sokrates ein Liebhaber, \rast}w, der ‚Zerlegungen und Zusammenführungen‘, der diairéseiw kaì sunagvgaí, ist: damit er in der Lage sei zu reden und zu denken, ®na o<ów te „ légein te kaì froneîn (Phdr. 266 b3-5). Er fragt also nach der Bedingung der Möglichkeit des Denkens und Sprechens und findet sie in den Grundoperationen des Dihairesisverfahrens. Ebenso erklärt Parmenides in dem nach ihm benannten Dialog die Annahme von Ideen und das Definieren eines jeglichen eÂdow als die Bedingung dafür, daß man das Denken überhaupt auf etwas richten kann (Parm. 135 b5c2). Der Logos entsteht uns durch die gegenseitige Verflechtung der eÊdh, heißt es im Sophistes (259 e5-6). Weil Dialektik sich auf die grundlegenden Bedingungen des Denkens richtet, kann es nichts Denkbares, kein nohtón, geben, das sich ihr entziehen könnte. (4) Nachdem wir nun also gesehen haben, daß platonische Dialektik die verbesserte, ontologisch neu orientierte Disputierkunst Zenons ist, die in dieser neuen Form Wissenschaft, und zwar die umfassende, erkenntnisbegründende Allwissenschaft sein will, fragen wir mit Glaukon (Politeia 532 d8) nach dem trópow, nach der charakteristischen Art dieser Disziplin. Ganz sicher können wir uns des Sinns von Glaukons Frage zwar nicht sein, ich vermute jedoch, daß er mit trópow, Art und Weise, so etwas wie ein Merkmal meint, oder eine Kombination von Merkmalen, die allen dialektischen Gedankenfolgen eignen. Als erstes wird man hier wohl das Vorgehen in Fragen und Antworten nennen dürfen. Der Dialektiker, der bei der Bestimmung der Idee des Guten alle Elenchoi wird durchstehen müssen ohne da-
305 bei zu Fall zu kommen (Politeia 534 b8-c5), muß die Erziehung bekommen, durch die er in höchstem Maß sachverständig wird fragen und antworten können (\rvtân te kaì ˙pokrínesyai \pisthmonéstata, 534 d9). Von Sokrates, dem Urbild des Dialektikers, fühlen sich viele hintergangen, so behauptet Adeimantos einmal (Politeia 487 b2-c4), weil sie meinen, in kleinen Schritten zu einem Ergebnis geführt worden zu sein, das sie nicht wollten – sie meinen das aber di& ˙peirían toû \rvtân kaì ˙pokrínesyai, wegen ihrer Unkenntnis des Fragens und Antwortens, also aus Mangel an dialektischer Schulung. Eng verknüpft mit der Zerlegung des Gedankens in Frage und Antwort ist das zweite, ebenso grundlegende Merkmal der Dialektik, daß sie es stets mit gegensätzlichen Positionen zu tun hat. Es klingt noch vergleichsweise harmlos und unprogrammatisch, wenn Adeimantos, der gewiß kein geschulter Dialektiker ist, sagt „wir müssen auch die entgegengesetzten Argumente durchgehen“ (deî gàr dielyeîn =mâw kaì toûw \nantíouw lógouw, Politeia 362 e2); doch steht die Forderung ganz nahe beim Einstieg in die Haupterörterung der Bücher II-X der Politeia und ist durch ihre Stellung schon als zweifellos programmatisch gemeint erkennbar. Professioneller klingt es allerdings, wenn der alte Parmenides dem Sokrates, der sich soeben als vielversprechender junger Philosoph erwiesen hat, die Mahnung mitgibt, bei der Einübung in die Dialektik, die er noch nötig hat, nicht nur die Folgerungen aus der Annahme der Existenz einer Sache abzuleiten, sondern auch die aus der gegenteiligen Annahme, daß das Betreffende nicht ist (Parm. 135 e8-136 a2). Parmenides’ Rat führt uns auf das dritte wohl durchgehende Merkmal dialektischer Argumentation, nämlich das Ausgehen von Annahmen, øpoyéseiw, aus denen die Folgerungen zu ziehen sind zunächst ohne Festlegung auf ihre Wahrheit. Wenn es etwa um den von Zenon bekämpften Satz geht, daß Vieles ist, so führt er, dialektisch untersucht, zunächst auf zwei Wenn-Sätze: e† pollá \sti, wenn Vieles ist, und e† m} \sti pollá, wenn Vieles nicht ist. Folgerungen lassen sich erst ziehen unter Einbeziehung des
306 implizit mitgegebenen Gegenbegriffs £n: es ist dann zu fragen, was sich unter jeder der zwei Annahmen ergibt für das Viele im Verhältnis zu sich selbst und zum Einen, und ebenso für das Eine im Verhältnis zu sich selbst und zum Vielen (Parm. 136 a4bl). Vier Fragehinsichten also unter jeder Hypothese, zusammen mithin achtmaliges Ansetzen zur dialektischen Diskussion eines schlichten Satzes wie ¡sti pollá. Erst der Durchgang durch all diese Ansätze (die man ebenfalls oft als Hypothesen bezeichnet) würde es erlauben, zur Frage der Wahrheit Stellung zu nehmen – aber nicht der einmalige Durchgang durch diese acht Fragestellungen allein, sondern der wiederholte Durchgang durch diese und verwandte Fragestellungen, wobei jeder der dialektischen Begriffe mit jedem in Beziehung zu setzen wäre (136 bl-c5). Wenn der junge Sokrates hier von einer ˙m}xanow pragmateía, einem ungeheuren Geschäft, spricht (136 c6), so hat er sehr genau verstanden, was Parmenides ihm vorgezeichnet hat – nur dürfen wir Heutige aus dem Wort ˙m}xanow nicht etwa schließen, daß das Ziel unerreichbar wäre. Das ist mit Sicherheit nicht gemeint. (5) Könnte nun jeder die Folgerungen, die sich aus der Existenz oder Nichtexistenz des Einen für dieses selbst und für das Viele ergeben, herleiten und angeben? Dann wäre Dialektik keine téxnh, die in langer Schulung erlernt werden muß. So wie er jetzt ist, könnte es nicht einmal der junge Sokrates im Parmenides durchführen. Parmenides selbst muß die Aufgabe übernehmen. Er weiß, welche Fragen man stellen muß. Er fragt nach dem Teil und dem Ganzen, nach Anfang, Mitte und Ende, nach Ort und Zeit, nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit, Identität und Verschiedenheit, nach Bewegung und Ruhe des Einen (Parm. 137 c-141 e). Parmenides sagt weder, wie er diese Begriffe gewonnen hat, noch warum er diese und nicht andere anwendet, noch rechtfertigt er die Reihenfolge der Befragung. Der Dialektiker verfügt über dieses begriffliche Instrumentarium, mehr zeigen die Dialoge nicht. Auch im Sophistes begegnen wir einem Teil dieser Begriffe, sie werden
307 dort als einige von den größten oder obersten Gattungen bezeichnet (254 c3-4, d4). Fünf solcher mégista génh setzt der Gast aus Elea zueinander in Beziehung: Sein, Ruhe, Bewegung, Verschiedenheit und Selbigkeit. Woher er sie hat und warum er gerade diese fünf hier auswählt, sagt auch er nicht. Immerhin sagt er – im Gegensatz zu Parmenides –, daß er eine Auswahl trifft (proelómenoi tôn megístvn legoménvn <sc. e†dôn> ƒtta 254 c3-4). So daß man vermuten darf, daß er, danach gefragt, auch zum Grund seiner Auswahl und zur Herkunft bzw. methodischen Ermittlung der mégista génh etwas sagen könnte. An keiner Stelle, an der mégista génh, oberste dialektische Begriffe, in den Dialogen auftauchen, scheint Vollständigkeit angestrebt zu sein, bzw. die Frage, ob die Reihe solcher Begriffe überhaupt vollständig sein kann, angeschnitten zu sein. Historisch steht hinter Platons obersten dialektischen Begriffen (außer Zenons Frageweise) die pythagoreische ‚Systoichie‘ oder ‚Zusammenreihung‘ von zehn als ˙rxaí aufgefaßten Gegensatzpaaren, die Aristoteles im ersten Buch der Metaphysik überliefert (Met. A 5, 986 a22-26). Die Zehnzahl, von den Pythagoreern als vollkommene Zahl betrachtet, scheint darauf zu weisen, daß die Zahl der Gegensatzpaare und die Geschlossenheit der Liste bedacht waren, wenn auch vielleicht in für uns wenig überzeugender Weise. Das Ergebnis wirkt, von Platon und Aristoteles her gesehen, etwas heterogen, erscheinen doch neben grundlegenden Gegensätzen wie £n – plêyow, péraw – ƒpeiron auch solche, die nur bestimmten Gegenstandsklassen zuzuordnen sind wie ‚rechts – links‘, ‚männlich – weiblich‘ und ‚quadratisch – rechteckig‘. Ergiebiger für uns sind Angaben des Aristoteles und über Aristoteles. Nach Alexander (In Arist. Met. 250. 1720) hat sich Aristoteles mit den obersten Gegensatzpaaren im 2. Buch von Perì t˙gayoû befaßt, also im Rahmen seiner Darstellung und Kritik der platonischen Prinzipienlehre. Er selbst verweist in der Metaphysik auf seine Schrift &Eklog| tôn \nantívn (1004 a2) bzw. Diaíresiw tôn \nantívn (1054 a30), in der er die Zurückführung (˙nagvg}, 1005 al) aller Gegensätze auf
308 den Gegensatz £n – plêyow als ihr Prinzip dargelegt habe. Das war für ihn ein Kapitel aus der Logik der Gegensätze. In Platons Dialektik hatte derselbe Gegensatz unter dem Namen £n – ˙óristow duáw (diese als Prinzip von Vielheit) zweifellos auch ontologische Bedeutung. Immerhin gehört auch für Aristoteles die Behandlung von Begriffen wie ta[tón – £teron, –moion – ˙nómoion, Êson – ƒnison in die philosophische Grundwissenschaft, die das Seiende als Seiendes, das ºn " ªn, betrachtet (Met. G 2, 1004 a31-1005 a18), denn die dialektischen Grundbegriffe sind t! ªnti " ºn Êdia, bzw. sie sind tà øpárxonta a[t! " ªn (1004 b15 und 1005 a14). Die Liste solcher Begriffe, die Aristoteles im 2. Kapitel von Met. G erwähnt, ist vollständiger als jede Zusammenstellung bei Platon. (6) Mit der ˙nagvg| tôn \nantívn, der Zurückführung der Gegensätze auf einen ersten Gegensatz, die zweifellos schon ein platonisches, nicht erst aristotelisches Anliegen war, sind wir von dem Versuch, den trópow oder die generelle Charakterisierung der Dialektik zu erfassen, vielleicht schon übergewechselt zur Frage der `doí, oder vielleicht auch der eÊdh der höchsten Disziplin. Es empfiehlt sich zwar, von der Annahme auszugehen, daß Glaukons Frage nach dem trópow, den eÊdh und den `doí für Platon einen präzisen dreifachen Sinn hat. Aber da diese Terminologie, so weit ich sehe, sonst nicht wiederkehrt und Sokrates die Frage nicht beantwortet, ist es für uns heute nicht immer ganz einfach zu sagen, wie wir einen gegebenen Zug der Dialektik einordnen sollen: als Grundmerkmal, als spezielle Methode oder als eingrenzbares Forschungsfeld. Konrad Gaiser hat in einem wichtigen Beitrag sechs Methoden der Dialektik aufgezählt: (a) Elenxis (b) Dihairesis und Synagoge, (c) Analysis und Synthesis, (d) Mesotes, (e) Hypothesis, (f) Mimesis.6 Das hypothetische Verfahren berücksichtigte ich oben beim trópow der Dialektik, wobei mir aber bewußt war, daß viele die Einordnung als bloße Methode vorziehen werden. Die Mimesis, von Gaiser verstanden als „Erforschung der Entsprechungen […] zwischen dem einen maßgeblichen Urbild […] und den vielfältigen Nach-
309 bildungen“, ließe sich auch als ein bestimmtes Arbeitsfeld verstehen, ebenso die Mesotes, verstanden als „Feststellung der normativ maßgebenden Mitte zwischen den Abweichungen zum Mehr und Weniger, Zuviel und Zuwenig“. Die drei von Gaiser an der Spitze genannten Methoden lassen sich wirklich am besten in diesem Sinne verstehen. Da ist die Elenxis bzw. der Elenchos, der im Sophistes als größte und entscheidendste Reinigung gepriesen wird (230 d7). Nirgends zeigt sich die religiösmoralische Relevanz der Dialektik so deutlich wie im elenktischen Verfahren. Die Dihairesis und Synagoge ist zweifellos auch nur ein Verfahren unter anderen, auch wenn ihre Vorstellung im Phaidros (265 d-266 c) beim Leser leicht den Eindruck hinterläßt, mit ihr sei das ganze Tun des Dialektikers erfaßt. Auf den gleichen Gedanken könnte man bei Lektüre der vier Aufgaben des Dialektikers (Soph. 253 de) kommen, doch die anschließende Untersuchung der koinvnía (Kombinierbarkeit) der obersten Gattungen (Soph. 254 c ff.), die nicht im katà génh diaireîsyai besteht, kann vor diesem Irrtum bewahren. Das Dihairesis-Verfahren führt zum Aufweis oberster Gattungen, ist also bestimmend für die das Allgemeine suchende oder ‚generalisierende‘ Frageweise, die Aristoteles der Akademie zuschrieb und deren Bedeutung H.J. Krämer wiederholt herausgearbeitet hat, ebenso wie ihr Verhältnis zur komplementären ‚elementarisierenden‘ Fragerichtung, die auf den Aufweis von elementaren Bestandteilen, stoixeîa, aus ist und deren Methode die Analysis und Synthesis von Ganzem und Teilen ist.7 Die drei Methoden des Elenchos, der Dihairesis-und-Synagoge und der Analysisund-Synthesis haben gemeinsam, daß sie auf alles anwendbar sind, aber alles nur unter einem Gesichtspunkt beleuchten. (7) Wenn das Wort eÊdh in Glaukons Frage ‚Arten‘ bedeutet, die ‚Arten‘ aber etwas anderes bezeichnen sollen als die `doí, ‚Wege‘ oder Methoden, so könnten damit Teildisziplinen gemeint sein, d.h. Aufgabenbereiche des Dialektikers, die sich natürlich nach den Gegenstandsbereichen der Wirklichkeit richten würden. Die Dialoge bieten einiges, womit man diese Deutung
310 konkretisieren könnte. Einmal ist daran zu erinnern, daß die Ausbildung der Philosophenherrscher im Idealstaat zwei weit voneinander getrennte Phasen der Beschäftigung mit Dialektik vorsieht, wobei erst die zweite Phase, in die man mit 50 Jahren eintritt, der Betrachtung der Idee des Guten gewidmet ist (Politeia 537 d3-7, 540 a4-b2). Wenn wir die Trennung zweier Stufen der Ausbildung nicht für bare Willkür erklären wollen, so müssen wir sagen, daß Ideenlehre und Prinzipientheorie zwar zwei eng verwandte und sachlich verbundene, aber doch auch klar gegeneinander abgrenzbare Teildisziplinen der einen umfassenden \pist}mh der Dialektik sind. Das ist epistemologisch einleuchtend, wenn doch die Erkenntnisweisen sich nach den Gegenstandsarten richten, wie im Liniengleichnis ausgeführt, und wenn die Ideen o[sía, die Idee des Guten aber \pékeina têw o[síaw dunámei kaì presbeíŸ (509 b9) ist. Die Politeia kennt aber auch die Gegenstandsklasse der mayhmatiká. Deren fachwissenschaftliche Behandlung ist gewiß nicht Dialektik, doch sollen die philosophischen unter den Adepten zu einer súnociw, einer Zusammenschau, der Verwandtschaft der mathematischen Fächer untereinander und mit der Natur des Seienden gebracht werden (Politeia 537 cl-3, vgl. 531 c9-d4; Nomoi 967 e2).8 Es gibt also Strukturähnlichkeiten, die nicht nur die may}mata unter sich zusammenbinden, sondern auch mit der toû ªntow fúsiw insgesamt. Diese zu untersuchen ist natürlich Aufgabe nicht einer speziellen Disziplin, sondern der Dialektik. Denn in der Fähigkeit zur Zusammenschau, so heißt es gerade in diesem Kontext, zeigt sich die dialektische Begabung: ` mèn gàr sunoptikòw dialektików, ` dè m| o· (537 c7). Auf einen weiteren, vielleicht etwas unerwarteten, Teilbereich der Dialektik stoßen wir, wenn wir uns fragen, wie Sokrates in der Politeia und im Phaidros den längeren Weg der Dialektik, der im Dialog selbst nicht begangen werden kann, bestimmt. Im vierten Buch der Politeia ist die genaue Untersuchung der Einheitlichkeit bzw. Mehrteiligkeit der Seele der Inhalt der makrotéra `dów, im sechsten Buch ist es die Bestimmung des tí \stin der
311 Idee des Guten (435 d3, 504 bl-d3). Selbstverständlich liegt kein Widerspruch vor, und auch zu entwicklungsgeschichtlichen Spekulationen, daß Platon seine Ansicht geändert habe, geben die beiden Stellen keinen Anlaß.9 Vielmehr sind beide Themen Gegenstand der Dialektik, die Idee des Guten als der höchste Punkt der intelligiblen Welt, die Seele als ihr unterer Rand. Denn auch die Seele ist ein nohtón, wie in den Nomoi ausdrücklich festgestellt wird (898 d9-e2), und ihre wahre Gestalt zu erfassen wäre nach dem Phaidros Aufgabe einer ‚göttlichen und langen Darlegung‘ (yeíaw kaì makrâw dihg}sevw, 246 a45), also einer dialektischen Untersuchung.10 Diese müßte ‚die Natur des Alls‘ einbeziehen (Phdr. 270 cl-2), wovon uns die Seelentheorie des Timaios einen Vorgeschmack gibt. Mit den Themenbereichen Seele, Zusammenschau der Verwandtschaft der may}mata unter sich und mit der Natur des Seienden, Ideenlehre und Prinzipienlehre haben wir also vier große Arbeitsfelder des Dialektikers identifiziert, die in den Dialogen nicht oder nicht hinreichend behandelt werden, was für zwei dieser Bereiche – Seele und Prinzipien – auch wörtlich ausgesprochen wird. Das ist aber noch nicht alles. Zusätzlich werden eine Reihe von sehr präzisen Fragen formuliert, die für den jeweiligen Kontext strikt relevant sind, von denen aber gleichwohl versichert wird, daß sie hier und jetzt nicht untersucht werden können. Einige dieser Fragen sind den vier Themenbereichen ohne weiteres zuzuordnen, andere lassen die Zuordnung offen, wohl weil sie mehrere Bereiche betreffen. Im Timaios wird die Identität des Demiurgos offen gelassen, weil nicht allen mitteilbar (28 c3-5), ebenso die Bestimmung und die Zahl des Prinzips bzw. der Prinzipien aller Dinge, gleichfalls wegen der Schwierigkeit der Mitteilung in der Art des vorliegenden Dialogs (oder besser: Monologs) (48 c2-6), und drittens hören wir, daß es über den Elementardreiecken als Prinzipien der Körper noch höhere Prinzipien (˙rxáw) gibt, die der Gott kennt und von den Menschen der, der Gott lieb ist (53 d6-7) – anders gesagt: es gibt noch höhere Prinzipien, sie sind auch für
312 den Menschen erkennbar, aber sie werden hier nicht entfaltet. Was ein filósofow eigentlich ist, scheint im Sophistes zwar kurz auf (253 c-e), aber die dringend benötigte genauere Untersuchung und klarere Explikation seines Tuns und Wesens wird auf das übernächste Gespräch – das nie folgen wird, s. oben S. 292 f. – verschoben (254 b3-4: perì mèn toútou kaì táxa \piskecómeya safésteron). Das Thema des höchsten Prinzips wird nicht nur in der Form der Frage nach dem tí \stin des Guten herausgehalten (Politeia 506 e), sondern auch der Frage nach dem a[tò tò ˙kribéw (Pltk. 284 dl-2). Zu einem Prinzip des Schlechten in der Welt wird nur gesagt, daß man es anderswo suchen müsse als bei Gott (Politeia 379 c6-7). Die Ideenzahlen werden nirgends thematisiert, obwohl der ˙riymów in mehreren Texten zur Dialektik eine prominente Rolle spielt (z.B. Soph. 254 e3-4, Tht. 185 dl, Phil. 16 d8, 17 e5, 18 c5, 19 al, Phdr. 270 d6, 273 el). Verschiedentlich tauchen in diesen Texten Fragmente einer Kategorienlehre auf (z.B. Soph. 255 c12-13, Hi. mai. 301 b8, Euphr. 11 a7-8) –, daß es sich wirklich um Bruchstücke und nicht das Ganze handelt, verraten uns erst die vollständigeren Angaben der indirekten Überlieferung.11 Im Charmides schließlich heißt es, es wäre eine Aufgabe für einen großen Mann, von allen Dingen zu klären, ob sie ihr Vermögen (ihre dúnamiw) auf sich selbst richten können oder nicht (169 al5). Daß diese Frage für Seelen- und Ideenlehre und die Logik der mégista génh gleichermaßen von Belang sein könnte, bedarf keiner langen Ausführungen. (8) Ist das Programm der Dialektik nach Platons Überzeugung durchführbar? Ist das hochgesteckte Erkenntnisziel der Dialektik dem Menschen überhaupt erreichbar? Aus dem Geist des postmetaphysischen Denkens des späten 20 Jh.s wird das oft verneint.12 Wir sollten uns jedoch hüten, die Resignation vom Ende des 2300-jährigen metaphysischen Zeitalters unkritisch auf dessen Anfang zu übertragen. Von den vielen Hinweisen der Dialoge, daß ihr Autor das Ziel der Dialektik für erreichbar hielt, seien hier nur einige wenige aufgeführt.
313 Beachten wir als erstes, daß Sokrates die Vorstellung Glaukons, die Dialektik würde schließlich zum Ausruhen vom Weg und zum Ende der Reise (télow têw poreíaw 532 e3) führen, keineswegs zurückweist: nicht hier liegt Glaukons Fehler. Das Höhlengleichnis wäre ein irreführendes, ja sinnloses Gleichnis, wenn der Autor von der Unerreichbarkeit des Ziels überzeugt wäre; denn der Aufsteiger aus der Höhle gelangt ja zu einem vollgültigen Anblick der Sonne, statt oben – wie es jener anderen Interpretation entsprechen würde – eine dichte Wolkendecke vorzufinden, die nie aufreißt und nie zu erkennen gibt, ob es über ihr überhaupt eine Sonne gibt. Im übrigen läßt der Sokrates der Politeia an mehreren Stellen erkennen, daß er die Existenz von wirklichen Dialektikern, die das Ziel der Erkenntnis des Guten erreicht haben, jetzt schon – nicht erst in einem künftigen Idealstaat – für gegeben hält (z.B. 519 d; hierin ähnlich Phdr. 266 b5-cl). Utopisch ist Platons Idealstaat keineswegs in dem Sinn, daß in ihm die Ausübung der Herrschaft auf der Erkenntnis des Guten beruht, diese aber unmöglich ist, folglich auch der Idealstaat unmöglich oder ‚utopisch‘ ist – nein, Platon betont, daß dieser Staat möglich ist (499 d, 502 c, 521 a, 540 d), aber nicht leicht zustande kommt, weil das Zusammentreffen von politischer Macht, die überall ausgeübt wird, und hinreichender Erkenntnis des Guten, die bei wenigen Dialektikern vorliegt – und zwar jetzt schon vorliegt –, extrem unwahrscheinlich ist (was wir dann mit einem modernen Wort irreführend als ‚utopisch‘ bezeichnen). Fügen wir noch hinzu, daß die Mahnung des Parmenides an den jungen Sokrates, sich in Dialektik zu üben und seine Bereitschaft, die ersten Schritte dieser Übung selbst zu leiten (Parm. 135 c-137 b), ein zynischer Hohn auf Sokrates und den Leser wäre, wenn er (und hinter ihm stehend der Autor) überzeugt wäre, daß Dialektik ihr Ziel nimmermehr erreichen kann. Und wie wären die Götter einzuschätzen, die nach dem Philebos die dialektische Theorie den Menschen zum Geschenk machten (16 c5), obwohl sie doch – als Götter – wußten, daß das Geschenk nicht zweckdienlich ist? All das wäre absurd.
314 Aber so sicher es auch ist, daß für Platon die Dialektik ihr Ziel erreicht und der Philosoph die Idee des Guten hinreichend (¥kanôw Politeia 519 d2, vgl. 518 c9-10) erkennt, so wenig dürfen wir vergessen, daß es keine Garantie gibt für das Erreichen des Ziels. Fortschritte machen beim Umgang mit Sokrates nach dem Theaitetos nur die, o<sper ©n ` yeòw pareík+ (150 d4). Sokrates selbst geriet nach dem Philebos (16 b5-7) auf dem Weg der Dialektik in Einsamkeit und Ausweglosigkeit. Der Funke der Erkenntnis springt über nach langem Gebrauch der Erkenntnismittel (Epist. 7, 34 el-344 cl) – wann und bei wem, läßt sich nicht voraussagen. Ein ‚göttlicher‘ Vorgang läßt sich nie vollständig in menschliche Regie nehmen. (9) Dialektik wird, da sie wesentlich lebendiger Prozeß ist, immer wieder mit Metaphern des Weges, des Gehens und Führens bezeichnet. Der Weg des befreiten Höhlenbewohners hinauf zum Licht ist eine ˙nábasiw und ƒnodow, ein Aufstieg (Politeia 517 b4-5, 519 dl, vgl. Symp. 211 c2 \paniénai), die dialektische Erkenntnisbemühung ist die makrotéra `dów bzw. períodow, der längere Weg oder Umweg (435 d3, 504 b2), den Sokrates auch schlicht als dialektik| poreía bezeichnet (532 b4). Bei der Bestimmung der Idee des Guten „geht“ der Philosoph „wie in einer Schlacht durch alle Elenchoi hindurch“, ohne zu Fall zu kommen „marschiert er durch all das“ (∫sper \n máx+ dià pántvn \légxvn diejiQn, […], \n pâsi toútoiw ˙ptôti t! lóg~ diaporeúhtai, 534 cl-3). Verlangt ist vom Dialektiker allgemein ein Durchgang durch alle Frageansätze, die dià pántvn diéjodow te kaì plánh (Parm. 136 e1-2), oder = dià pántvn a[tôn diagvg}, ƒnv kaì kátv metabaínousa \f& £kaston (Epist. 7, 343 el-2) – beide Stellen betonen neben dem Hindurch-gehen bzw. -führen auch die scheinbare Ziellosigkeit einer ‚Irrfahrt‘ bzw. eines Wechselns ‚hinauf und hinunter‘. Doch der Marsch hat ein télow, ein Ende und Ziel, und der Dialektiker gibt nicht auf, bevor er an das Ziel gelangt ist (Politeia 532 a7-b2, Epist. 7, 340 c6). Was folgt auf den Durchgang durch alles, auf die dià pántvn
315 diéjodow? Natürlich die Schau, die yéa. Die beiden Phasen zusammen, den Weg selbst und das schließliche Erschauen des Ziels, benennt Sokrates am Ende des Höhlengleichnisses als t|n ƒnv ˙nábasin kaì yéan tôn ƒnv (517 b4). Die Erkenntnis am Ende des Denkprozesses tritt plötzlich ein, sie leuchtet auf wie ein durch den überspringenden Funken entzündetes Licht (Epist. 7, 341 c7-dl, vgl. 344 b7; \jaífnhw 341 c7 und Symp. 210 e4). Die Plötzlichkeit der Erleuchtung ist sicher ein Hauptgrund – neben der gestuften Initiation, der Schweigepflicht und der Glückserfahrung – für die nachdrückliche Verwendung der Mysterienmetaphorik in den Eros-Dialogen Symposion und Phaidros wie auch in anderen Werken.13 Ist die Schau noch Teil der Dialektik? Sie ist ihr Ziel, aber wegen des qualitativen Sprunges, den das plötzliche Aufleuchten der Einsicht gegenüber dem langwierigen ‚Durchgang durch alles‘ bedeutet, und wegen der Nichterzwingbarkeit des Aufleuchtens, sollte man die Schau vielleicht als das transzendente Ziel der Dialektik verstehen. Die Dialektik wäre dann der diskursive Nachvollzug der Verhältnisse und Beziehungen in der intelligiblen Welt, zu dem das genuin noetische Erfassen der intelligiblen Wesenheiten treten muß, das Platon als eine intellektuelle Anschauung, als ein unmittelbares Sehen, (†deîn, katideîn, yeásasyai), versteht. Um an dieses ihr Ziel zu gelangen, muß Dialektik sich selbst transzendieren, sich qualitativ verwandeln und nóhsiw werden. Das Erschauen erfolgt plötzlich, d.h. ist in der Zeit nicht meßbar und insofern außerhalb der Zeit, und es verschafft dem Erkennenden ein Glücksgefühl – beides kann man der Diskursivität, der diéjodow, nicht nachsagen. (10) Mit dem Glücksgefühl der Schau sind wir nun endlich beim theologischen Aspekt der Dialektik. Eudaimonie ist das Privileg der Götter und des Göttlichen. Wenn bei Menschen antreffbar, muß sie vom Göttlichen gewährt sein. Die Götter sind rein, daher hat Dialektik, die uns zum Göttlichen führt, als erste Voraussetzung die ethische Läuterung des Dialektikers (– ein Gedanke, der für das 19. und 20. Jh. schwer verdaubar war). Die
316 Götter selbst verdanken ihre Göttlichkeit ihrem immerwährenden noetischen Bezug auf die Ideen (Phdr. 249 c6 pròw o<sper yeòw çn yeîów \stin). Die Ideen sind also das eigentlich Göttliche: rein, unwandelbar, immerseiend, von einer Ordnung und Harmonie durchwaltet, die Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit ausschließt. An diesem Bereich muß sich der erkennende Mensch orientieren, ihm muß er versuchen gleich zu werden (Politeia 500 cd, vgl. 611 e, 613 ab). Diese Angleichung an Gott entscheidet über das Schicksal des Menschen schon hier im Leben, ebenso über das Schicksal seiner unsterblichen Seele in der Zeit nach seinem Tod. Die Angleichung an Gott, die nur durch Gerechtigkeit und Philosophie möglich ist, entscheidet also über das, was für den Menschen das Wichtigste überhaupt sein muß. Von daher erklärt sich die in den Texten zur Dialektik fast obligatorische Versicherung, daß es um Großes und das Größte geht, im Vergleich mit dem alle anderen Belange unbedeutend, ja lächerlich sind. Ich zitiere nur Phaidros 274 a2-3: […] makrà = períodow, […] megálvn gàr £neka periitéon. Ist die Angleichung an die unwandelbare Ideenwelt nicht der Verlust des bewegten und lebendigen, des eigentlich menschlichen Seins? Nun, der wahre Mensch ist seine Seele, und von der Seele der denkende Teil. Insofern wird das Menschliche, im Sinne des Diesseitigen und Kreatürlichen, in der Tat negiert in dieser Konzeption, negiert zugunsten eines ‚höheren‘ oder ‚wahrhaft‘ Menschlichen. Dieses ist jedoch nicht leblos, denn die Ideenwelt lebt, cux}, kínhsiw, zv} und noûw kommen ihr zu nach dem Sophistes (248 e6-249 a2). Die Idee denkt sich selbst.14 An diesem höheren Leben teilzuhaben, rechtfertigt für Platon die Absage an alles, was dieser Form von Leben hinderlich werden könnte. Dialektik ist der einzige Weg zur Erkenntnis des höchsten Prinzips, der Idee des Guten (Politeia 533 c7). Erst diese Erkenntnis gibt aller anderen Erkenntnis ihre Klarheit, ihren Wert und Nutzen (505 a, 506 a). Daß wir an solcher Erkenntnis, die das Leben der Götter ausmacht, teilhaben können, kann als Ga-
317 be der Götter zur Rettung der eigentlich verlorenen Menschheit wie durch einen Prometheus aufgefaßt werden (yeôn e†w ˙nyrQpouw dósiw […] diá tinow Promhyévw, Phil. 16 c5-6). Alles Positive des menschlichen Lebens kommt letztlich von hier (vgl. Phil. 16 c2-3). Daß Sokrates einem, den er für einen Dialektiker hält, folgt wie der Spur eines Gottes (Phdr. 266 b6-7), erscheint uns nicht mehr als halb komische rhetorische Hyperbel: der Dialektiker ist zumindest Vertreter des Gottes, insofern er die entscheidende göttliche Gabe weiterzugeben vermag. Wenn wir an der Dialektik teilhaben, werden wir nicht nur gottgefällig reden und handeln (Phdr. 273 e ff.), was für den Menschen schicksalsbestimmend ist, nein, Platon versteigt sich zu einer noch kühneren Verheißung: der Philosoph, der in Nachahmung der Götter stets auf deren Denkobjekte, d.h. die Ideen, gerichtet ist, wird durch stete Initiation in diese vollkommenen Mysterien als einziger wahrhaft vollkommen: teléouw ˙eì teletàw teloúmenow, téleow ªntvw mónow gígnetai (Phdr. 249 c7-8). Zur Vollkommenheit aber gehört die Eudaimonie: so weit sie dem Menschen erreichbar ist, wird sie dem Dialektiker zuteil (277 a3-4). Anmerkungen 1 Vortrag, gehalten am 25.4.2002 als Teil einer Vorlesungsreihe über Platon im Rahmen des Studium Generale der Universität Tübingen. 2 Den Eindruck einer umfassenden Aufzählung machen die vier Erfordernisse an den Dialektiker (Soph. 253 d5-e2). Indes betreffen sie alle das katà génh diaireîsyai (253 dl), was nicht die Gesamtheit der Aufgaben der Dialektik ausmacht. Außerdem verspricht die notorisch dunkle Stelle – zur Interpretation vgl. M. Kranz, Das Wissen des Philosophen, Diss. Tübingen 1986, S. 61 f. – keineswegs eine Explikation der allzu knapp umschriebenen vier Aufgaben im vorliegenden Dialog, vielmehr wäre das mit Sicherheit ein Thema für den nicht geschriebenen Dialog Philosophos, auf den kurz darauf verwiesen wird (254 b3-4). 3 Vgl. hierzu: Th.A. Szlezák, Gilt Platons Schriftkritik auch für die eigenen Dialoge? Zu einer neuen Deutung von Phaidros 278 b8-4, in: Zeitschr. für philos. Forschung 53 (1999), S. 259-267. (Dieser Beitrag ist Teil einer Diskussion über den Sinn der Schriftkritik zwischen Wilfried Kühn und mir, die jetzt in französischer Übersetzung geschlossen abgedruckt ist in der Revue de philosophie ancienne 17/2 (1999), S. 3-62.)
318 Die in der indirekten Überlieferung gut bezeugte Vorlesung „Über das Gute“ kann wie die Peira einen summarischen Überblick über Platons Prinzipienphilosophie geboten haben, jedenfalls in einer kürzeren Fassung für den öffentlichen Vortrag, von der Aristoxenos zu berichten scheint (Harm. elem. II, p. 30 Meibom = Test. Plat. 7 Gaiser). Simplikios spricht freilich von Nachschriften der Vorlesung durch Speusippos, Xenokrates, Aristoteles, Herakleides und Hestiaios (In Arist. Phys. 151. 8-10 und 453. 28-30 Diels = Test. Plat. 8 und 23 B Gaiser). Diese Fassungen müssen über einen knappen Überblick wesentlich hinausgegangen sein (insbesondere die des Aristoteles, die nach Diogenes Laertios 5. 22 drei Bücher umfaßte); sie werden den nichtöffentlichen sunousíai Platons in der Akademie entsprochen haben. 5 Daß sich das Bild der Eristiker im Euthydemos und das Bild des Philosophen im Phaidros in allen Details exakt entsprechen wie das Negativ und das Positiv derselben Fotografie, habe ich im einzelnen nachgewiesen. Vgl. Sokrates’ Spott über Geheimhaltung. Zum Bild des filósofow in Platons Euthydemos, in: Antike und Abendland 26 (1980), S. 75-89; vgl. auch Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/New York 1985, S. 4965. Diese spiegelbildlich genaue Entsprechung des negativen Eristikerbildes mit dem positiven Philosophenbild machte dann Th.H. Chance zum Grundgedanken seines Euthydemus-Buches (Plato’s Euthydemus. Analysis of What Is and Is Not Philosophy, Berkeley 1992). 6 Konrad Gaiser, Platonische Dialektik – damals und heute, in: Antikes Denken – Moderne Schule, hrsg. von H.W. Schmidt/P. Wülfing, (Gymnasium Beiheft 9) 1987, S. 77-107, hier: S. 99 (jetzt auch in: Konrad Gaiser, Gesammelte Schriften, hrsg. von Th.A. Szlezák und K.-H. Stanzel, Sankt Augustin 2004, S. 177- 203). 7 H.J. Krämer, Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon (1966), Nachdruck in: Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons, hrsg. v. J. Wippern, Darmstadt 1972 (Wiss. Buchges.), S. 394-448, darin S. 406-432 zum Verhältnis der beiden Frageweisen zueinander. Ausgehend von Aristoteles, der in der Metaphysik mehrfach die Identität des Einen mit dem Guten für Platon bezeugt, geht Krämer der Frage nach, wie eine platonische Definition des Guten gelautet haben könnte. (Krämers umfang- und materialreiche Abhandlung wurde in italienischer Sprache als separates Buch publiziert: Dialettica e difinizione del Bene in Platone, Milano 1989). 8 Vgl. hierzu K. Gaiser, Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften, in: Antike und Abendland 32 (1986), S. 89-124 (jetzt auch in: Konrad Gaiser, Gesammelte Schriften (s.oben Anm. 6), S. 137-176). 9 Vgl. auch Th.A. Szlezák, Die Idee des Guten in Platons Politeia. Beobachtungen zu den mittleren Büchern, Sankt Augustin 2003, S. 72 f. 10 Daß diese ‚lange Darlegung‘ nicht schon deswegen, weil sie ‚göttlich‘ genannt wird, dem menschlichen Forschen unerreichbar sein muß, versuchte ich – gegen die communis opinio der Interpreten – aus Platons Auffassung der ‚göttlichen‘ Philosophie heraus zu zeigen in meinem Beitrag: ‚Menschliche‘ und ‚göttliche‘ Darlegung. Zum ‚theologischen‘ Aspekt des Redens 4
319 und Schreibens bei Platon, in: Geschichte – Tradition – Reflexion (FS Martin Hengel), hrsg. v. H. Cancik u.a., Tübingen 1996, Band I, S. 251-263. 11 Test. Plat. 31 Gaiser (= Simpl., In Arist. Phys. 247. 30 ff. Diels), Test. Plat. 32 § 263 Gaiser (= Sextus Emp., Adv. math. X, 263). 12 Der Versuch von Rafael Ferber (Die Unwissenheit des Philosophen oder Warum hat Plato die ‚ungeschriebene Lehre‘ nicht geschrieben?, Sankt Augustin 1991), die Unerreichbarkeit des Ziels als Platons Meinung zu erweisen und die Mündlichkeit der ungeschriebenen Lehre dadurch zu erklären, daß die Prinzipienlehre auf der Stufe der bloßen Meinung, dója, steckengeblieben sei, da ihr Urheber sie ja ruhig hätte niederschreiben können, wenn sie den Status wirklicher \pist}mh, Wissenschaft erreicht hätte, beruht einmal auf einem vollständigen Mißverständnis der Grundgedanken der Schriftkritik und zweitens, in der Interpretation der anderen Texte, auf falscher Methodik und unzureichender Berücksichtigung der Quellen, wozu zu allem Überfluß auch noch sprachliche Mißverständnisse kommen; vgl. meine Rezension in: Gnomon 69 (1997), S. 404-411 (jetzt auch, mit kleinen Zusätzen, in: Die Idee des Guten in Platons Politeia (s.oben Anm. 9), S. 133146). 13 Symp. 210 al ff.; Phdr. 249 c ff.; Gorg. 497 c, Men. 76 e, Politeia 490 b; vgl. dazu die jeweiligen Interpretationen in Th.A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie (s. oben Anm. 5), ferner auch Chr. Riedweg, Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin/New York 1987; Christine Schefer, Platon und Apollon. Vom Logos zurück zum Mythos, Sankt Augustin 1996; S. Lavecchia, Philosophie und Initiationserlebnis in Platons Politeia, Perspektiven der Philosophie 27 (2001), S. 51-75. 14 So jetzt W. Schwabe, Der Geistcharakter des „überhimmlischen Raumes“. Zur Korrektur der herrschenden Auffassung von Phaidros 247 C- E, in: Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer, hrsg. v. Th.A. Szlezák, Hildesheim 2001 (Spudasmata 82), S. 181331.
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Salvatore Lavecchia DIE `moívsiw ye! IN PLATONS PHILOSOPHIE*
Dieser Beitrag zeigt, daß die Idee der „Angleichung an Gott“ (`moívsiw ye!) als der Kern von Platons Philosophie betrachtet werden kann. Den Ausgangspunkt bildet eine skizzenhafte Erörterung des platonischen Philosophiebegriffs. Daran anschließend wird die Verwurzelung der `moívsiw ye! in Platons Theologie hervorgehoben. Die Behandlung ihrer dem platonischen Denken immanenten Voraussetzungen wie ihres konkreten Inhalts führt schließlich im letzten Teil der Arbeit zu der Frage nach der Rolle der `moívsiw ye! in den verschiedenen Dimensionen der platonischen Philosophie. So ergibt sich ein einheitliches Bild von Platons Philosophieren, in dem alle Bestandteile vom Begriff der „Angleichung an Gott“ zusammengehalten und getragen werden. ` mèn gàr Kleiníeiow o˚tow ƒllote ƒllvn \stì; lógvn, = dè filosofía ˙eì tôn a[tôn (Plat., Gorg. 482 a6-b1)
An einigen Stellen der platonischen Dialoge treten als Ziel des philosophischen Strebens die Transzendierung des Menschlichen durch die Imitation des Göttlichen bzw. die Angleichung an Gott (`moívsiw ye!) und die daraus resultierende Befreiung von den Übeln der menschlichen Kondition hervor. Der Philosoph strebt darnach, ständig sein Denken auf das Göttliche zu konzentrieren (Resp. 500 b8-c5; Phdr. 249 c4-d3; Tim. 47 d6c4; 90 b6-d7) und sein Handeln nach dem göttlichen Urbild (parádeigma Theaet. 176 e3-4) des Guten und der Gerechtigkeit zu gestalten (Phdr. 252 e1-253 a; Resp. 613 a7-b1; Theaet. 176 a5-b2, c1-4, e3-177 a8; Leg. 716 c-d3, 792 d1-5); sein ganzes Leben und Wesen sollen zu einer Widerspiegelung der göttli-
322 chen Archetypen des Seins werden (Resp. 500 b8-c5). Dadurch erlangt der Philosoph die `moívsiw ye! (Theaet. 176 b1-2, b8c2; vgl. Resp. 613 c7-d1; Leg. 716 d1-2), wird in ein göttliches Wesen verwandelt (Resp. 500 c9-d1) und gewinnt Anteil an der Unsterblichkeit (Symp. 212 a5-7; Tim. 90 c1-4). Dank diesem Prozeß der Vergöttlichung erreicht der Mensch nach dem Tod die Vollendung des eigenen Schicksals bzw. die e[daimonía, die in der Befreiung von jeder Beziehung zur sinnlichen Welt und im Leben zusammen mit den Göttern besteht (z.B. Phaedo 69 c3-7; 81 a4-10; 82 b10-c1; Phdr. 250 b5-c6; Resp. 540 b6-c2; Tim. 90 b6-c6). Das gerade skizzierte Bild setzt die kohärente Idee einer durch Denken und Handeln erreichbaren Angleichung an Gott (`moívsiw ye!) voraus. Ziel dieser Arbeit ist die Explikation dieser Idee, die Darstellung ihrer Voraussetzungen und Implikationen, die Betonung ihrer zentralen Funktion in Platons Philosophie.1
I. Die theozentrische Orientierung der platonischen filosofía2 Zentrum und Wesen der wahrhaften Philosophie liegen für Platon in der Beziehung zum Göttlichen.3 Diese theozentrische Grundorientierung des filosofeîn konstituiert den Kern der Platons Denken zugrundeliegenden sokratischen Erbschaft: In der Apologie wird das Philosophieren als Gottesdienst bzw. als gottgewollte Tätigkeit dargestellt.4 Nach dem Sokrates der Apologie erstrebt Philosophie die Erkenntnis der Wahrheit und dessen, was den Menschen zur Tugend5 bzw. zum Guten und zur e[daimonía führt;6 diese Erkenntnis kann jedoch nicht durch ein menschliches, sondern nur durch ein göttliches Wissen erreicht werden;7 so setzt deren Erlangung eine radikale Umorientierung des Lebens voraus, das von der engen Beziehung zur Sinnlichkeit befreit und auf die Pflege der Seele konzentriert werden
323 muß, damit die Seele möglichst gut werden kann.8 Das von jedem materiellen Bedürfnis gereinigte Leben wird somit das erste vom Philosophen anzustrebende Ziel. Dieses von Sokrates verkörperte Ziel liegt jenseits des Menschlichen: Das Leben des Philosophen bzw. desjenigen, der, unter Vernachlässigung der eigenen materiellen Interessen, ständig die Tugend erstrebt und die anderen Menschen zur Tugend ermahnt, kann nur durch göttliche Hilfe durchgeführt werden. Dieses wahrhaft freie Leben transzendiert das Menschliche (o[ gàr ˙nyrvpín~ ¡oike Apol. 31 a9-b1!9) bzw. führt den Menschen zur Gottähnlichkeit.10 Die Transzendierung des ˙nyrQpinon und die damit verbundene `moívsiw ye!, die in anderen Kontexten explizit als Substanz der platonischen Philosophie hervortreten, sind in der Apologie nur implizit präsent. Dem Sokrates der Apologie liegt jede explizite Formulierung fern. Er bestreitet sogar, irgendeine die kat& ƒnyrvpon sofía transzendierende Gewißheit zu besitzen (20 c2-3, d2-9, e2). Vielleicht liegt gerade in dieser Haltung das echteste sokratische Element der Apologie: Sokrates’ Aufgabe besteht lediglich im Hindeuten auf einen Horizont; dessen Implikationen müssen nicht von Sokrates, sondern vom Individuum beleuchtet werden, den das sokratische filosofeîn auf den Weg ihrer Entdeckung geführt hat. Diese Implikationen werden im Phaidon expliziert, wo Platon gerade durch Sokrates’ Mund eine dramatisch wirkungsvolle Darlegung der filosofía als Streben nach der Vergöttlichung anbietet.11 Im Phaidon wird die Erkenntnis der Wahrheit, Ziel der Philosophie (65 e2; 66 d7; 67 b1-2; 84 a8-9; 99 e6), explizit mit der Erkenntnis des Göttlichen identifiziert (84 a8-912). Diese Erkenntnis kann nur durch die frónhsiw bzw. durch ein von jedem sinnlichen Einfluß gereinigtes Denken erlangt werden. Die frónhsiw leitet den Menschen zum sonst vom Körper betrübten Bewußtsein des eigenen göttlichen Bestandteils. Dieses Bewußtsein führt die Seele zur Selbsterkenntnis und befähigt sie, eine direkte Beziehung zum Göttlichen bzw. zur mit ihrem Wesen
324 verwandten Wirklichkeit zu erlangen (79 d1-713). Die Seele ist in ihrem Wesen göttlich; ihre wahre Natur liegt in einer der Menschlichkeit entgegengesetzten Sphäre.14 Um dieser Natur wieder bewußt zu werden, muß sich der Mensch zur Philosophie hinwenden, die ihn von jedem Einfluß der Sinnlichkeit reinigt15 und zum Liebhaber der frónhsiw macht.16 Mittels der durch die frónhsiw erlangten wahren Erkenntnis erreicht der Philosoph die wahre Tugend (vgl. 69 a6-c3), die nie als vom Bewußtsein des Wahren getrennt betrachtet werden darf. Dieses bewußte Handeln nach der Tugend, die ˙ret| metà fron}sevw (69 b34), reinigt das im Menschen verkörperte Subjekt von jeder Wirklichkeit, die es vom Göttlichen trennt (69 c2-d3), und schenkt ihm dadurch seine wahre, die Menschlichkeit transzendierende Identität wieder. So wird der Mensch dank der Philosophie zu einem gottähnlichen Wesen, das nach dem Tod seine Menschlichkeit ablegen und als Glied des génow yeôn (82 b10-c1) das Leben zusammen mit den Göttern erlangen kann (metà yeôn o†k}sei 69 c7). Seine Seele wird somit die mit ihrem Wesen verwandte Seinssphäre wieder bewohnen und sich von den Übeln der menschlichen Kondition befreien (81 a4-817), qw ˙lhyôw tòn loipòn xrónon metà yeôn diágousa (81 a9-10). Auch im Symposion und im Phaidros wird die Wiedervereinigung des Menschen mit seiner göttlichen Natur als télow der Philosophie betrachtet. Im Symposion wird die filosofía als die Liebe (¡rvw) dargestellt, die im Sterblichen die Offenbarung des Unsterblichen sucht.18 Das Ziel des Philosophen besteht darin, den Aufstieg zu vollziehen, der, ausgehend von der Erscheinung des Schönen an sich im Sinnlichen, durch die verschiedenen Stufen seiner Offenbarung zur direkten Begegnung mit dem höchsten Schönen leitet (211 c1-319). Der Philosoph erstrebt die unmittelbare Schau dieses höchsten Schönen (211 c8-d1, e3-4) und das Zusammenleben mit ihm (yevménou kaì sunóntow a[t! 212 a2). Die Erlangung dieses Zieles macht den Menschen gottgeliebt (yeofil}w 212 a6), denn sie führt zur wahren Tugend. Im höchsten Schönen schaut der Philosoph den Urgrund
325 jeder Tugend bzw. das höchste Gute.20 So kann er, wie ein göttliches Wesen, die wahre ˙ret} erzeugen21 und dadurch wahrhaft unsterblich werden (212 a2-722). Der unter Leitung des filósofow ¡rvw vollzogene Aufstieg zum Schönen führt den Menschen zu einer vergöttlichenden Verwandlung: Indem er das höchste Schöne berührt (\faptomén~ Symp. 212 a4, 5) und mit ihm zusammenlebt (212 a2), wird der Mensch von seinem die sterbliche Natur und das Menschliche völlig transzendierenden Wesen (211 e2-3) durchdrungen und radikal umgewandelt. So kann er den von jeder Liebe mehr oder weniger bewußt angestrebten göttlichen Zustand erlangen, der in der permanenten Beziehung zum Guten besteht (vgl. Symp. 204 e1-7; 205 d2-3; 205 d10-206 a13). Wahrhaft unsterblich bzw. gottähnlich kann nur derjenige werden, der den eigenen ¡rvw, das eigene Streben nach dem Schönen von jedem sterblichen Faktor, genauer gesagt von jeder Spur der Menschlichkeit, reinigen kann.23 Diese vergöttlichende Katharsis kann nur unter Leitung der Philosophie stattfinden. Im Phaidros tritt die filosofía als die Kraft hervor, die das Denken auf die Wirklichkeiten konzentriert, die die Götter göttlich machen (Phdr. 249 c4-6 pròw … \keínoiw … pròw o<sper yeòw çn yeîów \stin). Durch die konstante Gottbezogenheit seines Denkens erhebt sich der Philosoph zur höchsten Erfahrung des Göttlichen, die als die vollkommenste unter den Einweihungen bezeichnet wird (249 c6-d3).24 Diese Erfahrung verwandelt und vergöttlicht den Menschen; durch sie wird die Ganzheit und Vollkommenheit seines Wesens wiederhergestellt. Somit erreicht der Mensch durch dieses von der Philosophie getragene Initiationserlebnis das seiner wahren Natur entsprechende Ziel bzw. wird téleow (teléouw ˙eì teletàw teloúmenow, téleow ªntvw mónow gígnetai 249 c7-8). Mithin erweist sich Philosophie als die einzige Kraft, die den Menschen zum vollkommenen Bewußtsein seiner wahren, göttlichen Natur zurückführen kann. Ausgehend von diesem Bewußtsein kann die im Menschen verkörperte Seele nach dem Tod wieder Flügel bekommen
326 und sich zur mit ihr wesensverwandten göttlichen Welt erheben (249 c4-8). In diesem Prozeß der Wiederkehr zum Göttlichen spielt der ¡rvw filósofow eine entscheidende Rolle. Die von der Philosophie inspirierte Liebe wendet den Menschen zur Imitation des Gottes hin, zu dessen Gefolge seine Seele vor der Inkarnation gehörte. Der Philosoph wählt immer einen Geliebten, dessen Wesen das göttliche Vorbild seiner Seele verkörpert, und erstrebt ständig die Angleichung an dieses Vorbild. Dadurch erreicht seine Seele wieder das Bewußtsein ihres göttlichen Wesens und, indem sie sich einem Gott angleicht, wird sie fähig, das ihrer Natur entsprechende göttliche Leben wieder zu erlangen (vgl. 252 d-253 c6; vgl. 256 a7-b7). In der Politeia wird das Gottähnlich (–moiow ye!)- bzw. Göttlich(yeîow)werden explizit als télow des philosophischen Erkenntniswegs betrachtet.25 Die Liebe zum wahren Wissen (Resp. 475 b8-9; 480 a11-12; 485 a10-b3) führt den Philosophen zur Durchdringung mit dem göttlichen Gegenstand des eigenen Strebens. Dieses durch den göttlichen Bestandteil der Seele erreichbare Erlebnis des Göttlichen erzeugt Einsicht und Wahrheit und verwandelt das Leben des Menschen in ein wahrhaftes bzw. seiner wahren Natur angemessenes Leben (490 b2-826). Der Philosoph will sich aus der Sphäre des Menschlichen emanzipieren; deswegen wendet er beharrlich das eigene Denken und Handeln zur göttlichen Welt: Nach der sie durchdringenden Gerechtigkeit will er das eigene Dasein nachbilden; er will dem göttlichen Urbild jeder Gerechtigkeit gleich werden (500 b8c527). Diese permanente und direkte Beziehung zum Göttlichen führt den Menschen zur Vergöttlichung (500 c9-d128): Inspiriert von der göttlichen Gerechtigkeit handelt der Philosoph wie ein Gott bzw. wird durch das gerechte Handeln –moiow ye! (613 a7-b129). Die Idee der Angleichung an Gott durch die Nachahmung der göttlichen Gerechtigkeit wird im Theaitetos am prägnantesten formuliert. Der nur in diesem Dialog vorkommende Ausdruck `moívsiw ye! (Theaet. 176 b1), wahrscheinlich eine platonische
327 Neubildung, faßt in sich das télow des von der Philosophie getragenen Lebens. Der Philosoph lebt völlig auf die himmlischen Wirklichkeiten konzentriert (173 e3-174 a1) und sieht in der `moívsiw ye! die einzige Möglichkeit, sich von den Übeln der menschlichen Kondition zu befreien. Die Befreiung vom Bösen setzt die geistige Flucht von der sinnlichen und die konstante Hinwendung zur göttlichen Welt voraus (\nyénde \keîse feúgein … fug} 176 a9)30: Die Götter sind frei vom Bösen, weil sie von der Gerechtigkeit durchdrungen leben; folglich muß der Mensch stets nach Gerechtigkeit handeln bzw. gottähnlich werden, wenn er sich vom Bösen befreien will (Theaet. 176 a5-b231, b8-c232). So darf als sofów nur derjenige betrachtet werden, der die Angleichung an das göttliche Urbild der Gerechtigkeit (176 e3-4) bzw. die `moívsiw ye! unablässig anstrebt (176 c2-d7): Nach dem Tod wird er im tôn kakôn kayaròw tópow aufgenommen (177 a5) und lebt glücklich in der von den Göttern bewohnten Welt. Die ethische Dimension der `moívsiw ye! tritt in den Nomoi wieder sehr stark hervor. Dort wird der Gerechte als derjenige dargestellt, der sich durch das eigene Handeln Gott angleicht. Wahrhaft díkaiow ist nur derjenige, der in der Gottheit den absoluten Maßstab (métron) der eigenen Ethik sieht (716 c-d433) und stets versucht, die richtige Mitte zu erreichen, zu dem die göttlichen Wesen permanent hingewandt sind (792 d1-534). Demnach können Tugend und Gerechtigkeit nur erlangt werden, wenn das Individuum die eigenen Handlungen von jedem menschlichen Maßstab emanzipiert bzw. in ihnen die `moívsiw ye! anstrebt. Um die `moívsiw ye! zu erreichen muß der Mensch das gerechte Handeln ständig mit einer theozentrischen Gedankenorientierung begleiten. Wie im Phaidros und in der Politeia wird diese Notwendigkeit auch im Timaios, wenn auch von anderen Prämissen ausgehend, stark hervorgehoben.35 Im Timaios wird die filosofía als Impuls dargestellt, der zur Betrachtung der göttlichen Rhythmen im Weltall führt (47 a-b2). Philosophie ist für die Menschen das größte gottgeschenkte Gute (47 b1-236):
328 Sie wendet die Gedanken zum Göttlichen im Kosmos hin und erhebt dadurch den Menschen von der sinnlichen zur göttlichen Welt. Das Denken über das Ewige im Weltall reinigt den Menschen von den seinen göttlichen Bestandteil bzw. den noûw betrübenden Einflüssen der Sinnlichkeit (90 a5-7). Wer unter Leitung des sinnlichkeitsfreien noûw seine Gedanken durch ständige Übung auf die Wahrheit und auf ˙yánata kaì yeîa konzentriert, der wird, wenn er die Wahrheit berührt, an der Unsterblichkeit der Gedankenobjekte teilnehmen, selbst göttlich werden (90 b6-c637) und somit das gottgewollte Ziel des menschlichen Lebens erlangen (90 c7-d7). Die Transzendierung des Menschlichen bzw. die `moívsiw ye! erweist sich als das sinntragende télow, dem sich die ethische sowie die erkenntnismäßige Dimension des platonischen Philosophiebegriffs zuwenden. Der Philosoph erstrebt die Erkenntnis der Wahrheit und des mit ihr verbundenen Urgrunds der Tugend. Die Gegenstände dieses Strebens gehören aber nicht zu einem vom ˙nyrQpinon erreichbaren Bereich, sondern zur Sphäre des Göttlichen. Um zu ihnen zu gelangen, muß sich der Mensch wieder des göttlichen Teils seines Wesens bewußt werden. Die Wiederherstellung dieses Bewußtseins ist das erste Ziel der Philosophie, das durch eine konstante Gottbezogenheit des Denkens und des Handelns erreicht wird. So kehrt der Mensch durch das Wirken der Philosophie die Perspektive des eigenen Lebens um bzw. erfährt eine radikale Wendung der eigenen Orientierung, die ihn vom Hades der menschlichen Welt zum Licht des Göttlichen erhebt (Resp. 521 c2-838). Dieser Wendung folgt eine Umwandlung seines Daseins, die ihn von allem Gottfremden reinigt und zur Gottähnlichkeit bzw. zur `moívsiw ye! führt.
329 II. Zu Platons Gottesbegriff Die Betrachtung des platonischen Gottesbegriffes zeigt, wie Platons Theologie und die Idee der `moívsiw ye! eng miteinander verwoben sind.39 Das Hauptmerkmal der platonischen yeología40 ist ihre ethische Prägung. Die göttliche Welt ist von Tugend und Gerechtigkeit durchdrungen (Resp. 500 c2-5); die Götter sind in ihrem Wesen gut (Resp. 379 b1; vgl. Prot. 344 b7-c3) und handeln nur nach dem Guten und dem Gerechten (Resp. 352 a10-b2, 380 b1, 613 a7-b3; Theaet. 176 b8-c1; Leg. 716 d1-3, 906 a8-b2); so gewinnen sie vollen Anteil am Guten und an der Tugend (Leg. 899 b6-7, 900 d5-e8, 901 e1-2), sonst wären sie keine Götter (Symp. 202 d5). Die sie durchdringende Güte entspringt ihrer direkten Beziehung zur Wahrheit (Resp. 382 a-e; vgl. Crat. 408 c5-7; Phdr. 247 c3-248 a1), denn Wahrheit stellt die Uroffenbarung des höchsten Guten dar (Resp. 508 e1-3). Kraft dieser Beziehung sind die Götter sofoí (Symp. 204 a1-2; Phdr. 246 e1, 278 d3-4; Leg. 900 c7, 901 d2-3, 902 e7-8), weil sie jede Wirklichkeit in ihrer Wahrheit bzw. in ihrem Wesen erkennen. Die sofía wird ihnen durch den noûw vermittelt, an dem ihr ganzes Wesen teilhat (Phdr. 247 d1-4; Tim. 51 e5-6). Nur der noûw kann mit der Wahrheit (Phdr. 247 c6-8) bzw. mit dem Guten verbinden, das sich im Wesen aller Dinge offenbart. Die Götter sind deswegen gut, weil sie vom noûw geführt werden bzw. weil ihr Leben von seiner Tätigkeit, von der frónhsiw, durchdrungen ist (Phdr. 247 d1-e3). Das Wirken von noûw und frónhsiw erzeugt immer das Schöne und das Lobenswerte (Crat. 416 c10d10). Die Götter sind göttlich, weil sie immer den Urgründen des Seins zugewandt sind (Phdr. 249 c6). Ihr Leben ist von den höchsten Ideen durchdrungen (Phdr. 247 d5-e3), deren wesensmäßige Prädikate die Götter in ihrem eigenen Wesen aufnehmen. Die Götter sind kaloí, sofoí und ˙gayoí wie die höchsten Ideen, die die überhimmlische Welt bewohnen (Phdr. 246 d8-
330 e1). Schließlich sind auch die Ideen Götter (die ˙fidioi yeoí von Tim. 37 c6; vgl. die den Ideen in Soph. 248 e7-249 d4 zugeschriebenen Attribute), genau wie jeder Gott mit der eigenen †déa identisch ist (Resp. 380 d5-6, 381 c7-9). In der platonischen Theologie ist jeder Gott eine †déa, und jede †déa ist ein Gott, wenn auch die †déai der vom Demiurg geschaffenen Götter ontologisch niedriger sind, als die überhimmlischen Ideen.41 Somit scheint in Platons Gottesbegriff der Platz für ein unhypostasiertes Göttliches zu fehlen (darum spricht Platon von `moívsiw ye!, nicht von `moívsiw t! yeí~!42). Auf das höchste Prinzip bzw. auf das Gute deutet Platon mittels theistischer Ausdrucksweisen wie auf den höchsten Gott und Vater von Allem hin.43 So tritt das Absolute bei ihm nicht als ein abstraktes yeîon, sondern als der überseiende Gott hervor, aus dem jede Form von Gottheit hervorgeht. Das Wesen der Götter besteht in einer vollen und bewußten Beziehung zum höchsten Guten, das jeder Gott im eigenen Dasein unmittelbar offenbart. Die Götter sind göttlich, weil sie dank ihrer vollen Teilhabe am noûw ständig dem Guten zugewandt sind. Durch diese Zuwendung werden sie –moioi t! ˙gay!. Folglich heißt Gottsein, aus sich selbst eine unmittelbare Widerspiegelung des höchsten Guten bzw. eine e†kWn toû ˙gayoû zu machen. Zu dieser `moívsiw t! ˙gay! ist auch der Mensch berufen;44 sein télow besteht darin, aus seinem Dasein eine Offenbarung des Guten zu machen bzw. göttlich zu werden. Die platonische yeología zeigt ihm das Vorbild, dem er sich selbst nachgestalten soll. Platons Götter verkörpern das vom Menschen zu erstrebende Ideal, das ihn dazu führen soll, sich durch den eigenen noûw vom Guten durchdringen zu lassen. Dieses Ideal ist durch die mímhsiw yeoû konkret erreichbar, wenn der Mensch sich vom eigenen göttlichen Bestandteil bzw. vom noûw lenken läßt, der ihn zum Bewußtsein des Guten führt. Die Aufgabe der yeología liegt darin, den Menschen zur Verwirklichung dieses Zieles zu ermuntern. Das Reden über die Götter hat nur dann Sinn, wenn es dazu beiträgt, die Menschen yeosebeîw te kaì yeîoi zu machen (Resp. 383 c3-4). Diese ethische Funk-
331 tion kann es nur erfüllen, wenn es die Götter nach der Wahrheit ihres Wesens beschreibt. Indem Platons yeología die Götter als gut und gerecht darstellt, konfrontiert sie den Menschen mit der Verkörperung seines Zieles (télow), das eben darin besteht, ˙gayòw kaì díkaiow bzw. –moiow ye! zu werden.45
III. Die Voraussetzungen der `moívsiw ye! Das Ideal der `moívsiw ye! fußt auf bestimmten Platons Philosophie immanenten Prämissen. Der platonische Philosoph gründet das eigene Streben nach Vergöttlichung auf bestimmte dem Wesen des Kosmos und des Menschen innewohnenden Voraussetzungen und auf die Hilfe von Mitteln, die mit diesen Voraussetzungen im Einklang stehen. a) Die Allverwandtschaft (pántvn suggéneia)46 Alle Dinge im Kosmos sind miteinander verwandt (Men. 81 c9d1 têw fúsevw Δpáshw suggenoûw o·shw), denn sie sind alle gotterzeugt (yeoû genn}mata Soph. 266 b2-4). Das Weltall ist ein kósmow, weil jedes seiner Bestandteile, von Maß und Gerechtigkeit durchdrungen, in Freundschaft und Seinsgemeinschaft (filía und koinvnía) mit den anderen und mit dem Ganzen zusammenlebt (Gorg. 507 e6-508 a447). Dadurch wird das Weltall zusammengehalten (Gorg. 508 a1; Tim. 32 c2-4). Die moralische Beziehung zwischen den Bestandteilen des Kosmos entspringt seiner ethischen Substanz: Tugend bildet die Substanz des Kosmos (Tim. 34 b6-848); sein Wesen offenbart das Gute, das der ihn schaffende Gott allen Dingen vermitteln will (Tim. 29 e1-3); schließlich hält das Gute den Kosmos zusammen (Phaedo 99 c5-6), weil es die Substanz der die Allverwandtschaft unter seinen Bestandteilen begründenden Affinität bildet. Jeder Bestandteil des Weltalls ist in seinem Wesen vom
332 Guten bestimmt: Durch seine Zugehörigkeit zur universalen Ordnung gewinnt er Anteil am Intelligiblen, auf dem diese Ordnung fußt; seine auch minimale Teilhabe am nohtón setzt ihn in Beziehung zum Guten, das sich im Intelligiblen unmittelbar offenbart und durch das Intelligible das Wesen aller Dinge bestimmt. Der sinnliche Kosmos ist ein lebendiges und göttliches Abbild des höchsten intelligiblen Lebewesens (Tim. 30 d1-3, 46 c8d1), dessen wesensmäßige Züge er widerspiegelt. Sein Urbild umfaßt jedes andere Intelligible (Tim. 30 c7-8, 31 a4-5) bzw. jedes mit ihm verwandte Wesen, und genauso umfaßt der geschaffene Kosmos alle mit ihm verwandte Lebewesen (Tim. 30 d331 a1). So begründet die Allverwandtschaft der Intelligiblen die pántvn suggéneia unseres Weltalls. Wie in der intelligiblen Welt so schafft die Allverwandtschaft auch in unserem Kosmos die Möglichkeit einer universalen Kommunikation zwischen allen Wesen (die koinvnía von Gorg. 507 e5-508 a2). Jedes Wesen im Weltall kann am Dasein und Schicksal jedes anderen Anteil gewinnen, indem es sich zu ihm wendet und ihm dadurch gleich wird. Das macht aus dem Kosmos eine dynamische Wirklichkeit, in der die Natur jedes Wesens durch ihre Beziehung zu den anderen bestimmt und verwandelt werden kann. Diese Tatsache liegt der Möglichkeit zugrunde, daß der Mensch sich durch eine bewußte Zuwendung zum Göttlichen in ein göttliches Wesen verwandeln kann. Die ontologische Einstufung eines Wesens wird vom Bewußtsein des eigenen intelligiblen Urgrunds bestimmt. Die Materie besitzt kein Bewußtsein des Intelligiblen; so bleibt für sie die pántvn suggéneia eine äußerliche Prägung, die sie nicht durchdringt und umfassend verwandelt. Je mehr ein Wesen mit der Materie verbunden ist, desto niedriger wird sein Bewußtsein des Intelligiblen, und desto tiefer sinkt es in der ontologischen Hierarchie (vgl. die Beispiele von Tim. 43 a3-d2, 90 b1-92 c3). Demzufolge soll sich der Mensch von seiner Beziehung zum Sinnlichen befreien, um das volle Bewußtsein seines göttlichen
333 Urgrunds wieder zu gewinnen. Ein Schritt zur Befreiung besteht in der Erkenntnis der Allverwandtschaft. Philosophie führt den Menschen zu dieser Erkenntnis, weil jedes Philosophieren auf der Allverwandtschaft bzw. auf der gegenseitigen Mischung unter den Intelligiblen basiert (Soph. 259 d9-e2-6, 260 a6-b2). So wird das Leben des Philosophen vom Prinzip geprägt, das das Wesen des Kosmos und seiner Bestandteile begründet und zusammenhält. Philosophierend erreicht der Mensch das Bewußtsein der in der intelligiblen Welt herrschenden urbildlichen pántvn suggéneia, das zur Erkenntnis der kosmischen Allverwandtschaft führt. Diese Erkenntnis kann nur vom intelligiblen Bestandteil des Menschen erlangt werden, weil die kosmische Allverwandtschaft auf der Teilhabe am Intelligiblen fußt. Die Götter leben immer im Bewußtsein der pántvn suggéneia, weil sie ständig dem Intelligiblen zugewandt sind; deswegen sind sie göttlich. Indem der Mensch sich durch Philosophie zum Intelligiblen wendet, kann er auch jedes Wesen in seiner Beziehung zum intelligiblen Urgrund des Weltalls begreifen. Dadurch wird er gottähnlich bzw. erlangt das Denken der Götter, das jedes Wesen als Offenbarung des Intelligiblen begreift und demzufolge als mit allen anderen verwandt betrachtet. b) Die suggéneia zwischen Göttern und Menschen49 Die pántvn suggéneia impliziert selbstverständlich die Verwandtschaft zwischen Menschen und Göttern (Prot. 322 a4; Tim. 90 a5-7; Leg. 899 d7-8, 900 a7). Diese Verwandtschaft ist für den Menschen keine oberflächliche Prägung (wie bei niedrigeren Wesenheiten), sondern betrifft den Kern seines Wesens, so daß er das volle Bewußtsein dieser Verwandtschaft erreichen kann. Das ˙nyrQpinon sxêma setzt schon an sich voraus, daß die Seele in ihrer Präexistenz die Wahrheit bzw. dasjenige geschaut hat, das den yeón zu yeîon macht (Phdr. 249 b5-6, c5-6, e4-250 a1). Die wahre Identität des im menschlichen Leibe ver-
334 körperten Subjekts besteht im höchsten Bestandteil seiner Seele bzw. im noûw oder logistikón. Nur durch den noûw ist dieses Subjekt in der Lage, die Erkenntnis des eigenen Wesens bzw. die Selbsterkenntnis zu erreichen: Das wahre Ich des ƒnyrvpow ist eine göttliche Wesenheit; folglich kann es sich nur vom yeîon im ƒnyrvpow bzw. von dem nur durch den noûw erreichbaren Erlebnis des yeîon ausgehend erkennen (Alc. I 133 c4-650). Der noûw ist mit den intelligiblen Urgründen der Wirklichkeit eng verwandt (Resp. 490 b3-4); mithin kann er den Menschen zu deren Schau (Phdr. 247 c6-8; Resp. 490 b3-4) und dadurch zum Urgrund seiner wahren Natur leiten. Der noûw ist der wahre, der innere Mensch (` \ntòw ƒnyrvpow Resp. 589 a7-b1) bzw. die †déa, die der äußere Mensch („` ¡jv ƒnyrvpow“) nachbildet (e†kQn Resp. 588 d10-11!). Er ist das Göttliche im Menschen,51 das direkt von dem Kosmos schaffenden Gott stammt (Tim. 41 c6-9), der vom Demiurgen jedem Individuum als súnoikow ∞aut! zugeteilte daímvn (Tim. 90 a24, c5), der göttliche Lenker, der zur Nachfolge der Götter und zum gottgewollten, dem menschlichen Wesen entsprechenden Leben führt (Tim. 41 c7-8; 90 d5-6). Die Beziehung zur Materie betäubt im Menschen das unmittelbare Bewußtsein seines göttlichen Kerns und hält ihn damit von seinem wahren Wesen getrennt. Nur durch Philosophie kann diese Trennung überwunden werden. Philosophie wendet den Menschen wieder seinem göttlichen Bestandteil zu, indem sie ihn vom Sinnlichen abwendet und auf die mit dem noûw verwandten göttlichen Wirklichkeiten konzentriert; sie bringt ihn dadurch unter die Führung des noûw und dessen Tätigkeit bzw. der frónhsiw. Die frónhsiw führt den Menschen wieder zur Erkenntnis der Wahrheit bzw. der göttlichen Urgründe der Wirklichkeit (Phaedo 65 a9-c1, 66 a6, d8-e4; Phil. 58 b9-d, 59 c2-d6; Pol. 278 d8-e2). Dadurch wird sie zur Grundlage der wahren Tugend (vgl. Phaedo 69 a6-d3): Die Wahrheit erkennen heißt, sich selbst in der dem eigenen Wesen entsprechenden Beziehung zum höchsten Guten zu begreifen. Dieses bewußte Verhältnis
335 zum höchsten Prinzip führt notwendigerweise dazu, aus dem eigenen Leben eine Offenbarung des Guten zu machen. Darin besteht die ˙ret| metà fron}sevw, die das Leben der Götter durchdringt (Leg. 906 a8-b3). Die Lenkung des noûw und der frónhsiw kann den Menschen mit diesem seinem Wesen entsprechenden Leben wieder vereinigen (Phaedo 69 c2-d3), weil sie aus ihm eine Offenbarung seiner Gottverwandtschaft macht. Nur das durch Philosophie erweckte Bewußtsein des noûw lenkt den Menschen zur ˙ret| metà; fron}sevw, durch die er wahrhaft ˙gayòw kaì díkaiow bzw. –moiow ye! wird (vgl. Resp. 612 e5-613 b3; Theaet. 176 b1-2; Leg. 716 c1-e2; Min. 319 a35). c) Das Prinzip „tò –moion t! `moí~ fílon“52 Die Ähnlichkeit bzw. Gleichheit (`moióthw) zweier Wesen impliziert deren Verwandtschaft (suggéneia: Prot. 337 d1-2 tò gàr –moion t! `moí~ fúsei suggenéw \stin) bzw. deren mehr oder weniger enge Seinsgemeinschaft (koinvnía). Auf der Seinsgemeinschaft fußt jede filía (Gorg. 507 e5-6; Resp. 472 c; Lys. 221 e3-4; Ep. 7, 334 b4-7), da ihr die Kraft entspringt, die das Gleiche (Ähnliche) mit dem Gleichen (Ähnlichen) zusammenbringt (vgl. Resp. 425 c2, Symp. 195 b5, Leg. 773 b6-7). Auf diese Kraft weist der Grundsatz „tò –moion t! `moí~ fílon“ hin (Lys. 214 b2-5; Gorg. 510 b2-5; Symp. 195 b5; Resp. 425 c2; Leg. 716 c2-3, 773 b6-7). Keine filía kann zwischen zwei Sachen entstehen, wenn keine koinvnía zwischen ihnen besteht (Gorg. 507 e5-6 –t~ dè m| ¡ni koinvnía, filía o[k ©n eÊh) bzw. wenn sie durch ˙nomoióthw wesenhaft voneinander getrennt sind. Je enger die koinvnía bzw. die `moióthw, desto enger die filía. Für den Menschen besteht eine objektive Möglichkeit, in Freundschaft (filía) mit den Göttern zu leben, da sein höchster Bestandteil suggen|w kaì –moiow t! yeí~ ist (z.B. Phaedo 80
336 b1-3; Resp. 611 e2). Das Bewußtsein dieser Tatsache ist aber durch die Beziehung zur Materie verfinstert, die den Menschen ungleich (˙nómoiow) den Göttern macht. Aus der Materie kann keine filía entstehen, weil sie das Meer der Ungleichheit ist (têw ˙nomoióthtow ƒpeirow póntow Pol. 273 d6-7). Die Materie an sich ist nichts Anderem gleich (Tim. 50 e1-4), kann an keiner Form Anteil gewinnen (Tim. 50 b8-c2); so ist sie aus der Allverwandtschaft sowie aus der universalen filía ausgeschlossen, die den Kosmos gestalten und zusammenhalten. Aus der Teilhabe an Maß und Gerechtigkeit entsteht die `moióthw unter den verschiedenen Bestandteilen des Kosmos, die ihre gegenseitige filía und koinvnía begründet (vgl. Gorg. 507 e6-508 a4). Die Götter verkörpern diese moralischen Grundlagen des Kosmos, da sie wesenhaft gerecht und gut sind. Der Mensch, der sich mit der Materie enger verbindet, wird der ethischen Substanz des Weltalls fremd, und vergißt allmählich seine Gottverwandtschaft: Er wird ƒdikow bzw. den Götter ungleich (˙nómoiow; vgl. Leg. 716 d2-3). So verliert er die Möglichkeit, als Freund der Götter zu leben; als den Götter entgegengesetzt (\nantívw ¡xvn Min. 319 a3-4), wird er deren Feind (Leg. 716 c6-d4; ¡sti dè ¡xyista tà \nantiQtata Symp. 186 d6-7). Nur Tugend kann eine filía unter Göttern und Menschen schaffen, da sie den Menschen mit der seinem Wesen innewohnenden Gottähnlichkeit durchdringt. Sie macht ihn –moiow ye! (Resp. 613 a7-b3; Theaet. 176 b1-2, c1-2; Min. 319 a3-5, Leg. 716 d1-2) und somit yeoîw fílow (Resp. 352 b1-2, 612 e5-613 b3; Leg. 716 c1-d2). Als gottähnlich kommt er den Göttern immer näher (das Gleiche nähert sich dem Gleichen an: Resp. 425 c2; Symp. 195 b5), gewinnt immer tiefer an ihrem Dasein Anteil und wird von ihm verwandelt. Dadurch wird er zu einem göttlichen Wesen und kann zu seiner wahren Natur zurückkehren.
337 d) Ontologische Implikationen von Wollen, Denken und Handeln. Die Funktion der mímhsiw Wollen, Denken und Handeln werden von Platon als die Mittel betrachtet, durch die der Mensch seine ontologische Stellung bestimmen kann. Ihre ontologischen Implikationen verleihen jeder Neigung des Individuums einen bis in die tiefsten Wurzeln seiner Identität reichenden Sinn. Die Hinwendung zu einem Objekt, das Streben nach ihm führt notwendigerweise zu einer Berührung mit seinem Wesen bzw. zu einer ontologisch geprägten Beziehung zu ihm. Hätten Handeln und Denken kein Verhältnis zur Sphäre des Wesenhaften, dann könnte kein zur `moívsiw ye! tendierender, genauer gesagt kein Evolutions- bzw. Involutionsprozeß ausgelöst werden. So würde jede Wesenheit in ihrem bestimmten Sosein ewig starr bleiben. Das Denken stellt für Platon keine vom Sein abstrahierte Wirklichkeit dar: Denkend vermag das Subjekt, das Wesen des Gedachten zu verinnerlichen und sich dadurch dem Gegenstand der eigenen Gedanken anzugleichen (vgl. Tim. 90 d4!). Folglich ist das von jedem sinnlichen Einfluß gereinigte Denken wirklich in der Lage, in sich die Substanz des von ihm geschauten Göttlichen aufzunehmen und dadurch das Subjekt zu vergöttlichen (Phdr. 249 c4-d3; Resp. 500 b8-d1; Tim. 90 b6-d7). Das Denken könnte sich jedoch nie dem Göttlichen zuwenden und somit die richtige Orientierung annehmen, wäre es nicht von einem dem Wesen des Göttlichen entsprechenden Handeln begleitet und getragen. Das Wesen jedes Seienden und die ihm zukommende ontologische Einstufung ist als eine ethische Tatsache zu betrachten, die sich aus der Tiefe seiner koinvnía mit dem Guten ergibt; so offenbart jede Wesenheit in ihrem Sosein die Natur ihrer Beziehung zum Guten. Folglich setzt die Verbindung mit dem Wesen einer bestimmten Wirklichkeit notwendigerweise die Teilhabe an ihrem ethischen Rang voraus, dem ihre Natur entspringt; mithin kann sich keine koinvnía im Sein ergeben, wenn keine ethische koinvnía besteht. Von diesen Prämissen
338 ausgehend muß selbst jeder einzelne Gedanke als ethische Tatsache betrachtet werden: Indem er sich mit dem Sosein seines Gegenstandes verbindet, wird er zu einem ethisch dem Wesen seines Inhalts affinen Akt. Jeder Gedanke kann nur insofern seinen Gegenstand berühren, als er von einem dem Gegenstande selbst ethisch homogenen Subjekt getragen und gestaltet wird. Wäre das Denken keine ethische Tatsache, dann wäre kein Gedanke in der Lage, eine reale Beziehung zu seinem Objekt zu erreichen. Deswegen setzt die das Erlebnis des Göttlichen anstrebende philosophische Erziehung ein unauflösliches miteinander Verwobensein des ethischen Strebens und des Erkenntnisweges voraus. Keine Erkenntnis des Göttlichen kann ohne Teilhabe an seinem ethischen Rang bzw. ohne ein demjenigen der Götter ähnliches Verhältnis zum Guten erreicht werden. Somit setzt jede reale erkenntnismäßige Beziehung zum Göttlichen die Nachahmung (mímhsiw) seines ethischen Soseins voraus. Darum müssen für den Philosoph das dem Göttlichen bzw. dem Guten zugewandte gottmäßige Denken und die Imitation der Götter durch das gottmäßige Handeln nach dem Gutem ständig eng miteinander verwoben bleiben (Resp. 500 c2-553). Das Streben nach der mímhsiw orientiert Denken und Handeln auf einen bestimmten Gegenstand und verbindet sie mit dem Wesen des eigenen Ziels, das somit das Subjekt durchdringt und verwandelt. Ein solcher Impuls entspringt dem Wollen, das sich auf einer bestimmten Seinssphäre konzentriert und deren Aneignung erstrebt. Denken und Handeln werden durch diesen Impuls unvermeidlich zur Verbindung und Interaktion mit dem vom Wollen bestimmten Ziel geführt. Somit erweisen sich die ontologischen Implikationen vom Denken und vom Handeln in ihrem Sinn als vom Willensimpuls determiniert, der ihre Orientierung gründet. Die Wurzel dieses Wollens liegt im ¡rvw bzw. im Verlangen nach der Wirklichkeit, die das Subjekt mit dem eigenen Guten identifiziert.54 Dieses Verlangen feuert das Individuum dazu an, die ständige Präsenz der verlangten Wirklichkeit zu erstreben,55 um an ihrem Wesen den höchst möglichen Anteil zu
339 gewinnen. *Ervw und mímhsiw implizieren einander: Wenn der Liebende sich dem Ziel seines Verlangens nicht angleicht, kann er keinen Anteil an seinem Wesen gewinnen; deswegen fühlt er sich notwendigerweise zur mímhsiw des geliebten Gegenstands gedrängt. So entspringt jeder Impuls zur mímhsiw dem Willen, das Sosein zu erlangen, das das nachahmende Subjekt als das eigene Gute betrachtet. Durch die mímhsiw fühlt sich das Subjekt immer mehr vom Wesen des Vorbilds angezogen und wird von dessen Genuß durchdrungen (\k têw mim}sevw toû eÂnai ˙polaúein Resp. 395 c7-d1). Eine lang anhaltende Nachahmung führt das Individuum zu einer immer engeren Verbindung mit ihrem Ziel, dessen Wesen immer tiefere Wurzeln im Wesen des Nachahmenden schlägt. So wird die mímhsiw zu einer angewöhnten Natur, bis zum Punkt, an dem das nachgeahmte Wesen den Körper, die Stimme und die Gedanken des Subjekts umgestaltet (Resp. 395 c7-d356). Folglich impliziert eine dauerhafte mímhsiw notwendigerweise die `moívsiw bzw. die Angleichung des Subjekts an ihr Ziel.57 Deswegen strebt die philosophische Erziehung eine ständige Imitation des Göttlichen an: Der yeòn mimoúmenow, der seine Gedanken auf das Göttliche konzentriert und wie die Götter bzw. nach der Tugend handelt, wird vom Göttlichen völlig durchdrungen und dadurch allmählich vergöttlicht bzw. in ein gottähnliches Wesen (–moiow ye!) umgewandelt.58 Durch die mímhsiw yeoû legt der Mensch alles das ab, was seine göttliche Natur betrübt; so kann er nach dem Tod seine wahre Identität wiederherstellen bzw. wieder unversehrt und vollkommen (`lóklhrow kaì téleow59) werden. Die konstante Hinwendung zu einer bestimmten Wirklichkeit impliziert ein Sicherfüllen mit ihrem Wesen, aus dem sich die Angleichung an ihren ontologischen Rang ergibt. So wird dasjenige eine höhere Seinssphäre und die dementsprechende tiefere Seinsfülle erreichen, das sich mit Wirklichkeiten erfüllt, die am Sein in höherem Maß teilhaben (Resp. 585 d7-9). Deswegen führt eine immer tiefere Konzentrierung auf die wahre Tugend
340 und auf die wahre Erkennntnis zu einer immer höheren Seinssphäre, da ihren Zielen die höchste Teilhabe am unwandelbaren und unsterblichen Sein zukommt (Resp. 585 b12-c5). So erlangt das ständige Streben nach ˙ret} und frónhsiw die volle Durchdringung mit ihrem höheren Dasein und erhebt den Menschen zur göttlichen Welt, wo Tugend und Einsicht herrschen (Leg. 906 a8-b2). Derjenige, der ständig materiellen Begierden folgt, ernährt dagegen nie die eigene wahre Natur mit den ihr angemessenen seienden Wirklichkeiten; deswegen sinkt er in die niedrigeren Sphären der Wirklichkeit und in ein immer tierischeres Leben (Resp. 586 a1-b460). Der Mensch kann durch die vom Willen gelenkte Orientierung seines Denkens und seines Handelns den eigenen ontologischen Rang bestimmen.61 Denken und Handeln führen das Subjekt zur koinvnía mit dem Schicksal der Wesen, auf die sie es konzentrieren. Während seines Lebens und nach dem Tod folgt jedes Individuum notwendigerweise dem Schicksal der Wesen, denen es sich angleicht.62 Die Qualität der Beziehung zur Tugend bestimmt jede Lebens- bzw. Schicksalsform: Die konstante Präsenz dieser Beziehung schenkt dem Menschen das Leben der Götter (Phaedo 69 b1-c7) und dadurch die Erlösung (Leg. 906 a8-b3) bzw. die Befreiung von allen Übeln (Phaedo 107 c8d2; Theaet. 176 a5-b2); ihre Absenz verstrickt den Menschen immer hoffnungsloser in seine titanische Natur (Leg. 701 c2-4), verleiht seinem Leben tierische Formen (Resp. 586 a1-b3) und trennt ihn völlig von seiner göttlichen Essenz,63 indem sie ihn in den Abgrund des Bösen hinabstürzt.64 e) Die Funktion der Dialektik65 Substanz des göttlichen Lebens ist die konstante Beziehung zu den intelligiblen Urgründen des Seins. Die menschliche Seele ist von dieser Beziehung in die Gefangenschaft der Materie hinabgestürzt, in die Abspaltung von ihrer göttlichen Identität (Phdr.
341 248 c5-8). Unter der Führung der Dialektik kann sie jedoch ihren ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Die dialektische Methode ist das gottgeschenkte Mittel (yeôn e†w ˙nyrQpouw dósiw Phil. 16 c5; vgl. e3-4), durch dessen Hilfe der Mensch den seinem Wesen angemessenen Anteil am Intelligiblen wieder gewinnen kann. Das Verfahren dieser Methode entspricht der Struktur der intelligiblen Welt (vgl. Phil. 16 c7-e2); so kann es dem Menschen die Erkenntnis schenken, von der sich das Leben der Götter ernährt. Dialektik konzentriert den Menschen auf die Tätigkeit des noûw, die ihn zur Schau des Intelligiblen leiten kann (Symp. 212 a3; Phdr. 247 c6-8; Resp. 490 b2-4). Unter der Lenkung der Dialektik verläßt das Subjekt den naiven Empirismus, der seine Identität zersplittert und in die chaotische Vielfältigkeit der sinnlichen Welt zerstreut. Dialektik spornt das Subjekt dazu an, ständig die Erkenntnis der mía †déa bzw. der geistigen Essenz zu erstreben, die die Vielfältigkeit der materiellen Akzidenzien zu einer intelligiblen Einheit zurückführt.66 Dieses Streben zwingt den Menschen, die Tätigkeit des eigenen noûw aufzuwecken, denn nur durch den noûw kann er das Intelligible begreifen. So gewinnt das Subjekt durch das dialektische Verfahren allmählich wieder das Bewußtsein des eigenen göttlichen Bestandteils bzw. des intelligiblen Individuums, das die Einheit seiner Identität begründet. Wegen seiner Wesensverwandtschaft mit dem Intelligiblen (Resp. 490 b3-4) ist der noûw schlechthin Eins. So kann der Mensch nur in ihm die Wurzel der eigenen Essenz finden, denn die Einheit bzw. das Einssein konstituiert den Kern jeder Essenz. Der Weg der Dialektik führt das Subjekt zur Erkenntnis einer immer höheren Stufe des Einsseins hinauf und gipfelt in der Schau der höchsten intelligiblen Einheit, der Idee des Guten (Resp. 533 c7-d3; 534 b8-d1; vgl. 511 b3-7). Die Idee des Guten ist ˙rx} jedes Einsseins bzw. jeder Essenz und stellt deswegen das télow des vom Dialektiker eingeschlagenen Erkenntnisweges dar (Resp. 532 e3 télow têw poreíaw; zum télow-Motiv vgl.
342 Symp. 210 e4; 211 b7). Auf diesem Weg gewinnt der Mensch einen immer tieferen Anteil am Einssein bzw. am Guten, bis zu jenem Punkt, an dem er vom höchsten Einen-Guten67 durchdrungen und zu einer Offenbarung des Einsseins verwandelt wird. So erreicht der Mensch durch Hilfe der Dialektik sein télow bzw. macht aus dem eigenen Dasein eine Verkörperung der eigenen ˙ret}. Diese ˙ret} besteht eben darin, daß der Mensch ¢n \k pollôn wird.68 Dadurch erlangt er wieder die Einheit mit der eigenen Essenz und wird somit zu einer Offenbarung des Urgrunds jeder Essenz und Tugend bzw. des Einen-Guten. Die Einswerdung mit dem eigenen Wesen kann als Kern und Ziel des Prozesses betrachtet werden, der in der `moívsiw ye! gipfelt. Die Substanz der Göttlichkeit wird vom Einssein mit dem eigenen Wesen gebildet: Der Gott entfernt sich nie von diesem Einssein bzw. bleibt mit der sein Einssein begründenden †déa permanent identisch, ohne das eigene Dasein in irgendeine Formenvielfalt zu zerstreuen (Resp. 380 d1-669). Dialektik leitet durch alle Offenbarungsformen des Intelligiblen, von seinen Erscheinungen im Sinnlichen (Symp. 211 b7-c) bis zum Erlebnis der Idee des Guten (Resp. 511 b3-7, 533 c7-d3, 534 b8-d1). Der von der Dialektik geleitete \pánodow toû ªntow (Resp. 521 c7) führt bis zu den Göttern (Resp. 521 c2-3) und zu immer höheren Sphären der göttlichen Welt hinauf. Dieser Aufstieg impliziert eine immer tiefere Reinigung vom Sinnlichen und eine immer höhere Stufe der Vergöttlichung, denn nur ein gottähnliches Subjekt kann die Erkenntnis des Göttlichen erlangen. Geführt von der Dialektik wird das Subjekt immer mehr vom Göttlichen durchdrungen und erlebt dadurch eine vergöttlichende Umwandlung (Resp. 521 c1-8), durch die er die wahre Unsterblichkeit (Symp. 212 a2-7) bzw. `moívsiw ye! erlangt. Das dialektische Verfahren bedient sich nie sinnlicher Stützen, sondern bewegt sich ausschließlich unter intelligiblen Wesen (Resp. 511 c1-2, 532 a5-7). Auf dieser engen Beziehung zum Intelligiblen fußt die vom erkennenden Subjekt unumgänglich zu erstrebende Verbindung der Dialektik mit der wahren
343 Philosophie. Ohne Dialektik wäre die ˙lhy|w filosofía nicht in der Lage, dem eigenen Erkenntnisstreben Konkretheit zu verleihen, denn nur die dialektische Erkenntnismethode reinigt das Seelenauge vom Schlamm der Materie (Resp. 533 c7-d3)70 und befähigt es dadurch, die von der Philosophie angestrebte Beziehung zum Göttlichen zu erreichen. Andererseits könnte kein Mensch ohne den Ansporn des ¡rvw zur wahren Erkenntnis bzw. der filosofía, ohne sich vom ¡rvw filósofow ergreifen zu lassen, der zum Aufstieg von der sinnlichen Welt zum höchsten Guten-Schönen führt (Symp. 211 b7-c3), das Ziel des dialektischen Verfahrens erlangen. Ohne Dialektik wäre die Philosophie blind, denn ohne das dialektische Verfahren wäre es für den Philosophen unmöglich, die Ideenschau zu erreichen;71 andererseits würde sich eine unphilosophische Dialektik nur auf eine leere Methode reduzieren, deren Aufstieg zum Göttlichen niemand bis zum Gipfel zurücklegen könnte. Die Leitung der Dialektik führt den Menschen zur Einheit der eÊdh und damit zum Wesen der Dinge72 bzw. zu ihrer ˙l}yeia.73 Dadurch schenkt sie dem Subjekt die Wiedererinnerung an das wahre Sein bzw. an das ˙lhyeíaw pedíon, das die Seele vor ihrem Absturz in die Materie schaute (Phdr. 249 b6-c474). Diese ˙námnhsiw (Phdr. 249 c2)75 darf nicht als der fade Schatten einer unwiederbringlichen Erfahrung betrachtet werden, denn sie stellt ein realitätserfülltes, das Subjekt ergreifende Erlebnis dar: Durch die ˙námnhsiw wird das von der noch nicht inkarnierten Seele geschaute Intelligible im Dasein des Subjekts konkret präsent, verwandelt es und schenkt ihm wieder seinen gottförmigen Charakter. Der von der Dialektik wiedererweckte noûw, der die ˙námnhsiw der überhimmlischen Urbilder erreicht, verbindet den Menschen wieder mit der Substanz seiner göttlichen Natur: Unter seiner Führung erlebt die Seele wieder die Schau der Wahrheit, die ihre Flügel ernährte und sie befähigte, in der Welt der Götter zu bleiben (Phdr. 248 b5-c5). Die ˙námnhsiw des Intelligiblen führt das im ƒnyrvpow verkörperte Subjekt wirklich zum ˙lhyeíaw pedíon bzw. zu den Realitäten
344 zurück, von denen sich sein göttlicher Bestandteil bzw. der noûw ernährt (Phdr. 248 b7-c1). Getragen vom göttlichen Impuls zum dialektischen Denken (kal| kaì yeía `rm| \pì toùw lógouw Parm. 135 d2-3), erweckt der Mensch immer mehr die Tätigkeit des eigenen noûw und erlangt durch sie das Wissen des Wahren, das die Substanz des göttlichen Lebens bildet (vgl. Phdr. 247 c4248 a1, 248 b5-c2). Die Hinwendung zum dialektischen Denken bzw. zur Wahrheit begleitet den Philosophen durch sein ganzes Leben, befreit seine Seele vom Schlamm der Materie (vgl. Resp. 533 c7-d3) und verwandelt ihn schon vor dem Tod in ein göttliches Wesen (Phdr. 249 b5-c6).76 Die dank der Dialektik erlangte Wissenschaft des Wahren führt den Philosophen zum télow der Mysterien der Liebe bzw. zum Guten-Wahren-Schönen an sich, das jeder ¡rvw filósofow erstrebt.77 An dieses télow gelangt, erlebt der Philosoph die vollkommenste unter den Initiationen und wird dadurch wahrhaft vollkommen (Phdr. 249 c7-8 teléouw ˙eì teletàw teloúmenow, téleow ªntvw mónow gígnetai!); so kann seine Seele nach dem Tod wieder Flügel bekommen (Phdr. 249 c4-8)78 und das ihrem göttlichen Wesen entsprechende Leben erlangen. f) fyónow ¡jv yeíou xoroû ®statai79 Die `moívsiw ye! kann nur deswegen erlangt werden, weil die Götter neidlos sind. Die Götter sind vom Guten völlig durchdrungen; so schließt ihr Leben jede Art von fyónow aus (vgl. Tim. 29 e1-2) und impliziert eine bedingungslose Offenheit zur koinvnía bzw. zur Weitergabe des Eigenen. Wegen seines höchsten Gutseins will der Demiurg, soweit wie möglich, allen Dingen, sogar der im Chaos versunkenen Materie, das eigene Gutsein vermitteln. Dieser Wille ist die Ursache für die Schaffung des Kosmos (Tim. 29 d7-e280): Der Demiurg kennt keinen Neid und will deswegen, daß alle Dinge ihm möglichst ähnlich werden (Tim. 29 e2-381), daß sie am Gutsein den höchst mögli-
345 chen Anteil gewinnen (Tim. 30 a2-382). Nach diesem Zweck gestaltet er das Weltall und die ihm innewohnende Seinshierarchie. Die Götter gleichen dem Demiurgen im höchsten Maß, denn sie wurden direkt von ihm geschaffen (Tim. 41 a7-8). Der Mensch wurde von den geschaffenen Göttern als das höchste mit der Materie verbundene Wesen gestaltet. Seinen höchsten Bestandteil, den noûw, der ihn mit den Göttern wesensverwandt macht, bekam er jedoch direkt vom Demiurgen (Tim. 41 c6-d1). Unter der Führung des noûw kann der Mensch den Göttern folgen (Tim. 4 c7-8); dadurch befreit er sich von der Beziehung zur sinnlichen Welt (vgl. Tim. 42 b3-5) und erlangt das gottgewollte télow seines Lebens (Tim. 90 d5-6), das in der Teilhabe am Wesen und Leben der Götter bzw. in der `moívsiw ye! besteht. Da die Götter neidlos sind, kann jede Seele ihnen folgen und dadurch gottähnlich werden, die nur die Kraft und den Willen dazu besitzt (Phdr. 247 a6-7 £petai dè ` ˙eì \yélvn te kaì dunámenow: fyónow gàr ¡jv yeíou xoroû ®statai). Die Götter ziehen sich nicht vor demjenigen zurück, der sie erkennen83 und nachahmen will. Das Göttliche gibt sich demjenigen unmittelbar weiter, der sich seinem Licht zuwendet; es verwandelt ihn und macht ihn sich selbst ähnlich. Diese Weitergabe kann aber nur einem Wesen gegenüber stattfinden, das vom Göttlichen durchdrungen werden kann bzw. sich als gottähnlich erweist. %Omoiow ye! kann nur derjenige sein, der, wie die Götter, wesenhaft gut ist, keinen fyónow empfindet und sich immer bereit zeigt, das eigene Gute weiterzugeben und den Anderen sich selbst anzugleichen.84 Die Seele des ˙gayów ist nicht im eigenen Partikularen verschlossen; deswegen spaltet sie sich nicht von der kosmischen Ordnung ab, sondern offenbart sie im eigenen ganzen Dasein und wird dadurch gottähnlich. Der universale kósmow fußt auf dem Guten; somit setzt er eine gegenseitige Offenheit und Seinsgemeinschaft (die koinvnía von Gorg. 508 a1) unter seinen eigenen Bestandteilen voraus (vgl. Gorg. 507 e6508 a4). Das Wesen jedes Bestandteils vom Weltall und seine
346 Einstufung in die Seinshierarchie ergibt sich aus seiner koinvnía mit den anderen Bestandteilen, mit dem ganzen Kosmos und mit dessen Urgrund. Je mehr ein Wesen fern vom fyónow lebt, desto mehr gewinnt es Anteil am Guten, das den Kosmos zusammenhält,85 denn im Guten besteht kein fyónow, sondern nur bedingungslose Offenheit zur koinvnía. Je mehr ein Wesen vom fyónow durchdrungen ist, desto tiefer gewinnt es Anteil am Bösen,86 bis es den Urgrund des Seins völlig vergißt und ins Tierische sinkt. Der Mensch kann zwischen der Verfinsterung seiner göttlichen Natur und dem bedingungslosen, von keinem fyónow betrübten Üben des Guten, zwischen dem Absturz in die niedrigsten Instinkte und dem Gottähnlichwerden wählen. Inzwischen werden die Götter weiter, ƒneu fyónou, das Licht des eigenen Wesens ausstrahlen und damit auch ihre Widersacher beleuchten.
IV. Worin besteht die `moívsiw ye! und für wen ist sie erreichbar? Von seiner sinnlichen Natur ausgehend ist der Mensch nicht in der Lage, die `moívsiw ye! zu realisieren, denn das Sinnliche ist dem Göttlichen gegenüber ontologisch radikal ˙nómoion; andererseits ist der Mensch durch den noûw mit den Göttern jedoch ontologisch verwandt; so kann die konstante Hinwendung zum noûw seine Natur völlig vergöttlichen und damit jede ontologische Diskontinuität zwischen dem im ƒnyrvpow verkörperten Subjekt und dem yeîon überwinden bzw. das Subjekt zur `moívsiw ye! führen. Die Natur des ƒnyrvpow erweist sich folglich als von einer ontologischen Antinomie bzw. von der Koexistenz einer göttlichen mit einer sinnlich-sterblichen Wesenheit in derselben Hypostase geprägt. Einerseits kann der Mensch kein Gott sein (Soph. 216 b8-9), denn das Göttliche mischt sich ja überhaupt nicht mit dem Menschlichen (vgl. yeòw … ˙nyrQp~ o[ meígnutai Symp. 203 a1-2); andererseits wird
347 der Philosoph nach dem Tod in das génow yeôn aufgenommen (Phaedo 82 b10-c1) und lebt mit den Göttern (Phaedo 69 c6-d3; 81 a9-10), was eine Verwandlung des Menschen zu einem göttlichen Wesen impliziert (vgl. Phdr. 249 c4-8 und Resp. 500 c9d1, 540 b7-c2!). Und gerade mit dem göttlichen Leben identifiziert Platon das vom Menschen anzustrebende télow bzw. die der wahren Natur des Menschen angemessene Wirklichkeit. So besteht ein deutliches Paradox zwischen dem Menschsein und dem die Vergöttlichung einbegreifenden télow des Menschen, zwischen dem ƒnyrvpow und der Essenz des in ihm verkörperten Subjekts, die sich in ihrer Fülle nur in einer das Menschliche transzendierenden Sphäre offenbaren kann. Die `moívsiw ye! hat im ƒnyrvpow ihren Ausgangspunkt und wird von Platon als ein dem Menschen vorgeschlagenes Ideal betrachtet. Ihre Verwirklichung geht vom Menschen und von dessen paradoxen Zustand aus und kann katà tò dunatón (Theaet. 176 b1)87, nach der Möglichkeit der menschlichen Natur erreicht werden, am Göttlichen Anteil zu gewinnen. Das „katà tò dunatón“ will in erster Linie affirmativ wirken bzw. impliziert nicht, daß das Subjekt sich der `moívsiw ye! nur annähern kann: Der Mensch hat in sich einen göttlichen Bestandteil, durch den er die Kraft, die dúnamiw bekommt, das Göttliche nachzuahmen und sich ihm realiter anzugleichen. Von dieser dúnamiw ausgehend bzw. „katà tò dunaòn ˙nyrQp~“ zeigt sich die `moívsiw ye! als ein realer Zweck, nach dem er das eigene Leben konkret bestimmen kann, als ein Prozeß, der das Subjekt wirklich verwandeln88 und yeîow machen kann.89 Solange das Subjekt im ƒnyrvpow verkörpert bleibt, kann es aber nur innerhalb der Grenzen des ˙nyrQpinon bzw. des physischen Leibes –moiow ye! werden: es kann das Göttlichsein erlangen,90 seine Göttlichkeit wird jedoch notwendigerweise mit einem sinnlichen Substrat verbunden bleiben und sich deswegen als ein nicht anhaltender Zustand erweisen.91 Eben im Hinweisen auf die objektiven Grenzen des Menschlichen besteht die negative Bedeutung des die Andeutungen auf die `moívsiw ye! oft präzisierenden
348 katà tò dunatón, die paradoxerweise neben dessen affirmativer Prägung hervortritt. Bezogen auf die `moívsiw ye! wird somit das „katà tò dunatón“ zum Ausdruck einer möglichen Unmöglichkeit bzw. zum Spiegel der Antinomie zwischen ˙nyrQpinon und yeîon, die das im ƒnyrvpow verkörperte Subjekt kennzeichnet. Das Gottähnlichwerden dieses Subjekts ist und ist nicht dunatón: Es ist dunatón, wenn das Subjekt von der Göttlichkeit der eigenen wahren Natur ausgeht; es ist nicht dunatón, wenn es im ˙nyrQpinon eine untranszendierbare Realität bzw. die höchste Sphäre sieht, in der sich seine wahre Natur offenbaren kann. Von der Perspektive des ˙nyrQpinon ausgehend macht das „katà tò dunatón“ aus der `moívsiw ye! nur eine asymptotische Annäherung, jenseits der eine perfide Utopie thront. Wenn aber das „katà tò dunatón“ vom Göttlichen im Menschen beleuchtet wird, wird es zu einem Ansporn, das télow des ƒnyrvpow bzw. seine dúnamiw zu verwirklichen. Für den ƒnyrvpow an sich impliziert die `moívsiw ye! eine nur durch Vergöttlichung von Wollen, Denken und Handeln erreichbare Selbsttranszendierung, die erst nach dem Tod bzw. nach der Aufhebung des ˙nyrQpinon verwirklicht werden kann. Befreit von der menschlichen Hülle, wird sich die von allem Menschlichen frei gewordene göttliche Individualität nach dem Tod in einem mit ihrem Wesen verwandten Substrat offenbaren können. Sie wird dann nicht mehr zum ˙nyrQpinon génow gehören und wird zusammen mit den Göttern (Phaedo 69 c6-7; 81 a9-10; 82 b10-c1) in der Welt leben, die sie prìn \n t!de t! ˙nyrvpín~ eÊdei genésyai (Phaedo 73 a1-2) bewohnte. Die im ƒnyrvpow verkörperte Individualität bzw. die Seele gehört nicht zum ˙nyrQpinon.92 Ihre ˙lhy|w fúsiw (Resp. 612 a3-593) wird durch das ˙nyrQpinon verfinstert, das sie mit seiner Unreinheit besudelt und dadurch ihre volle Selbstoffenbarung verhindert (Resp. 611 b9-612 a6). Diese Situation begründet die Notwendigkeit der `moívsiw ye!, denn das télow des Menschen besteht eben darin, seine ˙lhy|w fúsiw zur vollen Offenbarung zu bringen. Diese Offenbarung kann paradoxerwei-
349 se nur dann stattfinden, wenn der Mensch sich vom Menschsein völlig befreit. Welche Menschen sind fähig, die `moívsiw ye! zu erreichen? Mehrmals werden die Philosophen von Platon als die einzigen Menschen bezeichnet, die dieses Ziel erlangen können.94 Derjenige, der den philosophischen Erkenntnisweg einschlägt, wird aber nicht selbstverständlich –moiow ye!. Dieser Weg zielt auf die Erkenntnis der Wahrheit bezüglich der Tugend und ihres Konträren (Ep. 7, 344 a8-b1)95. Nur wer ein solches Wissen besitzt, kann das Gute üben und dadurch wirklich gerecht bzw. gottähnlich werden. Eine bestimmte Wirklichkeit kann aber nur von demjenigen erkannt werden, der ihr gleicht; folglich kann nur derjenige die Erkenntnis der wahren ˙ret} erreichen, dessen Natur mit ihrem göttlichen Gegenstand bzw. mit der Tugend und der Wahrheit verwandt ist (vgl. Ep. 7, 343 e1-344 b1)96. Nur ein von Natur aus göttliches Individuum ist fähig, bis zu seinem télow den Weg der filosofía zurückzulegen; deswegen kann nur ein Mensch göttlicher Natur zu einem wahrhaften Philosophen werden (Ep. 7, 340 c97). Damit wird jedoch keine die Selbstbestimmung des Individuums beeinträchtigende Diskriminierung zwischen den Menschen eingeführt, sondern nur auf einen die gegenwärtige Inkarnation jedes Menschen transzendierenden Horizont hingewiesen.98 Der Besitz einer göttlichen Natur darf nämlich nicht auf ein dem Individuum kapriziös aufgezwungenes Schicksal zurückgeführt werden, sondern ergibt sich aus der von der Seele des verkörperten Subjektes vor der Inkarnation bzw. während der vorherigen Inkarnation erworbenen Entwicklungsstufe.99 Wenn der noch nicht yeîow gewordene Mensch eine positive Entwicklung anstrebt, wird er in der Lage sein, sich schon im nächsten bzw. in einem noch weiter entfernten Leben in einen yeîow ƒnyrvpow zu inkarnieren, sich der Philosophie zu widmen und dadurch die `moívsiw ye! zu erlangen.100 Somit erweist sich die `moívsiw ye! als ein Ideal, das in der Perspektive mehrerer Leben von jedem ƒnyrvpow konkret angestrebt werden kann.101 Von einem einzelnen Leben ausge-
350 hend, bleibt sie jedoch ein nur von außerordentlich wenigen Menschen erreichbares Ziel.102 Eine filósofow fúsiw genügt aber nicht, um gottähnlich zu werden! Eine solche Natur muß mit der richtigen Erziehung ernährt werden und sich in einer ihrem Wesen angemessenen Umgebung entwickeln; sonst wird sie sich zu einer der Tugend entgegengesetzten Richtung hinneigen (Resp. 492 a1-5)103. Keine unter den existierenden Gesellschaftsformen ist jedoch mit der gesunden Entwicklung der filósofow fúsiw vereinbar; so tendieren die filósofoi fúseiw zur Entartung, zu einer ihrem Wesen fremden Lebensweise (e†w ˙llótrion ‘yow \kpíptein Resp. 497 b6-7), da sie sich von schlechten Erziehern und Vorbildern umgeben befinden.104 Lebten sie dagegen in einer nach dem Vorbild der idealen politeía strukturierten Gesellschaft, dann würden sie in die Lage gesetzt werden, ihre Göttlichkeit zu offenbaren (Resp. 497 a9-c3). Von den vorhandenen Formen des sozialen Lebens ausgehend, könnte keine unter den besten Menschen vor dem Untergang gerettet werden. Die wenigsten (pánsmikron Resp. 496 a11!), die der Degeneration entgehen, verdanken ihre Rettung einem göttlichen Eingriff, einer yeoû moîra (vgl. Resp. 492 e3-493 a2). Sie sind die einzigen Menschen, die sich als der wahren Philosophie würdig erweisen (vgl. Resp. 496 a11-b1105). In einer Welt, wo keine politeía das göttliche Urbild jedes sozialen Organismus verkörpert (Resp. 592 a10b5), erweist sich jede politeía als allzu menschlich, um die richtige Entwicklung der göttlichen Menschen zu garantieren. So wachsen sie in einer göttlichkeitsleeren Atmosphäre auf, und niemand von ihnen wäre ohne göttliche Hilfe (yeoû moîra!) fähig, bis zu seinem télow den Weg der Philosophie zurückzulegen und damit die `moívsiw ye! zu erreichen. Ohne Synergie zwischen göttlicher Natur und göttlichem Schicksal bzw. ohne, anachronistisch ausgedrückt, eine Konvergenz der Natur mit der Gnade106 kann niemand von den vorhandenen Gesellschaftsformen ausgehend die `moívsiw ye! erlangen: Nur die Götter können der filósofow fúsiw ein mit dem télow der Philosophie
351 vereinbares Leben schenken.107 Die Notwendigkeit dieser yeía moîra offenbart die Grenzen der menschlichen Freiheit in einem nur auf das Menschliche gerichteten sozialen Leben; sie stellt die im ƒnyrvpow verkörperte Individualität vor die radikale Unmöglichkeit einer vom ˙nyrQpinon ausgehenden Selbstbestimmung, die der zwischen dem ƒnyrvpow und seinem göttlichen Wesen bestehenden Spaltung entspringt. Nur die Überwindung dieser Spaltung kann zur echten Freiheit führen. Solange aber die Gesellschaft dem Menschen nicht dabei helfen wird, das Menschliche zu transzendieren, werden nur die Götter für die göttlichen Menschen die Brücke bauen können, die sie mit der wahren Freiheit bzw. mit der Freiheit der göttlichen Wesen verbindet. Mit dem Ideal der `moívsiw ye! wendet sich Platons Philosophie nicht an den ƒnyrvpow als solchen, sondern an die in der menschlichen Form (\n ˙nyrvpín~ eÊdei) verkörperte göttliche Individualität. Diese Individualität kann im ˙nyrQpinon ihren eigenen Sinn nicht finden, denn das Menschsein stellt einen ihrem göttlichen Wesen unangemessenen Zustand dar und wird dadurch zur Quelle aller ihrer Übel. Von der Perspektive Platons ausgehend, wird nie eine anthropozentrische bzw. eine exklusiv auf das ˙nyrQpinon gerichtete Philosophie den Menschen von seinen Übeln befreien. Indem sie ihn auf das Menschliche beschränkt und dadurch immer mehr entgöttlicht, versteift eine solche Philosophie den Menschen in der Abspaltung von seinem wahren Wesen und stürzt ihn in den Abgrund der Tierheit. Nur wenn er sich dem eigenen göttlichen Zentrum zuwendet, kann der ƒnyrvpow das vom Guten durchdrungene Leben erreichen, das seine Essenz in ihrer Fülle offenbart. Platons Philosophie will den Menschen zu diesem Zentrum zurückführen; deswegen bewegt sie sich in einer ausschließlich theozentrischen Perspektive. Aber gerade durch ihren Theozentrismus erweist sich die ˙lhy|w filosofía, paradoxerweise, als der einzig wahre Humanismus, denn ihr télow besteht eben darin, den Menschen zur Wahrheit seines Wesens zurückzuführen.
352 V. Die Funktion der `moívsiw ye! in den verschiedenen Bereichen der platonischen Philosophie108
1) Gnoseologie Philosophie erstrebt die Schau der Wahrheit.109 Der Philosoph unterscheidet sich von den anderen Menschen dadurch, daß er met& ˙lhyeíaw lebt (Gorg. 526 c2-4), t|n ˙l}yeian ˙skôn (Gorg. 526 d6). In der direkten Schau der Wahrheit besteht die höchste Form des Wissens (die \pist}mh)110 bzw. die Substanz der sofía, denn die ˙l}yeia stellt die mit der sofía am engsten verwandte Realität dar (Resp. 485 c10-11). Die Erkenntnis der Wahrheit führt zu einem unmittelbaren Erlebnis des Seins bzw. der Wirklichkeit der Dinge, denn Sein und Wahrheit fallen miteinander zusammen.111 So erweist sich die \pist}mh als mit der Erkenntnis des Seins identisch.112 Diese Erkenntnis ist notwendige Voraussetzung jeder wahren Tugend: Die Wahrheit einer Sache besteht nämlich in der Offenbarung des Guten durch ihr Wesen. Das Wissen des Wahren impliziert immer eine reale Beziehung zum Urgrund der Tugend, denn ˙l}yeia ist die höchste Offenbarung des Guten (Resp. 508 e3-509 a1, a6-7; 517 c4; vgl. Phil. 64 e9-65 a5)113. Somit kann das télow der filosofía bzw. die zur `moívsiw ye! führende Erlangung der wahren ˙ret}114 ohne eine konstante Beziehung zur Wahrheit nicht erreicht werden. Jede das Gerechte bzw. das Ungerechte betreffende Entscheidung muß dem Wahren entspringen, wenn sie an der Tugend Anteil gewinnen soll.115 Für Platons Philosophie erweist sich somit als entscheidend die Antwort auf die jeder gnoseologischen Reflexion zugrundeliegende Frage: Bis zu welchen Punkt und wie kann das erkennende Subjekt eine direkte Beziehung zum Wesen der Dinge bzw. zur Wahrheit erreichen? Das Wahre kann nicht vom Sinnlichen ausgehend erkannt werden (Phaedo 65 a9-c1, c5-9, d11-67 b2). Gerade die Bezie-
353 hung zum Sinnlichen bildet aber die Substanz des Menschseins. Das ˙nyrQpinon ergibt sich aus einer Spaltung der Seele von der Schau der Wahrheit: Die Seele vermenschlicht sich, weil sie nicht mehr fähig ist, dem eigenen Gott zu folgen und dadurch das ˙lhyeíaw pedíon zu schauen (Phdr. 248 b5-d2) bzw. die Beziehung zur Substanz des göttlichen Lebens zu behalten (vgl. Phdr. 247 c4-248 a1). Das Wahre (tò ˙lhyéw) wohnt in der göttlichen Welt (Crat. 408 c5-6), genauer gesagt, fällt mit dem Göttlichen zusammen (vgl. Phaedo 84 a8-9). Die Essenz der Dinge ist von göttlichen Wesen verkörpert,116 die nur ein von jeder Beziehung zur sinnlichen Welt reines (z.B. Resp. 511 b3-d5; Pol. 285 e4-286 a8), göttliches Wissen (Phil. 62 a2-b4) erreichen kann. Wahrheit und Tugend können nie Gegenstand einer ˙nyrvpính sofía werden (Apol. 20 a7-e2; 23 a5-7): Nur die den Göttern eigene sofía (Phdr. 278 d3-4) kann ein direktes Verhältnis zur ˙l}yeia erlangen und dadurch zur wahren ˙ret} führen. Jeder dem ˙nyrQpinon immanente Erkenntnisprozeß stößt an unüberschreitbare Grenzen: Durch seine Verbindung mit dem Körper bleibt das erkennende Subjekt als ƒnyrvpow von der Wahrheit notwendigerweise getrennt, denn alle menschlichen Erkenntnisakte finden von vornherein im Körper eine unüberwindbare Barriere (Phaedo 65 a9-b11, c5-7; 66 a3-7, b5-d7; 79 c2-8; 82 d9-83 c3). Die im ƒnyrvpow verkörperte Individualität ist jedoch in der Lage, ein göttliches Wissen zu erlangen, denn ihr Wesen erschöpft sich nicht im Menschsein. Das Zentrum dieser Individualität bzw. der noûw ist mit dem göttlichen Wesen der Wahrheit verwandt und lebte in direkter Beziehung zur Wahrheit vor der Inkarnation im ˙nyrQpinon (Phdr. 250 b5c6)117, –t& o[k ‘n ƒnyrvpow (Men. 86 a3-4). Wenn der Mensch wieder seiner göttlichen Identität bewußt wird bzw. wenn das erkennende Subjekt die eigene Menschlichkeit überwindet118, ist er in der Lage, wieder zur direkten Schau der Wahrheit zu gelangen, die ihn zu dem seinem Wesen entsprechenden Leben führt (Phdr. 249 c4-d1).
354 Der noûw und seine Tätigkeit (die frónhsiw) bilden die Brükke, die den Menschen mit der ˙l}yeia119 bzw. mit dem Bewußtsein des Göttlichen (Phaedo 79 d1-7) und mit der wahren Tugend verbindet (vgl. Phaedo 69 a6-c3). Ohne Bewußtsein des Göttlichen ist der Mensch nicht in der Lage, die Selbsterkenntnis zu erreichen, denn er kann sich selbst nicht erkennen, wenn er die Wahrheit in Bezug auf die Seele, genauer gesagt in Bezug auf das Zentrum seiner Identität nicht kennt. Die Wahrheit der Seele transzendiert jedoch das Menschliche (Resp. 611 e612 a6)120 und kann nur durch Hinwendung zum Gottähnlichen in der Seele bzw. zum noûw erlebt werden (Alc. I 133 b7-c7). Die Teilhabe eines bestimmten Wesens am Sein entspricht seiner Teilhabe an der Wahrheit.121 So hängt die ontologische Einstufung jedes Wesens von der Länge des Erkenntnisweges, den er zurücklegen kann, bzw. von seiner Beziehung zum noûw ab.122 Je mehr ein Wesen vom noûw durchdrungen ist und die Schau der Wahrheit erreichen kann, desto göttlicher und realer erweist sich seine Existenz.123 Je oberflächlicher seine Beziehung zu noûw und Wahrheit, desto niedriger seine ontologische Einstufung.124 Die Seelen der Menschen befinden sich in der Mitte zwischen Göttlichkeit und Tierheit: lassen sie sich vom eigenen noûw führen und erreichen dadurch die Schau der Wahrheit, dann können sie nach dem Tod wieder in der göttlichen Welt leben; lassen sie sich dagegen durch die Sinne verfinstern und verlieren dadurch jedes Bewußtsein des noûw, dann vergessen sie ihre wahre Natur und stürzen in immer niedrigere Lebensformen hinab. Von dieser Perspektive ausgehend, erweist sich jede skeptische Gnoseologie aus der Sicht der platonischen Philosophie als radikal gegen den Menschen gerichet. Sie würde nämlich das im Menschen verkörperte Subjekt in die Grenzen des Menschlichen zwängen und dadurch von jeder direkten Beziehung zur Wahrheit ausschließen. Eine solche Gnoseologie würde den Menschen zum faden Schatten seiner wahren Natur degradieren und in den Abgrund der Tierheit stürzen. Nur das Vertrauen in die Möglichkeit, das Wahre zu erkennen, kann den
355 ƒnyrvpow von einem solchen Schicksal retten. Die Aufgabe einer wahrhaften Gnoseologie kann für Platon nur darin bestehen, dieses Vertrauen zu vermitteln und den Menschen zur Konzentrierung auf seine göttlichen Fähigkeiten anzuspornen. Nur wenn der ƒnyrvpow sich zum eigenen göttlichen Bestandteil hinwendet, kann er die dem eigenen Wesen entsprechende Beziehung zur Wahrheit wieder gewinnen, die ihn von den ˙nyrQpina kakà befreit (Phaedo 84 a8-b3) und zu einem gottähnlichen Wesen verwandelt.
2) Kosmologie und Anthropologie Das Weltall wurde als Abbild (e†kQn) eines göttlichen Urbilds (parádeigma) geschaffen (Tim. 28 c6-29 a6). Sein Schöpfer wollte alle Dinge sich selbst möglichst angleichen (Tim. 29 e23) bzw. ihnen die höchstmögliche Teilhabe am Guten vermitteln (Tim. 30 a2). Deswegen hat er die Materie dem Chaos entrissen und sie in einen wohlgeordneten Organismus (kósmow) eingefügt, der sie mit dem Intelligiblen verbindet und somit zur Teilhabe am Guten und Schönen führt (vgl. Tim. 30 a-b). Der Kosmos wurde vom Demiurgen so gestaltet, daß die Materie vom Leben durchdrungen wird und dadurch sich mit einem intelligiblen Prinzip bzw. mit einem noûw verbinden kann (Tim. 30 b6c1; vgl. Pol. 269 d1), der sie zum Guten hinorientiert. Der Demiurg stellt das höchste Intelligible dar (das ƒriston tôn nohtôn ˙eí te ªntvn von Tim. 37 a1). Da er alle Dinge seinem Wesen angleichen will, vermittelt er dem von ihm erzeugten Kosmos soweit wie möglich seine eigene Form, die Form des Besten unter den Wesen bzw. die †déa toû ˙rístou (Tim. 46 c8-d1)125, genauer gesagt die Idee des Guten, ƒriston \n toîw o{si (Resp 532 c5-6)126. Die `moívsiw t! ˙ríst~ ist das télow, nach dem der Demiurg die eigene Tätigkeit richtet: Der von ihm geschaffene kósmow muß dem schönsten und vollkommensten unter den Intelligiblen (bzw. dem Demiurgen selbst!) gleich
356 (–moiow) werden,127 seine Natur nachahmen,128 die die intelligible Welt durchdringende Ordnung widerspiegeln und zum Abbild der intelligiblen Götter werden (tôn ˙ïdívn yeôn … ƒgalma Tim. 37 c6-7). Die intelligible Welt wird von kósmow und Gerechtigkeit (Resp. 500 c3-5) bzw. vom Guten beherrscht; nach diesem Vorbild gestaltet, erweist sich das Weltall als ein vom noûw beherrschter und geordneter göttlicher kósmow (vgl. Phil. 28 c6-8, d5-e6; 30 c4-7, d1-8), als eine von ethischer Substanz gebildete (vgl. Gorg. 507 e6-508 a3), vom Guten zusammengehaltene Welt (vgl. Phaedo 99 c1-6).129 Die Beschaffenheit des Kosmos ist von zwei Naturen geprägt: Von der intelligiblen Natur einerseits, dessen Kern vom noûw bzw. vom göttlichen Wesen (noûw = yeów Tim. 47 b6-c3) gebildet wird, das den Kosmos lenkt und seine ordnungsmäßige Bewegung bestimmt; von der sinnlichen Natur bzw. vom sôma `ratón (Tim. 36 e5) andererseits, das aus dem Kosmos einen yeòw a†syhtów macht (Tim. 92 c7). Das télow des Weltalls besteht im von der Tätigkeit des noûw (von der frónhsiw) durchdrungenen Leben (das ƒpaustow kaì ¡mfrvn bíow von Tim. 36 e4), durch das der Kosmos zu einer vollen Offenbarung seines göttlichen Urbilds wird. Würde der sinnliche Bestandteil des Kosmos nicht vom noûw bzw. von einem göttlichen Prinzip gelenkt werden, tendierte er unvermeidlich in das seiner ursprünglichen Natur entsprechende Chaos und entfernte sich dadurch von jeder Beziehung zum Guten.130 Nur ein noûw bzw. ein ordnungsstiftender Gott kann die Materie zum kálliston–ƒriston hinlenken (vgl. Tim. 53 b5-7) und sie von ihrem wesenslosen Zerstreuungszustand befreien,131 indem er sie zur Teilhabe am lógow und am métron132 bzw. am göttlichen kósmow führt. Nur wenn das Weltall dem ihm innewohnenden noûw bzw. Gott folgt (∞pómenow ye!!), kann es als kósmow leben und dadurch in seinem Leben die mit seinem télow identische †déa offenbaren, die †déa toû ˙rístou (Tim. 46c 8-d1). Das Ziel des Kosmos und jedes seiner Bestandteile besteht in der `moívsiw ye!, in der Angleichung an den Schöpfergott
357 (Tim. 29 e2-3). Der Kosmos ist ein als Abbild des intelligiblen Gottes geschaffener wahrnehmbarer Gott (Tim. 92 c7 e†kWn toû nohtoû yeòw a†syhtów133). Die Göttlichkeit jedes seiner Bestandteile und dessen ontologische Einstufung entsprechen der Rolle, die das Intelligible in seinem Leben spielt. In der Seinshierarchie befindet sich der Mensch in einer mittleren Stellung, denn einerseits ist er als Mensch nicht unsterblich und deswegen ist ihm das unmittelbare Bewußtsein der eigenen intelligiblen Natur nicht eingeboren, andererseits ist er das höchste sterbliche Wesen und kann sich zum direkten Bewußtsein des Intelligiblen erheben, das ihn von seiner Sterblichkeit reinigt. Durch das ˙nyrQpinon eÂdow kann sich das Sterbliche im Kosmos zum vollen Bewußtsein der eigenen Teilhabe am Intelligiblen erheben. Diese der sterblichen Natur durch ihr Eingefügtsein in den kósmow zugeteilte Teilhabe braucht den Menschen, um sich in ihrer Fülle zu offenbaren bzw. um die Sphäre des Bewußtseins zu erreichen. In Platons Philosophie erweisen sich Anthropologie und Kosmologie als sehr eng miteinander verwoben. Der Mensch wurde als vollkommenes Abbild des Kosmos geschaffen; so kann er die Selbsterkenntnis nicht erreichen, wenn er die Natur des Kosmos nicht kennt.134 Durch die kosmologische Betrachtung erkennt der ƒnyrvpow das Urbild des eigenen Wesens und wird dadurch zum Bewußtsein der eigenen wahren Natur geführt. Sowohl im Kosmos wie auch im Menschen koexistieren eine sinnliche und eine intelligible Natur. Bei der Gestaltung des menschlichen Leibes imitieren die Götter die Schöpfertätigkeit des Demiurgen (mimoúmenoi Tim. 41 c5, 42 e8, 69 c5), so daß der Leib und sein Leben den Kosmos widerspiegeln.135 Bei der Schaffung der menschlichen Seele verfährt der Demiurg analog wie bei der Schaffung der Weltseele, nur von einem weniger reinen Substrat ausgehend (Tim. 41 d4-7). Wie dem Kosmos, so wurde auch dem Menschen ein noûw zugeteilt, der direkt vom Demiurgen stammt (Tim. 41 c6-9) und den Kern des ƒnyrvpow bildet. Das gottgewollte télow des Menschen besteht im durch
358 den noûw gelenkten Leben (Tim. 41 c7-8; 90 d5-7). Die Erlangung dieses Ziels wird aber vom Körper erschwert, der mit seinen Leidenschaften die Tätigkeit des noûw betrübt und verfinstert (vgl. Tim. 42 a3-b1, e7-44 a; 69 c6-d6136). Wie die sinnliche Natur den Kosmos der Lenkung des noûw entreißen und dadurch zum Bösen hinneigen kann (Pol. 273 a4-d4), so kann der Mensch unter Einfluß des Körpers das Bewußtsein des noûw bzw. der eigenen göttlichen Natur verlieren.137 Nur durch den noûw kann sich der Mensch zum göttlichen Leben, zur \n o[ran! suggéneia erheben, von der das Leben auf der Erde ihn fernhält (Tim. 90 a2-7). Die Verbindung mit dem Körper wendet den noûw vom Göttlichen ab, denn sie schaltet sich in seine Bewegungen ein und bringt sie in Unordnung (Tim. 47 c1-4; 90 d1-2); so kann sie jede Beziehung des Denkens zur göttlichen Welt verhindern, wenn sie nicht aufgewogen wird. Die Hinwendung der Gedanken zum Göttlichen kann durch die Betrachtung des Kosmos wiederhergestellt werden. Die Bewegungen des menschlichen noûw sind nämlich mit den Bewegungen des kosmischen noûw verwandt (Tim. 47 b7-c1; 90 c7-d1); deswegen kann die Tätigkeit des noûw durch die Konzentrierung auf diese Bewegungen wieder zu ihrem Urbild geführt werden. Dadurch gleicht der noûw allmählich wieder die eigenen den kosmischen Bewegungen an und kehrt zu seiner ursprünglichen Beziehung zum Göttlichen zurück (Tim. 47 b6-c4).138 Dank dieser Angleichung an das Göttliche im Kosmos kann sich der Mensch nach dem Tod wieder zum seiner Natur bzw. der Natur eines himmlischen Wesens (futòn o[k ¡ggeion ˙llà o[ránion Tim. 90 a6-7) angemessenen Leben erheben (Tim. 90 c7-d7139). Durch den das göttliche Leben des Kosmos nachahmenden (mimoúmenoi Tim. 47 c2) und sich ihm angleichenden (\jomoiôsai Tim. 90 d4, `moiQsanta d5) noûw stellt der ƒnyrvpow das richtige Verhältnis zu seiner wahren Natur wieder her. Im Weltall und in seinem Leben findet der Mensch seine eigene Essenz und sein eigenes télow widergespiegelt. Deswegen führt ihn jede auf die Wahrheit gerichtete kosmologische Be-
359 trachtung zur Wiedererinnerung an sein Wesen und spornt ihn zur `moívsiw ye! an. Indem der Kosmos die †déa toû ˙rístou (Tim. 46 c8-d1) bzw. die Idee des Guten, ƒriston \n toîw o{si (Resp. 532 c5-6) nachahmt und soweit wie möglich verkörpert, offenbart er dem Menschen die Realität, die jede Dimension seines Lebens durchdringen und verwandeln muß. So erweist sich die Kosmologie in Platons Denken als sehr eng mit der Ethik verwoben140: Durch die Betrachtung des im Weltall waltenden kósmow wird der Mensch zur Erkenntnis und Nachahmung des urbildlichen bzw. intelligiblen kósmow geführt, der, wenn er zur Substanz seines Lebens wird, den Menschen zu einem göttlichen Wesen verwandelt (vgl. Resp. 500 c2-d2). In Platons Philosophie zeigen sich Anthropologie und Kosmologie als durch eine gemeinsame ethische Perspektive geprägt und miteinander unauflösbar verbunden. Die Substanz dieser Perspektive besteht in der Offenbarung des Guten in der sinnlichen Welt. Der ƒnyrvpow ist das einzige von der Materie durchdrungene Wesen, das eine Brücke zwischen dem sterblichen Bestandteil des Kosmos und dem Bewußtsein des Guten bauen kann.141 Im Menschen erreicht die sterbliche Natur die eigene `moívsiw ye!, denn das Bewußtsein des Guten bildet die Substanz der Göttlichkeit. Ohne den ƒnyrvpow wäre das ynhtón nicht in der Lage, sich durch irgendeine seiner Erscheinungen vom Gepräge des Chaos zu befreien, denn es würde nie einen direkten bzw. bewußten Anteil am Guten gewinnen. Ein direktes Verhältnis zum Guten ist nämlich nur für ein Wesen erreichbar, das sich bewußt zum noûw hinwenden kann. Dieses Wesen bzw. der ƒnyrvpow ist wie ein Gott für die anderen sterblichen génh, die er regieren (vgl. Pol. 271 e5-7) bzw. durch den eigenen noûw zu ihrem Guten führen soll. So spiegelt das Verhältnis des Menschen den sterblichen Wesen gegenüber die zwischen dem Demiurgen bzw. dem höchsten noûw142 und dem Weltall bestehende Beziehung wider. Nur wenn der Mensch zu einem Nachahmer des Demiurgen bzw. zu einem bewußten und bedingungslosen Weitergeber des Guten den ihm anvertrauten Wesen
360 gegenüber wird, kann er sich mit der eigenen göttlichen Natur wieder verbinden und dadurch vom Wie-ein-Gott-Sein zum Leben der Götter erheben. 3) Ethik und Ontologie143 Das Gerechte (díkaion) ist Kern und Substanz der platonischen Ethik. Die Gerechtigkeit (dikaiosúnh) besteht im tà aøtoû práttein (vgl. z.B. Resp. 433 b4, d8-e1; 433 e12-434 a1; 441 d8-e2; 443 b1-6): Der Gerechte tut das Eigene, das der Wahrheit der eigenen Natur Zugehörige bzw. handelt dem eigenen Wesen entsprechend. In dieser Übereinstimmung des Handelns mit dem Wesen des Handelnden besteht die Tugend, die ˙ret}: Als tugendhaft erweist sich derjenige, der das eigene Handeln zu einer unmittelbaren Manifestation der eigenen Essenz bzw. der sie konstituierenden Wahrheit macht, derjenige, in dessen Dasein sich das Gute bzw. das Prinzip jeder Wahrheit (Resp. 508 e3-509 a1, a6-7; 517 c4), mithin jedes Wesens und Seins (Resp. 509 b2-10) offenbaren kann. Das höchste Prinzip der Wirklichkeit ist für Platon ein ethisches Prinzip, es ist mit dem höchsten Guten identisch, aus dem jede Seinsform hervorgeht. Deswegen erweist sich die Platons Philosophie eigene Ontologie notwendigerweise als eine ethische Ontologie: Alle Seinsformen werden vom Guten transzendiert und begründet (Resp. 509 b6-10) bzw. bestehen nur insofern, als sie gutförmig sind (˙gayoeid}w Resp. 509 a3). Das Wesen jeder Seinsform ergibt sich aus ihrer Beziehung zum Guten und aus der Qualität dieser Beziehung; ihre ˙ret} besteht in dem, was aus ihrem Dasein eine Offenbarung ihres Verhältnisses zum Guten bzw. ihres Wesens macht; ihre Einstufung in der Seinshierarchie entspricht der Tiefe ihres Verhältnisses zum Guten, ihrer ˙ret} und dikaiosúnh bzw. ihrer Fähigkeit, aus sich selbst eine Offenbarung des Guten zu machen. So bewohnen die intelligiblen Wesen (die ˙fidioi yeoí von Tim. 37 c6) die höch-
361 sten Seinssphären, denn ihr vom noûw vollständig durchdrungenes Dasein weist die denkbar engste Beziehung zum Guten auf und kongruiert somit mit ihrem Wesen. Anders gesagt, bekommen die Intelligiblen die denkbar höchste Teilhabe am Sein zugeteilt, weil die Substanz ihres Lebens aus Tugend und Gerechtigkeit besteht (Resp. 500 c2-5), weil ihr Dasein ihre Natur unmittelbar manifestiert und dadurch unmittelbar zu einer direkten Offenbarung des Guten wird. Das Weltall wurde als Abbild der intelligiblen Welt geschaffen: Wie die intelligible Welt (Resp. 500 c4-5) zeigt es sich als ein vom Guten und von der Gerechtigkeit durchdrungener und zusammengehaltener göttlicher kósmow (Phaedo 99 c1-6; Gorg. 507 e6-508 a3). Den geschaffenen Göttern kommt die höchste Teilhabe an der ethischen Substanz des Kosmos zu, weil sie direkt aus dem Demiurgen stammen (Tim. 41 a7-c3; 69 c3) und somit das seine Tätigkeit begründende und durchdringende Gute unmittelbar offenbaren können. Jeder Gott lebt práttvn … tò aøtoû (Phdr. 247 a6); somit durchdringen Tugend und Gerechtigkeit jede Sphäre der göttlichen Welt, die überhimmlische (Phdr. 247 d5-6; Resp. 500 c2-5) sowie die himmlische (Gorg. 507 e6-508 a2; Phdr. 247 a5-6; Theaet. 176 b8-c4). Der Mensch soll zu einem Abbild der göttlichen Gerechtigkeit bzw. kósmiow und díkaiow wie die Götter werden (Resp. 500c2-d1). Sein individuelles und soziales Leben soll zu einer bewußten Widerspiegelung des mittels der Tugend und der Gerechtigkeit das Weltall zusammenhaltenden kósmow werden (vgl. Gorg. 507 e6-508 a3).144 Deswegen sollen sowohl das Individuum wie die Struktur der Gesellschaft (die politeía) die gleiche, absolute Form der Gerechtigkeit anstreben (Resp. 435 b1-2; 441 c9-d10; 472 c4-d2)145: Wie der Einzelne das göttliche Urbild jedes gerechten Lebens nachahmen soll (Resp. 500 c27), so soll die póliw dem göttlichen Urbild (yeîon parádeigma) jeder gerechten Gesellschaft (Resp. 500 d10-e3; 540 a6-b1; 592 b2-5) bzw. der politeía gleich werden, nach der die Götter unter Kronos’ Herrschaft die Menschen regierten (Leg. 713 a9-
362 b4, e3-714 a2). Die `moívsiw einer göttlichen Wirklichkeit (`moívsiw ye!!) erweist sich somit als das dem Individuum und dem sozialen Organismus gemeinsame télow. Die póliw existiert für den Menschen, um ihm bei der Erlangung der Tugend zu helfen, um jedes Individuum, soweit wie möglich, zu einer Offenbarung des Guten zu machen und damit an das Göttliche anzunähern. Deswegen soll die gerechte politeía von derselben Tugend und derselben Gerechtigkeit völlig durchdrungen sein, die sie im Individuum erwecken soll. Eine póliw kann nur dadurch gerecht werden, daß sie sich von dem gestalten und lenken läßt, was den Einzelnen zum díkaion führt bzw. nur wenn ihr ganzes Leben unter der Lenkung des noûw steht. Wie die politeía der Seele zu einem kósmow werden soll, in dem jeder Bestandteil, durchdrungen und geführt von der Tätigkeit des noûw, das ihr Zugehörige tut (tà ∞autoû práttei, vgl. bes. Resp. 443 c4-444 a2; 586 e4-587 a1), so soll die soziale Ordnung auf dem Gehorsam gegenüber dem Unsterblichen im Menschen fußen bzw. aus der Herrschaft des noûw (toû noû dianom}: Leg. 713 e8-714 a2) hervorgehen. Nur der noûw ist in der Lage, das Individuum sowie die Gesellschaft zu Tugend und Gerechtigkeit zu führen; nur mittels seiner Tätigkeit (mittels der frónhsiw) kann der Mensch jedes Ding in ihrer Wahrheit bzw. in ihrer Beziehung zum Guten betrachten und somit bei jedem Seienden das erkennen, von dem ausgehend das jeweilige Seiende zum tà aøtoû práttein und dadurch zur Offenbarung der eigenen ˙ret} kommt. Es kann sich keine wahre Tugend ergeben ohne frónhsiw, ohne Erkenntnis der Wahrheit über sich selbst und über die Natur der Dinge. Diese Erkenntnis impliziert nämlich ein direktes und bewußtes Verhältnis zum Guten, zum Prinzip jeder wahrhaften ˙ret}. Im Guten wurzelt die Natur jedes Wesens bzw. die Wirklichkeit, zu der sich jedes Wesen hinwenden muß, wenn es seine Tugend und somit das seiner Natur entsprechende Leben erlangen soll. Wer das Gute kennt, ist folglich in der Lage, nicht nur für sich die Tugend zu erreichen, sondern auch jedes
363 andere Wesen zu seiner ˙ret} zu führen, das ein bewußtes Verhältnis zum Guten nicht erlangen kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß die Herrscher des sozialen Organismus die Erkenntnis des Guten und des Wahren als Zentrum des eigenen Lebens betrachten bzw. daß die Gesellschaft von filósofoi regiert wird. Philosophie konzentriert das Individuum auf die Tätigkeit des noûw und führt es dadurch zur direkten und bewußten Erfahrung des Guten. Diese Erfahrung stellt die notwendige und genügende Voraussetzung zum Erlangen der wahren Tugend dar, die nur als ˙ret| metà fron}sevw146 bzw. als vom Bewußtsein des Guten beleuchtete Tugend bestehen kann. Ohne Erkenntnis des Guten kann eine tugendhafte Handlung nie aus einem freien Willen hervorgehen, sondern bleibt eine irgendwie aufgezwungene Wirklichkeit, die der Gewohnheit, dem Schmerz oder der Lust entspringt.147 Eine solche Handlung führt nicht zur wahren, sondern zur sklavenmäßigen ˙ret} (˙ret| ˙ndrapodQdhw Phaedo 69 b7-8), die ständig durch die Herrschaft der freien Menschen bzw. der Philosophen erweckt werden soll.148 Diese Tugend ist nie in der Lage, den Menschen mit seiner göttlichen Natur wieder zu verbinden, denn sie bleibt immer durch den Einfluß des Körpers bedingt (Phaedo 68 b8-69 d3) und transzendiert nie das Menschliche: Sie läßt das Wesen des Menschen nur flüchtig erblicken, ohne durch sein Licht das Dasein des Menschen völlig zu erfüllen und somit zu vergöttlichen. Das Gute kann nur denjenigen erleuchten, der das eigene Dasein durch ständige Hinwendung zu seinem Licht von ihm völlig durchdringen läßt. Das Gute kann nur derjenige schauen, der vollkommen gut ist. Um zum direkten Erlebnis des Guten zu gelangen, muß das Subjekt jede Dimension des eigenen Daseins umorientieren, von jeder einseitigen Verhaftung im Menschlichen befreien und nach der höchsten Göttlichkeit des von ihm angestrebten télow gestalten. Durch diese vollständige Umgestaltung des eigenen Daseins wird das Individuum verwandelt: Indem der Mensch die Schau des höchsten Guten erstrebt und erlebt, schafft er sich die Vorbedingungen für einen ontologi-
364 schen Sprung, für die eigene Erhebung zu einer höheren Seinssphäre. Jeder tópow der Seinshierarchie entspricht nämlich einer bestimmten Art des Verhältnisses zum Guten bzw. der Fähigkeit, aus sich selbst eine bewußte Offenbarung der eigenen ˙ret} zu machen (vgl. Theaet. 177 a3-8; Leg. 903 d3-e1; 904 b6-8, c9-e3), sodaß die ontologische Einstufung jedes Wesens zu einer ethischen Tatsache wird.149 Indem der Mensch die ˙ret| metà fron}sevw übt, schafft er sich das gleiche Verhältnis zum Guten, das die Substanz des göttlichen Lebens bildet150: Sein Wesen kann sich durch sein Dasein in der eigenen Fülle offenbaren, bzw. seine ˙ret} durchdringt sein Dasein vollständig und führt es zur Vergöttlichung. Deswegen kann der díkaiow metà fron}sevw nach dem Tod in das génow yeôn aufgenommen werden (Phaedo 82 b10-c1; vgl. 69 a6-c7; 81 a8-10). Das télow der platonischen Ethik besteht in der Transhumanierung des ƒnyrvpow, in der Umwandlung, die sein Dasein zu einer vollen Offenbarung seines göttlichen Wesens macht. Dieses Ziel kann nur durch Hilfe der Philosophie erreicht werden, denn durch die konstante Hinwendung zum Guten reinigt ihr Erkenntnisweg das Handeln von jedem der göttlichen Natur des Menschen fremden Einfluß. Der Philosoph handelt aus einem direkten Verhältnis zum Guten bzw. zum Urgrund jeder Essenz; so erweisen sich seine Handlungen immer als mit der ˙ret} übereinstimmend: Sie schaffen eine konstante, enge Beziehung zwischen dem Dasein und dem Wesen des Subjekts und führen somit stets zum tà aøtoû práttein, zur Gerechtigkeit. Indem der Philosoph die wahre Tugend permanent übt, überwindet er jede Spaltung von der eigenen wahren Natur und wird dadurch fähig, das aus dieser schmerzvollen Spaltung bestehende ˙nyrQpinon zu transzendieren: So stellt er die Vollkommenheit und die Ganzheit bzw. die Wahrheit des eigenen Seins wieder her (vgl. téleow Phdr. 249 c4-8, `lóklhroi 250 c1) und wird den in voller und bewußter Harmonie mit der eigenen Natur lebenden Wesen ähnlich bzw. –moiow ye!.151 Das Leben des Philosophen ist vollständig dem tà aøtoû
365 práttein, der Gerechtigkeit zugewandt (vgl. Apol. 33 a6; Gorg. 526 c3-5; Resp. 496 d6). Das tà aøtoû práttein bildet die Substanz der intelligiblen Welt bzw. des kósmow, den der Mensch nachahmen soll (Resp. 500 c2-7), wenn er in Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen leben und dadurch yeîow kaì kósmiow werden will (Resp. 500 c9-d1). Jeder Gott lebt von der Gerechtigkeit durchdrungen, tò aøtoû práttei (Phdr. 247 a5-6). So wird der Mensch, der tà aøtoû práttvn lebt, immer mehr gottähnlich, transzendiert allmählich jede Verbindung mit dem Menschlichen und erreicht nach dem Tod die Befreiung von den ˙nyrQpina kaká (Phaedo 84 a8-b3) bzw. die e[daimonía, die im Leben zusammen mit den Göttern (Phaedo 69 c6-7; 81 a910; 82 b10-c1) auf den Inseln der Seligen (Gorg. 526 c3-5; Resp. 540 b6-c2) besteht. Vom ˙nyrQpinon ausgehend sind weder das Individuum noch die Gesellschaft in der Lage, die e[daimonía bzw. das der eigenen wahren Natur entsprechende Schicksal (daímvn) zu erlangen.152 Wenn der Mensch im eigenen Handeln nur die ˙nyrvpính fúsiw offenbart, dann wird er notwendigerweise kaków (Leg. 947 e7-8153) bzw. verliert jede Beziehung zum Guten: Wenn er das ˙nyrQpinon vom Göttlichen trennt, gestaltet sich der Mensch immer mehr nach seiner titanischen Natur und verstrickt sich immer hoffnungsloser in das Böse (vgl. Leg. 701 c2-4154), weil er, wie die Titanen, der Führung der Götter widerstrebt. Nur das vom noûw gelenkte Leben und die Nachahmung des Göttlichen können Individuum und Gesellschaft vom Bösen befreien und somit zur e[daimonía führen.155 Das Glücklichsein besteht im von ˙ret} und Gerechtigkeit durchdrungenen Leben. Dieser gottgewollte bíow e[daímvn (Tim. 42 b3-5; 90 d5-7) entspricht der wahren Natur des Menschen (vgl. sun}yhw Tim. 42 b5) und schenkt ihm deswegen den höchsten Anteil am Guten. Um den e[daímvn bíow zu erlangen, muß der Mensch jedoch das ˙nyrQpinon völlig transzendieren und aus sich selbst eine Offenbarung der eigenen göttlichen Natur machen.156 Nur so kann er das konstante und direkte Verhältnis
366 zum Guten erlangen, in dem die e[daimonía besteht.157 Philosophie erweist sich als eine unverzichtbare Stütze auf dem Weg zur e[daimonía, weil sie schon während des Lebens in der sinnlichen Welt das ganze Dasein des Menschen auf das Gute hin orientiert.158 Das von der ˙ret} durchdrungene Leben ist télow und Substanz der platonischen Philosophie. Platons Philosophie will den Menschen mit seinem göttlichen Wesen wieder verbinden, indem sie ihn zur Tugend der Götter führt. Diese göttliche Tugend kann nur mit Hilfe eines Erkenntnisweges erreicht werden, der durch eine immer integralere Schau des Seins und der Wahrheit zur Quelle jeder Tugend bzw. zum direkten Erlebnis des höchsten Guten führt. Seinerseits muß der philosophische Erkenntnisweg jedoch von einem seinem télow immer mehr angemessenen Handeln begleitet werden: Die Wurzel jeder Tugend kann nicht geschaut werden, wenn das Handeln des erkennenden Subjekts sich nicht vollständig nach der wahren Tugend richtet, wenn das Subjekt nicht vollkommen gut und gerecht wird. Nur derjenige, der konstant die wahre Tugend übt, kann bis zum Gipfel den erkenntnismäßigen Aufstieg der Seinshierarchie, die toû ªntow \pánodow (Resp. 521 c7; 532 b8; vgl. 511 b6; 532 c5; Symp. 211 c1-3) zurücklegen: Jeder Stufe entspricht nämlich eine immer tiefere Teilhabe am Guten,159 bis zum Punkt, an dem, am Ziel des Weges (télow têw poreíaw Resp. 532 e3; vgl. Symp. 210 e4; 211 b7), das Seelenauge vom Licht des höchsten Guten-Schönen erleuchtet wird. In Platons Philosophie darf die erkenntnismäßige nie von der praktischen Dimension getrennt werden. Die Erkennbarkeit eines Wesens entspricht seinem Anteil am Sein (Resp. 476 e6477 a5) bzw. am sich im höchsten Sein unmittelbar manifestierenden höchsten Guten. Daraus folgt notwendigerweise, daß kein Subjekt eine tiefe und integrale Erkenntnis des Seins erreichen kann, wenn es nicht vollständig dem Guten zugewandt lebt. Das nach dem Guten gerichtete Handeln stellt somit die notwendige Voraussetzung zur wahren Erkenntnis dar. Andererseits
367 kann nur die Schau des höchsten Prinzips zu einem wahrhaft und vollkommen nach dem Guten gerichteten Handeln führen. Erkennen und Handeln bilden folglich eine lebendige Einheit, deren Bestandteile nie als voneinander unabhängig betrachtet werden dürfen. In der Erfahrung dieser Einheit erlebt der Philosoph eine Vorwegnahme des göttlichen Lebens. Die Götter sind göttlich, weil die volle Kongruenz zwischen Schau des Guten und Handeln nach dem Guten die Substanz ihres Lebens bildet. Diese Substanz ist Quelle und Nahrung der Philosophie; sie ist die Wirklichkeit, an der der Mensch durch Hilfe der Philosophie Anteil gewinnen soll; sie bildet die Wurzel der `moívsiw ye!.
4) Fazit Die ˙lhy|w filosofía bildet einen einheitlichen Organismus, in dem jeder Bestandteil Form und Nahrung von der direkten Erfahrung bzw. von der yevría des Göttlichen bekommt und in voller Synergie mit den anderen zu dieser Erfahrung führt. So darf eine einzelne Dimension der platonischen Philosophie nie von den anderen isoliert betrachtet und zum Zentrum des Philosophierens gemacht werden. Die vielen Dimensionen, in die sich der einheitliche Organismus der Philosophie gliedert, sollen nur den das Leben des Menschen prägenden Mangel an Einheit widerspiegeln. So bewirkt die Isolierung einer einzelnen Dimension von der zusammen mit den anderen gebildeten göttlichen Einheit die Erstarrung dieser Dimension in einer für sie unnatürlichen exklusiven Beziehung zum ˙nyrQpinon. Folglich bleibt der auf diese Weise betrachtete Aspekt der Philosophie gerade in der Sphäre gefangen, die der wahre Philosoph transzendieren will. Die ˙lhy|w filosofía kann ihr Zentrum nie in etwas haben, das im Menschlichen wurzelt: Das Zentrum, das jede ihrer Sphären gleichzeitig transzendiert und begründet, liegt in der göttlichen Welt. Alle Aspekte der Philosophie haben in der Wiedervereinigung des ƒnyrvpow mit seiner göttlichen
368 Natur ihr Sinntragendes. Wenn einerseits ihre Vielheit die Vielfältigkeit des Menschen widerspiegelt, wurzelt andererseits jeder von ihnen in der Einheit des télow, auf das der ganze Organismus der Philosophie zielt. Dieses télow(-súndesmow), das aus allen Komponenten der ˙lhy|w filosofía eine göttliche Einheit bildet, ist die `moívsiw ye!. Anmerkungen * Im Folgenden wird der Grundriß einer systematischen Untersuchung über den Begriff der `moívsiw ye! in Platons Philosophie vorgestellt. Die vorliegende Darstellung will Ansätze und Anregungen für die Diskussion eines zentralen Bestandteils des platonischen Denkens anbieten, ohne irgendeine Form von Ausführlichkeit anzustreben. Zwei Aspekte des behandelten Themas werden hier ausgelassen, da sie erst in einem umfangreicheren Kontext Gegenstand einer angemessenen Erörterung werden können: a) Die Beziehung zwischen den Mysterien und dem Begriff der `moívsiw ye! b) Die Rezeption der Idee der `moívsiw ye! im antiken Platonismus. Aus Platzgründen wird hier von vornherein, wenige Fälle ausgenommen, auf eine Diskussion der Sekundärliteratur verzichtet, und die bibliographischen Hinweise werden auf das Wesentlichste beschränkt. Aus demselben Grund wird jede ausführliche methodologische Reflexion ausgelassen. Dieser Beitrag ist Ergebnis meines Forschungsaufenthalts am Philologischen Seminar der Universität Tübingen (Febr. 2002-Apr. 2003). Dieser Aufenthalt wurde durch ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung finanziert, der ich hier meinen herzlichen Dank ausspreche. Mein Gastgeber, Prof. Thomas Alexander Szlezák, hat meine Forschungen immer mit großzügigem Interesse, stetem Ansporn und vielen anregenden Gesprächen begleitet; dafür und für den anhaltenden, stets wertvollen Ideenaustausch bin ich ihm tief dankbar. 1 In der modernen Platonforschung wurde die `moívsiw ye! selten Gegenstand angemessener Aufmerksamkeit. C.G. Rutenbers Buch (The Doctrine of the Imitation of God in Plato, Philadelphia 1946) stellt den einzigen mir bekannten Versuch dar, den Begriff der `moívsiw ye! möglichst ausführlich zu erörtern. Trotz ihrer Verdienste bleibt aber Rutenbers Untersuchung in wesentlichen Punkten unbefriedigend: a) Die von Platon mit den Begriffen Imitation und Angleichung verbundenen Lexeme werden von Rutenber als synonym betrachtet (in Rutenber, S.18-26 wird der Gebrauch von parapl}siow, –moiow/-óv, `moívsiw, méyejiw, mímhsiw analysiert), was aber der Wirklichkeit und dem von Rutenber selbst angeführten Belegen widerspricht. b) Die Vorstellung der Angleichung an Gott darf nicht als Frucht einer „new idea“ betrachtet werden (vgl. Rutenber, S. 1-2), die erst an einem bestimmten Punkt in der platonischen Philosophie auftritt. Auch wenn sie nicht explizit formu-
369 liert wird, ist diese Idee in Dialogen wie dem Phaidon, dem Gorgias und dem Symposion stark präsent, die Rutenber als früher betrachtet (Rutenber, S. 3). c) In Rutenbers Buch fehlt eine ausführliche Erörterung des platonischen Philosophiebegriffs. d) Wichtige Voraussetzungen der Angleichung an Gott werden nicht oder nicht angemessen behandelt: Der Begriff der Allverwandtschaft; das Prinzip „tò –moion t! `moí~ fílon“; die suggéneia des Menschen mit dem Göttlichen; die von der Dialektik bei der Erlangung der Angleichung an Gott geleistete Hilfe. Nach Rutenbers Buch ist Platons Begriff der `moívsiw ye! nie wieder Gegenstand einer ausführlichen Darstellung gewesen, und Rutenbers Arbeit selbst hat kaum Anklang gefunden. B. Bellettis Beitrag (La dottrina dell’assimilazione a Dio in Platone, Humanitas 37 (1982), S. 937-49) ist die einzige mir bekannte monographische Behandlung dieses Themas vor der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Die Idee der Vergöttlichung des Menschen ist in ihrem vorplatonischen Hintergrund von D. Roloff ausgezeichnet untersucht worden (Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben. Untersuchungen zur Herkunft der platonischen Angleichung an Gott, Berlin 1970); in seinem Buch beschränkt sich die Behandlung der platonischen Belege jedoch auf wenige Seiten (Roloff, S. 198-206; das Gleiche gilt für H. Merkis Untersuchung: ^Omoívsiw ye!: Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa, Freiburg 1952, S. 1-7). Erst in den letzten Jahren scheint Platons Vorstellung der `moívsiw ye! Gegenstand einer breiteren Aufmerksamkeit zu werden: Vgl. Th.A. Szlezák, ‚Menschliche‘ und ‚göttliche‘ Darlegung. Zum ‚theologischen‘ Aspekt des Redens und Schreibens bei Platon, in: H. Cancik (Hrsg.), Geschichte–Tradition–Reflexion, Festschrift für M. Hengel, Band II, Griechische und Römische Religion, Tübingen 1996, S. 251-63; D. Sedley, ‚Becoming like God‘ in the Timaeus and Aristotle, in: T. Calvo/L. Brisson (Hrsg.), Interpreting the Timaeus–Critias. Proceedings of the IV Symposium Platonicum, Sankt Augustin 1997, S. 327-39; ders., The Ideal of Godlikeness, in: G. Fine (Hrsg.), Plato 2. Ethics, Politics, Religion, and the Soul, Oxford 1999, S. 309-28; J. Annas, Platonic Ethics, Old and New, Ithaca/London 1999, S. 52-71; M. Erler, Epicurus as Deus Mortalis: Homoiosis Theoi and Epicurean Self-Cultivation, in: D. Frede/A. Laks (Hrsg.), Traditions of Theology. Studies in Hellenistic Theology, its Background and Aftermath, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 159-81, bes. 159-67. 2 Die vorliegende Arbeit sieht sich im Rahmen einer einheitlichen Interpretation des platonischen Werkes, wobei unter Einheit nicht ein aus der unkritischen Einebnung der Unterschiede unter den einzelnen Schriften resultierendes Konstrukt, sondern eine allen Schriften gemeinsame Grundorientierung verstanden wird, die einem jede Dimension des menschlichen Lebens umfassenden Philosophiebegriff entspringt. Jede platonische Schrift ist implizit oder explizit dahin orientiert, den Adressaten zum Weg der Selbsterkenntnis und der Tugend, das heißt, zum Weg der Philosophie hinzuführen. In einer solchen Orientierung besteht das Gottgefällige, das das philosophische Reden und Schreiben rechtfertigt (vgl. Phdr. 273 e4-8; 274 b9-10; 276 a8-9).
370 Diese Gottbezogenheit des philosophischen Schreibens wurzelt in der Gottbezogenheit des platonischen Philosophiebegriffs. Platons Schriften wollen zum Philosophieren ermuntern, weil das Philosophieren den Menschen zum Göttlichen hinwendet und ihn dadurch zum Leben führt, das seinem Wesen entspricht. Nicht zufällig entdeckt die neuere Forschung wieder die Notwendigkeit, den einzelnen Dialog im Kontext des ganzen Œuvre Platons zu interpretieren: Vgl. z.B. T.A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/New York 1985; ders., Platon lesen, Stuttgart 1993; M. Erler, Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, Berlin/New York 1987; Ch.H. Kahn, Plato and the Socratic Dialogue: The Philosophical Use of a Literary Form, Cambridge 1996; Annas (wie Anm. 1). Wie Schleiermacher Platons Werk als eine Ganzheit betrachtete, so wird es in letzter Zeit immer häufiger als eine durch den platonischen Philosophiebegriff gestiftete Einheit oder als literary plan (vgl. Kahn, xv) interpretiert. Solche ganzheitlichen Ansätze offenbaren immer deutlicher die Grenzen jeder einseitigen entwicklungsgeschichtlichen Platoninterpretation und sind immer mehr in der Lage, deren Grundpostulat (scil. wenn ein bestimmter Inhalt in einer früheren Schrift nicht explizit vorkommt, setze das voraus, daß Platon ihn ignoriert) überzeugend zu unterminieren. Außerdem ist die herkömmliche Chronologie der platonischen Schriften in der neusten Forschung gründlich hinterfragt worden, was oft zu einer sehr kritischen Haltung ihren Grundlagen gegenüber geführt hat: Vgl. H. Thesleff, Studies in Platonic Chronology, Helsinki 1982; ders., Platonic Chronology, Phronesis 34 (1989), S. 1-26; J. Howland, Re-Reading Plato: The Problem of Platonic Chronology, Phoenix 45 (1991), S. 189-214; P. Keyser, Brin Mawr Class. Rev. 2 (1991), S. 402-27 und 3 (1992), S. 58-74; T.M. Robinson, Plato and the Computer, Ancient Philosophy 13 (1993), S. 375-82; Ch.M. Young, Plato and the Computer Dating, Oxford Studies in Ancient Philosophy 12 (1994), S. 227-50; D. Nails, Agora, Academy, and the Conduct of Philosophy, Dordrecht 1995, S. 53-135. 3 Dazu vgl. K. Albert, Griechische Religion und platonische Philosophie, Hamburg 1980; ders., Über Platons Begriff der Philosophie, Sankt Augustin 1989; Ch. Schefer, Platon und Apollon. Vom Logos zurück zum Mythos, Sankt Augustin 1996; dies., Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon, Basel 2001. 4 Apol. 23 b7, c1; 28 e4-6 (vgl. 33 c4-7 und Theaet. 150 c3-d); 29 d330 a3; 30 a5-7. 5 Apol. 29 e1-2 fron}sevw dè kaì ˙lhyeíaw kaì têw cuxêw –pvw qw beltísth ¡stai; 31 b5 \pimeleîsyai ˙retêw (vgl. 30 a1 und 38 a2). 6 Zur Beziehung zwischen tugendhaftem Leben und Wohl des Menschen bzw. e[daimonía vgl. Apol. 30 a9-b4; 36 c5-d10. 7 Zur Polarität zwischen der nichtsnutzigen ˙nyrvpính sofía und der wahren, göttlichen sofía vgl. Apol. 20 d7-e1; 23 a 5-7. 8 Apol. 29 d9-e3 xrhmátvn mèn o[k a†sxún+ \pimeloúmenow –pvw soi ¡stai qw pleîsta, kaì dójhw kaì timêw, fron}sevw dè kaì ˙lhyeíaw kaì têw cuxêw –pvw qw beltísth ¡stai o[k \pimel_ o[dè frontízeiw; 30 a7-b2
371 o[dèn gàr ƒllo práttvn \gW peiérxomai … peíyvn ømôn … m}te svmátvn \pimeleîsyai m}te xrhmátvn próteron mhdè oπtv sfódra qw têw cuxêw –pvw qw ˙rísth ¡stai, 36 c5-8. 9 Apol. 31 a8-b5 –ti d& \gW tugxánv çn toioûtow o
372 sich (vgl. die von Diotima vorgeschlagene Gleichsetzung zwischen kalón und ˙gayón in Symp. 204 e1-3). Dazu vgl. Resp. 505 b3; 508 e4-6; 509 a6-7; Phdr. 246 e1 und H.J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959 [Amsterdam 19672], S. 497-9. 21 Das Leben der Götter besteht in der konstanten Beziehung zum Guten bzw. zum Schönen (Symp. 202 c6-11), aus der jede Form von Tugend hervorspringt. 22 … o[k \nyum_ … –ti \ntaûya a[t! monaxoû gen}setai, `rônti > `ratòn tò kalón, tíktein o[k eÊdvla ˙retêw, ßte o[k e†dQlou \faptomén~, ˙llà ˙lhyê, ßte toû ˙lhyoûw \faptomén~: tekónti dè ˙ret|n ˙lhyê kaì yrecamén~ øpárxei yeofileî genésyai, kaì eÊpér t~ ƒll~ ˙nyrQpvn ˙yanát~ kaì \keín~; 23 Durch die verschiedenen menschlichen Formen von Liebe kann nur ein eÊdvlon der Unsterblichkeit erreicht werden, sei es der einfache Akt der Fortpflanzung, durch den das Individuum die eigene Perpetuierung in der Gattung erstrebt, sei es die Reproduktion der \pistêmai durch das Gedächtnis (Symp. 207 e5-208 a7) oder die Verewigung des eigenen Ruhmes durch tugendhafte \pithdeúmata (208 c-209 e4). Solche Formen des tókow \n kal! gehen nicht vom absoluten kalón aus; deswegen führen sie lediglich zu einer oberflächlichen Teilhabe an der Unsterblichkeit (˙yanasíaw metéxein 208 b3) und nicht zum Unsterblichwerden (˙yánaton genésyai 212 a6-7). Ihre Minderwertigkeit der wahren Unsterblichkeit gegenüber wird durch ihre Stellung in Diotimas Rede betont: Deren Erörterung (206 b7209 e4) findet innerhalb der múhsiw statt bzw. gehört in die niedrigere Einweihungsstufe der Mysterien der Liebe, während der zur wahren Unsterblichkeit führende Weg erst auf der Stufe der télea kaì \poptiká offenbar wird (209 e5-212 a). Dazu vgl. M.J. O’Brien, „Becoming Immortal“ in Plato’s Symposium, in: D.E. Gerber (Hrsg.), Greek Poetry and Philosophy. Studies in Honour of L. Woodbury, Chico, Cal. 1984, S. 188-189, 203-205; Ch. Riedweg, Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin/New York 1987, S. 28; K. Sier, Die Rede der Diotima. Untersuchungen zum platonischen Symposion, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 271-272. Zur Mysteriensprache im Symposion vgl. Riedweg, a.a.O., S. 2-29. 24 Zur Mysterienterminologie im Phaidros vgl. Riedweg (wie Anm. 23), S. 30-67. Zur Mysteriensprache in Platons Schriften und ihrer Beziehung zur platonischen Philosophie vgl. Riedweg (wie Anm. 23), S. 1-69; Lavecchia (wie Anm. 11); ders., Philosophie und Initiationserlebnis in Platons Politeia, Perspektiven der Philosophie, Bd. 27 (2001), S. 51-75; Schefer, Platons unsagbare Erfahrung (wie Anm. 3), S. 63-119. 25 Zur Idee der `moívsiw ye! in der Politeia vgl. Lavecchia (wie Anm. 24), S. 57-64. 26 o[k ˙mblúnoito o[d& ˙pol}goi toû ¡rvtow, prìn a[toû ≠ ¡stin \kástou têw fúsevw ßcasyai > pros}kei cuxêw \fáptesyai toû toioútou – pros}kei dè suggeneî – > plhsiásaw kaì migeìw t! ªnti ªntvw, genn}saw
373 noûn kaì ˙l}yeian, gnoíh te kaì ˙lhyôw zœh kaì tréfoito kaì oπtv l}goi Ωdînow. 27 O[dè gár pou … sxol| t! ge qw ˙lhyôw pròw toîw o{si t|n diánoian ¡xonti kátv blépein e†w ˙nyrQpvn pragmateíaw, … ˙ll& e†w tetagména ƒtta kaì katà ta[tà ˙eì ¡xonta `rôntaw kaì yevménouw o·t& ˙dikoúnta o·t& ˙dikoúmena øp& ˙ll}lvn, kósm~ dè pánta kaì katà lógon ¡xonta, taûta mimeîsyaí te kaì –ti málista ˙fomoioûsyai. 28 yeí~ dè kaì kosmí~ – ge filósofow `milôn kósmiów te kaì yeîow e†w tò dunatòn ˙nyrQp~ gígnetai. Die konstante Hinwendung des Philosophen zum Göttlichen wird auch in Soph. 254 a8-b1 hervorgehoben: Sie erklärt die Bemerkung von Theodoros, der die Philosophen als göttliche Wesen bezeichnet (Soph. 216 b8-c1). 29 Der Philosoph wird als derjenige dargestellt, ≠w ©n proyumeîsyai \yél+ díkaiow gígnesyai kaì \pithdeúvn ˙ret|n e†w –son dunatòn ˙nyrQp~ `moioûsyai ye!. 30 Es besteht kein Widerspruch zwischen der im Theaitetos dargestellten Flucht von der Welt sowie von der Politik (vgl. bes. 173 c9-174 a2; 176 a8-9) und dem in der Politeia vorgeschlagenen Ideal des Philosophenkönigs. Die von der Gefangenschaft in der Höhle Befreiten, die das Licht der Wahrheit geschaut haben, wollen sich nicht mit menschlichen Angelegenheiten beschäftigen, sondern ihre Seelen erstreben nur das Weilen in den höheren Welten (o[k \yélousin tà tôn ˙nyrQpvn práttein, ˙ll& ƒnv ˙eì ˙peígontai a[tôn a¥ cuxaì diatríbein Resp. 5l7 c8-9). Genauso wie der Philosoph des Theaitetos (172 c4-6; 174 c2-4) erscheint auch in der Politeia derjenige lächerlich, der von der Betrachtung des Göttlichen in die Sphäre des Menschlichen hinabsteigt, um vor einem Gericht zu reden (Resp. 517 d4-c2; vgl. Gorg. 484 c4-e; 486 a6-c2; Resp. 496 a11-b6; zu diesem Motiv vgl. A.J. Festugière, Contemplation et vie contemplative selon Platon, Paris 1950, S. 381). Außerdem wird die Beteiligung des Philosophen am Leben der póliw in der Politeia nur im Rahmen des idealen Staates für möglich gehalten. Unter den üblichen Verhältnissen (und solche sind die im Theaitetos vorausgesetzten!) soll sich der Philosoph von der Politik fernhalten und auf die eigene innere politeía konzentrieren, damit sie nicht verdorben wird (Resp. 592 a5-9; vgl. 496 a11-e); er soll zurückgezogen und ruhig leben (=suxían ¡xvn Resp. 496 d6) und versuchen, frei vom Bösen zu bleiben, in der Hoffnung auf ein besseres Schicksal nach dem Tod (Resp. 496 c5-e). Auch in der Politeia wird die Flucht von der Welt und von ihren Übeln als das natürliche Lebensziel des Philosophen betrachtet: Sogar im idealen Staat verlassen die Philosophen erst unter Zwang die Betrachtung des Göttlichen, um sich der Regierungstätigkeit zu widmen (Resp. 519 d4-520 d4; 540 b2-5). Der Philosoph muß ein kontemplatives Leben führen, um die das Wohlergehen der póliw begründende Erkenntnis der Wahrheit zu erreichen, denn diese Erkenntnis kann nur durch die Abwendung von den menschlichen Angelegenheiten und die konstante Hinwendung zum Göttlichen erlangt werden (Resp. 500 b8-c1). Das Paradox der Politeia besteht eben darin, daß das Staatswesen nur dann
374 gedeihen kann, wenn es von Individuen regiert wird, die sich vom Menschlichen abscheiden und nach Erlangung einer bestimmten Erkenntnisreife zur Wiederkehr zum Menschlichen gezwungen werden (519 d5-7), Diese paradoxe Implikation zwischen kontemplativem Leben und Wohlergehen der Gesellschaft wird auch im Theaitetos vorausgesetzt: Nach Theodoros würden die Menschen friedlicher leben und viel weniger Übeln entgegengehen, wenn sie dem von Sokrates dargestellten Lebensideal des Philosophen entgegenkommen würden (l76 a2-4). Die eminent kontemplativen Konnotationen des in der Politeia vertretenen philosophischen Ideals zeigen sich weiterhin in der Unterscheidung zwischen der mit dem göttlichen fronêsai identifizierten wahrhaften Tugend und den anderen, eng mit dem Körper verbundenen und durch Gewohnheit erworbenen sogenannten Tugenden (518 d9-e3), die als Erscheinungen der dhmotik| ˙ret} betrachtet werden (500 d6-8). Zu den gerade behandelten Aspekten vgl. Festugière (wie Anm. 30), S. 373-380, 399-420; A.B. Hentschke, Politik und Philosophie bei Plato und Aristoteles. Die Stellung der „Nomoi“ im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles, Frankfurt a.M. 1971, S. 15-35; Sedley, Becoming like God (wie Anm. 1), S. 334. 31 &All& o·t& ˙polésyai tà kakà dunatón, … o·t& \n yeoîw a[tà ¥drûsyai, t|n dè ynht|n fúsin kaì tónde tòn tópon peripoleî \j ˙nágkhw. diò kaì peirâsyai xr| \nyénde \keîse feúgein –ti táxista. fug| dè `moívsiw ye! katà tò dunatón: `moívsiw dè díkaion kaì –sion metà fron}sevw genésyai. 32 yeòw o[dam_ o[damôw ƒdikow, ˙ll& qw o<ón te dikaiótatow, kaì o[k ¡stin a[t! `moióteron o[dèn … ≠w ©n =môn a{ génhtai –ti dikaiótatow. 33 tíw o{n d| prâjiw fílh kaì ˙kólouyow ye!; mía, kaì £na lógon ¡xousa ˙rxaîon, –ti t! mèn `moí~ tò –moion ªnti metrí~ fílon ©n eÊh, tà d& ƒmetra o·te ˙ll}loiw o·te toîw \mmétroiw. ` d| yeòw =mîn pántvn xrhmátvn métron ©n eÊh málista, kaì polù mâllon æ poú tiw, ∫w fasin, ƒnyrvpow: tòn o{n t! toioút~ prosfilê genhsómenon, e†w dúnamin –ti málista kaì a[tòn toioûton ˙nagkaîon gígnesyai, kaì katà toûton d| tòn lógon ` mèn sQfrvn =môn ye! fílow, –moiow gár, ` dè m| sQfrvn ˙nómoiów te kaì diáforow kaì <`> ƒdikow ktl. 34 a[tò ˙spázesyai tò méson, … ÷n d| diáyesin kaì yeoû katá tina manteíaw f}mhn e[stóxvw pántew prosagoreúomen. taúthn t|n £jin diQkein fhmì deîn =môn kaì tòn méllonta ¡sesyai yeîon. 35 Zur Vorstellung der `moívsiw ye! im Timaios vgl. Sedley, Becoming like God (wie Anm. 1), S. 328-35; Sedley, The Ideal (wie Anm. 1), S. 31623. 36 filosofíaw génow, o˚ meîzon ˙gayòn o·t& ‘lyen o·te ≥jei potè t! ynht! génei dvrhyèn \k yeôn. 37 t! dè perì filomayían kaì perì tàw ˙lhyeîw fron}seiw \spoudakóti kaì taûta málista tôn a[toû gegumnasmén~ froneîn mèn ˙yánata kaì yeîa, ƒnper ˙lhyeíaw \fápthtai, pâsa ˙nágkh pou, kay& –son d&a{ metasxeîn ˙nyrvpín+ fúsei ˙yanasíaw \ndéxetai, toútou mhdèn mérow
375 ˙poleípein, ßte dè ˙eì yerapeúonta tò yeîon ¡xontá te a[tòn e{ kekosmhménon tòn daímona súnoikon ∞aut!, diaferóntvw e[daímona eÂnai. 38 pôw tiw ˙nájei a[toùw (scil. die zukünftigen Herrscher) e†w fôw, ∫sper \j %Aidou légontai d} tinew e†w yeoùw ˙nelyeîn; … Toûto dé, qw ¡oiken, o[k •strákou ©n eÊh peristrof}, ˙llà cuxêw periagvg| \k nukterinêw tinow =méraw e†w ˙lhyin}n, toû ªntow o{san \pánodon, ÷n d| filosofían ˙lhyê f}somen eÂnai. 39 Zu Platons Gottesbegriff vgl. P. Bovet, Le Dieu de Platon, Genève 1902; F. Solmsen, Plato’s Theology, Ithaca 1942; V. Goldschmidt, La religion de Platon, Paris 1949; R. Schaerer, Dieu, l’homme et la vie d’après Platon, Neuchatel 1944; W.J. Verdenius, Platons Gottesbegriff, Entr. Hardt 1 (1952), S. 241-293; P.J.G.M. van Litsenburg, Got en het Goddelijke in de Dialogen van Plato, Nijmwegen/Utrecht 1954; A. Manno, Il teismo di Platone, Napoli 1955; G. Soleri, Le dottrine teologiche di Platone, Rassegna di Scienze Filosofiche 11 (1958), S. 1-30, 133-160; C.J. de Vogel, What was God for Plato, Philosophia (1970), S. 210-42; L. Gerson, God and Greek Philosophy, London/New York 1990, S. 33-81; G.R. Carone, La noción de dios en el Timeo de Platón, Buenos Aires 1991; S. Menn, Plato on God as Nous, Carbondale/Edwardsville 1995; P. Carabine, The Unknown God. Negative Theology in the Platonic Tradition, Louvain 1995; M. Enders, Platons „Theologie“: Der Gott, die Götter, und das Gute, Perspektiven der Philosophie, Bd. 25 (1999), S. 131-85; E.E. Pender, Images of Persons Unseen. Plato's Metaphors for the Gods and the Soul, Sankt Augustin 2000. 40 Dieser Terminus tritt in Resp. 379 a5-6 auf. 41 Die ˙fidioi yeoí bzw. die intelligiblen Urbilder des Kosmos (Tim. 37 c6-7) müssen selbstverständlich von den innerkosmischen Göttern unterschieden werden, die als Kinder des Demiurgen dargestellt werden (Tim. 40 d6-41 a8). In Phdr. 246 e4-247 a7 werden die himmlischen Götter den überhimmlischen Wesenheiten deutlich untergeordnet, von deren Schau sich ihre Seelen ernähren (Phdr. 247 c3-248 a1). 42 In Phdr. 246 d8-e1 (tò dè yeîon kalón, sofón, ˙gayón) weist tò yeîon nicht auf eine unpersönliche Urquelle der göttlichen Hypostasen und deren Prädikate hin, sondern drückt die objektive und allgemeine Inhärenz bestimmter Prädikate jeder göttlichen Wesenheit aus. 43 Vgl. Ep. 6, 323 d2-4 tòn tôn pántvn yeòn =gemóna tôn te ªntvn kaì tôn mellóntvn, toû te =gemónow kaì a†tíou patéra kúrion \pomnúntaw. Vgl. die theistischen Züge des Sonnengleichnisses in Resp. 508 a4-5, 9, b910. In Leg. 716 c4-5 (` d| yeòw =mîn pántvn xrhmátvn métron ©n eÊh málista) bezeichnet yeów die absolute Determinante jedes Wertes bzw. das Gute; die Identität zwischen dem absoluten göttlichen Maßstab (yeów) und dem Guten wird implizit von Aristot. Fr. 79 Rose (Politików Fr. 2 Ross) pántvn gàr ˙kribéstaton métron t˙gayón bestätigt (zum Guten-Einen als absoluten métron vgl. Krämer (wie Anm. 20), S. 214, 298-300, 307, 396-398, 491-492, 510-511, 547-549). Auf die theistischen Züge von Platons höchstem Prinzip verweisen auch [Plat.] Ep. 2, 312 e1-3; Aristot. Fr. 49 Rose (Perì
376 e[xêw Fr. 1, p. 57 Ross) und Eth. Eud. 1248 a27-29 (beide Stellen weisen auf Platons Einfluß hin; vgl. Th.A. Szlezák, Platon und Aristoteles in der Nuslehre Plotins, Basel/Stuttgart 1979, S. 212-3); Porph. Frr. 220 und 223 Smith. 44 Auf dieses Ideal weist Resp. 490 b1-7 hin: Der Philosoph, der sich mit dem göttlichen Gegenstand seines Erkenntnisstrebens vereinigt, erzeugt noûn kaì ˙l}yeian (490 b5-6) bzw. wird der Idee des Guten ähnlich, ˙l}yeian kaì noûn parasxoménh (Resp. 517 c4). 45 Zur Gottähnlichkeit des guten und gerechten Menschen vgl. Resp. 613 a8-b1; Theaet. 176 b1-2, b8-c2; Min. 519 a3-5; Leg. 716 d1-3. 46 Zu diesem Aspekt des platonischen Denkens und zu seinem Zusammenhang mit der `moívsiw ye! vgl. H. Herter, Allverwandtschaft bei Platon, in: Religion und Religionen, Festschrift für G. Mensching, Bonn 1967, S. 6473 (Kleine Schriften, München 1975, S. 249-58). 47 fasì d& o¥ sofoí … kaì o[ranòn kaì gên kaì yeoùw kaì ˙nyrQpouw t|n koinvnían sunéxein kaì filían kaì kosmióthta kaì svfrosúnhn kaì dikaióthta, kaì tò –lon toûto dià taûta kósmon kaloûsin. 48 di& ˙ret|n dè a[tòn aøt! dunámenon suggígnesyai kaì o[denòw ∞térou prosdeómenon, gnQrimon dè kaì fílon ¥kanôw a[tòn aøt!. 49 Zu diesem Motiv bei Platon vgl. É. des Places, Syngeneia. La parenté de l’homme avec Dieu d’Homère à la Patristique, Paris 1964, S. 63-102 passim. 50 kaí tiw e†w toûto (es handelt sich um den noûw) blépvn kaì pân tò yeîon gnoúw, yeón te kaì frónhsin, oπtv kaì ∞autòn ©n gnoíh málista. Zur Beziehung dieser Stelle zur Idee der `moívsiw ye! vgl. Annas (wie Anm. 1), S. 58-9. 51 Resp. 518 e2-3; 589 d1, e4; 590 d1; Pol. 309 c1-3; Alc. I 133 c1-4; Tim. 45 a1; 69 d6; 72 d4; 73 a7-8, c7; 85 a5-6; 88 b2; 90 a8, c4, 7-8. 52 Zur Rolle dieses Prinzips in Platons Denken vgl. C.W. Müller, Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, Wiesbaden 1965, S. 177-87. 53 ˙ll& e†w tetagména ƒtta kaì katà ta[tà ˙eì ¡xonta `rôntaw kaì yevménouw … taûta mimeîsyai … 54 Vgl. Symp. 204 e1-4; 205 d10-206 a12. 55 Symp. 206 a9 ff.; Phdr. 252 a-b1. 56 a¥ mim}seiw … e†w ¡yh te kaì fúsin kayístantai kaì katà sôma kaì fvnàw kaì katà t|n diánoian. 57 Der junge Mensch, der anhaltend den ungerechten Tyrannen nachahmt, wird ihm –moiow, seine eigene Seele wird von dessen Wesen durchdrungen und er wird zu einem bösen Menschen dià t|n mímhsin (Gorg. 510 e4511 a3). Zur gegenseitigen Implikation zwischen mímhsiw und `moívsiw vgl. Resp. 500 c5 (mimeîsyaí te kaì –ti málista ˙fomoioûsyai); 605 a10-b2; Tim. 90 c7-d7; Leg. 728 b2-c2; 812 c1-7 (das `moívma ergibt sich aus der mímhsiw). 58 Phdr. 249 c4-d3; 253 a1-5, b5-c2; Resp. 500 b8-d2; 613 a7-b3; Theaet. 176 b1-2, b8-c2; Tim. 90 b6-d7; Leg. 716 c-d4; Min. 319 a3-5.
377 Für diese das volle Bewußtsein und die volle Offenbarung der eigenen Natur betreffenden Adjektive vgl. Phdr. 249 c8; 250 c1. 60 O¥ ƒra fron}sevw kaì ˙retêw ƒpeiroi … kátv, qw ¡oiken, kaì méxri pálin pròw tò metajù férontaí te kaì taút+ planôntai dià bíou, øperbántew dè toûto pròw tò ˙lhyôw ƒnv o·te ˙néblecan pQpote o·te “néxyhsan, o[dè toû ªntow t! ªnti \plhrQyhsan, . . . ˙llà boskhmátvn díkhn kátv ˙eì blépontew kaì kekufótew e†w gên kaì e†w trapézaw bóskontai … ßte o[xì toîw o{sin o[dè tò ºn o[dè tò stégon ∞autôn pímplantew. 61 Das Sosein des Menschen wird durch die Natur der von ihm mit dem eigenen Guten identifizierten Wirklichkeit bzw. vom Gegenstand seines ¡rvw bestimmt. Wird er die wahre Erkenntnis für das eigene Gute halten, dann wird er filósofow bzw. sofíaw \piyumht}w werden (Resp. 475 b8) und die Liebe zum besten Leben (¡rvta … toû beltístou bíou Ep. 7, 339 e4-5) als Hauptfaktor seiner Existenz betrachten: Er wird zum Liebhaber der frónhsiw (Phaedo 66 e2-3; 68 a2, 7-8), des Seins und der Wahrheit (Resp. 501 d1-2 toû ªntow te kaì ˙lhyeíaw \rastàw … toùw filosófouw; vgl. Phil. 58 d5) bzw. des zu ihnen führenden Schulungswegs (Phil. 16 b5-6) werden. Sein ¡rvw wird ihn zum Göttlichen führen (Resp. 490 b2-5) und dadurch gottähnlich machen. Der Mensch, der dagegen das eigene Gute in die Sphäre des Sinnlichen setzt, begehrt immer mehr das Materielle und, geführt vom Drang seiner mit den Sinnen verbundenen Liebe, verliert er jede bewußte Beziehung zum Göttlichen, bis er schließlich in eine tierische Lebensform hinabstürzt (zur engen Beziehung zwischen Reinkarnation in ein Tier und \piyumía toû svmatoeidoûw vgl. Phaedo 81 d6-82 a10). 62 Demjenigen, der sich den Ungerechten –moiow macht, kommt schon während seines Lebens das den ƒdikoi angemessene Schicksal zu (Leg. 728 b2-c2). Das gleiche Schicksal verbindet das Gleiche mit dem Gleichen auch in den zukünftigen Leben und Toden: Leg. 904 e7 ff. ¡n te zv_ kaì \n pâsi yanátoiw pásxein te ∂ prosêkon drân \sti toîw prosferési toùw prosfereîw kaì poieîn. Jedes Individuum nimmt die dem Vorbild ähnliche Lebensform an, nach dem es das eigene Leben gestaltet hat: Theaet. 176e3177 a8, bes. 177 a3 zôntew tòn e†kóta bíon > `moioûntai, a 6-7 t|n aøtoîw `moióthta têw diagvgêw ˙eì £jousi. Die Form des jenseitigen Lebens und der nächsten Inkarnation wird katà tàw `moióthtaw têw meléthw (Phaedo 82 a8-9) bzw. katà t|n `moióthta têw toû trópou gen}sevw (Tim. 42 c2-3) bestimmt. Die sich reinkarnierenden Seelen nehmen die Form dessen an, was eine ihrer Wesensart im vergangenen Leben ähnliche Natur besitzt: Phaedo 81 e2-4 \ndoûntai … e†w toiaûta …yh `poî& ƒtt& ©n kaì memelethkuîai túxvsin \n t! bí~; Resp. 620 a2-3 (die Seelen wählen die nächste Inkarnation katà sun}yeian toû protérou bíou); vgl. die Beispiele in Phaedo 81 e6-82 b8; Phdr. 248e3-249b6; Resp. 620 a2-d5; Tim. 42 b3-d2; 90 e6-92 c3; Leg. 903 d3-e1; 904 c6-e. 63 Die Art der Beziehung zur Tugend bestimmt die Seinsphäre bzw. den tópow, den der Mensch nach dem Tod bewohnen wird. Nur derjenige, der 59
378 sein ganzes Leben Tugend und wahre Erkenntnis erstrebt hat, wird im tôn kakôn kayaròw tópow (Theaet. 177 a5) bzw. im von den göttlichen Wesen bewohnten reinen und unsichtbaren Ort (Phaedo 80 d5-7) leben. Den anderen Menschen werden die anderen, niedrigeren Seinssphären zugewiesen, die nach einer zugleich ontologischen und ethischen Hierarchie geordnet sind, nach der einer tieferen Teilhabe am Guten bzw. dem Bessersein ein besserer tópow entspricht, und umgekehrt (Leg. 903 d6-e1; 904 c9-e3; vgl. Theaet. 177 a3-8). 64 In diesen Abgrund fallen diejenigen, die die titanische Natur nachahmen, denn sie erheben sich gegen den eigenen göttlichen Bestandteil und werden deswegen dem Schicksal der Titanen folgen: Leg. 701 c2-4 t|n legoménhn palaiàn Titanik|n fúsin \pideiknûsi kaì mimouménoiw, \pì tà a[tà pálin \keîna ˙fikoménouw, xalepòn a†ôna diágontaw m| lêjaí pote kakôn. Der gleichzeitige Hinweis auf die Titanik| fúsiw und auf die lêjiw kakôn verbindet die Stelle der Nomoi mit den die Tötung des Dionysos durch die Titanen betreffenden orphischen Traditionen (vgl. K. Schöpsdau, Platon Nomoi (Gesetze) Buch I-III, Göttingen 1994, S. 514-6): Die Menschen stammen aus der Asche der von Zeus durch den Blitz erschlagenen Titanen (Orph. fr. 220 Kern) und müssen die Missetat ihrer Ahnen durch die Einkerkerung in die Sinnenwelt sühnen. Ihr Wesen ist jedoch auch von der Teilhabe an der göttlichen Natur geprägt, denn die Titanen hatten aus Dionysos’ Leib gegessen. Gerade diese Teilhabe am Göttlichen ermöglicht die lêjiw kakôn bzw. die Erlösung von den der Titanik| fúsiw entsprungenen Übeln. 65 Zum Zusammenhang zwischen Dialektik und `moívsiw ye! vgl. Szlezák (wie Anm. 1), S. 255-9, S. 261-3. 66 Dieses Streben nach der sich in der Vielfältigkeit der eigenen Erscheinungen offenbarenden intelligiblen Einheit ist Ausgangspunkt und Kern des dialektischen Verfahrens: Symp. 210 b2-3; Phdr. 249 b7-c1, 265 d3-4, 273 e2-3; Resp. 476 a5-7; Soph. 253 d5-7; Phil. 16 d1-2; Leg. 965 c2-3; [Plat.] Epin. 991 c2-3, d8-992 a1. 67 Zur Identität ˙gayón-£n in Platons Denken vgl. Aristot. Metaph. 1091 b13-15 (Test. 51 Gaiser; vgl. Aristóteles Text. 28 Arana Marcos); Eth. Eud. 1218 a15-33 (Aristóteles Text. 36 Arana Marcos); dazu Aristoxen. harmon. II 39-40 da Rios (Test. 7 Gaiser; vgl. Aristóxeno in Arana Marcos); Aristot. Metaph. 988 a14-15 (Test. 22A Gaiser; Aristóteles Text. 75 Arana Marcos), 1075 a33-37 (Aristóteles Text. 29 Arana Marcos), 1084 a35 (vgl. Test. 61 Gaiser; Aristóteles Text. 59 Arana Marcos); Phys. 192 a15 (Aristóteles Text. 10 Arana Marcos); Sext. Emp. Adv. math. X 268-275 (Test. 32 Gaiser; vgl. Sexto Empírico Arana Marcos); Hermodor. apud Simpl. In Phys. 248, 2 ff. Diels (Test. 31 Gaiser; Simplicio Text. 16 Arana Marcos); Porph. fr. 220F Smith (ap. Cyrill. Alex. Contra Iulian. I 31A, PG 76, 549A5-B6; vgl. Test. 52 Gaiser); Syrian. In metaph. 182, 6-7 (Siriano, Text. 24 Arana Marcos) und 183, 1 Kroll (Siriano, Text. 25 Arana Marcos). Zu den Testimonia Platonica vgl. die Sammlungen von K. Gaiser, Platons ungeschriebene Leh-
379 re. Studien zur geschichtlichen und systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 19682, S. 441-547 und J.R. Arana Marcos, Platón. Doctrinas no escritas. Antología, Bilbao 1998. Zur Identität ˙gayón-£n vgl. Krämer (wie Anm. 20), S. 471-8. 68 £na genómenon \k pollôn Resp. 443 e1; vgl. 423 d3-6 m| polloì ˙ll& e<w gígnhtai; allgemein 443 c9-444 a2. Dazu vgl. R. Santi, The dialectic of Good and Evil in the Republic and its connections with the One and the Many, in: G. Reale/S. Scolnicov (Hrsg.), New Images of Plato. Dialogues on the Idea of the Good, Sankt Augustin 2002, S. 176-84. 69 Óra góhta tòn yeòn oÊei eÂnai kaì … fantázesyai ƒllote \n ƒllaiw †déaiw totè mèn a[tòn gignómenon, [kaì] ˙lláttonta tò aøtoû eÂdow e†w pollàw morfáw, totè dè =mâw ˙patônta kaì poioûnta perì aøtoû toiaûta dokeîn, … Δploûn te eÂnai kaì pántvn ≥kista têw ∞autoû †déaw \kbaínein; vgl. 381 b6, c8-9; 382 e8. 70 Zum Seelenauge vgl. Resp. 518 c4-d1; 519 b3; 527 d6-e3; 532 c5-6; 533 c7-d3; 540 a7-9; Symp. 212 a3; Soph. 254 a10-b1. 71 Vgl. Parm. 135 c5-d6: Parmenides empfiehlt Sokrates, sich in der Dialektik zu üben, wenn er die Wahrheit bezüglich der Gegenstände der Philosophie erreichen will. 72 Vgl. Resp. 533 b1-3 Tóde goûn … o[deìw =mîn ˙mfisbht}sei légousin, qw a[toû ge ∞kástou péri ≠ ¡stin £kaston ƒllh tiw \pixeireî méyodow `d! perì pantòw lambánein. 73 Ohne Dialektik kann keine Erkenntnis der Wahrheit erlangt werden: Parm. 135 d4-6 gúmnasai … dià t|w dokoúshw ˙xr}stou eÂnai kaì kalouménhw øpò pollôn ˙dolesxíaw … e† dè m}, sè diafeújetai = ˙l}yeia. Das dialektische Wissen erreicht die Wahrheit, weil es zu den wirklich seienden Wesen hinwendet: Phil. 58 a2-5 t|n gàr perì tò ºn kaì tò ªntvw kaì tò katà ta[tòn ˙eì pefukòw pántvw ¡gvge oÂmai =geîsyai súmpantaw –soiw noû kaì smikròn pros}rthtai makr! ˙lhyestáthn eÂnai gnôsin. Die dialektische Wissenschaft besitzt tò kayaròn noû te kaì frónhsevw (vgl. Phil. 58d 6-e3) bzw. die Grundvoraussetzung zur Erkenntnis des Wahren. Zur Beziehung der Dialektik zum ¡rvw toû ˙lhyoûw vgl. Phil. 58 d4-5 têw cuxêw =môn dúnamiw \rân te toû ˙lhyoûw kaì pánta £neka toútou práttein. Der ¡rvw toû ˙lhyoûw ist mit der Liebe zum Guten bzw. zur Realität zu identifizieren, auf die die ganze Tätigkeit der Seele tendiert (Resp. 505 d11-e1 $O dè diQkei mèn ßpasa cux| kaì toûtou £neka pánta práttei; vgl. Gorg. 499 e8 ff.). 74 deî gàr ƒnyrvpon suniénai kat& eÂdow legómenon, \k pollôn †òn a†sy}sevn e†w ¢n logism! sunairoúmenon: toûto d& \stin ˙námnhsiw \keínvn ∂ pot& eÂden =môn = cux| sumporeuyeîsa ye! … kaì ˙nakúcasa e†w tò ºn ªntvw. 75 Eine umfangreiche Behandlung dieses Aspekts von Platons Denken bietet C.E. Huber, Anamnesis bei Plato, München 1964. 76 Auf die Vergöttlichung des wahren Dialektikers schon vor dem Tod könnte das in Phdr. 266 b5-7 dargestellte Bild hinweisen: Wenn Sokrates je-
380 manden für fähig hält, das Eine und die Vielen zu erkennen bzw. die Dialektik zu üben, folgt er ihm wie einem Gott (\àn té tin& ƒllon =g}svmai dunatòn e†w ¢n kaì \pì pollà pefukót& `rân, toûton diQkv „katópisye met& Êxnion ∫ste yeoîo“). 77 Die in Symp. 209 e6-212 a7 dargestellten, zum höchsten Schönen-Guten hinaufführenden télea kaì \poptiká, sind mit dem Weg der Dialektik kongruent, denn sie sind auf tò \p& eÊdei kalón (210 b2) gerichtet, das, wie jede Idee, nur mit Hilfe der Dialektik erkannt werden kann. 78 diò d| dikaívw mónon pteroûtai = toû filosófou diánoia: pròw gàr \keínoiw ˙eí \stin mn}m+ katà dúnamin, pròw o<sper yeòw çn yeîów \stin. toîw dè d| toioútoiw ˙n|r øpomn}masin •ryôw xrQmenow, teléouw ˙eì teletàw teloúmenow, téleow ªntvw mónow gígnetai. Die Sprache dieser Stelle weist auf die enge Beziehung der Mysterienkulte zur Vorstellung der Vergöttlichung hin. Daß Platon sich dieser Beziehung völlig bewußt ist, zeigen Phaedo 69 c3-d3 (wie der Eingeweihte so erlangt auch der Philosoph das Leben mit den Göttern) und 81 a8-10 (nach dem Tod lebt die Seele des Philosophen ∫sper dè légetai katà tôn memuhménvn … tòn loipòn xrónon metà yeôn diágousa). Zum Verhältnis der platonischen `moívsiw ye! zu den Mysterien vgl. Lavecchia (wie Anm. 11), S. 265-276; ders. (wie Anm. 25), S. 59. 79 Zu dieser Voraussetzung der `moívsiw ye! vgl. E. Milobenski, Der Neid in der griechischen Philosophie, Wiesbaden 1964, S. 21-7. 80 Légvmen d| di& ≥ntina a†tían génesin kaì tò pân tóde ` sunistàw sunésthsen. ˙gayòw ‘n, ˙gay! dè o[deìw perì o[denòw o[dépote \ggígnetai fyónow. 81 toútou (scil. fyónou) d& \ktòw çn pánta –ti málista \boul}yh genésyai parapl}sia ∞aut!. 82 boulhyeìw gàr ` yeòw ˙gayà mèn pánta, flaûron dè mhdèn eÂnai katà dúnamin, ktl. 83 Gerade die Götter schenken dem Menschen durch die Dialektik das notwendige Mittel zur Erkenntnis der göttlichen Welt (Phil. 16 c5). Im Platon zugeschriebenen und von Platons Denken sehr stark geprägten Epinomis wird die Beschäftigung mit dem Göttlichen dadurch gerechtfertigt, daß die Götter selbst die Lehrer der Menschen in der Erkenntnis des Göttlichen sind und sich deswegen über deren Erkenntnisstreben nur freuen können. Würde ein Gott Mißgunst demjenigen gegenüber zeigen, der durch Gottes Hilfe die wahre Erkenntnis erreicht und gut wird (o[ sugxaîron ƒneu fyónou dià yeòn ˙gay! genomén~ 988 b6-7), dann würde er sich selbst nicht kennen: Er würde nämlich nicht wissen, daß die Götter die Lehrer der Menschen sind (vgl. 988 a5-b 7, erwähnt in Milobenski (wie Anm. 79), S. 23-4). 84 Vgl. [Plat.] Perì ˙retêw 377 a4-6 O[deìw ƒra fyoneî tôn ˙gayôn ˙ndrôn ƒll~, ∫ste ˙gayòn kaì –moion ∞aut! poiêsai, erwähnt in Milobenski (wie Anm. 79), S. 23, Anm. 10. 85 Zu diesem Aspekt des Guten vgl. Phaedo 99 c5-6. 86 Zu dieser für Platons Ethik charakteristischen Implikation zwischen
381 Absenz von fyónow und Gutsein einerseits, fyónow und Bösesein andererseits, vgl. Milobenski (wie Anm. 79), S. 27-58, passim. 87 Vgl. Phdr. 252 d2; 253 a4-5, 7; Resp. 500 d1; 501 c1; 613 b1; Tim. 90 c2-3; Leg. 716 c5-d1. 88 Auf die Realität dieses Prozesses verweisen die von Platon in Bezug auf die `moívsiw ye! und ihre Voraussetzungen verwendeten Lexeme. Alle diese Lexeme deuten auf die starken ontologischen Implikationen der Angleichung an Gott: a) %Omoiow (Phdr. 253 b1; Resp. 613 b3; Theaet. 176 c1; Leg. 716 d2)/ `moióthw (Phdr. 253 b8; Theaet. 177 a6)/ (˙p-, \j-)`moióv (Resp. 500 c5, 613 b1; Theaet. 177 a1, 3; Tim. 90 d4)/ `moiQsiw (Theaet. 176 b1). %Omoiow (gleich, ähnlich) weist auf Teilhabe an derselben Natur, demselben Wesen und denselben Qualitäten bzw. auf Verwandtschaft hin (z.B. Prot. 337 d1-2; Resp. 350 c7, 380 a8-b1, 415 a7-8; Parm. 132 e3-4). Die vom Adjektiv bezeichnete Verwandtschaft kann bis zur Seinsgleichheit reichen (Theaet. 159 a6-8). Auf die gleiche Wirklichkeit deuten die Derivate von –moiow hin. So kann das Sich-Angleichen (`moioûsyai) auch vollkommen sein (Resp. 498 e3-4) bzw. eine volle Teilhabe am Wesen des Objektes implizieren. b) Parapl}siow (Tim. 29 e3) zeigt dieselben Konnotationen wie –moiow (z.B. Hipp. Min. 370 e3-4; Crat. 414 a2-3; Resp. 617 a2-3), indem es die Seinsnähe zweier oder mehrerer Objekte ausdrückt. c) (˙po-)miméomai (Phdr. 252 d2, 253 b5; Resp. 500 c5, 7; Tim. 47 c2)/ mímhma / mímhsiw / mimht}w. Durch das mimeîsyai und die mímhsiw gewinnt der Imitierende am Wesen des Imitierten Anteil, wird zu einer Offenbarung seiner Natur (z.B. Crat. 423 a1-3, e7-9, 431 d3; Resp. 395 d1-3) bzw. wird ihm –moiow (z.B. Crat. 423 a5-6; Resp. 500 c5; Critias 107 c5; Soph. 267 a6-8; Tim. 39 d8-e2; Leg. 668 b1-2, 836 e1-3). So besteht eine Implikation zwischen mimeîsyai und `moioûsyai (z.B. Resp. 393 c5-6, 500 c5; Leg. 812 c1-4). Wer irgendein Objekt nachahmt, gleicht sich ihm mehr oder weniger an; die Stufe der Angleichung hängt von der Wesensnähe zwischen dem Nachahmenden und dem Gegenstand der Nachahmung ab (je höher die Anzahl gemeinsamer Wesenszüge, desto durchdringender und tiefer die Angleichung). d) (˙p-)e†kázv (Phdr. 248 a2; Tim. 29 c1-2)/ e†kQn (Tim. 29 b2, c2, 92 c7). E†kázv bezeichnet das Nachbilden einer bestimmten Wirklichkeit durch deren Imitation (zur Implikation zwischen (˙p)e†kázein und mimeîsyai vgl. z.B. Resp. 396 d4-7, 563 a6-b1; Critias 107 b5-6, c2-6, d5; Leg. 668 b10-c1). Das Abbild wird dadurch dem Vorbild angeglichen, wird ihm mehr oder weniger –moiow (z.B. Symp. 216 c6; Resp. 429 d2; Tim. 39 e3-4; Critias 107 c2-6, d5; Leg. 667 c9d1, 906 d8-9) bzw. wird zu seiner e†kQn. Eine e†kQn muß in etwa ihrem Vorbild `moía sein (z.B. Crat. 433 c4-6; Resp. 506 e3-4, 509 a9, 517 a8-b3; Leg. 836 e2, 867 a6-b1, 897 e4-898 b3), sonst wäre sie keine e†kQn. So hat jede e†kQn (mehr oder weniger tief) am Wesen des Vorbilds teil (z.B. Men. 80 c5; Phil. 39 c4-5, 49 c2-4). e) metéxv (Phdr. 253 a4-5; Tim. 47 c2, 90 c2)/ méyejiw. Metéxein weist auf die Teilhabe an einer bestimmten Realität hin, bis zur vollen Durchdringung mit ihrer Natur und ihrem Leben. Das impliziert für das eigene Dasein die Annahme der mit dem Wesen dieser Rea-
382 lität verbundenen Qualitäten und Wirklichkeiten (z.B. Resp. 511 e2-4, 585 c7-10; Parm. 155 c8-d3; Tim. 58 d5-6; Leg. 859 e7-9). So wird das Dasein des metéxvn durch das metéxein bzw. die méyejiw einer Realität gemäß ihren wesensmäßigen Bestimmungen nachgestaltet (z.B. Phaedo 81 d4, 100 c4-6; Symp. 211 b2; Phdr. 253 a3-5; Parm. 129 a6-b1, 143 a4-5; Soph. 255 e4-6; Tim. 77 b1-2), bis zu dem Punkt, an dem der metéxvn letztendlich zur Wesenheit werden kann, an der er Anteil gewinnt (Phaedo 101 c2-6), bzw. deren `moívma wird (Parm. 132 d1-4). f) koinvnév (Gorg. 507 e5)/ koinvnía (Gorg. 507 e5, 508 a1). Koinvnév und koinvnía bezeichnen die Gemeinschaft zweier oder mehrerer Wirklichkeiten, die an demselben Sein bzw. Wesen partizipieren (das koinvneîn und die koinvnía implizieren das metéxein an derselben Realität: Phdr. 249 e2-4; Parm. 151 e7-152 a2; Soph. 256 b1-3; Leg. 859 e7-9). Diese Gemeinschaft beeinflußt und modifiziert sogar das Dasein einer Wirklichkeit, indem sie sie mit der Natur einer anderen Wesenheit durchdringt (Phaedo 67 a4-5); demzufolge ändert sie ihre wesensmäßigen Qualitäten (Leg. 645 d4-5), so daß diese Wirklichkeit das Wesen der Realität annimmt, mit der sie sich in Gemeinschaft befindet (z.B. Resp. 611 b10-c3; Soph. 260 e2-3). 89 Die affirmative Bedeutung eines Ausdrucks wie katà tò dunatón u.Ä. tritt z.B. in Phdr. 273 e3-4 evident hervor: Hier impliziert der Ausdruck texnikòw lógvn péri kay& –son dunatòn ˙nyrQp~ nicht, daß der Mensch sich der Beherrschung der téxnh tôn lógvn nur annähern, sondern daß er sie konkret erreichen kann. Gerade in einem auch die `moívsiw ye! betreffenden Kontext zeigt Tim. 90 b1-c6 die ontologische Relevanz eines katà tò dunatón stattfindenden `moívsiw-Prozesses: Derjenige, der das eigene Leben auf die sinnlichen Triebe konzentriert, wird einen immer tieferen Anteil an der sterblichen Natur gewinnen (bzw. ihr immer mehr –moiow werden) und dadurch soweit wie möglich immer mehr sterblich werden (90 b4-5 kaì pantápasin kay& –son málista dunatòn ynht! gígnesyai); derjenige dagegen, der sich konstant dem Göttlichen zuwendet, wird nach den Möglichkeiten der menschlichen Natur an der Unsterblichkeit Anteil gewinnen (kay& –son d&a{ metasxeîn ˙nyrvpín+ fúsei ˙yanasíaw \ndéxetai 90 c2-3) und sich dadurch den unsterblichen Wesen angleichen (90 b6-c6). In beiden Fällen wird das Subjekt wirklich von den Gegenständen verwandelt, auf die es sein Leben konzentriert: So wird sich das erste Individuum in ein tiefer mit der Sinnlichkeit verbundenes Wesen reinkarnieren (90 e3-92 c3; vgl. 42 b5d2), während das zweite nach dem Tod das seinem göttlichen Bestandteil angemessene Leben erlangen wird (90 b6-d7; vgl. 42 b3-5). Nach Phdr. 249 c48 wird nur die Seele des Philosophen nach dem Tod Flügel bekommen und wieder zum göttlichen Leben gelangen, weil der Philosoph sich soweit wie möglich ständig auf die die Götter göttlich machenden Realitäten konzentriert (c5-6 pròw gàr \keínoiw ˙eí \stin mn}m+ katà dúnamin, pròw o<sper yeòw çn yeîów \stin) und dadurch sich zu einem vollkommenen Wesen verwandelt (c8). 90 Schon während des Lebens in der sinnlichen Welt kann der Mensch ei-
383 ne direkte und ihn völlig durchdringende Erfahrung des Göttlichen erreichen, die ihn zur sunousía, zum Zusammenleben (Symp. 212 a2) bzw. zur Mischung mit den göttlichen Wesen (Resp. 490 b5 plhsiásaw kaì migeíw) und damit zur Vergöttlichung führt. 91 Daß der Mensch eine für die Götter charakteristische, aber im Rahmen des ˙nyrQpinon nicht anhaltende Eigenheit wirklich erlangen kann, zeigt deutlich Prot. 344 b7-c3: genésyai … ƒndra ˙gayòn … o<ón te méntoi \pí ge xrónon tiná: genómenon dè diaménein \n taút+ t_ £jei kaì eÂnai ƒndra ˙gayón …˙dúnaton kaì o[k ˙nyrQpeion, ˙llà yeòw ©n mónow toûto ¡xoi tò géraw. Auf die Nichtpermanenz der während des menschlichen Lebens erreichten Erfahrung des Göttlichen und der Wahrheit verweist Phaedo 66 e667 b2, wo die Erlangung eines stabilen Verhältnisses zu den göttlichen Urbildern der Dinge nur in Bezug auf das jenseitige Leben für möglich gehalten wird. 92 Phaedo 70 b3-4; 76 c11-12; 80 a10-b5; 95 c5-6; 106 d5-e2; Men. 85 e9-86 b4; Phdr. 249 a8-b1; Resp. 611 e1-612 a6. 93 Hier wird die ˙lhy|w fúsiw der Seele ihrem Zustand \n t! ˙nyrvpín~ bí~ explizit entgegengesetzt. 94 Phaedo 69 c3-d3; 82 b10-c1; 114 c2-6; Phdr. 249 c4-8; Resp. 500 b8d2; 540 b2-c2. 95 Die Wissenschaft des Besten und des Schlechtesten ist nämlich die gleiche (Phaedo 97 d2-5). 96 Deswegen muß der Philosoph fílow te kaì suggen|w ˙lhyeíaw, dikaiosúnhw, ˙ndreíaw, svfrosúnhw sein (Resp. 487 a4-5). 97 ` gàr ˙koúsaw, \àn mèn ªntvw ” filósofow o†keîów te kaì ƒjiow toû prágmatow yeîow ≈n, `dón te =geîtai yaumast|n ˙khkoénai suntatéon te eÂnai nûn kaì o[ bivtòn ƒllvw poioûnti: metà toûto d| sunteínaw a[tów te kaì tòn =goúmenon t|n `dón, o[k ˙níhsin prìn ©n … télow \piy_ pâsin, … láb+ dúnamin ∫ste a[tòw aøtòn xvrìw toû deíjontow dunatòw eÂnai podhgeîn. Auf die höhere Natur des wahren Philosophen und auf seine Verwandtschaft mit den göttlichen Gegenständen der Philosophie wird mehrmals in der Politeia hingewiesen: Vgl. z.B. 494 d9-e2 &Eàn d& o{n … dià tò e{ pefukénai kaì tò suggenèw tôn lógvn e†s aisyánhtaí té p+ kaì kámpthtai kaì £lkhtai pròw filosofían ktl.; 495 b1 têw beltísthw fúsevw; 496 b2 gennaîon kaì e{ teyramménon ‘yow, b4 megálh cux}, b6 e[fuéw; 497 c1 ƒriston, c2 yeîon; 501 d4 t|n fúsin a[tôn o†keían eÂnai toû ˙rístou. 98 Vgl. Th.A. Szlezák, o¬w mónouw ƒn tiw •ryôw proseípoi filosófouw. Zu Platons Gebrauch des Namens filósofow, Museum Helveticum 57 (2000), S. 67-75, bes. S. 69-70. 99 In Phdr. 248 c5-d4 werden als philosophische diejenigen unter den in die Materie hinabgestürzten Seelen betrachtet, die vor der Inkarnation in dem höchsten Maß die überhimmlischen Wesen geschaut haben. 100 Jeder kann sich in eine höhere Natur verkörpern, wenn sein Leben die Gerechtigkeit erstrebt (Phdr. 248 e4-5; vgl. Leg. 903 d3-e1; 904 e5 ff.). 101 Auch wenn die der Philosophie entsprungenen Ideen nicht gleich
384 überzeugen können, wirken sie auf die Seele und können den Menschen dazu führen, sie im nächsten Leben zu akzeptieren bzw. keine negative Haltung ihnen gegenüber zu zeigen. Diese Möglichkeit wird in Resp. 498 d1-6 humorvoll angedeutet: Sokrates wird nichts unterlassen, um seine Gesprächspartner zu überzeugen bzw. wird mindestens seine Ideen so vorstellen, daß seine Rede für den Moment des nächsten Lebens was bringen kann, wo die jetzigen Gesprächspartner ähnlichen Reden begegnen werden (peíraw gàr o[dèn ˙n}somen, £vw ©n … peísvmen, kaì toûton kaì toùw ƒllouw, … pro·rgou ti poi}svmen e†w \keînon tòn bíon, –tan a{yiw genómenoi toîw toioútoiw \ntúxvsi lógoiw). Auf die ironische Bemerkung von Adeimantos, diese Perspektive betreffe eine echt kurze Zeitspanne, antwortet Sokrates, verglichen mit der Zeit in ihrer Ganzheit, wäre die von ihm angegebene Zeitspanne ein Nichts (E†w mikrón g&, ¡fh, xrónon eÊrhkaw. – E†w o[dèn mèn o{n, ¡fhn, ∫w ge pròw tòn ßpanta d5-6). 102 Die Seltenheit der philosophischen Naturen wird in Resp. 491 a8-b2 betont; vgl. auch 495 b1-2; 503 b7-d; Ep. 7, 343 e1-344 a2. Zum Fehlen der Voraussetzungen zum wahren Philosophieren bei der Mehrheit der Menschen vgl. Resp. 493 e2-494 a4; 476 b10-11. 103 Sogar das göttlichste Vermögen des Menschen bzw. die frónhsiw kann durch eine falsche Orientierung zum Bösen hingeneigt werden (Resp. 518 e2 ff.). 104 Zu einer Phänomenologie dieser Entwertung vgl. Resp. 490 e2-495 c2. 105 Pánsmikron d} ti … leípetai tôn kat& ˙jían `miloúntvn filosofíŸ. Vgl. die in Resp. 496 b1-c5 angeführten Beispiele, wo es sich zeigt, daß das Schicksal in fast allen behandelten Fällen das Individuum vor den Einflüssen des öffentlichen Lebens beschützt hat. Diese Beispiele wollen die in den vorhandenen póleiw bestehende Unvereinbarkeit des philosophischen Lebens mit einer politischen Tätigkeit betonen (dazu Resp. 496 c5-e2; 592 a5-9). 106 Zur Präsenz einer Art Gnadenlehre bei Platon vgl. M. Erler, Hilfe der Götter und Erkenntnis des Selbst. Sokrates als Göttergeschenk bei Platon und den Platonikern, in: Th. Kobusch/M. Erler/I. Männlein Robert (Hrsg.), Metaphysik und Religion, München/Leipzig 2002; S. 387-413, bes. S. 397-408. 107 Diese Tatsache gilt sogar für Sokrates: Sein daímvn hat ihn von der Politik ferngehalten und ihm dadurch die Möglichkeit geschenkt, sich der Philosophie zu widmen (vgl. Apol. 31 c4-d6; Resp. 496 c3-5). In [Plat.]? Theag. 128 d2-3 führt Sokrates die Präsenz des daimónion zu einer yeía moîra zurück. 108 Rutenber betont mit Recht die wichtige Funktion der `moívsiw ye! in den verschiedenen Bereichen der platonischen Philosophie. Leider analysiert er jedoch nicht systematisch jeden einzelnen Bereich und beschränkt sich immer auf wenige und verstreute Andeutungen, so daß die Vorstellung der `moívsiw ye! in der Vielfältigkeit ihrer Dimensionen nicht befriedigend beleuchtet wird: Vgl. Rutenber (wie Anm. 1), S. 26-39, passim (zu Gnoseologie
385 und Ontologie; S. 40-57, passim (zu Kosmologie und Anthropologie); S. 58106, passim (zu Ethik). 109 Z.B. Apol. 29 e1-2; Phaedo 65 e2; 66 d7; 67 b1-2; 84 a8-9; 99 e6; Phdr. 249 b5-c8; Resp. 475 e2-4; 484 c9; 485 c3-d5; 490 a1-3, b5-6; 611 e1612 a4; Parm. 135 d6; 136 c5, e1-3; Tim. 90 b6-c4; Ep. 7, 344 a8-b2. 110 Z.B. Resp. 508 e3-4 (die Idee des Guten ist a†tía \pist}mhw kaì ˙lhyeíaw; vgl. e5-509 a1, a6-7); Parm. 134 a3-4; Theaet. 186 c9-10 (vgl. e47). 111 Z.B. Phaedo 65 b9-c9, d11-e2, e7-66 a8; 83 a8-b2; Phdr. 247 d3-4; 248 b4-6; Resp. 508 d4-6; Theaet. 186 d3-4. 112 Dazu vgl. Resp. 475 b8-480. 113 Deswegen stellt die Wahrheit das höchste Gute für Götter und Menschen dar, und nur das von ihr durchdrungene Leben kann zur Glückseligkeit führen: Leg. 730 c1-4 ˙l}yeia d| pántvn mèn ˙gayôn yeoîw =geîtai, pántvn dè ˙nyrQpoiw: «w ` gen}sesyai méllvn makáriów te kaì e[daímvn \j ˙rxêw e[yùw métoxow eÊh, ®na qw pleîston xrónon ˙lhy|w çn diabioî. 114 Zur Beziehung der ˙ret} zur `moîvsiw ye! vgl. Resp. 500 c2-d2; 613 a7-b3; Leg. 716 c1-d4. Zur ˙ret} als Ziel und Substanz des philosophischen Lebens vgl. Apol. 29 e1-2; 30 a1, a9-b5; Resp. 407 b8-c5; 498 e3-4; 500 b8-c7; 613 a8-b1. 115 Eben dem Erlebnis der Wahrheit entspringt Sokrates Handeln, das die vollkommenste Verkörperung des von der Philosophie angestrebten Ideals darstellt: Deswegen flieht Sokrates nicht vom Gefängnis, weil er sich um die Meinung der Vielen nicht kümmert, sondern nur dem das Rechte und das Ungerechte kennenden Einen und der Wahrheit selbst Gehör schenken will (Crit. 48 a5-7 o[k ƒra … frontistéon tí \roûsin o¥ polloì =mâw, ˙ll& –ti ` \paifivn perì tôn dikaívn kaì ˙díkvn, ` eÂw, kaì a[t| = ˙l}yeia); denn nur so kann eine Entscheidung der Tugend entsprechend gefällt werden (vgl. a9-10). 116 Zur Göttlichkeit der Dinge an sich vgl. Symp. 211 e und Phil. 62 a28. 117 Die Seele, die nie die Wahrheit geschaut hat, kann sich nie in einen Menschen verkörpern (Phdr. 249 b5-6). 118 Das erkennende Subjekt muß ständig den göttlichen Zustand erstreben, in dem seine göttliche Individualität bzw. die Seele, frei von jedem sinnlichen Einfluß, allein mit sich selbst bleibt (a[t| kay& aΔt}n: Phaedo 66 b767 b4; 67 c5-d2, e7-9; 79 d1-7; 80 e3-6; 82 d9-83 b4). 119 Zur engen Beziehung zwischen noûw und Wahrheit vgl. Resp. 490 b56; 517c4; 572 a5-8; 581 b5-11; Phil. 65 d2-3; zur Verbindung der frónhsiw mit der ˙l}yeia vgl. Phaedo 65 a9-c1, 66 a6, d8-e4; Pol. 278 d8-e2; Phil. 58 b9-d, 59 c2-d6. 120 Deswegen kann sie nur mit Hilfe eines göttlichen lógow erlangt werden (vgl. Phdr. 246 a4-6 e; Phaedo 85 c7-d4). 121 Phaedo 65 e7-66 a8; Resp. 585 e; Theaet. 186 c7-8, e4-5; Phil. 59 a7b9, c2-6. Die wahrste Erkenntnis ist diejenige, die sich dem seiendsten Sein zuwendet (vgl. Phil. 58 a1-5).
386 122 Die Inkarnationsformen und die Übergänge von einer Form zur anderen entsprechen der Stufe des erreichten Bewußtseins des noûw (Tim. 92 c13) bzw. dem Verhältnis der Seele zur Wahrheit (Phdr. 248 c5-249 b6). Das jenseitige Schicksal der Seele hängt vom Maß ab, in dem das Individuum das eigene Leben von noûw und frónhsiw gestalten läßt: Das schlimmste Schicksal kommt den ˙nóhtoi zu, deren Bewußtsein vom Sinnlichen völlig verfinstert war und dadurch jede Beziehung zu noûw und frónhsiw verloren hatte (Phaedo 69 c2-6; Gorg. 493 a1-d3). Die Erkenntnis des Wahren beeinflußt auch die Wahl der nächsten Inkarnationsform: Wer die Natur der Seele kennt und deswegen jùn n! wählt, wird einem positiven Schicksal begegnen; demjenigen dagegen, der bei der Wahl von der ˙frosúnh geführt wird, kommen die schlimmsten Übel zu (vgl. Resp. 618 b6-619 c2). 123 Die Götter sind deswegen göttlich, weil ihr Leben von noûw und ˙l}yeia völlig durchdrungen ist (Phdr. 247 c3-248 a1). 124 Die in den Tieren verkörperten Seelen sind diejenigen, die keine direkte Beziehung zur Wahrheit erreichen, weil sie kein dazu genügendes Bewußtsein des noûw besitzen (Phdr. 249 b5-6; Tim. 42 b2-d2; 90 e-92 c3): In diesen Seelen wird der noûw durch die mit der sinnlichen Welt verbindenden Triebe verfinstert und ist somit nicht in der Lage, die Seele zur wahren Erkenntnis zu erwecken. 125 Das schaffende Prinzip und das Urbild des Kosmos sind notwendigerweise miteinander gleichzusetzen; sonst wäre die Aussage von Tim. 29 e2-3 unverständlich, nach der der Demiurg alle Dinge sich selbst angleichen will. 126 Die Gleichsetzung des Demiurgen mit der Idee des Guten wird in Resp. 517 b8-c3 vorausgesetzt, wo die Idee des Guten als letzte Ursache im Bereich des Sichtbaren betrachtet wird (= toû ˙gayoû †déa …pâsi pántvn …•ryôn te kaì kalôn a†tía, ¡n te `rat! fôw kaì tòn toútou kúrion tekoûsa). In Tim. 29 a6 wird der Demiurg als ƒristow tôn a†tívn bezeichnet; somit wird ihm die der Idee des Guten eigene höchste kausale Wirkung zugeschrieben. Selbstverständlich impliziert die Identität Demiurg = Idee des Guten eine Unterscheidung zwischen der Idee des Guten und dem ˙gayòn \pékeina têw o[síaw von Resp. 509 b9 [wo auf eine radikale Seinstranszendenz hingewiesen wird, wie Platons Gebrauch der Termini ªn, o[sía und eÂnai zeigt; dazu vgl. J. Halfwassen, Der Demiurg: Seine Stellung in der Philosophie Platons und seine Deutung im antiken Platonismus, in: A. NeschkeHentschke (Hrsg.), Le Timée de Platon. Contributions à l’histoire de sa réception, Louvain/Paris 2000, S. 39-62, bes. S. 46, Anm,. 16]. Auf diese in der Politeia nicht direkt belegte Distinktion scheint Ep. 6, 323 d2-4 hinzudeuten, wo tòn tôn pántvn yeòn =gemóna tôn te ªntvn kaì tôn mellóntvn explizit vom toû te =gemónow kaì a†tíou patéra kúrion unterschieden wird. Zur Gleichsetzung der Idee des Guten mit dem Demiurgen vgl. die umfangreicheren Erörterungen in K. Stumpf, Das Verhältnis des platonischen Gottes zur Idee des Guten, in: Zeitschrift für Philosophie und Philosophische Kritik, Neue Folge 24 (1869), S. 197-261, bes. S. 232-43; E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, II, 1, Leipzig 18894,
387 S. 507-18; R. Mugnier, Le sens du mot YEIOS chez Platon, Paris 1930, S. 130-2; van Litsenburg (wie Anm. 39), S. 192-9; J. Seifert, The Idea of the Good as the sum-total of pure perfections. A new personalistic reading of Republic VI and VII, in: Reale-Scolnicov (wie Anm. 68), S. 407-24; S. Lavecchia, †déa toû ˙gayoû-˙gayòn \pékeina têw o[síaw Überlegungen zu einer platonischen Antinomie, im Druck, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 10 (2005). 127 Tim. 30 d1-3 t! tôn noouménvn kallíst~ kaì katà pánta telé~ málista a[tòn ` yeòw `moiôsai boulhyeíw; 31 b1; 37 c8-d1; 38 b6-c3. 128 Tim. 39 d8-e2 ®na tóde Ωw `moiQtaton ” t! telé~ kaì noht! zœ~ pròw t|n têw diaivníaw mímhsin fúsevw. Der Demiurg schafft den Kosmos pròw t|n toû paradeígmatow ˙potupoúmenow fúsin (Tim. 39 e6-7). 129 In Phaedo 98 a2-b3 deutet Sokrates auf den engen Zusammenhang zwischen der ordnungstiftenden Tätigkeit des noûw und der Orientierung jedes Bestandteils des Kosmos auf das Gute hin; dazu vgl. auch 97 c3-6. 130 Diese Situation wird durch den mûyow von Pol. 268 d5-274 e3 dargestellt. Solange das Weltall direkt vom Demiurgen bewegt wird, lebt jeder seiner Bestandteile in Harmonie mit sich selbst und mit den anderen (271 c9272 b2). Gemäß einem zyklischen Verlauf läßt der Gott jedoch an einem bestimmten Punkt das Weltall frei (vgl. 269 c4-d3; 270 a2 ff.). Der Kosmos zeigt sich zur Selbstlenkung fähig, solange er die Erinnerung an die Belehrung des Demiurgen bewahrt (Pol. 273 b1-3 t|n toû dhmiourgoû kaì patròw ˙pomnhmoneúvn didax|n e†w dúnamin). Im Laufe der Zeit wird aber diese Erinnerung immer schwächer, bis sie allmählich durch die sinnliche Natur des Kosmos verfinstert wird. Das svmatoeidéw ist nämlich mit der vom Chaos beherrschten vorkosmischen Materie verwandt (273 b3-7): So entspringt seiner Beschaffenheit jede Form des Bösen, während das Gute nur vom schaffenden Gott hervorgehen kann (273 b7-c2). Solange der Kosmos in Synergie mit dem Demiurgen lebt, bekommt er vom eigenen Leben viel Gutes und wenige Übel (273 c2-4); wenn er aber vom Gott nicht mehr gelenkt wird, ist er nur eine kurze Weile fähig, nach dem Guten zu leben (273 c4-5), denn im Laufe der Zeit vergißt er jede Beziehung zum Göttlichen (l}yhw \ggignoménhw 273 c6) und läßt sich vom eigenen sinnlichen Bestandteil beherrschen. So wird er von der vorkosmischen Disharmonie überwältigt (dunasteúei tò têw palaiâw ˙narmostíaw páyow 273 c7-d1) und würde sich selbst auflösen (273 c6-d4), wenn sein Schöpfer nicht eingreifen würde, der die Lenkung übernimmt und ihm das seiner unsterblichen Natur entsprechende Leben wieder schenkt (273 d4-e4). 131 Vor dem ordnungstiftenden Eingriff des Demiurgen bestanden nicht einmal die vier Grundelemente des sinnlichen Kosmos: Ihre Spuren waren im vorkosmischen Urchaos zerstreut; nur durch die schöpferische Tätigkeit des Gottes bekam jedes Element die Form und die Zahl, die sein Wesen konstituieren (Tim. 53 b1-5; 69 b5-8). 132 Vor der Schaffung des Kosmos pánta taût& eÂxen ˙lógvw kaì ˙métrvw (Tim. 53 a8). Die das Wesen jedes sinnlichen Bestandteils des Welt-
388 alls bildende summetría wird dem Kosmos vom Demiurgen eingeprägt (Tim. 69 b2-5). Durch sie gewinnt jedes den Kosmos bewohnende Wesen Anteil am Guten (Tim. 87 c4-6); in Phil. 64 c1-65 a5 wird summetría nämlich als eine der drei die Uroffenbarung des Guten konstituierenden †déai betrachtet. 133 Zum Kosmos als yeów vgl. weiterhin Tim. 34 a8-b1, b8-9; 68 e3-4. 134 Die Natur der Seele kann nicht erkannt werden, wenn man die Natur des Ganzen nicht kennt, in das sie eingefügt ist: Phdr. 270 c1-2 cuxêw o{n fúsin ˙jívw lógou katanoêsai oÊei dunatòn eÂnai ƒneu têw toû –lou fúsevw; (zur Interpretation dieser Stelle vgl. Th.A. Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/New York 1986, S. 39-40; zum Gebrauch von tò –lon mit der Bedeutung von Weltall vgl. Lys. 214 b4-5; Gorg. 508 a3; Phil. 28 d5-6). Dieses Prinzip wird im Timaios explizit angewandt: Der lógow perì toû pantów (92 c4) ist nämlich notwendige Voraussetzung zu einer angemessenen Betrachtung der menschlichen Seele. 135 Tim. 44 d3-6 (die Götter gestalten den Kopf tò toû pantòw sxêma ˙pomimhsámenoi periferèw ªn); 81 a2-b5 (die Bewegung der Blutpartikeln t|n toû pantòw ˙nagkázetai mimeîsyai forán b1-2). Auf diese Stellen verweist Rutenber (wie Anm. 1), S. 53. 136 Für diese Stellen vgl. Rutenber (wie Anm. 1), S. 54. 137 Wie der Kosmos (Pol. 273 a7-b3) so kann auch der Mensch nur durch die Erinnerung an das Göttliche mit dem eigenen Wesen verbunden bleiben (Phdr. 249 c4-6). Wenn Mensch und Kosmos dagegen das Göttliche vergessen, dann entfernen sie sich von ihrer wahren Natur und versinken in den Abgrund der Materie (vgl. die kosmische l}yh von Pol. 273 c6 mit der l}yh der Seele in Phdr. 248 c5-8). 138 Zum Zusammenhang zwischen Bewegung des noûw und Angleichung an Gott vgl. Sedley, Becoming like God (wie Anm. 1), S. 329-35; ders., The Ideal (wie Anm. 1), S. 316-21. 139 t! d& \n =mîn yeí~ suggeneîw e†sin kin}seiw a¥ toû pantòw diano}seiw kaì periforaí: taútaiw d| sunepómenon £kaston deî, tàw perì t|n génesin \n t_ kefal_ diefyarménaw =môn periódouw \joryoûnta …, t! katanooumén~ tò katanooûn \jomoiôsai katà t|n ˙rxaían fúsin, `moiQsanta dè télow ¡xein toû proteyéntow ˙nyrQpoiw øpò yeôn ˙rístou bíou prów te tòn parónta kaì tòn ¡peita xrónon. 140 Zur kosmologischen Dimension der platonischen Ethik vgl. Krämer (wie Anm. 20), S. 41-145 passim. 141 Deswegen werden die Fähigkeiten des Menschen sowie die Struktur und die Bestandteile seines Körpers von den Göttern so gestaltet, daß sie zu einem bewußten Erlebnis des Guten führen können. So tragen die Sehkraft, das Gehör und die Stimme dazu bei, daß der Mensch in die Bewegungen der eigenen Seele, insbesondere des noûw, wieder Ordnung bringen kann (Tim. 47 a1-e2). Der Kopf, Sitz des noûw, erinnert durch seine Stellung als oberster Bestandteil des Körpers an die Notwendigkeit, sich von der göttlichen Natur lenken zu lassen (Tim. 44 d3-8). Die Gliedmaßen dienen der Be-
389 weglichkeit des Wohnsitzes vom noûw (Tim. 44 d8-45 a3). Das eÂdow ynhtón der Seele (Tim. 69 c7-8) wurde von den Göttern in jeweils niedrigere Bestandteile des Körpers verteilt und vom Kopf getrennt, damit es am wenigsten das Unsterbliche im Menschen stören kann (Tim. 69 c5-71 a3). Die Richtung und die aufrechte Haltung des Ganges sollen den Menschen an seine himmlische Natur erinnern (Tim. 45 a3-5; 90 a2 ff.). Alle Organe und Funktionen des Körpers sollen dem Menschen dabei helfen, sich zur Wahrheit und zum Guten hinzuwenden (vgl. die Beispiele in Tim. 70 a2-81 b4). Zu diesen Aspekten vgl. Rutenber (wie Anm. 1), S. 54-5. 142 Zur Gleichsetzung des Demiurgen mit dem höchsten noûw vgl. Halfwassen (wie Anm. 126), S. 50-62. 143 Zur Rolle der `moívsiw ye! in der platonischen Ethik vgl. Hentschke (wie Anm. 30), bes. S. 15-36; Belletti (wie Anm. 1), S. 940-1; Szlezák (wie Anm. 1), S. 256-7; Annas (wie Anm. 1), S. 52-71; Sedley, The Ideal (wie Anm. 1), S. 309-16; Erler (wie Anm. 1), S. 159-60. 144 Zum engen Zusammenhang zwischen Seele, sozialem Organismus und Kosmos vgl. K. Gaiser, La metafisica della storia in Platone, Milano 1988, S. 133-48, Th.A. Szlezák, PSYCHE–POLIS–KOSMOS. Bemerkungen zur Einheit des platonischen Denkens, in: E. Rudolph (Hrsg.), Polis und Kosmos. Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon, Darmstadt 1996, S. 26-42. 145 Die Struktur der Seele und die der póliw sind einander ähnlich: Resp. 541 b2-3; 543 c8-d1; 544 a2 ff., d6-e; 576 c6 ff.; 577 c1-3, d1-3; Leg. 633 d5-e; 636 d5-e3; 689 a5-c3; 702 a7-b1; 828 d8-829 a8. 146 Vgl. z.B. Phaedo 69 a6-b5. 147 Vgl. Resp. 518 d9-e3, wo das mit der wahren Tugend identifizierte fronêsai von den anderen, durch Gewohnheit erworbenen sogenannten Tugenden unterschieden wird, die als der dhmotik| ˙ret} zugehörig betrachtet werden (vgl. 500 d6-8); zu dieser Unterscheidung vgl. Phaedo 82 a11-b3, wo die der Gewohnheit entspringende Tugend als niedriger der wahren Tugend gegenüber betrachtet wird, denn sie wird ƒneu filosofíaw te kai noû geübt; vgl. weiterhin Gorg. 491 d10-e1; Leg. 710 a5. 148 Die Philosophen sind die einzigen wahrhaft freien Menschen, weil ihr Handeln von keinem der wahren, göttlichen Natur des Menschen fremden Faktor beeinflußt wird. Oft unterstreicht Platon den engen Zusammenhang zwischen Philosophie bzw. philosophischer Erziehung und Freiheit: Resp. 387 b4-6; 486 a1-b5; 499 a4-6; Theaet. 172 c8-d2; 173 a4-b2;175 d6-7, d8e1, e6-176 a1; Soph. 253 c7-9. 149 Zur ethischen Konnotation der verschiedenen tópoi des Seins vgl. Phaedo 80 d5-81 a2; 81 c4-11; 108 a7-b3; 110 a1-2. 150 Zum Zusammenhang zwischen ˙ret| metà fron}sevw und göttlichem Leben vgl. Phaedo 69 b1-c7; Theaet. 176 b1-2; Leg. 906 a8-b3. 151 Zur `moióthw zwischen den Göttern und dem wahrhaft tugendhaften Menschen vgl. Resp. 613 a7-b3; Theaet. 176 b1-2, c1-2; Min. 319 a3-5; Leg. 716 d1-2.
390 Ein sozialer Organismus kann nur dadurch gedeihen, daß sein Leben aus dem Göttlichen hervorgeht (nicht zufällig ist die urbildliche póliw von yeoì … paîdew yeôn gebildet: Leg. 739 b8-e7). Eine auf dem ˙nyrQpinon begründete Gesellschaft wird notwendigerweise in die Dekadenz sinken. Platon illustriert dieses Prinzip durch den Vergleich zwischen der Gesellschaft der Atlantier und dem alten Athen. Die alten Athener lebten dem eigenen Wesen von genn}mata kaì paideúmata yeôn entsprechend und folgten den von Athena gegebenen Gesetzen (Tim. 24 d3-6; Critias 108 c6-9). Deswegen war ihre póliw gerecht und fest, und sie konnten den überheblichen Angriff der Atlantier zurückstoßen. Auch die Gemeinschaft der wie die Athener aus einer Gottheit stammenden Atlantier folgte ursprünglich gottinspirierten Gesetzen (Critias 113 c2-114 c; 119 c5-7). So war ihre Stadt vorbildlich gerecht und fest geblieben, weil die Bewohner in Übereinstimmung mit ihrer göttlichen Natur bzw. mit der von Poseidon gegründeten Ordnung gelebt hatten (méxriper = toû yeoû fúsiw a[toîw \j}rkei, kat}kooí te ‘san tôn nómvn kaì pròw tò suggenèw yeîon filofrónvw eÂxon Critias 120 e1-3): Damals waren ihre Gedanken ˙lhyinà kaì pánt+ megála (Critias 120 e3); ihr Leben, frei vom Streben nach dem Materiellen, von Tugend und gegenseitiger filía geprägt (120 e3-121 a6), war durch die Wirkung ihrer göttlichen Natur von Ordnung und Wohlstand durchdrungen (fúsevw yeíaw paramenoúshw pánt& a[toîw h[j}yh 121 a7-8). Im Laufe der Zeit wurde ihre göttliche Natur jedoch immer mehr durch das ˙nyrQpinon ‘yow betrübt und verfinstert (= toû yeoû mèn moîra \jíthlow \gígneto \n a[toîw poll! t! ynht! kaì pollákiw ˙nakerannuménh, tò dè ˙nyrQpinon ‘yow \pekrátei 121 a8-b1). So fielen die Atlantier unter die Herrschaft ihrer sterblichen Natur und waren nicht mehr fähig, sich von ihren sinnlichen Trieben frei zu halten; sie wurden immer gewinn- und machtgieriger, vergaßen allmählich die zur e[daimonía führende Lebensform und sanken in die Ungerechtigkeit (121 b2-7). So wurde der Eingriff von Zeùw \n nómoiw basileúvn (121 b7-8) unvermeidlich: Die Atlantier mußten bestraft werden, um wieder zum richtigen Gleichgewicht und zur Mäßigung zu kommen (121 b9-c2). So wurden die der eigenen wahren Natur treu gebliebenen Athener zum Werkzeug der göttlichen Gerechtigkeit, indem sie die Atlantier besiegten und somit ihren Wohlstand behielten. Die ihrer göttlichen Natur nicht mehr bewußten Atlantier mußten dagegen den Untergang ihrer Macht erleben. 153 ©n dé tiw … t|n ˙nyrvpínhn fúsin \pideíj+ kakòw genómenow … 154 Zum Hintergrund dieser Stelle vgl. Anm. 64. 155 Zum engen Zusammenhang zwischen Nachahmung des Göttlichen und e[daimonía des sozialen Organismus vgl. Resp. 500 e2-4 und Leg. 713 a9-b4. 156 Aus Platons Perspektive darf die e[daimonía nicht als eine das Menschliche betreffende Realität betrachtet werden, denn sie kann nur jenseits der sinnlichen Welt wirklich erreicht werden. So erweist sich jede Bewertung des platonischen e[daimonía-Begriffes als schlicht unplatonisch, die irgendeinen mit dem sinnlichen Bestandteil des Menschen verbundenen 152
391 Faktor als entscheidend betrachtet. Der Mensch kann nur dann e[daímvn werden, wenn er sich auf die Seele und ihre Tugend konzentriert und dabei die Perspektive des einzelnen Lebens in der sinnlichen Welt transzendiert (Resp. 618 b6-619 b1). Der bíow e[daímvn steht in keiner Beziehung zur sinnlichen Welt (vgl. Phdr. 250 b5-c6!) und kann durch die Überwindung jedes Einflusses der Sinne bzw. durch das Üben der Gerechtigkeit erreicht werden (Tim. 42 a3-b5). 157 Die e[daimonía besteht schließlich im Besitz des Schönen und des Guten (vgl. Symp. 202 c6 ff.). Deswegen wird die Idee des Guten in Resp. 526 e3-4 als tò e[daimonéstaton toû ªntow bezeichnet! 158 Philosophie führt zu einer konstanten Beziehung des Subjekts zur Wahrheit bzw. zur Uroffenbarung des Guten. Diese Beziehung wird von Platon als entscheidende Voraussetzung zur Erlangung der e[daimonía betrachtet (Leg. 730 c1-4). 159 Folglich kann eine bestimmte Seinssphäre nur von einem Subjekt erkenntnismäßig geschaut werden, das denselben Anteil am Guten gewonnen hat, der den Bewohnern dieser Sphäre zukommt.
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IV Buchbesprechung
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Andreas Lischewski Erwin Schadel (Hrsg.): JOHANN AMOS COMENIUS – VORDENKER EINES KREATIVEN FRIEDENS (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 24), Frankfurt/Main u.a. 2005, 610 S.
Angesichts der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen wird die Frage immer dringlicher, wie ein friedlicheres Miteinander der Menschen, Völker und Kulturen gedacht und unter welchen Bedingungen es eingerichtet und organisiert werden könnte. Daß das Friedenskonzept des Johann Amos Comenius dabei schon unter pädagogischer Rücksicht manch wertvollen Hinweis zur Beantwortung dieser Frage liefert, dürfte inzwischen unbestritten sein;1 und neuere Veröffentlichungen stützen dessen Aktualität auch aus der umfassenderen Sicht anderer Wissenschaften, etwa der Politik oder Theologie.2 Auch der Philosoph kann sich der Beschäftigung mit dieser Frage wohl nicht entziehen; doch zielt sein Interesse zunächst und wesentlich auf Grundsatzfragen und eine gewisse systematische Durchdringung des Problems: Anstatt sich voreilig in klugen Ratschlägen zu ergehen, wird er zuerst darum bemüht sein, sich auf die Grundlagen des Friedens zu besinnen. Eine solche Besinnung aber findet er in dem nunmehr vorliegenden Bande, der die Vorträge eines deutsch-tschechischen Kolloqiums enthält, welches vom 13.–16. April 2004 in Bamberg stattfand. Wie der Titel andeutet, wurden dabei zwei Problemkreise miteinander verschränkt: Mit der Tagung sollte nämlich zum einen der Nestor des interkulturellen Philosophierens, Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Beck, geehrt und zugleich dessen Forschungsprojekt „Kreativer Friede durch Begegnung der Weltkulturen“3 gewürdigt und weitergeführt werden; zum ande-
396 ren aber ging es um die Frage, welche Anregungen dieses Konzept eines kreativen Friedens von einem Denker erhalten könnte, der bereits an der Schwelle zur Moderne vor falschen Entgegensetzungen gewarnt und statt dessen eine universale Sichtweise eingefordert hatte. In 5 Abteilungen bemühten sich 24 Referenten darum, unter historischen und systematischen Gesichtspunkten eben diesen Zusammenhang einer Klärung zuzuführen, inwieweit Johann Amos Comenius als Vordenker eines kreativen Friedens betrachtet werden kann – und das Ergebnis ist höchst beeindruckend: Anstelle eines bunten Sammelsuriums von Einzelperspektiven bieten die Referate nämlich eine weitgehend in sich schlüssige und konsistente Gesamtinterpretation, die das comenianische Denken als von seinen onto-theologischen Grundlagen her auf Frieden ausgerichtet zu erweisen versucht, und damit zugleich auch die wesentliche Bestimmung des comenianischen Friedensbegriffes selbst erhellt: Dieser beschränkt sich nämlich nicht einfachhin auf die Beschreibung eines bestimmten politischen Zustandes, sondern bezeichnet ein komplexes Verhältnis des Menschen zur seinshaft verstandenen Wirklichkeit von Welt überhaupt.4 Gerade hierdurch aber gewinnt der Band eine Weite der Reflexion, die ihn überaus aufschlußreich werden läßt und auch für die Gegenwartsdiskussion manch wertvolle Anregung enthält. Es zeigt sich hier einmal mehr, daß die historische Beschäftigung auch mit sogenannten „vor“-modernen Denkern durchaus gewichtige Denkanstöße und Einsichten zu zeitigen vermag, durch welche die Einseitigkeiten und Grenzen unserer so selbstsicher daherschreitenden „Moderne“ kritisch in den Blick treten – und kein Geringerer als Jan Patoãka begriff die „vom Standpunkt der Moderne fragwürdige pansophische Gestalt“ der comenianischen Philosophie und Pädagogik daher auch als eine nunmehr „rechtzeitig kommende Inspiration“.5 Solcherart aber erscheint Comenius dann nicht nur als kritisches Korrektiv zur Moderne, sondern zugleich auch als Anreger eines „post“-modernen Denkens, und zwar eben nicht nur in der Theologie,6 sondern insbesondere auch in der Philosophie.7
397 Somit ist also der Rahmen vorgezeichnet, innerhalb dessen das zu besprechende Werk verortet werden will. Es verbleibt aber die Aufgabe, dessen zentrale Thesen nunmehr darzustellen, um diese abschließend kurz zu würdigen.
* 1. Der erste Abschnitt „Zum Friedensgedanken in der frühen Neuzeit“ enthält Versuche, einige Traditionen zu benennen, die für das comenianische Denken auf unterschiedliche Weise bestimmend geworden sind. So hatte etwa bereits Nikolaus von Kues in De pace fidei ein gemeinsames Gespräch der unterschiedlichen Nationen und Kulturen entworfen, mit dessen Hilfe ein dauerhafter Religionsfrieden hergestellt werden sollte – und somit bereits die comenianische Auffassung antizipiert, daß ein solcher Frieden nicht zuerst das Ergebnis einer militärischen Intervention sein könne, sondern durch einen argumentativen Dialog gefördert werden müsse (A. Rieber). Auf eine ähnliche Weise enthält aber auch das Humanitätskonzept des Erasmus von Rotterdam schon deutliche Anklänge etwa an die friedenspädagogischen Ansichten des Comenius: Denn die Neigung zum gegenseitigen Wohlwollen, die dem Menschen gleichsam als ontologisches Gesetz eingeboren sei, soll bei beiden Denkern durch die Erziehung ausgeprägt und zu einer friedliebenden Gesinnung fortgebildet werden (H.-R. Schwab). Doch egal, ob Comenius umfassend aus dem komplizierten Spannungsgefüge der Friedensideen im utopischen Denken des 17. Jahrhunderts überhaupt begriffen wird (S. Wollgast), oder ob in einer eher knappen Skizze lediglich der Einfluß eines weniger bekannten Zeitgenossen wie etwa des Johannes Jessenius untersucht wird (T. Nejeschleba): Immer zeigt sich, daß sich die comenianische Friedenstheorie zahlreichen Anregungen verdankt, und diese doch zugleich kritisch weiterentwickelt. Und solches gilt dann insbesondere auch für die Rezeption der Brüdertheologie
398 (A. Nastoupilová): Diese enthält nämlich durchaus schon wesentliche Grundzüge des comenianischen Denkens – etwa die Spannung von Erlösungsverheißung und menschlichen Bemühungen oder die Bedeutung der Kindererziehung für eine friedfertigere Welt –, gewinnt aber bei Comenius unter dem Eindruck des Chiliasmus trotz alledem eine eigentümliche Prägung. 2. Der zweite Teil über des Comenius „Friedenspädagogik und seine konkreten irenischen Bemühungen“ wird von einer Studie über die friedenspädagogischen Aspekte seines Reformwerkes eröffnet (W. Eykmann). Dieser ist insofern aufschlußreich, weil er nicht einfach die von Comenius selbst mitgeteilten methodischen Ratschläge wiederholt, sondern vielmehr gerade umgekehrt den Gesamtansatz einer consultatio interpretativ leitend werden läßt – und solcherart die Grundzüge einer Erziehung zum Frieden als ein argumentatives Miteinander von Personen zu entwerfen versucht. Die folgenden Beiträge zeigen sodann, wie dieses argumentative Miteinander auch für die friedliche Beilegung von Kontroversen überhaupt bestimmend sein kann, indem sie dieses jeweils exemplarisch an einer konkreten Auseinandersetzung aufweisen: Schon anläßlich der nach 1632 aufbrechenden Diskussion mit Samuel Martinius hob Comenius beispielsweise Liebe, Aufrichtigkeit und Toleranz als Grundvoraussetzungen eines friedlichen Dialoges hervor (J. Bene‰); hinsichtlich eines interkonfessionellen Gespräches wird sodann die Aussage des um 1639 entstandenen Prodomus Pansophiae als maßgeblich betrachtet, daß zur Überwindung von Meinungsverschiedenheiten eine gemeinsame Beratung notwendig sei, wobei die genaueren Auffassungen des Comenius hinsichtlich der unterschiedlichen Konfessionen jeweils einzeln umrissen werden (M. Steiner); im Streit mit Valerius Magni entwarf Comenius des weiteren um 1644/45 ein bedeutungsvolles Modell zur vernünftigen Urteilsfindung, welches den Menschen auf der Grundlage teilhabender Erkenntnis an der göttlichen Schöpfungsordnung auch ontologisch als zum wahrheitsfindenden Dialog ermächtigt ausweist (H.-J. Müller); und so wird
399 schließlich in der späteren antisozianischen Kontroverse der Jahre 1659-1662 die friedliche Einigung der Christenheit überhaupt in Analogie zum innertrinitarischen Selbstvollzug des Göttlichen gedacht, der aufgrund der Zwei-Naturen-Lehre zugleich auch als Kriterium der kontingenten Friedensbemühungen um eine allgemeine Vereinigung der Menschen fungieren soll (R. Froschauer). 3. Drei weitere Aufsätze versuchen sodann, die „theologischen Elemente der Universalreform“ namhaft zu machen – und scheinen damit recht eigentlich an den Nerv des comenianischen Selbst- und Weltverständnisses zu rühren. So dürfte wohl kaum zu bezweifeln sein, daß der christliche Glaube als wesentliches Moment der Universalreform zu betrachten ist, insofern Comenius nämlich konsequent theozentrisch und theonom denkt: Wegen der trinitarischen Wirklichkeit des personalen Schöpfergottes kann dessen Ebenbild – der Mensch – die Sinnspuren Gottes auch in der Welt allenthalben entdecken und somit auch in Entsprechung zum göttlichen Willen handeln (P. Zemek); und die mit dieser Auffassung konsequent verbundene heilsgeschichtliche Sichtweise vermag sodann diese innerweltliche Verbesserung zugleich als eine konkretisierende Antizipation des künftigen Friedens-Reiches Gottes zu begreifen, zu deren Verwirklichung der Mensch als Mitarbeiter Gottes eben aufgerufen ist und dementsprechend auch durch eine angemessene Erziehung für dieses Werk vorbereitet werden muß (J.B. Lá‰ek). In seiner Bedeutung kaum zu unterschätzen ist schließlich auch der wertvolle Hinweis, daß Comenius sowohl die Unität als auch seine eigene Pansophia in eben dieser Heilsgeschichte selbst verortet: Denn das leidvolle Schicksal der ersteren erhält durch eine rechtfertigende Theologie der Verfolgung genauso eine heilsgeschichtliche Dignität wie das Beratungswerk, dessen Weisheit nun endlich einen Ausweg aus dem Dilemma der Verfolgung zu versprechen scheint (D. Neval). 4. Unter der Überschrift „Grundzüge der interkulturell konzipierten Pansophie“ wird die Friedensthematik nunmehr vor allen
400 Dingen unter dem Blickwinkel der dialogischen Strukturiertheit des Beratungsprojektes interpretiert: Als eine Einladung zum gemeinsamen Gespräch ist dieser friedliche Dialog dabei bereits im Prodomus Pansophiae angelegt (J. Beer), der zugleich als die wesentliche Textgrundlage der gesamten Interpretation überhaupt angesehen werden darf; in der Panorthosia aber erhält er sodann unter der Form der unterschiedlichen Beratungsgremien eine institutionelle Gestalt (J. Kumpera) und erscheint schließlich sogar in diversen aktuellen Friedensinitiativen eine bereits ansatzweise Verwirklichung gefunden zu haben (K. Floss). Unter diesem Blickwinkel stellt sich die von Comenius intendierte Beratung also in ihrer ganzen Offenheit und Unabgeschlossenheit dar: Sie scheint jeden Dogmatismus auszuschließen und statt dessen auf eine interkulturelle Verständigung hinauszulaufen, in welcher ein jeder Gesprächspartner – „ohne Rücksicht darauf, ob einer Christ oder Mohammedaner, Jude oder Heide sei, und welcher Sekte auch immer er angehört“ (Prodomus § 54) – eben das einbringen darf, was er an Gutem zur allgemeinen Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten beizutragen hat. 5. Die „Philosophisch-metaphysischen Dimensionen des pansophischen Friedensbegriffes“ bilden den Inhalt des abschließenden Teiles, der sowohl dessen ontologische Grundlagen als auch seine pragmatische Aktualität offenzulegen sucht. Dabei erweist sich das comenianische Verständnis des Friedens jedoch schnell als ein durchaus komplex strukturiertes Phänomen, welches die harmonische Einheit der Menschen untereinander zugleich als eine individuell bestimmte Vielfalt begreift (P. Floss), die dem einzelnen Menschen immanente Ordnung immer zugleich als Ermöglichungsgrund auch eines auf das Ganze bezogenen äußerlichen Friedenszustandes versteht (J. Matula), und somit den Gedanken einer „binnenstrukturierten Ganzheit“ (V. Schifferová) nicht nur für die Seinstheorie, sondern auch für die Noetik und Morallehre leitend werden läßt. Der Tanz der Chariten – die Darstellung eines ineinander verschlungenen und
401 doch triadisch strukturierten Vollzugsrhythmus – ist daher in der Tat eine treffliche Veranschaulichung des intendierten kreativen Friedens (E. Schadel), während die beiden Abhandlungen zur pansophischen Metaphysik (M. Scherbaum) und den pragmatischen Implikationen des comenianischen Friedensbegriffes (U. Voigt) zusammengenommen eine grundsätzliche Gesamtinterpretation liefern – die einem jeden Leser auch als Einführung in den vorliegenden Band überhaupt wärmstens empfohlen werden können! Die Tagung endete schließlich mit einigen Hinweisen zu den konkreten Möglichkeiten interreligiösen Lernens (J. Rehm), sowie mit einem Beitrag des Jubilares über die von Comenius eröffnete Chance zu einer kreativen Begegnung der Weltkulturen, die angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 inzwischen um so dringlicher geworden sei (H. Beck). * Überblickt man die Referate des vorliegenden Tagungsbandes nun im Zusammenhange, so liegt seine eigentliche Leistung sicherlich in einer gewissen interpretativen Homogenität, die 1. das Friedensdenken des Comenius in den Zusammenhang eines streng monotheistischen und doch triadisch ausgefalteten Gottesbildes stellt, 2. die eine welthafte Schöpfung zugleich als prinzipiell in sich strukturierte Harmonie begreift und 3. deren auch faktische Sichtbarlichung schließlich als die wesentliche Aufgabe der Menschen auffaßt, die diese Spannung von Einheit und Vielfalt a) dialogisch bewähren und solcherart b) in einem kreativ zu erhandelnden Friedenszustand auch äußerlich darstellen müssen. Es ist aber diese sich durchhaltende Grundauffassung, die die Lektüre des Bandes so ergiebig sein läßt und auch ein systematisches Lesen „von hinten nach vorne“ ermöglicht – welches seinen Ausgangspunkt also bei den theologischen und metaphysischen Voraussetzungen sucht, sich von dort her dem Wesen des interkulturellen Dialoges nähert und schließlich zu den konkreten friedenspolitischen und -pädagogischen
402 Initiativen des Comenius fortschreitet. So aber verbinden sich die Aufsätze zu einem einheitlichen Begründungszusammenhang, innerhalb dessen das Wesen des wahrhaft universalen Friedens, wie ihn solcherart Comenius entworfen hatte, immer deutlicher in Erscheinung tritt. Andererseits ist jedoch der Hinweis nicht unerheblich, daß die meisten der vorliegenden Interpretationen die – sowohl von dem Jubilar als auch von Comenius vertretene – Auffassung einer „absoluten Priorität des Positiven vor dem Negativen“8 durchaus zu teilen scheinen, mithin also auch die seinsgegründeten Möglichkeiten einer interkulturellen Verständigung mit dem Ziel eines allumfassenden Friedens prinzipiell optimistisch einschätzen. Nun darf dieser Optimismus zwar freilich nicht mit einer naiven Kritiklosigkeit verwechselt werden9; und doch neigt er nicht selten dazu, einige irritierende Äußerungen des Comenius eher weniger in den Blick zu nehmen. Die im Anschluß an diesen Band eigentlich weiterführende Frage scheint mir daher diese zu sein: Inwieweit nämlich der intendierte Dialog im Dienste der Wahrheitssuche, wie er im Prodomus und der Via Lucis unzweifelhaft zum Tragen kommt,10 durch die erscheinende Wahrheit im Verlaufe der Consultatio Catholica zunehmend überholt wird! Wie anders sollte nämlich der Überwachungsstaat11 der Panorthosia, der bis in das elterliche Schlafzimmer hinein regiert, zu der postulierten seinshaften Freiheit des Menschen passen?12 Wie anders die immer wieder geforderte Bücherzensur zur behaupteten Meinungsvielfalt und die Leugnung der Gewissensfreiheit des Türken zur Toleranz?13 Welchen Sinn also kann eine gemeinsame Beratung, ein interkultureller Dialog, schließlich noch haben, wenn sich der eine Gesprächspartner eindeutig auf der Seite der Wahrheit weiß – „Non ego Vos alloquor, sed Deus!“14 –, während es dem anderen Gesprächspartner lediglich verbleibt, entweder den gegebenen Ratschlägen „freiwillig“ zuzustimmen oder aber in deren Ablehnung zu erkennen zu geben, daß er zwangsläufig zu jenen böswilligen und niederträchtigen Kritikern gehören muß, die Gott
403 und der Welt den Krieg erklären?15 Denn wer würde es wohl noch vermögen, gegen ein solches Werk einen berechtigten Einspruch zu erheben, welches doch zweifelsfrei „zu den Werken der göttlichen Vorsehung (Operibus Providentiae suae)“ selbst gehört?16 Damit ich also nicht mißverstanden werde: Getrieben durch ein tiefes Friedensverlangen, suchte Comenius nach einem Heilmittel („remedium“) gegen die menschlichen Gebrechen, und wer hinsichtlich der aktuellen Gegenwartsprobleme an dieser Suche teilhaben möchte, der dürfte auf dem ohnehin übervollen comenianischen Büchermarkt momentan kaum eine angemessenere Darstellung des comenianischen Friedensverständnisses finden als die vorliegende: Denn auf dessen zahlreiche Facetten hingewiesen und es doch zugleich in seiner systematischen Einheit zugänglich gemacht zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst der in diesem Bande versammelten Referate. Doch hat eben jedes Heilmittel bekanntlich auch seine unerwünschten „Risiken und Nebenwirkungen“, deren Aufarbeitung für Comenius jedoch noch weitgehend aussteht. Die ausdrückliche Warnung zumindest, man möge der „Versuchung“ nicht verfallen, „die Harmonie und Geschlossenheit, nach der sich Comenius so sehr sehnte, in seinem Lebensweg, seiner Person und seinem Werk verwirklicht zu sehen“17, scheint mir auf alle Fälle bedenkenswert zu sein. Und wäre es auch naiv, diesen Ausstand als einen Makel der Vergangenheit zu betrachten, so scheint gerade unter dieser Rücksicht doch zukünftig eine weitere „Beratung“ dringend notwendig zu werden – eine Beratung freilich, innerhalb derer sich auch die Konzeption eines „kreativen Friedens“ selbst wird wiederum bewähren müssen! Anmerkungen 1 Zusammenfassende Würdigung bei: W. Eykmann, Friedensverkündigung und Friedenserziehung. Ein Versuch ihrer wechselseitigen Zuordnung (= Sammlung Christliche Pädagogik), Würzburg 1991, S. 225 ff. 2 Vgl. insbesondere die beiden Tagungsbände: G. Michel (Hrsg.), Comenius und der Frieden [1995] (= Schriften zur Comeniusforschung 24), Sankt Augustin 1997; sowie W. Korthaase u.a. (Hrsg.), Comenius und der
404 Weltfriede / Comenius and World Peace (Deutsche Comenius-Gesellschaft), Berlin 2005. 3 Zum Hintergrund vgl. insbes. H. Beck/G. Schmirber (Hrsg.), Kreativer Friede durch Begegnung der Weltkulturen (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 9) Frankfurt/Main 1995. 4 Vgl. V. Soudilová, Philosophische Grundlagen des Irenismus bei J.A. Comenius, in: Acta Comeniana 9 (1991), S. 29 ff. 5 J. Patoãka, Comenius und die offene Seele, in: ders., Jan Amos Komensk˘. Gesammelte Schriften zur Comeniusforschung (= Veröffentlichungen der Comeniusforschungsstelle 12), Bochum 1981, S. 421. 6 Vgl. H. Schröer, Comenius und seine Bedeutung für die postmoderne Kultur in: ders., Von Comenius zur Postmoderne im Horizont der Pansophie (= Wechsel-Wirkungen. Traktate zur Praktischen Theologie und ihren Grundlagen 42), Waltrop 2002, S. 59-78. 7 Einen wesentlichen Ansatzpunkt für die philosophische Rezeption bietet hier vor allen Dingen die antisozianische Kontroverse des Comenius, der gerade in der Auseinandersetzung um die Trinitätslehre das Grundmodell einer in sich vielfältig strukturierten und in sich selbst kommunikativen Einheit entwickelt. Vgl. dazu insbes. die Vorbemerkungen von E. Schadel in: ders. (Hrsg.), Johann Amos Comenius: Wiederholte Ansprache an Baron Wolzogen / Iteratus ad Baronem Wolzogenium Sermo, übers. v. O. Schönberger (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 22), Frankfurt/Main 2002, S. 35 ff. – Vgl. dazu insges. auch: E. Schadel, Sehendes Herz (cor oculatum) – zu einem Emblem des späten Comenius. Prämodernes Seinsverständnis als Impuls für eine integral konzipierte Postmoderne (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 21), Frankfurt/Main 2003. 8 Vgl. dazu die Parallelisierung der Ansätze Heinrich Becks und Comenius’ in der Begrüßung durch Erwin Schadel, die in dem Besprechungsband auf den Seiten 23 f. wiedergegeben ist. 9 Es darf daran erinnert werden, daß der Herausgeber selbst bereits eine philosophisch begründete Kritik der pansophischen Triadik vorgelegt und sich damit zugleich gegen eine jede „falsch verstandene Pietät“ Comenius gegenüber gewandt hat. Vgl. dazu: E. Schadel, Die Sozianismuskritik des J.A. Comenius und die Genese des neuzeitlichen Selbst- und Wissenschaftsverständnisses. Versuch einer kritischen Würdigung der pansophischen Triadik, in: Kl. Schaller (Hrsg.), Comenius. Erkennen – Glauben – Handeln (= Schriften zur Comeniusforschung 16), Sankt Augustin 1985, S. 170. Diese Kritik aber gilt es allein schon deshalb deutlich hervorzuheben, weil sie eine dezidiert philosophische Auseinandersetzung bietet, die den ontologischen Begründungsengpaß der Triadik aufzuweisen versucht. Daß dieser spekulativ-metaphysisch bestimmte Zugang zu Comenius insbesondere bei den Theologen einen „stets lebhaften Widerspruch“ erntete (vgl. dazu den Diskussionsbericht ebd. S. 238), verwundert freilich nicht. Und doch dürfte er ein Indiz dafür sein, daß einer spekulativen Auseinandersetzung mit Comenius leider viel zu wenig Gewicht beigemessen wird.
405 U. Voigt, Das Geschichtsverständnis des Johann Amos Comenius in Via Lucis als kreative Syntheseleistung (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik 11), Frankfurt/Main 1996, S. 228: „Der zu suchende ‚Weg des Lichtes‘ (liegt) darin, die positiven Grundgehalte der verschiedenen Positionen zu erarbeiten und aus der Einsicht in die ihnen zugrunde liegende und von ihnen jeweils begrenzt ausgedrückte Wirklichkeit heraus als mögliche wechselseitige Ergänzungen aufzuzeigen. […] Der entsprechende Prozeß kann jedoch nicht einseitig vom Standpunkt einer einzigen Kultur her vollzogen werden; er ist nur als ‚consultatio catholica‘ aller Weltkulturen und all ihrer Teilkulturen zu leisten“. 11 Daß die „gesellschaftlichen Kontrollmechanismen“ der Panorthosia nicht unerheblich „an einen totalitären Überwachungsstaat erinnern“, konstatierte bereits J. Friedrichsdorf, Umkehr. Prophetie und Bildung bei Johann Amos Comenius (= Forschen – Lehren – Lernen 11), Idstein 1995, S. 38. – Entsprechend aber wurde auch die Pampaedia als ein „Totalprogramm der Erziehung“ bezeichnet. So J. Petersen/G. Priesemann, Comenius zur Theorie von Schule und Unterricht in: G. Arnhardt/G.-B. Reinert (Hrsg.), Jan Amos Comenius über sich und die Erneuerung von Wissenschaft, Erziehung und christlicher Lebensordnung, Bd. 1, Donauwörth 1996, S. 39 f. – Das Problem scheint mir am deutlichsten gesehen bei H.-Chr. Harten, Kreativität, Utopie und Erziehung. Grundlagen einer erziehungswissenschaftlichen Theorie sozialen Wandels, Opladen 1997, S. 214 f. Harten weist darauf hin, daß die Universalität und Lückenlosigkeit der geforderten pansophischen Erziehung zu einer „tendenziellen Pädagogisierung der gesamten Lebenswelt“ führe, sich mithin also „bildungspolitische Demokratisierung“ und „pädagogische Totalisierung“ beständig ambivalent zueinander enthalten. 12 Vgl. den Hinweis bei Fr. Hofmann, Einführung, in: Johann Amos Comenius, Allverbesserung (Panorthosia) (= Erziehungskonzeptionen und Praxis 37), Frankfurt/Main 1998, XXVII: „Eine […] Spannung, die in der Panorthosia unübersehbar ist, offenbart sich im Widerspruch zwischen der immer wieder mit Nachdruck verkündeten Freiheit des Menschen und einer zum Teil rigiden Ordnung und Regulierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens“. 13 Vgl. dazu V.-J. Dieterich, Johann Amos Comenius – Ein Mann der Sehnsucht. Theologische, pädagogische und politische Aspekte seines Lebens und Wirkens, Stuttgart 2003, S. 65. Dieterich weist ausdrücklich darauf hin, daß sich gerade beim späten Comenius viele Vorurteile zunehmend zu einer Verurteilung „verdichten“: „Toleranz scheint ihm jetzt keiner Erwähnung mehr wert“. 14 De rerum humanarum emendatione Consultatio Catholica (Editio princeps), hrsg. v. O. Chlup, Prag 1966, Band II: Pannuthesia X, 24 [424/778]. 15 Vgl. ebd. X, 3 ff. [422/774]. 16 Ebd. IV, 3 [392/715]. – Vgl. auch ebd. IV, 23 [396/722]: „Tuum est hoc Opus, non meum!“ 17 V.-J. Dieterich, Johann Amos Comenius – Ein Mann der Sehnsucht. (wie Anm. 13), S. 23. 10
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Redaktionsnotiz
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Mitarbeiterliste 2005 Dr. Jorge Uscatescu Barrón, Hirschstr. 14, D-79100 Freiburg/Breisgau PD Dr. phil. habil. Paola-Ludovika Coriando, Albert-Ludwig-Universität Freiburg, Philosophisches Seminar, Werthmannplatz 3, D-79085 Freiburg/Breisgau Prof. Dr. Andreas Dorschel, Universität für Musik und darstellende Kunst, Institut 14 Wertungsforschung, Leonhardstraße 15, A-8010 Graz Prof. Dr. Edgar Früchtel, Mauerkircher Straße 84, D-81925 München Dr. Salvatore Lavecchia, Bachgasse 3, D-97070 Würzburg Dr. Andreas Lischewski, Tannenweg 3 D-97249 Eisingen PD Dr. phil. habil. Achim Lohmar, Universität zu Köln, Philosophisches Seminar, Albertus Magnus-Platz, D-50923 Köln Dr. Kurt Mager, Schinkelstraße 9, D-44801 Bochum Prof. Dr. Theo Meyer, Hessenstraße 72, D-97078 Würzburg PD Dr. phil. habil. Peter Nickl, Juister Weg 1, D-30163 Hannover Prof Dr. Jürgen-Eckardt Pleines, Lange Straße 33, D-76275 Ettlingen Prof. Dr. Thomas A. Szlezák, Eberhard Karls Universität Tübingen, Philologisches Seminar, Wilhelmstraße 36, D-72074 Tübingen
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Redaktion:
PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger † (Würzburg); Herausgegeben von Wiebke Schrader (Würzburg); Georges Goedert (Luxemburg) und Martina Scherbel (Würzburg)
Redaktion: Prof. Dr. Wiebke Schrader, Würzburg Mitglieder der Redaktion: Dr. Martina Scherbel M.A. (verantwortlich); Dr. Dorothea Grund M.A., Erika Müller (techn. Koordination)
Anschrift der Redaktion: Prof. Dr. Wiebke Schrader Frankenstraße 33/35, D-97249 Eisingen Tel. ++49(0)9306 1209 Fax ++49(0)9306 983760 e-mail: [email protected] oder Institut für Philosophie der Universität Würzburg Lehrstuhl II Residenzplatz 2, D-97070 Würzburg
Beiträge werden nur in druckfertigem Zustand übernommen. Autorenkorrekturen müssen berechnet werden. Wir bitten die Autoren, griechische Zitate nur maschinenschriftlich in das Manuskript aufzunehmen. Anmerkungen sind den Beiträgen in der Regel am Schluß hinzuzufügen.
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PERSPEKTIVEN DER PHILOSOPHIE Neues Jahrbuch Begründet von Rudolph Berlinger † (Würzburg); herausgegeben von Wiebke Schrader (Würzburg); Georges Goedert (Luxemburg) und Martina Scherbel (Würzburg). Das „Neue Jahrbuch“ nimmt die Intentionen des ehemaligen Jahrbuchs „Philosophische Perspektiven“ (1969 - 1973) auf.
Band 1 enthält Beiträge zum Thema „Vernunft in Wissen, Beschreiben und Handeln“ (Rudolph Berlinger, Friedrich Kaulbach, Fred Kersten, Hans Lenk, Hermann Lübbe, Wiebke Schrader); sowie Abhandlungen zum Ödipus-Problem bei Nietzsche (Eric Blondel); zu Spiel und Feier (Eugen Fink); zur phänomenologischen Ästhetik, Teil I (Gerhard Funke); zum Buddhismus (Masako Odagawa) und zu Solons Staatselegie (Ernst Siegmann). In diesem Band werden zum ersten Mal die Reden zum Tode Edmund Husserls (Eugen Fink, Ludwig Landgrebe, Jan Patoãka) der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eine Würdigung der Philosophen Wolfgang Cramer (Konrad Cramer, Hans Friedrich Fulda) und Aron Gurwitsch (Fred Kersten) schließt diese Rubrik ab. – Buchanzeigen und Rezensionen. Amsterdam 1975 Band 2 mit Beiträgen zum Thema „Ende oder Zukunft der Metaphysik“ (Franco Chiereghin, Wilhelm Ettelt, Jacques d’Hondt, Dieter Lang, Martin Oesch, Josef Stallmach, Xavier Tilliette); sowie Abhandlungen zur phänomenologischen Ästhetik, Teil II (Gerhard Funke); zur Rechtsphilosophie Hegels (Klaus Hartmann); zur klassischen Ästhetik (Walter Hirsch); zur Struktur geschichtsphilosophischer Aussagen (Paul Janssen); zum Bildnis des Sokrates (Thuri Lorenz); zu Comte und d’Eichthal (Magda Felice-Oschwald) und zum Drama des bürgerlichen Humanismus (Jean Servier). Dem Andenken an Heinz Heimsoeth (Wolfgang Janke) und Eugen Fink (Gerhard Schmidt) gelten zwei Beiträge. – Buchanzeigen und Rezensionen. Amsterdam 1976 Band 3 mit Beiträgen zum Thema „Zur systematischen und praktischen Philosophie“ (Rudolph Berlinger, Roderick M. Chisholm, Gerhard Frey, Friedrich Kaulbach, Manfred Riedel, Julius Jakob Schaaf, Wiebke Schrader) und Abhandlungen zur Problemgeschichte der Neuzeit: Aristoteles’ Lehre vom Guten (Franz Brentano); Généalogie des valeurs et vérité dans la philosophie de Nietzsche (Jean Granier); Vollendeter Humanismus (Wolfgang Janke); Schopenhauers „Kritik der Kantischen Philosophie“ (Johann-Heinrich Königshausen); Montesquieu und die „gesellschaftliche Funktion“ der Religion (Hugo Laitenberger); Das Prinzip der phänomenologischen Intelligibilität bei Aron Gurwitsch (Guiseppina Moneta); Das principium identitatis indiscernibilium des Leibniz (Hans Radermacher); Die psychoanalytische Kritik Freuds am Philosophieren (Alfred Schöpf); Das Land der Wahrheit ist eine Insel (Wilhelm Teichner). Dem Andenken von Jan Patoãka ist ein Beitrag von Ludwig Landgrebe gewidmet. – Buchanzeigen und Rezensionen. Hildesheim 1977
Band 4 enthält den ersten Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach „Das Experiment der Vernunft“ mit Beiträgen von Friedrich Kambartel, Yvon Belaval, Rudolph Berlinger, Josef Derbolav, Gerhard Funke, Erich Heintel, Ulrich Hoyer, Friedrich Kambartel, Stephan Körner, Hans Lenk, Klaus Mainzer, Jürgen Mittelstraß, Manfred Riedel, Wiebke Schrader und Oswald Schwemmer. Außerdem folgende Abhandlungen: Der Ansatz einer Dialektik der Natur bei Marx (Mihailo Djuriã); Die Beherrschung der Wirtschaft durch schöpferisches Denken (Eugen Fink); Mystische Erfahrung und Sprache (Alois M. Haas); Der metaphysische Sinn topologischer Ausdrücke bei Augustin (Shinro Kato); Anthropologie als Grundwissenschaft (Erich Christian Schröder); Der Gott des Monadenalls. Gedanken zum Gottesproblem in der Spätphilosophie Husserls (Stephan Strasser); Der Ausbruch aus der Universitätsphilosophie. Eine Erinnerung an die Grundintention des Gesamtwerkes von Wilhelm Dilthey (Carl Ulmer); Das Vorurteil des Hierarchismus (Jörg Willer). – Buchanzeigen von Enrico Berti, Wilhelm Ettelt, Georges Goedert, Helmut Kuhn, Yoitiro Kumada, Wilhelm Teichner und Alfred Schöpf. Hildesheim 1978 Band 5 enthält den zweiten Teil der Festschrift zu Ehren von Friedrich Kaulbach „Das Experiment der Vernunft“ mit Beiträgen von Ralf Dreier, Volker Gerhardt, Joachim Kopper, Norbert Herold, Wolfgang Ritzel, Helmut Schelsky und Wiebke Schrader. Außerdem folgende Abhandlungen: Die Frage nach dem Ende der Geschichte (Mihailo Djuriã); Das transzendentale Ich als Seiendes in der Welt (Robert Welsh Jordan); Axel Hägerström. Über die Wahrheit moralischer Vorstellungen (Dieter Lang); Über die Wahrheit moralischer Vorstellungen (Axel Hägerström); Transzendentale Fundamente der Moral in der Person (Wolfgang Marx); Anthropologie – Pro und Contra (Julius Jakob Schaaf); Gebildete Sinne – Bedingung glückenden Daseins (Hubertus Tellenbach); Der Satz vom Grund als transzendentales Prinzip der Seinserschließung (Beda Thum); Das empirische Denken Carl Braigs (1853-1923) (Franz Träger). – Buchanzeigen und Rezensionen von G.A. Rauche und Dieter Wyss. Hildesheim 1979 Band 6 enthält Beiträge zum Thema „Aneignung und Vermittlung“: Zum „künftigen Denken“ aus der Ferne (Yoshiaki Yamashita); Die Struktur des ästhetischen Bewußtseins bei K.W.F. Solger. Die Bedeutung der dialektischen Ironie (Kiyokazu Nishimura). Außerdem „Vermischte Abhandlungen“: Vom Grund der Conditionalität. Ein Problem der spekulativen Grammatik (Rudolph Berlinger); „Wohin?“, „Wozu?“: Ein Kulturproblem. Wahrheit und Leben bei Hume und Nietzsche (Eric Blondel); Die Abhängigkeit der Methoden von den Zielen der Wissenschaft. Überlegungen zum Problem der „Letztbegründung“ (Matthias Gatzemaier); Platons Phaidon als bewußtseinstheoretischer Dialog (Karen Gloy); Die Idee der Humanität. Zur Geschichte und Problematik der Menschenrechte (Walter Hirsch); Ist der Marxismus ein Existenzialismus? Eine Umkehrung (Wolfgang Janke); Das perspektivische Wirklichkeitsprinzip in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ (Friedrich Kaulbach); Alexander Pfänder: Welche Probleme stellt die heutige Zeit der Philosophie? Zwei Rundfunkvorträge aus dem Jahre 1927 (Eberhard AvéLallement); Die Erprobung der Mitte. Abbreviatur zu einem augustinischen Topos (Anm. u. Exkurse II) (Wiebke Schrader); Extralinguistische Prozessualität und Verbalsemantik (Klaus Trost); Die Aufnahme der Philosophie Spinozas im Denken Schillers (Winfried Weier). – Buchanzeigen und Rezensionen. „Zur Erinnerung an Willi Lautemann“ (Ein Gedenken der Schüler). Hildesheim 1980 Band 7 enthält Beiträge unter dem Titel „Friedrich Nietzsche: Interpretation und Kritik“: Nietzsches Erschließung der europäischen Moralistik (Hans Peter Balmer); Nietzsches arkadische Landschaft (Rudolph Berlinger); ‚Götzen Aushorchen‘: Versuch einer Genealogie der Genealo-
gie (Eric Blondel); Zum Begriff der Macht bei Friedrich Nietzsche (Volker Gerhardt); Zur Notwendigkeit des Bösen in Nietzsches Projekt vom Übermenschlichen (Georges Goedert); Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen (Friedrich Kaulbach); Fichte und Nietzsche (Oswaldo Market); Die metaphysische Rescendenz im Denken Nietzsches (KarlHeinz Volkmann-Schluck). „Vermischte Abhandlungen“: Konkretisierte Existenzstrukturen in Sartres Tragödie „Die schmutzigen Hände“ (Margot Fleischer); Platons Phaidon als bewußtseinstheoretischer Dialog (Karen Gloy); Phänomenologie der Zeit nach Husserl (Klaus Held); Theorie der Leiblichkeit. Eine Skizze (Shinro Kato); Lavelles philosophische Selbstbezeugung (eingel. v. Karl Albert – übers. v. Konrad Jacobs); Das Recht der spekulativen Erkenntnis (Gerhart Schmidt); Die Erprobung der Mitte. Eine Abbreviatur zu einem augustinischen Topos (Anm. u. Exkurse III) (Wiebke Schrader); Denkt die Wissenschaft nicht? (Josef Stallmach); Die absolute Idee als begreifendes Anschauen. Bemerkungen zu Hegels Begriff der spekulativen Idee (Günter Wohlfart). „Buchbesprechungen und Diskussionsbeiträge“: Kerygma und Logos. Beiträge zu den geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen Antike und Christentum (Edgar Früchtel); Eugen Fink: Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung (Paul Janssen); Heinrich Beck. Kulturphilosophie der Technik. Perspektiven zu Technik – Menschheit – Zukunft (Günther Pöltner). Hildesheim 1981 Band 8 enthält Beiträge unter dem Titel „Individuum und Daseinsbedingung“: Bildnisse griechischer Philosophen – Die Kyniker (Thuri Lorenz); Die Dringlichkeit der Frage nach dem Individuum (Wiebke Schrader); Das Individuum in Gestalt der Person (Rudolph Berlinger); Das Problem des Menschen und der Natur bei Dogen (Kogaku Arifuku); Philosophische Aspekte von Wagners »Tristan und Isolde« (Margot Fleischer); Das Individuum in der japanischen Ästhetik (Kazuyoshi Fujita); Gerechtigkeit in der Gesellschaft und die Freiheitsrechte des Individuums (Fritz-Peter Hager); Das Individuum in der Philosophie John Lockes (Norbert Herold); Herrschaft und Nähe (Pierre Pénisson); Der Prozess im Subjekt – Das Subjekt im Prozess (Wiebrecht Ries); Relationstheoretische Analyse des gesellschaftlichen Seins (Julius Schaaf); unter dem Titel „Philosophie und Praxis der Erziehung“: Erziehungsnormen und das geltende Recht (Heinrich Kanz); Die taxonomischen Stufen als Bildungsproblem (Wolfgang von der Weppen). „Vermischte Abhandlungen“: Kant und Husserl. Vom Primat der praktischen Vernunft. 1. Teil (Gerhard Funke); Meister Eckhart und die Spiritualität der Beginen (Kurt Ruh); L’existence injustifiée. Überlegungen zu Jean-Paul Sartres Roman La Nausée (Dieter Lang). Unter dem Titel „In Memoriam“: Ansprache zur Bestattung von Karl Ulmer (Rudolph Berlinger); Philosophieren im Zeitalter der metaphysischen Reszendenz. Zum Tode von Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Wolfgang Janke). „Buchanzeigen und Diskussionen“: Dieter Lang. Wertung und Erkenntnis (Thomas Mautner) sowie eine Notiz zur Gesamtausgabe der Schriften Karl Bühlers. Amsterdam 1982 Band 9 enthält Beiträge unter dem Titel „Zur frühen Heidegger-Kritik“: Grenzen und bleibende Bedeutung von Heideggers „Sein und Zeit“ (Hansgeorg Hoppe); Das Sein Heideggers als Beziehung (Julius Schaaf); Kritik und Rezeption von „Sein und Zeit“ in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen (Claudius Strube); Kant und das Problem der Sprache bei Heidegger (Günter Wohlfart); „Philosophie der Erziehung“: Bildungsphilosophisch-theoretische Ansätze der Erziehungswissenschaft (Josef Derbolav); Bildung im technischen Zeitalter (Walter Hirsch); Herr der Welt. Mit J.A. Comenius unterwegs zu einer Pädagogik der Rationalität und Intersubjektivität (Klaus Schaller). „Vermischte Abhandlungen“: Vom Grund der Phänomene (Rudolph Berlinger); Das Mathematische als Daseinsbedingung (Wilhelm Ettelt); Kant und Husserl. Vom Primat der praktischen Vernunft. 2. Teil (Gerhard Funke); Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises. Anselm und Parmenides (Klaus Held); Zweifel und Überzeugung. Peirces Kritik an
der Cartesischen Zweifelsargumentation (Jochem Hennigfeld); Das Wahrheitsproblem des Aristoteles. Zum Ansatz der Problematik (Johann-Heinrich Königshausen); Sittliche Einsicht und Normenethik. Das Aristotelische Grundlegungsproblem (Jürgen-Eckardt Pleines); Fichtes Wissenschaftslehre in der zeitgenössischen Kritik (Martin Oesch). „Nachruf“: Nachruf auf Alois Dempf (Rainer Specht). „Zur Diskussion“: Zur Erneuerung der Frage nach der „Ersten Wissenschaft“ (Wiebke Schrader); Zum Gegenstandsbereich der Hermeneutik (Hans Köchler); Anaximander – eine Studie (Christian Többicke). „Rezensionen“: Hans-Dieter Voigtländer: Der Philosoph und die Vielen (C. Joachim Classen); James P. Lowry: The Logical Principles of Proclus’ Stoicheiosis Theologike as Systematic Ground of the Cosmos (Edgar Früchtel); W. Helleman-Elgersma: Soul Sisters. A Commentary on Enneads IV 3 (27), 1-8 of Plotinus (Edgar Früchtel). Buchanzeige: J.-E. Pleines. Praktische Wissenschaft. Erziehungswissenschaftliche Kategorien im Lichte sozialphilosophischer Kritik (Jürgen-Eckardt Pleines); Josef Derbolav. Abriß europäischer Ethik. Die Frage nach dem Guten und ihr Gestaltwandel (Lothar Wigger). Amsterdam – Würzburg 1983 Band 10 enthält unter dem Titel „Philosophie der Politik“: Handlungstheorien im Politischen (Klaus Hartmann); Hegel on International Law (Michael H. Mitias); Praktische Philosophie als Philosophie des Politischen (Ernst Vollrath); unter dem Titel „Philosophie der Erziehung“: Über Bildung und ihr Maß (Theodor Ballauff); Die pädagogischen Schriften Ernst Blochs (Ernst Hojer); Der Schulbegriff in Hegels Gymnasialreden (Lothar Wigger); unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Philosophie und Religion bei Louis Lavelle (Karl Albert); Transzendentalphilosophie und Psychologie. Zum Begriff der „Phänomenologischen Psychologie“ bei Husserl (Gerhard Arlt); Vom Sprachgrund der Welt. Ein Problemaufriß (Rudolph Berlinger); Portrait im Gegenlicht – G.W.F. Hegel (Johann Ludwig Döderlein); Zur Motivation des Handelns bei Homer (Hartmut Erbse); Aristoteles’ Zenon-Kritik (Karen Gloy); Wie ist Monadologie möglich? (Klaus Erich Kaehler); Apriorität des Denkens bei Kant (Johann-Heinrich Königshausen); Raphael und das antike Rom. Bemerkungen zu seinem Brief an Leo X (Thuri Lorenz); Meister Eckharts Pariser Quaestionen 1-3 und eine deutsche Predigtsammlung (Kurt Ruh); Aristoteles’ „Erste Wissenschaft“ als Relationstheorie betrachtet (Julius Schaaf); Wie kommt der Gott in das Denken? Ein Problemaufriß (Wiebke Schrader); unter dem Titel „Rezensionen und Buchanzeigen“: Dieter Wyss. Zwischen Logos und Antilogos. Untersuchungen zur Vermittlung von Hermeneutik und Naturwissenschaft (Lothar Eley); Platonismus und Christentum. Festschrift für Heinrich Dörrie (Edgar Früchtel). Amsterdam – Würzburg 1984 Band 11 enthält unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Von der Sinnlichkeit des Geistes. Eine morphopoietische Reflexion zur Sprache (Rudolph Berlinger); Phänomenologie des Gewissens im Zusammenhang von „Sein und Zeit“ (Heinrich Hüni); Sprachverlorenheit und Winke der Götter (Wolfgang Janke); Zeit und Zeitlichkeit. Zeit als Realisierungsbedingung der Erkenntnis und die Zeitlichkeit des Erkennens (Paul Janssen); Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie. I. Teil (Bernulf Kanitscheider); Sartres Begriff der menschlichen Freiheit. Übersetzt von Gerhart Schmidt (Guy Planty-Bonjour); Selbstnegation und Vermittlung (Julius Schaaf); Fragen philosophischer Propädeutik (Leonhard G. Richter); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? I. Teil (Wiebke Schrader); Der Naturbegriff in John Lockes „Essay“ (Rainer Specht); Geschichte und ihre Zeit. Erörterung einer offenen philosophischen Frage (Elisabeth Ströker); Die Verantwortung der Philosophie als Wissenschaft oder die Verwechslung des Einfältigen mit dem Einfachen (Karl Ulmer †); unter dem Titel „Philosophie der Politik“: Handlungstheorien im Politischen. II. Teil (Klaus Hartmann); Die Idee bei Platon und Kant und das Staatsideal (Walter Hirsch); unter dem Titel „Philosophie der Erziehung“: Platons Ideen zur
Kulturkritik und zur Neubegründung der Kultur und Bildung (Fritz-Peter Hager); Giovanni Gentile: Pädagogik zwischen Idealismus und Faschismus (Ernst Hojer); Das Problem der Normenbegründung und die Pädagogik (Herbert Zdarzil); unter dem Titel „Buchbesprechungen“: Einige Bemerkungen zu Fritz-Peter Hagers Platonforschung (Edgar Früchtel). Amsterdam – Würzburg 1985 Band 12 enthält unter dem Titel „Griechische Philosophie im Manichäismus. Zum Problem von Gnostik und Mystik“: Denkformen hellenischer Philosophie im Manichäismus (Alexander Böhlig); Syzygos und Eikon. Manis himmlischer Doppelgänger vor dem Hintergrund der platonischen Urbild-Abbild-Theorie (Wolfgang Fauth); Weltflucht und Weltentfremdung. Zur Interpretation von Plotin II,9,13 (33,13) (Edgar Früchtel); Gnostik, Urform christlicher Mystik (Carl-A. Keller); unter dem Titel „Vermischte Abhandlungen“: Metaphysik der Weltgestaltung. Das morphopoietische Problem (Rudolph Berlinger); Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Philosophie. II. Teil (Bernulf Kanitscheider); Vorüberlegungen zur Bedeutung der aristotelischen Problemformel „tò ºn " ªn“ – zu Met. G 2,1003 b 6-10 (Johann-Heinrich Königshausen); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? II. Teil (Wiebke Schrader); Bemerkungen zu G.W.F. Hegels Interpretation von Aristoteles’ „De anima“ III 4-5 und ‚Metaphysica‘ XII 7 u. 9 (Horst Seidl); unter dem Titel: „Philosophie der Erziehung“: Humanität als Prinzip des Staates bei Wilhelm von Humboldt (Clemens Menze); Die Wissenschaft als Orientierungspunkt der Universitätsreform (Hermann Röhrs); unter dem Titel: „Diskussionsteil“: Moralisches Sollen, Autonomie und gutes Leben. Zur neueren Ethik-Diskussion (Hans Krämer); unter dem Titel: „Buchbesprechungen“: Christoph von Wolzogen: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps (Jürgen-Eckardt Pleines); Rudolf Löbl: Die Relation in der Philosophie der Stoiker (Julius Schaaf); und unter dem Titel „Nachruf“: Homo absconditus. Zum Gedenken an Helmuth Plessner (Elisabeth Ströker). Amsterdam – Würzburg 1986 Band 13 Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Enthält neben Geleit (Wiebke Schrader) unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“: War am Anfang der Mythos? Auseinandersetzung mit Schellings Rezeption des Johanneischen Logos-Begriffes (Albert Franz); Einige Bemerkungen zu Zeit und Zeitlichkeit in der Platonica Theologia des Marsilius Ficinus (Edgar Früchtel); Über den erkenntnistheoretischen Horizont des Freiheitsbegriffs bei Henri Bergson (Georges Goedert); Monismus und das Problem des Dualismus in der metaphysischen Deutung des Bösen bei Platon und Plotin (Fritz-Peter Hager); Existenziale Ontologie. Ein Problemaufriß (Wolfgang Janke); Freiheit und Wissen. Von der Relevanz eines handlungsirrelevanten philosophischen Wissens für Politik und Pädagogik (Paul Janssen); Die Ursprungsfrage der Ersten Wissenschaft bei Aristoteles und deren „sicherstes Prinzip“ (Johann-Heinrich Königshausen); Tradition und Kritik. Zur Geschichtsphilosophie von Herder und Spengler (Kurt Mager); Dionysius Areopagita im deutschen Predigtwerk Meister Eckharts (Kurt Ruh); Schole als Grundbegriff der Philosophie des Aristoteles (Julius Jakob Schaaf); Nihil veritate antiquius (Gerhart Schmidt); Die Wissensform des Unbewußten im 19. Jahrhundert (Alfred Schöpf); Ob Aristoteles Gott hat beweisen wollen? III. Teil (Wiebke Schrader); Forschen und Helfen als Normenkonflikt in der Medizin. Möglichkeiten und Grenzen einer ethischen Lösung (Elisabeth Ströker); unter dem Titel „Beiträge zur Klassischen Philologie“: Maledicta, contumeliae, tum iracundiae … indignae philosophia (C. Joachim Classen); Zwei Fragen zur Geschichtsbetrachtung des Thukydides (Hartmut Erbse); Platons ‚undemokratische‘ Gespräche (Thomas Alexander Szlezák); unter dem Titel „Beiträge zur Archäologie“: Ein Bildnis des Platon in Basel (Ernst Berger); Agora (Thuri Lorenz); Theseus und Hekale (Erika Simon); unter dem Titel „Vermischte Beiträge“: Tschernobyl, Zukünfte und Orientierung (Wolf Häfele); Zur philosophischen Implikation der Predigt
(Odilo Lechner); Die Wissenschaft von dem Lebendigen. Gedanken zu der Frage nach dem „Inneren der Natur“ (Thure von Uexküll). Amsterdam – Würzburg 1987 Band 14 Agora. Zu Ehren von Rudolph Berlinger. Enthält neben dem Geleit (Wiebke Schrader) unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie“: Ist das Lachen philosophisch? Bruchstücke einer Metaphysik des Lachens (Eric Blondel); Zur Frage der Prädestination in Manichäismus und Christentum (Alexander Böhlig); Ob das ächte Schöne erkannt werden könne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz’ ästhetischer Theorie (Peter Böhm); Heideggers Kehren (Walter Bröcker); Homo conscius sui (Gerhard Funke); Ähnlichkeit – falscher Schein – Unähnlichkeit von Platon zu Pseudo-Dionysios Areopagites (Maurice de Gandillac); Grundsätzliches der platonischen skéciw von guter Rede und guter Schrift im Phaidros (Johann-Heinrich Königshausen); Über philosophische Ethik. Probleme angelsächsischer und skandinavischer Positionen (Dieter Lang); Neues über das Systemprogramm? Johann Erich von Berger und Friedrich von Schlegel als dessen Urheber? (Martin Oesch); Europa und sein Erbe. Skizze zu einer Geschichtsphilosophie (Jan Patoãka †); Krugs Begriff einer philosophischen Propädeutik. Überlegungen zu einem Sachproblem (Leonhard G. Richter); Friedrich Nietzsche und Theodor Trajanov: Das Hohelied (Pessen na pesnite) (Heinrich Stammler); Auf dem Weg zu Fichtes Urparadoxie. Eine Überlegung zum Beginn der Wissenschaftslehre 1794 (Franz Träger); Die Problematik des Einen und Vielen in der geschichtlichen Entwicklung des buddhistischen Denkens (Alfonso Verdu); Existenz zwischen Unbedingtheit und Endlichkeit. Die Grundfrage des neuzeitlichen Autonomiegedankens im Problemhorizont der klassischen Metaphysik (Winfried Weier); unter dem Titel „Beiträge zum Recht“: Zur Philosophie des Zivilprozeßrechts, insbesondere zum Prinzip der Fairness (Walther J. Habscheid); Das Versprechen – problemgeschichtliche Aspekte eines rechtsphänomenologischen Paradigmas (Dietmar und Hildegard Willoweit); unter dem Titel „Beiträge zur Slawistik“: Literatur und Religion zu Dostojewskijs Erzählkunst (Wilhelm Lettenbauer †); Entfremdung und Verfremdung in der russischen Literatur und Literaturtheorie (Klaus Trost); Zu Herkunft und Gebrauch der grammatischen Termini Odusevlennyj und Neodusevlennyj im Russischen (Eckhard Weiher); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Thomas Alexander Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen (Hans Krämer). Amsterdam – Würzburg 1988 Band 15 enthält unter dem Titel „Beiträge zur Systematik der Philosophie“: Der Mensch als Philosoph und Arzt (Rudolph Berlinger); Sapphos Ode an Aphrodite (Georg Siegmann); Die Architektur der Sprachspiele – zum Konstruktionsprinzip von Wittgensteins Spätphilosophie (HeinzGerd Schmitz); Der Wahrheitscharakter der Metaphysik in Kants Kritik der Urteilskraft (Ingeborg Schüßler); Poiesis und Praxis in der Gliederung der Fundamentalontologie M. Heideggers (Jacques Taminiaux); Problematik des Einen und des Vielen: die Madhaymika-Schule (Alfonso Verdu); unter dem Titel „Kultur und Politik“: Über die Beziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen bei H. Arendt und E. Weil (Patrice Canivez); Metapolis und Apolitie. Defizite der Wahrnehmung des Politischen in der Kritischen Theorie und bei Jürgen Habermas (Ernst Vollrath); unter dem Titel „Beiträge zur Pädagogik“: Richard Hönigswalds Beitrag zur Kritik der pädagogischen Vernunft (Erwin Hufnagel); Glück versus Moral (Wolfgang Ritzel); unter dem Titel „Beiträge zur Diskussion“: Die Philosophie Nietzsches in China (Jie Li); Philosophie in Schweden (Dieter Lang); unter dem Titel „Nachruf“: Philosophie von der Sprache her. Zum Gedenken an Bruno Liebrucks (Josef Simon). Amsterdam – Würzburg 1989
Band 16 Akropolis. Zu Ehren von Wiebke Schrader. Enthält: Die Akropolis der Philosophie. Zum Geleit in die Zukunft einer Philosophin (Teil I) (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Systematische Philosophie“: Im Menschen wohnt Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug um und durch den Dom von Siena (Mit Bildern) (Rudolph Berlinger); Bemerkungen zur Metaphysik in Gnosis und Philosophie (Alexander Böhlig); Materie – Möglichkeit – Wirklichkeit. Überlegungen zum hypostasierenden Charakter des Denkens Schellings anhand seines „Begriffes einer eigentlichen Geisterwelt“ (Albert Franz); Das Werdenkönnen der Welt und die absolute Wirklichkeit Gottes (Rudolf Haubst); Zur aktuellen Diskussion um den Philosophiebegriff Platons (Hans Krämer); Die Konsequenz von Erkenntnis. Eine metaphysische Marginalie zum Wahrheitsproblem (Leonhard G. Richter); Humanität und Transzendenz (Gerhart Schmidt); Die Bedeutung der Ethik bei Adam Smith (Alfred Schöpf); Die Selbstgewissheit der Alltagssprache. Gedanken zum 100. Geburtstag von Ludwig Wittgenstein und Hans Lipps (Wolfgang von der Weppen); Gerechtigkeit oder Fair Play? Über Schwierigkeiten, mit Idealen zurechtzukommen (Franz Wiedmann); unter dem Titel „Philosophie und Geschichte“: Einige Bemerkungen zum Bild des Seelenwagenlenkers (Edgar Früchtel); Grundfragen einer Philosophie der Geschichte (Kurt Mager); unter dem Titel „Philosophie und Naturwissenschaften“: Atomism, the Theory of Acquaintance, and the Hegelian Dialectic (Katharina Dulckeit); Risiko, Unsicherheit, Undeutlichkeit. Eine Arbeit am Begriff (Wolf Häfele); Goethes Farbenlehre in ophthalmologischer Sicht (Fritz Hollwich); Beziehungen zwischen physikalischem und methodisch-metaphysischem Denken in den Anfängen menschlichen Geistes (Erster Teil) (Gerd Pohlenz); Steigt die Lebenserwartung? (Norbert Rietbrock); unter dem Titel „Nachtrag“: Bibliographie Rudolph Berlinger, Nachtrag zu AGORA I und II = Perspektiven der Philosophie, Bde. 13 (1987) und 14 (1988). Amsterdam 1990 Band 17 Akropolis. Zu Ehren von Wiebke Schrader. Enthält: Die Akropolis der Philosophie. Zum Geleit in die Zukunft einer Philosophin (Teil II) (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Metaphysik“: Psychologie – Ontologie – Metaphysik. Zur Tragweite des deskriptiv-phänomenologischen Verfahrens bei Franz Brentano (Wilhelm Baumgartner); Energie – Kreativität – Gott. Anmerkungen zur Metaphysik Alfred North Whiteheads (Peter Böhm); Zeitlichkeit und Ewigkeit. Schellings Theorie der Zeit (Jochem Hennigfeld); Zukunft und Aufgabe der Weltwissenschaft Metaphysik (Tomonobu Imamichi); Hölderlins Zeichen (Wolfgang Janke); Beziehungen zwischen physikalischem und methodisch-metaphysischem Denken. Die vorsokratische Bewegung des Denkens. Heraklit (Fortsetzung) (Gerd Pohlenz); Das Einteilungsproblem in Hegels Wissenschaft der Logik (Leonhard G. Richter); Grundpositionen der Neuzeit im Gegensatz zu ihrem metaphysischen Fragehorizont (Winfried Weier); Von der Unumgänglichkeit des Nicht-Anderen für alle Arten des Anderen (Richard Wisser); unter dem Titel „Ethik“: Henri Bergson oder die beiden Quellen der Gerechtigkeit (Georges Goedert); Der „Skeptizismus“ des platonischen Sokrates und der problematische Charakter des Wissens in Rousseaus Kulturkritik (FritzPeter Hager); Georg Henrik von Wright über die Verschiedenheit des Guten und den begrifflichen Rahmen moralischer Urteile (Dieter Lang); Husserls Gedanken zur praktischen Vernunft in Auseinandersetzung mit Kant (Peter Prechtl); Wissenschaftsethik in philosophiegeschichtlicher Sicht (Elisabeth Ströker); unter dem Titel „Anthropologie“: Die Anfälligkeit des Prinzipiellen. Existenzphilosophie und philosophische Anthropologie vor und nach 1933 (Hermann Braun); Mit Jan Patoãka über Philosophie und die Philosophen (Josef Zumr); unter dem Titel „Archäologie“: Tanz und Komos beim Brygosmaler (mit Abbildungen) (Thuri Lorenz); unter dem Titel „Edith Stein“: Philosophin und Heilige. Zu einer Bronzestatue Edith Steins (Odilo Lechner); Ein Husserl-Brief (Faksimile, Transkription) mit einer Anmerkung (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Zeitläufte“: Signal und Chance. Die Krisis des Autoritätsbewußtseins. Eine Rede (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Bibliographie Wiebke Schrader“: Philosophische Publikationen Wiebke Schraders. Amsterdam 1991
Band 18 Zu Ehren von Tomonobu Imamichi. Enthält: Philosophische Geisteshaltung, Memorabilien für Tomonobu Imamichi 19.11.1992 (Rudolph Berlinger); unter dem Titel „Metaphysik“: Das Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie am Beispiel des „Peri Hermaneias“ von Aristoteles (Pierre Aubenque); Différences culturelles et visé d’universalité en philosophie (Venant Cauchy); Geschichte der abendländischen Mystik. Eine Veröffentlichung von Kurt Ruh (Alois Haas); Über den Sinn des Schattens in der Metaphysik (Noriko Hashimoto); Die ontologische Differenz. Grundriß einer Metaphysik der Erfahrung (Vittorio Mathieu); Abwesenheit als Weise der Gegenwart: Vom „Wir“ zur gesellschaftlichen „dritten“ Person (Marco Olivetti); Der Weltweisheit fünfter Teil. Zum Metaphysikbegriff Christian Wolffs (Leonhard G. Richter); Sur un autoportrait de Rembrandt (Paul Ricoeur); Propädeutik der Philosophie – „Vorhof“ dieser Wissenschaft? [1. Teil] (Wiebke Schrader); Hannah Arendt’s Deconstruction of Metaphysics (Jacques Taminiaux); Rudolph Berlingers Metaphysik. – Erste Phase (Jiro Watanabe); Die philosophische Sicht der Dinge (Franz Wiedmann); Ladislav Klímas Revolte gegen die Absurdität der Welt (Josef Zumr); unter dem Titel „Ethik“: Grundlegungsfragen ärztlicher Ethik (Rudolph Berlinger); Le retour de l’éthique (Peter Kemp); „Das Recht, ein Mensch zu sein“ oder Forderungen der Bedingungen ethischen Handelns (Ioanna Kuçuradi); unter dem Titel „Recht“: Locke’s Almost Random Talk of Man: The Double Use of Words in the Natural Law Justification of Slavery (Robert Bernasconi); unter dem Titel „In Memoriam“: Zum Tode von Wilhelm Krampf (Ulrich Weiß); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Die Dihairesen in Platons Sophistes (Peter Kolb); Parallelen zwischen Platons Sophistes und Aristoteles’ Met. G? (Johann-Heinrich Königshausen); Ein Rückblick (Edgar Früchtel); unter dem Titel „Bibliographien“: Philosophische Publikationen Tomonobu Imamichis; Philosophische Publikationen Rudolph Berlingers. Amsterdam 1992 Band 19 enthält unter dem Titel „Systematik“: Warum ist Denken überhaupt möglich? Zur Seinswissenschaft der Logik. Problemaufriß (Rudolph Berlinger); Das Wesen der Frage und das Problem der Wahrheit im Horizont von Dialektik und Hermeneutik (Franco Chiereghin); Überlegungen zum Augustinischen Memoria-Begriff im Anschluß an einen Beitrag von R. Enskat (Dorothea Günther); Deskription und transzendentale Weltsicht. Zum Problem der Einleitung in die transzendentale Phänomenologie mittels der Deskription einer natürlichen Erfahrungswelt (Paul Janssen); Specimina humana (Wolfgang Ritzel); Propädeutik der Philosophie – „Vorhof“ dieser Wissenschaft? (II) (Wiebke Schrader); Die transzendentale Reduktion als die Leistung eines unbeteiligten Zuschauers (Martina Scherbel); unter dem Titel „Problemgeschichte“: Zur philosophischen Mystik Meister Eckharts (Karl Albert); Leonardo Bruni Aretinos Studienprogramm: „De studiis et litteris liber“ (August Buck); Augenblick des Geistes. Heideggers Vorlesung „Die Grundfrage der Philosophie“ von 1933 (Andreas Großmann); Fürwahrhalten der Vernunft? Glauben und Wissen; Aspekte einer Sachfrage mit Blick auf Kant und Anselm von Canterbury (Lutz Herrschaft); Über den natürlichen Vorrang des Ortes vor jeder Art Raum bei Aristoteles (Heinrich Hüni); Die Frage der e[daimonía in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Ingeborg Schüßler); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Ist der Dekonstruktivismus ein Interpretationismus? (Hans Lenk); Wann verfällt die deutsche Sprache endgültig? Einige Anmerkungen zu Fragen der Sprachskepsis, der Sprachkritik und der Sprachnormen (Norbert Richard Wolf); unter dem Titel „In Memoriam“: Klaus Hartmann zum Gedächtnis (Klaus Brinkmann); Grenzüberschreitungen der Vernunft. Zum Tode von Friedrich Kaulbach (Friedrich Kambartel); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Albrecht Dürers Cherubinischer Hymnus: „Die vier Apostel“ (Egil A. Wyller). Amsterdam 1993
Band 20 enthält unter dem Titel „Systematik“: Philosophie der Kunst. Zum Homo-Creator-Motiv des Nikolaus von Kues (Rudolph Berlinger); Transzendentale Begründung der Existenz? Überlegungen zum Problemansatz Heinrich Barths (Dorothea Grund); Das Leib-Seele-Problem in der Philosophie Donald Davidsons (Marion Heinz); Heuristische Skepsis (Leonhard G. Richter); unter dem Titel „Problemgeschichte“: Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Teil I) (Emil Angehrn); Ontotheologie? Hegel gegen Derrida – oder Repristination des Logos (Uwe Jochum); Das Gesetz der Freiheit. Zu Kants Theorie ethischer Verbindlichkeit (Georg Römpp); Die Frage der e[daimonía in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Teil I) – Fortsetzung (Ingeborg Schüßler); Die Dialektik des Einen und Vielen. Hegels Logik von 1804/05 im Vergleich zu Platons ‚Parmenides‘; unter dem Titel „Phänomenologie“: Jan Patoãka: Der Philosoph als Gewissen seines Volkes (Walter Biemel); Konstanten und Wandlungen der Philosophie Patoãkas (Jaroslav Kohout); Die Selbstbesinnung Europas (Übersetzung von Josef Zumr) (Jan Patoãka †); Deskription oder Postulat? Zur Intersubjektivitätstheorie in der V. Cartesianischen Meditation Edmund Husserls (Martina Scherbel); unter dem Titel „Nietzsche kontrovers“: Nietzsches Selbstsucht in Ecce homo (Eric Blondel); Nietzsches Kritik des Subjektbegriffs (Georges Goedert); Musils Nietzsche-Rezeption (Klaus Mackowiak); Italienische Interpretationen zum Übermenschen Nietzsches. Von D’Annunzio bis heute – im Horizont der Differenz (Giorgio Penzo); Ontologische Fragen zum Spätwerk Nietzsches (Gerhart Schmidt); unter dem Titel „Brief“: Martin Heidegger schreibt an Jean-Paul Sartre (Hugo Ott). Amsterdam 1994 Band 21 enthält unter dem Titel „Problemgeschichte“: Die Ontologie des Politischen bei Platon und Aristoteles (Fortsetzung) Teil 2 (Emil Angehrn); Die platonisch-akademische Prinzipienlehre in der hellenistischen Philosophie (Hans Krämer); Vom Gewinn des Wirklichkeitsverlustes (Erwin Sonderegger); Kosmos als Klangfigur. Platons Naturvision im „Timaios“ (Egil A. Wyller); unter dem Titel „Ethik“: Mónon tò kalòn ˙gayón – Oder von der Gleichgültigkeit des Wertvollen in der Stoischen Ethik (Maximilian Forschner); Über den vermeintlichen Gegensatz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik (Walter Hirsch); Man rechne nicht mit Herakles. Aristoteles über soziale und politische Freundschaft (Heinz-Gerd Schmitz); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Realismusproblem (Peter Prechtl); Das Nichts und die Kunst. Schritte vom Nihilismus zum Neoidealismus in der Denkbewegung Gottfried Benns (Winfried Weier); unter dem Titel „Zur Diskussion“: Die aufgegebene Tradition. Kritische Reflexionen zum Bildungsauftrag der Universität (Winfried Böhm); Das Multiversum der Kulturen. Einstellungen der zeitgenössischen europäisch-westlichen Philosophie zu den Philosophien anderer Kulturen (Heinz Kimmerle); „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“: Ein Fragment Friedrich Schlegels? (Martin Oesch); unter dem Titel „Buchbesprechungen“: Innere Probleme dualer Weltbetrachtung. Besprechung von Hans Michael Baumgartner: Endliche Vernunft. Zur Verständigung der Philosophie über sich selbst. Bonn/Berlin 1991 (Bernd Burkhardt); Wolfgang Janke. Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes. Berlin/New York 1993 (Marco Ivaldo); Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht. Tübingen 1995 (Wolfgang von der Weppen). Amsterdam 1995 Band 22 enthält unter dem Titel „Fink und Heidegger“: Heraklit – Eine Herausforderung. In freundschaftlichem Gedenken an Eugen Fink (Rudolph Berlinger); Die Auseinandersetzung Fink – Heidegger: Das Denken des letzten Ursprungs (Ronald Bruzina); Nietzsche bei Heidegger und Fink (Hans Ebeling); Finks politisches Vermächtnis. Vortrag Freiburg 1995 (Walter Biemel); Die Heimat Welt. Zur Deutung der Denkspur Martin Heideggers in Eugen Finks Frühwerk (Guy van Kerckhoven); Eugen Finks Phänomenologie des Todes (Gerhart Schmidt); unter dem
Titel „Fichte“: Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807 (Marco Ivaldo); „Das Wissen ist an sich die absolute Existenz“. Der oberste Grundsatz in Fichtes 4. Vortrag der Wissenschaftslehre. Erlangen im Sommer 1805 (Wolfgang Janke); Fichte und die Metaphysik des deutschen Idealismus (Manuel Jiménez-Redondo); Offene Intersubjektivität – nach Johann Gottlieb Fichte (Dominik Schmidig); unter dem Titel „Vermischtes“: Die Idee der Einheit in Platons Timaios (Hans Krämer); Kant oder Berkely? Zum aktuellen Streit um den korrekten Realismus (Wilhelm Lütterfelds); unter dem Titel „In memoriam“: Nachruf auf Alexander Böhlig (Christoph Markschies). Amsterdam 1996 Band 23 enthält als Vorwort: „Die ausgestandene Endlichkeit“ (Wiebke Schrader); unter dem Titel „Philosophie“: Innerer und äußerer Mensch – eine tragende Unterscheidung der mittelalterlichen Seelenlehre (Alois M. Haas); Zur Frage der Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger (Ingeborg Schüßler); Husserl und Descartes (Friedrich-Wilhelm von Herrmann); Nachtrag zur Verabschiedung der philosophischen Anthropologie – am Beispiel Schelers (Paul Janssen); Gibt es eine Gebung des Unendlichen? (Natalie Depraz); Eugen Finks Begriffsbildung einer absoluten Wissenschaft in der VI. Cartesianischen Meditation (Martina Scherbel); Rudolf Stammlers Abhandlung „Recht und Willkür“ und ihre Konsequenzen für den Rechtsbegriff (Dietmar Willoweit); Antworten und Verantworten. Eine dialogische Studie (Georges Goedert); Konstruieren und Konstruktivismus (Wilhelm Ettelt); Das Bild des Menschen in der Kommunikationswelt von morgen (Bernulf Kanitscheider); Selbst oder Von-Selbst-So? Konjekturen zu einer daoistischen Quelle des Zen (Günter Wohlfart); unter dem Titel „Sprache“: Das Problem des Monologs (Theo Meyer); „Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding“. Beobachtungen zu Zeit und Zeiterleben in Sprache und Literatur (Norbert Richard Wolf); Das magische Wort (Dieter Harmening); „Gesundheit des Moments“ oder Winckelmann und Faust (Hans-Jürgen Schings); unter dem Titel „Kunst“: Bildnisse griechischer Philosophen – ihre Funktion und Interpretabilität (Thuri Lorenz); ‚...in cuius facie deitatis imago splendet‘ Die Prägung des Physionomischen in der gotischen Skulptur Frankreichs (Wilhelm Schlink). Amsterdam 1997 Band 24 enthält unter dem Titel „Metaphysik“: Dürers Weltethik. Eine philosophische Deutung der „Melencolia § I“ (Leonhard G. Richter); Einige Bemerkungen zum Platonismus in den sogenannten Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus (Edgar Früchtel); Zu Ernst Heitschs Phaidroskommentar: Darstellung und Kritik (Hubert Benz); Denken – Erkennen – Metaphysik nach Thomas von Aquin (Dominik Schmidig); Das methodologische Problem der Metaphysik (Winfried Weier); unter dem Titel „Existenzphilosophie“: Philosophie in theologischer Absicht – Zur Instrumentalisierung der Philosophie bei Heinrich Barth (Dorothea Grund); Die universalgeschichtliche Einheitsidee bei Karl Jaspers (Georges Goedert); Die Einleitung zu „Sein und Zeit“ und die Frage nach der phänomenologischen Methode: Versuch einer Erklärung (Michael Baur); unter dem Titel „Sprachphilosophie“: Zur wissenschaftsgeschichtlichen Priorität in der Urheberschaft der Sprechakttheorie (Klaus Trost); Zeichenrede. Überlegungen zu Fundierung und Reichweite von Nietzsches skeptischem Perspektivismus (Heinz-Gerd Schmitz); Repräsentation und Realität (Peter Prechtl); unter dem Titel „Ethik“: Zu Jonas’ Problem einer genauen Grenzlinie zwischen Leben und Tod (Reinhard Platzek); Responsibility for Responsibility (Marco M. Olivetti); unter dem Titel „Ein philosophisches Reisebild“: Am wilden Strom. Das Fremde und das Eigene (Dieter Harmening); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Jan Patoãka – Ästhetik, Phänomenologie, Pädagogik, Geschichts- und Politiktheorie hrsg. v. Matthias Gatzemeier (Christian Rabanus); unter dem Titel „Bibliographie“: Rudolph Berlinger: Philosophische Publikationen. Amsterdam/Atlanta 1998
Band 25 enthält unter dem Titel „Metaphysik und Zeit“: Der ewige Kosmos. Zum antiken Hintergrund Augustins [Erster Teil] (Wiebke Schrader); Erinnerung, Zeit und Geschichte: Augustin und die Anfänge der mittelalterlichen Philosophie (Johann Kreuzer); V-Zeit. Endzeit oder letzte Chance? Metaphysische Reflexionen zu Dürers „Melencolia § I“ (Leonhard G. Richter); Hat die phänomenale Objektwelt in den Qualia einen metaphysischen Aspekt? (Gerd Pohlenz); unter dem Titel „Platon und seine Spuren“: Über die philosophische Mystik des Dionysius Areopagita (Karl Albert); Platonisches Denken als Modell christlicher Dogmenentfaltung in den ersten Jahrhunderten (Edgar Früchtel); Platons „Theologie“: Der Gott, die Götter und das Gute (Markus Enders); Hegel über Platon. Zum Platon-Kapitel der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (Thomas Alexander Szlezák); unter dem Titel „Gesellschaft und Ethik“: Die demokratische Gleichheit und das Ressentiment (Georges Goedert); Artistik und Engagement. Zur Ästhetik des modernen Gedichts (Theo Meyer); Ethik und Wirklichkeit bei Aristoteles (Gilbert Romeyer-Dherbey); Bioethik und bioethics (Johannes Gottfried Mayer); Contextual Bioethics (Christoph Rehmann-Sutter); Psychosomatik und der metaphysische Aspekt des Todes. Eine ärztliche Standortbestimmung (Reinhard Platzek); unter dem Titel „Buchbesprechung“: Herbert Kessler: Philosophie als Lebenskunst. Academia-Verlag Sankt Augustin 1998 (Wolfgang von der Weppen). Amsterdam/Atlanta 1999 Band 26 enthält unter dem Titel „Maßstäbe ethischen Handelns“: Zur ethischen Bewertung des Mitleids (Georges Goedert); Lust und Tugend bzw. Lust und Gut-Sein. Zur ethischen Relevanz des Begriffs der =don} im Denken Platon (Hubert Benz); Die deutsche Wertphilosophie – eine zu Unrecht vergessene Tradition? (Christoph Horn); Handelnd wissen oder wissend handeln? Die handlungstheoretische Diskussion im Neokonfuzianismus des 16. Jh.s und seine Bedeutung für die Neuausrichtung des Konfuzianismus (Michael Leibold); Wozu dient der Nihilismus? Gedanken zur Paradoxstruktur des Nihilismus bei Nietzsche (Oliver Dier); Utopie und Apokalypse. Unter besonderer Berücksichtigung des literarischen Expressionismus (Theo Meyer); unter dem Titel „Aspekte kommunikativer Systeme“:„Necessarius fuit usus scripturae“. Thomas von Aquin über Schriftlichkeit und Schreiben (Detlef Thiel); Bewußtsein als Umwelt der Kommunikation. Anmerkungen zum Grundansatz Luhmanns (Sigbert Gebert); unter dem Titel „Wirkungshorizonte metaphysischen Denkens“: Voraussetzungs- und Bestimmungslosigkeit. Bemerkungen zum Problem des Anfangs in Hegels Wissenschaft der Logik (Chong-Fuk Lau); Zum Platonbild Lavelles (Karl Albert); Mystische Geometrie und Hermetismus in der Renaissance: Ficinus und Cusanus (Stéphane Toussaint); Das Problem des „peccatum originale“. Zu Herkunft und Wirkung der augustinischen Erbsündenlehre (Edgar Früchtel); Der ewige Kosmos. Zum antiken Hintergrund Augustins [Zweiter Teil] (Wiebke Schrader). Amsterdam/Atlanta 2000 Band 27 enthält unter dem Titel „Schöpferischer Geist und Sprachreflexion“: Das Vernunftopfer des Herzens oder Pascals „ordre du cœur“ (Wiebke Schrader); Philosophie und Initiationserlebnis in Platons Politeia (Salvatore Lavecchia); Auf dem Weg zur Prozeßmetaphysik: Die Funktion der Monaden in Giordano Brunos Philosophie (Paul Richard Blum); Cusanus’ Sprach- und Signifikationstheorie in Idiota de Mente (Hubert Benz); Zeichen und Symbole. Überlegungen im Ausgang von der Hegelschen Semiotik (Heinz-Gerd Schmitz); unter dem Titel „Nietzsche und die Sinnfrage“: Wie das ‚Ich‘ zur Fabel ward – Nietzsches Destruktion des idealistischen Subjektbegriffs (Edith Düsing); Nietzsches Antichrist als Überwindung der moralischen Weltordnung (Georges Goedert); Nietzsche und Goethe. Goethes Wirkung auf Nietzsches Lebens-, Kunst- und Kulturbegriff (Theo Meyer); unter dem Titel „Geschichte und Ethik“: Ahistorische Kontinuität und Geschichte. Zum geschichtsphilosophischen Ansatz von Jacob Burckhardt (Kurt Mager); Das Subjekt der praktischen Vernunft (Peter Prechtl); Ärztliche Sterbehilfe zum
Nutzen der Gesellschaft? Eine Überlegung zum Einfluß Adolf Josts auf Binding und Hoche (Reinhard Platzek); unter dem Titel „Seinserfahrung und Kulturkritik“: Karl Albert zum 80. Geburtstag. Der Verlust des Seins im technologischen Zeitalter (Elenore Jain); Dekreation und Bedeutungsreduktion. Zur ontologisch-metaphysischen Epochéproblematik bei Simone Weil (Rolf Kühn); „Pense pour être“. Zu Lavelles Deutung des Cartesischen Cogito (Rolf Schönberger); Der Schwan von Pesaro. Vom Absoluten und vom Tragischen in der Musik Rossinis (Claus Artur Scheier). Amsterdam/New York 2001 Band 28 enthält unter dem Titel „Anfangsgründe: Wege und Abwege“: Sokrates und die Götterbilder. Zur Erkenntnis der höchsten Ideen in Platons Symposion (215 ab) (Eveline Krummen); Das Gute im Horizont der Seinsfrage: Zur Bedeutungsmannigfaltigkeit des Guten bei Aristoteles (Jorge Uscatescu Barrón); Theorie als Erkenntnis des Göttlichen. Platonische yevría und christliche curiositas (Edgar Früchtel); Sturz der Engel, Sündenfall und Frauenzauber (Dieter Harmening); Die perfekte Tochter der Mutter Natur. Zur „homo-homo-homo“-Formel im Liber de Sapiente des Carolus Bovillus (Wiebke Schrader); Die transzendentale Subjektivität – eine „spekulative Niete“? Eugen Finks Interpretation des transzendentalen Scheins (Martina Scherbel); unter dem Titel „Verstehenshorizonte und Wertewandel“: Die Menschheit zum Scheusal machen. Zu Kants Auffassung der Todesstrafe (Heinz-Gerd Schmitz); Vom Absurden zur Humanität. Albert Camus’ Weg in die Revolte (Georges Goedert); Nietzsche-Rezeption bei Thomas Mann und Gottfried Benn (Theo Meyer); Ist es notwendig, die Vergangenheit zu verstehen? Friedrich Nietzsche und Hans-Georg Gadamer über das „Rätsel der Wertsetzung“ (Mirko Wischke); unter dem Titel „Zwischen den Kulturen“: Taiji: ein transzendentaler Begriff der konfuzianischen Philosophie? (Michael Leibold); Rückzug und Freiheit im Zhuangzi. Ansätze zu einer komparativen Ethik (Mathias Obert). Amsterdam/New York 2002 Band 29 enthält unter dem Titel „Sinn und Perspektive“: Glückseligkeit – Eudämonie. Philosophiegeschichtliche Perspektiven (Wolfgang Janke); Das Übel des Todes und das Interesse am Weiterleben. Eine Antwort auf das epikureische Paradox (Achim Lohmar); Ontologische Kapriolen zwischen Sein, Nichts und Sinn (Paul Janssen); unter dem Titel „Wissen und Hoffnung“: Wissen und Universalität. Zur Struktur der scientia universalis in der Frühen Neuzeit (Thomas Leinkauf); Pansophischer Universalismus und pädagogischer Mechanismus. Comenius und die Überwindung der Hoffnung durch Erziehung (Andreas Lischewski); De apice litteraturae. Schrift und Buch bei Nikolaus von Kues (Detlef Thiel); Hoffnung und Jenseitserwartung in der griechisch-christlichen Deutung des Clemens Alexandrinus (Edgar Früchtel); Die philosophische Religion (Karl Albert); unter dem Titel „Erkenntnis und Chance“: Das Ende der Geschichte bei Francis Fukuyama. Zur Problematik seines philosophischen Ansatzes (Kurt Mager); Die ‚Tod-Gottes‘-Problematik bei Nietzsche und Hegel (Edith Düsing); Das Problem des Spiels bei Nietzsche (Theo Meyer); Herakleitos. Zeugnis eines ursprünglichen Denkens (JürgenEckardt Pleines); Der Geist der Hellenen. Eine Problemskizze zur griechischen Sklavenfrage am Leitfaden des ersten Buches der Politik des Aristoteles (Wiebke Schrader); Der Reiter von Albrecht Dürer. Eine philosophische Betrachtung (Leonhard G. Richter). Amsterdam/New York 2003
Band 30 enthält unter dem Titel „Sein und Wirklichkeit“: Die innermonadische Zeitlichkeit in der Monadologie (Friedrich-Wilhelm von Herrmann); Überlegungen zum Metaphysik-Begriff Kants (Murray Miles); Sein-Können, Tat, Existenz: Aspekte von Schellings Hegel-Kritik in der Weltalter-Philosophie (Thomas Leinkauf); Die Heisenbergsche Unschärferelation im Kontext philosophischer Gedankengänge (Damir Barbariç); unter dem Titel „Seinswert und Seinsmangel“: Das Wesen des Schlechten als privatio boni. Zur Frage seiner Bestimmung (Jorge Uscatescu Barrón); Das Problem der Schuld in Heideggers Sein und Zeit. Kritische Anmerkungen (Bernd Irlenborn); „Für die Wenigen – Für die Seltenen“. Heideggers Zeitdiagnose, Technikkritik und der „andere Anfang“; unter dem Titel „Person und Gemeinschaft: Personalität und Sprache bei Homer (Thomas Berres); Subjekt und Person als Ermöglichung von Weltzuwendung in Wissenschaft und Technik. Einige Bemerkungen zu diesem Problemfeld (Edgar Früchtel); Leo Tolstois Darlegung des Evangelium und seine theologisch-philosophische Ethik (Nikolay Milkov); Der ‚permanente Staatencongress‘ – die internationalen Beziehungen im rechtsphilosophischen Denken Kants (Heinz-Gerd Schmitz); Die Institutionen der Freiheit und die Sprache der Politik. Über mögliche Reaktualisierungspotentiale von Hegels Rechtsphilosophie (Mirko Wischke). Amsterdam/New York 2004
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ELEMENTA Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte Herausgegeben von Rudolph Berlinger † und Wiebke Schrader Band 1: Sold out Schrader, Wiebke: Die Auflösung der Warumfrage. 2. unveränderte Auflage. Amsterdam 1975. 60 pp. Band 2: Euro 30,Berlinger, Rudolph: Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften. Band I, 2. korrigierte Aufl. Amsterdam/Hildesheim 1982. 240 pp. Band 3: Euro 33,Scheler, Max: Logik I. Mit einem Nachwort von Jörg Willer. Amsterdam 1975. 295 pp. Band 4: Sold out Farandos, Georgios D.: Kosmos und Logos nach Philon von Alexandria. Amsterdam 1976. III, 319 pp. Band 5: Euro 24,Sauer, Friedrich Otto: Physikalische Begriffsbildung und mathematisches Denken. Das philosophische Problem. Amsterdam 1977. 217 pp. Band 6: Euro 24,Königshausen, Johann-Heinrich: Kants Theorie des Denkens. Amsterdam 1977. II, 207 pp. Band 7: Euro 24,Schrader, Wiebke: Das Experiment der Autonomie. Studien zu einer Comte- und Marx-Kritik. Amsterdam 1977. III, 196 pp. Band 8: Euro 24,Schrader, Wiebke: Die Selbstkritik der Theorie. Philosophische Untersuchungen zur ersten innermarxistischen Grundlagendiskussion. Amsterdam 1978. 177 pp.
Band 9: Euro 24,Neumann, Thomas. Gewissheit und Skepsis. Untersuchungen zur Philosophie Johannes Volkelts. Amsterdam 1978. VII, 175 pp. Band 10: Euro 24,Bailey, George W.S.: Privacy and the Mental. Amsterdam 1979. 175 pp. Band 11: Euro 27,Djuriã, Mihailo: Mythos, Wissenschaft, Ideologie. Ein Problemaufriß. Amsterdam 1979. 219 pp. Band 12: Sold out Ettelt, Wilhelm: Die Erkenntniskritik des Positivismus und die Möglichkeit der Metaphysik. Amsterdam 1979. 171 pp. Band 13: Sold out Lowry, James M.P.: The Logical Principles of Proclus’ STOIXEIVSIS YEOLOGIKH as Systematic Ground of the Cosmos. Amsterdam 1980. XIV, 118 pp. Band 14: Sold out Berlinger, R.: Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften. Band II. Amsterdam/Hildesheim 1980. X, 240 pp. Band 15: Euro 53,Helleman-Elgersma, W.: Soul-Sisters. A Commentary on Enneads IV 3 (27), 1-8 of Plotinus. Amsterdam/Hildesheim 1980. 485 pp. Band 16: Euro 18,Polakow, Avron: Tense and Performance. An Essay on the Uses of Tensed and Tenseless Language. Amsterdam 1981. 153 pp. Band 17: Euro 17,Lang, Dieter: Wertung und Erkenntnis. Untersuchungen zu Axel Hägerströms Moraltheorie. Amsterdam 1981. 113 pp. Band 18: Euro 18,Kang, Yung-Kye: Prinzip und Methode in der Philosophie Wonhyos. Amsterdam/Hildesheim 1981. 143 pp. Band 19: Euro 24,Oesch, Martin: Das Handlungsproblem. Ein systemgeschichtlicher Beitrag zur ersten Wissenschaftslehre Fichtes. Amsterdam/Hildesheim 1981. 203 pp. Band 20: Euro 36,Echeverria, Edward J.: Criticism and Commitment. Major Themes in Contemporary ‘Post-critical’ Philosophy. Amsterdam/Hildesheim 1981. 274 pp.
Band 21: Sold out Thomas Hobbes: His View of Man. Proceedings of the Hobbes Symposium at the International School of Philosophy in the Netherlands (Leusden, september 1979). Edited by J.G. van der Bend. Amsterdam 1982. 155 pp. Band 22: Euro 18,Träger, Franz: Herbarts Realistisches Denken. Ein Aufriß. Amsterdam/Würzburg 1982. X, 139 pp. Band 23: Euro 24,Takeda, Sueo: Die subjektive Wahrheit und die Ausnahme-Existenz. Ein Problem zwischen Philosophie und Theologie. Amsterdam/Würzburg 1982. 190 pp. Band 24: Euro 21,Mager, Kurt: Philosophie als Funktion. Studien zu Diltheys Schrift „Das Wesen der Philosophie“. Amsterdam/Würzburg 1982. 179 pp. Band 25: Sold out Heinz, Marion: Zeitlichkeit und Temporalität. Die Konstitution der Existenz und die Grundlegung einer temporalen Ontologie im Frühwerk Martin Heideggers. Amsterdam/Würzburg 1982. 225 pp. Band 26: Sold out Punter, David: Blake, Hegel and Dialectic. Amsterdam/Würzburg 1982. 268 pp. Band 27: Sold out McAlister, Linda: The Development of Franz Brentano’s Ethics. Amsterdam/Würzburg 1982. 171 pp. Band 28: Euro 36,Pleines, Jürgen-Eckardt: Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft. Amsterdam/Würzburg 1983. 275 pp. Band 29: Euro 30,Shusterman, Richard: The Object of Literary Criticism. Amsterdam/Würzburg 1984. 237 pp. Band 30: Sold out Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Von der Wahrheit der Dichtung. Interpretationen: Plato; Aristoteles; Shakespeare; Schiller; Novalis; Wagner; Nietzsche; Kafka. Hrsg. von Wolfgang Janke und Raymund Weyers. Amsterdam/Würzburg 1984. 206 pp. Band 31: Sold out Decher, Friedhelm: Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Amsterdam/Würzburg 1984. 195 pp.
Band 32: Euro 18,Weppen, Wolfgang von der: Die existentielle Situation und die Rede. Untersuchungen zu Logik und Sprache in der existentiellen Hermeneutik von Hans Lipps. Amsterdam/Würzburg 1984. 146 pp. Band 33: Euro 24,Wolzogen, Christoph von: Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps. Ein Beitrag zur Geschichte der Theorien der Relation. Amsterdam/Würzburg 1984. 182 pp. Band 34: Euro 30,Mitias, Michael H.: Moral Foundation of the State in Hegel’s “Philosophy of Right”: Anatomy of an Argument. Amsterdam/Würzburg 1984. 197 pp. Band 35: Sold out Seidl, Horst: Beiträge zu Aristoteles’ Erkenntnislehre und Metaphysik. Amsterdam/Würzburg 1984. 214 pp. Band 36: Euro 18,Richter, Leonhard G.: Hegels begreifende Naturbetrachtung als Versöhnung der Spekulation mit der Erfahrung. Amsterdam/Würzburg 1985. 127 pp. Band 37: Euro 21,Löbl, Rudolf: Die Relation in der Philosophie der Stoiker. Amsterdam/Würzburg 1986. 150 pp. Band 38: Euro 42,Dempf, Alois: Metaphysik. Versuch einer problemgeschichtlichen Synthese. In Zusammenarbeit mit Christa Dempf-Dulckeit. Amsterdam/Würzburg 1986. 332 pp. Band 39: Sold out Classen, Carl Joachim: Ansätze. Beiträge zum Verständnis der frühgriechischen Philosophie. Amsterdam 1986. 288 pp Band 40: Euro 15,Middendorf, Heinrich: Phänomenologie der Hoffnung. Amsterdam/Würzburg 1985. 99 pp. Band 41: Euro 47,Glouberman, M.: Descartes: The Probable and the Certain. Amsterdam/Würzburg 1986. 374 pp. Band 42: Euro 18,Creativity in Art, Religion, and Culture. Edited by Michael H. Mitias. Amsterdam/Würzburg 1985. 134 pp. Band 43: Euro 24,Böhm, Peter: Theodor Lessings Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegung von Welt. Ein kritischer Beitrag zur Aporetik der Lebensphilosophie. Amsterdam/Würzburg 1986. 127 pp.
Band 44: Euro 51,Weier, Winfried: Phänomene und Bilder des Menschseins. Grundlegung einer dimensionalen Anthropologie. Amsterdam 1986. 337 pp. Band 45: Euro 30,Text, Literature, and Aesthetics in Honor of Monroe C. Beardsley. Edited by Lars Aagaard-Mogensen & Luk De Vos. Amsterdam 1986. 229 pp. Band 46: Sold out Hager, Fritz-Peter: Gott und das Böse im antiken Platonismus. Amsterdam/Würzburg 1987. 165 pp. Band 47: Sold out Hartmann, Klaus: Studies in Foundational Philosophy. Amsterdam/Würzburg 1988. 434 pp. Band 48: Broschiert Euro 22,Gebunden Euro 89,Berlinger, Rudolph: Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen. Amsterdam/Würzburg 1988. 398 pp. Band 49: Sold out Goedert, Georges: Nietzsche der Überwinder Schopenhauers und des Mitleids. Amsterdam/Würzburg 1988. 168 pp. Band 50: Euro 36,Aesthetic Quality and Aesthetic Experience. Edited by Michael H. Mitias. Amsterdam 1988. 176 pp. Band 51: Euro 28,Mitias, Michael H.: What Makes an Experience Aesthetic? Amsterdam/Würzburg 1988. 154 pp. Band 52: Euro 16,Platzek, Reinhard: Zum Problem der Zeit und Zeitbestimmtheit im musikalischen Tempo. Amsterdam/Würzburg 1989. 94 pp. Band 53: Euro 36,Bourgeois, Patrick L. / Schalow, Frank: Traces of Understanding: A Profile of Heidegger’s and Ricoeur’s Hermeneutics. Amsterdam/Atlanta, GA 1990. VI, 186 pp. Band 54: Euro 45,Meyer, Thomas Ludolf: Das Problem eines höchsten Grundsatzes der Philosophie bei Jacob Sigismund Beck. Amsterdam/Atlanta, GA 1991. 257 pp. Band 55: Euro 45,Richter, Leonhard G.: Propädeutik der Philosophie. Amsterdam/ Atlanta, GA 1991. 312 pp.
Band 56: Euro 53,Franz, Albert: Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F.W.J. Schellings. Amsterdam/Atlanta, GA 1992. 372 pp. Band 57: Euro 30,Berlinger, Rudolph: Philosophisches Denken. Einübungen. Hrsg. von Franz Träger in Zusammenarbeit mit Dorothea Günther. Amsterdam/Atlanta, GA 1992. 252 pp. (ISBN: 90-5183-4089-X) Band 58: Euro 24,Günther, Dorothea: Schöpfung und Geist. Studien zum Zeitverständnis Augustins im XI. Buch der Confessiones. Amsterdam/Atlanta, GA 1993. 96 pp. (ISBN 90-5183-453-5) Band 59: Euro 53,Gnosis und Philosophie: Miscellanea. Mit einem Vorwort von Alexander Böhlig. Hrsg. von R. Berlinger und W. Schrader. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 269 pp. (ISBN: 90-5183-406-3) Band 60: Euro 118,Louis Girard: L’Argument ontologique chez Saint Anselme et chez Hegel. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 666 pp. Bound. (ISBN: 905183-620-1) Band 61: Euro 33,Nicole Stratmann: Leiden – im Lichte einer existenzialontologischen Kategorialanalyse. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 175 pp. (ISBN: 905183-619-8) Band 62: Euro 42,Kunst und Ontologie: Für Roman Ingarden zum 100. Geburtstag. Hrsg. von W∏odzimierz Galewicz, Elisabeth Ströker, W∏adys∏aw Strozewski. Amsterdam/Atlanta, GA 1994. 235 pp. (ISBN: 90-5183479-9) Band 63: Euro 130,Egil A. Wyller: Henologische Perspektiven I/I–II. Platon – Johannes – Cusanus. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 599 pp. Bound (ISBN: 90-5183-849-2) Band 64: Euro 45,Ismail el Mossadeq: Kritik der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Phänomenologie in der Alternative zwischen Husserl und Heidegger. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. 281 pp. (ISBN: 90-5183-858-1) Band 65: Euro 24,Horst Seidl: Beiträge zu Aristoteles’ Naturphilosophie. Amsterdam/Atlanta, GA 1995. XVI, 151 pp. (ISBN: 90-5183-854-9)
Band 66: Euro 27,Antoine Vergote: In Search of a Philosophical Anthropologie. A Compilation of Essays. Leuven/Amsterdam/Atlanta, GA 1996. 287 pp. (ISBN: 90-420-0014-7) Band 67: Euro 42,Heinz Kimmerle (Hrsg.): Das Multiversum der Kulturen. Beiträge zu einer Vorlesung im Fach ‚Interkulturelle Philosophie‘ an der Erasmus Universität Rotterdam. Amsterdam/Atlanta, GA 1996. 239 pp. (ISBN: 90-420-0108-9) Band 68: Euro 65,Eugen Fink. Actes du Colloque de Cerisy-la-Salle 23–30 juillet 1994. Organisé et édité par Natalie Depraz et Marc Richir. Amsterdam/Atlanta, GA 1997. 367 pp. (ISBN: 90-420-0243-3) Band 69: Euro 30,Henologische Perspektiven II zu Ehren Egil A. Wyllers. Internationales Henologie-Symposium an der Norwegischen Akademie der Wissenschaften in Oslo. Hrsg. v. Tore Frost. Amsterdam/Atlanta, GA 1997. 143 pp. (ISBN: 90-420-0357-X) Band 70: Euro 83,Andreas Lischewski: Person und Bildung. Überlegungen im Grenzgebiet von philosophischer Anthropologie und Bildungstheorie im Anschluß an Paul Ludwig Landsberg. Dettelbach/Amsterdam 1998. 656 pp. (ISBN: 90-420-0612-9) Band 71: Euro 47,Frank Schalow: Language and Deed. Rediscovering Politics through Heidegger’s Encounter with German Idealism. Amsterdam/Atlanta, GA 1998. XVIII, 235 pp. (ISBN: 90-420-0412-2) Band 72: Euro 47,John Duns Scotus (1265/6–1308). Renewal of Philosophy. Acts of the Third Symposium Organized by the Dutch Society for Medieval Philosophy Medium Aevum. Ed. by E.P. Bos. Amsterdam/Atlanta GA 1998. XIV, 237 pp. (ISBN: 90-420-0081-3) Band 73: Euro 45,Dorothea Grund: Erscheinung und Existenz. Die Bedeutung der Erscheinung für die Ansatzproblematik der transzendental begründeten Existenzphilosophie Heinrich Barths. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. 237 pp. (ISBN: 90-420-0646-3) Band 74: Euro 45,Architecture and Civilization. Ed. by Michael H. Mitias. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. IX, 208 pp. incl. 28 illustrations. (ISBN: 90420-0786-9)
Band 75: Euro 42,Martina Scherbel: Phänomenologie als absolute Wissenschaft. Die systembildende Funktion des Zuschauers in Eugen Finks VI. Cartesianischer Meditation. Amsterdam/Atlanta, GA 1999. 223 pp. (ISBN: 90-420-0538-6) Band 76: Euro 55,Transzendenz und Existenz: Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Wolfgang Janke zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Manfred Baum und Klaus Hammacher. Amsterdam/Atlanta, GA 2001. X, 280 pp. (ISBN: 90-420-1246-3) Band 77: Euro 63,In-Choel Park: Die Wissenschaft von der Lebenswelt. Zur Methodik von Husserls später Phänomenologie. Amsterdam/New York, NY 2001, XIV, 335 pp. (ISBN: 90-420-1457-1) Band 78 Euro 70,Jyh-Jong Jeng: Natur und Freiheit. Eine Untersuchung zu Kants Theorie der Urteilskraft. Amsterdam/New York, NY 2004, IX, 337 pp. (ISBN: 90-420-1059-2)
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Observation, Hypothesis, Introspection. Translated by Katarzyna Paprzycka. Adam Wiegner Edited by Izabella Nowakowa. Amsterdam/New York, NY 2005. 230 pp. (Poznań Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities 87) ISBN: 90-420-1726-0
Bound € 50,-/US$ 63,-
Contents Izabella NOWAKOWA: Introduction: Adam Wiegner’s Nonstandard Empiricism Adam WIEGNER: Selected Philosophical Papers Translator’s Note List of Selected Translational Decisions HOLISTIC EMPIRICISM A Note on Holistic Empiricism (1964) The Problem of Knowledge in light of L. Nelson’s Critical Philosophy (1925) The “Proton Pseudos” in Wundt’s Criticism of R. Avenarius’ Philosophy (1963) Philosophical Significance of Gestalt Theory (1948) The Idea of a Logic of Knowledge (1934) OTHER EPISTEMOLOGICAL AND METHODOLOGICAL CONTRIBUTIONS Remarks on Indeterminism in Physics (1932) A Note on the Concept of Relative Truth (1964) On the so-called “Relative Truth” (1963) On Abstraction and Concretization (1960) PHILOSOPHY OF MIND AND PHILOSOPHY OF PSYCHOLOGY On the Nature of Mental Phenomena (1933) On the Debate about Imaginative Ideas (1932) On the Subjective and Objective Clarity in Thought and Word (1959) References Original Sources Appendix: J. Kmita, Wiegner’s Conception of Holistic Empiricism
USA/Canada: 906 Madison Avenue, UNION, NJ 07083, USA. Call toll-free (USA only)1-800-225-3998, Tel. 908 206 1166, Fax 908-206-0820 All other countries: Tijnmuiden 7, 1046 AK Amsterdam, The Netherlands. Tel. ++ 31 (0)20 611 48 21, Fax ++ 31 (0)20 447 29 79 [email protected] www.rodopi.nl Please note that the exchange rate is subject to fluctuations
Satz und Sinn.
Bemerkungen zur Sprachphilosophie Wittgensteins. Volker A. Munz: Amsterdam/New York, NY 2005. 302 pp. (Studien zur österreichischen Philosophie 39) ISBN: 90-420-1716-3
€ 60,-/ US $ 84.-
Der vorliegende Band liefert eine umfassende Analyse zum Verhältnis von Sprache und Realität in der Philosophie Ludwig Wittgensteins. Die Untersuchungen konzentrieren sich dabei auf die im Tractatus-Logico-philosophicus entwickelte Idee einer strukturellen Identität zwischen Satz, Gedanke und Sachverhalt, auf die Forderung nach einer phänomenologischen Sprache als Ausdruck unserer unmittelbaren Erfahrungen sowie auf die zentralen Begriffe der grammatischen Regel und ihrer sinnvollen Anwendung. Das Buch versteht sich vor allem als ein Beitrag zur Frage der Beziehung zwischen einem Satz und seinem Sinn, wobei es versucht, besonders die Probleme und Motive zu rekonstruieren, welche im Zusammenhang zu Wittgensteins gewandeltem Sprachverständnis stehen. In diesem Band werden erstmalig auch Auszüge bisher unveröffentlichter Mitschriften von Wittgenstein-Vorlesungen publiziert. Die Aufzeichnungen stammen von Yorick Smythies, einem engen Freund und Schüler Wittgensteins und sind größtenteils aus den Jahren 1937 bis 1939. Darüber hinaus enthält der Text ebenfalls unveröffentlichtes Material aus dem philosophischen Nachlass von Rush Rhees.
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International Bibliography of Austrian Philosophy / Internationale Bibliographie zur österreichischen Philosophie. IBÖP 1991/1992.
Compiled by / Bearbeitet von Thomas Binder, Reinhard Fabian, Ulf Höfer, Jutta Valent. Amsterdam/New York, NY 2005. 173 pp. (Studien zur österreichischen Philosophie Suppl. 10) ISBN: 90-420-1696-5
Bound € 40,-/ US $ 50.-
Inhaltsverzeichnis/Table of Contents Teil 1/Part 1 Bildnis / Portrait : Otto Neurath 1. Thomas E. Uebel: Otto Neurath – Leben und Werk 2. Hinweise für den Gebrauch der Bibliographie 3. How to use Bibliography and Index Teil 2/Part 2 Bibliographie 1992-92 / Bibliography 1991-92 Sachregister / Subject Index Namenregister / Index of Names
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