Neues Jahr, neues Glück Diana Hamilton
Julia Weihnachten 016 – 3
Gescannt von almutK Korrigiert von claudiaL
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Neues Jahr, neues Glück Diana Hamilton
Julia Weihnachten 016 – 3
Gescannt von almutK Korrigiert von claudiaL
1. KAPITEL Der kurze Wintertag neigte sich bereits dem Ende zu. Carl Forsythe drosselte die Geschwindigkeit seines Jaguars, als er auf die schmale Hauptstraße von Lower Bewley fuhr. Die Schatten wurden länger, und der Efeu an den Steinmauern der alten Kirche wirkte fast schwarz - so schwarz wie meine Stimmung, dachte er trocken und zog die Brauen über den grauen Augen zusammen. Vielleicht war es von Anfang an ein Fehler gewesen zurückzukommen. Der erste Besuch nach dem Tod seines Onkels vor drei Monaten würde nicht einfach werden. Hinzu kam das Gefühl des Versagens. Aber eine der vielen Einladungen von Freunden anzunehmen, die nach der Trennung von Terrina zu ihm gehalten hatten, schien ihm auch keine gute Idee zu sein. Eigentlich war ihm überhaupt nicht nach irgendwelcher Gesellschaft zu Mute, besonders nicht zur Weihnachtszeit. Es waren noch drei Tage bis zum großen Fest, und die normalerweise schläfrige Hauptstraße glänzte in weihnachtlicher Erwartung. Die Schaufenster der Schlachter und Gemüsehändler bargen Truthähne und Fasane, Berge von Apfelsinen und blanken Äpfeln und waren mit Tannenzweigen, blinkenden Lichtern und roten Stechpalmenbeeren festlich dekoriert. Die Fenster der Häuser leuchteten friedlich, und überall glitzerten die bunt geschmückten Weihnachtsbäume in den Stuben. Menschen, beladen mit Tüten und Päckchen, stießen mitunter auf den vollen Bürgersteigen gegeneinander, lächelten entschuldigend und hasteten weiter. Alle waren glücklich und erledigten die letzten Einkäufe für die bevorstehenden Feiertage. Mit einem Seufzer der Erleichterung lenkte Carl den schnittigen Wagen an den letzten Cottages vorbei und hinaus auf die gewundene Straße, die nach Bewley Hall führte. Er konnte gut ohne Erinnerungen an Weihnachten oder Familienfeste auskommen. Heute war seine Scheidung endlich rechtsgültig geworden. Ein Schlussstrich. Doch das Gefühl, versagt zu haben, blieb. Mit Liebe oder dem, was er dafür gehalten hatte, war schon länger Schluss gewesen. Bei seiner Heirat hatte er sein Eheversprechen ernst gemeint. In guten und in schlechten Tagen ... War er daran schuld, dass alles so schnell den Bach runtergegangen war? Wäre er der Ehemann gewesen, den Terrina gewollt hatte, hätte sie sich nicht woanders umgesehen. Oder doch? Hatten letztendlich die Freunde Recht, die seine Exfrau als Flittchen bezeichneten? Sagte man nicht, dem Ehemann fiele immer zuletzt auf, wenn seine Frau sich mit anderen herumtrieb? Während der langen Krankheit seines Onkels hatte er den wahren Zustand seiner Ehe vor ihm verborgen. Er hatte auch noch den Mund gehalten, als Terrina die Scheidung von ihm verlangte, um ihren französischen Liebhaber heiraten zu können. „Pierre weiß, wie man das Leben genießt", erklärte sie vorwurfsvoll. „Er verlangt nicht von mir, dass ich Kinder kriege und meine Figur ruiniere oder mit einem mürrischen alten Onkel elend langweilige Wochenenden auf dem Land verbringe!" Carl hatte heute seiner persönlichen Assistentin mitgeteilt, dass er zwei Wochen freinehmen würde, sein Apartment in der Upper Thames Street abgeschlossen und den Weg zu seinem alten Zuhause in Gloucestershire eingeschlagen. Dort würde er die Feiertage damit verbringen, den Besitz seines Onkels, aber auch die eigenen Habseligkeiten zu sortieren. Sie warteten in den Räumen auf ihn, die ihm seit zwanzig Jahren zur Verfügung standen. Seit Marcus ihn nach dem Unfalltod seiner Eltern zu sich genommen hatte. Damals war Carl sieben gewesen. Ihm schnürte sich die Kehle zusammen, während der Wagen zwischen hohen, winterkahlen Hecken dahinglitt und Eiskristalle auf den Gräsern im Licht der Scheinwerfer aufblitzten. Ein paar deprimierende Tage warteten auf ihn.
Das Haus würde leer sein, unbeheizt. Das Personal war mit großzügigen Abfindungen entlassen worden. Marcus hatte niemals geheiratet und gehofft, dass er, Carl mit seiner Frau hierher ziehen und eine Familie gründen würde. Eine neue Forsythe-Dynastie. Das Gefühl, versagt zu haben, verstärkte sich. Die Entscheidung, Bewley Hall mitsamt allen Einrichtungsgegenständen zu verkaufen, war ihm nicht leicht gefallen. Aber Carl hatte nicht die Absicht, noch einmal zu heiraten. Einmal war genug. Mehr als genug. Und ohne Frau gäbe es keine Kinder, kein Fortbestehen der Familie. Also war es sinnlos, das Anwesen zu halten. Bitterer Grimm stellte sich ein, als er das einsame Licht im Keeper's Cottage brennen sah, das hinter den Bäumen lag, die Bewley Hall begrenzten. Offenbar waren die neuen Besitzer bereits eingezogen. Und wo mochte jetzt Beth Hayley sein? Wie war es ihr ergangen? Sein Herzschlag beschleunigte sich. Wenn er wüsste, wie es ihr ging, dass sie glücklich und erfolgreich war, dann würde er vielleicht endlich diese Nacht vergessen - vergessen, wie schlecht er sich benommen hatte, könnte Abschied von seinen Träumen nehmen, von den Erinnerungen, die immer wieder wie ein Videofilm in seinem Kopf abliefen. Acht Jahre waren eine lange Zeit für einen immer wiederkehrenden Traum. Viel zu lang ... Im verblassenden Licht der Dämmerung machte das große alte Haus einen einsamen Eindruck, fast so, als wäre es ein lebendes Wesen, das sich nach Licht und Wärme sehnte, dem Klang menschlicher Stimmen und fröhlichem Gelächter. Er presste die Lippen zusammen und schob diesen Gedanken beiseite. Es wurde Zeit, sich endlich zusammenzureißen und mit dem anzufangen, was er ausgezeichnet konnte: seine Arbeit erledigen. Carl hielt an, stieg aus und schloss den Jaguar ab. Dann holte er die Hausschlüssel heraus und ging die flachen Stufen zur massiven Eingangstür hinauf. In der Eingangshalle von Bewley Hall war es fast dunkel, nur die letzten Tageslichtstrahlen fielen durch die hohen, mit Gardinen verschlossenen Fenster schwach herein. Zuerst musste der Hauptschalter angeschaltet werden, damit er überhaupt Strom im Haus hatte. Er drehte sich um, um die Taschenlampe zu holen, die er immer im Handschuhfach seines Wagens liegen hatte. Plötzlich erstarrte er. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Lachen - Kinderlachen - drang aus dem oberen Stockwerk zu ihm herunter. Unheimliches Geflüster, lautes Kichern. Waren es die Geister der Kinder, die sein Onkel hier so gern gesehen hätte? Die neue Generation der Forsythes, die es hier niemals geben würde? Reiß dich zusammen, ermahnte er sich. Sicher sind es nur irgendwelche jugendlichen Rabauken aus der Stadt, die sich hier eingenistet haben, dachte er entschlossen und eilte die Eichenholztreppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Seine schnellen Schritte lösten bei den Eindringlingen Panik aus, atemloses Keuchen, hastige Schritte. Carl konnte zwei von ihnen am oberen Treppenabsatz abfangen. Jungen. Jünger, als er gedacht hatte. Er hielt sie an den schmalen Schultern fest und fragte in strengem Ton: „Was habt ihr hier zu suchen?" Die beiden schwiegen sichtlich unglücklich einen Moment lang, dann sagte der etwas Größere mit bebender Stimme: „Wir wollten das Haus nur erforschen, Sir. Unsere Mum hat gesagt, hier wohnt niemand." „Und deswegen seid ihr eingebrochen?" „Oh nein, Sir. Im Erdgeschoss stand ein Fenster offen. Wir haben nichts kaputt gemacht. Ehrlich." Das war der Kleinere, und die Jungen waren anscheinend wohlerzogen, wenn sie ihn respektvoll „Sir" nannten! Carl löste den Griff ein wenig. „Eure Namen?"
Der Große antwortete zuerst. „James, Sir." „Guy." Ein Schniefen. Zittern in der Stimme. Die beiden fangen gleich an zu weinen, dachte Carl mitleidig und musste an seine eigene Kindheit denken, an den Ärger, den ihm manche Streiche eingebracht hatten. Die Jungen waren nicht mit krimineller Absicht eingedrungen, sondern wohl nur auf ein Abenteuer aus gewesen. „Und wie alt seid ihr?" fragte er. Zwei bebende Stimmen antworteten im Chor: „Sieben, Sir." „Und woher kommt ihr?" „Keeper's Cottage, Sir", erwiderte James bedrückt. Bestimmt fürchtet er das elterliche Donnerwetter, dachte Carl leicht amüsiert. Doch dann verdüsterte sich seine Stimmung wieder. Die Kinder waren von den neuen Besitzern des Cottage. Dort hatten früher der Gärtner seines Onkels und seine Frau zusammen mit ihrer Enkelin Beth gelebt. Die Verdrießlichkeit der Großeltern hatte nicht auf sie abgefärbt. Sie war ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, dessen Gesellschaft man gern suchte. Während seiner Internatsferien waren sie viel zusammen gewesen, hatten alle möglichen dummen Streiche zusammen ausgeheckt. Später dann hatte er oft Schulfreunde mitgebracht, und Mädchen waren nicht mehr interessant. Dennoch hatte Beth ihm seltsam gefehlt, und wenn er ihr auf dem Anwesen begegnet war, war er jedes Mal merkwürdig gehemmt und ungewohnt unsicher gewesen. All das hatte sich an jenem Abend der Sommerparty geändert, die Marcus einmal im Jahr für seine Angestellten und Familien gegeben hatte. Damals war Beth siebzehn und das hübscheste Mädchen gewesen, das er gekannt hatte. Er selbst war neunzehn gewesen und hätte klüger sein müssen. Neue Besitzer im Keeper's Cottage. Er würde Beth nicht wieder sehen, nicht herausfinden, was aus ihr geworden war. Und er würde nie die Erinnerungen loswerden, die sich immer noch in seine Träume schlichen, obwohl sie dort nichts mehr zu suchen hatten. Schuldgefühle, sagte er sich grimmig, das sind nur Schuldgefühle. „Ich bringe euch zurück nach Haus. Passt auf die Stufen auf." Im Haus war es jetzt stockdunkel, aber draußen mochten die Sterne am klaren Himmel ein wenig Licht spenden. Guy war ein untersetzter Junge mit glattem blonden Haar, während James größer und drahtiger war und volle dunkle Haare hatte. Beide waren gleich alt. Zwillinge vielleicht? Mit Sicherheit keine eineiigen. „Wir gehen zwischen den Bäumen zurück", sagte er den Jungen, nachdem er die Taschenlampe aus dem Wagen geholt und angeknipst hatte. „Es geht schneller, als wenn wir mit dem Wagen fahren, und eure Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen, wo ihr bleibt." Und das geschieht ihnen auch nur recht, dachte er. Ein richtiger Junge ließ sich keine Gelegenheit zu einem Abenteuer entgehen. Die Eltern hatten Schuld. Wenn er siebenjährige Kinder hätte, würde er wissen, wo sie sich herumtrieben, besonders um diese Tageszeit. Er würde darauf achten, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit zu Haus waren! Und da ihm das Haus gehörte, in das die Jungen eingestiegen waren, durfte er den Eltern deutlich seine Meinung sagen! Sein Vorsatz geriet jedoch rasch ins Hintertreffen, während er die Jungen den schmalen Pfad entlangführte, der voller Erinnerungen für ihn war. Am Morgen nach der Party hatte er Beth auf diesem Weg zurück nach Haus begleitet - tief beschämt und erfüllt von der Erkenntnis, es reiche längst nicht aus, sich nur zu entschuldigen. Dennoch hatte er es getan, und sie war ... nun, einfach Beth gewesen. Süß und rücksichtsvoll. Freundlich. Sie hatte ihm die Hand auf die Wange gelegt, ihn angelächelt und mit warmer Stimme gesagt: „Es muss dir nicht Leid tun. Bestimmt nicht." So als wäre es nicht sein Fehler gewesen, ihr die Unschuld zu rauben, sondern ihrer.
Seitdem war er diesen kurzen Weg nie wieder gegangen ... Schon bald nach dieser Nacht flog er in die USA, um drüben, wie vorgesehen, Volkswirtschaft zu studieren. Kurz nach der Ankunft in den USA schrieb er Beth, bat sie, weiter Kontakt mit ihm zu halten, ihm zu sagen, ob diese Nacht irgendwelche Auswirkungen für die Zukunft gehabt hätte. Er bekam keine Antwort. Und da sie nie wieder von sich hören ließ, nahm er an, sie hätte alles längst vergessen. Vielleicht war es zu unwichtig für sie gewesen. Als er drei Jahre später nach Bewley zurückkehrte, war seine Hochzeit mit Terrina längst geplant, und er trat seine Stellung in der Bank seines Onkels an. Der alte Frank Hayley war inzwischen gestorben, und seine Witwe sprach nicht von ihrer Enkelin. Aber Ellen Hayley war schon immer ein verschlossener Mensch gewesen, mürrisch und wortkarg. Er hatte aus ihr nur herausbekommen, dass Beth die Stadt kurz nach der Beerdigung ihres Großvaters verlassen hatte. Carl schalt sich, dass er die Vergangenheit nicht Vergangenheit sein lassen konnte, und öffnete das Gatter, das in den hinteren Garten führte. Licht fiel aus dem Küchenfenster. „Wir finden jetzt auch allein nach Haus, Sir", verkündete James scheinbar entschlossen, aber seine wackelige Stimme verriet ihn. „Mum sagt, wir sollen nie mit Fremden mitgehen. Niemals." „Das ist vernünftig." Carl unterdrückte ein Lächeln. „Aber da ich euch auf meinem Grund und Boden gefunden habe, ist es einfach meine Pflicht, euch sicher nach Haus zu geleiten." Damit schob er sie Richtung Küchentür. „Und nun freut euch auf das Donnerwetter!" konnte er sich dann doch nicht verkneifen. Gott sei Dank funktioniert der gute alte Herd noch perfekt, dachte Beth glücklich, als sie das Blech mit den Käse-Scones herauszog und auf den hölzernen Küchentisch stellte, neben den üppigen Weihnachtskuchen, den sie vorhin mit den Jungen gebacken hatte. Es war für sie eine große Überraschung gewesen, dass ihre Großmutter ihr Keeper's Cottage hinterließ, nachdem sie in den letzten acht Jahren kaum etwas mit ihr zu tun gehabt hatte. Zuerst hatte Beth das Cottage verkaufen wollen, aber seit sie am Morgen aufgewacht war, war in ihr eine andere Idee aufgekeimt. James war eigentlich der Auslöser gewesen, als er beim Frühstück gefragt hatte: „Warum wohnen wir nicht hier, Mum? Es ist so toll hier. Guy müsste zwar in diesem schrecklichen London bleiben, aber er könnte in den Schulferien herkommen." Der Stadtteil St. John's Wood hatte eigentlich nichts Schreckliches an sich, aber Beth wusste, was ihr Sohn meinte. Ein Leben auf dem Land hatte Kindern viel mehr Freiheit zu bieten. Und auch was sie selbst betraf: Im Haus eines anderen zu wohnen - egal wie luxuriös dieses und wie nett ihre Arbeitgeber auch waren -, das alles war kein Vergleich dazu, im eigenen Haus zu leben. Außerdem hatte sie das unbestimmte Gefühl, schon in recht kurzer Zeit ohne Arbeit dazustehen. Und es würde kein Problem bedeuten, so dicht an Bewley Hall zu wohnen. Der alte Marcus Forsythe war gestorben - einige Wochen, bevor ihre Großmutter einer Lungenentzündung erlegen war, und sie hatte im Dorf erfahren, dass das Anwesen Anfang des nächsten Jahres versteigert werden sollte. So bestand keinerlei Gefahr, dass sie - oder noch wichtiger, James -, Carl Forsythe über den Weg laufen würde. Sie wandte sich zu der steinernen Spüle um, füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Zeit für einen Tee. Reichlich Zeit, dachte sie. Die Jungen hatten im Schuppen am Ende des Gartens spielen wollen. „Nur für eine halbe Stunde", hatten sie leichthin verkündet. Das war um drei Uhr gewesen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass eineinhalb Stunden vergangen waren, seit sie sie fröhlich hüpfend zwischen den Büschen hatte verschwinden sehen.
Mit Backen beschäftigt und den Gedanken daran, wie sie es bewerkstelligen könnte, ständig hier draußen mit James zu leben, hatte sie überhaupt nicht mehr an die Jungen gedacht. Nun aber machte sie sich doch Sorgen. Sie nahm eine Taschenlampe aus der Kommodenschublade und öffnete die Küchentür. Ein Schwall eisiger Luft wehte herein, zusammen mit Carl Forsythes vorwurfsvoller Stimme: „Ich glaube, diese beiden Kandidaten gehören zu Ihnen!"
2. KAPITEL Guy senkte seinen zerzausten blonden Schopf und drückte sich in die Küche. Seine Unterlippe zitterte. Carl, der nicht wusste, dass es sein Sohn war, der immer noch neben ihm stand, sagte: „Beth?", als traue er seinen Augen nicht. „Was ... was ist geschehen?" Nur mit Mühe brachte Beth die Worte heraus, räusperte sich dann. Carl antwortete nicht. An seinem markanten Kinn zuckte ein Muskel, die rauchgrauen Augen waren direkt auf sie gerichtet. Sein Blick hielt sie gebannt. Es war ihr nicht möglich wegzuschauen. James brach schließlich das lastende Schweigen. „Wir haben uns das Haus angesehen, Muni. Wir dachten, dort lebt niemand." Seine Stimme zitterte, als er hinzufügte: „Er hat gesagt, wir sollten ruhig mit ihm gehen, auch wenn er ein Fremder ist, denn wir wären in seinem Haus und er müsste uns nach Haus bringen." Tapfer gestand James seinen Ungehorsam ein und erklärte, warum er die strikte Regel gebrochen hatte, nicht mit Fremden mitzugehen. Plötzlich empfand Beth einen unbändigen Stolz auf ihren Sohn, so dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Dass dieser Fremde zufällig sein eigener Vater war, wusste nur Beth allein. Ihr Blick flog von James' Gesicht zu dem von Carl. Beide waren sich so ähnlich. Sie biss sich auf die Lippen. Würde Carl es bemerken? Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es ihm entging. „Wir unterhalten uns später darüber", sagte sie, so streng wie es ihr möglich war angesichts des panischen Gefühls, das sie kaum unterdrücken konnte. „Geht jetzt auf euer Zimmer, beide. Wascht euch und zieht euch dann irgendetwas Sauberes an. So schmutzig habe ich euch noch nie gesehen." James warf ihr einen jämmerlichen Blick zu, als er an ihr vorbeischlich, aber Guy teilte ihr mit: „Im Schuppen gibt es riesige eklige Spinnen, wir können nicht darin spielen. Du musst sie erst vertreiben." Als würde das alles entschuldigen. Er saß auf dem Boden und versuchte hektisch, die Bänder seiner Turnschuhe zu lösen. Beth unterdrückte ein Lächeln und wiederholte: „Nach oben. Auf der Stelle. Beide." Als die Jungen die Holztreppe hinaufpolterten, schaute sie ihnen hinterher und fühlte sich ein wenig sicherer. Dann zwang sie sich, Carl anzublicken. Sie hatte in der Vergangenheit so sehr versucht, ihn zu vergessen, aber das erwies sich als unmöglich. Wie sollte sie auch, da James seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war? Carl hatte sich verändert, und wiederum doch nicht. Er sah noch immer umwerfend gut aus, allerdings waren seine Schultern breiter geworden, und er trug das schwarze Haar kurz. Dadurch traten seine kantigen Züge schärfer hervor. Die grauen Augen blickten kühler und durchdringender als früher. Immer noch verwirrt, erinnerte sie sich erst jetzt an ihre Manieren und sagte rasch: „Vielen Dank, dass du die Jungen sicher nach Haus gebracht hast. Ich muss mich bei dir entschuldigen, dass sie sich so schlecht benommen und dir deine Zeit gestohlen haben." Und dann, damit er nicht das Gefühl bekam, er wäre ein lästiger Fremder, den sie möglichst schnell wieder loswerden wollte, setzte sie hinzu: „Möchtest du nicht hereinkommen? " Sie hoffte, er würde Nein sagen. Carls Absicht, ihr eine Standpauke zu halten, schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Es war immer noch ein Schock für ihn, Beth, die ihn regelmäßig in seinen Träumen heimgesucht hatte, leibhaftig vor sich zu sehen. Aufrecht stand sie da, die wunderschönen Augen groß und voller Besorgnis, die schmalen Schultern unter dem jadegrünen Pullover angespannt. Das im Nacken zusammengebundene
blonde Haar unterstrich ihre hohen Wangenknochen und ließ ihren schlanken Hals fast schmerzlich jung und verletzlich erscheinen. Wie konnte er ihr eine Standpauke halten, wenn er sie am liebsten in die Arme gezogen und getröstet hätte? „Es ist lange her, Beth", sagte er sanft und hätte gern hinzugefügt: zu lange ... Aber er tat es nicht. „Dich hätte ich wirklich am allerwenigsten hier erwartet. Für mich warst du einfach verschwunden, so dachte ich, das Cottage wäre nach dem Tod deiner Großmutter verkauft worden." Er ging an ihr vorbei in die warme, altmodische Küche und spürte, wie sie zurückzuckte. Ein schmerzlicher Stich traf ihn. War ihr seine Anwesenheit unwillkommen? Weil sie nicht an den One-Night-Stand vor all diesen Jahren erinnert werden wollte? Heutzutage und in ihrem Alter kam ihm so etwas ein wenig abwegig vor. Außer natürlich, ihr Mann befand sich in der Nähe - der Vater der Zwillinge. So wie er Beth kannte, hatte sie ihm garantiert ihre vorherige Beziehung gebeichtet - wenn man diesen überwältigenden One-Night-Stand überhaupt als Beziehung bezeichnen kann, dachte er. Aber vielleicht wäre es ihr unangenehm, den ehemaligen Geliebten ihrem Ehemann vorzustellen. Vielleicht war sie deswegen so angespannt. Natürlich wollte er sie nicht in eine peinliche Situation bringen, nicht um alles in der Welt. Am besten sagte er ein paar unverbindliche höfliche Sätze, denn es würde komisch aussehen, einfach wieder hinauszumarschieren, auch wenn sie wohl ausgesprochen dankbar dafür sein würde! „Verbringst du mit deinem Mann und den Kindern hier die Weihnachtsfeiertage?" fragte er in bemühtem Plauderton. „Keeper's Cottage ist für Ferien wie geschaffen, und die Zwillinge werden bestimmt die Freiheit hier genießen." Er wusste, eigentlich sollte er besser sofort verschwinden, anstatt hier Konversation zu betreiben. Der Gedanke, in das kalte und leere Haus zurückzukehren, diese warme, nach Kuchen duftende Küche wieder zu verlassen, dazu noch mit so vielen unbeantworteten Fragen, erschien ihm jedoch nicht sonderlich verlockend. Seine harmlose Frage zeigte eine verblüffende Wirkung. Beth starrte ihn an und runzelte die Stirn. „Zwillinge?" murmelte sie und schüttelte den Kopf. „Sehen sie aus wie Zwillinge? Guy ist der Sohn meines Arbeitgebers. Ich bin sein Kindermädchen, seit er sechs Monate alt ist. Er und James sind zusammen aufgewachsen." Sie entspannte sich ein wenig und vertraute ihm dann an: „Guys Mutter ist hochschwanger. Sie möchte eine Hausgeburt haben, deshalb dachten wir alle, es wäre das Beste, die Jungen mitzunehmen, damit sie ein richtiges Weihnachtsfest bekommen. So sind nur wir drei hier. Ich habe keinen Mann. James' Vater und ich haben nie geheiratet." Dann biss sie sich auf die Unterlippe. Kräftig. Warum nur konnte sie ihren vorlauten Mund nicht halten? Ihr fiel auf, dass sein angespanntes Gesicht wieder gelöster aussah. Wegen ihrer letzten Worte? Sie wusste es nicht. Das Problem war nur, es war ihr immer leicht gefallen, sich mit ihm zu unterhalten. In der Hinsicht hatte sich nichts geändert. Sie hätte sich besser eine Geschichte ausdenken sollen dass ihr Mann im Ausland arbeitete - und ihn damit auf eine falsche Fährte locken können. Andererseits wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, jemanden anzulügen. So war es, und so würde es auch immer bleiben. Carl zog einen Stuhl unter dem alten Holztisch hervor und setzte sich unaufgefordert, legte einen Arm lässig auf die Rückenlehne und streckte die langen Beine weit von sich. Er lächelte jetzt sogar, dieses entwaffnende Lächeln, das sie so gut kannte, und seine Augen blickten so warm, wie sie es in Erinnerung hatte. Er hatte eine weiche Lederjacke an, darunter einen dunklen Sweater und eine Cordhose, die wie angegossen saß.
Sie verspürte ein leichtes Flattern im Magen, wie von Schmetterlingsflügeln. Ein Gefühl, das sie schon fast vergessen hatte. Primitive sexuelle Lust, sagte sie sich und fand es erstaunlich, dass er immer noch diese Wirkung auf sie hatte. „Erzähl mir mehr", forderte er sie auf. „Wie ich schon sagte, es ist viel Zeit vergangen. Du und ich, wir haben uns bestimmt eine Menge zu erzählen." „Ich ..." Beth war angespannt wie ein Flitzebogen, wie sie feststellen musste. Sie versuchte unbemerkt tief Luft zu holen. Es würde Carl nur misstrauisch machen, sie so nervös zu sehen. „Ich wollte gerade Tee aufbrühen", sagte sie bemüht ruhig. „Möchtest du vielleicht eine Tasse?" „Sehr gern. Es war ein langer Tag." Er sah ihr zu, wie sie den Kessel mit dem kochenden Wasser vom Herd nahm. Das Mädchen seiner Erinnerung und Träume hatte sich in eine beeindruckende Frau verwandelt - verführerische, lockende weibliche Formen, verteilt auf einen Meter sechzig. Warum hatte der Vater ihres Kindes sie nicht geheiratet? Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mann nicht stolz gewesen wäre, sie zur Frau zu haben. Außer, ihr Liebhaber war bereits verheiratet gewesen. Niemals hätte er gedacht, dass sie der Typ war, der sich mit dem Mann einer anderen Frau einließ. Sie war so süß, unschuldig und arglos gewesen. Carl runzelte unwillkürlich die Stirn. Ihr Sohn war sieben Jahre alt. Man musste kein Mathe-Genie sein, um sich auszurechnen, dass sie mehr oder weniger aus seinem in ein anderes Bett gehüpft war! Waren diese Unschuld und Offenheit, die ihn so verzaubert hatten, nur vorgetäuscht gewesen? Eifersucht und ein bitteres Gefühl der Enttäuschung trafen ihn mitten ins Herz. Wie absurd! Er selbst hatte geheiratet und somit kein Recht auf solche Empfindungen! Beth stellte die Teekanne auf den Tisch und holte Tassen und Untertassen aus dem Schrank, anschließend die Milch aus dem Kühlschrank. Über ihnen hörte sie die Kinder in ihrem Zimmer rumoren. Aus Erfahrung wusste sie, das Waschen und Umziehen konnte in wenigen Minuten erledigt sein oder auch Ewigkeiten brauchen. Sie hoffte sehnlichst, heute wäre Letzteres der Fall. So könnte Carl seinen Tee in Ruhe trinken und ihr damit Zeit geben, sich zu sammeln und wieder einen normalen Anblick zu bieten, eine unbefangene Unterhaltung zu führen. Schließlich waren sie als Kinder Freunde gewesen. Er würde es bestimmt seltsam finden, wenn sie nicht einmal den Versuch unternahm, sich mit ihm über die vergangenen Jahre auszutauschen. Allerdings wollte sie das Gespräch nicht ausdehnen. Er musste verschwunden sein, bevor James wieder auftauchte und Carl die erstaunliche Ähnlichkeit zwischen ihnen auffiel. „Es tat mir Leid, vom Tod deines Onkels zu hören", sagte sie ruhig, als sie ihm einschenkte. „Ich mochte ihn. Er hatte immer ein freundliches Wort für mich übrig - und seine Hosentaschen schienen einen unerschöpflichen Vorrat an Bonbons zu enthalten!" Beth lächelte in Erinnerung an den sympathischen Marcus Forsythe. „Er fehlt mir", gestand Carl ein. „Ich glaube, wir standen uns so nahe, weil wir beide ohne Eltern groß werden mussten." Er schüttelte den Kopf. „Du hattest leider weniger Glück als ich. Deine Großeltern waren schließlich nicht einfach." „Sie handelten so, wie sie es für am besten hielten", verteidigte Beth die beiden, und ihre Wangen färbten sich leicht rot. Sie waren auf ihre eigene Art gut gewesen, und sie mochte es nicht, wenn schlecht über sie gesprochen wurde. Ihre Großmutter musste etwas für sie empfunden haben. Sonst hätte sie ihr nicht das Haus vermacht. Sie hätte es ja auch der Kirche oder irgendeiner wohltätigen Einrichtung vererben können. Sie blickte Carl fest an und erklärte ernst: „Ich nehme an, sie hatten beide einen starken puritanischen Zug mitbekommen, so dass man ihnen ihre oft schroffe, abweisende Art eigentlich nicht übel nehmen kann. Und nach dem, was ihrem einzigen Kind, meiner Mutter, geschehen war, zeigten sie sich doppelt streng bei mir."
Carl griff über den Tisch nach ihren Händen. „Ich weiß noch, wie sehr es dich mitgenommen hat, als deine Großeltern dir die Wahrheit über sie erzählten", sagte er weich. Er war zu Beginn der Osterferien nach Haus gekommen und hatte sie schluchzend am Bach gefunden, wo die wilden Schlüsselblumen wuchsen. Nach und nach hatte sie ihm alles berichtet: Ihre Mutter war im ersten Studienjahr an einem College in Birmingham schwanger geworden. Ihre Eltern hatten erst davon erfahren, als ihre Tochter mit dem neugeborenen Baby vor ihrer Haustür stand. Vierundzwanzig Stunden später verschwand sie wieder und kehrte nie zurück. Eine Karte, die einzige, die sie je geschickt hatte, war zu Beth' fünftem Geburtstag gekommen. Dazu eine Mitteilung an Frank und Ellen Hayley, dass sie einen Australier kennen gelernt und geheiratet hätte und in Darwin leben würde. Carl war damals vierzehn und Beth zwölf gewesen, und er hatte nicht gewusst, wie er sie trösten sollte. Also nahm er sie einfach in die Arme. Sie klammerte sich an ihn und weinte bittere Tränen. Jetzt wusste er, an diesem Punkt hatten sich langsam seine Gefühle für sie verändert. In den darauf folgenden Jahren war er in ihrer Gegenwart seltsam gehemmt gewesen und errötete bei jeder Gelegenheit. Er drückte jetzt ihre Hand, und als sie das Gleiche tat, erfüllte ein süßes Gefühl sein Herz. „Es war für dich nicht leicht zu verkraften, dass deine eigene Mutter dich nicht haben wollte, und ich habe dich sehr dafür bewundert, dass du nicht verbittert und verschroben wurdest." „Warum hätte ich das sein sollen?" Beth wurde rot und entzog ihm abrupt die Hand. Was tat sie hier eigentlich? Händchen halten - und das mit einem verheirateten Mann! Sicher, damals war sie bis über beide Ohren in Carl Forsythe verliebt gewesen, und er war der Vater ihres Sohnes. Aber das Schicksal hatte für sie keinen gemeinsamen Lebensweg vorgesehen. Sie musste überspielen, dass sie sich immer noch zu ihm hingezogen fühlte. Beth verschränkte die Hände im Schoß und bemühte sich, nicht an das wundervolle Gefühl seiner Berührung zu denken und wieder in die Realität zurückzukommen. So richtete sie sich auf und versuchte das zu verteidigen, was ihre Großeltern als unentschuldbar dargestellt hatten. „Meine Mutter war noch sehr jung, und die Vorstellung, ein Kind großziehen zu müssen, war wohl einfach zu viel für sie. Meine Großeltern haben es ihr bestimmt sehr schwer gemacht. Ein uneheliches Kind bedeutete für Leute ihrer Generation immer noch eine schwere Schande." Und das hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen! „Aber du hast diese bestimmt nicht leichte Verantwortung übernommen", wandte Carl ruhig ein. „Haben Frank und Ellen dich hinausgeworfen?" „Natürlich nicht!" Aber der Abscheu und die Wut, die sie in den folgenden Tagen zu spüren bekommen hatte, die Vorwürfe, in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten und Schande über die Familie gebracht zu haben, hatten es ihr unmöglich gemacht, zu bleiben. „Und James ist mir niemals eine Last gewesen. Ich wollte doch mein Baby haben!" Aufgeregt stand sie auf und räumte die Teetassen fort. Warum kam es ihr so völlig natürlich vor, mit ihm zu reden, ihm ihr Herz zu öffnen? Sie wünschte, er würde gehen. Es konnte gut sein, dass sie jede Minute irgendetwas sagte, das ihn misstrauisch machen würde. Ihre Großmutter hatte sie oft getadelt, weil sie ihren Mund nicht halten konnte. Sie drehte den Hahn voll auf und spülte die Tassen gründlich ab, und dabei hoffte sie, er verstünde den Wink mit dem Zaunpfahl und würde nun gehen. Aber als sie dann seine Hand auf ihrer Schulter fühlte und sich umdrehte, erstarb jede Hoffnung darauf. Carl stand dicht vor ihr, viel zu dicht. Ihr stockte der Atem. Seine Körperwärme umhüllte sie. Fast gegen ihren Willen legte sie den Kopf in den Nacken und schaute ihm ins Gesicht. Er hatte einen wundervollen Mund. So sensibel, so sinnlich. Als wäre es erst gestern gewesen, konnte sie sich noch genau daran erinnern, wie er damals ihre Lippen eroberte. So zart und sanft am Anfang und dann mit einer Leidenschaft, die sie wie eine Woge überrollt
hatte. Beth lernte bei ihm zum ersten Mal Lust - und Liebe kennen. Ein Schauer überlief sie, als er ihren Namen flüsterte, und sie hob den Blick. In seinen Augen stand ein Ausdruck, der ihr die Luft nahm. „Beth ..." Schlanke, starke Finger strichen über ihren Mundwinkel. „Du brauchst vor mir nicht die Tapfere zu spielen. Ich weiß, es war schwer für dich, und wegen der alten Zeiten möchte ich dir helfen. Du hast gesagt, du arbeitest als Kindermädchen. Ich nehme an, du und dein Junge, ihr lebt bei deinem Arbeitgeber, Tag und Nacht im Dienst?" Beth starrte fasziniert auf seinen Mund, sog den frischen männlichen Duft ein und kämpfte gegen den verrückten Wunsch an, sich an Carl zu schmiegen. Aber als er dann mit dem Zeigefinger die zarte Linie ihres Kinns nachzog und sagte: „Beth, was ist passiert? Du hast James' Vater nicht geheiratet - funktionierte die Beziehung nicht?", wurde sie schlagartig in die Wirklichkeit zurückbefördert. Als hätte jemand sie in einen eiskalten Swimmingpool gestoßen. Entsetzt wurde ihr bewusst, was sie hier tat. Gab sich lustvollen Gedanken über den Mann einer anderen Frau hin, genoss es, wie ihr Körper auf seine Berührungen reagierte, den verführerisch liebkosenden Blick seiner samtenen Augen ... Und sie hörte das verräterische Knarren der Kinderzimmertür, die zögernden Schritte oben an der Treppe. Beth zuckte zurück und murmelte heiser: „Ich glaube nicht, dass es dich etwas angeht, oder? Also, wenn du mich jetzt entschuldigen willst ..." Sie ging zur Tür, auf Beinen, die wie aus Gummi waren. „Ich habe noch eine Menge zu tun." Und sie ersehnte nichts mehr, als dass er ging, auf der Stelle, bevor die Jungen unten waren und er genügend Zeit hatte, James anzusehen und sich zu fragen ...
3. KAPITEL „So, das sollte reichen." Beth schnitt den letzten Stechpalmenzweig mit den leuchtend roten Beeren ab und steckte die Gartenschere wieder zurück in die Tasche ihrer weiten Fleecejacke. Der Jungen wegen gab sie sich fröhlich, tat so, als hätte sie nichts anderes im Kopf, als das Cottage für Weihnachten zu schmücken. In ihr tobte jedoch ein Sturm. Wusste Carl es? Oder vermutete er zumindest, dass James sein Sohn war? Oder sorgte ihr schlechtes Gewissen für eine übersteigerte Fantasie? „Dort drüben ist noch ganz viel", wandte Guy ein. „Man darf nicht alle abschneiden", belehrte ihn James. „Die Vögel hungern, wenn sie keine Beeren finden. Mum", setzte er dann hinzu: „Ich habe auch Hunger." „Und ich auch." Guy sah sie bittend an, und Beth rückte das Bündel Zweige in ihrem Arm zurecht. Dann unterdrückte sie ihre eigenen Ängste und grinste die beiden an. Der kalte Wind hatte ihre Wangen gerötet, ihre Großstadtblässe vertrieben, und die frische Luft sorgte für einen gesunden Appetit bei den Jungen. Das war ein weiterer Grund, warum sie sich seit ihrer Ankunft vor fünf Tagen mehr und mehr mit dem Gedanken angefreundet hatte, dauerhaft in Keeper's Cottage zu wohnen. Die Schule am Ort war hervorragend, und sicher würde sie einen Teilzeitjob finden Putzen, in einem Laden aushelfen - alles, was mit den Schulstunden irgendwie vereinbar war. Ihre Ersparnisse bei den Harper-Jones würden reichen, bis sie irgendetwas Passendes gefunden hatte. „In einer Stunde gibt es Mittagessen", versprach sie und wunderte sich, wie die Jungen nach den Bergen von Pfannkuchen und Schinken zum Frühstück nun schon wieder hungrig sein konnten. Als sie sich Richtung Ort trollten, rief sie ihnen nach: „Lauft nicht und passt auf die Autos auf!" Allerdings gab es kaum Verkehr. Sie schaute auf die kleinen Gestalten - beide in gleichen roten Anoraks, Khakihosen und grünen Gummistiefeln - und wusste, sie würden einander fehlen. Aber eine Trennung war unvermeidlich, wie auch immer sie sich wegen des Cottage entschied. Angela Harper-Jones hatte mehrfach Andeutungen gemacht, seit ihre Schwangerschaft bestätigt worden war. Angela und Henry Harper-Jones waren beide Anwälte, und Guy war ungeplant gewesen. Als er geboren wurde, hatte Angela ihre Karriere nicht aufgeben wollen, und so hatte sie ein Kindermädchen gesucht. Dass Beth ein drei Monate altes Baby hatte, war sogar ein Vorteil für sie gewesen. Beth hatte ihr Baby nicht fortgeben müssen, um arbeiten zu können, und sie hatten auch nicht in einem der heruntergekommenen Hochhäuser leben müssen, die die Stadt zur Verfügung stellte. Aber nun würde Angela zu Haus bleiben, und da sie zur Unterstützung noch eine Haushälterin hatte, die gleichzeitig kochte, würde sie Beth nicht mehr benötigen. Beth' Tage im Haushalt der Harper-Jones waren gezählt. Als sie das Ende der schlammigen Straße erreichte, an dem die Jungen auf sie warteten, hatte sie endgültig ihren Entschluss gefasst. Sie und James würden hierher ziehen. Hier war ein guter Ort zum Leben. Trotz ihrer strengen Großeltern hatte sie eine glückliche Kindheit gehabt, und genau das Gleiche wollte sie für James. Lower Bewley war eine eng miteinander verwachsene Gemeinde, eher wie eine große Familie. So würde ihr Sohn viel mehr Freiheit haben als in London. Und da Bewley Hall verkauft werden würde, bestand kein Risiko, Carl und seiner Frau über den Weg zu laufen. Sie versuchte alle Gedanken an ihn aus ihrem Kopf zu vertreiben. Es waren ständig viel zu viele. Gedanken darüber, warum ihr Körper immer noch auf ihn reagierte, das Singen ihres Pulses, die weichen Knie, das schmerzliche Verlangen danach, ihn zu berühren und berührt zu werden.
Liebe konnte es nicht sein, nicht nach so langer Zeit. Es war einfach unmöglich. Längst hatte sie die berauschenden Gefühle ihrer Teenagerzeit überwunden. Und gestern Nacht, als sie nicht einschlafen konnte, hatte sie sich am Ende davon überzeugt, dass alles nur eine Sache der Hormone war - mehr nicht. Es war schon beunruhigend, wie ihr Körper auf den Anblick des einzigen Mannes reagierte, mit dem sie je geschlafen hatte. Bedauerlich, aber natürlich. Sie wollte nicht an ihn denken, ebenso wenig an seine bestimmt elegante und zu ihm passende amerikanische Frau. Und sie tat ihr Bestes zu vergessen, dass er gestern Abend anscheinend nicht hatte gehen wollen. Am liebsten hatte sie ihn aus der Tür schieben wollen und sie fest hinter ihm geschlossen. Aber er hatte einfach dagestanden, zugeschaut, wie die beiden Jungen in die hell erleuchtete Küche kamen, hatte nichts gesagt, sondern nur James betrachtet. Es hatte ihr richtig Angst gemacht. Danach, es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen, hatte er sich wieder zu ihr herumgedreht und sie intensiv angeschaut. Ihr Herz hatte einen Schlag lang ausgesetzt. Schließlich hatte er sich umgedreht und war hinausgegangen. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt gewesen. Aber sie hatte sich zusammengenommen und den beiden Jungen die notwendige Standpauke gehalten. Zur Strafe hatte sie sie ohne die gewohnte Gutenachtgeschichte ins Bett geschickt. Den Rest des Abends hatte sie damit verbracht, sich den Kopf zu zerbrechen, ob Garl vermutete, dass James sein Sohn war. Und was er tun würde, falls es so war. Nichts, versuchte sie sich zu beruhigen. Er würde die Vaterschaft nicht öffentlich anerkennen wollen. Denn dann würde er seiner Frau gestehen müssen, dass zu der Zeit, als er mit ihr verlobt gewesen war, eine Achtzehnjährige in England sein Kind zur Welt gebracht hatte. Er mochte durchaus einen Verdacht hegen, aber mehr auch nicht, darauf würde sie ihren letzten Penny wetten. Dieser Gedanke beruhigte sie. Eigentlich war es Unsinn, sich Sorgen zu machen. Carl hatte seine schöne Amerikanerin aus gutem Hause geheiratet, bestimmt würde er keinen Geist aus seiner Vergangenheit in Form der schlichten Gärtner-Enkelin auferstehen lassen wollen. Außerdem war er sehr wahrscheinlich schon abgereist, um Weihnachten mit seiner Frau in einer feineren Umgebung als hier zu verbringen. Sein Besuch in Bewley Hall hatte bestimmt nur den Zweck, alles für die bevorstehende Versteigerung des Anwesens vorzubereiten. Ihre Wege würden sich niemals mehr kreuzen. Das ist auch nur gut, dachte sie standhaft und ignorierte das schmerzliche Gefühl des endgültigen Verlustes. James' Freudenschrei riss sie aus ihren trüben Gedanken. „Mum, es schneit! Sieh nur!" Beth hob das Gesicht. Ein paar Flocken taumelten langsam von einem bleigrauen Himmel herab, der viel Schnee versprach. Sie war zu sehr mit sich selbst befasst gewesen und hatte die heranziehenden Wolken nicht bemerkt. Weiße Weihnachten wären wunderschön. Besonders für die Kinder. Und auch für sie, obwohl sie hoffte, dass der Schnee nicht so schnell fiel, denn sie musste ins Dorf und einen Weihnachtsbaum kaufen - falls es überhaupt noch welche gab. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, mit Angelas Wagen, den sie ihr für die Fahrt geliehen hatte, einen Unfall zu bauen. Hinter ihr näherte sich Motorengeräusch. „Da kommt ein Auto!" rief sie den Jungen zu. „Geht an die Seite." Der Wagen fuhr langsam, offenbar saß ein umsichtiger Fahrer am Steuer, der auf der schmalen, gewundenen Straße den Überblick behalten wollte. Erst als der Wagen dicht hinter ihr anhielt, drehte sie sich um. „Carl!" Sie verspürte einen dumpfen Druck im Magen. Umsonst hatte sie sich eingeredet, er wäre schon wieder abgereist!
Carl öffnete die Tür seines Jaguars und stieg aus: „Hüpft rein. Ich nehme euch mit zurück." „Danke, aber das ist nicht nötig." Beth fühlte Hitze in ihr Gesicht steigen. Wenn sie doch nur nicht immer so leicht rot werden würde! Carl wirkte heute Morgen völlig verändert: entschlossen, einschüchternd, und seine Augen blickten kalt wie das Eismeer - ganz anders als der Mann, der gestern Abend überraschend wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Aber er sah einfach umwerfend aus. Sie warf einen Blick auf die Jungen und bemerkte den furchtsamen Ausdruck in ihren Augen. Carls grimmige Miene jagte ihnen offenbar Angst ein. Wahrscheinlich erwarteten sie, dass er sie noch einmal tadeln würde. „Wir haben es nicht mehr weit." Carl öffnete die hintere Wagentür und wandte sich an die Kinder: „Hinein mit euch." Beth erklärte er kühl: „Es sind bestimmt noch anderthalb Meilen zu laufen, und das Wetter verschlechtert sich." Ich laufe lieber ein Dutzend Meilen zu Fuß, als seine Gesellschaft ertragen zu müssen, dachte Beth benommen, setzte sich jedoch zögernd in Bewegung. Schwungvoll hob Carl die Kofferraumhaube, nahm Beth die Ilex-zweige ab und legte sie neben einen Karton mit Lebensmitteln. Ihr sank das Herz. Carl würde seine Lebensmittelvorräte nicht aufstocken, wenn er vorhatte, während der nächsten ein, zwei Tage abzureisen. Und diese seltsame barsche Haltung ihr gegenüber konnte nur eins bedeuten: Er war sich ziemlich sicher, dass James sein Sohn war. Würde er sie mit seinem Verdacht konfrontieren? Und wie soll ich vor ihm rechtfertigen, was ich getan habe? überlegte sie, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte, während Carl prüfte, ob die Jungen richtig angeschnallt waren. Ein furchtbarer Gedanke keimte in ihr: Carl, vermögend und einflussreich, würde das Sorgerecht für James beanspruchen. Er könnte sich ohne Mühe auf einen längeren Kampf einlassen, sie herabsetzen und beschuldigen, ihm das Kind verschwiegen zu haben und diesem Kind all die materiellen und sozialen Vorteile vorzuenthalten, die sein Vater ihm bieten würde. Hastig vertrieb sie die schreckliche Vision. Sie durfte einfach nicht daran denken. Sah sie vielleicht aus ihren Schuldgefühlen heraus Probleme, die es gär nicht gab? Hatte seine düstere Stimmung einen ganz anderen Grund? Ein Streit mit seiner Frau? Oder weil er länger hier bleiben musste als geplant? Es nützte ihr sicher nichts, auf seine miserable Laune entsprechend zu reagieren. Am ehesten würde sie den Grund dafür herausfinden, wenn sie so tat, als wäre alles ganz normal. „Ich habe gehört, dass du Bewley Hall verkaufen willst", setzte sie ihren Entschluss gleich in die Tat um. Allerdings gefiel ihr nicht, dass ihre Stimme dabei so gequetscht und hoch klang. Sie schluckte hastig und sprach mit tieferer Stimme weiter. „Marcus würde sich im Grab umdrehen, wenn er es wüsste." Als er den Mund zusammenpresste, wusste sie, es war nicht die klügste Bemerkung gewesen. Beth begriff, sie hatte ihn absichtlich verletzen wollen. Weil sein verändertes Verhalten ihr wehtat. Der Carl Forsythe, an den sie sich erinnerte, war so stolz auf Bewley Hall und die Generationen der Familie gewesen, die dort gelebt hatten. Und nun konnte er es anscheinend kaum erwarten, den Besitz loszuwerden. Das Kinn grimmig vorgeschoben, hielt er das Steuerrad fest in seinen schlanken Händen. Beth sah, wie die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. Aber er tat nichts, um sich zu verteidigen. Ihre Bemerkung hatte ins Schwarze getroffen, das war eindeutig. Aber dieser arrogante Bankier mit einem Stammbaum bis ins fünfzehnte Jahrhundert hat es wohl nicht nötig, einem Niemand wie mir eine Erklärung zu geben, dachte Beth bedrückt. Sie trauerte dem Carl nach,
mit dem sie praktisch zusammen aufgewachsen war, den sie bewundert hatte. Inzwischen fiel der Schnee so dicht, dass die Scheibenwischer Mühe hatten, die Windschutzscheibe freizuhalten. Beth war letztendlich doch dankbar, dass sie trocken und rasch wieder zu Haus anlangten. Nachdem sie den Jungen herausgeholfen hatte, ging sie zu Carl, der ihre Stechpalmenzweige bereits aus dem Kofferraum genommen hatte. „Danke fürs Mitnehmen." Dabei wünschte sie sich, dass er so schnell wie möglich wegfuhr - und doch wollte sie ihn für den Rest ihres Lebens immer nur anschauen. Schneeflocken ließen sich auf seinem schimmernden schwarzen Haar und den breiten Schultern nieder. Beth konnte den Blick nicht abwenden. James riss sie aus dem Bann. Ausgelassen schlitterte er auf Angelas Auto zu und krähte: „Können wir nicht jetzt den Weihnachtsbaum holen, Mum? Bitte?" Beth biss sich auf die Lippen. Sie enttäuschte ihren Sohn ungern, aber mit dem Wagen bei diesem Schneetreiben drei Meilen weit zum Dorf zu fahren hieß das Schicksal herausfordern. Und mit zwei kleinen Jungen zu Fuß zu gehen war ausgeschlossen. Überraschend kam ihr Carl zu Hilfe. Anscheinend hatte er die Situation sofort erfasst. Verblüfft sah Beth, wie er James anlächelte. „Die Straßen sind zu glatt zum Fahren", erklärte er freundlich, „und ich schätze zudem, dass alle Bäume schon verkauft sind. Was haltet ihr davon, wenn ich einen meiner Bäume fälle und ihn am frühen Abend vorbeibringe? Bestimmt finde ich auch einen Karton mit Lichterketten und Baumschmuck. Wenn ihr wollt, schmücken wir den Baum morgen früh gemeinsam." Er macht einen völlig entspannten Eindruck, dachte Beth perplex, so, als wäre sein Angebot selbstverständlich. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. James sagte nichts. Er stand da und grinste breit von einem Ohr zum anderen. Im nächsten Moment aber stieß er ein Freudengeheul aus, sprang Guy an und wälzte sich mit ihm im Schnee. Und Beth sah zu, wie die beiden Jungen sich wie zwei junge Hunde balgten, kicherten und kreischten. Im Grunde ihres Herzens wünschte sie sich, einfach mitmachen zu können. Irgendetwas zu tun, um die schreckliche innere Spannung abzureagieren. Da wandte sich Carl an sie, und auf einmal klang seine Stimme wieder kühl und scharf. „Ich muss mit dir reden, Beth. Heute Abend. Gegen neun. Sorg dafür, dass die Jungen im Bett liegen. Ich möchte ihnen nicht die Ferien verderben." Mit dieser ominösen Bemerkung stieg er in seinen Wagen und fuhr den Weg zurück nach Bewley Hall - und zu seiner Frau, die bestimmt auf die Lebensmittel wartete. Er wusste es! Panik drohte sie zu überwältigen, als sie auf die Reifenspuren im stetig fallenden Schnee schaute.
4. KAPITEL Sobald die Jungen im Bett lagen, zündete Beth das vorbereitete Kaminfeuer in dem Raum an, den ihre Großmutter immer Salon genannt hatte. Er wurde nur zu besonderen Gelegenheiten benutzt, zum Beispiel wenn der Pfarrer zum Tee kam. Voll gestellt mit einem plüschigen alten Sofa und dazu passenden Sesseln, die mit gestärkten Leinenüberzügen gegen Verschmutzung geschützt wurden, einem viktorianischen Beistelltisch und anderen dunklen Möbelstücken, wirkte das Zimmer düster, beengt und muffig. An den Wänden hingen gerahmte Bilder von verdrießlich dreinschauenden Hochlandrindern in eintönigen Landschaften. Erst als die Flammen prasselten, verbreitete sich ein wenig heimelige Atmosphäre, und Beth nahm sich vor, die deprimierenden Gemälde mit Ilexzweigen zu schmücken und Kerzen aufzustellen. Vielleicht würde sie ihm damit ein wenig Gemütlichkeit einhauchen, damit die Jungen hier am Weihnachtsmorgen ihre Geschenke öffnen konnten. Pläne zu machen lenkte sie ein wenig von ihren sorgenvollen Gedanken an Carl ab. Bewusst hatte sie nichts Besonderes vorbereitet, nur weil er sich angekündigt hatte. Auch trug sie immer noch dieselbe Jeans und den bequemen dunkelblauen Pullover, die sie schon den ganzen Tag über angehabt hatte. Das Haar hatte sie mit einem schlichten Haarband im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Bloß keinen Aufwand treiben. Nicht so wie an jenem schicksalsträchtigen Abend, als sie alle Register gezogen hatte. Die Erinnerungen daran, wie sie jeden sauer verdienten Penny für diesen lang ersehnten Abend gespart hatte, ließ alles wieder vor ihrem geistigen Auge erstehen, als wäre es gestern gewesen. Die Erinnerungen, die sie so lange unterdrückt hatte, kehrten mit aller Macht zurück. Es war Anfang Juni gewesen, vor acht Jahren. Damals hatte es wirklich begonnen. Ihr Großvater hatte ihr aufgetragen, Unkraut zu jäten. Es war heiß gewesen, die Arbeit hart und schwer, aber notwendig, wenn sie sich das Geld fürs College verdienen wollte. Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, spürte sie die stechende Sonne auf ihren nackten Armen und Beinen, hörte wieder Carls Lachen, als sie ihn mit einer voll beladenen Schubkarre auf dem Weg zum Kompost beinahe über den Haufen gefahren hätte. Auch das leichte Flattern im Bauch, das Gefühl, Beine wie aus Gummi zu haben, das Herzrasen - sie erlebte es genauso intensiv wie damals. Ein Blick in Carls dunkle, samtige Augen, und es war um sie geschehen gewesen. Das Verlangen, das sie darin las, ließ sie am ganzen Körper zittern. Er war ihr schon eine ganze Weile verändert vorgekommen, schien ihr aus dem Weg zu gehen. Als fühle er sich unwohl in ihrer Gegenwart, wenn sie sich zufällig begegneten. Den Verlust ihrer unbeschwerten Freundschaft hatte sie aus tiefstem Herzen bedauert. Und manchmal war sie nachts aufgewacht, schluchzend, weil sie im Traum heiße Tränen vergossen hatte, voller Sehnsucht danach, seine Stimme zu hören, sein Lächeln zu sehen, wieder den Zauber ihrer Freundschaft zu spüren. Aber an diesem Tag schien er sich zu freuen, mit ihr zusammen zu sein. Er hatte sie zur Bank in dem alten Garten geführt, sie im kühlen Schatten des Walnussbaums zurückgelassen und war kurz darauf mit eisgekühlter Limonade zurückgekehrt. Ihre Finger hatten sich berührt, als er ihr das hohe, beschlagene Glas reichte. Ihre Blicke trafen sich. Carl schaute auf ihren Mund, und sie ahnte, dass er sie küssen wollte. Getan hatte er es nicht. Stattdessen hatte er sich mit ihr unterhalten. Und genau an diesem Tag hatte sie sich bis über beide Ohren in ihn verliebt. Aus ihrer freundschaftlichen Zuneigung war unbemerkt Liebe geworden. Benommen von den unbekannten Gefühlen, die sie überschwemmten, hatte sie kaum ein
Wort verstanden von dem, was er ihr sagte. Mit großen Augen hatte sie ihn angeschaut, seltsam beschwingt von einem wundervollen Hochgefühl. „Dann wirst du also dort sein?" „Wie bitte?" Beth schüttelte den Kopf so heftig, dass ihre Haare nur so flogen. Sie hatte die Worte davor nicht mitbekommen. Bestimmt hielt er sie jetzt für dumm. Carl aber lächelte sie nur strahlend an und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Am liebsten hätte sie sein Handgelenk gepackt, seine Hand geküsst, aber dazu fand sie nicht den Mut. „Ich komme am Ende des Sommers zurück", wiederholte er. „Du wirst doch auf der Party meines Onkels sein, oder? Ich erwarte dich dort. Wenn du nicht auftauchst, komme ich und hole dich!" „Um nichts auf der Welt würde ich sie verpassen wollen!" versprach sie. Die nächsten Monate ließ sie jeden Augenblick dieses letzten Treffens immer und immer wieder vor ihrem geistigen Auge erstehen. Die Art, wie er sie angesehen hatte, was sie dabei empfunden hatte. Dieses ekstatische Gefühl in dem Moment, als sie sich in ihn verliebte. Und es galt, einen Plan auszuhecken. Gegen Ende des Sommers erhielten alle Mitglieder des Hauspersonals, Arbeiter und ihre Familien eine Einladung zu der Party, die Marcus Forsythe auf Bewley Hall geben würde. Und jedes Jahr lehnten ihre Großeltern höflich ab. Beth wusste, sie würden ihr niemals die Erlaubnis geben. Irgendwie jedoch musste sie einen Weg finden, trotzdem teilnehmen zu können. Glücklicherweise gingen ihre Großeltern früh zu Bett, so konnte sie sich ungesehen aus dem Haus schleichen. Über dem neuen Kleid, das sie sich heimlich in Gloucester von ihren Ersparnissen gekauft hatte, trug sie ihren alten Schulmantel. Als sie sich dem hell erleuchteten Bewley Hall näherte, verlor sie fast die Nerven. Auf einmal schien es ihr sündhaft viel Geld, das sie für das grüne Seidenkleid und verführerische Dessous ausgegeben hatte. Stundenlang hatte sie dann vor dem Spiegel gesessen, sich mit dem Make-up viel Mühe gegeben. Aber es hatte ewig gedauert, ehe sie mit ihrem Aussehen zufrieden gewesen war. Schminkutensilien, Kleid und Unterwäsche musste sie später sicher verstecken, denn ihre Großmutter würde sie in Grund und Boden verdammen, wenn sie die Sachen - in ihren Augen frivoles Zeug - entdeckte. Und wofür tat sie das alles? Nur weil Carl sie gebeten hatte, zur Party seines Onkels zu kommen. Sehr wahrscheinlich aus Mitleid, denn er wusste, dass ihre puritanischen Großeltern ihr Vergnügungen, wie andere Mädchen in ihrem Alter sie erlebten, nicht gestatteten. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit machte sich in ihr breit. Beth verlangsamte ihre Schritte, während die geheimen Wünsche und Sehnsüchte sich in Nichts auflösten. Dann aber erwachte ihr Selbstwertgefühl. Sie straffte die Schultern und ging weiter, auf die Eingangstüren zu, die weit offen standen, um die Gäste willkommen zu heißen. Sie würde zur Party gehen. Sie wollte ihr Geld nicht umsonst ausgegeben haben. Außerdem gefiel ihr, wie sie aussah. Und es bestand nur eine geringe Gefahr, dass ihre Großeltern es herausfanden. Ihr Großvater ließ sich nie zu einem Schwätzchen unter Kollegen bewegen, und ihre Großmutter unterhielt sich sowieso nur mit Mitgliedern ihrer Gemeinde. Mehr als ein kurzes Nicken bekamen die meisten Leute nicht von ihr. Als sie den riesigen Saal betrat, nachdem sie ihren Mantel dem Hausmädchen übergeben hatte, entdeckte sie Carl sofort. Er überragte die anderen, und er sah atemberaubend aus. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Er murmelte ein paar Entschuldigungsworte, dann verließ er die anderen Gäste und kam lächelnd auf sie zu. Der leidenschaftliche Blick, mit dem er sie von oben bis unten musterte, brannte wie eine Liebkosung auf ihrer Haut, so als würde er sie tatsächlich berühren ...
Es schneite noch immer dichte Flocken, als Carl die gut gewachsene Tanne aus der Scheune holte, die er vor zwei Stunden geschlagen hatte. Die weißen Flocken tanzten einen wilden Reigen im starken Schein der Taschenlampe. Bei diesem Wetter konnte Beth Hayley sich nicht wieder heimlich von hier davonmachen und mit seinem Sohn verschwinden! Sein Zorn hatte sich noch nicht wieder gelegt. Wenn James nicht sein Sohn war, war er die Königin von Saba! Zeitlich passte es, und der Junge besaß eindeutig seine Gesichtszüge, seinen Teint, nicht den seiner Mutter. Eine volle Stunde lang hatte Carl nach alten Fotoalben gesucht, nach dem Beweis. Er hatte ihn in dem letzten Bild gefunden, das ihn zusammen mit seinen Eltern zeigte, nur Wochen bevor beide bei einem Unfall ums Leben kamen. Der siebenjährige Junge, der in die Kamera grinste, hätte der Zwillingsbruder von Beth' Sohn sein können. Sein Sohn. Davon war Carl hundertprozentig überzeugt. Entschlossen presste er die Lippen zusammen, als er sich auf dem Weg zum Cottage machte. Wenn er Recht hatte - und sie musste ihm schon wasserdichte Beweise vorlegen, dass dem nicht so war -, dann würde er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um die ihm zustehenden Rechte zu bekommen. Wie konnte sie es wagen, ihm so lange die Existenz seines Sohnes zu verschweigen? Er hätte nie gedacht, dass dieses offene, fröhliche und unschuldsvolle Mädchen zu einer solchen Täuschung fähig sein könnte. Unschuldsvoll! Das Wort fuhr ihm wie ein Blitz durch den Sinn. Er blieb stehen und schloss die Augen, weil ihn Schuldgefühle überwältigten. Diese Nacht. Diese schicksalsträchtige Nacht, die er nie vergessen würde. Die Bilder, die Schuldgefühle kehrten zurück, jetzt, da er sie am wenigsten erwartete. Er hatte nicht vorgehabt, Beth zu verführen, ihr die Unschuld zu nehmen - das würde er bei allem schwören, was ihm heilig war. Und er hatte sie auch nicht aus einem eigensüchtigen Grund eingeladen, sondern aus dem Wunsch heraus, ihr ein paar schöne Stunden zu verschaffen. Ihre Großeltern waren so streng mit ihr gewesen. Außerhalb der Schule hatte sie sich nicht mit Freundinnen oder Freunden treffen dürfen. In seinem Fall, bei dem Sohn ihres Arbeitgebers, hatten sie wohl eine Ausnahme gemacht. Und er hatte vergessen oder verdrängt, dass sie für ihn eine verlockende erotische Ausstrahlung besaß - damals, als er noch zu jung gewesen war, um etwas damit anfangen zu können ... Eigentlich hätte er die Warnsignale nicht übersehen dürfen, als ihm bewusst wurde, wie sehr er auf sie gewartet hatte. Er führte seine innere Unruhe auf den Jetlag zurück. Erst vor wenigen Stunden war er aus Mexiko zurückgekommen, wo er die letzten drei Monate als freiwilliger Helfer in einer Einrichtung für Straßenkinder gearbeitet hatte. Als er Beth dann sah, machte sein Herz einen Satz, und ein fast qualvolles Bedürfnis, sie zu beschützen, überwältigte ihn. Sie sah so bezaubernd aus, wie sie dastand, in ihrem schmeichelhaften grünen Seidenkleid, das sich um ihre bezaubernden Rundungen schmiegte. Und zugleich wirkte sie unglaublich verletzlich. In ihren wunderschönen grünen Augen stand ein furchtsamer Ausdruck, wie er ihn noch nie bei ihr gesehen hatte. Ihr Mund war halb geöffnet, und ihre Hände hielt sie schützend vor dem Bauch verschränkt, als sie sich in dem festlich geschmückten Raum umschaute. So, als hätte sie so etwas noch nie gesehen. Und sehr wahrscheinlich hatte das arme Kind so etwas noch nie gesehen. Nur, dass sie kein Kind mehr war. Ein Leuchten glitt über ihr Gesicht, als sie ihn erblickte. Ihre Augen strahlten plötzlich wie Smaragde. Mit hämmerndem Herzen ging er auf sie zu. Die Musiker stimmten in diesem Moment
einen Walzer an. Ohne nachzudenken, zog er sie in die Arme und schwebte mit ihr über die Tanzfläche. Er spürte den sanften Druck ihrer Brüste an seiner Brust, ihre Schenkel an seinen. Er konnte nicht anders, er drückte sie fester an sich. Als dann moderne Musik erklang und die älteren Paare die Tanzfläche verließen, um Platz für die Jüngeren zu machen, nahm er aus dem Augenwinkel wahr, dass die anderen sich ohne Körperkontakt zu den schnellen Rhythmen bewegten. Doch er hatte Beth noch nicht loslassen wollen. Bemüht um einen Kompromiss; legte er die Hände auf ihre Hüften und hielt sie weiterhin leicht an sich gedrückt. Beth erstaunte ihn, indem sie einen sehnsüchtigen Seufzer ausstieß und ihm die Arme um den Nacken schlang. Jetzt drängte sie sich an ihn, und er war sicher, dass sie seine Erregung spürte. Mehr noch, sie schien den erotischen Tanz zu genießen. Carl merkte es an der Art, wie sie sich bewegte, wie sie leicht die Schenkel spreizte, als wolle sie mehr von ihm spüren. Die Musik endete abrupt, weil sein Onkel ankündigte, das Büfett sei eröffnet. Carl hatte Mühe, die Umgebung wieder richtig wahrzunehmen. Beth' Duft, ihre Nähe waren ihm zu Kopf gestiegen. Er schaute sie an. Ihre Wangen waren rosig überhaucht, ihre Augen blickten verhangen. Der Blick, den sie ihm unter dichten Wimpern hervor zuwarf, verriet Unsicherheit. „Möchtest du etwas essen?" Seine Stimme klang rau. „Ich bin nicht hungrig." Ein winziger Schweißtropfen hing in der verlockenden Spalte zwischen ihren Brüsten. Es drängte ihn, sich vorzubeugen, die salzige Perle mit der Zungenspitze aufzufangen. Erregung erfasste ihn, er erschauerte. Er riss sich zusammen. Er durfte sich nicht weiterhin verhalten wie ein hormongeschüttelter Idiot. In drei Tagen würde er in die USA fliegen, um dort wie geplant zu studieren. Und wenn er zurückkehrte, hatte sie bestimmt längst das einengende Nest verlassen und sich ein eigenes Leben aufgebaut. Es konnte gut sein, dass sie sich erst in Jahren wieder sahen, zufällig. Wenn überhaupt. „Warte hier", sagte er heiser. „Ich hole uns etwas zu trinken." Die ersten Gäste kamen bereits mit gefüllten Tellern in den Händen aus dem Speisezimmer, als er mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurückkam. „Komm, wir suchen uns einen kühleren Platz." Und einen ruhigeren. Dort konnte er ihr von seinen Studienplänen berichten, davon, dass er danach in die Bank seines Onkels eintreten würde. Und er konnte sich erkundigen, was sie nach Abschluss der Schule vorhätte. Freundliches Interesse zeigen, mehr wollte er nicht. Sie sollte wissen, dass ihre frühere Freundschaft ihm immer noch etwas bedeutete. Das, was beim Tanzen geschehen war, würde er nicht ansprechen, um zu signalisieren, dass es keine Bedeutung hatte. Sie gingen hinaus, und er führte sie die breite Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort stand ein zweisitziges Sofa zwischen einem niedrigen, mit einer Blumenvase geschmückten Tisch und der Rüstung eines seiner Vorfahren. Carl schenkte mit unsicherer Hand Wein in die kostbaren Kristallgläser. Hier oben war die Beleuchtung gedämpft. Dennoch entging ihm nicht, dass Beth' Wangen sich stärker röteten, dass ihre vollen, sinnlichen Lippen bebten. Das hellblonde Haar fiel ihr in schimmernden Wellen auf die nackten Schultern. Das Kleid wurde nur von dünnen Spaghettiträgern gehalten. Sie sah wunderschön aus. Unwillkürlich musste Carl schlucken. Vorsichtig stellte er die Weinflasche auf das Tischchen, nahm ein Glas und reichte es Beth. Sie beugte sich zögernd vor. Die cremeweiße Haut vollkommener Brüste, umhüllt von feiner Spitze, wurde sichtbar. Später wusste er nicht mehr, ob seine Hand gezittert oder Beth ungeschickt zugegriffen hatte. Jedenfalls schwappte der Wein über den Glasrand und benetzte in glitzernden
Tröpfchen ihre verlockenden Brüste. Carl wurde die Kehle eng, eine Entschuldigung brachte er nicht hervor. Sein Herz klopfte wild, während er im Jackett nach einem Taschentuch suchte. Da er keins fand, wischte er den Wein mit den Fingern fort, zögernd zu Anfang, dann kühner, und bald schienen seine Hände der Vernunft nicht mehr zu gehorchen. Mit unterdrücktem Stöhnen umfasste er die üppigen Rundungen. Beth atmete schneller, ihre schimmernden Lippen öffneten sich leicht, und sie bog sich ihm entgegen. Hitze stieg in ihm auf. Voller Verlangen massierte er mit den Daumen die harten Knospen, senkte den Kopf und raubte Beth einen leidenschaftlichen Kuss. Sie überließ sich willig seinen Liebkosungen, seufzte verzückt, während er den Druck seiner Lippen verstärkte. Carl hörte auf zu denken und fühlte nur noch, dass ihm hier etwas widerfuhr, das so vollkommen war, wie er es sich unbewusst immer erhofft hatte. Als hätte er sein Leben lang auf genau diesen Augenblick gewartet, schwang er Beth auf die Arme und trug sie zu seinen Privaträumen. Ein eisiger, rauer Windstoß riss ihn in die Gegenwart zurück. Jene Nacht hatte er nicht mehr vergessen können. Die wenigen Stunden mit einer bezaubernden, hingebungsvollen Beth waren unbeschreiblich schön gewesen. Wie passte dieses wundervolle, anbetungswürdige Wesen, das unter seinen Händen förmlich erblüht war, zu der Frau, die seinen Brief nicht beantwortet und ihm seinen Sohn vorenthalten hatte? Grimmig stapfte er durch den Schnee auf die Lichter des Cottage zu. Hatte ihn ein schöner Schein getrogen? War Beth, wie seine Exfrau, an der Oberfläche süß und warmherzig, doch hinter dieser Fassade verdorben und unaufrichtig? Das galt es herauszufinden. Carl lud den Baum ab, lehnte ihn neben der Haustür an die Wand und presste den Daumen auf die Türklingel. Beth Hayley schuldete ihm eine ganze Menge Antworten! Noch heute!
5. KAPITEL Nach der bitterkalten Nachtluft war es in Beth' Küche herrlich warm. Es duftete köstlich nach Weihnachtsgebäck. Terrina hatte sich immer damit gebrüstet, dass sie nicht einmal ein Ei kochen könnte. Ihr elegantes, aber steril wirkendes Apartment in London roch penetrant nach schwerem Parfüm, und zu Weihnachten hatte sie Geschenkkörbe von Harrods anliefern lassen. Eigentlich bin ich nicht hergekommen, um über die mangelnden hausfraulichen Fähigkeiten meiner Exfrau nachzugrübeln, dachte er gereizt, als Beth ihm wortlos seinen pelzgefütterten Mantel abnahm und an einen Haken an der Küchentür hängte. Ihre Züge hatten das Rundliche der Teenager jähre verloren, waren jetzt feiner gezeichnet und dadurch noch attraktiver. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Aber sie war blass, hatte die vollen Lippen zusammengepresst, lächelte nicht. Diese Lippen hatte er geküsst. Er hatte Beth in den Armen gehalten und sie geküsst, bis sie beide wie von Sinnen gewesen waren. Hastig schob er diese irritierenden Gedanken beiseite und fragte gepresst: „Sind James und Guy schon im Bett?" Sie schaute hoch zur Decke, und Carl erinnerte sich an das Rumoren und Stampfen, als sie sie am vorigen Abend nach oben geschickt hatte. Und auch an die Kinderschritte auf der Treppe, daran, wie sie versucht hatte, ihn loszuwerden. Weil sie nicht wollte, dass er James näher in Augenschein nahm. Und heute Morgen war sie nervös und abweisend gewesen. Sie ahnte, dass er Bescheid wusste. Kein Wunder, dass sie blass war. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie mied seinen Blick. Der Grund waren Schuldgefühle. Darauf würde er sein Leben verwetten. Der Gedanke, dass sein Sohn dort über ihnen schlief, ohne auch nur etwas von der Existenz seines Vaters zu ahnen, ließ heißen Ärger in ihm aufsteigen. Nur unter großen Mühen konnte er seine Gefühle beherrschen. So folgte er ihr, als sie murmelte: „Hier entlang." Er hatte das Gefühl, in der Zeit zurückzugehen. Unwillkürlich musste er lächeln. Der Raum sah aus, als hätte sich in hundert Jahren nichts verändert. Echtes spätviktorianisches Zeitalter. Terrina hätte die aristokratische Nase gerümpft und den Mund voller Abscheu verzogen. Beth aber passte unzweifelhaft in dieses altmodische Häuschen. Carl bezweifelte allerdings nicht, dass sie sich ohne Probleme in eine andere Umgebung einfügen könnte. Er rief sich scharf zur Ordnung. Warum verglich er Beth und die kalte, gierige Kreatur, die er aus fehlgeleiteten Gefühlen geheiratet hatte, ständig miteinander wie zwei entgegengesetzte Pole? Trotz ihrer äußeren Erscheinung und seiner schönen Erinnerungen an sie war Beth ebenso raffiniert und verschlagen wie seine Exfrau. Mit Nachdruck schloss er die Tür hinter ihnen und drehte sich zu Beth herum. Sie stand auf dem Kaminvorleger, mit dem Rücken zum Feuer und machte ein Gesicht, als sei sie auf dem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung. Kein schlechter Gedanke! Immer noch verärgert ging Carl auf sie zu, weil er ihr in die Augen sehen und die Wahrheit herausfinden wollte. Da ihm schon nach einigen Wochen Ehe ein Licht aufgegangen war, konnte er nun genau sagen, ob eine Frau log oder sich die Wahrheit für ihre eigenen Zwecke hinbog. Langsam und deutlich, damit sie nichts missverstehen konnte, fragte er: „Wie oft wechselst du eigentlich deine Männer?" Kurz stand Beth wie versteinert da, dann aber schoss heiße Wut in ihr auf. Die
Beklommenheit, die während des Wartens auf ihn immer schlimmer geworden war, verschwand schlagartig. „Was fällt dir ein, mir eine solche Frage zu stellen?" fuhr sie ihn mit zornblitzenden Augen an. Am liebsten hätte sie ihm auch noch den nächstbesten Gegenstand an den Kopf geworfen! Carl blieb kühl und kontrolliert. „Als ich James heute Morgen anschnallte, habe ich ihn nach seinem Geburtsdatum gefragt. Wenn ich nicht sein Vater bin, musst du von einem Bett ins nächste gesprungen sein." Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken. Sicher, sie hatte damit gerechnet, dass er Verdacht schöpfte, aber nicht, dass er von James bereits das Geburtsdatum erfahren hatte. Ihr wurde übel. Sie schlug die Hand vor den Mund. Ihre Finger zitterten. „Nun?" drängte er gnadenlos. „Hat dir der erste Sex Appetit gemacht? So sehr, dass du ihn dir geholt hast, wo du ihn kriegen konntest?" Beth ballte die Hände zu Fäusten, rang um Beherrschung. Wie gern hätte sie ihn mit aller Kraft geohrfeigt! Da nahm er ihr den Wind aus den Segeln. „Oder ist James mein Sohn?" fragte er sanft. Ihr Herz zog sich zusammen, und alle Kraft schien sie zu verlassen. So wie er vor ihr stand, sie überragte, in seiner eng anliegenden Jeans und dem schwarzen Rollkragenpullover, wirkte er einschüchternd und doch gleichzeitig atemberaubend attraktiv. Was sollte sie ihm antworten? Sich als Nymphomanin brandmarken oder ihm die Wahrheit sagen? Das Risiko eingehen, dass er versuchen würde, ihr den Sohn fortzunehmen? „Das verschlägt dir die Sprache, nicht wahr?" Seine samtweiche Stimme nahm einen sarkastischen Unterton an, als er mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn umfasste und sie zwang, ihn anzusehen. Seine Augen aber blickten kalt. „Keine Sorge, ein Vaterschaftstest ist keine große Sache und erspart dir die Auskunft." Beth' Kehle war auf einmal wie zugeschnürt, und sie wähnte sich mitten in einem Albtraum. Oh, sie würde mit allen Mitteln kämpfen, damit er ihrem Sohn keinen seelischen Schaden zufügte! In der letzten Zeit hatte James angefangen, nach seinem Vater zu fragen. Guy hätte einen Daddy, warum er nicht? Sie hatte ihm gerade so viel erzählt, wie sie ihm in seinem Alter meinte zumuten zu können. Hatte ihm erklärt, sein Vater sei ein wundervoller Mann, den sie sehr liebe. Aber ihr Leben und ihre Herkunft seien so verschieden, dass es besser war, wenn sie Mummy und Daddy zugleich für ihn sei. Diese Erklärung hatte er ohne weitere Fragen akzeptiert. Deswegen würde sie Carl auf keinen Fall erlauben, Unruhe in James' Leben zu bringen, ihn zu verwirren, Rechte zu fordern, ihn am Wochenende oder in den Ferien zu sich zu nehmen. Seine Frau würde für den Sohn einer anderen bestimmt nichts übrig haben und es James sehr wahrscheinlich auch zeigen. Das durfte sie nicht zulassen. Sie hob stolz den Kopf. „James ist mein Kind. Ich habe ihn ausgetragen, ihn zur Welt gebracht, ihn umsorgt und geliebt in jeder Minute seines Lebens. Er bedeutet mir alles. Dir nichts - wie könnte er auch? Dein Anteil war eine Nacht der Lust, die du umgehend wieder vergessen hast!" Schmerz glomm in seinen Augen auf. Carl presste die Lippen zusammen, und Beth wünschte, sie hätte die letzten Worte nicht gesagt. Sie hatte ihn verletzen wollen und es auch geschafft, aber nun schämte sie sich dafür. Sie war kein Opfer gewesen. Sie hatte mit ihm schlafen wollen - hatte ihn mit einer Verzweiflung begehrt, an die sie sich noch lebhaft erinnerte. Und er hatte ihr aus den USA geschrieben, sie gebeten, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Auch hätte sie ihm von ihrer Schwangerschaft schreiben können. Aber sie hatte es nicht getan, aus Gründen, die sie damals für richtig hielt. Getrieben von dem Wunsch, ihre verletzenden Worte zurückzunehmen, trat sie einen
Schritt auf ihn zu, biss sich auf die Unterlippe, weil sie nicht wusste, wie sie es sagen sollte. Carl reagierte jedoch mit kalter Wut. „Das war wohl die Bestätigung, nicht wahr? James ist mein Sohn. Ich habe Rechte. Er hat Rechte. Er ist die neue Forsythe-Generation. Er ist alles, was Marcus sich jemals gewünscht hat." Tränen drängten ihr in die Augen, aber Beth nahm sich zusammen. Mit bebender Stimme schleuderte sie ihm entgegen: „Lass deinen Onkel aus dem Spiel! Als du dich zum Verkauf von Bewley Hall entschlossen hast, dachtest du auch nicht an ihn. Er wäre zutiefst getroffen, wenn er wüsste, dass du den Besitz abstoßen willst!" Ihre Stimme drohte zu kippen, und sie presste die Lippen fest zusammen. Hätte Carl gesagt, James sei alles, was er sich je gewünscht hätte, dann hätte sie ihr Herz geöffnet, hätte einen Weg für ihn gefunden, seinen Sohn kennen zu lernen, ohne dass es James durcheinander brachte. Dass er ihn jedoch in erster Linie als Garant für den Fortbestand der Familiendynastie sah, das tat weh, richtig weh. „Zu der Zeit war keine neue Generation der Forsythes in Sicht", erwiderte er. „Welchen Sinn hätte es gehabt, Bewley Hall zu halten? Inzwischen haben sich die Dinge geändert. Ich habe einen Erben. Die Versteigerung wird abgesagt." Beth sank auf den nächsten Stuhl, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen, und drückte die Hand auf den Mund, damit Carl ihre bebenden Lippen nicht sah. Nun verstand sie. Seine Frau konnte offenbar keine Kinder bekommen. Und da sie wusste, wie stolz er auf seine alte Familie war, musste es für sie ein schrecklicher Schlag gewesen sein. Nun, da er diesen Sohn hatte, würde er alles daransetzen, James als einen Forsythe aufzuziehen, egal, wie James sich dabei fühlen mochte. Dann kann ihr der nächste furchtbare Gedanke: Wenn seine Frau unfruchtbar war, würde sie James bestimmt verabscheuen! Das durfte sie nicht zulassen! Aber wie um alles in der Welt sollte sie es verhindern? Es gab nur einen Weg. Beth ließ die Hände sinken und ihren Tränen endlich freien Lauf. „Deine Frau ist vielleicht nicht damit einverstanden", brachte sie stockend hervor. „Ich schlage vor, du gehst jetzt zurück nach Bewley Hall und besprichst alles mit ihr, bevor du mir mit versteckten Drohungen kommst. Und ..." Sie schluckte. „... ich habe auch ein Wörtchen mitzureden, wenn es um die Zukunft meines Kindes geht." „Was hast du mir denn vor acht Jahren zugestanden, als du wusstest, du hattest ein Kind von mir empfangen?" konterte er barsch. „Nichts. Hätte uns das Schicksal jetzt nicht zufällig zueinander geführt, ich hätte nie von meinem Sohn erfahren!" Er drehte sich brüsk herum und marschierte hinaus. Beth schlang die Arme um den Oberkörper, verzweifelt bemüht, Haltung zu bewahren. Zumindest würde er das tun, was sie ihm vorgeschlagen hatte: mit seiner Frau über alles sprechen. Hoffentlich redete sie ihm aus, was er sicherlich im Sinn hatte - dass sein unehelicher Sohn bei ihnen lebte. Dass es seiner Frau nicht gelingen könnte oder sie keine Einwände haben könnte, daran wollte sie nicht denken. Carl Forsythe war ein einflussreicher Mann, und über Generationen war ihm und seinen Vorfahren eingetrichtert worden, sie hätten das Recht zu fordern, was sie wollten. Wie sollte sie dagegen angehen? Beth fror auf einmal trotz des prasselnden Feuers, und als Carl unerwartet wieder hereinkam, fuhr sie heftig zusammen. Sie war sicher gewesen, er hätte das Cottage verlassen. „Trink dies." Er drückte ihr einen Becher in die zitternden Hände. „Heißer, starker Tee. Du brauchst ihn, du stehst unter Schock." Einen Moment lang verfingen sich ihre Blicke. Mitgefühl, wenn auch schroff dargebracht, hätte sie am wenigsten erwartet. Beth unterdrückte einen Schauer und packte den Becher fester. Sie durfte ihm nicht übel nehmen, dass er wütend war, und sollte sich besser daran erinnern, dass er schon als Junge ein weiches Herz gehabt hatte. Unwillkürlich musste sie an eine Begebenheit denken, als Carl ungefähr neun gewesen
war. Er hatte auf dem kiesbestreuten Weg einen jungen Frosch in der prallen Sonne gefunden, ihn behutsam aufgenommen und ins hohe feuchte Gras gesetzt. So war es eigentlich nicht überraschend, dass er seinen Ärger vorerst zurückgestellte und sich um die Mutter seines Kindes kümmerte, oder? Er hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans und erklärte ausdruckslos: „Ich habe keine Frau, mit der ich etwas besprechen müsste. Terrina hatte mich wegen ihres Liebhabers verlassen, und mittlerweile sind wir geschieden." Beth wich alles Blut aus dem Gesicht. Als sie damals von seiner Verlobung und der anschließenden Ehe gehört hatte, hatte pure Eifersucht sie fast aufgefressen. Sie liebte ihn doch so sehr und wollte ihn für sich haben, auch wenn sie tief in ihrem Herzen wusste, dass das ein Traum bleiben musste. Aber jetzt war sie älter und sehr viel weiser. Abgesehen von der Existenz ihres Sohns war die Vergangenheit tot und begraben. Alle vorübergehende Zärtlichkeit, die er für sie empfunden haben mochte, war durch die bitteren Erfahrungen des Lebens aus seinem Herzen verschwunden. Und er war frei, womit er ihr gegenüber einen noch größeren Vorteil hatte. Da er nicht auf die Gefühle einer Frau Rücksicht nehmen musste, konnte er tun, was er wollte. Er hatte eine Frau verloren, aber einen Sohn gewonnen. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihn behalten zu können. „Das tut mir Leid", murmelte sie und fragte sich stumm, ob er wüsste, wie sehr. Carl zuckte mit den Schultern. „Es muss dir nicht Leid tun", sagte er, aber der bittere Unterton war nicht zu überhören. Beth überlief ein kalter Schauer. Sein kontrollierter Ärger schien den Raum auszufüllen, die Luft knisterte vor Spannung. Und noch ehe er wieder sprach, wusste sie, er wollte Antworten. Zu ihrem Entsetzen fühlte sie ihre Schutzmauern zusammenbrechen. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schwanger bist?" fragte er heiser. „Was habe ich getan, dass du mir nicht von meinem Sohn erzählt hast?" Schuldgefühle überschwemmten sie. Er klang schrecklich zerrissen. Damals hatte sie geglaubt, die richtige Entscheidung zu treffen, und auch in den darauf folgenden Jahren war sie überzeugt, so wäre es für alle das Beste. Zögernd hob sie den Blick, mit hämmerndem Herzen -und atmete erleichtert auf, als sie Schritte auf der Treppe und dann James' zitternde Stimme hörte. „Liebling!" Mit einem Satz war sie vom Stuhl hoch und an der Tür, in Gedanken nur noch bei ihrem Kind. James stand in seinem rot-weiß gestreiften Pyjama und mit zitternden Mundwinkeln auf der letzten Treppenstufe. Die grauen Augen unter dem dunklen zerwühlten Haarschopf schimmerten feucht, und der übermütige Siebenjährige war auf einmal ganz klein und schutzbedürftig. Ihr Herz floss förmlich über vor Liebe, und sie hockte sich hin, streckte die Arme aus. Als er sich an ihre Brust warf, murmelte sie: „Hast du schlecht geträumt, mein Liebling?" Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss auf den Nacken, als er wortlos nickte, bebend Luft holte und sein Gesicht an ihr T-Shirt schmiegte. James träumte selten einmal schlecht, und sie vermutete, heute lag es an der Vorfreude auf Weihnachten und der verbotenen Erkundung von Bewley Hall und ihren Folgen. Sie drückte ihn fester an sich, spürte, dass er zitterte. Die oberen Räume waren unbeheizt, und je eher sie ihn wieder mit seinem Federbett zudecken konnte, desto besser. „Möchtest du eine Tasse warme Milch?" fragte sie jedoch zuerst. Er nickte heftig. Sie stand wieder auf und ihm einen Kuss auf den Kopf. „Kommt sofort." Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Carl sie beobachtete. Ein düsterer Ausdruck lag in seinen Augen, dazu ein Schmerz, der ihr in der Seele wehtat. Sie wusste, was er empfand. Es musste schwer für ihn sein, seinen Sohn so ängstlich und bedrückt zu sehen, ohne etwas
dagegen tun zu dürfen. Im nächsten Moment hörte sie sich sagen, ob aus Schuldgefühlen heraus oder Mitleid, das wusste sie nicht: „James, willst du dich nicht zu Mr. Forsythe ans Feuer setzen, während ich die Milch warm mache?" Sie hielt den Atem an. Würde James es tun? Oder würde er sich an die strengen Worte erinnern und nicht von ihrer Seite weichen, weil er fürchtete, wieder getadelt zu werden? Doch James nickte nur und ergriff Carls ausgestreckte Hand. Zusammen gingen die beiden ins angrenzende Wohnzimmer. Beth hörte Carl sagen: „Nenn mich Carl, ja? Ich habe euch den Weihnachtsbaum mitgebracht, wie ich versprochen hatte. Morgen komme ich wieder vorbei, und wir stellen ihn zusammen auf und schmücken ihn." Und dann schloss sich die Tür hinter ihnen. Beth stieß die unwillkürliche angehaltene Luft aus. Es wäre fürchterlich für sie gewesen, hätte James sich geweigert, irgendetwas zusammen mit seinem Vater zu tun. Obgleich sie nicht wusste, wie sich Carl die Zukunft für seinen Sohn vorstellte - sehr wahrscheinlich durfte sie froh sein, wenn sie ihn am Wochenende sehen konnte, wenn es nach seinem Willen ging! Und die Vorstellung, dass er helfen wollte, das Cottage weihnachtlich zu schmücken, entsetzte sie. Sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte, dafür stand einfach zu viel Ungeklärtes zwischen ihnen. Die Vergangenheit mit ihren bittersüßen Erinnerungen, die Ungewisse, drohende Zukunft und die mehr als spannungsgeladene Gegenwart. Du musst dich wieder in den Griff bekommen, ermahnte sie sich streng, als sie Milch in den Topf goss und ihn auf die Herdplatte stellte. Es ist wichtig, dass du anfängst, positiv zu denken, anstatt dich von deinen Ängsten überwältigen zu lassen. Welches Gericht auf der Welt würde ein Kind der Mutter fortnehmen und es dem Vater übergeben? Keines! Und falls er das anstrebte, würde sie den besten Anwalt des Landes nehmen. Auch wenn sie nur ihre Liebe zu ihrem Sohn hatte und Carl über Einfluss und Geld verfügte, sie würde doch wie eine Löwin um James kämpfen! Mit trotzig erhobenem Kinn begab sie sich ins Wohnzimmer. Aber dann schmolz ihr fast das Herz bei dem Anblick, der sich ihr bot. Carl saß auf dem Stuhl nahe am wärmenden Kaminfeuer, James auf seinem Schoß, den dunklen Haarschopf an seine Schulter gelehnt. Sie machten einen völlig entspannten, friedlichen Eindruck. James' Tränen waren längst getrocknet, und seine Wangen hatten eine gesunde rote Farbe bekommen. Carls Augen blickten warm, und er lächelte sanft, als er dem kleinen Jungen half, sich aufrecht hinzusetzen, um die Milch zu nehmen. „Carl hat mir die Geschichte von Mole und Ratty und dem Flussufer erzählt", verkündete James schläfrig. „Sein Daddy hat sie ihm immer vorgelesen, als er noch klein war." Er trank einen großen Schluck Milch und bekam dabei einen Milchbart. „Ich wünschte, ich hätte auch einen Daddy." Beth zog sich der Magen zusammen. Ungewollt hatte James eben gerade Carl mit weiterer Munition versorgt. Sie wagte Carl nicht anzublicken. Nicht einmal, als er den nun leeren Becher abstellte und aufstand, seinen Sohn auf dem Arm. „Ich trage dich nach oben ins Bett und decke dich zu", sagte er mit gesenkter, verschwörerischer Stimme zu James. „Wir werden ganz leise sein, wie die Mäuschen, damit wir Guy nicht aufwecken. Und dann sehen wir uns morgen früh wieder. Sag deiner Mummy gute Nacht." Der milchige Kuss schickte ihr erneut Tränen in die Augen, und wie durch einen Schleier sah sie Vater und Sohn nach. Unruhig wanderte sie im Raum auf und ab, während sie darauf wartete, dass Carl zurückkam. Sie mussten miteinander reden, Dinge klären. Er war wütend auf sie, und das verstand sie nur zu gut. Dennoch musste es möglich sein, eine Übereinkunft zu erzielen, sobald er sich wieder beruhigt hatte. Sich zu überlegen, wie sie gemeinsam James vorsichtig beibringen konnten,
dass Carl sein Vater war. Die Frage der Besuchsrechte musste geklärt werden. Wahrscheinlich kam dafür nur das Wochenende in Betracht, und da er Bewley Hall behalten wollte, konnte James dort mit ihm Zeit verbringen. Es lag schließlich nur ein paar Minuten zu Fuß entfernt ... Da hörte sie Carl die Treppe wieder herunterkommen, obwohl er sich offenbar Mühe gab, leise zu sein. Aber die alten Eichenstufen knarrten dennoch. Ihr wurde der Mund trocken, und sie rang unwillkürlich die Hände. Er kam herein, kein Lächeln mehr im Gesicht. Wärme und Zuneigung, wie er sie vorhin seinem Sohn gegenüber gezeigt hatte, waren wie weggewischt. „Er ist sofort eingeschlafen", informierte er sie kühl, als er nach seinem Mantel griff und sich anzog. Dann drehte er sich um. „Ich komme morgen früh wieder." Er stellte den Kragen hoch und nahm seine Taschenlampe vom Küchentisch. „Meiner Ansicht nach gibt es in dieser Situation nur eine einzige Lösung: Wir müssen heiraten, und zwar so schnell wie möglich." Ihn heiraten! Ein Glücksgefühl keimte in ihr auf. Zu einem anderen Zeitpunkt ihres Lebens hatte sie sich nichts sehnlicher erhofft. Doch der Funke verlosch sofort. „Erzähl mir nicht, du hättest dich plötzlich in mich verliebt!" erwiderte sie voller Sarkasmus, um nicht in Tränen auszubrechen. „Nein, natürlich nicht", entgegnete er ausdruckslos. „Ich will meinen Sohn. Und er will einen Vater - du hast ihn ja selbst gehört. Er braucht beide Eltern. Ständig. Und deswegen müssen wir beide zusammenleben, heiraten. Ich habe meine Eltern verloren, als ich ein paar Monate älter war, als James es heute ist. Marcus hat alles versucht, sie mir zu ersetzen, aber für lange Zeit hinterließen sie in meinem Leben ein großes schwarzes Loch." Er wandte sich zur Tür und zog sie auf. Der bitterkalte Wind trieb Schneeflocken herein. „Natürlich kannst du dich weigern, aber ich warne dich, die Folgen wären nicht sonderlich angenehm für uns beide." Mit einem letzten Blick in ihre weit aufgerissenen Augen fügte er hinzu: „Lass es nicht auf einen Kampf ankommen, Beth. Du kannst nicht gewinnen."
6. KAPITEL Am nächsten Morgen wurde Beth von Kichern und gedämpften Hüpfgeräuschen aus dem Nebenzimmer geweckt. Die beiden Jungen waren anscheinend bereits wach, voller Energie und bereit, den Tag in Angriff zu nehmen. Heiligabend. Sie stöhnte auf. Sie wollte noch nicht wach sein. Es war immer noch stockfinster draußen. Und gestern Abend hatte sie stundenlang nicht einschlafen können. Beth fühlte sich wie gerädert. Ihn heiraten! Das, was Carl gesagt hatte, bevor er das Haus verließ, der Grund, warum sie noch lange rastlos auf und ab marschiert war und dann auch nicht einschlafen konnte, drängte sich mit Macht in ihr Bewusstsein. Plötzlich war sie hellwach. Gegen ihren Willen. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Nicht schon wieder. Nicht jetzt. Die halbe Nacht lang hatte sie gegrübelt und war dennoch keinen Schritt weitergekommen. Beth verspürte einen dumpfen Druck im Magen, rollte sich herum und machte Licht. Ein Blick auf die Uhr zeigte, es war noch nicht einmal sechs! Erst in zwei Stunden würde es hell werden. Gerade als sie sich ihren warmen Wollmorgenmantel über den Pyjama gezogen hatte, drang ein lauter Krach von drüben herüber, gefolgt von tiefer Stille und glockenhellem Gelächter. Sie seufzte. Es bestand kaum noch Hoffnung, die beiden wieder zum Schlafen zu bewegen. Ihre Vermutung bestätigte sich, als sie die Kinderzimmertür öffnete und das Licht einschaltete. Chaos. Kissen und Federn überall. James, der neben dem umgekippten Nachttisch saß, schaute sie unschuldsvoll mit großen Augen an. „Ich bin aus dem Bett gefallen, Mum." „Das sehe ich." Beth hatte nicht das Herz, den beiden eine Standpauke zu halten. Schließlich war heute Heiligabend. „Na schön, zieht euch an. Und räumt das Zimmer auf, bevor ihr herunterkommt. Und wenn ihr das gut erledigt habt", unterstrich sie, „werde ich euch helfen, einen Schneemann zu bauen, sobald es hell ist." „Super!" Guy sprang vom Bett herunter, während James von einem Ohr zum anderen grinste und verkündete: „Carl kann uns auch helfen. Er kommt, um den Weihnachtsbaum aufzustellen. Das hat er gesagt. Wo ist der Baum denn, Mum? Ist er richtig riesig?" „Groß genug." Beth hatte ihn auf der Veranda stehen sehen, als Carl gestern Abend gegangen war. Sie wünschte, er hätte James nicht versprochen, dass er kommen und ihn aufstellen würde. Sie wollte ihn nicht wieder sehen, bevor sie für sich nicht einige Dinge geklärt hatte. Außerdem besaß sie nichts, um den Baum zu schmücken. Weihnachtsbäume voller glitzernder Kugeln und Lametta hatten im Haus ihrer Großeltern nichts zu suchen gehabt. Beth hatte zwar vorgehabt, Christbaumschmuck zu kaufen, aber der starke Schneefall hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich war das ihre geringste Sorge. Sie verließ das Zimmer der Kinder, schloss die Tür und lehnte sich schwach mit dem Rücken dagegen. Was Carl vorgeschlagen hatte, kam überhaupt nicht in Frage. Wie konnte sie einen Mann heiraten, der sie nicht liebte? Einen Mann, der sie offensichtlich verabscheute? Einmal hatte er sie begehrt, körperlich, aber davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein. Ihr hingegen war nicht entgangen, dass er an Attraktivität und Männlichkeit noch hinzugewonnen hatte. Welche Frau könnte ihm widerstehen? Nein, eine Ehe mit ihm wäre die reinste Qual. Es musste einen anderen Weg, eine andere Lösung geben. Aber ihr Kopf war wie leer.
Sie nahm sich zusammen und hastete ins Badezimmer, versuchte dabei den Krach zu ignorieren, den James und Guy im Nebenzimmer veranstalteten. Hoffentlich räumten sie auf. Beth wusste, sie brauchte mehr Zeit, um sich mit Carls kaltem Vorschlag abzufinden und nach einem Kompromiss zu suchen, der für beide akzeptabel war. Doch diese Zeit hatte sie nicht. Zurück in ihrem Zimmer, zog sie das Nächstbeste an, das ihr in die Hände geriet. Eine warme Kordhose, einen alten marineblauen Pullover und Wildlederstiefel, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatten. Sie fuhr sich ein paar Mal mit der Bürste durchs Haar und warf einen schnellen Blick in den Spiegel. In ihren Augen las sie Verwirrung und Unentschlossenheit. Sie hatte den Namen ihres Vaters nie erfahren, nur dass er Student an dem College gewesen war, wo auch ihre Mutter damals studiert hatte. Als Kind hatte sie oft davon geträumt, dass ihre Eltern kommen und sie holen würden, damit sie endlich eine richtige Familie bekäme. Vergebliche Hoffnungen. Hatte sie das Recht, ihrem Sohn die Liebe und die Fürsorge beider Eltern zu verweigern? Sicher, er hatte eine Mutter, die ihn liebte, aber er brauchte auch einen Vater. Und zwar einen, der ständig für ihn da war, wie Carl meinte. Würde sie damit zurechtkommen? Beth wusste es einfach nicht. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und mit gerunzelter Stirn stieg sie die Treppe hinab, um Frühstück zu machen. Es würde ein langer, langer Tag werden. Endlich fand Carl im hintersten Winkel des Dachbodens, was er gesucht hatte. Den Karton mit dem Christbaumschmuck. In früheren Zeiten hatte in diesen kleinen Zimmern, die von einem schmalen Korridor abgingen, das Hauspersonal geschlafen. Aber die Umstände hatten sich gebessert. Mrs. Griggs, die Haushälterin seines Onkels, und ihr Mann Cyril, für die Pflege des Anwesens verantwortlich, bewohnten nun eine Reihe freundlicher, heller Räume über dem Küchentrakt. Heute Morgen hatte er sie angerufen. Sie kehrten gern nach Bewley Hall zurück. Gleich nach Weihnachten würden sie ihren Dienst wieder antreten, das notwendige Personal anstellen und dafür sorgen, dass alles wieder seinen gewohnten Gang ging, wenn Carl einzog. Mit seinem Sohn. Bei diesem Gedanken schwoll ihm das Herz vor Liebe. Und als er den Karton nahm und den Flur entlang zurückging, war ihm ganz schwindlig im Kopf. Er traf Entscheidungen, Entscheidungen, über die er nicht nachzudenken brauchte, da sie ganz von allein kamen. Und er dachte auch nicht an die Möglichkeit, dass Beth ablehnen könnte. Noch vor wenigen Tagen wäre ihm eine neue Ehe nicht in den Sinn gekommen. Aber nun sah er keinen anderen Weg, seinen Sohn in sein Leben einzubeziehen, ihm die Sicherheit zweier liebender Eltern zu geben, sein Erbe und all das, was damit verbunden war. Bewley Hall war groß genug für ihn und Beth. Hier konnte jeder sein eigenes Leben führen. Nur die Mahlzeiten müssten sie zusammen einnehmen, wenn James anwesend war. Oder gemeinsam bei Schul Veranstaltungen auftreten, James' Geburtstage feiern und dergleichen. Er hastete die Treppe hinunter. Es würde nicht leicht sein, so zu leben, aber für seinen Sohn würde er es tun. Davon musste er auch Beth überzeugen. Als er an dem kleinen Sofa an der Treppe vorbeikam, fühlte er einen schmerzhaften Stich im Herzen. Er presste die Lippen zusammen. Beth war in dieser so lange zurückliegenden Nacht so süß gewesen, so einfühlsam und liebevoll. Hatte sie ihm schon damals etwas vorgemacht, nur an sich selbst gedacht? Niemals würde er ihr vergeben, dass sie ihm seinen Sohn vorenthalten hatte.
Als er ins Freie trat, schlug ihm kalte, frostige Luft entgegen. Der gefrorene Schnee knirschte unter seinen Füßen. Seine Gedanken kreisten immer noch um Beth. Früher einmal war er bis über beide Ohren in sie verliebt gewesen. Und er hatte ihr geschrieben, sie gebeten, in Kontakt zu bleiben. Als er nach Wochen und Monaten des Wartens immer noch keine Antwort erhalten hatte, hatte er das getan, was ein gesunder junger Mann in einer solchen Situation eben tat - sein Studium fortgesetzt, das Leben in vollen Zügen genossen und sie vergessen. Außer in seinen Träumen. Heute gehörten diese quälenden erotischen Träume nur noch der Vergangenheit an. Er war nicht mehr länger der verliebte, unreife junge Bursche, unerfahren, was Frauen betraf. Beth schaltete ihr Handy aus, als Carl unangemeldet die Küche betrat. Sie hatte den Arm um Guys Schultern gelegt. Ihr Gesicht war gerötet. Schuldgefühle? Hatte sie mit ihrem Anwalt gesprochen? Ihrem gegenwärtigen Freund? Versucht, einen Ausweg aus der Situation zu finden, in der sie sich befand? Ihre sichtliche Verlegenheit und James' Abwesenheit deuteten darauf hin. Aber sie sollte sich hüten, ihn reinlegen zu wollen! Beth fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. So früh hatte sie Carl nicht erwartet. Es war kaum halb neun. Und er sah so wahnsinnig gut aus, dass ihr der Atem stockte. Fantastisch war nicht das richtige Wort. Perfekt, markante Züge, eine schlanke, athletische Figur - aber die Augen blickten kalt. Carl schaute sie an, als empfände er nur Abneigung für sie. Guy brach glücklicherweise die fühlbare Spannung im Raum. Beth hörte seine muntere Jungenstimme, als käme sie aus großer Entfernung. „Meine Mummy sagt, das neue Baby kommt bald, und' mein Daddy sagt, der Weihnachtsmann weiß, wo ich bin. Er wird meine Geschenke bestimmt nicht aus Versehen bei uns zu Haus hinlegen." Er entzog sich Beth' Armen und begann nach seinen Gummistiefeln zu suchen. „Mein Dad hat auch gesagt, ihm ist es egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Aber ich will einen Jungen zum Spielen haben, weil James sagt, er will hier für immer wohnen." „Wir rufen Angela und Henry jeden Tag an, damit Guy mit ihnen sprechen kann", erklärte Beth Carl. Als sie das Handy auf den Tisch legte, zitterte ihre Hand. Carl entspannte sich. Weil sich der Anruf als harmlos herausgestellt hatte oder weil sein Sohn unbedingt hier bleiben wollte, das konnte er nicht sagen. Sehr wahrscheinlich beides, dachte er und stellte den großen Karton auf den Tisch. In diesem Moment kam James die Treppe heruntergepoltert. Er hatte sich einen langen Wollschal um den Hals gewickelt. Den anderen Schal in der Hand rollte er zusammen und warf ihn Guy zu. Sein Gesicht hellte sich auf, als er Carl entdeckte. „Mum hat gesagt, sie hilft uns beim Schneemannbauen. Du kannst auch mitmachen." „Gern, Jamie", sagte Carl, und seine Stimme klang wärmer und leicht rau. Sein Lächeln hätte einen Eisberg zum Schmelzen gebracht. Beth überlief ein Frösteln. Sie schlang die Arme um den Oberkörper. Was hatte sie diesem Mann nur angetan? Weil sie ihm sieben Jahre lang seinen Sohn verschwiegen hatte, hatten sich seine liebevollen Gefühle für sie in blanken Hass verwandelt. Wie sollte sie ihn unter diesen Umständen heiraten? Wie sollte sie mit ihm zusammenleben, bis ihr Sohn erwachsen war und das Elternhaus verließ? Carl half beiden Jungen in die Jacke und fragte sie, ob sie sich sein Haus ansehen und nach einem Hut für den Schneemann suchen wollten. Bestimmt würden sie einen finden. Sein Onkel hatte immer einen im Garten getragen, und er würde nichts dagegen haben, wenn sie ihn für den Schneemann benutzten.
Während sie seinem vollen Bariton lauschte, überkam Beth ein Gefühl von Bitterkeit. Natürlich würde Marcus nichts dagegen gehabt haben, dass sein Großneffe seine alten Sachen benutzte. Für die Forsythes bedeutete die Abstammung alles. Sie kam sich auf einmal schrecklich ausgeschlossen vor. In den langen Jahren, in denen sie zusammen mit Carl aufgewachsen war, hatte sie niemals ein solch bedrückendes Gefühl empfunden. Aber inzwischen hatte sich alles geändert. Sie fühlte sich unendlich allein. „Fertig?" Carl drehte sich zu ihr herum, eine dunkle Braue fragend hochgezogen. Die beiden Jungen standen zappelig an der Tür, sie wollten endlich hinaus. „Du wirst eine Jacke brauchen, es ist draußen bitterkalt." Er klingt so höflich, fast freundlich, dachte sie gequält. Sehr wahrscheinlich wollte er nicht, dass James etwas von der Spannung zwischen ihnen mitbekam. Aber sie hatte absolut nicht vor zu springen, wenn er es ihr befahl. „Nun, da du hier bist, überlasse ich die Konstruktion des Schneemanns dir", erwiderte sie zuckersüß mit einer Lässigkeit, die sie überhaupt nicht empfand. „Ich habe hier drinnen noch massenhaft zu tun." Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, dann wurde sein Gesicht ausdruckslos. Mit zwei Schritten war er an der Tür. Er riss sie auf, und die beiden Jungen stürzten ohne weitere Ermunterung hinaus in den blassen Wintersonnenschein. „Eingeschnappt, Beth?" fragte er so sanft, dass es ihr kalt über den Rücken lief. „Wann wirst du endlich erwachsen? Du hast James großgezogen, und es wird Zeit, dass du die Verantwortung für deine Unterlassungssünde übernimmst. Und übrigens ..." Nun wurde seine Stimme schärfer. „... die Jungen bekommen drüben bei mir Mittagessen. Es wird Zeit, dass James sich mit dem Haus und dem Anwesen vertraut macht, schließlich soll er sein zukünftiges Heim so bald wie möglich kennen lernen. Ich schlage vor, du überlegst, wann wir unserem Sohn sagen, wer ich bin und dass wir heiraten werden." Er wandte sich ab, setzte dann über die Schulter gewandt noch hinzu: „Es gibt keine Alternative. Am besten gewöhnst du dich rasch an den Gedanken." Die drei kehrten erst bei Abenddämmerung zurück. Beth hörte die Jungenstimmen schon lange, bevor Carl die Küchentür öffnete. Hektisch kniff sie sich in die Wangen, damit sie etwas Farbe bekamen. Sie wollte nicht wie der leibhaftige Tod aussehen. Dazu hatte sie viel zu viel Stolz! Beth hatte sich eine frische Jeans angezogen, dazu einen hellblauen Seidenstrickpullover und sich die Haare kräftig gebürstet, bis sie ihr in schimmernden Wellen auf die Schultern fielen. Auf keinen Fall durfte er merken, dass er sie in Panik versetzt hatte, indem er James den größten Teil des Tages einfach für sich behalten hatte. Sie ausschloss. Aber als nun die Jungen hereingerannt kamen, mit roten Wangen und leuchtenden Augen, bedauerte sie es auf einmal, nicht mitgegangen zu sein. Stattdessen hatte sie sich aufs Putzen, Backen und Bügeln gestürzt, nur um sich von dem Gefühl abzulenken, das fünfte Rad am Wagen zu sein ... „Der Schneemann ist supercool!" rief Guy voller Begeisterung und kickte seine Gummistiefel mit so viel Schwung von den Füßen, dass sie am anderen Ende der Küche landeten. „Er heißt Bert und ist umgefallen. Aber wir haben ihn wieder aufgebaut und ihm einen Hut und einen Regenschirm gegeben." „Und nun bewacht er die Zufahrt zu Bewley Hall - Guy, sei ein guter Junge, stell deine Stiefel ordentlich zusammen und zieh dir die Hausschuhe an ..." „Carls Haus ist toll, Mum." James setzte sich auf den Fußboden und mühte sich mit seinen Gummistiefeln ab. „Du müsstest es einmal sehen - Millionen von Räumen, und er wohnt dort, seit es gebaut wurde!" „Womit ich ungefähr fünfhundert Jahre alt wäre", meinte Carl mit einem Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ.
Beth riss den Blick von ihm los und beschäftigte sich eingehend damit, den Jungen aus ihren Jacken zu helfen. Sie atmete innerlich auf, weil Carl bessere Laune hatte, machte sich aber auch klar, es hatte nichts mit ihr zu tun. Und das schmerzte. „Die Jungen haben heute Mittag Bohnen und Würstchen bei mir bekommen", erklärte Carl, als die beiden hinausstürmten, um sich die Hände zu waschen. Beth nahm sich zusammen, schaffte es aber nicht, sich umzudrehen. Sie fürchtete die Abneigung in seinen Augen zu sehen, die sie so verletzte. Also hob sie die nassen Schals auf und sagte: „Vielen Dank. Ich habe einen Fischauflauf vorbereitet. Willst du nicht mit uns zu Abend essen? Oder möchtest du lieber später wiederkommen? Wir müssen miteinander reden." Inzwischen hatte sie sich beruhigt. Wie schwer zu ertragen die Fakten auch waren, sie musste sich ihnen stellen. Und dass sie jetzt dazu bereit war, tat ihrem Selbstbewusstsein gut. Es hatte arg gelitten seit dem Moment, als er ihr gesagt hatte, er wüsste, dass James sein Sohn sei. „Ja, gern." Carl hörte, dass seine Stimme leicht rau klang. Er schaute Beth zu, wie sie die kleinen Gummistiefel ordentlich neben den Herd stellte, die Schals zusammenlegte und sie auf die Kommode legte. Ihre anmutigen Bewegungen ließen sein Herz schneller schlagen. Der weiche Stoff ihrer Jeans schmiegte sich um die schlanken, wohlgeformten Hüften. Der Pullover betonte ihre hohen, festen Brüste. Und wie sie sich bewegte, hatte er schon immer sexy gefunden. Sie hatte ihm heute gefehlt. Widerstrebend musste er sich eingestehen, dass er gern mit ihr zusammen gewesen wäre. Beth, die nichts mehr hatte, womit sie sich beschäftigen konnte, drehte sich zu ihm herum. Ihr schimmerndes blondes Haar wirbelte dabei um ihren Kopf. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ein unbestimmter Ausdruck in ihren großen smaragdgrünen Augen erweckte ein solches Verlangen in ihm, dass sich sein Magen zusammenzog. Ein Gefühl, von dem er gedacht hatte, es wäre schon vor Vielen Jahren gestorben ... Carl verzog den Mund. Er mochte vergessen haben, was Liebe bedeutete, sein Körper aber nicht. Seine Frustration wuchs. Lust. Darum ging es hier. Lust, mit der er fertig werden würde, indem er sie einfach ignorierte. Nur weil er wollte, dass James endlich ein umfassendes Familiengefühl erlebte, hatte er sich gewünscht, dass Beth den Tag über dabei gewesen wäre. Aus keinem anderen Grund! Und natürlich blieb er auch nur zum Abendessen, damit er die Bindung zu seinem Sohn festigen konnte! Schließlich hatte er auf dem Gebiet eine Menge nachzuholen! „Es ist wichtig, dass Jamie und ich so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen, bevor wir ihm die Neuigkeit erzählen", sagte er daher kühl. „Und du hast Recht, wir müssen einiges besprechen. Zudem ..." Er zog seine Jacke aus und hängte sie zu den anderen. „... habe ich versprochen, dass wir den Weihnachtsbaum zusammen schmücken." Ihre geheime Hoffnung, dass er vielleicht doch einmal ein nettes, freundliches Wort für sie hätte, wurde brutal enttäuscht. Soll er es doch bleiben lassen, sagte sie sich nun trotzig. Es wäre wirklich dumm, von Carl mehr als nur offene Abneigung zu erwarten. Aber die Vorstellung, dies die nächsten Jahre ertragen zu müssen, bis ihr Sohn erwachsen war, schnürte ihr die Kehle zusammen. Allerdings ließ sie sich nichts anmerken, sondern zwang sich zu einem dünnen Lächeln. „Du kannst ja schon einmal mit dem Baum anfangen, während ich mich ums Essen kümmere", schlug sie vor. „Die Jungen werden gleich wieder nach unten kommen. Ich habe den Baum in einen Eimer gestellt und mit einigen Holzscheiten darin verkeilt. Der Karton mit dem Christbaumschmuck steht auch im Wohnzimmer. Und du kannst gern das
Feuer im Kamin anmachen, falls nötig." Dann, da sie fühlte, sie würde gleich die Beherrschung verlieren, bückte sie sich, um den Auflauf aus dem Kühlschrank zu holen. Als sie sich wieder aufrichtete, schloss sich gerade die Wohnzimmertür hinter Carl. Beth stiegen die Tränen in die Augen.
7. KAPITEL Während Beth die beiden Jungen ins Bett brachte, hatte Carl Kaffee gekocht. Der sonst so verlockende Duft drehte ihr heute den Magen um. „Hier entlang." Er nahm das Tablett und trug es hinüber ins Wohnzimmer. Beth blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Sie ließ sich in den Sessel am warmen Kaminfeuer sinken. Draußen heulte ein eisiger Wind ums Cottage. Bestimmt zog ein neuer Schneesturm heran. „Ich habe mich für einen Hochzeitstermin Ende Januar entschieden", teilte ihr Carl mit, als er, mit dem Rücken zu ihr, Kaffee einschenkte. „Somit bleibt genügend Zeit, das Aufgebot zu bestellen." Er wandte sich um, in jeder Hand einen Becher. „Eine standesamtliche Heirat wäre unter diesen Umständen angemessen, aber traditionell heiraten die Forsythes in der Dorfkirche." „Und wir dürfen nicht gegen diese Tradition verstoßen, stimmt's?" Erstaunt und dankbar zugleich spürte Beth, dass sie wütend wurde. „Hier geht es ganz allein um deine kostbare Familientradition, oder? Hast du dich von deiner Frau scheiden lassen, weil die Arme keinen Erben produzieren konnte? Wärst du nicht der Letzte der Dynastie, würde dich dein Sohn nicht im Geringsten interessieren, nicht wahr?" beschuldigte sie ihn hitzig. Carl hielt ihr den Becher hin, aber sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Er zuckte nur kaum merklich mit den Schultern und i stellte ihren Kaffee wieder ab. Seine Stimme blieb ruhig, als er auf ihre wütenden Anschuldigungen antwortete. „Terrina hat nie Kinder gewollt. Allerdings versäumte sie es, mir das vor der Hochzeit mitzuteilen. Abgesehen davon bevorzugte sie während unserer Ehe wechselnde Liebhaber. Für sie war im Leben nur wichtig, gut auszusehen, Geld auszugeben und Männer, die ihr zu Füßen lagen. Als sie die Scheidung verlangte, wartete bereits Ehemann Nummer zwei im Hintergrund. Ich gebe ihm höchstens ein halbes Jahr. Dann wird er sie langweilen." Er trank einen Schluck Kaffee und fuhr nachdenklich fort, den Becher in den Händen: „Wieder zu heiraten stand für mich nicht zur Debatte. Deswegen beschloss ich auch, Bewley Hall zu verkaufen, denn das alte Haus braucht eine Familie, die es mit Leben erfüllt. Wenn deine Vorwürfe berechtigt wären, hätte ich Bewley Hall nicht zum Verkauf angeboten, sondern mir ein fruchtbar junges Ding gesucht, das mich heiratet und mir einen Erben beschert. Du solltest erst nachdenken, ehe du solche Urteile fällst." Sein Gesicht wurde ausdruckslos. „Nun hat sich alles geändert. Ich habe einen Sohn. Blut von meinem Blut. Zufrieden?" Beth biss sich auf die Unterlippe. Sie wünschte, sie hätte sich nicht hingesetzt. Er wirkte so riesig, so bedrohlich, wie er da vor ihr stand. So ruhig, wie es ihre aufs Äußerste gespannten Nerven zuließen, sagte sie: „Und wenn ich mich weigere, mich vor dem Gesetz an einen Mann zu binden, der mich verabscheut? Es könnte gut sein, dass ich mit deinen verrückten Ideen nichts zu tun haben will." Er presste die Lippen zusammen, dann antwortete er mit leicht drohendem Unterton: „Dann wirst du eine solche Entscheidung dein Leben lang bedauern. Für dich und vor allem für James Glaub es mir." Carl setzte sich in den Sessel ihr gegenüber und wartete darauf, dass sie die Bedeutung seiner Worte verarbeitete. Ein Kaleidoskop von Gefühlen glitt über ihr Gedicht, wie dunkle Wolken, die eine blühende Landschaft verdüstern. Er sah den Schmerz, die Unsicherheit in ihren wundervollen grünen Augen und hätte ihr am liebsten diesen Schmerz fortgeküsst, ihr versichert, er würde für sie sorgen, sie würde ihm immer etwas bedeuten. Er ballte die Fäuste, als er sich daran erinnerte, dass sie all dies verdiente, dass sie in gewisser Hinsicht nicht besser war als Terrina. Aber aus irgendeinem dummen Grund hörte er sich sagen: „Ich gebe zu, ich will keine normale Ehe - Bewley Hall ist groß genug, dass wir
uns aus dem Weg gehen können. Doch ich verabscheue dich nicht. Als du an jenem Abend, als ich die Jungen nach Haus brachte, die Tür geöffnet hast, glaubte ich mitten in einem bitterkalten Wintertag einen wärmenden Sonnenstrahl zu spüren. Das war, bevor ..." Carl brach ab, überließ es ihr, eigene Schlüsse zu ziehen. Sie wusste, was er meinte. Die Schuldgefühle waren deutlich in ihrem blassen, schönen Gesicht zu lesen. „Warum hast du nicht auf meinen Brief geantwortet? Ich hatte nicht vor, dich einfach zu verlassen - du wusstest, meine Abreise in die USA war längst geplant, das hatte ich dir auch gesagt." Hatte er das wirklich? Er runzelte die Stirn. Oder hatte er es ihr sagen wollen, sie deswegen aus dem Partytrubel entführt und ein Stockwerk höher gebracht? Wollte er über sachliche Themen reden, weil er gespürt hatte, dass sich zwischen ihnen etwas anbahnte? Neunzehn Jahre alt war er damals gewesen und kaum fähig, seine Gefühle auszudrücken. Sein Verstand sagte ihm allerdings, dass sie beide erst ihre Ausbildung abschließen mussten, sich nicht Hals über Kopf in eine heiße Beziehung stürzen und sämtliche Zukunftspläne über den Haufen werfen durften. Vielleicht hatte er es ihr nicht deutlich genug gemacht. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Nachdem er mit ihr getanzt hatte, funktionierte sein Gehirn nicht mehr richtig. Und dann hatten der Wein und die Ereignisse die Kontrolle über alles Weitere übernommen. Es konnte gut sein, dass sie sein Verschwinden damals als feige Flucht verstanden hatte ... Der leicht verächtliche Zug um ihren Mund deutete genau darauf hin. „Ich brauchte Tage, um herauszufinden, warum du] dich nicht mehr sehen ließest. Ich muss als Letzte erfahren haben, dass du kurz nach der Party in die USA geflogen bist." Selbst jetzt noch erinnerte sie sich schmerzlich daran, wie entsetzt sie von ihrer eigenen Naivität gewesen war. Sie hatte anfangs tatsächlich geglaubt, er hätte mit ihr geschlafen, weil er sie liebte. Die traurige Wahrheit, dass er sie nur benutzt, ihr nicht einmal gesagt hatte, dass er in die USA gehen würde, war ihr viel später bewusst geworden. Kein Wunder, dass er an dem Abend nichts von einem Wiedersehen gesagt hatte. Er hatte das Land ohne ein Wort verlassen, während sie darauf wartete, dass er sich meldete, ihr seine Liebe erklärte, ihr schwor, dass er für immer mit ihr zusammen sein wolle. Wie dumm von ihr! „Und dann kam dieser Brief." Ihr Zorn steigerte sich noch, als sie sich daran erinnerte, wie sie den Brief ungeduldig öffnete - und ihn nach dem Lesen der hastig hin-! gekritzelten Zeilen in kleine Fetzen zerriss. Böse funkelte sie ihn an. „Das meiste darin handelte davon, wie gut du im Haus eines Geschäftsfreundes deines Onkels untergebracht warst, bei ihm, seiner charmanten Frau und ihrer Tochter Terrina! Wie sehr sie dir das Gefühl gaben, willkommen zu sein. Und dann dieser steife, förmliche Satz!" fauchte sie. „Du wolltest, dass ich Kontakt zu dir halte. Und ich solle mich melden, wenn es irgendwelche Auswirkungen gäbe." Ungeduldig schob sie sich die Haare aus dem Gesicht und verschränkte dann die Hände im Schoß. „Erst als ich schwanger wurde, begriff ich, was du mit Auswirkungen gemeint hattest!" Sie hatte Angst bekommen. Fürchterliche Angst. Sie musste es ihren Großeltern sagen. Sehr wahrscheinlich würden sie sie enterben ... „Warum hast du mir nichts davon geschrieben?" Er schloss kurz die Augen. „Nach solch einem Brief? Was hast du denn erwartet, Carl? Es stand nicht ein einziges warmherziges Wort darin - warum solltest du wohl etwas wissen wollen, das dein privilegiertes, perfektes Leben durcheinander gebracht hätte? Sehr wahrscheinlich hättest du mir Geld für die Abtreibung geschickt. Aber das hätte ich nie fertig gebracht. Ich wollte mein Baby. Ich wollte nicht von dir hören, dass ein Kind das Allerletzte sei, was du gebrauchen könntest", sagte sie zornbebend. „Ich hielt es für alle am besten, wenn du weiterhin völlig ahnungslos bleiben würdest!" Lastendes Schweigen breitete sich aus, dann meinte Carl müde: „Es tut mir Leid, dass ich
dir einen falschen Kindruck vermittelt habe. Ich schämte mich schrecklich, als ich den Brief schrieb." Er hatte sich geschämt? Beth presste verbittert die Lippen zusammen und holte dann tief Luft. „Aber natürlich hast du dich geschämt! Der junge Herr auf Bewley Hall, Erbe des Bankimperiums, hatte Sex mit der Enkelin des Gärtners! Schlechter Stil, nicht wahr?" spottete sie. Noch nie hatte Beth jemanden sich so schnell bewegen sehen. Sie riss die Augen auf, als er aus dem Sessel sprang, vor ihr niederkniete und ihre Hände ergriff. „Glaub mir, Beth, so habe ich es nicht gemeint. Weder damals noch heute. Habe ich dir jemals Grund gegeben zu glauben, dass ich uns nicht für gleichwertig hielt? Ich schämte mich, weil ich dir die Unschuld genommen hatte. Du warst so jung, und ich hatte dich verführt, ohne mein Verlangen zu kontrollieren, ohne an Verhütung zu denken. Ich schämte mich vor mir selbst, nicht deinetwegen", betonte er. „Um alles in der Welt, Beth, ich war bis über beide Ohren in dich verliebt, betete dich an ..." Unverhofft hielt er inne, erhob sich wieder, gab ihre Hände frei und marschierte aufgewühlt im Raum hin und her. Seine leidenschaftlichen Worte hatten sie bis ins Innerste erschüttert. Hatte er wirklich so für sie empfunden? Hätte vielleicht alles anders sein können? Ihre Wut verrauchte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Carl stand nun mit dem Rücken zu ihr am Fenster und starrte hinaus in die winterliche Dunkelheit. An den hochgezogenen Schultern und dem steifen Rücken erkannte sie seine Anspannung. Beth wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und zwang sich, ein paar Schritte auf ihn zuzugehen. „Ich weiß, du wirst mir nie vergeben, dass ich dir nichts von James erzählt habe. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings sagen, als ich das erste Mal unseren Sohn in den Armen hielt, wusste ich, ich würde es irgendwann doch tun müssen. Du verdientest es zu wissen, dass wir beide dieses wundervolle Baby gezeugt hatten. In dem Moment fühlte ich mich dir sehr nah. Es war fast so, als wärst du bei mir im Zimmer." „Wirklich?" Seine Stimme verriet nichts. „Was hat dich denn davon abgehalten?" Er drehte sich nicht um. Im dunklen Fenster konnte sie die Reflexion seines grimmigen Gesichts sehen. Sie hatte Recht behalten, er würde ihr nie verzeihen. Aber jetzt, da sie sich immer noch einigen mussten, wann und wie sie James erzählen sollten, dass Carl sein Vater war, hatte sie möglicherweise die einzige Chance, ihm ihre Seite der Geschichte zu erzählen. „Wie ich schon sagte", begann sie langsam mit ruhiger Stimme, „meine Großeltern verlangten nicht von mir, dass ich auszog. Aber sie machten mir ihr Missfallen derart drastisch deutlich, dass mir gar nichts anderes übrig blieb. Ich fand Arbeit, ein Zimmer, in dem ich wohnen konnte. Und ein paar Monate, bevor James geboren wurde, erhielt ich von der Stadt eine Einzimmerwohnung in einem dieser Hochhäuser, die halb leer standen, weil niemand dort leben wollte ..." „Und du bist mit meinem Kind an einen solchen Ort gezogen?" Er wirbelte herum, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben. Sie war sicher, er hatte sie zu Fäusten geballt. Seine Augen blitzten, als er sie musterte. „Welche Wahl hatte ich denn?" konterte sie heiser. Wie hatte sie diese Unterkunft gehasst die unheimlichen, stinkenden Treppen, den Fahrstuhl, der fast nie funktionierte, die ausgeschlachteten Wagen am Straßenrand des Viertels, die zweifelhaften Typen in den bewohnten Wohnungen. Glaubte er etwa, sie hätte dort aus freien Stücken gewohnt? Er hatte keine Ahnung! „Warum hast du mir nicht geschrieben oder mich angerufen? Du sagtest, du hättest
vorgehabt, mir von James zu erzählen - was also hat dich davon abgehalten?" fragte er in eisigem Ton. „Stolz? Oder wolltest du mich bestrafen?" Beth keuchte auf. Schmerz und Zorn überwältigten sie fast, als sie sich erinnerte, wie elendig und einsam sie sich damals gefühlt hatte. „Du kannst dir kein Urteil erlauben!" brauste sie auf. „Zwei Tage bevor James geboren wurde, rief mein Großvater an, weil meine Großmutter gestorben war. Kurz danach musste ich ins Krankenhaus. Glücklicherweise boten die Schwestern an, auf James aufzupassen, damit ich zur Beerdigung gehen konnte. Mein Baby war zu der Zeit drei Tage alt. Ich hatte vor, deinen Onkel anzurufen, ihn um deine Adresse zu bitten. Aber da ich zur Beerdigung fuhr, beschloss ich, ihn persönlich zu fragen." Ihre Wangen glühten, ihre Augen blitzten zornig. „Ich bin nie dazu gekommen. Nach der Beerdigung berichtete mir einer der Angestellten deines Onkels nebenbei, dass du dich gerade mit einer amerikanischen Schönheit verlobt hättest, deren Vorfahren mit der Mayflower an Land gekommen wären. Und du wärst unsterblich in sie verliebt!" Beth merkte nicht einmal, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. „Was also hätte ich tun sollen? Sag es mir! Bekannt geben, dass ich gerade deinen unehelichen Sohn zur Welt gebracht hatte? Das hätte deine Verlobung platzen lassen, Marcus enttäuscht - ihn vielleicht sogar gegen seinen kleinen Liebling aufgebracht!" Sie unterdrückte ein Schluchzen, rang nach Atem. „So hielt ich den Mund - deinetwegen. Nicht meinetwegen. Nicht, weil ich hinterhältig bin oder meinte, dich irgendwie bestrafen zu müssen." Sie holte bebend tief Luft, bemerkte nicht den qualvollen Ausdruck in Carls Augen. „Wir haben es geschafft, James und ich. Der Job bei Angela und Henry war für uns ein Gottesgeschenk. Ungefähr drei Jahre später las ich in Henrys Morgenzeitung von deiner Hochzeit. Ein gesellschaftliches Ereignis. Und ihr beide saht auf dem Foto so glücklich aus. Da wusste ich, mein Schweigen war richtig gewesen." Er trat einen Schritt auf sie zu, aber sie wich bebend zurück. „Ich liebte dich, Carl, selbst damals noch. Ich wollte glücklich sein!" Ihre Stimme brach. „Mehr nicht!" „Beth ..." Carl war totenblass. „Ich ..." Was immer er auch sagen wollte, anscheinend überlegte er es sich anders. Er presste die Lippen zusammen und sagte mit ausdrucksloser Stimme: „Ich habe dich völlig falsch beurteilt. Ich hätte mich daran erinnern sollen, dass du nichts Gemeines an dir hast, bevor ich dir meine Anschuldigungen ins Gesicht schleuderte und dich unter Druck setzte. Ich nehme alles zurück. Ohne jede Einschränkung." „Wohin gehst du?" Aber noch bevor sie den Satz ausgesprochen hatte, ging er zur Tür. Da hatte sie die Antwort. Ihr Magen zog sich zusammen. Alles, was er gesagt hatte, sein Beharren auf einer Ehe ihres Sohns wegen, all das wurde durch seine letzten Worte wieder nichtig gemacht. Eigentlich sollte sie sich freuen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. „Nach Haus." Er nahm seine Jacke vom Haken an der Küchentür. „Ich habe dir für einen Abend bereits zu viel zugemutet." „Was ist mit James?" Beth presste die Fingerspitzen gegen die Schläfen. Sie hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Er verließ sie und James, weil er glaubte, es wäre das, was er zu tun hätte, nachdem er sie so falsch eingeschätzt hatte. Genau das hatte sie sich gewünscht, seit er wusste, dass James sein Sohn war. Warum erfüllte sie dann eine herzzerreißende Verzweiflung? Schließlich war all das eingetroffen, wofür sie gebangt hatte! „Die Regelung meiner Besuchsrechte sollten wir von unseren Anwälten ausarbeiten lassen." Er wirkte so kontrolliert und vernünftig, dass sie ihn an liebsten erwürgt hätte. „Außerdem werde ich für großzügige finanzielle Unterstützung sorgen. Du wirst nie mehr arbeiten müssen, außer, du möchtest es, und meine Forderungen bezüglich der Besuchszeiten werden für dich akzeptabel sein." Er öffnete die Tür. Eiskalter Wind fegte herein. Beth sah Carl hinausgehen, beobachtete, wie er sich noch einmal umdrehte, und hörte ihn sagen: „Ich überlasse es deiner
Einschätzung, wann und wie du ihm sagen willst, dass er einen Vater hat, der ihn liebt." Dann schloss sich die Tür. Beth war allein. Tränen liefen ihr über die Wangen, und das Leben erschien ihr grau und ohne Licht.
8. KAPITEL Während der Nacht hatte es wieder heftig geschneit. Die Zweige der Bäume bogen sich unter der schweren Last und glitzerten im winterlichen Sonnenschein. Beth zuckte bei dem Lärm aus dem Wohnzimmer zusammen. James und Guy genossen den Weihnachtsmorgen in vollen Zügen, und es wurde langsam Zeit, das Huhn in den Ofen zu schieben und den Pudding vorzubereiten. Kopfschmerzen plagten sie, weil sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte. Trotzdem hatte sie sich einen langen Rock in einem kräftigen Rot und dazu einen figurbetonenden cremeweißen Pullover angezogen. Um die Folgen ihres Schlafmangels zu überdecken, hatte sie mehr Make-up als sonst aufgelegt. Der Jungen wegen tat sie so, als wäre es ein wundervoller Morgen. Schließlich konnten sie nichts dafür, dass es in ihr völlig trostlos aussah, sie sich matt und zerschlagen fühlte. Abgesehen davon zweifelte sie allmählich an ihrem Verstand. Das musste sie auch, denn nichts hatte sie sich mehr gewünscht, als dass Carl wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, nachdem er unerwartet darin aufgetaucht war. Und nun, da er es ihr versprochen hatte, war ihr, als hätte ihr jemand das Herz entzweigeschnitten. Aber sie hatte ja immer noch James. James war alles, was sie wollte. Nein, das stimmt nicht, gestand sie sich ein, als sie den Bräter in den Herd schob. Sie hatte auch Carl gewollt. Als Liebhaber, den besten Freund, ihren Ehemann, den Vater ihres Kindes. Sie wollte ihn noch immer. Ein vergeblicher Wunsch. Zwischen ihnen lagen Welten. Das hatte sie doch eigentlich schon immer gewusst. Sonst hätte sie ihm in dem Moment geschrieben, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Außerdem, rief sie sich in Erinnerung, war es nur gut, dass er sie nicht mehr heiraten wollte. Was für eine Ehe wäre es denn auch geworden - sie liebte ihn noch immer, und für ihn würde sie eine gerade noch erträgliche Fremde sein, mit der er zufällig ein Kind hatte. Es wäre die reinste Qual geworden. Warum war ihr aber zu Mute, als hätte sie etwas unendlich Kostbares verloren? Es wurde Zeit, wieder zu dem gewohnten Leben zurückzukehren, das sie geführt hatte, bevor er es durcheinander brachte. Beth lauschte einen Augenblick auf die Geräusche aus dem Wohnzimmer und fragte sich, ob sie die beiden Jungen wohl noch zehn Minuten mit ihrem neuen Spielzeug allein lassen konnte, um das Gemüse vorzubereiten. Sie beschloss, es zu riskieren. Als sie die Kartoffeln auf die Arbeitsplatte legte, klingelte das Telefon. Ihr Herz schlug schneller, doch ihr Verstand machte die geheimen Hoffnungen auf der Stelle zunichte. Carl konnte es nicht sein, er kannte ihre Handynummer nicht. Es war Henry. „Angela hat vor ungefähr einer Stunde einen kleinen Jungen zur Welt gebracht", berichtete er stolz. „Mutter und Kind geht es gut - aber ich bin völlig fertig! Wir hätten die Haushälterin doch nicht zu ihrer Schwester in Urlaub fahren lassen sollen. Hier im Haus herrscht das reinste Chaos, und ich war die ganze Nacht damit beschäftigt, für die Hebamme Tee zu kochen ..." Die Außentür öffnete sich, und Carl kam herein. Beth geriet dadurch so durcheinander, dass sie die nächsten Worte ihres Arbeitgebers nicht mitbekam. Carl hatte die Hände in die Taschen seiner Lammfelljacke geschoben, den Kragen hochgestellt. Sein blasses Gesicht verriet innere Anspannung. Er lächelte nicht. Ihr zog sich krampfhaft der Magen zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet, Carl wieder zu sehen, bevor die Anwälte alle Regelungen getroffen hatten. Beth errötete ungewollt. Sie wusste, sie durfte in sein unerwartetes Auftauchen nichts hineinlesen, aber dennoch wuchs in ihr eine leise Hoffnung ... Rasch presste sie das Telefon an die Brust und sagte leise: „Carl, könntest du bitte Guy
holen? Sein Vater ist am Telefon." Carl nickte kurz, dann eilte er hinüber ins Wohnzimmer, wo der Lärm inzwischen ohrenbetäubend geworden war. Mit pochendem Herzen wandte sie sich wieder ihrem Gespräch mit Henry zu und gratulierte den beiden. „Guy geht es prächtig", fuhr sie dann fort. „Er wird gleich ans Telefon kommen." In diesem Moment stürmte der kleine Bursche mit vor Freude hochrotem Gesicht in die Küche. Beth reichte ihm das Handy, blickte auf und sah Carl an der Tür. Neben ihm stand James und hielt die Hand seines Vaters. „Ich bin vorbeigekommen, um den beiden ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen", erklärte Carl ruhig, „bleibe aber nicht lange." Bitte, bleib! flehte Beth stumm, und als James ihren Wunsch aussprach, hätte sie ihn am liebsten überschwänglich an sich gedrückt. „Oh, bleib doch! Bitte, bitte!" James zerrte an Carls Hand, seine Augen leuchteten. „Du darfst auch mit meiner Eisenbahn spielen und kriegst auch was vom Weihnachtsbraten ab! Guy hat einen neuen Fußball und ein Hemd von ,Manchester United'! Du könntest Torwart sein!" Beth schaute Carl an. Ihre Blicke verfingen sich. Was sie in seinen Augen las, bescherte ihr weiche Knie. Er brauchte seinen Sohn. James brauchte seinen Vater. „Bleib", bat sie nun auch. „Ich könnte gut etwas Hilfe gebrauchen", fügte sie hinzu, während sie mit dem Kopf zu Guy hindeutete, der gerade Freudensprünge vollführte und wild in der Küche herumsprang. „Ich habe einen Bruder! Ich habe einen Bruder!" schrie er dabei immer wieder. Carl entspannte sich offenbar. Er lächelte, fing Guy ab und schlug vor: „Wollen wir nicht nachsehen, ob Bert den Schneesturm überstanden hat? Wenn ja, können wir ihm ja eine Frau bauen, damit er nicht allein draußen herumstehen muss. Männer fühlen sich einsam, wenn sie allein sind." Will er mir damit etwas sagen? Beth bekam wieder Herzklopfen und hörte kaum, wie Guy voller Begeisterung brüllte: „Und dann können sie ein Baby machen. Einen Jungen. Wenn ich eine Schwester hätte, würde ich sie fortgeben!" Als die beiden Jungen losrasten, um ihre Jacken und Gummistiefel zu holen, sagte Carl: „Ich verschwinde für ein paar Stunden mit ihnen, dann hast du hier Ruhe. Die beiden sind ja außer Rand und Band. Frische Luft und Bewegung werden ihnen gut tun. Wann sollen wir zum Mittagessen wieder hier sein?" Sie hielt seinen Blick. „Wir essen um zwei Uhr. Du bist herzlich eingeladen", betonte sie. „Ich hatte nicht vor ..." „Ich weiß, dass du es nicht vorhattest", unterbrach sie ihn und fügte dann rasch hinzu, um seiner Ablehnung zuvorzukommen: „James wäre wirklich stark enttäuscht, wenn du Weihnachten nicht mit uns zusammen isst." Da atmete er tief durch, und als er antwortete, klang seine Stimme rau. „Was ist mit dir? Wärst du auch enttäuscht?" Auch sie holte Luft, bevor sie antwortete: „Ja, sehr." Carl belohnte sie mit einem leisen Lächeln, wandte sich ab und rief nach den Jungen. Bildete Beth es sich ein, oder klang seine Stimme plötzlich fröhlich? Gleich darauf waren die drei Männer nach draußen verschwunden. Punkt zwei Uhr war alles bereit. Auf dem Tisch lag die beste Tischdecke ihrer Großmutter, auf der Platte das große, goldbraun gebratene Huhn in einem Bett aus knusprigen Kartoffeln, und in den Goldrandschüsseln dampften Gemüse und dunkelrote Preiselbeersauce. Kerzenlicht und kunstvoll dekorierte Stechpalmenzweige rundeten das festliche Bild stimmungsvoll ab.
Beth war aufgeregt. Während der Essensvorbereitungen hatte sie Zeit zum Nachdenken gehabt und einen Entschluss gefasst: Sie wollte Carl sagen, was sie für ihn empfand. Außer ihrem Stolz hatte sie nichts zu verlieren - und Stolz war bedeutungslos, wenn es um Liebe ging. Sie schaffte es, sich davon zu überzeugen, dass er zumindest ein wenig für sie empfand. Hatte er es nicht abgestritten, dass er sie verabscheute? Und zugegeben, wie er sich gefreut hatte, sie wieder zu sehen? Dass sie ihm wie ein wärmender Sonnenstrahl an einem kalten Wintertag erschienen war? Hatte er nicht gesagt, er wäre damals in sie verliebt gewesen? Wenn sie diese große Liebe nach so vielen Jahren immer noch empfand, dann erging es ihm vielleicht auch so. Sie musste es nur herausfinden. Rasch verdrängte sie die Furcht, sie könne sich auch irren. Die Jungen waren nach oben gegangen, um sich vor dem Essen die Hände zu waschen, und Carl öffnete die Flasche Champagner, die Henry ihr mitgegeben hatte, um auf das Wohl des neuen Erdenbürgers zu trinken. Nun hatte sie die Gelegenheit, ihre Worte zu sagen, ihn wissen zu lassen, was sie empfand. Aber ihre Zunge war wie gelähmt. Mit einem leisen Plopp glitt der Korken aus der Flasche, und Carl drehte sich um, um einzuschenken. Er reichte ihr eins der Gläser, dabei berührten sich ihre Finger. Er schaute sie an, und dann sagte er mit seltsam leiser Stimme: „Meintest du es ernst, als du sagtest, du hättest mich all die Jahre geliebt?" „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich nicht in dich verliebt war", gab sie atemlos zu. Carl schwieg einen Moment. Bevor er jedoch zu einer Antwort ansetzen konnte, dröhnten Schritte auf der Treppe, und die Jungen stürmten ins Wohnzimmer. Die beiden aufgedrehten, hungrigen Burschen drängten jeden Gedanken an eine etwas intimere Unterhaltung in den Hintergrund. Aber es wurde trotzdem eine muntere Runde, die da um den Tisch versammelt saß. Was Beth betraf, half vielleicht der Champagner ein wenig nach - die unausgesprochenen Botschaften in Carls dunklen Augen taten es ganz bestimmt. Vorausgesetzt natürlich, sie deutete sie richtig. „Wollt ihr zwei es euch nicht am Kamin gemütlich machen, und wir beide schaffen hier derweil Ordnung?" schlug Carl den Jungen vor, nachdem der letzte Löffel Pudding vertilgt worden war. „Lest doch ein bisschen in euren neuen Büchern", unterstützte ihn Beth, und ihr Herz begann schon wieder schneller zu schlagen. Wollte Carl die vorhin unterbrochene Unterhaltung fortsetzen? James und Guy nutzten gern die Gelegenheit, • nicht beim Abräumen helfen zu müssen. Gleich darauf waren sie in ihre Bücher vertieft. Beth' Vermutung bestätigte sich bald, als sie die letzten Teller aufeinander stapelte, in die Küche brachte und sich ans Abwaschen machen wollte. „Lass das." Er umfasste ihr Handgelenk. Beth durchzuckte es heiß. Carl stand auf, schaute ihr ins Gesicht, und ihr Blick fiel auf seinen Mund. Plötzlich sehnte sie sich nach einem leidenschaftlichen Kuss. Unwillkürlich stöhnte sie leise auf. Offenbar war ihm ihr Seufzer nicht entgangen. Ungewohnt zärtlich betrachtete er sie. „Liebst du mich noch immer, Beth?" fragte er sanft. „Sag mir die Wahrheit. Es hat bereits viel zu viele Missverständnisse zwischen uns gegeben." Jetzt nahm er auch ihre andere Hand, drückte sie leicht. Beth nickte, vermochte nicht zu sprechen. Würde er sie auslachen oder, noch schlimmer, ihr sagen, dass sie ihm Leid tat? Seine Augen verdunkelten sich, und im nächsten Moment riss er sie in die Arme, presste ihren Kopf an seine Brust. Beth spürte sein heftig schlagendes Herz, doch dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Unter dem stürmischen Druck seiner warmen Lippen wurde Beth heiß. Sie erwiderte den
Kuss, genoss Carls kühne Liebkosungen, als er sie verführerisch streichelte. Die innige Umarmung war genauso paradiesisch, wie sie sie in Erinnerung hatte, nein, noch besser! Beth war nahe dran, alles um sich herum zu vergessen, um sich den köstlichen Empfindungen vollends hinzugeben, da löste sich Carl leicht von ihr. „Wir könnten bald wieder Gesellschaft bekommen", meinte er mit vor Verlangen heiserer Stimme, ließ die Hände von ihren Hüften über ihre Taille bis hin zu ihren bebenden Brüsten gleiten. Beth stöhnte leise, drängte sich wieder an ihn. Carl strich mit den Lippen flüchtig über ihren Mund und flüsterte: „Ich habe dich immer geliebt. Immer." Beth schüttelte den Kopf, bemüht, einen klaren Gedanken zu fassen. „Du hast eine andere geheiratet, erinnerst du dich? Du brauchst mir so etwas nicht zu sagen, nur weil du glaubst, dass ich genau das hören möchte." Bedauern lag in seiner Stimme, als er antwortete. „Es ist die Wahrheit, Beth. Mir war es nur bisher nicht klar gewesen. Ich begriff es erst, als ich dich vor ein paar Tagen wieder sah. In all diesen verschwendeten Jahren hattest du einen festen Platz in meinen Gedanken und in meinen Träumen. Hör mir zu. Du kannst ruhig glauben, was ich dir jetzt sage. Nachdem du auf meinen Brief nicht reagiertest - du ahnst nicht, wie oft ich monatelang erwartungsvoll in den Briefkasten schaute -, schloss ich irgendwann daraus, dass ich dir nichts bedeute. Jene wundervolle Nacht war für dich nicht wichtig gewesen. Um mich vor weiteren Grübeleien zu bewahren, stürzte ich mich in Arbeit, konzentrierte mich auf mein Leben drüben in den USA. Terrina bemühte sich um mich, wich kaum von meiner Seite und gab mir bei jeder Gelegenheit zu verstehen, wie attraktiv sie mich fand." Carl schwieg kurz. „Eins kam zum anderen", sagte er schließlich, „und eines Tages verlobten wir uns. Ich war nicht richtig verliebt - die große Liebe fühlt sich anders an -, aber ich mochte Terrina. Mein Onkel bekräftigte mich in meinem Entschluss während seines einzigen Besuches in den USA. Seiner Meinung nach war sie die passende Ehefrau für mich. Und sie war sehr schön. Dennoch, wenn ich ehrlich bin, liebte ich sie nicht. Die tiefen Gefühle, die Leidenschaft, die ich für dich empfunden hatte, wollten sich nicht einstellen. Inzwischen ist mir bewusst geworden, dass ich dich noch immer liebte. Ich weigerte mich nur, es mir einzugestehen." Beth schob die Hände auf seine Schultern. Sie glaubte ihm. Im Grunde war es ihr ähnlich ergangen. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihn, und ein besonderer Platz in ihrem Herzen war ihm stets sicher gewesen. „Willst du mich heiraten?" Sie spürte wieder seinen schnellen Herzschlag, als sie näher an ihn heranrückte. „Nicht wegen James, sondern unseretwegen?" Die Tür schwang auf. „Guy ist eingeschlafen", verkündete James abfällig. „Ja, ich will deine Frau werden", flüsterte Beth, nahm Carls Hand und wandte sich ihrem Sohn zu. Zu dritt schlichen sie auf Zehenspitzen zurück ins Wohnzimmer, um Guy nicht zu wecken. Erschöpft nach einem aufregenden Tag lag er zusammengerollt auf dem Sofa. Das Tageslicht schwand rasch. Beth zog die Vorhänge zu. Der Christbaumschmuck schimmerte im Licht des Kaminfeuers und verbreitete eine stimmungsvolle Atmosphäre. Als Beth sich umdrehte, saß James auf Carls Schoß, und Carl sagte gerade liebevoll zu ihm: „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir uns kennen lernen, sonst hätte ich für dich ein Weihnachtsgeschenk besorgt. Aber das hole ich nach, und dann schenke ich dir etwas ganz besonders Schönes." „Entschuldige, wenn ich widersprechen muss ..." Beth raffte ihren roten Rock und kniete sich neben die beiden Männer, die ihr das Liebste auf Erden waren. „Carl hat ein Geschenk für dich, Jamie. Carl ist dein Vater, und bald werden er und ich heiraten. Wir werden für den Rest unseres Lebens eine glückliche Familie sein." Einen Moment lang herrschte Stille. Nur das Knistern des Feuers war zu hören. Schließlich breitete sich ein Leuchten auf dem Gesicht des Kindes aus. James schlang dem Vater die
Arme um den Hals und drückte sich fest a n ihn. „Das ist das beste Geschenk, das ich je bekommen habe!" jubelte er. Carl lachte fröhlich, griff nach Beth' Hand und führte sie an die Lippen. Ihre Blicke trafen sich. Welch ein wundervoller Tag! lautete die Botschaft. -ENDE -