Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael Hölscher Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union
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Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael Hölscher Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union
Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael Hölscher
Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei 2., durchgesehene Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage März 2005 2., durchgesehene Auflage August 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-34321-1 ISBN-13 978-3-531-34321-1
Danksagung und Vorwort zur zweiten Auflage
Das Buch ist im Kontext eines dankenswerterweise von der VolkswagenStiftung geforderten Projekts entstanden. Einzelne Kapitel des Buchs sind von Klaus Christian K5hnke, Jorg Rossel, Jochen Roose und Dirk Westerkanip gewinnbringend kommentiert worden. Jorg Rossel war zudem nie verlegen, weiterfuhrende Literaturhinweise zu geben. Besonderer Dank gilt Christian Frohlich und David Glowsky, die als studentische Hilfskrafte nicht nur Recherche-, Formatierungs- und Datenberechnungsaufgaben kompetent und angenehm selbststandig erledigt haben, sondern das Projekt selbst von Anfang an mitbedacht und hilfreiche Anregungen beigesteuert haben. Die meisten Kapitel des Buches sind wahrend eines Aufenthalts von Jiirgen Gerhards am „ Swedish Collegium for Advanced Study in the Social Sciences" geschrieben worden. Das SCASSS ist mit seiner stimulierenden intellektuellen Atmosphare und der gleichzeitigen M5glichkeit, sich zuriickzuziehen, ein hervorragender Ort, u m Biicher zu schreiben; Dank gilt besonders Bjorn Wittrock fiir seine Einladung. Dank geht auch an die Kolleginnen und Kollegen im Institut fiir Kulturwissenschaften der Uni Leipzig, die unter der einjahrigen Abwesenheit zu leiden hatten und einen Teil der Aufgaben mitiibernommen haben. Die erste Auflage des Buches hat eine rege Nachfrage erfahren, so dass bereits nach einem Jahr die zweite Auflage erfolgen kann. Das freut uns natiirlich. Inhaltlich haben wir den Text nicht verandert; wir haben aber die Gelegenheit genutzt, einige Fehler zu korrigieren. Die hier vorgelegten Analysen werden erganzt durch die mittlerweile veroffentlichte Dissertation von Michael Holscher „Wirtschaftskulturen in der erweiterten EU", die 2006 ebenfalls im Verlag fiir Sozialwissenschaften erschienen ist. Berlin, Leipzig Juni 2006
Inhaltsverzeichnis
1.
Fragestellung und konzeptioneller Rahmen 1.1. Der Ausgangspunkt 1.2. Die Fragestellung 1.3. Der konzeptionelle Rahmen 1.4. Zur Methodik der Studie 1.5. Zusammenfassung
9 9 13 18 45 55
2.
Religion im erweiterten Europa 2.1. Religionsvorstellungen der EU 2.2. Die Religionsorientierungen der Burger 2.3. Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses 2.4. Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis 2.5. Zusammenfassung
57 59 64
3.
Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen Oder: Wer unterstxitzt die Emanzipation der Frauen 3.1. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der EU 3.2. Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der Biirger 3.3. Erklarung der Unterschiede in den Familienund GeschlechtsroUenvorstellungen 3.4. Zusammenfassung
83 89 99
101 103 109 116 127
4.
5.
Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU 4.1. Die Wirtschaftsvorstellungen der EU 4.2. Die Einstellungen der Biirger im Bereich der Okonomie 4.3. Klassifikation der Lander beziiglich ihrer Wirtschaftsvorstellungen 4.4. Erklarung der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellungen 4.5. Zusammenfassung
131 133 140 155 161 172
Wohlf ahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union 5.1. Wohlfahrtsstaatsvorstellungen der Europaischen Union.... 5.2. Die Einstellungen der Biirger zum Wohlfahrtsstaat 5.3. Erklarung der Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat 5.4. Zusammenfassung
193 202
Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa 6.1. Demokratie als reprasentative Demokratie 6.2. Das Europa der Biirger: Zivilgesellschaft 6.3. Ubereinstimmung der Lander mit den EU-Vorstellungen.. 6.4. Zusammenfassung
205 206 225 242 247
7.
Bilanz und Ausblick 7.1. Zusammenfassung der Ergebnisse 7.2. Politische Implikationen der Befunde
251 252 267
8.
Literatur
277
9.
Tabellenverzeichnis
315
6.
175 177 183
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
1.1 Der Ausgangspunkt Der Prozess der europaischen Integration in den letzten Jahrzehnten ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Eine zunehmende Vertiefung des Integrationsprozesses einerseits und eine schrittweise Erweiterung der Anzahl der Mitgliedslander andererseits. Die heutige Europaische Union startete mit der Festlegimg einer gemeinsamen Verwaltung flir die Kohle- und Stahlindustrie, institutionalisiert durch die Montanunion. Schritt fiir Schritt wurden andere, zunachst nur wirtschaftliche Bereiche in den Prozess der Vertiefung einbezogen: Eine Zollunion wurde gegrlindet, ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Wahrungsunion wurden gebildet, und schliefilich wurde fiir eine Teilgruppe der EULander eine gemeinsame Wahrung eingeflihrt. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Handlungsfelder europaischer Politik liber die engeren wirtschaftlichen Bereiche hinaus auf die Bereiche AuiSenpolitik und Innen- und Sicherheitspolitik ausgedehnt. Die Ausdehnung der Handlungsfelder europaischer Politik findet ihr institutionelles Pendant in der Entwicklung und Ausdehnung einer europaischen Institutionenordnung, eines eigenstandigen, zunehmend mehr Aufgaben iibernehmenden Herrschaftsverbandes. Dazu haben die Staaten der EU einen Teil der nationalen Souveranitatskompetenzen auf die EU libertragen; die Nationalstaaten und ihre Biirger sind den Beschllissen der EU unmittelbar unterworfen, Europarecht bricht nationales Recht; die Kommission iiberwacht die Implementierung der Beschllisse, und der europaische Gerichtshof kann die Mitgliedsstaaten bei Nichtbefolgung sanktionieren (Lepsius 1990). Die Verlagerung von Souveranitatsrechten von den Nationalstaaten auf die EU manifestiert sich in einer Vielzahl von Indikato-
10
1. Fragestellung imd konzeptioneller Rahmen
ren: Die Summe von Entscheidimgen seitens des Europaischen Rates bzw. der Europaischen Kommission ist kontinuierlich gestiegen, die Anzahl der Fachministerrate ebenfalls, die Verflechtiing zwischen europaischer und nationaler Politik hat zugenommen (Knill 2001), und auch die intermediaren Organisationen und Interessengruppen richten ihr Augenmerk zunehmend auf die europaische Ebene (Fligstein und Stone Sweet 2002; Stone Sweet, Sandtholtz und Fligstein 2001; Wessels 1997: 283). Der Prozess der Vertiefung ist bekanntlich nicht gradlinig verlaufen. Immer wieder gab es Briiche, retardierende Momente und riicklaufige BeweguLngen. Die kurzfristigen Schwankungen konnen aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass die langfristige Entwicklung in Richtung einer Vertiefung gelaufen ist. Neben einer Vertiefung des Integrationsprozesses durch die Ausdehnung der Handlungsfelder europaischer Politik und durch den Ausbau eines eigenen europaischen Herrschaftsverbandes ist die Entwicklung der europaischen Vereinigung durch eine kontinuierliche Erweiterung der Anzahl der Mitgliedslander gekennzeichnet. 1973 traten Grofibritannien, Danemark und Irland der Gemeinschaft der sechs Grlindungsmitglieder bei; 1981 folgte Griechenland, 1986 Portugal und Spanien, 1990 mit der deutschen Wieder vereinigung die fruber e DDR sowie schliei31ich 1995 Osterreich, Schweden und Finnland. Eine quantitativ und qualitativ andere Dimension hat die sogenannte Osterweiterung der EU.^ Zum 1. Mai 2004 sind zehn Lander der EU beigetreten (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern). Bulgarien und Rumanien werden wahrscheinlich 2007 folgen. Die Tiirkei hat bereits seit 1963 den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen EWG und klopft seitdem an die Tiir der Europaischen Union an und bittet um Einlass. Der Europa-
1 Die Benennung ist insofern nicht ganz treffend, als sich unter den Beitrittslandern auch zwei siideuropaische Lander, Malta und Zypern, befinden. Wir bezeichnen im Folgenden die alten EU-Lander mit „Ah-MitgHeder", „EU-15" oder ahnUch, die zum 1. Mai 2004 beigetretenen Lander als „Beitritt I" bzw. „neue Mitglieder'', und schHeiBlich die Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumanien als „Beitritt 11".
1.1 Der Ausgangspunkt
11
ische Rat hat im Dezember 2004 entschieden, dass die Gemeinschaft mit der Tiirkei in Beitrittsverhandlungen einsteigen wird. Kroatien imd Mazedonien sind mittlerweile als Beitrittskandidaten hinzu gekommen, bleiben aber in den folgenden Analysen iinberiicksichtigt. Erfahrungsgemal? bedeutet die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, dass auch ein Beitritt stattfinden wird.^ Innerhalb von wenigen Jahren wird sich die Gemeinschaft der 15 Mitgliedslander also um 12 iind mehr Lander erweitern. Da alle Lander in das Institutionensystem der EU und deren Politiken eingebaut werden miissen, bedeutet die dramatische Erhohung der Mitgliedslander eine besondere Herausforderung fiir den Umbau der Institutionen der Europaischen Union. Aber nicht nur das: Die meisten der neuen Mitgliedslander der EU unterscheiden sich in einem erheblichen AusmaiS in ihrer okonomischen Leistungsfahigkeit von den bisherigen 15 Mitgliedslandem der EU. Die Unterschiede werden durch sogenannte Konvergenzindikatoren erhoben und gemessen. In die Messung der okonomischen Strukturkonvergenz, wie sie von der Deutschen Bank in regelmafiigem Abstand durchgefiihrt wird, geht eine Vielzahl an Indikatoren ein.^ Tabelle 1.1 gibt einen Uberblick liber den 5konomischen Abstand zwischen den bisherigen 15 EU-Mitgliedslandern und den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde im Jahr 2003 (Deutsche Bank Research 2003). Fiir die Tiirkei liegen keine direkt vergleichbaren Zahlen vor; im Hinblick auf einige der Einzelindikatoren liegt die Tiirkei etwas unter dem Niveau von Rumanien und Bulgarien. Beim Pro Kopf des Bruttoin-
2 Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Bevolkerung des Landes, dessen Regierung eine Mitgliedschaft beantragt hat, einer Mitgliedschaft auch zustimmt, wie die Beispiele der Schweiz und Norwegens gezeigt haben. Gegen den Willen der Bevolkerung ist eine EUMitgliedschaft anscheinend nicht durchsetzbar. 3 BIP pro Kopf; Prozentanteil des BIP-Wachstums im Vergleich zum Vorjahr; Prozentanteil der Investitionen am BIP; Arbeitslosenquote; Prozentanteil des Agrarsektors am BIP; Prozentanteil der Industrie am BIP; Steigerung der Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr; Prozentanteil des Haushaltssaldo am BIP; Prozentanteil der offentlichen Verschuldung am BIP; Prozentanteil des Leistungsbilanzsaldos am BIP; Prozentanteil der auslandischen Direktinvestitionen am BIP; Prozentanteil der Exporte, der mit EU-Landern erfolgt.
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
landsprodukts (in Kaufkraftstandards) erreicht z. B. die Tlirkei 23 % des EU-Durchschnitts, Bulgarien und Rumanen 25 %. Im Hinblick auf den Anteil der in der Landwirtschaft Beschaftigten liegt die Tiirkei fast Tabellel.l:
EU-15 Beitritt I Slowenien Estland Tschechien Slowakei Lettland Ungam Polen Litauen Beitritt II Bulgarien Rumanien
Okonomische Strukturkonvergenz zwischen den bisherigen 15 EU-Mitgliedslandern und den Landem der ersten und zweiten Beitrittsrunde (% des EU-15-Durchschnitts) zum Zeitpunkt 2003 100 75,5 71,3 70,6 69,4 69,2 69,0 67,4 66,3 63,1 61,8
gleichauf mit Rumanien am Ende der Skala. In der Tiirkei sind 33,2 %, in Rumanien 37 % der Erwerbstatigen in der Landwirtschaft beschaftigt (Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2003: 48). Nun sind die Kosten und der Nutzen der okonomischen Osterweiterimg ftir die Mitglieds- imd Beitrittslander nicht einfach zu kalkulieren (vgl. Bertelsmann Stiftung/Forschungsgruppe Europa 1998; Tang 2000). Die meisten Analysten gehen von einem „umfassenden Positivsummenspiel" aus. Damit ist gemeint, dass langerfristig alle Volkswirtschaften von der Erweiterung der EU profitieren werden. Zugleich wird aber erwartet, dass dem langfristigen Nutzen kurzfristige Kosten gegeniiberstehen, die zudem auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen ungleich verteilt sein werden (Vobruba 2001).
1.2 Die Fragestellung
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1.2 Die Fragestellung Ob imd in welchem Mafie die mitteleuropaischen Lander in die Europaische Union passen, wurde und wird vor allem in okonomischen Termini diskutiert. Strukturdivergenz meint, wie eben erlautert, vor allem okonomische Strukturdivergenz. Von kurzfristigem und langfristigem Nutzen ist die Rede, von einer okonomischen „win win situation" und von okonomischen Verlierern und Gewinnern. Die Konzentration auf die okonomischen Folgen einer Erweiterung der EU mag aus der Perspektive eines Volkswirts nicht weiter tiberraschen. Fiir einen Soziologen, fur den die Gesellschaft nicht nur aus Okonomie, sondem aus einer Vielzahl an Teilsystemen besteht, ist die Engfiihrung der Perspektive allerdings verwunderlich. Gerade well die EU sich nicht mehr nur als Freihandelszone oder Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern zunehmend andere gesellschaftliche Teilbereiche zum Objektbereich ihrer Gestaltung und Regulierung erklart hat und damit ein europaisches Gesellschaftsmodell realisieren mochte, werden neben okonomischen auch andere Faktoren iiber den Erfolg eines er weiter ten Europas entscheiden (vgl. fiir eine gesellschaftswissenschaftliche Ausdehnung der Perspektive die Beitrage in Bach (2000b)). Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf die Analyse der kulturellen Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den EU-Mitglieds- und Beitrittslandern. Chancen und Probleme einer weiteren Integration von Gesellschaften in die EU werden, so unsere Vermutung, nicht nur von okonomischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Landem abhangen, sondern auch von den kulturellen Differenzen bzw. Gemeinsamkeiten (vgl. Fuchs und Klingemann 2002). Die Burger in den verschiedenen europaischen Nationalstaaten konnen sehr unterschiedliche Vorstellungen dariiber haben, wie Gesellschaften organisiert sein sollen und wie das Zusammenleben zwischen den Menschen bestimmt sein soil: Welche Rolle weisen sie zum Beispiel der Religion in der Gesellschaft zu? In welchem Mafie ist die Erwerbstatigkeit von Frauen erwiinscht bzw. sind traditionelle GeschlechtsroUenbilder dominant? Welche Vorstellungen liber eine ideale Staatsform haben die Burger und wie sehen ihre Einstel-
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1. Fragestellimg imd konzeptioneller Rahmen
lungen zur Demokratie aus? Wie viel an sozialer Ungleichheit wird als akzeptabel und gerecht interpretiert und welche wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben soil der Staat in einer Gesellschaft iibernehmen? Und schliefilich: Welche Organisationsform der Okonomie wiinschen sich die Burger? Die Vorstelliingen der Burger von einer idealen Gesellschaftsform, von uns hier als „Gesellschaftskultur" bezeichnet, bilden eine entscheidende Bezugsgrofie flir die Stabilitat der Struktur des Institutionengefiiges selbst. Eine erweiterte EU wird langerfristig kein stabiles Institutionengefiige darstellen, wenn dieses nicht mit den Wertevorstellungen ihrer Burger kompatibel ist. Denn bei den von uns analysierten Gesellschaften handelt es sich um Demokratien. Die Eliten konnen die Werte und Praferenzen ihrer Burger nur bei Strafe ihrer Abwahl vernachlassigen. Dieser Strukturmechanismus von Demokratien macht eine Responsivitat der Eliten gegeniiber den Werteorientierungen der Burger sehr wahrscheinlich. Wir untersuchen in den folgenden Kapiteln die unterschiedlichen Vorstellungen der Burger in den Alt-Mitgliedslandern und den Beitrittslandern der EU beziiglich einer idealen Organisationsform der Gesellschaft und fragen, ob und in welchem Mafie die Beitrittslander zur Kultur der Mitgliedslander passen. Unsere Analysen werden durch folgende drei Forschungsfragen strukturiert:
1.2.1 Der normative Bezugspunkt: Das kulturelle Selbstverstandnis der EU Die Frage nach der Passung der Beitrittslander zu den Mitgliedslandern der EU setzt die Definition eines normativen Bezugspunktes voraus. Fiihlt man sich dem Wertfreiheitspostulat von Wissenschaft verpflichtet, so verbietet es sich, den normativen Bezugspunkt selbst einzufuhren. Wie lost man das Dilemma, einen normativen, kulturellen Bezugspunkt zu definieren, ohne diesen selbst einzufuhren? Man muss die normative Frage empirisch wenden. Die Europaische Union lasst sich nicht nur unter strukturellen Aspekten als ein spezifischer Herrschaftsverband inter-
1.2 Die Fragestellimg
15
pretieren, sondern auch kultursoziologisch als eine institutionalisierte Form eines Skriptes. Die Europaische Union hat ein kulturelles Bild von sich selbst entworfen, das die Handlungen der Akteure der EU anleitet (Jachtenfuchs 2002). Dieses Skript dient iins als Bezugspunkt zur Beurteilung einer kulturellen Passung der Beitrittslander zur EU. Wir rekonstruieren dieses kulturelle Selbstverstandnis der EU aus dem Primar- und Sekundarrecht und aus dem Verfassungsentwurf. Die EU versteht sich ganz explizit als Wertegemeinschaft, und wir versuchen in einem ersten Schritt, die Werteordnung der EU, die diese sich selbst gegeben hat, zu rekonstruieren. Dabei unterscheiden wir verschiedene Wertspharen Religion, Familie, Okonomie, Politik etc. - und bestimmen inhaltlich, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Die kulturelle Identitat der EU besteht also fiir uns aus dem, was die EU selbst als diese definiert. Der Gegenstandsbereich unserer Untersuchung - die Kultur Europas - ist damit auf eine sehr spezifische „Teilmenge" dessen, was von vielen Autoren als Kultur Europas verstanden wird, eingeschrankt. Ins Visier der Untersuchung kommen nur die Merkmale von Kultur, die von der Europaischen Union als Merkmale ihrer Kultur definiert werden.
1.2.2
Die Deskription: Die Kultur der Biirger der EU
Das kulturelle Selbstverstandnis der EU dient uns also als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Mafie die Beitrittslander zur EU passen oder nicht. Wir priifen dann in einem zweiten Schritt, ob die Gesellschaftsvorstellungen der EU von den Blirgern der Mitgliedslander und den Biirgern der Beitrittslander gleichermafien unterstiitzt werden, oder ob es zwischen ihnen signifikante Unterschiede gibt. Wir bestimmen in dem Projekt die Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen der Burger in einem Land zum gegenwartigen Zeitpunkt. Empirische Grundlage der Analyse bilden Sekundaranalysen von reprasentativen Bevolkerungsbefragungen, die in den Mitglieds- und Beitrittslandern durchgefiihrt und in denen die Biirger nach Werteeinstellungen
16
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
gefragt warden. Wir prtifen fiir jeden der Wertebereiche, inwieweit die Modellvorstellungen der EU (SoU-Vorstellungen) von den Biirgern in den west-, mittel- und osteuropaischen Landern und der Tiirkei akzeptiert werden. Die empirischen Resultate werden in Form von Kreuztabellen dargestellt. Die Frage, ob sich die alten Mitgliedslander und die verschiedenen Gruppen der Beitrittslander voneinander unterscheiden, werden wir mit Flilfe von Diskriminanzanalysen prtifen. Wir orientieren uns in unserem theoretischen wie auch methodischen Vorgehen an einer ausgezeichneten Analyse der politischen Kultur der west-, ost- und mitteleuropaischen Lander von Dieter Fuchs und Hans-Dieter Klingemann (2002).
1.2.3 Die Erklarung der Unterschiede der Werteorientierungen der Burger Die deskriptiven Befunde werden zeigen, dass es in der Tat erhebliche Kulturunterschiede zwischen den Landern gibt. Die Vorstellung, dass Politik und Religion separierte Bereiche sein soUen und dass religiose Toleranz eine erwlinschte Wertevorstellung ist, wird z. B. von den Biirgern in den Mitglieds- und Beitrittslandern in einem recht unterschiedlichen MaJSe unterstiitzt. Neben einer Deskription der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gehen wir der Frage nach, wie man die Unterschiede erklaren kann. Lander sind keine soziologisch relevanten Kategorien, sie miissen aufgelost werden in soziale Bedingungsfaktoren, die „hinter'' den jeweiligen Landern lagern. Diese Vorstellung ist zuerst von Emile Durkheim (1895/1976) in seinem Diktum, Soziales solle allein durch Soziales erklart werden, formuliert und dann spater von Adam Przeworski und Henry Teune (1970) methodisch genauer spezifiziert worden. Es bedeutet fiir unseren Analysezusammenhang, dass wir die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir unterschiedliche soziale Bedingungskonstellationen begreifen, die in den jeweiligen Gesellschaften existent sind und die einen Einfluss auf die Wertevorstellungen haben konnen. Wir werden je nach Wertebereich mit unterschiedlichen erklarenden Faktoren
1.2 Die Fragestellung
17
arbeiten und diese in den einzelnen Kapiteln dann spezifizieren. Insgesamt ergeben sich aber drei grofie Variablenkomplexe, die bei vielen Erklarungen eine Rolle spielen werden: a. Modernisierungsgrad einer Gesellschaft: Die Lander unterscheiden sich zum einen im Grad der okonomischen Modernisierung und dem damit verbundenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstand. Okonomische Modernisierung und Wohlstand haben, so eine von Karl Marx bis Daniel Bell und Ronald Inglehart haufig formulierte und manchmal auch empirisch gepriifte These, einen Einfluss auf die Werteorientierungen der Menschen. Wir werden im nachsten Kapitel genauer ausfiihren, warum man davon ausgehen kann, dass der Modernisierungsgrad einer Gesellschaft in einer zu spezifizierenden Weise die Werteorientierung der Biirger beeinflusst. b. Kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes: Max Weber war sicherlich einer der ersten Autoren, die versucht haben zu zeigen, dass die Werteorientierungen der Biirger in hohem Mafie von ihren Religionsvorstellungen beeinflusst werden: Leistungsorientierung, Askese, Konsumverzicht und systematisch-rationale Lebensfuhrung bilden die Merkmale des Geistes des Kapitalismus; sie sind selbst religiosen Ursprungs, insofern sie Ideen des asketischen Protestantismus darstellen. Die Vorstellung, dass die kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes die Handlungen der Biirger stark beeinflusst, ist in der Nachfolge Webers von einer Vielzahl von Autoren aufgegriffen und theoretisch und empirisch ausformuliert und weiterentwickelt worden (vgl. dazu genauer die Ausfiihrimgen weiter unten). Wir kniipfen an diese kulturvergleichenden Studien an und gehen theoretisch davon aus, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften, die es in der EU und den Beitrittslandern gibt, eigenstandige Perspektiven im Hinblick auf eine ideale Gesellschaft entwickelt haben und dass diese Vorstellungen entsprechend die Glaubigen der Religionsgemeinschaften beeinflussen. Wir werden fiir die verschiedenen Wertebereiche rekonstruieren, welche Vorstellungen in den Religionen existieren und dann empirisch priifen, ob diese Auswirkungen auf die Werteorientierungen der Burger haben oder nicht.
18 1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen c. Politisch-institutionelle Ordnung: Schliefilich gehen wir davon aus, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellungen der Biirger hat. Auch diese Grofie kann man nicht abstrakt bestimmen, sondern muss sie fiir die verschiedenen Wertebereiche spezifizieren. Die Lander unterscheiden sich z. B. in den Familienleitbildern, die von der jeweiligen Politik propagiert und iiber politische Mafinahmen gefordert werden. So wurde z. B. in den ehemaligen sozialistischen Landern die Erwerbstatigkeit von Frauen in Familien mit Kindern in hohem Mafie ideologisch imd durch sozialpolitische Mafinahmen gefordert, wahrend in der alten Bundesrepublik eher die Hausfrauenrolle fiir Frauen in Familien mit Kindern ideologisch und strukturell gefordert wurde. Wir vermuten, dass die jeweilige politische Ordnung die Einstellungen der Biirger gepragt hat und wollen dies empirisch priifen. Die statistische Priifung der Erklarungskraft der verschiedenen Variablenkomplexe fiir die jeweiligen Werteorientierungen der Biirger erfolgt mit Hilfe von Regressionsanalysen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen Wissenschaftliche Untersuchungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich selbst in den Verweisungszusammenhang des „ state of the art" des jeweiligen Fachgebiets einordnen und die Vor- und Nachteile des eigenen Vorgehens im Kontrast zu alternativen Sichtweisen deutlich machen. Diese Notwendigkeit der Selbstlokalisierung besteht vor allem fiir die Wissenschaften, die in geringem Mafie paradigmatisiert sind, in denen es also wenig Konsens im Hinblick auf Definitionen, Basissatze, Methoden und Theorien gibt - und zu diesen gehort nun mal die Soziologie. Deswegen kann man, nach der Erlauterung der Fragestellung dieser Studie, nicht einfach zur Tat schreiten und die empirischen Analysen prasentieren und diskutieren, sondern muss die eigenen Pramissen und den konzeptionellen Rahmen genauer, als dies bisher hier erfolgt ist, explizieren. Wir tun dies durch die Formulierung von Antworten auf selbst gestellte Fragen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
19
1.3.1 Was verstehen wir unter Kultur? Es gibt nur wenige sozialwissenschaftliche Begriffe, die so diffus gebraucht werden wie der der Kultur; zugleich besteht Konsens dariiber, dass es Dissens liber einen einheitlichen Kulturbegriff gibt. Es ist nicht das Ziel dieser Studie, hier zu einer abschliel^enden Klarung des Kulturbegriffs beizutragen. Begriffe sind nominalistische Festlegungen dariiber, welche Vorstellungsinhalte man mit Wortern bezeichnen will. Entsprechend woUen wir den Begriff Kultur fiir unsere Zwecke auf eine spezifische Weise definieren; wir schlieiSen dabei an friihere Uberlegungen an (vgl. Gerhards 2000a). Unter Kultur verstehen wir ein System von Werten, das von Akteuren gemeinsam geteilt und zur Interpretation von „Welt'' benutzt wird. Eine solche Definition enthalt drei Bestimmungselemente, die man genauer bestimmen kann: 1. Werte als eine spezifische Art und Weise der Weltinterpretation, 2. Gegenstandsbereiche, auf die sich die Werte beziehen und 3. Trager bzw. Subjekte von Kultur.
1.3.1.1
Werte als spezifische Weise der Weltinterpretation
Wir verstehen unter Kultur ein System von relativ stabilen Werten. Damit hat man noch nicht viel gewonnen, well die Definition von Werten nicht wesentlich einfacher ist als die von Kultur .^ a. Werte unterscheiden sich von Interessen, Bediirfnissen, Begierden und Praferenzen durch die Tatsache, dass erstere gerechtfertigt werden konnen. Diese Bestimmung kniipft an eines der Merkmale der klassischen Definition von Clyde Kluckhohn (1951: 395) an, der Werte als „conception of the desirable'' definiert. Vorstellungen des Wiinschenswerten sind, wie Helmut Thome (2003) herausgearbeitet hat, weder identisch mit den erstrebten Objekten, noch mit den Bediirfnissen der Subjek-
4 Die Liste der Literatur zum Thema „Werte" ist lang. Wir verzichten hier weitgehend auf Literaturverweise, beziehen uns aber auf die sehr griindliche Begriffsrekonstruktion von Jan van Deth und Elinor Scarbrough (1995).
20
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
te, da es sich bei Werten um gerechtfertigte Wiinsche handelt.^ „The term 'desirable', however, goes beyond the idea of wish or want to bring in considerations with moral content—principles, ideals, virtues, and the like—in which 'want' is modified by 'ought'. (...) This emphasis of values as desirabilities is indicated by replacing terms such as 'I want' with 'I ought'" (Deth und Scarbrough 1995: 26). Ahnlich definiert Hans Joas (1997: 30f.) den Wertebegriff. Er betont in seiner Kritik an der RationalChoice-Theorie von Werten von Michael Hechter (Hechter 1993), dass es sich bei Werten nicht um Praferenzen, sondem um bewertete Praferenzen handelt. Darauf hatte Clyde Kluckhohn (1951: 396) schon hingewiesen: „A value is not just a preference, but is a preference which is felt and/or considered to be justified." b. Werte sind dadurch gekennzeichnet, dass es sich u m zeitlich generalisierte Orientierungen handelt. Damit ist gemeint, dass Werte sich nicht von heute auf morgen verandern, sondern relativ stabil sind. Auch wenn wir selbst dies nicht empirisch priifen konnen, haben einige Studien gezeigt, dass Werte in der Sozialisation erworben werden und dann relativ stabil bleiben (vgl. Inglehart 1971; Meulemann und Birkelbach 2001). Melvin L. Kohn und Carmi Schooler (1982) konnen auf der Basis einer Wiederholungsbefragung zeigen, welche langerfristigen Effekte die Arbeitsbedingiingen auf die Wertorientierungen und die Personlichkeitsstruktur der Befragten haben imd vor allem, dass die Werte im Zeitverlauf konstant bleiben. Die zeitliche Stabilitat von Werten mag auch mit ihrem Sollenscharakter zusammenhangen. Fritz Heider (1958) hat gezeigt, dass balancierte Systeme von Menschen als angenehm, unbalancierte Systeme hingegen als spannungsreich empfunden werden. Die
5 Thome (2003) hat eine weitere theoretische Prazisierung des Wertebegriffs durch Bezugnahme auf die Luhmannsche Systemtheorie vorgeschlagen. Werte werden als Sinnkonstruktionen verstanden, die sowohl in sachlicher und zeitHcher als auch sozialer Hinsicht generalisiert sind. Dieser Begriffsvorschlag deckt sich im Hinblick auf die zeitUche und soziale Generalisierung mit dem hier verwendeten Kulturbegriff. Im Hinblick auf die sachliche Generalisierung gehen wir - allerdings ebenfalls mit Bezugnahme auf Luhmann davon aus, dass es sinnvoll ist, zwischen verschiedenen Teilsystemen einer Gesellschaft zu unterscheiden und entsprechend von teilsystemspezifischen Kulturen zu sprechen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
21
Veranderung von Werten fuhrt zu einem kognitiven Ungleichgewicht, und dieses versucht man zu vermeiden. c. Werte sind weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie abstrakte Orientierungen darstellen. Dieses Merkmal kann man auch als sachliche Generalisierung bezeichnen. Werte unterscheiden sich in dieser Dimension von Normen und konkreteren normativen Praferenzen. Zugleich beeinflussen Werte Normen und konkrete Einstellungen. Burger konnen sich zum Beispiel fiir eine liberale Abtreibungsregelung aussprechen (Einstellung). Ein Wert wie der der Gleichberechtigung kann einen starken Einfluss auf die spezifische Einstellung zur Abtreibungsfrage haben. Warum ist dem so? Die kognitive Konsistenztheorie hat gezeigt, dass Menschen dazu tendieren, Werte und aus ihnen abgeleitete Normen und Handlungen miteinander im Einklang zu halten (Osgood 1960). Inkonsistenzen zwischen Werten, Normen und Handlungen fuhren zu Stress, und den versuchen Menschen zu vermeiden.
1.3.1.2
Objektbereiche, auf die sich Werte beziehen
Vorstellungen des Wiinschenswerten konnen sich auf unterschiedliche Objektbereiche beziehen. Jiirgen Habermas (1981: 114ff.) unterscheidet im Anschluss an Karl R. Popper drei verschiedene Objektbereiche, auf die sich das Handeln von Menschen beziehen kann: Auf die objektive Welt im Sinne der aufieren Natur, auf die subjektive Welt als der Innenwelt der Menschen und auf die soziale Welt als dem Bereich der Organisation der Interaktionen zwischen Menschen (Gesellschaft). Wir interessieren uns in diesem Forschungskontext fiir Werte, die sich auf die Organisationsform von Gesellschaft beziehen. Wir untersuchen die Kultur der Gesellschaft und bezeichnen damit die Vorstellungen einer gewiinschten Gesellschaft. Und wir gehen im Anschluss an klassische Beschreibungen moderner Gesellschaften davon aus, dass sich Gesellschaft in ihrer Binnenstruktur als eine in verschiedene Teilbereiche differenzierte Gesellschaft begreifen lasst: Religion, Familie, Okonomie, Politik u. a. - mit Jewells spezifischen Strukturen und entsprechend bereichsspezifischen
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1. Fragestellimg iind konzeptioneller Rahmen
Kulturen. Fragt man nach Unterschieden iind Gemeinsamkeiten der Kultur verschiedener Gesellschaften, dann macht es entsprechend Sinn, u. a. eine okonomische Kultur von einer politischen Kultur und einer Familienkultur zu iinterscheiden. Wir unterscheiden also verschiedene Teilsystemkulturen oder Wertspharen einer Gesellschaft. Es gibt in der soziologischen Theoriedebatte bekanntlich unterschiedliche Vorschlage, die Menge der Teilsysteme oder Wertspharen und deren Bestimmungselemente festzulegen. Beziiglich der theoretischen Frage, welche und wie viele Teilsysteme es gibt und wie man diese am besten begrifflich beschreibt, miissen wir uns nicht zwischen Parsons' Strukturfunktionalismus, Luhmanns Systemtheorie, Miinchs Interpenetrationstheorie oder Schluchters postweberianischer Typologie festlegen, weil wir (auch hier) die Frage empirisch wenden: Wir untersuchen die Bereiche, die von der EU als relevante Wertebereiche definiert werden und damit die durch die EU flir die EU konstruierte Kultur. Dies sind Religion, Familie, Wirtschaft, Wohlfahrt und Politik. Die Differenzierung in Wertspharen gilt auch fiir die Analyse der Kultur aus der Perspektive der Burger. Die Burger leben in unterschiedlichen sozialen Welten (Familie, Beruf, Politik). Diejenigen Werte, die in dem einen Bereich fiir sie Geltung besitzen, miissen und werden haufig keine Geltung in einem anderen Bereich haben. Religiose Orientierungen mogen z. B. fiir die Werte im Berufsleben von geringer Bedeutimg sein, wirtschaftliche Leistungsorientierungen spielen wahrscheinlich in der Familie eine nicht sehr entscheidende RoUe.
1.3.1.3
Trager von Kultur
Neben den unterschiedlichen Objektbereichen, auf die sich die Vorstellungen des Wiinschbaren beziehen konnen, unterscheiden wir verschiedene Trager bzw. Subjekte von Kultur. Als Soziologen sind wir nicht an individuellen Werten interessiert, Werten also, die idiosynkratisch nur von einer Person als wichtig erachtet werden. Uns interessieren Werte, die von mehreren Akteuren geteilt werden; im Fokus stehen also „ shared
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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or collective evaluations" (Deth imd Scarbrough 1995: 34), oder wie an anderer Stelle formuliert: sozial generalisierte Werte (Gerhards 2000a). a. Das Subjekt von Kultur konnen einerseits koUektive Akteure und Institutionen sein. Parteien iind Regierungen etwa haben Vorstellungen dariiber, wie eine Okonomie organisiert sein soil, wie eine moderne Familie aussehen und welche Aufgaben der Staat ubernehmen soil. Institutionen sind eben nicht nur formale, blirokratische Organisationen, sie sind auch Trager von Ideen, von Kultur, insofern sie im Hinblick auf verschiedene Objektbereiche in der Welt Vorstellungen des Wiinschenswerten haben und diese mit ihren „policies" auch zu implementieren versuchen. Auf die kulturelle Dimension von Organisationen und Institutionen haben in den letzten Jahren die Arbeiten des Neoinstitutionalismus hingewiesen, vor allem John Meyer mit seinen Arbeiten zur Weltgesellschaft (zusammenfassend vgl. Meyer, Boli, Thomas und Ramirez 1997). Markus Jachtenfuchs (2002) hat diese Perspektive fiir eine Analyse der EU fruchtbar gemacht. Die Kultur von Institutionen manifestiert sich in von den Institutionen produzierten Texten. Diese k5nnen aus Parteiprogrammen, Gesetzestexten oder offentlichen Stellungnahmen bestehen. Das methodische Verfahren der Rekonstruktion der Kulturelemente aus den Texten ist die Inhaltsanalyse, sei es in ihrer systematischen oder in ihrer qualitativ-hermeneutischen Variante.^ Auch die Europaische Union lasst sich nicht nur unter strukturellen Aspekten als ein institutioneller Herrschaftsverband, sondern auch kultursoziologisch als eine institutionalisierte Form eines Skriptes interpretieren. Die EU hat zum Teil sehr dezidierte Vorstellungen dariiber, wie die Okonomie oder auch die Familie idealiter aussehen soil. Sie verfligt liber ein Skript etner idealen Gesellschaft und versucht dieses mit ihren „policies" zu realisieren. Natiirlich gelingt dies nur in begrenztem Mafie, well sich die Politiken der EU vielfach an den Institutionen der Nationalstaaten brechen und die EU nur vermittelt auf diese Zugriff hat. Ob und
6 Mit Hilfe einer systematischen Inhaltsanalyse der Abtreibungsdebatte haben wir z. B. die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA rekonstruiert (Ferree, Gamson, Gerhards und Rucht 2002).
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1. Fragestellimg iind konzeptioneller Rahmen
in welchem Mafie das Skript der EU realisiert wird, ist aber nicht imsere Forschungsfrage und muss uns hier nicht weiter interessieren/ Wir rekonstruieren das Skript der EU, d. h. die Position der EU im Hinblick auf eine wiinschenswerte Gesellschaft, aus dem Primar- und Sekundarrecht der EU und dem Verfassungsentwurf. Die Vorstellungen der EU zur Rolle von Religion in der Gesellschaft, iiber eine ideale Familie, Wirtschaftsordnung und Staatsform dient uns als ein normativer Bezugspunkt, an dem gemessen man analysieren kann, in welchem MaiSe die Mitglieds- und Beitrittslander zum Selbstverstandnis der EU passen oder nicht. b. Die Subjekte von Kultur konnen aber auch die Burger oder eine Subgruppe (Klasse, Stand) der Biirger einer Gesellschaft sein. Verbunden mit der Unterscheidung der unterschiedlichen Objektbereiche der Gesellschaft konnen die Biirger in Ost- und Westeuropa z. B. unterschiedliche Vorstellungen dariiber haben, welche Aufgaben der Staat in einer Gesellschaft iibernehmen soil, wie man die Okonomie (eher marktwirtschaftlich oder eher staatswirtschaftlich) organisieren soil, welche Rolle die Religion spielen soil und in welchem Mafie eine Erwerbstatigkeit von Frauen erwiinscht ist. Und in der Tat wissen wir aus der kulturvergleichenden Forschung, dass die Burger verschiedener Gesellschaften haufig unterschiedliche Vorstellungen iiber die richtige Organisationsform von Gesellschaft haben.^ Im Hinblick auf Vorstellungen, die sich auf die Organisationsform des politischen Systems beziehen, ist der hier benutzte Kulturbegriff identisch mit dem Kulturbegriff, der in der politischen Kulturforschung von Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1963) entwickelt und empirisch nutzbar gemacht wurde. „ When we speak of the political culture of a society, we refer to the political system as internalized in the cognitions, feelings, and evaluations of its population. (...) The political culture of a
7 John Meyer hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass die Skripte von Institutionen haufig nicht implementiert werden. Er bezeichnet dies als strukturelle Entkopplung (Meyer et al. 1997). 8 Vgl. z. B. die Beitrage in Jiirgen Gerhards (2000b), die Kuhurunterschiede zwischen Deutschland und USA analysieren.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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nation is the particular distribution of pattern of orientation toward political objects among the members of the nation/' (Almond und Verba 1963: 13; vgl. auch Kaase 1983). Wir teilen die elaborierte Kritik von Dieter Fuchs (2002) an der Spezifikation dessen, was Almond und Verba unter „political objects" verstehen und auch Fuchsens Vorschlag der Weiterentwicklung des Konzepts. Dies muss ims an dieser Stelle aber noch nicht im Detail interessieren. Wir kommen darauf zuriick, wenn wir die Einstellungen der Burger zur Demokratie analysieren. Wahrend man die Kultur von Institutionen durch eine Inhaltsanalyse von Texten rekonstruieren kann, ist das Instrumentarium der Wahl zur Rekonstruktion der Kultur der Burger die Umfrageforschung. Fassen wir unsere definitorischen Uberlegungen zusammen: Unter der Kultur einer Gesellschaft verstehen wir: • • •
die zeitlich relativ stabilen und abstrakten Vorstellungen einer zviinschensiuerten Gesellschaft, die sich auf unterschiedliche Wertspharen von Gesellschaft beziehen, entweder von den Blirgern oder einer Subgruppe der Biirger einer Gesellschaft gemeinsam geteilt werden, oder von Institutionen und kollektiven Akteuren der Gesellschaft formuliert wurden.
1.3.2 Was verstehen wir unter ^cultural missmatch" und ^cultural overstretch"? In unseren empirischen Analysen vergleichen wir die Vorstellungen der EU beziiglich einer idealen Gesellschaft mit den Gesellschaftsvorstellungen der Burger in der EU-15 und den Beitrittslandern. Wir analysieren beide Ebenen fiir die verschiedenen oben genannten Wertspharen. Das kulturelle Selbstverstandnis der EU dient uns als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Mafie die Gesellschaftsvorstellungen der EU von den Biirgern der EU unterstiitzt werden und ob es zwischen den Mitgliedslandern und den Beitrittslandern signifikante Unterschiede gibt. Durch Kontrastierung der beiden Ebenen von Kul-
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Tabelle 1.2:
Uberblick liber das Design der Studie Religion
Kultur
Familie und Geschlechterrollen
Wertspharen Wirtschaft Demokratie und Zivilgesellschaft
Wohlfahrtsstaat
Vorstellungen derEU Vorstellungen 1 der Burger
tur konnen wir feststellen, ob diese auseinanderfalien („missmatch") oder nicht und wieweit sie auseinanderfallen („overstrech"). „Missmatch" und „ overstretch" ergeben sich also aus der Diskrepanz zwischen einer „Soll-Grofie" und einer „Ist-Gro6e". Sowohl die Wahl des Skriptes der EU als normativer Bezugpunkt als auch die Messung der Kultur der Lander durch eine Rekonstruktion der Werteeinstellungen der Burger sind begrundungsbediirftig.
1.3.2.1
Das Gesellschaftsskript der EU als normativer Bezugspunkt
In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Versuchen, die kulturelle Identitat Europas zu bestimraen und daraus Mitgliedschaftskriterien fiir Beitrittslander abzuleiten. Gerade die mogliche Aufnahme der Tiirkei in die EU hat zu einer breiten wissenschaftlichen und politischen Debatte iiber die Grenzen und das kulturelle Selbstverstandnis der EU geflihrt. Es lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden, die man mit den Etiketten „Substantialisten" (a) einerseits und „Konstruktivisten'' (b) andererseits belegen kann. Man kann die Vorteile der eigenen analytischen Position, die hier als empirischer Substantialismus bezeichnet wird (c), wahrscheinlich besser verstandlich machen, wenn man sie mit den Argumenten vergleicht, die in der Debatte iiber die kulturelle Identitat Europas formuliert wurden. a. Als historische Substantialisten bezeichnen wir diejenigen Autoren, die inhaltliche Merkmale der kulturellen Besonderheit Europas meist mit
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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Bezug auf die Geschichte definieren und begriinden und entlang dieser Merkmale Mitgliedschaftskriterien fiir die EU definieren. Manche Beobachter sehen die kulturelle Besonderheit Europas in seinen besonderen geisteshistorischen Wurzeln, die von der jiidisch-griechisch-romischen Antike liber die Renaissance, die Aufklarung bis hin zum modernen Wissenschaftsverstandnis reichen. Gesellschaften, die nicht in dieser geisteshistorischen Traditionslinie stehen, wie beispielsweise die Tiirkei, passen nicht zu Europa (Wehler 2002). Andere Beobachter definieren die kulturelle Identitat Europas durch Rekurs auf das Christentum. „Die europaische Identitat bezieht (...) ihren spezifischen Charakter direkt und indirekt aus jener Religion, durch die Europa als kulturelle Einheit geformt wurde, namlich das Christentum" (Brague 1996, 45; vgl. weiterhin Gebhardt 1996; Maurus 1998; Remond 1998; Schilling 1999). Auch fiir Samuel Huntington ist die Religion die zentrale Variable zur Abgrenzung der verschiedenen Kulturraume und zur Definition der Grenzen Europas. So verlauft fiir ihn die Grenze Europas „ entlang der heutigen Grenze zwischen Finnland und RujGland und den baltischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen) und RuGland, durch das westliche Weii3rui?land, durch die Ukraine, wo sie den unierten Westen vom orthodoxen Osten trennt, durch Rumanien zwischen Transsylvanien mit seiner katholischungarischen Bev51kerung und dem Rest des Landes, und durch das friihere Jugoslawien entlang der Grenze, die Slowenien und Kroatien von den anderen Republiken trennt" (Huntington 1996: 25 If.). Ein weiteres Beispiel: Die beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler (2002) und Heinrich August Winkler (2002) haben sich, wenn auch mit unterschiedlicher Verve, sehr deutlich gegen eine Aufnahme der Tiirkei in die EU ausgesprochen. „Nach geografischer Lage, historischer Vergangenheit, Religion, Kultur, Mentalitat ist die Tiirkei kein Teil Europas" (Wehler 2002). Beide Autoren betonen vor allem, dass die Tiirkei moslemisch und die EU christlich sei und dies nicht zusammenpasse. Die von den zitierten Autoren favorisierte Bestimmung der kulturellen Identitat Europas hat eine empirische und eine normative Dimension. Ketne Frage: Die Mitgliedslander stehen in einer christlichen Traditionslinie. Ob man daraus aber ableiten kann, dass Lander, die in der Traditi-
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
onslinie einer anderen Weltreligion stehen, nicht Mitglied der EU werden konnen, ist eine normative Setzung. Die Nicht-Vereinbarkeit von zwei Weltreligionen ist eine normative Festlegung der zitierten Autoren, die sich wissenschaftlich nicht gut legitimieren lasst. Die Tatsache, dass z. B. die Tiirkei kein christliches Land ist, ist an sich noch kein Grund, sie nicht in die EU aufzunehmen; derm die Religionsfreiheit der Burger wird ja gerade von der EU garantiert, und dazu gehdrt eben auch die Freiheit, Moslem zu sein. Folgt man dem Wertfreiheitspostulat von Wissenschaft, dann verbietet es sich, die normativen Bezugspunkte zur Bestimmung von Mitgliedschaftskriterien selbst einzufiihren. Genau dies versuchen aber die Autoren, die hier als Substantialisten bezeichnet wurden. b. Als Konstruktivisten kann man diejenigen Autoren bezeichnen, die zeigen (woUen), dass die von Substantialisten ins Feld gefiihrten Kriterien nicht haltbar sind und dass alle Merkmale, die man zur inhaltlichen Bestimmung der Kultur Europas einfiihrt, konstruierte Merkmale sind. Aus dieser Argumentation wird dann abgeleitet, dass die Identitat Europas und damit die Kriterien fur die Mitgliedschaft in der EU kontingent und folglich voluntaristisch formulierbar sind. Exemplarisch kann man diese Position an der Argumentation von Wolfgang Burgsdorf (2004) erlautern. Burgsdorf zeigt, dass die territorialen Grenzen Europas historisch recht flexibel waren und man entsprechend aus der Geschichte kein Argument fiir eine territorial Grenze Europas ableiten kann. Er zeigt weiterhin, dass die Bezugnahme auf die Antike keine plausible Begriindungsfolie offeriert, weil sich die Ausbreitimg antiker Ideen auf den Mittelmeerraum erstreckte, damit einerseits Teile der heutigen Tiirkei einschloss, andererseits weite Teile des heutigen Territoriums der Mitgliedslander der EU ausschloss. Schliefilich betont er, dass auch das Christentum nicht als Bezugspunkt fiir ein Identitatskonzept herhalten kann, nicht nur weil der Apostel Paulus im heutigen Gebiet der Tiirkei aufwuchs und das Christentum nicht aus Europa, sondern aus dem Vorderen Orient stammt, sondern weil dem Christentum ebenso viele antiaufklarerische Ziige eigen sind wie dem Islam. Burgsdorf und andere ahnlich argumentierende Autoren ziehen folgende Schlussfolgerung:
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
29
Eine substantielle Bestimmung der Kultur Europas ist nicht moglich, und folglich ist es ein voluntaristischer Akt, die Grenzen Europas festzulegen: „Der vormalige franzosische Aufienminister Frangois-Poncet aufierte einmal, es ,gebe keine zwingenden historischen, geographischen oder kulturellen Griinde', mit denen die Grenzen der Europaischen Union eindeutig bestimmt werden konnten. Die Geschichte nimmt uns die politische Entscheidung nicht ab" (Burgsdorf 2004: 31). c. Die eigene, hier vertretene Position kann man als empirischen Substantialismus oder als verfassungspositivistisch bezeichnen. Diese Sichtweise grenzt sich gegeniiber konstruktivistischen Positionen insofern ab, als sie davon ausgeht, dass es durchaus substantiell bestimmbare Werte gibt, die fiir die Europaische Union konstitutiv sind. Sie grenzt sich gegeniiber dem historischen Substantialismus ab, insofern sie die Bestimmung der Werte nicht selbst libernimmt, sondern die normative Frage in eine empirische Frage verwandelt und fragt, welche Werte die Gemeinschaft der EU-Mitgliedslander fiir sich selbst als bedeutsam erachtet. Denn die Europaische Union definiert sich nicht durch eine gemeinsame Religion, Ethnie, Sprache oder auch territorial festgelegte Grenze; im Hinblick auf all diese Elemente ist die Union unterbestimmt bzw. versteht sich als eine pluralistische Gemeinschaft. Im Artikel I-l Absatz 2 des Verfassungsentwurfs heifit es: „Die Union steht alien europaischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fordern." Wir rekonstruieren diese Werte der EU aus dem Primar- und Sekundarrecht, vor allem aus dem Verfassungsentwurf, unterscheiden verschiedene Wertspharen - Religion, Familie und Geschlechtsrollen, Okonomie, Politik etc. - und bestimmen inhaltlich, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Dabei scheint uns die Bezugnahme auf das europaische Recht und vor allem auf die Vertragstexte ein in zweifacher Hinsicht gut begriindbarer normativer Bezugspunkt zu sein. Zum einen handelt es sich bei dem europaischen Recht nicht um unverbindliche Sonntagsreden von Politikern, sondern um rechtsverbindliche Vertrage, die qua Rechtsstatus Geltung beanspruchen diirfen. Zum anderen ist zumindest das Primarrecht, bestehend aus den Vertragen, ein von den demokratisch gewahlten
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Regierungen der Mitgliedslander ausgehandeltes und imterzeichnetes Recht, das einen hohen demokratischen Legitimitatsanspruch erheben kann. Unsere Bezugsnahme auf den Verfassimgsentwurf ist seit den Entwicklimgen im Jahr 2005 begriindungsbedurftig. Im Mai 2005 batten die Franzosen und die Niederlander in jeweiligen Volksabstimmungen die europaische Verfassung abgelehnt. Seitdem werden eine ganze Reihe von politischen Optionen iiber das weitere Vorgehen erortert. Zur Diskussion stehen u. a. eine umfassende Neuverhandlung des Vertrages, ein Zusatzvertrag zum geltenden Vertrag von Nizza und die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten. Welcher Ausweg letztendlich aus der so genannten Verfassungskrise gefunden wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Die Tatsache, dass der jetzige Verfassungsentwurf nicht ratifiziert wurde, bedeutet fiir unsere Analysen aber nicht, dass man sich nicht auf die Verfassung beziehen kann, um die Werteordnung Europas zu rekonstruieren. Der Verfassungsentwurf, zumindest in den Teilen, die wir interpretieren, fasst weitgehend hestehende Vertrage und Rechtsordnungen in einem einheitlichen Gebilde zusammen. Der Teil II des Verfassungsentwurfs enthalt zum Beispiel die Grundrechte der EU und besteht in der Ubernahme der Grundrechtecharta, die bereits in Kraft ist. Insofern sind die Werte, die in dem Verfassungsentwurf kodifiziert wurden auch bei nicht Ratifizierung des Verfassungsentwurfs weiterhin in Kraft.
1.3.2.2
Die Messung der Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen seiner Burger
Wir kontrastieren die Vorstellungen der EU von einer idealen Gesellschaft mit den aus Umfrageergebnissen gewonnen Werteorientierungen der Biirger. Auch die Bestimmung der kulturellen Verfasstheit eines Landes vermittels der Messung der Werteorientierung ihrer Burger ist begriindungsbedurftig. Man findet in der Literatur eine Vielzahl von Versuchen der Bestimmung der Kultur eines Landes. Haufig wird die
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
31
Kultur mit Bezugnahme auf die geistesgeschichtliche Traditionslinie oder mit Rekurs auf die besondere Geschichte eines Landes beschrieben. Aus einer systematischen, kulturvergleichenden Perspektive ist eine solche Vorgehensweise mit drei Problemen behaftet: a. Ein Vergleich zwischen verschiedenen Einheiten ist nur moglich, wenn man den Bezugspunkt des Vergleichs konstant halt, technisch gesprochen: wenn man in alien zu iintersuchenden Landern Kultur mit demselben Instrumentarium erhebt. Dies scheint aber in den meisten philologisch oder historisch orientierten Beschreibungen in der Regel nicht der Fall zu sein, weil es sich oft um Fallanalysen handelt, die sich auf ein oder zwei Lander beziehen, und somit keinen eigentlichen Vergleich ermoglichen, vor allem keinen Vergleich zwischen 27 verschiedenen Landern. b. Weiterhin ist in den philologisch-historischen Kulturstudien haufig nicht klar, wofiir das analysierte Material eigentlich steht. Das Erkenntnisinteresse von Kultursoziologen ist auf gesellschaftlich wirkungsmachtige Ideensysteme gerichtet. Eine Abhandlung iiber die Unterschiede und Gemeinsamkeiten philosophischen Denkens in West- und Osteuropa mag philologisch sehr interessant sein. Der Verdacht aber, dass es sich dabei um Eliten-Diskurse handelt, die nur einen geringen Einfluss auf die Gesellschaft haben, lasst sich wohl nicht ganz von der Hand weisen. c. SchlieiSlich sind viele Kulturanalysen historisch orientiert. Fiir das Verstandnis der Gegenwart und der Zukunft Europas sind diese Analysen nur dann relevant, wenn man zeigen kann, dass die Geschichte auch in der Gegenwart noch wirkungsmachtig ist. Die beiden Historiker HansUlrich Wehler (2002) und Heinrich August Winkler (2002) bestimmen z. B. den faktischen Unterschied zwischen der Tiirkei und der EU durch Rekurs auf eine unterschiedliche und konflikthafte Geschichte. Eine unterschiedliche Geschichte und die Tatsache, dass das muslimische Osmanenreich Kriege gegen das christliche Europa gefiihrt und vor den Toren Westeuropas gestanden hat, spricht aber nicht an und fiir sich gegen eine Aufnahme der Tiirkei in die EU. Die Tatsache, dass Deutschland zweimal im letzten Jahrhimdert Europa imd die halbe Welt mit einem Krieg iiber-
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
zogen hat, hat auch nicht dazu gefiihrt, dass Deutschland nicht Teil des politischen Europas geworden ist. Ganz im Gegenteil: Gerade um einen deutschen Sonderweg auch in der Zukunft zu verhindern, wurde die Bundesrepublik in das westliche Biindnis integriert. Das Argument historischer Feindschaft sticht nur dann, wenn die unterschiedlichen historischen Erfahrungen auch noch in der Gegenwart wirkungsmachtig sind und die kulturellen Orientierungen eines Landes weiterhin anleiten. Wenn wir die Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen der Burger in einem Land zum gegenwartigen Zeitpunkt operationalisieren, dann ist damit zum einen sicher gestellt, dass es sich um eine gegenwartige und nicht um eine historische Messung von Kultur handelt. Die Tatsache, dass in alien Landern die Werteorientierung der Burger mit einem standardisierten Fragebogen erhoben wurde, erfiillt zudem den Anspruch, dass es sich um eine fast alle Lander der gegenwartigen und zukiinftigen EU umfassende, komparative Studie handelt.^ Schliefilich bedeutet die Tatsache, dass es sich bei den Umfragen um reprasentative Befragungen handelt, dass man von den Ergebnissen auf die Werteorientierungen der Burger eines Landes insgesamt riickschlielSen kann. Begrundungsbediirftig scheint ims darliber hinaus die Frage zu sein, warum Kultur als Werteorientierungen der Biirger iiberhaupt fiir die Entwicklung von Gesellschaften bedeutsam ist. Dazu miissen wir etwas weiter ausholen. a. Werte und soziales Handeln: Im Fokus des soziologischen Erkenntnisinteresses steht bekanntlich das soziale Handeln von Menschen und nicht deren Werteorientierung. Ein allgemeines Modell zur Erklarimg von sozialen Handlungen setzt an der Entscheidungssituation der einzelnen Individuen an, auch wenn das Erkenntnisinteresse der Soziologie ein makrosoziologisches ist (vgl. Coleman 1990). Zur Rekonstruktion der Entscheidungslogik des Individuums hat es sich bewahrt, zwei Parameter zu unterscheiden: Praferenzen der Handelnden einerseits und die Restriktionen und Gelegenheiten andererseits. In einer an Max Weber
' Einzige Ausnahme ist Zypern, fiir das keine vergleichbaren Daten vorliegen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
33
orientierten Terminologie formuliert M. Rainer Lepsius (2003: 33) ganz ahnlich: „Soziales Handeln auf der ,Akteursebene' erfolgt in strukturierten Handlungskontexten unter Bezugnahme auf Wertevorstellungen/' Eine voUstandige Erklarung von Handlungen muss immer beide Seiten beriicksichtigen: die Praferenzen/Wertvorstellungen einerseits und die Restriktionen/Handlungskontexte andererseits.^^ Wenn wir in unserer Untersuchung die Werteorientierungen der Burger im Hinblick auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche analysieren, dann untersuchen wir nichts anderes als die abstrakten, hewerteten Gesellschaftspraferenzen der Burger, die die konkreten Einstellungen beeinflussen. Wir fragen z. B., ob sich die Burger eine Trennung von Politik und Religion wiinschen oder ob sie die Vorstellung praferieren, dass Politik religios motiviert sein soil. Wiinschen sie sich eher eine traditionelle Familie, in der der Mann berufstatig ist und die Frau Haushalt und Kinder versorgt, oder bevorzugen sie eine Berufstatigkeit von Mann und Frau bei gleicher Verteilung hauslicher Aufgaben? Unsere Untersuchung fokussiert damit auf die generalisierten, bewerteten Praferenzen der Burger. Es gibt nun eine Vielzahl an Untersuchungen, die gezeigt haben, dass die Werteorientierungen der Menschen einen Einfluss auf ihre konkreteren Praferenzen und damit auf ihre Handlungen haben. Gerade die neueren mikrookonomischen Studien, die sich kritisch mit dem Modell des „homo oeconomicus" auseinandersetzen, konnten in Experimenten zeigen, dass die Werteorientierung der Menschen ihre Handlungen stark
10 Man mag z. B. zum Mittagessen geme Erbsensuppe essen; wenn aber auf der Speisekarte eines Restaurants keine Erbsensuppe angeboten wird, lasst sich die Praferenz fiir Erbsensuppe bei den gegebenen Restriktionen nicht realisieren. Umgekehrt wird die Wahl von Erbsensuppe bei einer Speisekarte, die u. a. Erbsensuppe offeriert, nur dann zustande kommen, wenn das Individuum eine Praferenz fiir Erbsensuppe hat. Ein zweites Beispiel, das naher an unserer Fragestellung lokahsiert ist: Ein Anteil der Burger in einer Gesellschaft mag sich gegen eine von der EU garantierte freie Mobilitat der Arbeitskrafte aussprechen, u. a. weil er dadurch seine eigenen Arbeitsplatze gefahrdet sieht. Diese Praferenz kann sich wahrscheinlich dann pohtisch besser reaUsieren, wenn es eine Partei gibt, die ebenfalls diesen Standpunkt vertritt, und die von den entsprechenden Biirgern gewahlt werden kann und die dann die Praferenzen in die politische Entscheidungsarena transportiert. Gibt es diese Partei nicht, laufen die Praferenzen der Burger ins Leere.
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1. Fragestellung iind konzeptioneller Rahmen
beeinflussen. Die hervorragenden Arbeiten von Ernst Fehr imd Mitarbeiter sind hier richtungsweisend (Fehr und Gachter 2002; Fehr und Rockenbach 2003; Henrich et al. 2001).ii Auch wenn die Praferenzen und die generalisierten Praferenzen in Form von Werten fiir die Erklariing von Handlungen wichtig sind, bilden sie nur einen Teilaspekt einer vollstandigen Erklariing. Fine Analyse der Restriktionen und Gelegenheitsstrukturen, der zweite Bestandteil einer vollstandigen Erklarung, bleibt aus unserer Analyse ausgeschlossen. Insofern konnen wir von unseren Befunden nicht auf mogliche Handlungen der Burger schlieCen. Diese ergeben sich erst aus dem Zusammenspiel von Werten und konkreten Einstellungen einerseits und Restriktionen andererseits. Aber: Wir konnen davon ausgehen, dass die Gelegenheitsstrukturen zur Realisierung von bewerteten Praferenzen in unserem Falle besonders giinstig und insofern die Werteorientierungen der Burger recht bedeutsam sind. Ein zentraler Grund dafiir ist, dass es sich bei den von uns analysierten Gesellschaften u m Demokratien handelt. Hier macht es die Konkurrenz der Eliten um Regierungspositionen und ihre Abhangigkeit von den Willensaufierungen der Burger sehr wahrscheinlich, dass sich die Eliten an den Wiinschen der Burger orientieren imd sich im Hinblick auf die Wiinsche der Burger als responsiv erweisen. Unter den restriktiven Bedingungen einer Diktatur werden sich die Praferenzen der Burger in weit geringerem Mal?e Geh5r verschaffen konnen. Gehen wir z. B. davon aus, dass sich die Mehrheit der Burger in einer Gesellschaft fiir einen islamischen Gottesstaat ausspricht. Diese Werteorientierung im Hinblick auf eine gewiinschte Gesellschaftsordnung lasst sich unter den Restriktionen einer Wettbewerbsdemokratie besser realisieren als unter den Bedingungen einer Militardiktatur, in der das Militar jede Vermischung von Religion und Politik aufs Scharfste sanktioniert. Unter Bedingungen einer Wettbewerbsdemokratie ist es recht wahrscheinlich, dass sich eine Partei
11 Sarah Brosnan und Frans B. M. de Waal (2003) zeigen in ihren Experimenten mit Affen, dass sogar diese in ihren Handlungen offensichtlich einer Gerechtigkeitsnorm folgen, zumindest lehnen sie ungerechte „Bezahlungen'' ab.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
35
finden wird, die die Wiinsche der Bevolkerung aufgreift und in ihr Parteiprogramm integriert, um sich fiir die nachste Wahl bei den Wahlern attraktiv zu machen und damit die eigenen Chancen zu erhohen, gewahlt zu werden und die Regierung zu stellen.^^ Gelingt es der Partei, die Regierungsgeschafte zu iibernehmen, kann sie dazu beitragen, die Vorstellungen der Burger durch einen Gesellschaftsumbau zu realisieren. Die Praferenzen der Burger hatten damit zu einem Strukturwandel der Gesellschaft entscheidend beigetragen. Insofern kann man argumentieren, dass unter den Strukturbedingungen einer Demokratie die kulturellen Orientierungen der Burger eine relevante Bezugsgrofie darstellen, die zu einer Strukturveranderung von Gesellschaft beitragen konnen. Dieses theoretische Argument wird durch empirische Untersuchungen unterstiitzt. Benjamin I. Page und Robert Y. Shapiro (1983) konnen in ihrer haufig zitierten Studie zeigen, dass die Einstellungen der Burger die Entscheidungen der Politiker beeinflussen. Die Veranderungen in den Bevolkerungsmeinungen sind den politischen Entscheidungen vorlaufig (vgl. den Uberblick liber den Forschungsstand in Burstein 1998; 2003). Natiirlich mlinden die Werteorientierimgen der Burger nicht unmittelbar in konkrete Politiken und fuhren nicht direkt zu Strukturveranderungen. Der Weg von den Werten der Burger zu den politischen Entscheidungen ist vielfach gefiltert und lauft, wie die Politikwissenschaft gezeigt hat, liber die Vermittlungsschritte der Interessensartikulation und der Interessensaggregation (vgl. flir viele andere Almond et al. 2003: 42). b. Hieran schliefit ein zweites Argument an, dass die Bedeutsamkeit der Werteorientierungen der Burger einer Gesellschaft begrlindet und sich dabei auf die Stabilitat von Institutionen bezieht. Die politische Kulturforschung, die in der Traditionslinie der von Gabriel A. Almond und
12 Bryan Caplan weist darauf hin: „Whether voters' beliefs are rational or irrational, electoral competition pressures politicians to do what voters want. (...) It is costly for politicians to have biased estimates of voters' reactions to their decisions, but cheap to have biased estimates of policies' actual effects." (Caplan 2003: 219; Hervorhebungen im Original). Selbst wenn also die Eliten im Prinzip proeuropaisch sind, so miissen sie sich doch in ihrer Politik an den Wiinschen der Bevolkerung ausrichten.
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Sidney Verba verfassten Studie ''The Civic Culture" (1963) steht, geht davon aus, dass politische Institutionen nur dann stabil sind, wenn es eine Kongruenz zwischen den Institutionen einerseits und den Wertorientierungen der Burger andererseits gibt. Ronald Inglehart (1988) hat dieses Argument theoretisch und empirisch weiterentwickelt und damit eine grol3ere Diskussion in der empirisch orientierten Demokratieforschung ausgelost. Unter Kongruenz verstehen er und andere Autoren der politischen Kulturforschung, dass Burger die Grundwerte des politischen Systems, das politische Regime und das faktische Handeln der Politiker unterstiitzen (vgl. auch Fuchs 2002). Wenn dies in einem ausreichenden Mal?e der Fall ist, erweisen sich politische Institutionen als stabil. Die Bedeutsamkeit von politischer Kultur in dem gerade definierten Sinne hat im Kontext der Forschungen zur Transformation der vormals staatssozialistischen Gesellschaften hin zu Demokratien eine enorme Renaissance erfahren (Fuchs und Roller 1998; Merkel 1995; 1999; RohrSchneider 1999; Rose, Mishler und Haerpfer 1998). Damit der Transfer und die Implementation demokratischer Institutionen auch zu einer Stabilisierung dieser Institutionen fiihrt, bediirfen sie der Unterstiitzung durch die Burger. Ob diese aufgrund einer Sozialisation in einem antidemokratischen System dazu die richtigen Werteorientierungen mitbringen, war und ist eine der zentralen Fragen der verschiedenen empirischen Studien der Transformationsforschung (z. B. Transformationsbarometer Osteuropa; vgl. Franzen et al. 2002). Die Bedeutsamkeit der Unterstiitzung von Institutionen durch die Werteorientierungen der Burger wird nicht nur im Hinblick auf das politische System, sondern auch beziiglich der Wirtschaft behauptet. Bezogen auf die vormals staatssozialistischen Gesellschaften kann man auch hier sagen, dass der Institutionentransfer weitgehend gelungen ist. Offen ist aber, ob die okonomischen Institutionen durch die Einstellungen und Werte der Bevolkerung unterstiitzt werden, oder ob aufgrund der Sozialisation in einer sozialistischen Planwirtschaft Orientierungen dominant sind, die die neue marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnimg ablehnen. Die Folgen einer solchen Ablehnung formulieren Okonomen als Kosten. "When changes in formal rules are in harmony with the prevailing in-
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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formal rules, the incentives they create will tend to reduce transaction costs and free some resources for the production of wealth. When new formal rules conflict with the prevailing informal rules, the incentives they create will raise transaction costs and reduce the production of wealth in the community" (Pejovich 2003: 5). Sowohl aus der Perspektive einer Theorie rationaler Wahl, die die besonderen „constraints" von Demokratien beriicksichtigt, als auch aus der Theorieperspektive, die sich fiir die Bedingungen der Stabilitat von Institutionen interessiert, kann man also plausibel machen, dass die auf die Gesellschaft bezogenen Werteorientierungen der Burger eine relevante Bezugsgrofie fiir die Stabilitat und den Wandel der Struktur der Gesellschaft darstellen. Wir vermuten, dass je hoher die Divergenzen im Hinblick auf die Werteorientierungen zwischen verschiedenen Landern sind, desto hoher ist die Konfliktwahrscheinlichkeit imd desto grolJer sind die Integrationsschwierigkeiten.
1.3.3 Wie kann man die kulturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Landern erklaren ? Unser Erkenntnisinteresse gilt nicht allein der Beschreibung kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Mitglieds- und Beitrittslandern der EU, sondern auch einer Erklarung moglicher Differenzen. Drei grofiere gesellschaftliche Rahmenbedingungen scheinen die Werteorientierungen der Burger besonders stark zu beeinflussen. Je nach Wertebereich muss man die Wirkungsweise der drei Parameter genau spezifizieren; wir werden dies in den einzelnen Kapiteln versuchen. Hier mag eine allgemeine Beschreibung der Faktoren ausreichen. a. Modernisierung und Werteorientierungen: Karl Marx war wahrscheinlich einer der ersten Autoren, der einen kausalen Zusammenhang zwischen den Werten der Menschen einerseits und ihren okonomischen Lebensbedingungen andererseits unterstellt hat. In der Auseinandersetzung mit Hegel und dem deutschen Idealismus hat er versucht herauszuarbeiten, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern umgekehrt das
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Sein das Bewusstsein bestimmt (Marx 1972; Marx iind Engels 1969). Unter den Bestimmungsfaktoren des Seins hat Marx den okonomischen Faktoren eine besondere Bedeutimg zugeschrieben. Die Marxsche Annahme, dass der okonomische Wohlstand eines Landes und dessen Distribution durch die Produktivkrafte, vor allem aber durch die Besitzverhaltnisse an Produktionsmitteln bestimmt werden, scheint sich historisch als falsch erwiesen zu haben, wenn man die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaften mit der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften vergleicht. In den kapitalistischen Gesellschaften war der produzierte Reichtum (fiir alle) hoher als in den sozialistischen Gesellschaften. Dieser Befund falsifiziert aber noch nicht die Annahme, dass okonomische Entwicklung und Wohlstand (wie auch immer induziert), einen Einfluss auf die Werteorientierungen der Burger haben. Dieses abstrakte Kerntheorem liegt den verschiedenen Modernisierungstheorien zugrunde. Es wtirde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die komplette Modernisierungstheorie mit ihren vielfaltigen Facetten, die vielfach an der Modernisierungstheorie geaufierten Kritikpunkte und die darauf erfolgten Revisionen zu rekonstruieren (vgl. dazu die Uberblicksartikel von Berger 1996; Inglehart 2001; Kn5bl 2003; Zapf 1998).i3 Erschwerend kommt hinzu, dass die Modernisierungstheorie selbst kein geschlossenes Theoriegebaude darstellt, sondern als Sammelbegriff fiir eine Vielzahl von Theoremen benutzt wird, die in unterschiedlicher Weise den Prozess der Entwicklung von traditionellen Gesellschaften hin zu modernen bzw. postmodernen Gesellschaften beschreiben. Wir wissen bis heute nicht genau, welche Faktoren eine Modernisierung befordert haben und wie die Kausalbeziehungen zwischen den verschiedenen Faktoren zu bestimmen sind. Das Ergebnis des Prozesses der Modernisierung ist aber ein historisch einmaliges Wachstum der Okonomie und des Wohlstands der Biirger. Angus Maddison (1995: 21) hat dies durch die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner fiir den Zeitraum 1820 bis 1992 eindrucksvoll belegt. Wie auch immer man
13 Einen immer noch sehr guten Uberblick uber die verschiedenen Ansatze gibt dariiber hinaus der von Wolfgang Zapf (1971) herausgegebene Sammelband.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
39
aber das Wachstum iind die Wohlstandsentwicklung sich modernisierender Gesellschaften erklaren kann, auf der Ebene der Phanomenbeschreibung gibt es eine weitgehende Ubereinstimmiing zwischen den verschiedenen Theoretikem, dass modernisierte Gesellschaften durch ein Set von Merkmalen beschreibbar (nicht erklarbar) sind, die zusammen ein Syndrom bilden (vgl. Norris 2002: 20ff.). Daniel Bell (1979; 1996) unterscheidet zwei Phasen des Modemisierungsprozesses. Die erste Phase bezeichnet er als Industrialisierung. Moderne Gesellschaften als industrialisierte Gesellschaften grenzt Bell gegeniiber traditionellen Gesellschaften ab. Traditionelle Gesellschaften wiederum sind durch ein spezifisches Syndrom von Merkmalen gekennzeichnet: Der dominante Produktionsbereich ist der der Landwirtschaft; Produktions- und Konsumtionseinheiten bilden meist Familien; der Grad der Technisierimg der landwirtschaftlichen Produktion ist gering. Die zentrale Vergemeinschaftungseinheit bildet die Familie und die Verwandtschaft; das Bildungsniveau ist gering, der Grad der Urbanisierung ebenfalls. Modernisierung im Sinne von Industrialisierung meint, dass die industrielle Produktion von Giitern der dominante Produktionsbereich wird und Fabriken und formale Organisationen die dominanten Produktionseinheiten werden; Giiter und Dienstleistungen werden iiber Markte vermittelt und distribuiert; der Grad der Technisierung der Produktion ist hoch, das Bildungsniveau steigt an, die Urbanisierung ebenfalls. Die Ausbildung von Gesellschaften mit diesen Merkmalen fiihrt insgesamt zu einer enormen Verbesserung des Wohlstandsniveaus. Die zweite Phase der Modernisierung bezeichnet Bell (1979) als Postindustrialisierung; Inglehart (1997) spricht von Postmodernisierung. Postindustrialisierung ist mit einer Bedeutungszunahme des Dienstleistungssektors verbunden, so dass dieser zum dominanten Produktionsbereich wird. Technik und Wissenschaftsentwicklung gewinnen zunehmend an Bedeutung, das Niveau der Bildung einer Gesellschaft steigt erheblich. Zugleich sind postindustrielle Gesellschaften Wohlstandsgesellschaften, in denen durch Massenkonsum und Wohlfahrtsstaatsentwicklung ein historisch einzigartiges Niveau des verfiigbaren Einkom-
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
mens und des Konsums fiir breite Bevolkerimgsteile erreicht wird bei gleichzeitig hoher sozialer Sicherheit. Mit der Modernisierung gehen spezifische Werteorientierungen einher. David McClelland (1961) hat in seinen Untersuchungen gezeigt, dass fiir moderne, industrialisierte Gesellschaften eine starke Leistungsorientierung typisch ist. Entsprechend bezeichnet er moderne Gesellschaften auch als „achieving society". Neben einer Leistimgsorientieriing gewinnen individuelle Verantwortung, Wettbewerbsorientierung und die Ablehnung von Fremdbestimmung an Bedeutimg. Andere Autoren gehen davon aus, dass mit einer okonomischen Modernisierung Sakularisierungsprozesse verbunden sind. Religion als das „ Opium fiir das Volk" verliert, so die Annahme der Marxschen Religionssoziologie, dann an Bedeutung, wenn die faktischen okonomischen Lebensbedingungen den Bedarf an ideologischen Kompensationen fiir die Widrigkeiten der Welt sinken lassen. Mit der Entwicklung hin zu postindustriellen Gesellschaften sind wiederum spezifische Werteorientierungen verbunden, die zum Teil die modernen Werte konterkarieren. Im Hinblick auf die Wirtschaftseinstellungen betont Bell, dass die fiir die Industrialisierungsphase konstitutiven Werte wie Leistungs- und Wettbewerbsorientierung, Sparsamkeit und Konsumverzicht ersetzt werden durch eine hedonistische Orientierung (Bell 1979): Pflichtorientierung wird durch eine Spai?orientierung, Arbeit durch Freizeit und rationale Planung durch emotionale Orientierungen ersetzt. Eine ganz ahnliche Argumentationsfigur und Hypothesenformulierung findet man in den Arbeiten von Ronald Inglehart (1997): Die Zunahme der Moglichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse fuhrt mit einer Zeitverzogerung, so die Inglehartsche These des Wertewandels, zu einer Werteverschiebung in Richtung auf postmaterielle Werte. Zu den postmateriellen Werten gehoren u. a. Wiinsche nach Selbstentfaltung und Partizipation. Was bedeuten diese Uberlegimgen fiir unsere Fragestellung? Sicher ist: Die von uns untersuchten Gesellschaften unterscheiden sich im Grad der okonomischen Modernisierung imd des damit verbimdenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstandes. Wir vermuten, dass der Grad der
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
41
Modemisierimg einen Einfluss auf die Werteorientierung ihrer Burger hat. Ob und in welchem Mai?e dies der Fall ist, wollen wir empirisch priifen. b. Kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes: Wenn Karl Marx der Kronzeuge der Klassiker ist, den man in den Zeugenstand rufen muss, wenn man die Wirkungsmacht der Okonomie auf die Werteeinstellungen formulieren will, dann ist Max Weber sicherlich der Klassiker, auf den man verweisen muss, wenn man die Wirkungsmacht von Religion auf die Werteorientierungen der Menschen plausibel machen mochte. „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Djmamik der Interessen das Handeln fortbewegte" (Weber 1988: 252). In dem bekannten Zitat formuliert Weber seine Vorstellung der Wirkungsmachtigkeit von Weltbildem auf die Handlungen von Menschen. Seine religionsvergleichenden Untersuchungen gelten dem Versuch zu zeigen, dass der Geist des Kapitalismus - selbst kultureller und konstitutiver Bestandteil der Entstehung des Kapitalismus - religiosen Ursprimgs ist. Die Entstehung des kapitalistischen Geistes setzt Weber bekanntlich in einen ursachlichen Zusammenhang mit den Ideen des asketischen Protestantismus. Den Kausalnexus zwischen religiosen Vorstellungen einerseits (Protestantische Ethik) und Wirtschafts- und Berufsvorstellungen andererseits (Geist des Kapitalismus) begriindet er argumentativ, indem er einerseits die innere Logik des Weltbildes des asketischen Protestantismus mit der inneren Logik des Weltbildes des Katholizismus vergleicht und andererseits beide Religionsvorstellungen mit dem Weltbild einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung in Beziehung setzt (vgl. Lepsius (1986) fiir eine sehr pragnante Zusammenfassung der Argumentation Webers). Das Weltbild des Protestantismus - so die Struktur des Weberschen Arguments - hat im Unterschied zu den Religionsvorstellungen des Katholizismus insofern einen ursachlichen Effekt auf eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung, als in ihm Arbeitsund Berufswerte als verbindlich definiert werden, die auch bedeutsame Werte einer kapitalistischen Gesinnung darstellen. Die inhaltliche Flil-
42
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
lung der Struktur dieser Argumentation ist hinreichend bekannt und muss hier nicht wiederholt werden. Auch wenn Weber seine religionssoziologischen Studien zur Erklarung der Entstehung des Kapitalismus nicht als eine alternative, sondern eher als eine erganzende Erklarung zu Marx betrachtet hat, hat ihn die Sekundarliteratur sehr friih zum Antipoden von Marx stilisiert. Die Vorstellung, dass die kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes starken Einfluss auf die Handlungen der Blirger ausiibt, ist in der Nachfolge Webers von einer Vielzahl von Autoren aufgegriffen und theoretisch und empirisch ausformuliert worden. Vor allem die historischvergleichenden Forschungen von Samuel Eisenstadt (1992; 2000), dann die Arbeiten von Wolfgang Schluchter (1988; 1991) und von Bjorn Wittrock (2001) sind hier zu erwahnen. Neben diesen eher historischphilologisch argumentierenden Studien haben systematisch-empirische Arbeiten die Bedeutsamkeit von Kultur als „unabhangige" Variable herausgearbeitet und dies in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Im Bereich der internationalen Politik beschreibt Samuel P. Huntington (1996) in seinem umstrittenen Werk „Der Kampf der Kultur en" die Struktur der nach 1989 entstandenen weltpolitischen Ordnung. Er geht davon aus, dass die internationalen Konfliktlinien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durch kulturelle Unterschiede bestimmt sein werden. Die kulturellen Unterschiede speisen sich wiederum in erster Linie aus den die Kulturkreise bestimmenden Weltreligionen. Vor allem der Konflikt zwischen der westlichen, in einer christlichen Traditionslinie stehenden Welt einerseits und der arabischen, in einer moslemischen Traditionslinie stehenden Welt andererseits wird demzufolge die Zukunft intemationaler Konflikte bestimmen. Auch im Bereich der Wirtschaftssoziologie und Entwicklungslandersoziologie ist die Variable „Kultur" als unabhangige Variable wiederentdeckt worden. Lawrence E. Harrison (2000: 296) vermutet sogar, dass die lange vorherrschende Dependenztheorie langsam durch ein Kulturparadigma ersetzt wird. Es liegt mittlerweile eine Menge an empirischen Evidenzen vor, die belegen, dass man die Wirtschaftsentwicklimg eines Landes nicht (nur) auf strukturelle Abhangigkeiten zuriickfiihren kann
1.3 Per konzeptionelle Rahmen
43^
(vgl. Landes 2000; Porter 2000). Manche Lander haben sich trotz ahnlich schlechter okonomischer Ausgangsvoraussetziingen in den letzten 30 Jahren wirtschaftlich enorm entwickelt, andere Lander wiederum stagnierten bzw. haben ein riicklaufiges Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Ghana und Siidkorea hatten z. B. in den 60er Jahren eine ahnliche okonomische Ausgangssituation. 30 Jahre spater hatte Siidkorea ein 15fach hdheres Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner als Ghana (Huntington 2000: XIII). Es gibt nicht wenige Analysten, die die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklimg auf Unterschiede in der Wirtschaftskultur und diese wiederum auf Unterschiede der Religionsorientierung ursachlich zuriickfiihren. Weiterhin hat das Konzept der Kultur auch in der vergleichenden Politikwissenschaft eine Renaissance erfahren (vgl. Lane und Errson 2002). Ronald Inglehart wird nicht miide zu betonen und empirisch nachzuweisen, dass die Entwicklimg und Stabilitat von Demokratien von kulturellen Faktoren abhangig ist. Seymour Martin Lipset und Gabriel Salman Lenz (2000) konnen zeigen, wie Familienkulturen einerseits und - wiederum - Religionsorientierungen andererseits Unterschiede im Ausmafi von Korruption in verschiedenen Landern erklaren konnen. SchliejGlich spielen kulturelle Faktoren eine (wiederentdeckte) bedeutsame RoUe bei dem Versuch der Erklarung, warum bestimmte ethnische Minderheiten erfolgreich, andere weniger erfolgreich im Erreichen von Statuspositionen innerhalb der Sozialstruktur der USA sind (vgl. Glazer 2000; Patterson 2000). Besonders interessant fiir unsere Fragestellung sind die Versuche, mit Hilfe der Daten des „World Values Survey" die These Huntingtons zu iiberprtifen, dass die religios definierten Kulturkreise die Werteorientierungen ihrer Burger pragen (Esmer 2002; Inglehart imd Baker 2000; Inglehart, Norris und Welzel 2002; Norris imd Inglehart 2002). Wir kniipfen mit unserer Untersuchung vor allem an die zuletzt genannten kulturvergleichenden Studien an und gehen theoretisch davon aus, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften, die es in der EU und den Beitrittslandern gibt, eigenstandige Perspektiven im Hinblick auf eine ideale Gesellschaft entwickelt haben, und dass diese Vorstellungen die Glaubigen
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
der Religionsgemeinschaften beeinflussen. Wir werden fur die verschiedenen Wertebereiche jeweils rekonstruieren, welche Vorstellungen in den Religionen existieren und dann empirisch priifen, ob diese flir die Vorstellungen der Burger wirkungsmachtig sind oder nicht. Im Unterschied zu oft nur mit Beispielen arbeitenden Kultursoziologen werden wir in der Lage sein zu priifen, ob und in welchem MaiSe die Werteinstellungen der Burger wirklich von den Religionen beeinflusst werden. Dariiber hinaus kdnnen wir den relativen Erklarungswert von Kultur im Vergleich zu okonomischen Modernisierungsfaktoren bestimmen. c. Politisch-institutionelle Ordnung: SchlieiJlich gehen wir davon aus, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellungen der Burger hat; und da sich die von uns untersuchten Lander in ihrer Institutionenordnung voneinander unterscheiden, vermuten wir, dass diese Differenz zum Teil die Unterschiede in der Werteorientierung erklaren kann. Autoren, die die Bedeutsamkeit nationaler Institutionen betont haben, haben sich mit diesem Argument vor allem gegen modernisierungstheoretische Annahmen gewandt, die haufig von einer Konvergenz modernisierter Gesellschaften ausgehen (vgl. den Uberblick in Skocpol und Amenta 1986; Thelen 1999). Peter Flora und Jens Alber (1981) zeigen z. B., dass der Grad der Industrialisierung eines Landes nicht die Einfiihrung von Sozialversicherungssystemen erklaren kann. Im Bereich der Analyse industrieller Beziehungen und des Wohlfahrtsstaats, der vergleichenden Demokratieforschung, der vergleichenden Familienforschung und des Vergleichs von Gesundheitssystemen liegt mittlerweile erne Fiille von Untersuchungen vor, die zeigen, dass die jeweiligen Nationalstaaten eigene Institutionensysteme entwickelt haben, und dass diese einen pragenden Einfluss auf eine Vielzahl von unterschiedlichen abhangigen GroiSen haben. Dabei stehen vor allem „ policies" (Angebot an Kinder gar tenplatzen, Verrentungsregeln, Sozialversicherimgsregeln, Arbeitsmarktpolitik, Organisationsgrad von Gewerkschaften etc.) im Vordergrund der Analyse der abhangigen Variable. Die Literatur in diesem Bereich ist so reichhaltig, dass wir nicht im Einzelnen darauf eingehen konnen.
1.4 Zur Methodik der Studie
45_
Komparative Analysen, die den Einfluss imterschiedlicher staatlicher Institutionenordnungen auf individuelle Merkmale, wie z. B. die Gestaltung des Lebenslaufs, untersuchen, liegen aber nur wenige vor (vgl. Mayer und Schoepflin 1989); dies gilt besonders und vor allem fur die Frage, wie nationalstaatlich verfasste Institutionen die Werteeinstellungen der Burger beeinflussen. Eine solche Wirkungsrichtung scheint uns aber theoretisch nicht unplausibel zu setn. Die Lander unterscheiden sich z. B. in dem Ausmai?, in dem der Staat in die Wirtschaft eingreift bzw. im Typus des Wohlfahrtstaates, der implementiert ist. Wir vermuten, dass die Wirtschaftsvorstellungen der Biirger, aber auch die Einstellungen in den anderen Wertebereichen, durch die jeweilige politische Ordnung im Land beeinflusst werden. Wir werden in den einzelnen Kapiteln genauer spezifizieren, welche Ordnungsmerkmale welche Effekte auf die Werteorientierungen haben. Die statistische Priifung der Erklarungskraft der verschiedenen Variablenkomplexe auf die jeweiligen Werteorientierungen der Burger erfolgt mit Hilfe von Regressionsanalysen.
1.4 Zur Methodik der Studie Unsere empirischen Analysen beziehen sich auf drei verschiedene Datenquellen. 1. Inhaltsanalyse: Wir rekonstruieren das kulturelle Selbstverstandnis der EU aus dem Primar- und Sekundarrecht der EU. Dabei unterscheiden wir verschiedene Wertspharen - Religion, Familie und Geschlechtsrollen, Okonomie, Wohlfahrtsstaat sowie Politik - und bestimmen inhaltlich, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Da der Textkorpus zur Rekonstruktion der Vorstellungen der EU recht eingeschrankt ist, zudem das Recht hierarchisch aufgebaut ist (was es erlaubt, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen), bedarf es keiner systematischen Inhaltsanalyse, um das Gesellschaftsbild der EU zu bestimmen. Zudem liegen fiir die meisten Bereiche bereits entspre-
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
chende Ubersichten vor. Wir werden durch Zitate und Textverweise unsere Interpretation des europaischen Rechts plausibel machen. 2. Bevolkerungsbefragungen zu Werteorientierungen: Die Kultur der Gesellschaften der EU bestimmen wir vermittels der Messung der Werteorientieriing ihrer Burger. Auch die religiose Traditionslinie bestimmen wir auf der Basis von Umfragedaten. Die wichtigste Datengrundlage fiir unsere Analysen bildet die „European Values Study" bzw. „Europaische Wertestudie'' von 1999/2000.^^ Diese Befragung steht im Kontext mehrerer ahnlich gelagerter Wertestudien, die seit 1981 durchgefiihrt wurden. Die erste Europaische Wertestudie (EVS) wurde 1981 durch Initiative der „European Values Systems Study Group" (EVSSG) unter der Flihrung von Jan Kerkhofs und Ruud de Moor durchgefiihrt. Unter der Mitarbeit eines Beratungskomitees, bestehend aus Gordon Heald, Juan Linz, Elisabeth Noelle-Neumann, Jacques Rabier und Helene Riffault fanden Befragungen in zehn westeuropaischen Gesellschaften zu den Einfliissen von Werten und Einstellungen auf das politische und soziale Leben statt. Diese Befragung wurde in weiteren 14 Landern wiederholt - imd unter dem ^Label" World-Values-Survey (WVS) 1981-84 zusammengefasst. Die zweite Untersuchungswelle wurde 1990-93 durchgefiihrt. Das Koordinationskomitee, bestehend aus Ruud de Moor, Jan Kerkhofs, Karel Dobbelaere, Loek Halman, Stephen Harding, Felix Heunks, Ronald Inglehart, Renate Koecher, Jacques Rabier und Noel Timms vereinigte das EVS-Team mit den WVS-Initiatoren und organisierte eine Befragimgswelle in 42 Landern der Welt. Die Weltwertestudie wurde in den Jahren 1995-97 wiederholt, mit besonderem Augenmerk auf die politischen Kulturen in den neu entstandenen Demokratien. Die europaische Forschergruppe nahm daran allerdings nicht teil. Die dritte Welle der Europaischen Wertestudie fand 1999/2000 statt; sie ist wiederum Teil der fast parallel in weiteren Lan-
14 Sehr gute Informationen zur European Values Study und zum World Values Survey findet man unter folgenden beiden Netzseiten: http://www.europeanvalues.nl und http://wvs.isr.umich.edu.
1.4 Zur Methodik der Studie
47
dern, allerdings mit leicht abweichendem Fragebogen, durchgefiihrten Weltwertestudie. Die Europaische Wertestudie von 1999/2000 ist flir iinsere Fragestellung die beste Datenquelle, weil sie die meisten der Mitglieds- und Beitrittslander der EU umfasst (vgl. Halman 2001). Die EVS hat zusatzlich den Vorteil, dass sie relativ aktuell ist.^^ Der Datensatz ist iiber das Zentralarchiv fiir empirische Sozialforschung in Koln iinter der Nummer 3811 zu beziehen. Die nationalen Stichproben sind mit mindestens 1000 zufallig ausgewahlten Befragten fiir die jeweilige Gesellschaft reprasentativ. Befragt wurden Personen ab dem 18. Lebensalter in Form einer miindlichen Befragung. Die in der Europaischen Wertestudie von 1999/2000 beteiligten Lander, deren Primarforscher und die jeweilige Anzahl der Befragten sind in Tabelle 1.3 zusammengefasst. Zusatzlich ist noch die Rate der tatsachlich zustande gekommenen Interviews in den jeweiligen Landern („response rate") angegeben.
^5 Die Aufbereitung international vergleichender Datensatze verlangt einen hohen Koordinationsaufwand und dementsprechend Zeit. Der komplette Datensatz der EVS wurde im April 2003, also zwei Jahre nach Abschluss der Datenerhebungen, vorgestellt und Ende Juni desselben Jahres fiir die Forschung freigegeben.
48 1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen Tabelle 1.3: Land Belgien Bulgarien Danemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Grofibrit. Irland Island Italien Kroatien Lettland Litauen Luxemburg Malta Niederlande Nordirland Osterreich Polen Portugal Rumanien Russland Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Tiirkei Ukraine Ungarn
Informationen zur Europaischen Wertestudie 1999/2000 Primarforscher Karel Dobbelaere, Jaak Billiet Georgy Fotev, Atanas Atanasov, Mario Marinov Peter Gundelach Wolfgang Jagodzinski, Hans-Dieter Klingemann Andrus Saar Juhani Pehkonen Jean-Frangois Tchemia James Georgas, Kostas Mylonas, Aikaterini Gari Helmut Anheier, Stephen Harding Tony Fahey, Bernadette C. Hayes, Richard Sinnott Fridrik H. Jonsson, Stefan Olafsson Renzo Gubert Josip Baloban Brigita Zepa Stanislovas Juknevicius, Rasa Alisauskiene Pol Estgen, Michel Legrand Anthony M. Abela Wil Arts, Jacques Hagenaars Bernadette C. Hayes, Tony Fahey, Richard Sinnott Paul M. Zulehner Aleksandra Jasinska-Kania, Mira Marody, Joanna Konieczna Jorge Vala, Alice Ramos, Manuel Villaverde Cabral Malina Voicu, Catalin Zamfir, Lucien Pop Elena Bashkirowa Thorleif Pettersson, Bi Puranen Zuzana Kusa Brina Malnar, Niko Tos Javier Elzo, Francisco Andres Orizo Ladislav Rabusic Yilmaz Esmer Olga N. Balakireva Miklos Tomka
Menge der Befragten 1912
Response rate (in %) k.A.
1000
88,0
1023
57,0
2036
42,0
1005 1038 1615
13,1 k.A. 42,0
1142
82,0
1000
80,0
1012
62,0
968 2000 1003 1013 1018 1211 1002 1003
65,5 68,0 k.A. k.A. 75,0 73,0 k.A. 39,6
1000
68,4
1522
77,0
1095
73,0
1000
k.A.
1146 2500 1015 1331 1006 1200 1908 1206 1195 1000
k.A. 72,9 41,0 95,0 53,0 k.A. 65,0 k.A. 66,0 87,5
1.4 Zur Methodik der Studie
49
Die Bestimmung der Kultur eines Landes mit Hilfe der durch Umfragen gewonnenen Werteorientierungen der Burger ist ein nicht ganz unproblematisches Vorgehen und dies aus mehreren Griinden. a. Man setzt voraus, dass die Fragen eines Fragebogens von den Befragten in den verschiedenen Landern gleich oder ahnlich verstanden werden, so dass diese auf bedeutungsgleiche Stimuli antworten. Kritiker der vergleichenden Umfrageforschung machen geltend, dass die Kulturunterschiede zwischen verschiedenen Landern bereits das Verstandnis von Fragen beeinflussen konnen, die Fragen also nicht das gleiche messen, und man entsprechend die Ergebnisse nicht vergleichen kann. Auch wenn die Schlussfolgerung der Kritik vielleicht etwas iibertrieben ist, kann man die Einwande nicht ganz von der Hand weisen. Die Internationale Zusammensetzung von Forschungsteams und die Technik der Riickiibersetzung von Fragen sind angewandte Techniken, den „Kulturbias" von Fragen zu neutralisieren. Wenn in den Forschergruppen Mitglieder aus alien befragten Landern beteiligt sind und wenn man unterstellt, dass diese mit den kulturspezifischen Bedeutungen von Fragen vertraut sind, ist dies eine institutionalisierte Kontrolle gegenliber der Verwendung von Fragen, die in einer Gesellschaft eine abweichende Bedeutung hatten. Weiterhin versucht man durch die Ubersetzung von Fragen und die Riickubersetzimg in die Ausgangssprache mogliche unterschiedliche Bedeutungen von Fragen zu entdecken und dann zu neutralisieren. b. Bei unserer Analyse von Umfragen handelt es sich um eine Sekundaranalyse. Die Umfragen wurden also nicht gesondert fiir unseren Projektzusammenhang erhoben. Entsprechend kdnnen unsere Analysen auch nicht dem Lehrbuchablauf eines Forschungsprozesses folgen: Man definiert die Fragestellung, macht eine dimensionale Analyse der zu messenden theoretischen Konstrukte und bestimmt dann die Indikatoren in Form von Fragen einer Umfrage, die die theoretischen Konstrukte messen sollen. Wir miissen in unseren Analysen auf Fragen zuriickgreifen, die wir nicht selbst formuliert haben und die zum Teil fiir andere Forschungsfragen formuliert worden sind. Daraus kann sich grundsatzlich ein Missverhaltnis zwischen den aus der theoretischen Fragestellung
50
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
abgeleiteten Dimensionen einerseits und den Daten zur Messung dieser Dimensionen andererseits ergeben. Und in der Tat werden wir feststellen und in den folgenden Kapiteln erlautern, dass wir fiir manche Gesellschaftsvorstellungen der EU keine geeigneten Fragen finden, um diese auf der Ebene der Burger abzubilden, bzw. nur Fragen zur Verfiigung haben, die das theoretische Konstrukt nur annahernd messen konnen. Dies konnen wir dann nur explizieren und damit ausweisen. Zugleich wird sich aber zeigen, dass wir eine Vielzahl von theoretischen Konstrukten recht gut mit den Fragen der Europaischen Wertestudie operationalisieren konnen. Die Einwande gegen eine vergleichende Kulturanalyse auf der Basis einer Sekundaranalyse von Umfragedaten machen deutlich, dass wir nur in der Lage sein werden, ein recht grobkorniges Bild der kulturellen Verfasstheit der Lander der europaischen Union und der Beitrittslander zu zeichnen. Wir werden im Einzelfall spezifizieren, welche Dimensionen wir nicht oder nicht sehr gut messen konnen. Dass das gezeichnete Bild iiber die kulturelle Verfasstheit Europas aber nicht nur aus methodischen Grlinden grobkornig sein wird, hangt mit der spezifischen Perspektive der Analyse zusammen. Wenn man die Kultur verschiedener Gesellschaften beschreiben will, muss man notgedrungen eine gewisse Abstraktionshohe einnehmen und gleichsam aus einer Hohendistanz auf die Gesellschaften schauen, sonst kann man sie in toto nicht iiberblicken. Tut man dies, dann verliert man die kleinen Taler und Berge, die einzelnen Menschen und Situationen aus dem Blick. Die Perspektive des Weitwinkels ist nolens volens erkauft um den Preis geringerer Tiefenscharfe. Insofern ist eine komparative Beschreibung der Kultur verschiedener Gesellschaften immer vergrobernd. Umgekehrt gilt aber, dass sich die Unterschiede imd Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Gesellschaften nicht aus der Perspektive der Bodenhaftung beschreiben lassen. Eine solche Perspektive ermoglicht zwar eine detaillierte Beschreibung der Gegebenheiten vor Ort, der nachste Berg verstellt aber bereits die Sicht auf das Gesamte, und verfuhrt Analysten recht haufig dazu, ihre Befunde zu generalisieren, ohne
1.4 Zur Methodik der Studie
51_
dass dies empirisch abgesichert ware. Der Vergleich wird daher gerne als „engine of knowledge" (Dogan iind Pelassy 1990: 8) bezeichnet. 3. Makroindikatoren: Das Ziel unsere Studie besteht nicht nur in der Beschreibung der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Lander, sondern auch in der Erklarung der gefundenen Unterschiede. Zur empirischen Bestimmung der unabhangigen Variablen greifen wir einerseits auf die Umfragedaten selbst zuriick. Ob z. B. die verschiedenen Religionen einen Einfluss auf die Familienvorstellungen der Burger oder auf ihre Vorstellung von der Trennung von Religion und Staat haben, priifen wir, indem wir die Mitgliedschaft der Burger in den verschiedenen Religionen als erklarende Variable mit in die statistischen Analysen aufnehmen. Manche unabhangigen Variablen konnen wir aber nicht auf der Ebene der einzelnen Befragten operationalisieren. Hier greifen wir auf Makro-Variablen zuriick. a. Wir gehen davon aus, dass der Grad der Modernisierung einen Einfluss auf die Werteorientierung der Biirger hat. Zur Messung des Grads der Modernisierung werden in der Literatur zwei verschiedene Indikatoren benutzt. Zum einen bietet sich der „ Human Development Index" (HDI) an. Dieser wird vom „United Nations Development Programme" jahrlich fiir fast alle Lander der Erde erhoben. In den HDI gehen mehrere Mafizahlen zur Bestimmung des Grads der Modernisierung ein: das reale Bruttosozialprodukt pro Einwohner, das Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung. Eine alternative Messung des Grades der okonomischen Modernisierung besteht in der Bestimmung des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner. Der „Human Development Index" hat im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt pro Kopf den Vorteil, dass er iiber eine rein okonomische Messung hinausgeht imd damit sensibler ist fiir das allgemeine Wohlstandsniveau in einer Gesellschaft. Es macht fiir die Biirger in zwei Gesellschaften mit dem gleichen Niveau des Bruttoinlandprodukts pro Einwohner einen Unterschied, ob sie in etner Gesellschaft leben, in der dieser Reichtum asymmetrisch verteilt ist oder in einer Gesellschaft, in der er fiir eine Verbesserung von Bildimg und Gesundheit genutzt wird und damit die Wohlfahrt von alien erhoht wird. Wir werden in unseren Analysen vor
52
1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
allem den „Human Development Index" verwenden. In Tabelle 1.4 sind beide Werte aufgenommen. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2000 (Human Development Report Office 2000). b. Wir vermuten weiterhin, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellimgen der Burger hat. Worin dieser Einfluss genau besteht, muss man pro Wertebereich spezifizieren. Die Lander unterscheiden sich z. B. in dem Ausmafi, in dem sie eine Trennung von Staat und Kirche institutionalisiert haben. Wir vermuten, dass dies einen Einfluss auf die Sichtweisen der Burger im Hinblick auf die Trennung der Spharen von Kirche und Staat hat. Wir werden entsprechend versuchen, die Lander nach dem Grad der institutionellen Trennung von Staat und Kirche zu klassifizieren und diese Grofie in die erklarende Analyse aufnehmen. Im Hinblick auf die Familienvorstellungen gehen wir von der Vermutimg aus, dass die politische Forderung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau durch die jeweilige Politik eines Landes einen Einfluss auf die GeschlechtsroUenvorstellungen hat. Wir messen die Geschlechterpolitik eines Landes durch das sogenannte „Gender Empowerment Measure" (GEM). Ahnlich wie der Human Development Index wird das „ Gender Empowerment Measure" vom „United Nations Development Programme" erhoben und fiir sehr viele Lander der Erde bestimmt (Human Development Report Office 2000). Gemessen wird der Grad der institutionalisierten Gleichberechtigung. Der Index setzt sich aus drei Variablen zusammen: Der Anteil der Frauen und Manner im Parlament, der Anteil der Frauen und Manner an Fiihrungspositionen in Wirtschaft und Politik und die Unterschiede zwischen Mannern und Frauen im Einkommen. Bei kompletter Gleichheit zwischen Mann und Frau erhalt der Index den Wert 1, bei kompletter Ungleichheit den Wert 0. Die Werte fiir Frankreich, Luxemburg, Malta und Bulgarien fehlen leider. Beziiglich der Akzeptanz der von der EU favorisierten Wirtschaftsordnung gehen wir davon aus, dass eine Sozialisation der Biirger in einer sozialistischen Planwirtschaft oder einer kapitalistischen Marktwirtschaft zu unterschiedlichen Vorstellungen von einer idealen Wirtschaftsordnung fiihren wird. Entsprechend klassifizieren wir die Lander entlang
1.4 Zur Methodik der Studie
53-
des Kriteriums „Marktwirtschaft/sozialistische Planwirtschaft" und verwenden als Indikator die Anzahl der Jahre unter einem sozialistischen Regime. Unabhangig von der sozialistischen Vergangenheit eines Landes gehen wir davon aus, dass das AusmalG der Staatseingriffe in eine Wirtschaft die Einstelliingen der Burger zur Wirtschaft pragt. Grofiere Staatseingriffe fuhren meist dazu, dass der Wettbewerb reguliert wird und die Anreize ftir individuelle Leistungen, etwa aufgrund hoher Steuern, sinken. Es gibt verschiedene Moglichkeiten, den Einfluss des Staates zu messen. Ein moglicher Indikator ist die auch in den „Index of Economic Freedom" eingehende Berechnung der „Size of Government'' (Gwartney und Lawson 2003).^^ Die Mafizahlen fiir die verschiedenen in unseren Analysen benutzten Makroindikatoren haben wir in Tabelle 1.4 aufgelistet.
16 Er gibt an, inwieweit Ressourcen in den verschiedenen Landem iiber individuelle Wahl und Markte statt iiber politische Prozesse verteilt werden. Diese Grofie errechnet sich wiederum aus vier verschiedenen Indikatoren: "A General government consumption spending as a percentage of total consumption B Transfers and subsidies as a percentage of GDP C Government enterprises and investment as a percentage of GDP D Top marginal tax rate (and income threshold to which it applies)" (Gwartney und Lawson 2003: 8).
54
1. Fragestellimg imd konzeptioneller Rahmen
Tabelle lA:
EU-15 Frankreich Grofibritannien Deutschland Osterreich Italien Spanien Portugal Belgien Danemark Schweden Finnland Irland Griechenland Luxemburg Beitritt I Estland Lettland Litauen Polen Tschechien Slowakei Ungarn Slowenien Malta Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
Makroindikatoren zur Beschreibung der verschiedenen Gesellschaften Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (PPPUS$)
Human Development Index (HDI)
Gender Empowerment Measure (GEM)
Size of Government in Economy (EFW)
Jahre unter sozialistischer Herrschaft (SOZANNO)
24,223 23,509 25,103 26,765 23,626 19,472 17,290 25,657 27,178 27,627 24,277 24,996 29,866 16,501 50,061
0,928 0,928 0,925 0,926 0,913 0,913 0,880 0,935 0,939 0,926 0,941 0,930 0,925 0,885 0,925
0,656 0,756 0,710 0,524 0,615 0,618 0,739 0,725 0,791 0,794 0,757 0,593 0,456
2,3 6,2 4,5 3,4 4,6 4,6 5,1 4,5 3,5 3,6 3,0 4,1 6,1 6,4 4,5
0 0 0/44 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
10,066 7,045 7,106 9,051 13,991 11,243 12,416 17,367 17,273
0,826 0,800 0,808 0,833 0,849 0,835 0,835 0,879 0,875
0,537 0,540 0,531 0,512 0,537 0,533 0,487 0,519
5,4 5,2 5,6 3,5 4,6 3,5 4,8 2,9 5,9
51 51 51 42 30 30 40 45 0
6,423 5,710 6,974
0,775 0,779 0,742
0,405
4,0 4,0 7,1
26 20 0
-
0,321
1.5 Zusammenfassung
55
1.5 Zusammenfassung Wir gehen davon aus, dass das Gelingen einer Erweiterung der EU nicht alleine eine Frage okonomischer Konvergenz ist, sondern auch eine kulturelle Komponente besitzt; die EU hat sich selbst im Zuge einer Vertiefung der Integration zunehmend als Wertegemeinschaft definiert. Wir konzentrieren uns in den kommenden Kapiteln auf die Analyse der kulturellen Differenzen zwischen den EU-Landern und den Beitrittslandern. Unter Kultur verstehen wir dabei die zeitlich relativ stabilen nnd abstrakten Vorstellungen einer wiinschenswerten Gesellschaft, die sich auf verschiedene Wertspharen beziehen und die von den Biirgern oder Institutionen einer Gesellschaft geteilt werden. Der normative Bezugspunkt unserer Analysen bildet dabei das kulturelle Selbstverstandnis der EU, wie es sich im Primar- und Sekundarrecht findet. Die Vorstellungen der EU konfrontieren wir mit den landerspezifischen Kulturen. Diese operationalisieren wir iiber die Einstellungen und Werte der Burger, wie sie sich mit Hilfe von international vergleichenden, reprasentativen Bevolkerungsumfragen erheben lassen. Neben einer Deskription versuchen wir die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erklaren. Dabei erweisen sich vor allem drei Variablenkomplexe - der Modernisierungsgrad einer Gesellschaft, die kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes und die politisch-institutionelle Ordnung als zentrale Erklarungsfaktoren.
2. Religion im erweiterten Europa
Religion war und ist ein Zentralbestand der Kultur einer Gesellschaft und damit auch ein zentraler Gegenstandsbereich der Kultursoziologie, insofern die Ideensysteme der Religionen einen kraftigen Einfluss auf die Handlungen der in ein Religionssystem eingebetteten Menschen haben. Dieser Einfluss manifestiert sich zum einen in unmittelbar auf die Religion selbst bezogenen Handlungen: Im Beten oder Kirchgang, im Essen von bestimmten Lebensmitteln und Vermeiden anderer, in der Gestaltung des Jahres und des Tages und vielen anderen Handlungen mehr. Religiose Orientierxmgen fanden und finden aber auch ihren Niederschlag in aufierreligiosen Verhaltensweisen. Sie konnen Handlungen wie politische Wahlentscheidungen oder Wirtschaftsaktivitaten anleiten oder Einstellungen zu moralischen Fragen (z. B. Einstellungen zu Abtreibungen und Homosexualitat) mitbestimmen (vgl. Pickel 2001). Sie konnen zu kriegerischen oder biirgerkriegsahnlichen Auseinandersetzungen motivieren, wie die Konflikte zwischen Moslems und Hindus in Indien und Pakistan, Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland und die andauernden Spannungen auf dem Balkan zeigen. Und das Beispiel der USA zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Religion und politischem Handeln nicht nur fiir einige der okonomisch schwach entwickelten Lander, sondern auch fiir okonomisch modernisierte Lander gelten kann: Amerikanische Prasidenten beenden in der Regel ihre Regierungserklarungen mit dem Satz "God bless America".^ Die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der religiosen 1 Wahrend das Thema Religion und Politik lange Jahre kein zentrales Thema politikwissenschaftlicher Forschungen war, hat sich dies in der letzten Zeit verandert. Zwei neuere Sammelbande widmen sich dem Thema (vgl. Minkenberg und Willems 2003; Brocker et al. 2003).
58
2. Religion im erweiterten Europa
Orientiening der Burger der EU und der Beitrittslander ist insofern auch eines der zentralen Untersuchungsfelder, wenn man eine kulturelle Landkarte eines erweiterten Europas zeichnen mochte. Die Bedeutsamkeit der Religionsdimension fiir eine gemeinsame europaische Kultur wird sowohl von einigen wissenschaftlichen Beobachtem des Integrationsprozesses als auch von einigen der politischen Akteure hervorgehoben (Kallscheuer 1996; Remond 1998; Zulehner und Denz 1994). So stehen im Zentrum der Diskussionen iiber die Aufnahme der Tiirkei in die EU z. B. nicht so sehr die okonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Tiirkei, sondern die kulturell-religiosen Differenzen. Kritiker eines Beitritts der Tiirkei machen geltend, dass sich die jetzigen Mitglieder der EU und die Tiirkei aufgrund einer jeweils ganz unterschiedlichen Geschichte, vor allem aber aufgrund einer anderen Religionsorientierung - christlich einerseits, moslemisch andererseits fundamental voneinander unterscheiden und insofern keine hinreichenden kulturellen Gemeinsamkeiten aufweisen, u m sich ia einem gemeinsamen Verband zusammenzuschliei?en (vgl. z. B. Wehler 2000). Samuel Huntington (1996) zieht in seiner kulturellen Landkarte der Welt die Grenzen des Westens noch etwas enger, indem er nicht nur die Moslems, sondern zusatzlich auch die orthodoxen Christen aus der gemeinsamen Kultur Europas ausschliefit. Fiir Huntington stellt die Ausdehnung des Christentums in seiner protestantischen und katholischen Form auch heute noch das Kriterium fiir die Grenzen Europas dar (Huntington 1996: 251f.).2 Nun ist die Tatsache, dass die Tiirkei kein christliches Land ist und die Mehrheit der Bevolkerung in Bulgarien und Rumanen orthodoxchristlichen Glaubens ist, an sich noch kein Grund, die Tiirkei, Bulgarien und Rumanien nicht in die EU aufzunehmen. Denn die Religionsfreiheit 2 Auch andere Autoren gehen von der christlichen Pragung einer europaischen Kultur aus, auch wenn sie weniger scharfe Grenzen definieren: „Die kulturelle Verwurzelung der Europaischen Gemeinschaft kann auf religiose Zusammenhange nicht verzichten/' (Robbers 1995: 175). „Diese gemeinsame Zugeh5rigkeit zum Christentum ist ein Bestandteil der europaischen Identitat. Auf ihr griindet der eigentliche Unterschied Europas zu anderen Kontinenten/' (Remond 1998: 33; siehe auch Maurus 1998; Schilling 1999). Worin das Erbe des Christentums allerdings besteht, wird nur in den seltensten Fallen wirklich expliziert.
2.1 Religionsvorstelliingen der EU
59
der Burger wird ja gerade von der EU, wie wir gleich noch genauer herausarbeiten werden, garantiert, imd dazu gehort eben auch die Freiheit, Moslem oder christlich-orthodoxen Glaubens zu sein. Entscheidend ist allein, ob aus einer unterschiedlichen Religionsausrichtung eine kulturelle Orientierimg folgt, die mit den Wertevorstellungen der EU nicht kompatibel ist. Wir greifen entsprechend im Folgenden die in der Einleitimg erlauterte begriffliche Differenzierung des Kulturbegriffs auf und rekonstruieren im ersten Schritt das Skript der EU im Hinblick auf ihre Religionsvorstellungen. Welche Anforderungen an die religiose Verfasstheit der EU formulieren die Institutionen der EU, welche Religionskultur definieren sie als die flir die EU verbindliche Kultur? In einem zweiten Schritt untersuchen wir dann, ob und in welchem Mafie sich die Religionskulturen der Burger in den verschiedenen europaischen Landern voneinander unterscheiden und von dem Religionsskript der EU abweichen. In einem dritten Schritt werden wir versuchen, die Lander im Hinblick auf ihre Religionsorientierung insgesamt zu ordnen, um dann in einem vierten Schritt der Frage nachzugehen, wie man die Unterschiede in den Religionseinstellungen erklaren kann.
2.1 Religionsvorstellungen der EU Das Material zur Rekonstruktion der Religionsvorstellungen der EU bilden die Gesetzestexte, Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen, die von den Institutionen der EU erlassen wurden und auf zwei verschiedenen Ebenen institutionalisiert und spezifiziert sind, einerseits im Primarrecht der EG (bestehend aus den Griindungsvertragen, den Protokollen und den Erweiterungsvertragen) und im Verfassungsentwurf, andererseits im Sekundarrecht (bestehend aus den Verordnungen und Richtlinien). Die zwei Ebenen unterscheiden sich durch den Grad der rechtlichen Verbindlichkeit. Gerhard Robbers (2003b) hat eine Zusammenfassung aller religionsrechtlichen Bestimmungen der EU zusammengetragen und dankenswerterweise ins Internet gestellt, so dass wir uns
60
2. Religion im erweiterten Europa
eine eigenstandige Rekonstruktion ersparen konnten (vgl. auch Robbers 2003a). Robbers kortnte allerdings den Verfassungsentwurf des Konvents in seinen Uberlegungen noch nicht beriicksichtigen. Die Religionsvorstellungen der EU lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Die EU als sakulare Wertegemeinschaft: Die EU versteht sich als eine Wertegemeinschaft, die selbst keine spezifische religiose Orientierung praferiert und entsprechend religios unterbestimmt, ja imgebunden ist. An keiner Stelle des Primarrechts und des Sekundarrechts finden sich Aussagen, die die EU an eine konkrete Religionsorientierung binden. Obwohl alle Mitgliedslander der EU in einer christlichen Traditionslinie stehen, enthalt der Verfassungsentwurf keinen Verweis auf das Christentum oder auf Gott. In der Praambel des Verfassungsentwurfes wird Religion an einer einzigen Stelle erwahnt. Die Union schopfe aus dem „kulturellen, religiosen und humanistischen Erbe Europas". Es gibt weder einen Bezug auf eine bestimmte Religion Europas, noch wird Religion als Legitimationsquelle definiert. Stattdessen wird in den folgenden Satzen welter spezifiziert, dass diese (auch religiosen) Traditionen Europas zu einer Verankerung von individuellen Rechten und des Rechtsstaatsprinzips gefiihrt haben. Entsprechend sind die in Teil I des Verfassungsentwurfs definierten Werte der Union und ihre Ziele allein sakulare Ziele: „Achtung der Menschenwiirde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte'' (Europaischer Konvent 2003: Artikel 2). Die Tatsache, dass sich die Union allein als eine sakulare Werteordnung versteht, ist recht umstritten, wie die Diskussionen im Verfassungskonvent, aber auch die Debatten in den einzelnen Landern gezeigt haben. Von Vertretern der katholischen Kirche und den Parteien und Regierungschefs der Lander, die der katholischen Kirche nahe stehen, bzw. Bev51kerungsteile reprasentieren, die mehrheitlich katholisch sind, ist der fehlende Bezug auf Gott und/oder das Christentum heftig kritisiert worden. Sowohl der spanische als auch der polnische Regierungschef haben den mangelnden Gottesbezug beanstandet. Der Papst hat in den vergangenen Jahren kaum ein Gesprach mit europaischen Politikern
2.1 Religionsvorstellungen der EU
61
ungenutzt gelassen, u m eine verfassungsmafiige Bezugnahme auf das Christentum zu erwirken; iind innerhalb des bundesrepublikanischen Parteienspektrums hat sich vor allem die CSU fiir eine christliche Anbindiing der EU-Verfassung ausgesprochen.^ Alle diese Bemuhimgen haben aber zu keiner Veranderung des Verfassungsentwurfs gefuhrt. 2. Individuelle und kollektive Religionsfreiheit und Toleranz gegeniiber religioser Pluralitat: Die Tatsache, dass sich die Union als sakulare Wertegemeinschaft definiert, die u. a. die individuellen Freiheitsrechte schiitzt, bedeutet eben auch, dass die Europaische Union die Religionsfreiheit der Burger schiitzt. Im Teil I des Verfassungsentwurfs, in dem die Ziele der Union definiert werden, werden u. a. Pluralismus, Toleranz und Nichtdiskriminierung als die zentralen Werte der EU beschrieben. Im Teil II der Verfassung, der die Charta der Grundrechte der Union umfasst, werden die allgemeinen Prinzipien im Hinblick auf die Religionsorientierung spezifiziert: In Artikel 11-70 wird neben der Gedanken- und Gewissensfreiheit die Religionsfreiheit verbrieft, was die Freiheit, die „Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen offentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Brauche und Riten zu bekennen" (Europaischer Konvent 2003: Artikel 11-70) umschlieiSt. Die Garantie der Freiheit individueller und kollektiver Religionsausiibung bedeutet fiir die EU, dass von jeder Religion erwartet wird, dass sie die anderen toleriert. Entsprechend erklart die EU alle Religionen als gleichwertig, sie achtet die Vielfalt der Religionen (Artikel II: 82) und verbietet Diskriminierungen aufgrund von Religion (Artikel II: 81). Analog zu Rosa Luxemburgs These, dass Freiheit stets auch die Freiheit des Andersdenkenden sei, definiert die EU die Religionsfreiheit durch die Freiheit der Andersglaubigen, soil heiiSen: durch die Forderung nach Toleranz gegeniiber religioser Pluralitat. Zur Einhaltung der Prinzipien der Religionsfreiheit und religioser Pluralitat (Nichtdiskriminierung) wird die EU ermachtigt, die notwendigen Mai?nahmen zu ergreifen. Entsprechend finden sich im Teil III des 3 Im Dezember 2003 hatte die CDU/CSU Fraktion im Bundestag den Beschlussantrag in das Parlament eingebracht, dass sich die Regierung fiir einen Gottesbezug auf dem Treffen des europaischen Rats einsetzen solle. Der Antrag wurde am 11. Dezember 2003 abgelehnt.
62
2. Religion im erweiterten Europa
Verfassimgsentwurfs, in dem die Aufgaben der Organe der EU beschrieben werden, zwei Religionsverweise: In Artikel III-118 heifit es, dass die Union bei der Festlegung der Politik darauf achtet, „Diskriminierungen aus Griinden (...) der Religion (...) zu bekampfen". Weiterhin kann der Ministerrat einstimmig, nach Zustimmung des Parlamentes, die fiir die Bekampfung von Diskriminierungen aus Griinden der Religion erforderlichen Mafinahmen durch Europaische Gesetze oder Rahmengesetze festlegen (Artikel III-124). 3. Die Prinzipien der Religionsfreiheit und Toleranz in den verschiedenen Rechtsgebieten: Die Grimdprinzipien der Religionsorientierung der EU finden sich nun operationalisiert und spezifiziert in den verschiedenen Rechtsgebieten und sind im Sekundarrecht der EU und in den verschiedenen Richtlinien rechtsverbindlich kodifiziert. Wir werden im Folgenden nur einige Punke bilanzieren (vgl. zum Folgenden Robbers 2003b): a. In der Richtlinie des Rates von 2000 iiber die „Gleichbehandlung in Beschaftigung und Beruf" wird eine Diskriminierung im Beruf aufgrund der Religionsorientierung im Grundsatz verboten. „Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung (...) konnen die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschaftigimgsniveaus und eines hohen Mafies an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualitat, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidaritat sowie die Freiziigigkeit" (Robbers 2003b: Richtlinie 2000/78). Zugleich werden Ausnahmen einer religi5sen Gleichbehandlung im Beruf definiert, die dann greifen, wenn Religionsmerkmale eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen. So wurde der katholischen Kirche hochstrichterlich erlaubt, einen Arzt, der in einem katholischen Krankenhaus angestellt war, zu entlassen, well dieser sich fiir die Legalisierung von Abtreibungen eingesetzt hatte (Robbers 2003b: 151). b. In verschiedenen Richtlinien schiitzt die EU die aus der unterschiedlichen Religionsorientierung folgenden unterschiedlichen alltaglichen Praktiken innerhalb und aufierhalb des Berufs. I. So kann jedes Mit-
2.1 Religionsvorstellimgen der EU
63
gliedsland selbst entscheiden, ob imd inwiefem der Sonntag Ruhezeit sein muss. II. In der Fleischverordnung der EU ist festgelegt, dass vor religiosen Festen die Schlachtquoten zur Bereitstellung von ausreichend Schaf- und Ziegenlammem iiberschritten werden diirfen. III. Allgemein ist dafiir zu sorgen, dass Tieren bei der Schlachtung Schmerzen und Leiden erspart werden. Um den Vorschriften bestimmter Religionsgemeinschaften Rechnung tragen zu k5nnen, diirfen aber Ausnahmen gemacht werden. Entsprechend ist auch das normalerweise verbotene Aufblasen eines Organs erlaubt, wenn es von den Vorschriften bestimmter Religions gemeinschaf ten gefordert wird. c. Die Ubertragung von Gottesdiensten darf nicht durch Werbung oder Teleshopping unterbrochen werden. Das Gleiche gilt fiir andere Sendungen religiosen Inhaltes mit Sendezeit unter 30 Minuten. Aufierdem diirfen Fernsehsendungen nicht zu Diskriminierung aufgrund von Religionszugehorigkeit aufstacheln oder Fernsehwerbung religiose Uberzeugungen verletzen. d. Schliefilich hat die EU noch gesonderte Mehrwertsteuer- und Zollbestimmungen fiir Cerate, die fiir religiose Zwecke gedacht sind (z. B. Kreuz und Rosenkranz). Alle diese konkreten Richtlinien leiten sich aus den unter Punkt 1. und 2. genannten Grundprinzipien ab: Die EU versteht sich als sakulare Wertegemeinschaft, die keinen konkreten Religionsbezug aufweist, zugleich die Religionsfreiheit von Individuen und Religionsgemeinschaften schiitzt, aber auch die Grenzen einer jeden Religionsgemeinschaft durch die Prinzipien Toleranz und Nicht-Diskrimtnierung klar definiert. Die Union weist der Religion ihren ausdifferenzierten Platz in der Gesellschaft zu und schiitzt diesen; sie versteht sich selbst aber als einen sakularisierten Verband von Gesellschaften, die die Trennung von Politik, Gesellschaft und Religion institutionalisiert haben.'*
4 Dass die liberale Vorstellung der institutionellen und kulturellen Trennung von Kirche und Religion als Hegemonie sakularer Vorstellungen interpretiert werden kann, die nicht weniger partikular sind als religiose Vorstellungen, ist von einigen Theoretikem der politischen Philosophie gezeigt worden (vgl. dazu die Zusammenfassung in Willems 2003).
64
2. Religion im erweiterten Europa
2.2 Die Religionsorientierung der Burger Wir warden im Folgenden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Religionsorientierungen der Burger der Mitglieds- und Beitrittslander der EU auf der Basis der Auswertung von Umfrageergebnissen beschreiben. Wir tun dies in zwei Schritten. In einem ersten Schritt werden wir einige Grundinformationen liber religiose Unterschiede, und Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die aber noch nicht auf den Referenzpunkt der Vorstellungen der EU bezogen sind. Erst in einem zweiten Schritt werden wir die Vorstellungen der EU, wie wir sie im letzten Kapitel herausgearbeitet haben, als „benchmark" benutzen, um zu priifen, ob und in welchem Mafie die Burger in den verschiedenen Landern mit diesen Vorstellungen iibereinstimmen.
2.2.1 Grundinformationen iiber die Religionsorientierung der BUrger Es gibt in der Literatur verschiedene Vorschlage der Dimensionierung von Religiositat. Eine der wichtigsten Unterscheidungen differenziert zwischen Kirchlichkeit einerseits und individueller Religiositat andererseits (vgl. z. B. Jagodzinski und Dobbelaere: 1993). Wahrend sich Kirchlichkeit auf die Mitgliedschaft und die Teilhabe an kirchlichen Aktivitaten bezieht, beschreibt individuelle Religiositat die subjektive Religiositat unabhangig von den kirchlichen Organisationen. Diese Unterscheidung ist vor allem in der Debatte iiber Sakularisierungsprozesse bedeutsam. So gehen einige Theoretiker davon aus, dass es in westlichen Gesellschaften einen Riickgang von Kirchlichkeit gegeben hat, nicht aber einen Riickgang der individuellen Religiositat. Wolfgang Jagodzinski und Karel Dobbelaere konnten anhand empirischer Studien den enormen Bedeutungsverlust des Religiosen vor allem in den 60er und 70er Jahren nachweisen (1993). Dieses Ergebnis wird von Detlev Pollack und Gert Pickel
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
65
(2003) fiir Ost- und Westdeutschland bestatigt. Zugleich zeigen die Autoren, dass auch der Grad der individuellen Religiositat riicklaufig ist.^
2.2.1.1
Kirchlichkeit und institutionalisierte Religiositat
Tabelle 2.1 gibt die Mitgliedschaftsraten der Biirger in den verschiedenen Religionsgemeinschaften auf der Basis der Auswertung der Europaischen Wertestudie wieder. Die Daten weichen fiir manche Lander von den Ergebnissen anderer Umfragen, aber auch von Angaben, die man in der „Encyclopaedia Britannica" findet, ab. Die Informationen aus der „Encyclopaedia Britannica" scheinen uns aber nicht sehr zuverlassig zu sein. Die dort angegebenen Werte fiir Deutschland weichen z. B. deutlich von den Angaben, die man beim Statistischen Bundesamt findet, ab. Zuverlassige Zahlen iiber die Mitgliedschaftsraten in den Religionsgemeinschaften in den verschiedenen europaischen Landern scheint es nicht zu geben. Die Biirger der jetzigen EU sind, wenn sie Mitglieder einer Kirche sind, in erster Linie Mitglieder der katholischen oder protestantischen Kirche. Eine Ausnahme bildet Griechenland. Die Biirger der zweiten Beitrittsrunde (Bulgarien und Rumanien) sind in erster Linie Mitglieder der orthodoxen christlichen Kirche, wobei Bulgarien iiber eine moslemische Minderheit verfiigt.^ Die Tiirkei weicht dann nochmals von der Religionsfiguration ab, well fast die gesamte Bevolkerung muslimischen Glaubens ist und insofern nicht zu den christlichen Religionsgemeinschaften gehort.
5 Eine aktuell populare Erklamng geht davon aus, dass in Europa vor allem fehlende Marktmechanismen (staatliche Bevorzugung bestimmter Konfessionen, fehlender Pluralismus) im Bereich der Religion zu einer mangelnden Nachfrage fiihren (Finke und Stark 1992; Stark 2000; Chaves und Cann 1992). Pollack und Pickel konnten die gemachten Annahmen allerdings empirisch fiir Europa widerlegen (2000), Voas et al. (2002) zeigen methodische Einwande auf. 6 Es handelt sich dabei grofitenteils um eine tiirkische Minderheit, die sich vor allem in den ostlichen Regionen Bulgariens findet.
2. Religion im erweiterten Europa
66 Tabellel.l:
EU-15 Irland Portugal Italien Spanien Osterreich Luxemburg Belgien Frankreich Danemark Finnland Schweden GroEbritannien Deutschl.-West Deutschl.-Ost Niederlande Griechenland Beitritt I Malta Polen Litauen Slowenien Slowakei Estland Tschechien Ungarn Lettland Beitritt II Bulgarien Rumanien Tiirkei
Mitgliedschaftsraten in Religionsgemeinschaften Katholisch
Protestantisch
ChristlichOrthodox
Muslimisch
42,1 89,0 85,9 81,5 80,8 80,6 65,1 55,3 52,7 0,8 0,1 1,6 13,8 39,3 3,4 22,1 1,5 54,1 97,7 94,1 75,1 66,4 64,2 0,4 29,8 39,2 19,6 3,9 7,5 0,3
24,2 2,0 0,3 0,3 0,9 5,2 0,2 1,2 1,3 87,1 84,2 68,9 57,4 41,3 28,0 10,1
6,2 0,2
0,6
-
-
7,1 0,9 0,3 1,3 0,3 11,2 13,1 3,8 16,2 17,0 1,4 2,0 0,7
0,1 0,7 0,4 0,4 1,2 1,1 0,5 0,2 0,5 0,3 93,8 3,6 0,3 3,0 1,6 0,8 9,8 0,1 0,2 16,8 73,0 85,6 60,5 0,1
0,3 0,2 0,6 3,1 0,1 0,5 0,4 0,9 2,1 0,2 1,1 0,2 0,1 1,1 0,1
0,1 4,2 8,3
-
97,5
Nicht Mitglied in einer Religionsgem. 23,6 6,9 11,4 17,9 18,0 12,5 30,4 35,7 42,6 10,1 11,7 25,3 15,0 14,2 66,0 55,0 4,0 33,5 1,3 4,6 19,5 30,0 23,1 75,8 64,942,340,8 16,2 2,529,9 2,3
Andere
3,3 1,9 2,4 0,3 0,0 0,9 3,3 4,4 2,1 1,6 2,9 3,3 12,7 2,7 2,1 11,8 0,7 1,5 0,1 0,7 1,2 0,6 0,8 0,8 1,4 2,0 5,8 4,2 2,5 0,2 0,1
« Ein Vergleich mit anderen Datensatzen (ISSP 1998, WVS 1995-97) zeigt fiir Tschechien und Ungarn deutliche Abweichungen. Tschechien weist im ISSP lediglich einen Anteil an Nichtkonfessionellen von 43,5 % auf, Ungarn nur 27,2 %. In beiden Landern erhohen sich ziemlich genau die Anteile der Katholiken um die entsprechende Differenz. Fiir Bulgarien wird hingegen ein hoherer Anteil an Nichtkonfessionellen genannt (ISSP: 12,8 %, WVS sogar 33,2 %). Da wir aber keine zusatzlichen Daten zur Verfiigung haben, die eine Entscheidung iiber die zutreffenden Zahlen erlauben, verwenden wir die Daten aus dem EVS weiter.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
67
Im Hinblick auf die Dimension „Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften" ergibt sich also eine Dreiteilung: Die alten EU-Lander und die Lander der ersten Beitrittsriinde (wobei diese zum Teil einen hohen Anteil an Konfessionslosen aufweisen) bilden eine Gruppe, die Lander der zweiten Beitrittsrunde bilden die Gruppe der orthodoxen Christen und die Tiirkei bildet die dritte G r u p p e / Die Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften besagt noch nicht, dass die Mitglieder auch an den Aktivitaten ihrer Kirche partizipieren und in die Institutionen ihrer Kirche eingebunden sind. Gerade fiir die Bundesrepublik wissen wir, dass die Burger weiterhin in einem hohen Mafie Mitglieder einer Kirche sind, aber in einem zunehmenden Mafie nicht mehr an den Aktivitaten der Kirche teilnehmen. Ein guter, well bewahrter Indikator zur Messung der Integration der Glaubigen in „ihre" Kirche ist die Haufigkeit des Kirchgangs.^ Tabelle 2.2 zeigt uns, dass die Kirchgangshaufigkeit in den verschiedenen Landern recht unterschiedlich ist.^
7 Die Zeit des Staatssozialismus hat in alien mitteleuropaischen Landern zu einer Reduzierung des Mitgliederbestands in den Kirchen gefiihrt, wie Olaf Miiller, Gert Pickel und Detlef Pollack (2003) gezeigt haben. Zugleich weisen die Autoren nach, dass es zwischen den Konfessionen grofie Unterschiede gibt, insofern es der katholischen Kirche weit besser als der evangelischen Kirche gelang, ihren Mitgliederanteil zu stabilisieren. 8 Der Indikator fiir die Kirchgangshaufigkeit umfasst insgesamt acht Kategorien von „niemals" (1) bis „mehrmals wochentlich'' (8). 9 Die Kirchgangshaufigkeiten, aber auch andere Religiositatsmessungen in den friiheren sozialistischen Gesellschaften waren in den letzten 15 Jahren grofien Schwankungen ausgesetzt (vgl. Pollack 2003). Vor und nach der Transformation dieser Gesellschaften von sozialistischen zu demokratischen Regimen erfuhren die Kirchen haufig Zulauf und Anerkennung durch die Burger. Dies ist vor allem auf die politische Oppositionsrolle der Kirchen wahrend des Sozialismus in einigen sozialistischen Landern zuriickzufiihren. Die Hinwendung der Burger zu den Kirchen hat sich aber dann zuriickentwickelt, so dass man fiir den Zeitpunkt der Erhebung der Daten der Wertestudie (1999/2000) von einer Normalisierung sprechen kann.
2. Religion im erweiterten Europa
68 Tabelle 2.2:
Haufigkeit des Kirchgangs
EU-15 Irland Italien Portugal Osterreich Spanien Griechenland Finnland Danemark Deutschland-West Luxemburg Frankreich Deutschland-Ost Grofibritannien Niederlande Belgien Schweden Beitritt I Malta Polen Slowakei Litauen Estland Lettland Slowenien Tschechien Ungarn Beitritt II Rumanien Bulgarien Turkei
Einmal im Monat und haufiger 30,6 74,6 53,6 53,2 42,9 36,0 33,6 12,5 11,9 34,7 30,4 12,3 13,4 18,7 25,1 27,8 9,1 37,0 87,2 78,1 49,8 28,9 10,8 15,1 30,7 12,7 17,9 34,2 46,4 21,9 41,2
Seltener als einmal im Monat 36,2 17,6 32,5 31,0 40,6 32,5 61,7 59,4 45,4 41,5 36,3 27,2 29,4 26,2 26,9 25,9 45,2 34,9 8,9 16,0 27,1 53,5 50,9 50,4 39,2 31,1 38,1 49,2 46,1 52,3 26,5
Nie 33,2 7,7 13,9 15,8 16,5 31,5 4,6 28,2 42,7 23,7 33,3 60,4 57,2 55,1 48,1 46,3 45,7 28,1 3,9 5,9 23,1 17,5 38,3 34,6 30,1 56,1 44,0 16,7 7,5 25,8 32,3
Betrachtet man zuerst die Aggregatkategorien, dann sieht man, dass die Kirchgangshaufigkeit in den alten EU-Landem am niedrigsten ist, in den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde etwas hoher liegt und in
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
69
der Tiirkei am hochsten ist.^o Ein Blick auf die Landerunterschiede zeigt aber, dass die Intensitat der Integration in die Kirchen nicht entlang der verschiedenen Stufen der Mitgliedschaft in die EU verlauft, sondern von der Dominanz verschiedener Religionsgemeinschaften abhangt.^^ Lander mit sehr hohem Katholikenanteil haben in der Kegel eine hohe Kirchgangshaufigkeit (Ausnahmen bilden Frankreich und Luxemburg). An zweiter Stelle rangieren die Lander mit hohen Anteilen von Blirgern orthodox-christlichen und moslemischen Glaubens, an letzter Stelle die protestantischen Lander oder die Lander mit hohen Anteilen Konfessionsloser. Die Tatsache, dass die vier Landergruppen eine unterschiedliche Zusammensetzung von Religionsgemeinschaften haben, fiihrt im Aggregat dann zu den beschriebenen Unterschieden.
2.2.1.2
Individuelle Religiositat
Ganz unabhangig von der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft und der Teilnahme an deren Praktiken konnen Menschen religios sein. Wir konnen zur Operationalisierung individueller Religiositat auf zwei haufig benutzte Fragen zur Messung des Konstrukts „ individuelle Religiositat" zuriickgreifen. So wurde einerseits gefragt, ob man an Gott glaubt (Antwortalternativen: ja / nein), und andererseits, ob man sich selbst als religids einstuft (Antwortmoglichkeiten: „religioser Mensch", „kein religioser Mensch", „uberzeugter Atheist").
10 Fiir diese und alle folgenden Aggregatvergleiche wurde jeweils eine Varianzanalyse durchgefiihrt. Soweit nicht anders ausgewiesen, unterscheiden sich die Gruppen signifikant auf dem 1 %-Niveau. Bei der Kirchgangshaufigkeit unterscheiden sich die zweite Beitrittswelle und die Tiirkei nicht signifikant voneinander. 11 Pollack und Pickel (2003) zeigen in ihrer Analyse christlicher Lander, dass die Kirchgangshaufigkeit vor allem vom Anteil der Katholiken abhangt. Diese sind im Unterschied zu den Protestanten und den Orthodoxen traditionell starker an ihre Kirche gebunden (Need und Evans 2001).
70 Grafik 2.1:
2. Religion im erweiterten Europa Glaube an Gott (% ja)
2.2 Die Religionsorientieriing der Burger Tabelle 2.3:
Religiose; Selbsteinschatzimg (in %)
EU-15 Portugal Italien Osterreich Griechenland Danemark Irland Belgian Finnland Deutschland-West Luxemburg Spanien Frankreich Grofibritannien Schweden Deutschland-Ost Beitritt I Polen Litauen Slowakei Lettland Malta Slowenien Ungarn Tschechien Estland Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
71
Religios 63,7 87,6 85,8 80,9 79,7 76,5 76,4 65,0 64,1 62,1 62,1 61,4 58,9 46,3 41,5 38,8 29,4 69,8 93,9 84,2 81,7 76,8 75,3 70,1 57,5 44,6 41,2 68,8 84,8 52,0 79,7
Nicht religios 29,9 9,3 11,5 17,4 15,7 18,1 22,3 26,6 32,7 33,5 30,2 32,2 34,6 39,1 53,2 54,6 48,9 25,8 4,5 13,9 13,9 20,3 24,5 21,3 36,9 46,6 52,0 27,6 14,4 41,5 18,8
Uberzeugter Atheist 6,5 3,1 2,7 1,8 4,6 5,4 1,2 8,4 3,2 4,4 7,7 6,5 6,5 14,6 5,4 6,6 21,7 4,5 1,6 1,9 4,4 2,8 0,2 8,6 5,6 8,8 6,8 3,6 0,8 6,6 1,5
Beide Indikatoren kommen zu einem ahnlichen Ergebnis.i^ Schaut man sich die Verteilung im Hinblick auf die vier Aggregatskategorien an, dann sieht man, dass der Grad der Religiositat in den alien Mitgliedslan12 Die Korrelation zwischen beiden Variablen betragt ,70 (Pearson's Korrelation) und ist signifikant (0,01).
72
2. Religion im erweiterten Europa
dern imd den Landern der ersten Beitrittsrunde ungefahr gleich hoch ist, die Lander der zweiten Beitrittsrunde, vor allem aber die Tiirkei die hochsten Religiositatsraten aufweisen. Diese Unterschiede sind auf die unterschiedliche Dominanz der verschiedenen Religionsgemeinschaften in den Landern zuriickzufiihren. Die muslimische Tiirkei, die orthodoxchristlichen Lander und die katholischen Lander weisen eine recht hohe Religiositat auf, wahrend die protestantischen Lander und die Lander mit iiberdurchschnittlichen Anteilen an Konfessionslosen eine deutlich geringere individuelle Religiositat aufweisen. Wir erhalten also im Hinblick auf die individuelle Religiositat ahnliche Ergebnisse wie beziiglich der institutionalisierten Religiositat gemessen durch die Kirchgangshaufigkeit. Dies spiegelt sich auch in einer durchgefiihrten Korrelationsanalyse wider. Der statistische Zusammenhang zwischen Kirchgangshaufigkeit und dem Glauben an Gott und der zwischen Kirchgangshaufigkeit und der religiosen Selbsteinschatzung betragt jeweils ,51 (Pearson's Korrelation, signifikant auf dem Niveau von 0,01). Dieser Befund widerspricht, nebenbei bemerkt, der These, dass institutionalisierte Religiositat durch individuelle Religiositat ersetzt wird (zu einem ahnlichen Ergebnis kommen Pollack und Pickel 2003). Gleichzeitig ist zu erkennen, dass die, haufig als europaische Besonderheit beschriebene, Sakularisierung (z. B. Hervieu-Leger 1999), sei es nun im Sinne eines Verlusts von institutionalisierter oder individueller Religiositat, nicht besonders weit fortgeschritten zu sein scheint. In fast alien Landern (deutlichste Ausnahme ist Ostdeutschland) findet sich weiterhin eine Mehrheit, die einer Konfession angehort, an Gott glaubt und sich nicht als atheistisch bezeichnet. Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Wahrend die Burger der EUMitgliedslander in erster Linie Mitglieder der katholischen, dann der protestantischen Kirche bzw. konfessionslos sind, wird sich das Religionsgeftige der EU mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumanien einerseits und der Tiirkei andererseits verschieben, insofern mit den Landern der zweiten Beitrittsrunde Burger orthodox-christlichen Glaubens beitreten, mit der Tiirkei bekanntermafien ein komplett muslimisches Land. Ahnlich verhalt es sich mit dem Grad der individuellen Religiositat. Katholiken, Muslime und die orthodoxen Christen weisen die hochsten
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
73
Kirchgangsraten und die starkste individuelle Religiositat auf. Da die Tiirkei muslimisch ist und die Rumanen orthodox-christlichen Glaubens sind, die Lander der EU hingegen iiber hohe Anteile an Protestanten und Konfessionslosen verfiigen, die weniger kirchengebunden und religios sind, wird sich das Niveau der Religiositat in der EU nach einem Beitritt dieser Lander nach oben verschieben. Ob damit auch politische Fragen starker religios interpretiert werden, ist eine offene Frage. Da sich die EU, wie wir im Kapitel 2.1 gesehen hatten, als sakulare Wertegemeinschaft versteht, die keine Religionsgemeinschaft praferiert, ist die Aufnahme von Landern, die orthodox-christlich bzw. muslimisch sind oder unterschiedliche Grade an Religiositat aufweisen, komplett mit den Wertekriterien der EU vereinbar. Nicht oder weniger vereinbar ware dies, wenn aus der Religionsausrichtung und der Religiositat Handlungsdispositionen folgten, die eine Trennung der Spharen von Religion und Gesellschaft einerseits und das Prinzip der Toleranz gegenliber anderen Religionen anzweifelten. Ob dies der Fall ist, werden wir im Folgenden priifen.
12.1
Unterschiede zwischen den Religionsvorstellungen der EU und den Religionsvorstellungen der Burger in einer erweiterten EU
Wir hatten gesehen, dass sich die EU als eine sakulare Wertegemeinschaft versteht, die zugleich die Religionsfreiheit von Individuen und Kirchen garantiert. Dieses kulturelle Selbstverstandnis bedeutet, dass sich die EU einerseits fiir eine Trennung der Spharen von Gesellschaft und Religion ausspricht und damit Religion zur Privatsache erklart, andererseits eine wechselseitige Toleranz zwischen den Religionsgruppen erwartet. Ob und in welchem Mafie diese Wertevorstellungen durch die Burger unterstiitzt werden, wollen wir im Folgenden priifen. Wir untersuchen einerseits, ob die Biirger eine Trennung von Religion und Welt unterstiitzen, und andererseits, ob sie sich gegeniiber anderen Religionsgruppen als tolerant erweisen.
74 2.2.2.1
2. Religion im erweiterten Europa Trennimg von Religion und Welt
Wir unterscheiden drei Dimensionen der Trennimg von Religion und gesellschaftlichem Leben. Zum Zwecke einer Vereinheitlichung der Begriffe bezeichnen wir die Oberdimension als „ Trennimg von Religion und Welt", die durch drei Subdimensionen genauer spezifiziert wird. a. Auf einem sehr generalisierten Niveau manifestiert sich die Trennimg von Religiositat und Welt auf der Ebene des Individuums in der Trennimg zwischen religioser und aufierreligioser Lebensfiihrimg. Wir operationalisieren diese Dimension zum einen durch die Frage nach der Wichtigkeit Gottes fiir das gesamte Leben des Befragten. Die Frage wurde mit Hilfe einer lOer-Skala erhoben, die von „u[berhaupt nicht wichtig" bis zu „sehr wichtig" reicht. In der Tabelle 2.4 sind zum einen die Mittelwerte angegeben, zum anderen die Prozentsatzwerte fiir die Auspragung „sehr wichtig" (Punkt 10 auf der lOer-Skala). Wir operationalisieren die generalisierte Einstellung zur Trennimg von Religion und Lebenswelt zweitens durch die Frage, wie wichtig dem Befragten Religion in seinem Leben ist. Diese Frage wurde mit Hilfe von vier Antwortalternativen erhoben (iiberhaupt nicht wichtig, nicht wichtig, wichtig, sehr wichtig). Wir geben auch hier die Mittelwerte und die Prozentsatzwerte fiir die Auspragung „sehr wichtig'' wieder. Im Hinblick auf beide Fragen ergibt sich ein ahnlicher Befimd. Die Wichtigkeit von Gott und Religion steigt mit der Entfemimg der (moglichen) Aufnahme in die Europaische Union. Wahrend fiir die EU-Biirger Gott und Religion fiir die eigene Lebensfiihrimg keine sehr hohe Wichtigkeit haben, steigt diese Bedeutimg fiir die Biirger der zweiten Beitrittsrimde (und hier vor allem fiir die Rumanen) und ist besonders bedeutsam fiir die Tiirken.^^ Qig Trennimg von Religion und Lebensfiihrimg ist in diesen Fallen nicht sehr weit gediehen. Auf der disaggregierten Ebene der Lander sieht man, dass dieses Ergebnis wiederum durch die Starke verschiedener Religionsgemeinschaften in einem Land bestimmt ist.
13 Die Differenz zwischen EU-Mitgliedslandem und Beitritt I sind fiir die Frage nach der Wichtigkeit der ReHgion im Leben nur auf dem 5 %-Niveau signifikant.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger Tabelle 2.4:
75
Trennung von Religiositat und eigener Lebensfiihrung
5,66 4,3 4,9 5,5
18,4 8,3 13,8 9,1
2,42 2,17 2,19 2,24
Wichtigkeit der Religion fiir das Leben (Prozentsatz sehr wichtig'O 17,9 10,6 12,6 9,3
3,2
4,5
1,62
3,8
6,6 7,4 5,9 7,8 4,9 5,3 4,0 4,0 5,7 7,7 7,3 5,4 6,08 4,1 5,6 6,5 8,3 3,7 6,6 5,2 9,1 5,0 6,91 8,6 5,1 9,34
26,0 33,1 18,1 36,7 11,1 18,7 6,6 8,9 14,7 39,8 30,6 14,9 27,3 7,0 15,0 26,5 52,3 9,6 29,9 20,6 67,8 14,9 35,4 56,0 14,4 80,9
2,60 2,97 2,29 2,97 2,27 2,43 2,05 2,24 2,35 3,07 2,90 2,34 2,51 1,90 2,19 2,60 3,25 1,84 2,64 2,34 2,23 3,56 2,84 3,25 2,42 3,73
21,4 33,0 14,9 28,2 16,5 20,7 7,9 10,8 12,1 37,6 32,9 14,8 23,1 5,4 10,7 12,2 44,9 8,3 26,8 19,0 67,1 12,2 34,1 51,3 16,3 81,9
Wichtigkeit Got- Wichtigkeit Gottes Wichtigkeit der tes fiir das Leben fiir das Leben Religion fiir das (Mittelwert) (Prozentsatz Leben „sehr wichtig'') (Mittelwert) EU-15 Frankreich GroiSbritannien DeutschlandWest DeutschlandOst Osterreich Italien Spanien Portugal Niederlande Belgien Danemark Schweden Finnland Irland Griechenland Luxemburg Beitritt I Estland Lettland Litauen Polen Tschechien Slowakei Ungarn Malta Slowenien Beitritt II Rumanien Bulgarien Ttirkei
b. Die europaische Wertestudie enthalt drei Fragen, die die Relevanz der Religion zur Losung von gesellschaftlichen Problemen aus der Perspekti-
76
2. Religion im erweiterten Europa
ve der Befragten erheben (Tabelle 2.5).^^ Wir interpretieren diese drei Fragen als eine Messimg einer Trennung von Religion imd Gesellschaft. Je starker Befragte glauben, dass Religion Antworten und Losungen fiir gesellschaftliche Probleme liefem kann, desto geringer ist die subjektive Trennung der Spharen Religion und Gesellschaft fiir den Befragten. Gefragt wurde, ob die Kirche Antworten auf moralische Probleme, Probleme in der Familie und soziale Probleme liefern kdnne (Antwortalternativen: ja oder nein).^^ Wir erhalten auch hier einen ahnlichen Befund wie in Tabelle 2.4. Die Mehrheit der Biirger der alten Mitgliedslander erwartet von der Kirche keine Losungen gesellschaftlicher Probleme.^^ Dies sehen die Burger der Beitrittslander deutlich anders.^^Mit der Entfemung zur EU steigt die Vorstellung, dass Religion gesellschaftliche Probleme losen kann. Entsprechend ist die Trennung von Religion und Gesellschaft - gemessen durch die Erwartung der Losung gesellschaftlicher Probleme durch die Kirche - bei den Tiirken am geringsten.
^4 Die Umfrage enthalt eine vierte Frage, in der nach der Relevanz der Religion fiir geistige Probleme gefragt wurde. Wir haben diese Frage hier nicht ausgewertet, weil sie eher eine innerreligiose Handlungsrelevanz von Religion zu messen scheint. 15 Die Korrelationen zwischen den drei Fragen liegen zwischen Eta ,52 und ,69. 16 Auffallig ist, dass der Kirche die Losung sozialer Probleme praktisch in alien Landern am wenigsten, fiir den Bereich der Moral dagegen am starksten zugetraut wird. Dies ist insofern verstandlich, als die Moral eine klassische Domane der Religion darstellt (vgl. Pickel und Kruggeler 2001). 17 Bei der Frage nach Antworten auf soziale Probleme unterscheiden sich sowohl die beiden Beitrittsrunden als auch die erste Beitrittsrunde und die bisherigen EU-Mitglieder nicht signifikant voneinander.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger Tabelle 2.5:
77
Trennung von Kirche und Gesellschaft (Zustimmimg in %)
...moralische Probleme" „Kirche weifi Antworten auf... 39,0 EU-15 Frankreich 35,3 Grofibritannien 32,5 53,6 Deutschland-West 34,6 Deutschland-Ost 37,8 Osterreich Italien 61,8 Spanien 39,9 Portugal 56,0 35,2 Niederlande Belgien 36,2 Danemark 20,0 Schweden 25,6 Finnland 42,0 31,8 Irland Griechenland 43,1 Luxemburg 33,0 Beitritt I 56,5 Estland 44,7 Lettland 58,2 Litauen 81,3 Polen 65,6 Tschechien 36,8 Slowakei 68,2 Ungarn 44,8 Malta 66,6 Slowenien 44,9 Beitritt II 63,6 Rumanien 80,7 Bulgarien 44,5 76,2 Tiirkei
...Familienprobleme' '
...soziale Probleme"
31,5 27,3 30,2 41,6 26,7 28,5 47,7 35,1 45,0 29,6 32,6 15,0 18,3 39,9 29,0 30,6 24,2 53,0 30,1 47,9 78,8 64,4 32,1 63,8 38,9 75,0 42,8 54,8 78,5 28,8 67,2
27,8 20,9 26,5 35,8 15,3 30,7 43,5 28,9 36,8 37,0 27,1 11,5 16,9 29,9 28,4 31,0 23,4 32,8 14,1 26,3 54,2 40,5 16,7 29,7 23,3 57,0 33,8 32,8 52,2 13,9 43,7
Diese Aggregatsinterpretation, die fiir sich sinnvoll ist, darf aber zugleich nicht dariiber hinwegtauschen, dass die Landerunterschiede beachtlich sind. In Landern mit einem hohen Anteil an Muslimen ist die Trennung von Gesellschaft und Religion am schwachsten, gefolgt von Landern mit einem hohen Anteil orthodoxer Christen, wiederum gefolgt von Landern
78
2. Religion im erweiterten Europa
mit einem hohen Katholikenanteil. In protestantischen Landern imd Landern mit hohen Anteilen an Konfessionslosen scheint die Trennung von Kirche und Gesellschaft am starksten vollzogen zu sein. c. SchlieiSlich bietet die Wertstudie noch die Moglichkeit zu priifen, in welchem Ausmai? die Burger glauben, dass Religion und Politik getrennte Spharen sein sollen. Von den drei verschiedenen Dimensionen der Messung der Trennung von Religion und weltlichen Angelegenheiten ist diese Dimension diejenige, die den Vorstellungen der EU am nachsten kommt. Die Interviewten wurden zum einen gefragt, ob sie der Ansicht seien, dass Politiker, die nicht an Gott glauben, ungeeignet fiir ein politisches Amt sind. Weiterhin wurden sie gefragt, ob sie glaubten, dass es besser fiir das Land sei, wenn mehr Menschen mit einer starken religiosen Uberzeugung offentliche Amter innehaben.^^ Zur Beantwortung beider Fragen standen fiinf Antwortalternativen zur Verfligung (stimme liberhaupt nicht zu, stimme nicht zu, weder noch, stimme zu, stimme voll zu). Tabelle 2.6 gibt die Mittelwerte und die Prozentsatze der addierten beiden Zustimmungen wieder.^^
^^ Die Wertestudie enthalt noch zwei andere Fragen, die theoretisch zur Messung der Trennung von Religion und Politik in Frage gekommen waren, die wir aber nicht beriicksichtigt haben. Die Burger wurden gefragt, ob sie der Meinung sind, dass Religionsfiihrer politische Wahlen und politische Entscheidungen beeinflussen sollen. Sowohl eine Korrelationsanalyse als auch eine Faktorenanalyse zeigen, dass diese beiden Fragen offensichtHch eine andere Dimension messen als die von uns ausgewahlten beiden Fragen. 19 Die Korrelation zwischen beiden Fragen betragt ,62 (Pearson's Korrelation auf einem Signifikanzniveau von 0,01).
2.2 Die Religionsorientierimg der Burger Tabelle 2.6:
Trenniing von Kirche iind Politik „Politiker soUten an Gott glauben''
(Mittelwert) EU-15 Frankreich Grofibritannien Deutschland-West Deutschland-Ost Osterreich Italien Spanien Portugal Niederlande Belgien Danemark Schweden Finnland Irland Griechenland Luxemburg
Beitritt I Estland Lettland Litauen Polen Tschechien Slowakei Ungam Malta Slowenien Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
79
2,08 1,70 2,10 2,24 1,96 2,14 2,40 2,21 2,26 1,56 1,70 1,53 1,72 2,25 2,40 3,07 2,11 2,43 2,41 2,64 2,62 2,35 2,06 2,51 2,11 3,06 2,10 3,06 3,46 2,67 3,52
(Prozentsatz der Zustimmung) 12,2 9,2 9,7 17,6 7,7 15,1 15,0 9,5 14,5 1,7 9,1 3,7 4,0 11,9 16,2 37,3 13,1 18,4 13,9 22,2 20,4 15,9 6,3 22,0 12,4 41,7 10,7 38,7 52,0 24,9 62,3
„Es ist besser fiir das Land, wenn Leute mit starkem Glauben offentliche Amter inne haben'' (Mittelwert) 2,41 1,98 2,46 2,74 2,26 2,64 2,68 2,54 2,69 2,17 2,15 1,66 2,09 2,41 2,65 3,04 2,45 2,82 2,77 3,19 3,10 2,79 2,23 3,01 2,52 3,59 2,16 3,31 3,76 2,86 3,42
(Prozentsatz der Zustimmung) 18,8 12,7 16,7 29,7 15,9 26,6 22,2 16,4 25,4 11,8 17,8 5,6 8,8 15,4 24,1 32,0 20,0 31,3 25,0 43,8 36,8 29,3 9,5 37,0 23,1 64,5 12,3 47,2 64,7 28,9 57,1
Die Ergebnisse der beiden Tabellen kommen uns bereits bekarmt vor: Die Idee der Trennung zwischen Religion und Politik ist in den jetzigen Mit-
80
2. Religion im erweiterten Europa
gliedslandern der EU eine von den Biirgern deutlich akzeptierte Vorstellung, sie findet weniger Zustimmung in den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde (vor allem nicht in Rumanien), wird aber am deutlichsten von den Biirgern der Tiirkei abgelehnt. Diese glauben mehrheitlich, dass politisches Handeln religios angeleitet sein soil und gehen davon aus, dass Religion auf viele politische AUtagsprobleme die richtige Losiang parat hat. Insofern erweisen sich die Tiirkei und Rumanien in dieser Dimension als die am wenigsten mit den Werten der EU iibereinstimmenden Lander.
2.2.2.2
Toleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften
Wir hatten gesehen, dass die Garantie der Freiheit individueller und kollektiver Religionsausiibung fiir die EU umgekehrt bedeutet, dass von jeder Religionsgemeinschaft und ihren Mitgliedern erwartet wird, dass sie die andere toleriert. Die Europaische Wertestudie enthalt leider nur eine einzige Frage, die zur Operationalisierung der Dimension ,, Toleranz" gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften herangezogen werden kann, und auch dies nur mit Einschrankungen. In fast alien Landern wurde gefragt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Moslem in der Nachbarschaft lebe oder nicht. Leider wurde eine sinngemafie Frage in der Tiirkei nicht gestellt. AUerdings wurde in alien Landern gefragt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Jude in der Nachbarschaft leben wiirde. Aufgrund der Datenlage sind wir gezwungen, allein diese Frage als Messung der Toleranzorientierung der Biirger auszuwahlen.^o Die Toleranz gegeniiber Juden ist in den alten Mitgliedslandern der EU sehr weit verbreitet und gehort damit zu den festen kulturellen Bestandteilen der EU-Bevolkerung. Dies gilt ebenfalls, wenn auch in einem deutlich geringeren MaiSe, fiir die Lander der ersten und zweiten Beitrittsrunde. Ein Fiinftel der Bevolkerung erweist sich bei letzteren als nicht tolerant gegeniiber Juden. Deutlich anders sieht die Situation in der 20 Aufgrund einer abweichenden Frageformulierung sind die Angaben fiir Ungam vermutlich etwas liberschatzt.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
81
Tiirkei aus. Hier sind es liber 60 % der Befragten, die keine Juden als Nachbarn wlinschen. Grafik 2.2:
Intoleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften (in %)
82
2. Religion im erweiterten Europa
Nun muss man diesen Befund mit Vorsicht interpretieren, da der hier benutzte Indikator eine mehrdeutige Messung von Religionstoleranz darstellen kann. Man kann vermuten, dass die Frage nach der Toleranz gegentiber Juden auch und gerade in moslemischen Landern antiisraelische Einstellungen misst, die sich aus der Politik Israels gegentiber den Palastinensem speisen. Andererseits spricht folgende empirische Analyse fiir die These, dass der Indikator eine generalisierte Toleranz gegentiber anderen Religionsgemeinschaften misst. Der Korrelationskoeffizient zwischen der Einstellung gegentiber Juden als Nachbarn und Moslems als Nachbarn (nicht in alien Landern erhoben) betragt ,47 und ist signifikant (Pearson's Korrelation; Signifikanzniveau 0,01). Die These, dass die Religionstoleranz in der Ttirkei nicht sonderlich ausgepragt ist, wird zudem durch eine von uns durchgeftihrte Sekimdaranalyse des „WorldValues-Survey" von 1990 und 1995/97 bestatigt. In beiden Umfragen wurde die Frage gestellt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Moslem in der Nachbarschaft lebe; in der Ttirkei wurde gefragt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Christ in der Nachbarschaft lebe. In beiden Umfragen zeigt sich, dass die religiose Toleranz in der Ttirkei von alien hier analysierten Lander am geringsten ist: 1990 waren es 54,7 % der Befragten, 1995/97 49,1 % der Befragten, die sich keine Christen in ihrer Nachbarschaft wtinschten. Fassen wir die deskriptiven Befumde unserer Analysen zusammen: Die EU versteht sich als sakulare Wertegemeinschaft, die eine Trennung der Spharen von Gesellschaft und Religion favorisiert und wechselseitige Toleranz zwischen den Religionsgruppen erwartet. Diese Vorstellungen finden eine hohe Akzeptanz bei den Btirgern der EU und, wenn auch etwas schwacher, bei den Btirgern der Lander, die 2004 der EU beigetreten sind. Rumanien als eines der Lander der zweiten Beitrittsrunde weicht von diesen Vorstellungen nochmals deutlich ab; vor allem in der Ttirkei ist der Anteil der Btirger, die sich eine Durchdringung von Religion, Gesellschaft imd Politik wtinschen, erheblich.21 Mit der Aufnahme 21 Einen guten tJberblick iiber die Umfragestudien, die die Religionseinstellungen in der Turkei erhoben haben, gibt der Aufsatz von M. Emin Koktas (2002). Die Befunde unterscheiden sich zum Teil von unseren Ergebnissen, was wiederum mit den unterschiedHchen
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses
83
dieser Beitrittslander wird sich das kulturelle Gesamtgefiige der EU im Hinblick auf die Religionsvorstellungen verandern: Der Anteil derer, die die Vorstellungen der Institutionen der EU im Hinblick auf eine Trennung von Religion und Welt nicht teilen, wird zunehmen. Diese Unterschiede auf der Aggregatsebene der vier Landergruppen diirfen aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass innerhalb der Landergruppen die Varianz zum Teil erheblich ist. Die Lander mit hohem Protestantenanteil sind diejenigen, die die Vorstellungen der EU am starksten unterstiitzen, die Lander mit hohem Katholiken- und Orthodoxenanteil nehmen eine Mittelposition ein und die muslimische Tiirkei bildet das Schlusslicht. Wir kommen auf diese Unterschiede bei dem Versuch der Erklarung der gefundenen Varianzen zuriick.
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses Auf der Grundlage der deskriptiven Befunde lasst sich nun genauer iiberpriifen, ob die Bewohner der analysierten Lander das europaische Ideal der Trennung von Religion und Welt sowie der Toleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften teilen. Das Verfahren der Wahl ist dabei die Diskriminanzanalyse. Sie erlaubt die Beantwortung von zwei Fragen: Durch die Zusammenfassung der Ergebnisse aller Items kann erstens bestimmt werden, wie sehr die einzelnen Befragten mit den Vorstellungen der EU insgesamt iibereinstimmen. Zweitens berechnet die Diskriminanzanalyse, in welch unterschiedlichem Mal?e die verschiedenen Variablen das Ausmafi der Ubereinstimmung mit den EUVorstellungen bestimmen.
Frageformulierungen zu tun haben mag. Kayhan Mutlu (1996) hat die religiosen Einstellungen von Studenten an einer Universitat in Ankara untersucht. Er zeigt, dass die Religiositat zwischen 1978 und 1991 gestiegen ist. Zugleich argumentiert der Autor, dass die Religionseinstellungen durchaus mit demokratischen Einstellungen kompatibel sind.
84 Tabelle2.7:
2. Religion im erweiterten Europa Trennung zwischen Benchmark-Countries und anderen Landern im Hinblick auf Religionsvorstellungen EU-Position^
Trennung von Religion und Lebensfiihrung ,630 Wichtigkeit der Religion fiir das Leben Wichtigkeit Gottes fiir das Leben ,849 Trennung von Kirche und Gesellschaft ,459 Kirche weifi Antworten auf moralische Probleme ,480 Kirche weifi Antworten auf familiare Probleme ,325 Kirche weifi Antworten auf soziale Probleme Trennung von Religion und Politik Politiker, die nicht an Gott glauben, sind ungeeignet fiir ,759 politisches Amt Besser fiir Land, wenn mehr Religiose offentliche Amter ,713 innehaben Toleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften Nicht als Nachbar gewiinscht: Juden ,392 Giitemafie der Diskriminanzanalyse Eigenvalue ,121 Kanonische Korrelation ,329 Gruppenmittelwerte der Diskriminanzfunktion Zu klassifizierende Gruppe ,166 EU-Position (Benchmark-Countries) -,731 Klassifikationsergebnisse "^ Gruppen (vorhergesagt) 1 Zu klassifizierende Gruppe 2 Benchmark-Countries Korrekt klassifiziert
1 60,3 % (9556) 24,0 % (863)
2 39,7 % (6289) 76,0 % (2729) 63,2 %
3 Benchmark-Countries: Danemark, Deutschland-Ost, Frankreich, Niederlande, Schweden ^ Gemeinsame rotierte Korrelationen innerhalb der Gruppen zwischen Diskriminanzvariablen und standardisierter kanonischer Diskriminanzfunktion ^ Verwendet wurden um die Stichprobengrofie gewichtete Falle, so dass alle Lander gleichwertig beriicksichtigt werden. Daher erscheinen die Fallzahlen etwas emiedrigt.
Wie die bisherigen Ausfuhrungen gezeigt haben, wird das EU-Ideal vor allem von den Blirgern in westlichen Landern mit hohem Protestantenanteil unterstutzt. Besondere Unterstiitzung erfahrt es in Danemark, den Niederlanden, Schweden und Ostdeutschland. Aber auch die Burger des
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses
85
katholischen Frankreichs vertreten aufgrimd der ausgepragt laizistischen Tradition das EU-Ideal. Diese fiinf Lander bilden daher sogenannte „Benchmark-Coimtries" der EU-Position. Durch den Vergleich mit den dort vertretenen Einstellungen lasst sich die Nahe zu den EUVorstelliingen bestimmen. Die Tabelle enthalt verschiedene Angaben. Im ersten Drittel werden die Korrelationen der Indikatoren mit der Diskriminanzfunktion angefiihrt, wobei hohe Werte einen starken Einfluss der Variablen auf die Trennung zwischen den beiden Gruppen der Benchmark-Countries iind den iibrigen europaischen Landern bedeuten.22 Wie man sieht, geht der starkste Effekt von den beiden Dimensionen „ Trennung von Religion und Lebensfiihrung'' und „Trennung von Religion und Politik" aus. Die Korrelationen liegen durchschnittlich liber 0,7. Den groCten Einzelbeitrag liefert die Variable „Wichtigkeit Gottes fiir das Leben". In den beiden Dimensionen „ Trennung von Kirche und Gesellschaft" und „Toleranz gegenliber anderen Religionsgemeinschaften'' scheinen sich dagegen die beiden Gruppen recht ahnlich zu sein. Alle Korrelationen weisen dasselbe positive Vorzeichen auf und liegen damit in der erwarteten Richtung. Eigenvalue und Kanonische Korrelation sind Giitemafie fiir die Fahigkeit der Diskriminanzanalyse, zwischen den Gruppen zu unterscheiden.23 Je hoher die Werte sind, umso besser kann man mit Hilfe der Diskriminanzfunktion zwischen Benchmark-Countries und anderen Landern trennen. Ein weiteres Giitemafi sind die in der letzten Zeile ausgewiesenen korrekt klassifizierten Befragten, in unserem Fall 63,2 %. Beriicksichtigt man, dass sich bei zwei Gruppen eine zufallige Wahrscheinlichkeit fiir eine der Gruppen von 50 % ergibt, so ist die Verbesserung der Vorhersage aufgrund der Diskriminanzfunktion zwar akzeptabel, aber nicht hervorragend.24 Dabei ist allerdings zu beriicksichtigen, dass die 22 Die Variablen wurden aus Griinden der besseren Ubersicht so umkodiert, dass hohe Werte eine starke Orientierung an der Religion bedeuten. 23 Im hier vorliegenden Zwei-Gruppen-Fall entspricht die Kanonische Korrelation der Korrelation zwischen den geschatzten Diskriminanzwerten und der Gruppierungsvariable (vgl. Backhaus et al. 1994:118). 24 Die 50 % ergeben sich bei der Annahme gleicher GruppengrolBe. Kann man aufgrund zusatzlicher Informationen die Gruppengrofien genauer bestimmen, so kann die zufallige
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2. Religion im erweiterten Europa
von ims ausgewahlten Benchmark-Countries zwar die EU-Position am deutlichsten vertreten, wir damit aber nicht postulieren, dass sich die Position nicht auch in anderen Landern finden lasst. Insofern sind Fehlklassifizierungen in gewisser Weise vorprogrammiert. Wir kommen darauf weiter unten noch einmal zuriick. Die Mittelwerte der Diskriminanzfunktion fiir die BenchmarkCountries (-0,731) und die restlichen Lander (0,166) zeigen einen deutlichen Unterschied. Da alle Variablen positiv mit der Diskriminanzfunktion korreliert sind, bedeuten hohe positive Werte der Diskriminanzfunktion eine starke religiose Orientierung, negative Werte dagegen eine geringe religiose Orientierung. Wie sich bei den Klassifikationsergebnissen zeigt, werden etwa ein Viertel der Befragten aus den BenchmarkCountries falsch eingeordnet, vor allem aber werden iiber 39 % der Befragten aus den restlichen Landern der EU-Position zugeordnet. Insofern zeigt sich, dass wir die Benchmark-Countries relativ streng ausgewahlt haben und dadurch in diese Gruppe deutlich mehr Personen eingeordnet werden, als wir zunachst vorgegeben haben. Unser Interesse gilt allerdings nicht so sehr den individuellen Ergebnissen, sondern den Landern und den Landerunterschieden. Wir haben daher die Werte fiir die Individuen auf Landerebene aggregiert und erhalten so zwei Mai?e, die eng miteinander verbunden sind und Auskunft dariiber geben, inwieweit die Position der EU von den Biirgern dieser Lander geteilt werden oder nicht. Die Ergebnisse finden sich in Tabelle 2.8. Betrachten wir zunachst die vier Aggregatskategorien, so ergibt sich die schon aus den deskriptiven Befunden bekannte Rerhenfolge.^^ Die EU-Position wird am starksten in den EU-Mitgliedslandern unterstiitzt, wo durchschnittlich die Halfte der Befragten die Vorstellungen der Europaischen Union iiber die RoUe der Religion teilen. Deutlich weniger Unterstiitzung erfahrt die EU in den Landern der ersten Beitrittsrunde. In Wahrscheinlichkeit noch hoher liegen. In der Literatur werden fiir die Giitemal^e keine „Grenzwerte" fiir akzeptable Werte angegeben. 25 Berechnet man auf der Landerebene eine Diskriminanzanalyse mit diesen vier Gruppen, so werden sogar knapp 90 % der Lander richtig zugeordnet.
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses
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der zweiten Beitrittsrunde sind es sogar nur noch ein knappes Viertel der Befragten. Praktisch gar nicht geteilt wird die EU-Position von den Biirgern der Tiirkei, von denen nur 7 % den Benchmark-Countries zugeordnet werden. Aber auch hier gibt es wieder deutliche Landerunterschiede innerhalb der Gruppen. Bei den EU-Mitgliedern fallen Italien, Portugal, Irland und Griechenland deutlich gegeniiber den anderen ab. In diesen katholischen bzw. orthodox-christlichen Landern, die zudem eine relativ starke Kirchenbindung aufweisen, scheint die Sakularisierung nicht sehr weit fortgeschritten zu sein, die EU-Position wird nur von einer Minderheit unterstlitzt. Dagegen findet sich bei den neuen EU-Mitgliedern in Slowenien, Estland und vor allem in der Tschechischen Republik eine Mehrheit, die die Vorstellungen der EU imterstiitzt.^^ Dies ist fiir die letzten beiden Lander von daher nicht erstaunlich, da sich in beiden Landern mehr als die Halfte der Leute als keiner Konfession zugehorig eingestuft haben. Slowenien, welches immerhin zu zwei Dritteln katholisch ist, weist eine geringe Kirchenbindung auf, wie wir oben gesehen hatten. Polen, Litauen und vor allem Malta, die drei Lander mit den grol?ten Anteilen an Katholiken unter den Beitrittslandern und relativ starker Kirchenbindung, unterstiitzen das EU-Ideal dagegen in geringem Mai?e. In der Gruppe der Lander der zweiten Beitrittsrunde gibt es, obwohl beide Lander orthodox-christlich gepragt sind, ebenfalls deutliche Unterschiede. Wahrend Bulgarien im guten Mittelfeld liegt und sich dort nur eine knappe Mehrheit gegen die EU-Vorstellungen ausspricht, ist Rumanien neben Malta und der Tiirkei eines der drei Schlusslichter.
26 Tschechien liegt mit seinen Werten sogar im Spitzenfeld der Benchmark-Countries. Nimmt man es in der Diskriminanzanalyse zu diesen hinzu, verbessert sich die Klassifizierung aber um ledigHch ein Prozent. Need und Evans erklaren die starke Sakularisierung in Tschechien mit der Opposition von Katholizismus und Nationalismus seit dem friihen 15. Jahrhundert (Need und Evans 2001).
2. Religion im erweiterten Europa
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Tabelle 2.8:
Nahe der Lander zur EU-Position
Lander^
EU-15 Danemark Schweden Deutschland-Ost Frankreich Niederlande Belgien Grofibritannien Luxemburg Finnland Deutschland-West Spanien Osterreich Italien Portugal Irland Griechenland
Beitritt I Tschechien Slowenien Estland Ungarn Lettland Slowakei Polen Litauen Malta Beitritt II Bulgarien Rumanien Turkei
Prozentsatz der Burger in der Gruppe der BenchmarkCountries 54,2 86,8 76,9 74,7 74,1 68,3 65,0 59,0 57,5 52,2 52,4 49,3 48,4 30,0 26,8 30,5 24,3 40,7 73,0 59,1 59,8 50,6 40,2 34,0 23,3 20,5 6,9 27,6 47,9 8,9 7,2
Durchschnittl. Wahrscheinlichkeit eines Burgers, in die BenchmarkCountry-Gruppe eingeordnet zu werden 0,49 0,65 0,61 0,60 0,59 0,57 0,54 0,51 0,51 0,48 0,47 0,47 0,46 0,38 0,38 0,38 0,32 0,40 0,58 0,51 0,50 0,44 0,40 0,36 0,33 0,30 0,21 0,31 0,45 0,19 0,15
^ Die Lander sind innerhalb der Gruppen nach der durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit ihrer Burger, Mitglied in der Benchmark-Gruppe zu sein, geordnet.
2.4 Erklariing der Unterschiede im Religionsverstandnis
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Insgesamt bestatigt die Diskriminanzanalyse damit unsere Interpretationen der deskriptiven Befunde. Mit der Aufnahme der Beitrittslander wird sich das kulturelle Gesamtgefiige der EU im Hinblick auf die Religionsvorstellungen verandern: Der Anteil derer, die die Vorstellungen der Institutionen der EU im Hinblick auf eine Trennung von Religion und Welt nicht teilen, wird zunehmen.
2.4 Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis Wir wollen im Folgenden versuchen, die Unterschiede im Religionsverstandnis der Burger zu erklaren. Lander und Landeraggregate sind, wie wir in der Einleitung betont haben, keine soziologisch relevanten Kategorien, sie miissen in soziale Bedingungsfaktoren aufgelost werden, die „hinter" den jeweiligen Landern lagern. Dies bedeutet fiir unseren Analysezusammenhang, dass wir die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir unterschiedliche soziale Bedingungskonstellationen begreifen miissen, die in den jeweiligen Gesellschaften existent sind und die einen Einfluss auf Religionsvorstellungen haben konnen. Die abhangigen Variablen ergeben sich aus der Fragestellung dieses Kapitels.2^ Wir unterscheiden vier Variablen: Die drei Dimensionen der Messung der Trennung von Religion und Welt einerseits und die Toleranzeinstellungen der Biirger gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften andererseits. 1. Trennung von Religion und Lebensfiihrung: Die Einstellung zur Trennung von Religion und Lebensfiihrung hatten wir zum einen durch die Frage nach der Wichtigkeit Gottes fiir das gesamte Leben, zum anderen durch die Frage, wie wichtig dem Befragten Religion in seinem Leben sei, gemessen, Aus beiden Variablen haben wir durch Addition eine Skala gebildet.28 Cronbach's Alpha der gebildeten Skala betragt ,85. 27 Alle abhangigen Variablen wurden so rekodiert, dass hohe Werte eine starke Trennung der Spharen bzw. eine hohe Toleranz signaHsieren. 28 Da die Variablen auf unterschiedlichen Skalen gemessen wurden, wurde der Range der beiden angepasst.
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2. Religion im erweiterten Europa
2. Trennung von Religion und Gesellschaft: Die Einstellungen zur Trennung von Religion und Gesellschaft hatten wir durch drei Fragen gemessen, die die Relevanz von Religion zur Losiing gesellschaftlicher Probleme (Familienprobleme, soziale Probleme, moralische Probleme) erheben. Aus diesen drei Fragen haben wir ebenfalls durch Addition eine Skala gebildet. Cronbach's Alpha betragt hier ,82. 3. Trennung von Religion und Politik: Auch aus den beiden Fragen zur Messung der Trennung von Religion und Politik haben wir eine Additionsskala gebildet. Cronbach's Alpha betragt hier ,77. 4. Toleranz gegenuber anderen Religionen: Diese messen wir durch die Frage, ob man Juden in seiner Nachbarschaft wlinscht. Bei der Bestimmung der unabhangigen Variablen unterscheiden wir drei verschiedene Variablengruppen. 1. Religionsgemeinschaften und Integration in die Kirche: Wir hatten in unseren deskriptiven Analysen in Kapitel 2.2 gesehen, dass die Verteilungen der Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfuhrung, Gesellschaft und Politik und die Toleranz gegeniiber anderen Religionen je nach Grad der Einbindung in die Kirchen (a) und der Prasenz der verschiedenen Religionsgemeinschaften in den Landern (b) variieren. a. Wir gehen davon aus, dass alle Religionsgemeinschaften, wenn auch in unterschiedlicher Intensitat, eine Neigung zur Expansion ihres Weltbildes auf aufierreligiose Bereiche haben. Wir vermuten deswegen, dass die Trennung von Religion und Welt und die Toleranz gegenuber anderen Religionen bei Konfessionslosen starker ausgepragt ist als bei Mitgliedern von Religionsgemeinschaften. Weiterhin gehen wir davon aus, dass der Grad der Intensitat der Einbindung in die jeweilige Kirche (gemessen durch die Kirchgangshaufigkeit) die gewiinschte Trennung von Religion und Welt beeinflusst.^^ Je geringer Menschen in die alltaglichen Praktiken ihrer Kirche eingebunden sind, desto eher werden sie sich fiir eine Trennung der Spharen von Religion und Welt aussprechen. b. Ob und in welchem Mafie die verschiedenen Religionen unterschiedliche Vorstellungen liber das Verhaltnis von Religion und Welt
29 Hohe Werte bedeuten dabei haufige Kirchenbesuche.
2.4 Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis
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imd vor allem von Religion iHid Staat entwickelt haben, ist in der einschlagigen Literatur sehr umstritten. Vor allem ist imter Theologen iind Religionswissenschaftlern umstritten, ob sich die Vorstellungen liber das Verhaltnis von Religion und Welt durch Belegstellen aus der Bibel oder dem Koran unmissverstandlich beglaubigen lassen. Diese Uneindeutigkeiten sind aber aus unserer Perspektive nicht verwunderlich. Sowohl die Bibel als auch der Koran sind iiberaus mehrdeutige Texte, deren Langlebigkeit sicherlich zum Teil aus deren Deutungsoffenheit resultiert. Wir miissen hier iiber die Richtigkeit der verschiedenen Interpretationen aber nicht entscheiden, sondern konnen stattdessen eine Position theoretisch als Hypothese formulieren und dann empirisch priifen, ob sich diese (auf der Ebene der Burger) empirisch bestatigen lasst oder nicht. Dabei gehen wir von folgender hypothetischer Annahme aus.^o Der Islam ist diejenige Religion, in der im Vergleich zu den drei christlichen Religionen die Trennung von Religion und Welt am geringsten voUzogen ist. Die Einheit von Politik und Religion existierte im Islam schon im 7. Jahrhundert n. Chr. bei Muhammad, der gleichzeitig religioser wie politischer Fiihrer der ersten muslimischen Gemeinde war. Der Koran ist ein weltliches und religioses Gesetzbuch. Die Scharia bestimmt das sozialpolitische Leben. Auch wenn der Koran keine bestimmte Staatsform vorschreibt, scheinen Religion und Politik im Islam von Beginn an enger miteinander verwoben zu sein als im Christentum.^i Dort scheint die Trennung von Kirche und Staat weit starker verankert zu sein, wenn auch flir orthodoxe Christen, Katholiken und Protestanten auf unterschiedlichem Niveau. Dem Islam am nachsten kommt die orthodoxchristliche Kirche. Ausgehend von der antiken Kaiserideologie hat der 30 Zum Folgenden vgl. zum einen die Eintragungen unter den Stichw5rtern „Politik und Religion'', „Kirche und Staat" in dem von Hans Dieter Betz et al. (2003) herausgegebenen Lexikon „Religion in Gegenwart und Geschichte", zum anderen die Eintragungen unter den Stichwortern „Kirche und Staat'' und „Politik und Christentum" in der von Gerhard Miiller et al. (1976) herausgegebenen „Theologische Realenzyklopadie". 31 Dass die Trennung von Religion und Staat im Islam nicht vollzogen, umgekehrt aber fester Bestandteil des Christentums ist, ist eine in der Literatur iiberaus umstrittene These. Dietrich Jung versucht z. B. nachzuweisen, dass die Behauptung, dass die politische und religiose Sphare im Islam eine inharente Einheit bilden, historisch falsch ist (Jung 2002).
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2. Religion im erweiterten Europa
Kaiser seit Konstantin dem Grofien starken Einfluss auf die Gestaltung des Verhaltnisses von Kirche und Staat. Beide Bereiche wurden als zwei Erscheinungsweisen einer Christenheit interpretiert. Der Kaiser verlieh den kirchlichen Bestimmungen staatliche Gesetzeskraft (Symphonie). Die romisch-katholische Kirche hat sich stattdessen an Augustinus' Trennung von irdischer und gottlicher Ordnung orientiert. Die Kirche beansprucht flir weltliche Dinge keine „potestas directa", sondern eine „potestas directiva": Sie verkiindet Grundsatze liber die Gestaltung der Welt, aber keine konkreten Einzelentscheidungen. Folgt man der These von Samuel Huntington - und dies tun wir im Folgenden - , dann kann man erwarten, dass die Akzeptanz der Trennung von Religion und Welt entlang folgender Reihenfolge zimimmt (Huntington 1996): Muslime, orthodoxe Christen, Katholiken, Protestanten. Da Muslime, orthodoxe Christen und Katholiken in der Regel auch hohere Integrationsraten in ihre jeweiligen Kirchen haben als Protestanten und Konfessionslose, ist aus den Kreuztabellen nicht erkennbar, ob nicht der Integrationsgrad in die Kirche, ganz unabhangig von der spezifischen Religionsgemeinschaft, der eigentliche Grund fiir eine Ablehnung einer Trennung von Religion und Welt ist. Wir konnen dies in einer multivariaten Regressionsanalyse priifen, indem wir sowohl die Kirchgangshaufigkeit als Indikator fiir den Integrationsgrad in die Kirche als auch die verschiedenen Religionsgemeinschaften (jeweils kodiert als Variablen mit zwei Auspragungen: Mitglied in der Religionsgemeinschaft/Nichtmitglied) mit in die Analyse aufnehmen. 2. Modernisierungsgrad der Gesellschaft: Die Trennung von Religion und Lebensfiihrung, Gesellschaft und Politik wird von vielen Sozialwissenschaftlern mit gesellschaftlicher Modernisierung in einen ursachlichen Zusammenhang gebracht. Je modernisierter eine Gesellschaft, desto starker ist die Akzeptanz der Trennimg von Religion und Gesellschaft. Der Grad der Modernisierung einer Gesellschaft driickt sich in einer Vielzahl von Faktoren aus, u. a. in einer okonomischen und einer bildungsmafiigen Modernisierung. a. Bildung: Die These, dass das Ausmai? der Bildung in einem kausalen Zusammenhang mit der Trennung von Religion und Gesellschaft
2.4 Erklarimg der Unterschiede im Religionsverstandnis
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steht, ist in Ansatzen bereits von Emile Durkheim formuliert worden (Durkheim 1983: 177). Bildung erhoht die Moglichkeit der Selbstreflexion und die Wahrscheinlichkeit einer wissenschaftlichen Weltsicht. Mit wachsender Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Traditionsbestande nicht als gegeben hingenommen, sondern auf ihre Funktionsweise hin befragt werden und eventuell mit ihnen gebrochen wird, so die Hypothese. Wir vermuten entsprechend, dass sich die hoher gebildeten Befragten eher fiir eine Trennung von Religion und Lebensfiihrung, wahrend Personen mit niedriger Bildung sich eher dagegen aussprechen werden. Die Bildung eines Befragten operationalisieren wir durch seinen hochsten Bildungsabschluss; da die nationalen Bildungsabschllisse schwierig miteinander vergleichbar sind, wurde von der Forschergruppe des EVS eine wenigstens annahernd vergleichbare Klassifikation erstellt, die von 0 „kein Abschluss" bis 8 „(Fach-) Hochschulabschluss" reicht. b. Die zweite modernisierungstheoretische Vorstellung, dass die okonomischen Bedingungen, die die Lebensqualitat des Menschen bestimmen, einen Einfluss auf die religiose Interpretation der Welt imd der weltlichen Verhaltnisse haben, geht auf die von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Religionssoziologie zuriick. Die Entstehung und Persistenz von Religionen erklaren die Autoren mit Rekurs auf die faktischen irdischen Verhaltnisse. Die religiose Interpretation der Welt ist gleichsam eine Kompensation flir die Widrigkeiten, die die Menschen in der Welt und in ihrem Leben erfahren miissen. „Das religiose Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestaktion gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrangten Kreatur, das Gemlit einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustande ist. Sie ist das Opium fiir das Volk. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Gliickes des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Gliicks." (Marx 1972: 378). Mit der letzten Bemerkimg deutet Marx zugleich die Bedingung an, unter der die Religion an Bindungs- und Uberzeugungskraft fiir die Menschen verlieren wird: Je besser die okonomischen Lebensbedingungen des Menschen sind, desto geringer ist sein Bedarf, die Welt religi5s zu tnterpretieren. Wir vermuten also, dass je hoher der okonomische Wohlstand in einer Gesellschaft ist, desto ho-
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2. Religion im erweiterten Europa
her ist die Wahrscheinlichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse, iind desto hoher ist der Grad der Trennung von Religion und Gesellschaft. Wir messen den Grad der okonomischen Modernisierung eines Landes durch die Hohe des „Human Development Index" (HDI). In den HDI gehen, wie in der Einleitung genauer erlautert, drei Mai?zahlen zur Messung des Grads der Modernisierung ein: Reales Bruttosozialprodukt pro Einwohner, Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung.32 \Yir haben leider keine Moglichkeit, den relativen okonomischen Wohlstand aller Befragten in alien Landern auf der Individualebene zu messen. 3. Institutionelle Trennung von Religion und Politik: Die verschiedenen Lander unterscheiden sich in dem Grad der institutionellen Trennung von Kirche und Staat. Die Skala reicht von Landern, die eine strikte Trennung von Kirche und Staat voUzogen haben (Frankreich, Tiirkei) bis hin zu Landern, die eine Staatskirche institutionalisiert haben (England, Schweden, Danemark).^^ Man kann nun vermuten, dass die institutionellen Arrangements der Trennung von Kirche und Staat in den Landern die Einstellungen der Burger beziiglich einer Trennung von Religion und Welt beeinflussen (vgl. Chaves und Cann 1992; Pollack und Pickel 2000; Pollack 2003). Will man dies priifen, muss man Lander im Hinblick auf den institutionalisierten Grad der Trennung von Kirche und Staat klassifizieren. Dies ist weder theoretisch noch empirisch ganz einfach. Eine Vielzahl an Typologien orientiert sich an der rechtlichen und vor allem verfassungsmafiigen Regelung des Verhaltnisses von Kirche und Staat (vgl. den Uberblick in Minkenberg 2003). Gerhard Robbers (1995) unterscheidet fiir Europa drei verschiedene Typen: Staatskirchensysteme, Systeme der strikten Trennung und Systeme der grimdsatzlichen Trennung von Religion imd Politik bei gleichzeitiger faktischer Durchdringung der Bereiche. Maurice Barbier (1995) entwickelt eine ahnliche Typologie mit 32 Eine zweite in der Literatur haufig benutzte Messung des Niveaus der Modernisierung ist das Bruttosozialprodukt pro Einwohner. Wir haben die folgenden Regressionsanalysen auch mit dieser Variable statt mit dem HDI durchgefiihrt. Die Ergebnisse bleiben stabil. 33 Dies wurde in Schweden zwar im Jahr 2000 geandert, zum Zeitpunkt der Befragung hatte Schweden aber noch eine Staatskirche.
2.4 Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis
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vier Auspragungen, die von laizistisch bis zu nicht laizistisch reicht. Mark Chaves und David Cann (1992) versuchen in ihrer Typologie neben einer rechtlichen Regelung des Verhaltnisses von Kirche und Staat auch okonomische (z. B. Kirchensteuer) und politische Dimensionen (z. B. staatliche Ernennung des Kirchenpersonals) zu beriicksichtigen. Die Lander werden dann mit Hilfe einer 7-Punkte Skala klassifiziert. Die einzigen Arbeiten, die auch osteuropaische Lander mit in die Klassifikation aufnehmen, sind die Studien von Detlef Pollack und Gert Pickel (vgl. Pollack und Pickel 2000; Pollack 2003). Die Autoren konstruieren eine 8Punkte-Skala auf der Basis von fiinf Dimensionen (Existenz eines Staatskirchentums; Existenz theologischer Fakultaten an staatlichen Hochschulen; Religionsunterricht an offentlichen Schulen; Existenz von Militar- und Gefangnisseelsorge; Steuerliche Begiinstigung von Kirchen) und gruppieren die verschiedenen Lander dann auf dieser Skala. Der Wert 7 auf der Skala bedeutet eine sehr geringe Trennung von Kirche und Staat, der Wert 0 eine komplette Trennung der beiden Spharen. Die Autoren klassifizieren von den auch in unseren Analysen betrachteten Landern folgende Gesellschaften (in Klammern sind die jeweiligen Skalenwerte angegeben): Danemark (7), Deutschland (7), Frankreich (2), Grol?britannien (6), Irland (5), Italien (6), Niederlande (4), Osterreich (5), Portugal (6), Schweden (8) und Spanien (5), dann Polen (4), Tschechien (6) und Ungarn (5). Wir haben zusatzlich noch die Tiirkei (1) klassifiziert, weil wir wissen, dass die Trennung von Religion und Kirche hier strikt voUzogen ist. Wir vermuten, dass der Grad der institutionellen Trennung der Spharen von Religion und Staat den Grad der von den Biirgern gewiinschten Trennung der Spharen beeinflusst. Wir messen den Grad der institutionellen Trennung pro Land durch die von Pollack und Pickel entwickelte Skala. Wir haben nun in einer multivariaten Regressionsanalyse den Einfluss der verschiedenen unabhangigen Variablen auf die vier abhangigen Variablen analysiert. Die Analyse erfolgte in zwei Schritten. Da wir nur fiir 15 der 27 analysierten Lander Informationen liber den Grad der institutionellen Trennung von Religion und Staat besitzen, ha-
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ben wir in einem ersten Schritt nur fiir diese Falle die Analysen durchgefiihrt. Die institutionelle Trennung von Kirche und Staat hat einen leichten Effekt auf die subjektiv gewiinschte Trennung von Religion und Lebensflihrung (der standardisierte Regressionskoeffizient Beta betragt ,05), aber in der umgekehrten als erwarteten Richtung und keinen signifikanten Effekt auf die Trennung von Religion und Gesellschaft. Ihr Einfluss auf die Trennung von Religion und Politik (Beta = ,06) fallt dagegen wie erwartet aus. Damit ist die Ausgangshypothese, die von einer Kongruenz von institutionellem Arrangement und individuellen Praferenzen ausging, weder eindeutig belegt noch widerlegt.^^ Dieses multivariate Ergebnis konnte man mit einem Blick auf die Kreuztabellen in Kapitel 2.1.2 bereits erwarten. Die skandinavischen Lander Danemark, Schweden und Finnland mit starken Staatskirchen sind zugleich die Lander, in denen die Burger eine Trennung von Religion und Welt befiirworten. Umgekehrt gehort die Tiirkei zu den Landern, in denen die Trennung von Kirche und Staat im hohen Mafie institutionalisiert ist (vgl. Jung 2003), die Akzeptanz dieser Trennung bei den Blirgern aber, wie wir gesehen hatten, sehr gering ist. Unser Ergebnis deckt sich mit anderen Studien, die den Einfluss der institutionellen Trennung von Religion und Staat auf die Religiositat der Burger (vgl. Pollack 2003), auf den Demokratietypus oder bestimmte „policies" analysiert haben (vgl. Minkenberg 2003). Im Hinblick auf alle abhangigen Variablen gibt es keine oder keine nennenswerten Effekte. Wir haben dann im zweiten Schritt die Variable „ Institutionelle Trennung von Kirche und Staat" aus der Analyse ausgeschlossen mit dem Vorteil, dass wir jetzt alle 28 Lander beriicksichtigen konnen. Tabelle 2.9 gibt die Ergebnisse der durchgefiihrten vier Regressionsanalysen wieder.
34 Fiir den Kernbereich wird sie allerdings, wenn auch schwach, eher belegt: Die institutionelle Trennung von Religion und Staat bezieht sich vor allem auf den Einfluss von Religion auf Politik. Und hier hat sie tatsachlich die erwarteten Effekte.
2.4 Erklarimg der Unterschiede im Religionsverstandnis
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Folgende Befunde lassen sich bilanzieren: a. Ein Blick auf die erklarte Varianz aller vier abhangigen Variablen zeigt iins, dass wir mit den ausgewahlten unabhangigen Variablen sehr gut die Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfuhrung, von Religion und Gesellschaft und von Religion und Politik erklaren konnen. Dies gilt weniger fiir die Erklarung der Toleranz gegeniiber anderen Religionen. Tabelle2.9:
Erklarung der Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfiihrung, Gesellschaft und Politik bzw. zur Toleranz gegeniiber anderen Religionen: Regressionsanalysen
Religion ^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Integration in die Kirche Modemisierungsgrad HDI Bildung R2
Trennung von Religion und Lebensfiihrung
Trennung von Religion und Gesellschaft
Trennung von Religion und PoHtik
Toleranz gegeniiber anderen Religionen
-,153 -,339 -,222 -,284 -,496
-,105 -,161 -,056 -,080 -,367
-,070 -,093 -,174 -,108 -,360
,023 -,020* -,022 -,183 -,047
,049 ,079 0,57
,164 ,084 0,26
,218 ,134 0,32
,143 ,121 0,10
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (* = signifikant auf 5 %-Niveau). «) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose''.
b. Die beiden modernisierungstheoretisch abgeleiteten Variablen Bildung und 5konomische Entwicklung haben einen Einfluss auf die Trennung von Religion und Welt und auf die Toleranz gegeniiber anderen Religionen und zwar in der erwarteten theoretischen Richtung. Je hoher gebildet ein Befragter ist und vor allem: je starker modernisiert das Land ist, aus
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dem er kommt, desto eher wird eine Trennung der religiosen iind weltlichen Sphare iind Toleranz gegenliber anderen Religionen befiirwortet.^s c. Was den Einfluss der Religionsgemeinschaften angeht, so sind die Ergebnisse ebenfalls eindeutig. Praktisch alle Konfessionen - mit Ausnahme der Protestanten - weisen eine niedrigere Toleranz gegeniiber anderen Religionen auf. Insbesondere gilt dies fiir die Moslems. Gleichzeitig findet sich bei alien konfessionell Gebundenen eine geringere Akzeptanz der Trennxing von Religion iind Welt.^^ Man kann aber nicht sagen, dass sich diesbeziiglich die orthodoxen Christen und die Moslems auf der einen Seite und die Katholiken und Protestanten auf der anderen Seite voneinander unterscheiden; dazu sind die Ergebnisse zu inkonsistent. Vielmehr gilt: d. Es ist weniger entscheidend, welcher Religionsgemeinschaft der Befragte angehort, sondern entscheidend ist, wie stark jemand in die jeweilige Religionsgemeinschaft integriert ist.^^ Der Grad der Integration in die jeweilige Kirche hat einen sehr starken Einfluss auf die Trennung von religioser und weltlicher Sphare. Dies scheint uns ein liberaus interessanter Befund zu sein. Wir hatten gesehen, dass manche Autoren - Samuel Huntington (1996) und auch Hans-Ulrich Wehler (2002) - im Hinblick auf die Aufnahme der Tiirkei in die EU davon ausgehen, dass eine Trennung von Religion und Welt ein inhaltlicher Bestandteil der christlichen Traditionslinie sei, wahrend dies nicht fiir die moslemische Religion gelte. „Das Nebeneinander von Staat und Kirche, allgemeiner von Staat und Religionsgemeinschaften, ist den modernen Menschen so selbstverstandlich, dass kaum zu Bewusstsein kommt, dass diese Unterscheidung eine Besonderheit der durch das Christentum gepragten Welt ist. Die muslimische und die ostasiatische Welt kennen dies bis heute nicht." (Cam-
^^ Die Modernisierungsindikatoren weisen einen besonders starken Zusammenhang mit der Trennung von Religion und Politik auf, wahrend die Religionsvariablen die Trennung von Religion und Lebensfiihrung dominieren. Dies ist insofem plausibel, als die konkrete Ausdifferenzierung je eigener Spharen von der Lebensfiihrung iiber die Gesellschaft bis zur Politik zunimmt. 36 Die Referenzkategorie der Konfessionsdummies sind die Konfessionslosen. 37 Zu ahnlichen Ergebnissen kommen auch Zulehner und Denz (1994).
2.5 Zusammenfassimg
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penhausen 2002: 98). Diese These wird durch unsere Analysen nicht gestiitzt. Die Tatsache, dass die Tlirkei und auch die dominant orthodoxchristlichen Lander der zweiten Beitrittsrimde im geringeren Maiie die Religionsvorstellungen der EU unterstiitzen, hat weniger mit der inhaltlichen Orientierimg der dort dominanten Religionssysteme zu tun, sondern ist bestimmt durch den Grad der Modernisierung einerseits und die Starke der Integration der Burger in die Kirche andererseits. Da der Modemisierungsgrad in den Landern gering ist und der Grad der Integration in die Kirche vor allem in der Tiirkei sehr hoch ist, ist in diesen Landern auch die Ubereinstimmung mit den Religionsvorstellungen der EU nicht so hoch wie in den anderen Landern.
2.5 Zusammenfassung Die EU hat relativ klare Vorstellungen darliber, wie die Gesellschaft Europas strukturiert sein soil. Zu diesem Skript gehoren auch Vorstellungen liber die RoUe der Religion in Europa. Wir hatten gesehen, dass die EU eine Trennung von religioser und weltlicher Sphare favorisiert und von den Biirgern religiose Toleranz erwartet. Unterscheidet man zwischen den alten und neuen Mitgliedslandern der EU, den Beitrittskandidaten sowie der Tiirkei, so zeigt sich, dass die EU-Position von den Mitgliedsstaaten am starksten und dann von Gruppe zu Gruppe immer schwacher imterstiitzt wird. Dieses Ergebnis zeigt sich sowohl fiir die drei Dimensionen der Trennung von Religion und Welt als auch fiir die der Religionstoleranz. Zugleich haben wir gesehen, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Landern innerhalb einer Landergruppe zum Teil betrachtlich sind. Vor allem in den protestantischen Landern, aber auch in der Tschechischen Republik und Frankreich, findet man bei den Befragten eine starke Unterstiitzung der Religionsvorstellungen der EU, wahrend in den restlichen katholischen, den orthodox-christlichen und vor allem den muslimisch gepragten Landern die Trennung von Religion und Welt in deutlich geringerem Maf3e unterstiitzt wird.
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Mit Hilfe einer multiplen Regression sind wir dann der Frage nachgegangen, wie man die Unterschiede im Grad der Trennung von Religion und Welt und der Religionstoleranz erklaren kann. Wir konnten zeigen, dass die Nahe zur EU-Position werdger durch die spezifische Konfessionszugehorigkeit, sondern starker durch den Integrationsgrad in die jeweilige Religionsgemeinschaft bestimmt wird. Weiterhin hat der Modernisierungsgrad der Gesellschaft einen zentralen Einfluss auf die Akzeptanz der Religionsvorstellungen der EU: Je starker eine Gesellschaft modernisiert ist, desto eher iinterstiitzen die Burger eine Trennung von religidser und weltlicher Sphare und sprechen sich fiir eine religiose Toleranz aus. In Landern, die gering modernisiert sind und in denen die Integration in die Kirchen hoch ist, ist die Unterstlitzung der Trennung von religioser und weltlicher Sphare und die Religionstoleranz entsprechend gering. Diese Bedingungskonstellation gilt vor allem fiir die Tiirkei. Hier fallt der kulturelle Unterschied zudem deswegen so schwer ins Gewicht, weil die Tiirkei heute ein recht bevolkerungsreiches Land ist und aufgrund der hoheren Geburtenziffern wahrscheinlich das bevolkerungsreichste Land einer dann erweiterten EU ware. Wir haben uns in diesem Kapitel auf eine Analyse der Religionsvorstellungen beschrankt. Die Unterschiede in der Rolle, die der Religion in den verschiedenen Landern zugeschrieben wird, werden besonders dann relevant, wenn die religiosen Vorstellimgen die Einstellungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen beeinflussen. „Wo das der Fall ist, wird die Suche nach konsensfahigen Losungen nicht an den religidsen Anteilen dieser Themen vorbei dauerhaft gelingen konnen. Anders: Es ist fiir diesen Fall vorhersehbar, dass die Losung von Problemen in religios aufgeladenen Bereichen durch die tmterschiedliche Bindung der Beteiligten an die Religion erheblich mitbeeinflusst wird." (Zulehner und Denz 1994: 197) Ob und in welchem Mafie religiose Vorstellungen die Werteorientierung in anderen Bereichen (Familie, Wirtschaft, Politik etc.) beeinflussen, werden wir in den folgenden Kapiteln genauer untersuchen. Hier sei vorerst nur festgehalten, dass die Heterogenitaten der Einstellungen zur Religion durch die Erweiterung der Europaischen Union mit jedem Integrationsschritt deutlich zunehmen werden.
3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen oder: Wer unterstiitzt die Emanzipation der Frauen
Die Familie ist fiir die Menschen in fast alien Gesellschaften ein zentraler Bereich in ihrem Leben, wenn nicht der zentralste Lebensbereich. Eine solch weitgehende, nicht weiter eingeschrankte Behauptung mag in einem komparativen, die Gesellschaftsunterschiede gerade betonenden Buch iiberraschen. Aber die empirischen Befunde sprechen eine eindeutige Sprache. In der Europaischen Wertestudie wurden die Burger in den verschiedenen Landern gefragt, welche Lebensbereiche (Arbeit, Politik, Religion, Familie, Freizeit, Freunde) ihnen in welchem Mafie wichtig sind. Die Befragten konnten zwischen „sehr wichtig" „wichtig", „unwichtig" iind „uberhaupt nicht wichtig" wahlen. Der Bereich der Familie wird von 85,3 % der Burger als sehr wichtig betrachtet; „Politik" definieren z. B. nur 1,% % als sehr wichtig. Die Zustimmungsraten im Hinblick auf die Familie variieren zwischen 66,8 % in Litauen und 97,2 % in der Tlirkei, sind also in alien Landern sehr hoch. Die Wichtigkeit eines Lebensbereichs sagt noch nichts dariiber aus, wie man sich diesen Bereich inhaltlich gestaltet vorstellt. Soil sich die Familie als Klein- oder GroiJfamilie konstituieren? Gehoren Kinder zu einer Familie und wenn ja, wie viele? Soil die Beziehung zwischen Mann und Frau monogamisch sein und durch die Institution der Ehe verfestigt werden? Wie soil die Arbeitsteilung zwischen Mannern und Frauen organisiert sein? Ein Blick in die historische Familienforschung zeigt uns, dass Familien in der Vergangenheit recht unterschiedlich verfasst waren (vgl. Ehmer et al. 1997; Mitterauer 1999; Mitterauer und Ortmayr 1997; Mitterauer und Sieder 1991; Rosenbaum 1982; Sieder 1987) und dass dies
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen
bis heute noch auf die Familienstrukturen nachwirkt. So ist das Heiratsalter westlich einer Linie, die von St. Petersburg nach Triest reicht, deutlich hoher als ostlich dieser Linie (Mitterauer 1999: 314; Oesterdiekhoff 2000). Dieses „European Marriage Pattern" hat sich bis heute erhalten. Und auch die gegenwartigen Strukturentwicklungen der Familie in vielen industrialisierten Gesellschaften, die mit den Begriffen Deinstitutionalisierung, Individualisierung und Pluralisierung beschrieben werden, machen deutlich, dass die inhaltliche Ausgestaltung von Familie variieren kann und empirisch variiert (vgl. Beck-Gernsheim 1994; Burkart und Kohli 1992; Lenz 1997; Lesthaeghe und Meekers 1986). Wir fragen in diesem, wie in den anderen Kapiteln des Buches, nicht nach den realen Unterschieden oder Entwicklungsprozessen familiarer Strukturen, sondern nach den Vorstellungen, die sich die Menschen von einer idealen Familie machen und die, insofern sie von einer Mehrheit der Bevolkerungsmitglieder in einer Gesellschaft geteilt werden, als kulturelle Familienleitbilder fungieren. Zur Dimensionierung des „Einstellungsobjekts" Familie orientieren wir uns an dem Leitbild von Familie, das der EU-Politik zugrunde liegt. Die Struktur des Kapitels folgt damit dem Aufbau der anderen Kapitel: In einem ersten Schritt werden wir die Familien- und Gleichberechtigungsvorstellungen der EU rekonstruieren. In einem zweiten Schritt untersuchen wir dann mit Hilfe einer Sekundaranalyse von Umfragedaten, inwieweit das Familienmodell der EU von den Biirgern in den Mitgliedsund Beitrittslandern akzeptiert wird. Im dritten Kapitel schlieClich gehen wir der Kausalfrage nach, wie man die Unterschiede in den Familienvorstellungen zwischen den verschiedenen Landern erklaren kann. Die Uberlegungen in diesem Kapitel orientieren sich an einem bereits publizierten Aufsatz liber Familienvorstellungen im europaischen Vergleich (vgl. Gerhards und Holscher 2003). AUerdings benutzen wir im Folgenden eine andere Datenbasis (Europaische Wertestudie), die fiir die friiheren Analysen noch nicht zur Verfiigung stand. Der Vorteil der hier analysierten Umfragen im Vergleich zu den damals analysierten Daten des „International Social Survey Programme" besteht vor allem darin, dass
3.1 Familien- vind GeschlechtsroUenvorstellungen der EU
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die Europaische Wertestudie mehr Lander, unter ihnen auch die Tiirkei, umfasst imd zudem aktueller ist.
3.1 Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der EU Das Material zur Rekonstruktion der Vorstellungen einer wiinschenswerten Familie bilden auch in diesem Kapitel die Gesetzestexte, Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen, die von den Institutionen der EU erlassen wurden. Diese sind weitgehend in den Verfassungsentwurf aufgenommen und eingearbeitet worden. Der Teil II des Verfassungsentwurfs enthalt die Grundrechte der EU und besteht in der Ubernahme der Grundrechtecharta, die bereits in Kraft ist. In Artikel 11-93 Absatz 1 heifit es: „Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie wird gewahrleistet." Familien bestehen aus einem Mann-Frau-Verhaltnis einerseits und einem Eltern-Kind-Verhaltnis andererseits. Die normativen Vorstellungen im Hinblick auf die Kindheit sind im EU-Recht sehr schwach bzw. nur sehr allgemein ausformuliert. Die EU definiert Kindheit als eine bestimmte Lebensphase des Menschen, die einem besonderen Schutz unterliegt. Im Artikel 3 von Teil I des Verfassungsentwurfs wird der Schutz der Rechte des Kindes als Ziel der EU formuliert, im Artikel 11-84 wird der Schutz des Kindes und die Fiirsorge fiir das Kind als Grundrecht formuliert. Genauer spezifiziert wird der Kinderschutz vor allem im Hinblick auf eine mogliche Erwerbstatigkeit von Kindern. Kinderarbeit ist (bis zum Ende des schulpflichtigen Alters) verboten. Jugendliche genieCen besondere, ihrem Alter angemessene Arbeitsschutzbedingungen (Artikel 11-92). Die AUgemeinheit der Formulierungen und die Tatsache, dass in den von uns analysierten Umfragen keine Fragen enthalten sind, die eine Operationalisierung der Kindheitsvorstellungen der EU erlauben wiirden, zwingt uns dazu, diese Dimension in den folgenden Analysen zu vernachlassigen und uns auf eine Analyse des Verhaltnisses von Mann und Frau zu konzentrieren.
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3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellimgen
Die Beschreibiingen der EU im Hinblick auf das Verhaltnis der Geschlechter zueinander sind genauer spezifiziert.^ Die EU ist vor allem iind in erster Linie als eine Wirtschaftsgemeinschaft entstanden. Fragen der Familie und der Geschlechterbeziehung werden entsprechend zu Politiken der EU, werm sie mit Fragen der Wirtschaft verbindbar sind. Folglich findet man europaische Regelimgen, die sich auf das Aufienverhaltnis von Familien vor allem zum Wirtschaftssystem beziehen, nicht aber Regelungen, die sich auf das Innenverhaltnis von Famiilien unmittelbar beziehen. Dies wird recht schon deutlich, wenn man sich die Uberschrift des Artikels 11-93 des Verfassungsentwurfs anschaut. Der Artikel ist iiberschrieben mit „Familien- und Berufsleben" und versucht vor allem die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie fiir Eltern zu regeln. Da die politischen Regulierungen des Verhaltnisses von Wirtschaft und Familie aber eine Riickwirkung auf das Binnenleben von Familien haben, betreibt die EU auf mittelbarem Wege, also indirekt, auch Familienpolitik und versucht ihre Vorstellungen einer wiinschenswerten Familie zu etablieren. Auf welche Dimensionen beziehen sich die Politiken der EU, welche Werte werden durchzusetzen versucht und welche Auswirkungen auf das Innenverhaltnis von Familien sind damit verbunden? Politiken der EU, die indirekt Familienvorstellungen zum Ausdruck bringen, beziehen sich in erster Linie auf Fragen der Gleichstellung von Mann und Frau, und hier vor allem auf die Gleichstellung im Bereich der Erwerbstatigkeit (Bergmann 1999; Ostner 1993; Watson 2000). Der Gleichstellungsgrundsatz findet sich auf drei verschiedenen Ebenen institutionalisiert und spezifiziert, die sich durch den Grad der rechtlichen Verbindlichkeit unterscheiden: Einerseits im Primarrecht der EG (bestehend aus den Griindungsvertragen, den ProtokoUen und den Erweiterungsvertragen und dem Verfassungsentwurf), andererseits im Sekundarrecht (bestehend aus den Verordnungen und Richtlinien) und schliefilich in den Empfehlungen und Aktionsprogrammen der Kommission, wie sie sich z. B. in der „Sozialpolitischen Agenda" oder im „WeiGbuch Europaische Sozialpolitik" manifestieren (vgl. Bergmann 1999).
I Vgl. dazu die Dissertation von Marcus Carson (2004).
3.1 Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der EU
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1. Der Grundsatz der Gleichstellung von Mann und Frau findet sich an verschiedenen prominenten Stellen des Verfassungsentwurfs. Im Teil I des Entwurfs werden in Artikel 3 die Ziele der Union definiert. Dort heiGt es „Die Union (...) fordert (...) die Gleichstellung von Frauen und Mannern". Im Teil II (Grundrechtecharta) werden im Artikel 11-81 verschiedene Diskriminierungen verboten. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts stehen an erster Stelle. 2. Die EU versteht unter Gleichstellung von Mannern und Frauen vor allem Gleichstellung im Wirtschaftsleben. Im Artikel 11-83 wird dies sehr deutlich: „Die Gleichheit von Frauen und Mannern ist in alien Bereichen, einschliefilich der Beschaftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder der Einfiihrung spezifischer Vergiinstigungen fiir das unterreprasentierte Geschlecht nicht entgegen." Der Grundsatz der Gleichstellung im Beruf wird dann im Teil III des Verfassungsentwurfs (fiir eine Verfassung erstaunlich genau) prazisiert: In Artikel III-210 verpflichtet sich die Union, die Tatigkeiten der Mitgliedslander auf dem Gebiet der Chancengleichheit von Mannern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und der Gleichbehandlung am Arbeitsplatz zu unterstiitzen und zu erganzen. Artikel III-214 spezifiziert diese Zielvorgabe nochmals.^ 2 „(1) Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts fiir Frauen und Manner bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher. (2) Unter „Entgelt" im Sinne dieses Artikels sind die iiblichen Grund- oder Mindestlohne und -gehalter sowie alle sonstigen Vergiitungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhaltnisses dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet, a) dass das Entgelt fiir eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Mafieinheit festgesetzt wird, b) dass fiir eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist. (3) Die Mafinahmen, die die Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Mannern und Frauen in Arbeits- und Beschaftigungsfragen, einschliefilich des Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit, gewahrleisten, werden durch Europaisches Gesetz oder Rahmengesetz festgelegt. Es wird nach Anhorung des Wirtschafts- und Sozialausschusses erlassen. (4) Im Hinblick auf die effektive Gewahrleistung der vollen Gleichstellung von Mannern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die MitgUedstaa-
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3. Familien- xind Geschlechtsrollenvorstellimgen
Der Gleichheitsgrundsatz im Erwerbsleben hat in der Geschichte der EU eine lange Tradition. Im Artikel 119 des EWG-Vertrages von 1957 wird er bereits im Hinblick auf die Bezahlung bei Erwerbstatigkeit festgeschrieben („Gleiches Entgelt fiir Manner und Frauen").^ Der Artikel 119 wurde mit dem Vertrag von Amsterdam in den neuen Artikel 141 des EG-Vertrages iibernommen und erweitert. Er wurde in zahlreichen Verordniingen und Richtlinien der Gemeinschaft weiter festgeschrieben und ist zudem durch die Urteile des Europaischen Gerichtshofs weiter konkretisiert und rechtsverbindlich gemacht worden (vgl. Bergmann 1999: 45ff.; Wobbe 2001). Wie wirkungsmachtig der Gleichstellungsgrundsatz ist, hat das Urteil des Europaischen Gerichtshofs im Hinblick auf die Berufstatigkeit von Frauen in der Bundeswehr gezeigt, das nicht nur dazu gefiihrt hat, dass die Klagerin das Recht erhielt, in der Bundeswehr berufstatig zu sein, sondern auch dazu, dass die deutsche Legislative das Grundgesetz andern musste (vgl. Wobbe 2001). Der Gleichheitsgrundsatz umfasst die Gleichbehandlung von Mannem und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschaftigung, zur Berufsberatung und Berufsausbildung, Gleichheit im Hinblick auf die Beschaftigungs- und Arbeitsbedingungen und die Mitgliedschaft in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen. Die Richtlinien der EU sind weitestgehend in das jeweilige nationale Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt worden.^ 3. Von vielen Kritikern der EU-Politik ist die Beschrankung auf eine Erwerbsgleichstellungspolitik mit dem Argument kritisiert worden, dass damit die Voraussetzungen, die eine Erwerbstatigkeit von Frauen iiberhaupt erst ermoglichen, vernachlassigt werden. Solange die hauslichen ten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstatigkeit des unterreprasentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergiinstigungen beizubehalten oder zu beschliefien/' 3 Dies ist auf die Initiative Frankreichs zuriickzufiihren, das mit der Initiative aber keine feministische, sondern eine okonomische Intention verfolgte. Man befiirchtete, dass die Arbeitskosten fiir die deutschen Arbeitnehmerinnen geringer ausfallen wiirden und damit Frankreich okonomisch benachteiligt wiirde (vgl. Haas 1958: 515ff.). 4 Dies mag eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung fiir die faktische Gleichheit von Mannem und Frauen im Erwerbsleben sein. Kirstin Bergmann (1999) weist erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten der EU trotz rechtlicher Angleichung nach.
3.1 Familien- und Geschlechtsrollenvorstellimgen der EU
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Pflichten und die Familienarbeit in erster Linie von den Frauen erledigt und diese Tatigkeiten nicht als Erwerbstatigkeit interpretiert werden, solange negiert das formale Prinzip der Gleichheit die faktisch ungleichen Chancen, iiberhaupt erwerbstatig sein zu konnen (vgl. Ostner 1993). Die EU hat auf diese Kritik reagiert. Im dem Verfassungsentwurf wird in der Grundrechtecharta im Artikel 11-93 die Vereinbarkeit von Beruf und Familie thematisiert. Der Kiindigungsschutz einer sich in Mutterschaft befindenden Frau, bezahlter Mutterschaftsurlaub und Erziehungsurlaub werden als Grundrechte verbrieft. Mit dem Vertrag von Amsterdam von 1999 hatte zudem bereits eine Ausdehnung des Gleichstellungsprinzips auf mehrere Politikbereiche stattgefunden, als in Artikel 3 (aufgenommen in den Verfassungsentwurf im Artikel 11-83) formuliert ist, dass sich die Gemeinschaft verpflichtet, in alien Politikbereichen die Gleichberechtigung von Frauen und Mannern zu fordern (Laufer 1999). Auf dem Gipfel der europaischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon im Marz 2000 ist diese Ausdehnung in den Leitlinien fiir beschaftigungspolitische Mafinahmen weiter konkretisiert worden. Um eine Erhohung der Frauenerwerbsquote in den Mitgliedslandern zu erreichen, wird die Chancengleichheit in alien Politikbereichen angestrebt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum politischen Ziel erklart (Europaischer Rat 2000). Der Gleichstellungsgrundsatz wird am weitesten in den Empfehlungen der Kommission auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt; Empfehlungen sind aber zugleich auch die unverbindlichste Rechtsform. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Haushalt/Familie zu ermoglichen, fordert die Kommission in dem Weii?buch zur europaischen Sozialpolitik von 1994 eine Verbesserung der Angebote zur Kinderbetreuung. Weiterhin thematisiert die Kommission die Aufgabenverteilung zwischen Mann imd Frau im Haushalt: „Fortschritte bei einer neuartigen Ausgestaltung der Ubernahme familiarer Verantwortung konnten die Frauen allmahlich entlasten und es den Mannern ermoglichen, sich starker in die Gesellschaft einzubringen. Jedoch ist ein hoheres Mafi an Solidaritat zwischen Mannern und Frauen erforderlich, wenn Manner eine grofiere Verantwortung im Hinblick auf Pflegeaufgaben in
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen
unserer Gesellschaft iibernehmen soUten (...)" (Europaische Kommission 1994: 47). Als Aufgabe wird u. a. formuliert, dass nach Wegen gesucht werden soil, „wie die RoUenstereotype der Geschlechter in der Gesellschaft angegangen werden konnen". Die Diagnosen aus dem WeiiJbuch von 1994 finden sechs Jahre spater Eingang in die „ Europaische Sozialagenda" (Rat der Europaischen Union 2000), in der die politischen Zielvorstellungen bis zum Jahr 2010 festgelegt worden sind. Auch hier steht die Gleichstellung im Wirtschaftsleben im Vordergrund, zugleich werden die Hemmnisse, die eine Erwerbstatigkeit von Frauen verhindern, mit thematisiert und als veranderungswtirdig definiert. Dazu gehdrt die Veranderung von GeschlechtsroUen. Bilanzieren wir die Familienvorstelliingen der EU. Familienpolitik der EU meint vor allem Gleichstellungspolitik im Erwerbsleben fiir Manner und Frauen. Diese sieht die EU nur realisierbar, wenn die Infrastruktur der aufierfamiliaren Kindererziehung entwickelt ist und die traditionelle innerfamiliare Aufgabenteilung zwischen Mannern und Frauen aufgehoben wird. Mit dieser Politikorientierung unterstiitzt die EU das Leitbild einer egalitaren Beziehung zwischen Mann und Frau, das Bild einer berufstatigen Frau und die Vorstellung einer zumindest partiellen Sozialisation der Kinder in aui?erfamiliaren Einrichtungen. Damit wird durch die Politiken der EU ein bestimmtes Familienmodell praferiert, das zum Teil von dem biirgerlichen Familienmodell abweicht.^ Zugleich muss man allerdings die Bedeutung der Familienpolitik fiir die EU richtig gewichten: Auch wenn iiber das Thema Gleichstellung der
5 Die Gleichstellungs- und Familienvorstellungen galten und gelten natiirlich auch fiir die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten Mittel- und Osteuropas (Bretherton 2001). Die Beitrittsverhandlungen werden entlang einer Checkliste von 31 Kapiteln gefiihrt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geoffnet, verhandelt und nach erfolgreicher Verhandlung geschlossen werden. Die verschiedenen Kapitel sind unterschiedHchen inhalthchen Schwerpunkten der Rechts- und Strukturanpassung der Beitrittslander an die EU gewidmet (Landwirtschaft, Umwelt, Statistik etc.). Die Gleichbehandlung von Frauen und Mannern wird im Kapitel 13 (Beschaftigung und SozialpoHtik) verhandelt und bildet damit ein Aufnahmekriterium fiir die neuen Lander in die EU, auch wenn von manchen Autoren die Implementierung der Prinzipien des „gender mainstreaming" als nicht ausreichend interpretiert wird (vgl. Bretherton 2001).
3.2 Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstellimgen der Burger
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Geschlechter die Familienpolitik ein Thema der EU (geworden) ist, muss man in Rechnung stellen, dass dieser Politikbereich im Vergleich zu anderen Politikfeldern - Wettbewerbspolitik, Agrarpolitik - fiir die EU keine herausragende Bedeutung hat, wahrend er allerdings flir die Menschen, wie wir zu Beginn des Kapitels gesehen haben, hochste Prioritat besitzt.
3.2 Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der Burger Wir gehen im Folgenden der Frage nach, ob und in welchem Mai?e die Familien- und Geschlechtervorstellungen der EU von der Bevolkerung in den EU-Landern und den Beitrittslandern unterstiitzt werden. Das von der EU praferierte Geschlechter- und Familienmodell ist, wie wir gesehen haben, vor allem durch die Vorstellung gekennzeichnet, dass Frauen und Manner gleichberechtigt erwerbstatig sein sollen (a). Dieses „Masterziel" sieht die EU nur dann realisierbar, wenn Frauen und Manner sich die Hausarbeit imd die Erziehung der Kinder teilen und Kinder zumindest zeitweise aui?erhalb der Familie versorgt werden, z. B. in Kindergarten und Vorschulen gehen, damit beide Eltern arbeiten konnen (b).^ Grundlage unserer Analyse bildet wiederum in erster Linie die Europaische Wertestudie. Diese enthalt zum Teil recht gute Indikatoren zur Messung der Einstellungen der Biirger zu dem Familien- imd Geschlechtermodell der EU. Leider sind einige der fiir uns relevanten Fragen aber nicht in alien Landern erhoben worden. Will man an dem Vergleich der vier Aggregatskategorien festhalten, ist die Anzahl der Indikatoren recht eingeschrankt. Vor allem konnen wir nicht die Akzeptanz der symmetrischen Verteilung von Hausarbeit und Kinderbetreuung zwischen den Geschlechtern rekonstruieren. Die erste und auch zentralste Dimension des Familienleitbildes der EU-Politik bezieht sich auf die gleichberechtigte Erwerbstatigkeit von Mann und Frau. In welchem Mai?e dieses Leitbild auch in der Bevolke^ Die Art und Weise, wie dies in den verschiedenen Landern realisiert wird, kann dabei sehr unterschiedlich sein.
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellimgen
rung der EU-Staaten und der Beitrittskandidaten seine Unterstiitzung findet, lasst sich mit Hilfe folgender Frage recht gut operationalisieren iHid empirisch bestimmen. Die Burger wurden gefragt, ob sie folgender Aussage zustimmen: „Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen." Die Antwortalternativen reichen von „stimme zu" iiber „weder noch" bis zu „lehne ab". Die Frage misst insofern recht gut die Einstellungen zur EU-Idee der Gleichberechtigung von Mannern und Frauen in der Erwerbstatigkeit, als zum einen nicht nur abstrakt nach der Gleichberechtigung gefragt wurde, sondern nach der Berufstatigkeit von Frauen, zum anderen der Fragestimulus eine Knappheit an Arbeitsplatzen unterstellt, was die Befragten zwingt, Farbe zu bekennen, ob ihre Einstellung zur Gleichberechtigung auch unter restriktiven Bedingungen Bestand hat. Schauen wir uns zuerst die Unterschiede zwischen den Aggregatskategorien an. Wie die Tabelle 3.1 ausweist, gibt es zwischen den Gruppen deutliche und signifikante Unterschiede im Hinblick auf die Einstellungen zur Erwerbstatigkeit der Frauen. Wahrend die Idee der Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Arbeitsmarkt in den Mitgliedslandern und in den Landern der ersten Beitrittsrunde eine deutliche Unterstiitzung erfahrt, liegt die Unterstiitzung dieser Vorstellung bei den Biirgern der zweiten Beitrittsrunde bei knapp unter 50 %, in der Tiirkei nur bei einem Drittel der Befragten. Die Akzeptanz des EU-Familienmodells im Hinblick auf die Gleichstellung in der Erwerbstatigkeit ist insofern vor allem bei den Biirgern der Tiirkei nicht gegeben. Zugleich zeigen die Ergebnisse aber auch, dass die jeweiligen Aggregatskategorien durch eine hohe interne Varianz gekennzeichnet sind. Die skandinavischen Lander sind diejenigen, die sich am deutlichsten fiir eine Gleichberechtigung der Frauen aussprechen. In der Gruppe der neuen Mitglieder sind es Polen und Malta, die sich liberdurchschnittlich stark gegen das Gleichberechtigungsmodell der EU aussprechen. Wir kommen auf diese Unterschiede bei der Erklarung unserer Befunde wieder zuriick.
3.2 Die Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen der Burger TabelleS.l:
Einstellungen zur gleichberechtigten Erwerbstatigkeit von Mannem und Frauen (in %): „Wenn Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen."
EU-15 Schweden Danemark Finnland Niederlande Irland Griechenland Grofibritannien Belgian Frankreich Spanien Luxemburg Portugal Italien Osterreich Deutschland-West Deutschland-Ost Beitritt I Estland Ungarn Slowenien Lettland Tschechien Litauen Slowakei Malta Polen
Beitritt II Bulgarien Rumanien Tiirkei
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Zustimmung 19,7 2,3 6,2 9,0 12,5 16,4 19,9 21,0 25,0 21,7 21,7 23,7 27,2 27,0 28,6 28,4 24,8 25,3 13,6 22,7 17,8 19,8 19,2 22,7 24,1 48,8 37,9 37,3 36,7 37,9 61,9
Ablehnung 69,8 93,4 89,4 84,7 83,4 75,6 72,6 66,9 70,1 68,3 62,5 66,0 61,4 56,8 52,9 52,8 59,0 61,4 75,5 67,9 67,8 69,5 65,3 65,1 54,2 42,7 45,1 47,4 47,5 47,4 34,4
weder... noch 10,5 4,4 4,4 6,3 4,1 8,0 7,5 12,1 4,9 10,0 15,8 10,2 11,3 16,2 18,5 18,8 16,2 13,4 11,0 9,3 14,4 10,7 15,6 12,1 21,7 8,4 17,0 15,3 15,8 14,7 3,8
Wir konnen auf eine zweite Frage zur Messung der Einstellungen zur Gleichberechtigung zwischen Mannern und Frauen zuriickgreifen. Allerdings ist diese Frage nicht in der Tiirkei gestellt worden; zudem misst sie die Einstellungen zum gleichberechtigten Zugang von Mannern und
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3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen
Frauen zur Berufstatigkeit nur indirekt und nicht iinter den suggerierten restriktiven Bedingimgen eines knappen Arbeitsmarktes. Die Burger wurden gefragt, ob und in welchem Mafie sie folgender Aussage zustimmen: „Einen Beruf zu haben ist ja ganz schon, aber das, was die meisten Frauen wirklich wollen, sind Heim und Kinder." Die Antwortalternativen reichen von „stimme voll zu", „stimme zu", bis hin zu „stimme nicht zu" und „stimme iiberhaupt nicht zu"7 Fiir die Grafik 3.1 haben wir die Prozentsatze fiir die beiden Zustimmungsalternativen zusammengefasst. Das Ergebnis ahnelt auf der Aggregatsebene demjenigen aus Tabelle 3.1: Die Unterstiitzung des EU-Leitbildes einer berufstatigen Frau sinkt mit der Entfemung der Aufnahme in die Europaische Union. Wahrend etwas weniger als die Halfte der EU-Blirger die Vorstellung unterstiitzt, dass Frauen am liebsten nicht berufstatig waren, sind es in den Landern der ersten Beitrittsrunde iiber 70 %, die diese Ansicht teilen und in den Landern der zweiten Beitrittsrunde fast 80 %. Die Streuung innerhalb der Aggregatskategorien, vor allem zwischen den verschiedenen EULandern, ist aber erheblich. Wir haben schliei?lich noch eine dritte Messung der Einstellungen zur Idee der Gleichberechtigung von Mannern und Frauen durchgefiihrt und uns dabei an den Uberlegungen von Ronald Inglehart und Pippa Norris (2003a) orientiert. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass die Vorstellung der Gleichberechtigung im Berufsleben eingebunden ist in eine generalisierte Einstellung zur Gleichberechtigung von Mannern und Frauen. Zur Messung dieser generalisierten Orientierung haben die Autoren eine Skala entworfen. Diese besteht aus folgenden fiinf Fragen: • „Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen." Die Antwortalternativen reichen von „stimme zu" iiber „weder noch" bis zu „lehne ab".^ 7 In Osterreich und Irland wurde noch eine Mittelauspragung „weder/noch'' abgefragt. In die Aggregatsberechnung „EU-Lander'' sind diese beiden Lander daher nicht aufgenommen worden. 8 Diese Frage ist identisch mit unserem ersten Indikator. Eine Analyse im Rahmen des Indexes macht aber trotzdem Sinn, da es sich empirisch um einen anderen Datensatz und theo-
3.2 Die Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen der Burger Grafik3,l:
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Einstellung zur Berufstatigkeit/Hausfrauentatigkeit von Frauen: „Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen ist ein Heim und Kinder/' (Zustimmung in %)
" in der Tiirkei wurde diese Frage nicht gestellt
retisch um die Einordnung in ein breiteres Konzept von Gleichberechtigungsvorstellungen handelt.
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3. Familien- iind GeschlechtsroUenvorstellungen „Wenn eine Frau ein Kind haben will, ohne eine feste Beziehung zu einem Mann zu haben: Wiirden Sie das gutheifien oder nicht?" Die Antwortaltemativen sind „ gutheifien'', „kommt darauf an" und „nicht gutheifien". „Glauben Sie, dass eine Frau ein Kind haben muss, u m ein erfiilltes Leben zu haben, oder ist das nicht notig?" Die Antwortaltemativen sind „braucht Kinder" und „nicht notig". „Insgesamt betrachtet sind Manner bessere Politiker als Frauen." Die Antwortaltemativen reichen von „stimme sehr zu" iiber „stimme zu" und „stimme nicht zu" bis „stimme iiberhaupt nicht zu". „Ein Universitatsstudium ist fur Jungs viel wichtiger als fiir Madchen." Die Antwortaltemativen sind „stimme sehr zu", „stiinme zu", „stimme nicht zu" und „stiinme iiberhaupt nicht zu".
In der Europaischen Wertestudie sind leider nicht alle fiinf Fragen enthalten. AUerdings finden sich die fiinf Fragen in dem World Values Survey von 1995/1996. Leider haben an dieser Umfrage weit weniger europaische Lander und Beitrittskandidaten teilgenommen. Von den alien Landern der EU haben West- und Ostdeutschland, Schweden, Finnland und Spanien teilgenommen, von den Landern der ersten Beitrittsrunde Polen, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, von den beiden Landern der zweiten Beitrittsrunde Bulgarien und schliefilich die Tiirkei. Tabelle3.2:
Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) der Gleichberechtigungsskala
Manner haben eher ein Recht auf Arbeit Nicht gutheifien, dass Frau ohne feste Beziehung ein Kind hat Frau braucht ein Kind fiir erfiilltes Leben Manner bessere Politiker als Frauen Studium fiir Jungs wichtiger als fiir Madchen Erklarte Gesamtvarianz
Faktor ,69 ,41 ,60 ,74 ,68 40,9 %
3.2 Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstelliingen der Burger
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Wir haben mit den fiinf Fragen, ahnlich wie Inglehart und Norris, eine Faktorenanalyse durchgefiihrt. Das Ergebnis der Analyse findet sich in Tabelle 3.2. Wir verwenden im folgenden die Faktorwerte fiir die Befragten.^ Hohe positive Faktorwerte bedeuten eine grofie Unterstiitzung der Gleichberechtigung der Frauen, niedrige Werte dagegen eine geringe Unterstiitzung. In Grafik 3.2 sind die Mittelwerte fiir die Lander abgetragen. Grafik3.2:
Einstellungen zur Gleichberechtigung (an den Inglehart/ Norris-Index angelehnte Faktorwerte)
Betrachten wir zunachst wieder die Aggregatskategorien. Wahrend sich die Mittelwerte fiir die beiden Beitrittsrunden nicht signifikant unterscheiden, ist der Mittelwert fiir die EU-Mitglieder auf dem 1 %-Niveau 9 Die Bildung einer additiven Skala ist problematisch, da die einzelnen Variablen einen unterschiedlichen Range haben. Es bleibt leider unklar, wie Inglehart und Norris (2003) das Problem losen. Sie geben lediglich an, dass alle fiinf Variablen in den Index eingehen, der auf eine 100-Punkte-Skala standardisiert wurde.
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3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen
signifikant hoher, der fiir die Tiirkei niedriger. AUeine die Zugehorigkeit zu einer der vier Aggregatgruppen erklart 20 % der Varianz des Faktors. Ahnlich wie in der Analyse der Europaischen Wertestudie nimmt die Unterstiitzung der Gleichberechtigung von Frauen mit der Entfemung des Beitrittzeitpunkts zur EU ab. Auch hier zeigt sich, dass die Befragten in der Tiirkei im Vergleich zu alien drei anderen Aggregatskategorien die Vorstellung einer Gleichberechtigung von Frauen am wenigsten unterstiitzen. Zugleich, und teilweise abweichend von den oben diskutierten Ergebnissen, zeigt sich, dass der Abstand zwischen den EU-Landern und den Landern der beiden Beitrittsrunden deutlich hoher ist. Alle alten Mitgliedslander der EU liegen oberhalb der Beitrittslander. Dies ist aber vor allem auf die Tatsache zuriickzufiihren, dass in dem World Values Survey einige Lander fehlen, die in der Europaischen Wertestudie beteiligt waren. Fassen wir die deskriptiven Befunde unserer Analysen zusammen: Die EU versteht sich als eine Gemeinschaft, die sich die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtem und vor allem die Gleichberechtigung im Erwerbsleben auf ihre Fahne geschrieben hat. Diese Vorstellung wird von den Biirgern der alten EU-Mitgliedslander im Durchschnitt auch unterstiitzt. Etwas geringer fallt die Unterstiitzung in den Landern der ersten, noch geringer in den Landern der zweiten Beitrittsrunde aus. Deutlich abweichende Vorstellungen aber haben die Burger in der Tiirkei. Deren Rollenmodell ist weitgehend traditionell orientiert; die Manner geniefien deutliche Vorrechte. Diese Unterschiede auf der Aggregatsebene der vier Landergruppen diirfen aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass innerhalb der Landergruppen die Varianz zum Teil erheblich ist.
3.3 Erklarung der Unterschiede in den Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen Wenn wir im Folgenden versuchen, die Unterschiede in den Familienund Geschlechtsrollenvorstellimgen zu erklaren, so begreifen wir auch hier die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir unter-
3.3 Erklaning der Unterschiede in den Familienvorstellungen
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schiedliche soziale Bedingungskonstellationen. Zur Bestimmung dieser Faktoren konnen wir uns an der Forschungsliteratur orientieren. Es liegt mittlerweile eine Vielzahl an empirischen Studien vor, die Unterschiede in den Familien- und GeschlechtsroUenvorstelliingen im Landervergleich zu erklaren versucht haben (vgl. Gomilschak et al. 2000; Flaller und Hoellinger 1994; Inglehart 1997; Inglehart und Norris 2003a; Knudsen und Waemess 1999; Kiinzler et al. 1999; Gerhards und Rossel 2000). Die abhangigen Variablen in unserer Analyse ergeben sich aus der Fragestellung dieses Kapitels und aus den deskriptiven Analysen in Kapitel 3.2. Wir unterscheiden zwei abhangige Variablen: • Die Frage „Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen." • Die Frage „Einen Beruf zu haben ist ja ganz schon, aber das, was die meisten Frauen wirklich wollen, sind Heim und Kinder." Diese Frage wurde nicht in der Tiirkei gestellt. Bei der Bestimmung der unabhangigen Variablen unterscheiden wir drei verschiedene Variablengruppen und eine Einzelvariable: 1. Modernisierungsgrad der Gesellschaft: Die Unterstlitzung eines Gleichberechtigimgsmodells wird von vielen Sozialwissenschaftlern mit Modernisierungsentwicklungen in einen ursachlichen Zusammenhang gebracht. Je modernisierter eine Gesellschaft, desto starker ist die Akzeptanz einer Gleichberechtigung von Mann imd Frau. Der Grad der Modernisierung einer Gesellschaft driickt sich in einer Vielzahl von Faktoren aus, u. a. in einer okonomischen und einer bildungsmafiigen Modernisierung. a. Okonomische Modernisierung: Die Lander unterscheiden sich im Grad der okonomischen Modernisierung und des damit verbundenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstands. Okonomische Modernisierung und Wohlstand haben, so die empirisch mehrfach gepriifte These von Ronald Inglehart, einen Einfluss auf die generalisierten Werteorientierungen der Menschen, und diese haben wiederum einen Einfluss auf die Familien- und Geschlechtervorstellungen und zwar in folgende Richtung: Je hoher der okonomische Wohlstand in einer Gesellschaft ist, desto
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3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen
hoher ist die Wahrscheinlichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse, und desto h5her ist der Anteil der Bevolkerung, der postmaterialistische Werte praferiert (Inglehart 1997; Inglehart und Norris 2003a). Eine postmaterialistische Werteorientierung umschliefit auch Werte der Selbstbestimmung und der Gleichstellung von Mann und Frau. Insofern kann man erwarten, dass ein Land, das einen hohen Modernisierungsgrad aufweist, in hoherem Mafie ein Familienmodell beflirwortet, das die Berufstatigkeit und die Gleichberechtigung der Frau impliziert.^o Wir messen den Grad der okonomischen Modernisierung eines Landes durch die Flohe des „Human Development Index" (HDI). In den HDI gehen, wie bereits erlautert, mehrere Mafizahlen zur Bestimmung des Grads der Modernisierung ein: Reales Bruttosozialprodukt pro Einwohner, Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung. Wir haben leider keine Moglichkeit, den relativen okonomischen Wohlstand aller Befragten in alien Landern auf der Individualebene zu messen.^^ b. Bildung: Bildung erhoht die Moglichkeit der Selbstreflexion und die Wahrscheinlichkeit einer wissenschaftlichen Weltsicht. Inglehart bezeichnet den Effekt erhohter Bildung als kognitive Mobilisierung. Mit wachsender Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Traditionsbestande nicht als gegeben hingenommen, sondern auf ihre Funktionsweise hin befragt werden und eventuell mit ihnen gebrochen wird, so die Hypothese. Die Hinterfragung von Traditionen kann sich auch auf die traditionelle Geschlechterordnung beziehen. Insofern vermuten wir, dass sich die hoher gebildeten Befragten eher fiir eine Gleichberechtigung der Frau einsetzen als Personen mit niedriger Bildung. Bildung operationalisieren wir durch den hochsten Bildungsabschluss der Befragten. Dieser wurde mit Hilfe einer Variable mit acht Auspragungen gemessen, die von „ohne Schulabschluss" bis zu „Universitatsabschluss" reicht.
10 Einen guten Uberblick iiber die Literaturlage zu diesem modernisierungstheoretischen Argument findet man bei Christian Welzel (2000). 11 Eine zweite in der Literatur haufig benutzte Messung des Niveaus der Modernisierung ist das Bruttosozialprodukt pro Einwohner, Wir haben die folgenden Regressionsanalysen auch mit dieser Variable statt mit dem HDI durchgefiihrt. Die Ergebnisse bleiben stabil.
3.3 Erklarung der Unterschiede in den Familienvorstellimgen
119
2. Kulturell-religiose Orientierung: Gesellschaften sind durch unterschiedliche kulturelle Traditionslinien bestimmt iind diese pragen die Familien- und Geschlechtervorstellungen (vgl. Haller und Hoellinger 1994; Inglehart und Norris 2003a). Kulturelle Traditionslinien sind in hohem MaiSe beeinflusst durch die Dominanz von bestimmten Religionsgemeinschaften und die Ideensysteme, die durch diese verkorpert werden. Die Burger der gegenwartigen und zukiinftigen EU sind, wie wir im Kapitel 2 gesehen haben, entweder konfessionslos, Muslime, Katholiken, Protestanten oder Mitglieder der orthodoxen Kirche. Wir gehen davon aus, dass die Mitgliedschaft in den Kirchen die Einstellungen zur Gleichberechtigung der Frauen in folgender Weise beeinflussen wird: a. Allen von uns analysierten Religionen ist, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmafi und sicherlich historisch sehr variierend, gemeinsam, dass sie die Vormachtstellung des Marines gegeniiber der Frau legitimiert haben und zum Teil noch legitimieren.^^ In den christlichen Religionen zieht sich die Legitimation der Dominanz des Marines durch bis zur Schopfungsgeschichte. Die urspriinglich gleichberechtigte Beziehung zwischen Mann und Frau wird durch den durch die Frau ausgelosten Sundenfall in eine asymmetrische Beziehung verwandelt, in der die Frau dem Mann Untertan ist. Der Koran konstatiert die Uberlegenheit des Marines gegeniiber der Frau, gibt ihm das Recht zur Polygamie imd „gewichtet" Manner z. B. als Zeugen doppelt so stark wie Frauen. Wir vermuten entsprechend, dass der Grad der Intensitat der Einbindung in die jeweilige Kirche (gemessen durch die Kirchgangshaufigkeit) - ganz unabhangig vom Typus der Religion - die gewiinschte Geschlechterordnung beeinflusst. Je geringer Menschen in die alltaglichen Praktiken ihrer Kirche eingebunden sind, desto eher werden sie sich fiir eine Gleichberechtigung von Mann und Frau aussprechen.
12 Die folgenden Ausfiihrungen beziehen sich einerseits auf die Eintragungen zu den Stichwortern „Familie'', „Frau'' und „Mann'' in dem von Hans Dieter Betz et al. (2003) herausgegebenen Lexikon „Religion in Gegenwart und Geschichte'', zum anderen auf die Eintragungen unter den Stichwortern in der von Gerhard Miiller et al. (1976) herausgegebenen „TheologischeRealenzyklopadie''.
120
3. Familien- iind GeschlechtsroUenvorstellimgen
b. Zugleich vermuten wir, dass es zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften Unterschiede in der Interpretation der Geschlechterordnung gibt, die dann auch die Vorstellungen ihrer Mitglieder pragen. Ob und in welchem Mafie die verschiedenen Interpretationen auf grundsatzliche Dispositionen in den jeweiligen Schriften der Religionen zuriickzufiihren sind oder eher Auslegungen der Schriften sind, ist in der Literatur umstritten. Gerade zum Themenkomplex „Die Stellung der Frau im Islam" hat es in den letzten Jahrzehnten eine nicht mehr zu liberschauende Anzahl an Publikationen gegeben. Wir miissen aber hier, ahnlich wie in den anderen Kapiteln, nicht liber die Richtigkeit der verschiedenen Interpretationen entscheiden, sondern kdnnen stattdessen eine Position theoretisch als Hypothese formulieren und dann empirisch priifen, ob sich diese (auf der Ebene der Burger) empirisch bestatigen lasst oder nicht. Wir vermuten, dass die vier Religionen, die in den von uns analysierten Landern prasent sind, in folgender Weise Familien und das Verhaltnis zwischen Mann und Frau interpretieren und entsprechend ihre Mitglieder beeinflussen. Der Islam spricht sich in starkem Mafie fiir eine traditionelle Geschlechterordnung aus, in der die Frau fiir die Kinder und den Haushalt, der Mann fiir das 5ffentliche Leben und den Beruf zustandig ist und zugleich das Machtzentrum innerhalb der Familie darstellt. Ehefrau und Mutter zu sein ist die wichtigste gesellschaftliche Funktion der Frauen, Bildung und Berufstatigkeit sind dem deutlich nachgeordnet (El-Saadawi 1991: 51). Der aufierhausliche Raum ist der mannliche Raum; Frauen, die daran partizipieren, sind aufgefordert, sich zu verschleiern. Auch wenn in der Tiirkei bereits 1926 das Schweizer Zivilrecht eingefuhrt wurde und damit Familien- und Ehefragen der staatlichen, sakularisierten KontroUe unterworfen und die Rechte der Frau gestarkt wurden, gilt bis heute faktisch in weiten Teilen der Turkei das traditionelle, zum Teil aus dem Islam abgeleitete Familienrecht (Nauck und Klaus 2004). Dieses ist deutlich patriarchalisch strukturiert und sichert dem Mann in vielen Dimensionen die Vormachtstellung. Im Vergleich dazu ist das Christentum fiir die Definition der RoUe von Mann und Frau relativ bedeutungslos (Mitterauer 1999: 325). Wir erwarten entsprechend.
3.3 Erklariing der Unterschiede in den Familienvorstellungen
121
dass die Bereitschaft zur Unterstiitzung des Gleichberechtigungsmodells der EU bei den Muslimen - im Vergleich zu den anderen Religionen - am geringsten ist. Von den drei christlichen Religionen scheint die protestantische Religion wiederum diejenige zu sein, die sich am starksten von einer patriarchalischen Interpretation der Geschlechterordnung abgewandt hat. Seit der Reformation haben die Vertreter der katholischen und der protestantischen Kirche unterschiedliche Vorstellungen zur Familie entwickelt, wobei die Protestanten diesen Lebensbereich in starkerem Mai3e als eine weltliche Sphare definiert und entsprechend weniger normativ geregelt haben (Diilmen 1990: 157-164). Die Vorstellungen der katholischen Kirche im Hinblick auf Familie und GeschlechterroUen sind im Unterschied zu denen der protestantischen Kirche wesentlich starker am Leitbild einer biirgerlichen Kleinfamilie orientiert: Der Mann ist der Ernahrer, die Frau flir die Kinder, den Haushalt und die Familie zustandig. Diese Vorstellung liegt auch dem jiingst vom Vatikan veroffentlichten „Schreiben an die Bischofe der Katholischen Kirche iiber die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt'' zu Grunde (Ratzinger und Amato 2004). Zwar erkennt auch der Vatikan die RoUe der Frau im Erwerbsleben an, die eigentliche RoUe der Frau besteht aber in der Mutterrolle. Wir erwarten entsprechend, dass die Bereitschaft der Unterstiitzung des Gleichberechtigimgsmodells der EU bei den Moslems am geringsten ist, gefolgt von den Mitgliedern der orthodoxen und katholischen Kirche, wahrend Protestanten am ehesten das Modell der EU unterstiitzen. 3. Wohlfahrtsstaatsmodelle und institutionalisierte Gleichberechtigung: Schliefilich unterscheiden sich die Lander in dem Ausmafi, in dem ein bestimmtes Familienleitbild von der jeweiligen Politik des Landes propagiert und liber politische Mal?nahmen gefordert wird (vgl. Kaufmann et al. 1997). In der DDR wurde z. B. die Erwerbstatigkeit von Frauen in Familien mit Kindern in hohem Mafie ideologisch und durch sozialpolitische Mal?nahmen gefordert, wahrend in der alten Bundesrepublik eher die Hausfrauenrolle fiir Frauen in Familien mit Kindern ideologisch imd
122
3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen
strukturell gefordert wurde (Wendt 1997; Wingen 1997).^^ Wir gehen von der Annahme aus, dass die ideologische und sozialpolitische Fdrderimg der Berufstatigkeit und Gleichberechtigung von Frauen durch die jeweiligen nationalen Politiken auch die Einstellungen der Burger in dieser Richtung beeinflusst. Leider gibt es nach iinserer Kenntnis keine gute empirisch fundierte Klassifikation der verschiedenen Gleichstellungspolitiken der 28 von uns analysierten Lander. Wir wollen aber zumindest die Klassiflkationen, die existieren, kurz diskutieren und dann einen „Ersatzindikator" vorstellen und in die Analyse einbeziehen. Die Familienpolitiken eines Landes sind eingebettet in den Typus von Wohlfahrtsstaat, der in einem Land implementiert ist.^^ Im Hinblick auf eine Klassifikation von Wohlfahrtsstaaten liegen verschiedene Typologisierungsvorschlage vor (vgl. Blossfeld und Drobnic 2001; Korpi 2001; Klinzler et al. 1999; Lessenich und Ostner 1998; O'Connor 1993; Orloff 1993; Pascall und Manning 2000; Pfau-Effinger 2000; Roller 2000a), die sich fast alle auf die Einteilung von Costa Esping-Andersen (1990) in die drei Typen „Liberar', „Konservativ" und „Sozialdemokratisch" beziehen. An dem Vorschlag von Esping-Andersen wird aber u. a. kritisiert, dass er nicht sensibel genug zur Erfassung von Ceschlechtsunterschieden konzeptionalisiert sei (vgl. dazu die Antwort von Esping-Andersen 1999). Von den verschiedenen Vorschlagen, eine Typologie von Wohlfahrtsstaaten zur Erfassung von Ceschlechtsungleichheiten zu entwickeln, hat uns am meisten der Vorschlag von Walther Korpi (2001) iiberzeugt, auch deswegen, well er empirienah konzeptionalisiert ist. Korpi schlagt eine Typologie von geschlechtsrelevanten „policies" vor, die durch zwei Di-
13 Einen guten Uberblick geben die zehn Landerberichte in dem von Franz-Xaver Kaufmann et al. (1997) herausgegebenen Band. 14 Viele Autoren sehen zudem einen Zusammenhang zwischen der religiosen Traditionslinie und dem jeweiligen Wohlfahrtsstaatsmodell (vgl. Kaufmann 1988a; Martin 1978). Die in einer katholischen Traditionslinie stehenden Lander haben meist einen Wohlfahrtsstaat entwickelt, der eher dem „Family support model'' entspricht, die protestantischen Lander haben Wohlfahrtsstaaten entwickelt, die tendenziell eher die beiden anderen Familienmodelle unterstiitzen. Dieser Zusammenhang gilt nicht fiir die mittel- und osteuropaischen Lander.
3.3 Erklariing der Unterschiede in den Familienvorstellimgen
123
mensionen gekennzeichnet ist.^^ Korpi klassifiziert die verschiedenen Lander entlang dieser beiden Dimensionen und erhalt drei Landergruppen, die einen unterschiedlichen Einfluss auf die Familienvorstellimgen haben konnen. Den ersten Typus nennt er „Dual earner support model". Die Unterstiitzung der Kernfamilie ist gering, die Unterstlitzimig der doppelten Erwerbstatigkeit ist hoch. Den zweiten Typus nennt er „General family support model". Fiir diesen Typus gilt, dass die Unterstiitzung der Kernfamilie hoch ist, die der doppelten Berufstatigkeit eher gering. Den dritten Typus nennt Korpi „Market oriented model". Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass weder die doppelte Erwerbstatigkeit noch die Kernfamilie politisch unterstiitzt wird. Marktkrafte regulieren, ob es Kinderkrippen gibt, ob Mutter zu Hause bleiben etc. Das von der EU propagierte Familienmodell der doppelten Erwerbstatigkeit und der Aufteilung der Hausarbeiten wird in den Landern die hochste Akzeptanz haben, die man dem „Dual earner support model" zurechnen kann. Es wird die geringste Akzeptanz in den Landern haben, die man dem „ General family support model" zuordnen kann. Die Lander, die als „Market oriented" klassifizierbar sind, werden eine Zwischenstellung einnehmen. Leider lasst sich der Klassifizierungsvorschlag fiir die von uns analysierten Lander nicht gut empirisch umsetzen: Zwar kann man sich bei der Einordnung der westeuropaischen Lander an der Einteilung von Korpi orientieren; allerdings fehlen hier bereits die Lander Portugal, Griechenland und Luxemburg, da diese von Korpi nicht klassifiziert wurden. Grofie Probleme bereitet die Klassifikation der ehemals sozialistischen Lander Mittel- imd Osteuropas. Wahrend der Zeit des Staatssozi-
15 Die erste Dimension ist bestimmt durch die Starke, mit der durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen die Kernfamilie unterstiitzt wird. Indikatoren zur Messung dieser Dimension sind die Hohe des Kindergeldes fiir junge Kinder und die Hohe der steuerlichen Erleichterung fiir Familien mit kleinen Kindem und einem nicht erwerbstatigen Elternteil. Die zweite Dimension ist bestimmt durch den Grad der Unterstiitzung einer doppelten Erwerbstatigkeit durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen. Indikatoren zur Messung dieser Dimensionen sind die Menge der Kinderkrippen, bezahlte Mutterschaft, offentliche Hilfe fiir alte Menschen u. a. Wahrend eine Forderung der Kernfamilie eher zu einer Unterstiitzung des biirgerlichen Familienmodells fiihren wird, so unsere Hypothese, wird eine Forderung der doppelten Erwerbstatigkeit eher zu einer Ablehnung dieses Modells fiihren.
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3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen
alismus wurde die Erwerbstatigkeit der Frauen in diesen Landem stark gefordert. Entsprechend kann man diese Lander, wenn man sich an der Sekundarliteratur orientiert, der Gruppe des „Dual earner support models'' zuordnen (vgl. Blossfeld imd Drobnic 2001; Getting 1998; Pascall und Manning 2000; Watson 2000). Andererseits haben sich die Bedingungen in diesen Landem seit der Transformation bin zu demokratischen Marktwirtschaften radikal verandert; und auch die Geschlechterund Familienpolitik hat sich tiefgreifend verandert. Dies macht es sehr schwer, diese Lander zu klassifizieren. Ein weiteres Problem bei der Klassifikation der Lander bilden die Tiirkei und Malta. Fiir beide liegen keine Informationen iiber die Familienpolitik vor. Aufgrund dieser insgesamt sehr schlechten Datenlage haben wir die Variable „WohlfahrtsstaatsmodelL' nur in einer ersten Analyse beriicksichtigt/^ dann aber durch das sogenannte „Gender Empowerment Measure" (GEM) ersetzt.^^ Ahnlich wie der Human Development Index wird das „Gender Empowerment Measure" vom „United Nations Development Programme" erhoben und fiir sehr viele Lander der Erde bestimmt (Human Development Report Office 2000).
16 Die Lander wurden folgendermafien klassifiziert: a. Portugal, Luxemburg, Griechenland, Malta und die Tiirkei wurden aus den oben genannten Griinden nicht beriicksichtigt. b. „Dual earner moder': Schweden, Finnland, Danemark, dann alle friiheren sozialistischen Lander. c. „Family support model": Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Osterreich, Irland, Spanien. d. ^Market oriented'': GroJSbritannien, Niederlande. 17 Die Beta-Werte in der Regressionsanalyse ahneln denen, die man erhalt, wenn man das im Folgenden erlauterte „Gender Empowerment Measure'' statt der Wohlfahrtsstaatsmodelle in die Analyse aufnimmt. Goran Therborn (2000: 122 ff.) beschreibt den Emanzipationsprozess der Frauen in verschiedenen europaischen Landern entlang der Veranderungen der Rechtsvorschriften in den Landem. Danach gehoren die Lander Bulgarien und Rumanien z. B. zu den Landern, in denen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen sehr friih erweitert wurden. Dass dies nur geringe Effekte auf die Einstellungen der Burger hatte, haben unsere deskriptiven Analysen gezeigt. Rechtsveranderungen miissen nicht die Einstellungen der Burger verandern. Und sie werden dies vor allem dann nicht tun, wenn sie, wie in staatssozialistischen Gesellschaften von „oben" oktroyiert werden.
3.3 Erklarung der Unterschiede in den Familienvorstellungen
125
Gemessen wird der Grad der institutionalisierten Gleichberechtigiing. Der Index setzt sich aus drei Variablen zusammen: Der Anteil der Frauen nnd Manner im Parlament, der Anteil der Frauen und Manner an Fiihrungspositionen in Wirtschaft und Politik und die Unterschiede zwischen Mannern und Frauen im Einkommen. Bei kompletter Gleichheit zwischen Mann und Frau erhalt der Index den Wert 1, bei kompletter Ungleichheit den Wert 0. Die Werte fiir die verschiedenen Lander fiir das Jahr 2000 sind in der Einleitung aufgelistet. Die Werte fiir Frankreich, Luxemburg, Malta und Bulgarien fehlen leider. Die Benutzung des GEM zur Messung, ob die Politik und der Wohlfahrtsstaat eines Landes eher gleichberechtigungsforderlich ist oder nicht, ist keine optimale Operationalisierung des theoretischen Konstrukts, weil es sich um eine „Output"- bzw. Ergebnismessung von Gleichberechtigung handelt. Der Grad der Gleichberechtigung kann, muss aber nicht auf die entsprechende Politik des Landes zuriickzuflihren sein. Da aber keine bessere Messung vorliegt, greifen wir auf diesen Indikator zuriick. 4. Geschlecht: Zusatzlich haben wir noch die Variable Geschlecht der Befragten beriicksichtigt, da wir davon ausgehen, dass Fragen der Gleichberechtigung die Interessenslagen der beiden Geschlechter unterschiedlich beriihren. Wir vermuten, dass sich Frauen eher fiir die Gleichberechtigung einsetzen als Manner. Die folgende Tabelle enthalt die Ergebnisse der Regressionen.^^
18 Bei der zweiten abhangigen Variable weisen Irland und Osterreich eine abweichende Skala auf, weshalb wir sie aus der Analyse ausgeschlossen haben. Die Ergebnisse verandern sich aber praktisch nicht, wenn man die Skalen der beiden Lander anpasst und sie mit aufnimmt.
126 Tabelle3.3:
3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen Erklarung der Einstellungen zur Berufstatigkeit Gleichberechtigung der Frauen: Regressionsanalysen
Modemisierungsgrad HDI Bildung Religion^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Integration in die Kirche GEM Geschlechtb) R2
und
„Frauen gleiches Recht auf Beruf''
„Frauen wollen nicht nur Heim und Kinder''
,080 ,254
,092 ,170
,038 -,081 -,055 -,140 -,081 -,004+ ,082 ,140
-,002+ -,043 -,020* -,047 -,083 ,213 ,064 ,147
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (* = signifikant auf 5 %-Niveau, + = nicht signifikant). 3) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose". ^) Referenzkategorie fiir die Geschlechtsvariable sind „Manner".
Welche Befunde lassen sich bilanzieren: a. Ein Blick auf die erklarte Varianz der beiden abhangigen Variablen zeigt uns, dass wir mit den ausgewahlten unabhangigen Variablen zufriedenstellend die Einstellungen zur Berufstatigkeit der Frau und zur Gleichberechtigung von Frauen erklaren konnen. b. Die beiden modernisierungstheoretisch abgeleiteten Variablen Bildung und okonomische Entwicklung haben mit den starksten Einfluss von alien Variablen auf die Gleichberechtigungsvorstellungen der Burger und zwar in der erwarteten theoretischen Richtung. Je hoher gebildet ein Befragter ist bzw. je starker modernisiert das Land ist, aus dem er kommt, desto eher spricht er sich fiir eine Gleichberechtigung der Frauen aus.i9
19 Der Einfluss der Bildung ist deutlich grofier im Vergleich zum HDI. Allerdings ist die Bildung auch auf der Individualebene gemessen, der HDI dagegen auf der Landerebene.
3.4 Zusammenfassung
127
c. Wir sehen auch, dass der Grad der institutionalisierten Gleichberechtigimg, den wir als Ersatzmessimg fiir die Politikorientierung genommen haben, zumindest bei einem unserer Indikatoren deutlich die Wahrscheinlichkeit erhoht, dass man sich fiir die Gleichberechtigung von Frauen einsetzt. d. Von der Mitgliedschaft in den verschiedenen Religionsgemeinschaften geht ein imterschiedlicher Effekt auf die Gleichberechtigungsvorstellungen aus. Im Hinblick auf alle abhangigen Variablen zeigt sich, dass die Mitgliedschaft im Islam die Wahrscheinlichkeit erhoht, dass man die von der EU favorisierte Idee der Gleichberechtigung der Frau ablehnt.^o Dieser Befund gilt auch, wenngleich auf einem etwas niedrigeren Niveau, fiir die orthodoxen Christen und die Katholiken. Auch diese lehnen die Gleichberechtigungsidee eher ab, wahrend die Protestanten eher die Idee der Gleichberechtigung unterstiitzen. Dieses Ergebnis entspricht weitgehend unseren theoretischen Erwartungen. e. Weiterhin zeigt sich, dass der Grad der Integration in die jeweilige Kirche einen negativen Einfluss auf die Unterstiitzung der Gleichberechtigungsidee hat. Auch dies entspricht unseren Annahmen. f. Schliefilich zeigen die Analysen, dass das Geschlecht des Befragten seine Einstellung zur Gleichberechtigungsidee beeinflusst und zwar in der erwarteten Richtung; Frauen sprechen sich deutlicher fiir ihre Emanzipation aus als die Manner.
3.4 Zusammenfassung Familienpolitik der EU meint vor allem Gleichstellungspolitik im Erwerbsleben fiir Manner und Frauen. Diese sieht die EU nur realisierbar, wenn die Infrastruktur der aufierfamiliaren Kindererziehung entwickelt ist und die traditionelle innerfamiliare Aufgabenteilung zwischen Mannern imd Frauen aufgehoben wird. Wir haben dieses aus den Rechtstex20 Der deutlich geringere Wert bei der zweiten abhangigen Variable geht auf die Tatsache zuriick, dass die Tiirkei in der Regression aufgrund fehlender Daten nicht beriicksichtigt werden konnte.
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen
ten der EU rekonstruierte Familienleitbild als Ausgangspimkt imserer empirischen Analysen genommen imd iiberpruft, inwieweit es von den Biirgern in den Mitglieds- iind Beitrittslandern der EU akzeptiert wird. Unterscheidet man zwischen den alten und neuen Mitgliedslandern der EU, den Beitrittskandidaten sowie der Tiirkei, so zeigt sich, dass die EUPosition von den Alt-Mitgliedsstaaten am starksten und dann von Gruppe zu Gruppe immer schwacher unterstiitzt wird; die Burger der Tiirkei lehnen die Idealvorstellung von Familie der EU am starksten ab; sie praferieren am deutlichsten eine traditionelle Geschlechterordnung mit einer Vormachtstellung des Marines. Mit Hilfe einer multiplen Regression sind wir dann der Frage nachgegangen, wie man die Unterschiede im Grad der Unterstiitzung der Gleichberechtigungsidee erklaren kann. Wir konnten zeigen, dass die Nahe zum EU-Skript einer idealen Familie durch den Modernisierungsgrad einer Gesellschaft, den Grad der Institutionalisierung der Gleichberechtigung durch die Politik in einem Land, die Religionsorientierung und die Einbindung in die Kirche beeinflusst wird. Aus der Tatsache, dass die von uns herausgearbeiteten Unterschiede in den Familienvorstellxmgen u. a. auf einen unterschiedlichen Grad der okonomischen Modernisierung zuriickzufiihren sind, kann man allerdings nicht rlickschlielJen, dass eine okonomische Angleichung des Lebensstandards der mittel- imd osteuropaischen Lander und der Tiirkei an die jetzigen Mitgliedslander der EU unmittelbar und kurzfristig zu einer Veranderung auf der kulturellen Ebene fiihren wird. Ronald Inglehart (1997) hat gezeigt, dass die Werteorientierungen der Menschen in der Sozialisation vermittelt werden und dann relativ resistent gegeniiber Veranderungen der faktischen Lebensbedingungen sind. Auch wenn die Entstehimg und Auspragung von Kultur in hohem Mafie durch die 5konomische Entwicklung beeinflusst wird, erhalten die kulturellen Orientierungen dann eine Eigenstandigkeit, die relativ immun gegeniiber kurzfristigen 5konomischen Veranderungen ist. Gerade die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung hat gezeigt, wie langsam sich kulturelle Orientierungen an die neuen Bedingungen anpassen (vgl. Conradt 1980;
3.4 Zusammenfassung
129
die Beitrage in Pickel et al. 1998a; Fuchs 1999b; Roller 2000a). Zudem ist offen, ob und in welchem Zeitraum es zu einer okonomischen Konvergenz der Mitglieds- und Beitrittslander kommen wird. Unsere empirischen Befunde implizieren aber auch Folgeriongen fiir die Chancen und Probleme des zukunftigen Integrationsprozesses. Vor allem fiir die Akteure, die sich die Emanzipation von Frauen auf die Fahnen geschrieben haben, werden sich mit der Erweiterung der EU die Bedingungen fiir die Durchsetzung ihrer Ziele verschlechtern. Die Erweiterung wird den Gegenwind fiir diese Interessengruppen erhohen, well der Riickhalt fiir ihre Forderungen, die sie in der Vergangenheit vor allem auf der Ebene der EU-Kommission relativ erfolgreich durchsetzen konnten (vgl. Wobbe 2001), nicht mehr gegeben ist. Gerade die westlich inspirierte Frauenbewegung scheint in einem nicht geringen Ausmafi bereits dariiber frustriert zu sein, wie wenig das Thema Gleichstellung in den osteuropaischen Landern - auch bei den Frauen - auf Resonanz stofit (vgl. Watson 2000; Bretherton 2001). Mit der Mitgliedschaft der neuen Lander in der EU erhalten diese auch alle Mitsprache- und Gestaltungsrechte in den Gremien der EU. Damit verschieben sich die Machtverhaltnisse innerhalb der Institutionen der EU. Sogenannte Frauenfragen werden es in Zukunft deutlich schwerer haben, sich politisch Geh5r zu verschaffen. Die Reprasentanten der neuen Lander werden fiir diese Fragen weniger Interesse aufbringen, wenn sie sich an den Vorstellungen ihrer Biirger zu Familie und Geschlechterrollen orientieren. Manche politischen Akteure scheinen dies noch gar nicht richtig bemerkt zu haben.
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
Die heutige Europaische Union startete als Wirtschaftsgemeinschaft, und die Wirtschaft ist bis heute ohne Zweifel der wichtigste Teilbereich der Europaischen Union. Beginnend mit der Montanunion, erweitert durch die Zollunion, die Bildimg eines gemeinsamen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Wirtschafts- und Wahrungsunion, schlielSlich durch die Einfuhrung einer gemeinsamen Wahrung fiir eine Teilgruppe der EULander hat sich die Gemeinschaft vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt, die im zweiten Schritt durch Merkmale einer politischen Union erganzt wurde. Die wirtschaftliche Integration hat dabei, sei es durch die Orientierung an direkten wirtschaftspolitischen Vorgaben der Europaischen Union oder an „best practice^'-Modellen im Rahmen der offenen Koordination, zu einer zunehmenden Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken der beteiligten Lander gefiihrt. Beobachter der Entwicklung des europaischen Integrationsprozesses machen zwei miteinander verbundene Griinde daflir geltend, dass die okonomische Integration im Vergleich zur Integration anderer gesellschaftlicher Bereiche so ziigig voranschreiten konnte. Zum einen gab es zwischen den relevanten Akteuren eine Interessensiibereinstimmung, zum anderen lassen sich okonomische Rationalitatskriterien wahrscheinlich besser institutionalisieren als andere Teilsystemrationalitaten. „Europa entwickelte sich aus einer Abfolge von jeweils „kleinen'' Schritten, die sich durch den Glauben an die wirtschaftlichen Erfolge eines groiSen Binnenmarktes legitimierten. Alle sollten durch Rationalisierungseffekte des Binnenmarktes iiber das wachsende Sozialprodukt ihren Vorteil haben. Durch die Isolierung der Wirtschaft aus den iibrigen Lebens- und Politikbereichen konnten die traditionellen innen- und sozialpolitischen Ordnungen erhalten bleiben, auch wenn iiber instrumentelle Eingriffe
132
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
mit Hilfe von Kriterien der Wettbewerbspolitik auf vielfaltige Weise in sie interveniert wurde. Wirtschafts- und sozialpolitische Anpassiingsleistungen zur Abfederung der Folgelasten und zur Umsetzung der neuen Regulierungen oder der Deregulierung alter Strukturen wurden in die Mitgliedslander und ihr soziopolitisches Konfliktmanagement externalisiert." (Lepsius 2003: 39). Wir werden im Folgenden die Einstellungen der Burger des erweiterten Europas zu den Wirtschaftsvorstellungen der EU analysieren. Dazu soil in einem ersten Abschnitt das Wirtschaftsskript der Europaischen Union rekonstruiert werden. Der zweite Abschnitt analysiert die Akzeptanz dieser Vorstellungen in den Mitglieds- und Beitrittslandern; auf dieser Basis werden wir in einem dritten Schritt mit Hilfe einer Diskriminanzanalyse die Lander nach ihrem Abstand zu den Idealvorstellungen der EU klassifizieren. In einem vierten Abschnitt soUen die gefundenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten erklart werden. Wir haben in der Einleitung zu begriinden versucht, warum die Einstellungen der Burger fiir die Stabilitat der Institutionenordnung einer Gesellschaft eine wichtige Bezugsgrofie darstellen. Dieses allgemeine Argument gilt auch fiir den Bereich der Wirtschaft. Die Bedeutsamkeit einer Wirtschaftskultur ist gerade im Kontext der Forschungen zur Transformation der vormals staatssozialistischen Gesellschaften, die ja nun Mitgliedslander der EU sind bzw. werden, betont worden.^ Damit der Transfer und die Implementation westlicher Wirtschaftsinstitutionen erfolgreich ist, bediirfen sie der Unterstiitzung durch die Burger. Svetozar Pejovich spricht in diesem Zusammenhang aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht von der „interaction thesis": „When changes in formal rules are in harmony with the prevailing informal rules, the incentives they create will tend to reduce transaction costs and free some resources for the production of wealth. When new formal rules conflict with the prevailing informal rules, the incentives they create will raise transaction costs and reduce the production of wealth in the community." (Pejovich 2003: 5). Entsprechend betrachtet Wolfgang Merkel die Akzeptanz der
' Vgl. etwa die Aufsatze in Hans-Hermann Hohmann (Hg., 2002; 2001; 1999).
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU
133
veranderten okonomischen Spielregeln durch die Eliten und die Bevolkeriing als zwei zentrale Bedingungen der Konsolidierung der Transformationsstaaten (Merkel 1995). Diese Uberlegimgen schliefien an die Erkenntnisse der Wirtschaftssoziologie an, die Peter L. Berger (1991) folgendermafien formuliert: „ Economic institutions do not exist in a vacuum but rather in a context (or, if one prefers, a matrix) of social and political structures, cultural patterns, and, indeed, structures of consciousness (values, ideas, belief systems)." (Berger 1991: 24). Bezogen auf die vormals staatssozialistischen Gesellschaften kann man sagen, dass der Institutionentransfer weitgehend gelungen ist, auch wenn die okonomischen Unterschiede zwischen den Mitgliedslandern und den Beitrittslandern noch erheblich sind.^ Offen ist aber, ob die oko~ nomischen Institutionen durch die Einstellungen und Werte der Bevolkerung unterstiitzt werden, oder ob aufgrund der Sozialisation in einer sozialistischen Planwirtschaft Werteorientierungen dominant sind, die mit der neuen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung nicht kompatibel sind. Vor dem Hintergrund dieser Argumente wird deutlich, wie bedeutsam eine ahnlich gelagerte Wirtschaftskultur fiir das Gelingen des europaischen Integrationsprozesses sein kann.
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU Da die Wirtschaft den zentralsten Bereich der Europaischen Union darstellt, finden sich hier auch die meisten rechtlichen Regelungen. „EU law is in its substance chiefly public regulation of economic life, i.e. economic legislation." (Lane 2002:1). Die Regelungsdichte einerseits und die Tatsache, dass alte Vertrage haufig weiter gelten und nur in umfassendere Gesetze aufgenommen wurden, macht eine Rekonstruktion der rechtlich kodifizierten Wirtschaftsvorstellungen der EU nicht gerade einfach. Wir 2 Das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug 1999 in den zehn Kandidatenlandern der ersten Beitrittsrunde durchschnittlich lediglich 44,2 % des EUWertes, beriicksichtigt man Bulgarien und Rumanien, sind es sogar nur 38,5 % (Heidenreich 2003).
134
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
konzentrieren uns im Folgenden auf die grimdlegenden Wirtschaftsvorstellimgen der EU, und diese finden sich vor allem in den Griindungsund Erweiterimgsvertragen und in dem Verfassungsentwurf. Doch auch hier sind die Regelimgen nicht immer einheitlich, was u. a. dem Kompromisscharakter dieser Papiere geschuldet ist.^ Die EU verfolgt mit ihren Wirtschaftsvorstellimgen vor allem ein zentrales „Megazier'. Sie mochte die okonomische Wohlfahrt aller Biirger der Mitgliedslander verbessern. So ist nach Artikel 3, Abs. 1 des Verfassungsentwurf s Ziel der EU, „das Wohlergehen ihrer V51ker zu f5rdern'', und dies durch „nachhaltige Entwicklimg Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums" (Abs. 3; Konferenz 2004). Diese Megazielbestimmimg sieht die EU am besten realisierbar, wenn zum einen bestimmte Wirtschaftsordnungsvorstellungen implementiert werden und zum anderen die Burger mit bestimmten Handlungsorientierungen ausgerustet sind, um als Wirtschaftssubjekte an der Wirtschaft zu partizipieren. Wir unterscheiden entsprechend zwei zentrale Dimensionen, die dann liber Subdimensionen weiter spezifiziert werden, die zusammen das Skript der Wirtschaftsvorstellimgen der EU aufspannen. Die erste Dimension bezieht sich auf Vorstellungen der EU im Hinblick auf die ideale Organisationsform der Wirtschaft (4.1.1). Die zweite Dimension bezieht sich auf die generalisierten Handlungsorientierungen der Burger als Wirtschaftssubjekte (4.1.2).
4.1.1 Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU Ankniipfend an einen Strukturierungsvorschlag von Glaus Giering (2001) schlagt Holger Friedrich (2002) eine Einteilung der Grundziige der europaischen Wirtschaftsverfassung in die fiinf Bereiche „Verbindliche ordnungspolitische Zielsetzung", „Ausschlie61iche Politiken", „Gemeinsame 3 Erschwerend kommt hinzu, dass die Zustandigkeiten der EU bzw. der Mitgliedslander nicht immer klar geregelt sind. „Insbesondere wenn es um die Umsetzung der allgemeinen Zielsetzungen geht, finden sich Widerspriiche und nicht naher definierte Zustandigkeitsverhaltnisse zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten/' (Friedrich 2002: 4).
4.1 Die Wirtschaftsvorstelliingen der EU
135
Politiken", „Erganzende Politiken" sowie „Koordinierte Bereiche" vor. Fiir imsere Fragestellung ist dabei die erste Kategorie die zentrale. Sie enthalt „alle Bestimmungen, welche die europaische Wirtschaftsordnung mitsamt ihrer ordnungspolitischen Zielrichtung betreffen" (Friedrich 2002: 5). Vertraglich festgelegt findet sich das europaische Leitbild vor allem in den Artikeln 2 des Vertrags iiber die Europaische Union (EUV) sowie in den Artikeln 2, 3 und 4 des Vertrags zur Griindung der Europaischen Gemeinschaft (EGV).^ Gepragt ist das ordnungspolitische Leitbild der EU danach durch eine offene, dem Wettbewerb sowie der Sozialstaatlichkeit verpflichteten Marktwirtschaft (vgl. auch Friedrich 2002; Hodl und Weida 2001). Grundlegend sind dabei vor allem die drei Aspekte „Wettbewerb", „Offenheit des Binnenmarktes" und „Staatliche Kontrolle der Wirtschaft". a. Wettbewerb: Die Europaische Union spricht sich dezidiert fiir einen freien Wettbewerb innerhalb des europaischen Binnenmarktes aus (Schmidt und Binder 1998). Die dabei verwendeten Attribute reichen iiber „redlich" (Praambel EGV), „unverzerrt" bzw. „unverfalscht" (Artikel 3 Abs. Ig) bis zu „frei" (Artikel 4 Abs. 1 und 2). Ziel eines freien Wettbewerbs ist die Gestaltung optimaler Marktprozesse. Als Instrumente stehen der EU etwa Kartellverbote, das Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen oder die Kontrolle staatlicher Beihilfen zur Verfiigung. Die Herstellung von Wettbewerb und die Liberalisierung wettbewerbsbehindernder Reglementierungen verbindet die EU mit der wirtschaftspolitischen Hoffnung der Erzeugung von Wachstum, Fortschritt und Prosperitat (Europaische Kommission 2000). Die Philosophie der Wettbewerbserzeugung durch Deregulierung bezieht sich aber in erster Linie auf das Innenverhaltnis der EU. Wettbewerb des europaischen Wirtschaftsraums im Verhaltnis zu den aufiereuropdischen Volkswirtschaften metnt haufig staatliche Unterstiitzung und Forderung von europaischen Wirtschaftszweigen, u m diese fiir den internationalen Wettbewerb zu riisten. Die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 4 Wobei sowohl Giering (2001) als auch Friedrich (2002) darauf hinweisen, dass die Aufgabenhste des Artikel 3 Regelungen auf sehr unterschiedlichem Verbindlichkeits- und Konkretheitsniveau enthalt.
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
2000 will Europa zur d)mamischsten iind wettbewerbfahigsten Region weltweit machen (Europaischer Rat 2000). Dieses Ziel fiihrt dazu, dass bestimmte Sektoren besonders unterstiitzt werden, z. B. durch eine gezielte staatliche Forderving von Forschung und Entwicklung oder durch institutionelle Hilfen bei der grenziibergreifenden Zusammenarbeit, im Einzelfall aber auch durch die Zulassung europaischer Oligopole, um so „einem verscharften internationalen Wettbewerb standhalten zu konnen" (Turek 1997: 346).^ Werkzeuge zur Erreichung dieser Ziele sind insbesondere die Industrie-, z. T. auch die Handelspolitik. Entsprechend konstatieren Norbert Berthold und J5rg Hilpert: „Wettbewerbs-, Industrieund Handelspolitik geraten leicht in Konflikt zueinander. Die in der EU geltenden Vertragsbestimmungen programmieren Konflikte dieser drei Politikfelder vor, weil sie je nach Interessenlage widersprlichlich interpretiert werden konnen." (Berthold und Hilpert 1996:106). b. Ojfenheit des Binnenmarktes: Die Offnung der europaischen Markte fiireinander ist aus der Perspektive der EU eine der zentralen Voraussetzungen fiir den unverzerrten Wettbewerb. Wie in der Einheitlichen Europaischen Akte von 1987 vorgesehen, begann zur Jahreswende 1992/93 der gemeinsame europaische Binnenmarkt mit den sogenannten vier Freiheiten des Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital soUten sich in der EU genauso frei bewegen konnen, wie es bisher innerhalb der nationalen Volkswirtschaften der Fall war. Htnweise auf die definierte Offenheit des Binnenmarktes finden sich im Vertragswerk an mehreren Stellen, u. a. in alien oben angefuhrten Artikeln und den Praambeln des EUV und des EGV. Die erfolgreiche Einfuhrung des Binnenmarktes wurde durch ein 5 Begriindet wird dies folgendermafien: „Im Binnenmarkt verfiigt die Gemeinschaft iiber ein justitiables Regime, um wettbewerbsverzerrendes Verhalten wirksam zu sanktionieren, Im globalen Mafistab greifen diese Mafinahmen jedoch nicht. Somit konnen in der Konsequenz wettbewerbswirksame Mafinahmen innerhalb des Binnenmarktes den Wettbewerb zwar starken, die Wettbewerbsfahigkeit europaischer Unternehmen gegeniiber der internationalen Konkurrenz aber schwachen. Die Europaische Kommission hat dieses Dilen\ma insofern erkannt, als dafi sie sich um die Gewahrleistung eines effizienten Wettbewerbes in Europa bemiiht und dabei Untemehmenszusammenschliisse im Rahmen weltweiter Strategien auf weltweiten, europaischen oder nationalen Markten untersucht/' (Turek 1997: 348).
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU
137
wirtschaftspolitisches Umdenken in den 80er Jahren ermoglicht, welches auf Starkxing der Wirtschaftskraft durch Marktliberalisierung setzte (vgl. etwa Schafer 2002; Thiel 1996: 125ff.). Die EU hat dabei die notwendigen Voraussetzungen fiir die Offnung der Markte, z. B. ein „Verbot von Zollen und mengenmafiigen Beschrankimgen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren" (Artikel 3 Abs. la) geschaffen. Die Offenheit des Marktes ist ein Prinzip, welches in den Volkswirtschaften aller Mitgliedstaaten mehr oder weniger gut verankert ist. Neu ist allerdings die Ausweitung auf einen supranationalen Raum.^ Entsprechend finden sich immer wieder Versuche von staatlicher oder okonomischer Seite, unliebsame auslandische Konkurrenz zu behindem. Richtungsweisend geworden ist in diesem Zusammenhang das „ Cassis de Dijon"-Urteil von 1979, das also bereits vor der eigentlichen Etnfuhrung des Binnenmarktes entschieden wurde. Die Richter des Europaischen Gerichtshofs votierten damals gegen den deutschen Gesetzgeber, dem die 20 % Alkoholgehalt des Likors nicht mit den vorgeschriebenen minimal 32 % des deutschen Rechts vereinbar erschien, und hielten fest: Was in einem Staat der Gemeinschaft erlaubt ist, darf auch in alien anderen verkauft werden (Fritzler und Unser 1998: 62).^ c. Staatliche Kontrolle der Wirtschaft: Etwas schwieriger wird die klare Festlegung der EU-Position im Hinblick auf die Rolle des Staates in ordnungspolitischer Hinsicht. Einerseits spricht sich die EU weitgehend gegen einen Eingriff des Staates in die Wirtschaftsbelange aus, so dass die EU insgesamt als „Motor der Deregulierung" (Donges et al. 1997: 280;
^ Im Rahmen der GATT-Verhandlungen gibt es natiirlich ebenfalls Versuche der weltweiten Marktliberalisierung, die allerdings in vielen Bereichen noch nicht so weit reichen wie in der EU (vgl. zum Verhaltnis der EU zum GATT die Aufsatze in Miiller-Graff 2000). 7 Gleichzeitig bleiben aber bestimmte Bereiche vor der Offnung geschiitzt. Artikel 30 EGV erlaubt den Mitgliedstaaten etwa, den Warenimport aus anderen Landern aus „Grunden der offentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von kiinstlerischem, geschichtlichem oder archaologischem Wert oder des gewerblichen oder kommerziellen Eigentums"' zu beschranken. Ob die Griinde zutreffen, wird von der Kommission gepriift, die bei Verdacht auf willkiirliche Diskriminierung den Gerichtshof anrufen kann (vgl. auch Thiel 1996:128).
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
ahnlich Schneider 1998) interpretiert werden kann. Diese wirtschaftspolitische Orientierung schlagt sich in verschiedenen Beschllissen nieder. In den Vertragen werden konkret „staatliche oder aus staatlichen Mitteki gewahrte Beihilfen gleich welcher Art, die (...) den Wettbewerb verfalschen oder zu verfalschen drohen" (EGV Art. 87, Abs. 1) abgelehnt.^ Darliber hinaus haben sich die Mitgliedstaaten auf dem Europaischen Rat in Stockholm verpflichtet, generell staatliche Beihilfen zu reduzieren (Kommission 2002c: 22). Die verstarkte liberale Ausrichtung hat einen ihrer sichtbarsten Niederschlage in der schon erwahnten „Lissabonner Strategie" gefunden. Ziel ist es, ein ordnungspolitisches Klima zu schaffen, welches „den Investitionen, der Innovation und der unternehmerischen Initiative forderlich ist" und „unnotigen burokratischen Aufwand" beseitigt (Europaischer Rat 2000: Punkt 14). All dies weist auf eine eher zuriickhaltende RoUe des Staates im Bereich der Okonomie hin. Gleichzeitig gibt es aber einige Bereiche, in denen die EU staatliche Eingriffe zulasst und sogar forciert. Diese Eingriffe werden aus EU-Sicht durch drei Griinde gerechtfertigt. Die beiden ersten sind innerokonomischer Natur. Das optimale Funktionieren des Binnenmarktes ist auf gewisse Rahmenbedingungen, z. B. gemeinsame rechtliche Regelungen, angewiesen. Diese versucht die EU entweder selbst oder durch die Koordination der Landerpolitiken zu gewahrleisten. Der zweite Grund ist die Schaffung einer wettbewerbsfahigen Position auf dem Weltmarkt. Durch gezielte Investitionen in wirtschaftsrelevante Rahmenbedingungen (z. B. Bildung), aber auch durch die direkte Forderung bestimmter Branchen, soil die europaische Wirtschaft global konkurrenzfahig gemacht werden. Ein dritter Grund fiir politische Eingriffe in das Wirtschaftsleben ist aufierokonomisch begriindet. Die Europaischen Wirtschaftsvorstellungen sind neben den genannten drei Aspekten durch eine dezidiert soziale Komponente gekennzeichnet. Wir kommen im nachsten Kapitel genauer darauf zuriick.
^ Staatliche Beihilfen konnen dann zugelassen werden, wenn sie „strukturell wirksam sein soUen, einen endgiiltigen Charakter haben und dem gesamten Industriezweig zugute kommen" (Turek 1997: 347; vgl. auch Art. 92-94 EGV).
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU
139
4.1.2 Handlungsorientierungen der Burger als Wirtschaftssubjekte Die erste Dimension der Wirtschaftsvorstellungen der EU bezieht sich auf die Vorstellung einer idealen Wirtschaftsordnung. Soil diese Wirtschaftsordnung aber im Hinblick auf das Megaziel erfolgreich sein, so bedarf es zusatzlich gewisser individueller Handlungsorientierungen. Die wichtigsten zwei Werteorientierungen, die von der EU gewiinscht werden, sind Leistungsorientierung und ein generalisiertes Vertrauen. Eine Praferenz fiir Leistungsorientierung ergibt sich direkt aus den Anspriichen der Marktwirtschaft; generalisiertes Vertrauen ist sowohl eine Grundbedingung fiir Wirtschaftshandeln auf anonymen Markten als auch die Basis fiir eine europaische Solidaritat (vgl. zu letzterem Delhey 2004). a. Leistungsorientierung: Ohne dass sich dies explizit in ihren Rechtsgrundlagen findet, setzt die EU auf die Leistungsorientierung ihrer Burger. Zum einen ergibt sich dies direkt aus dem praferierten Wirtschaftsmodell der freien Marktwirtschaft mit Betonung des Wettbewerbs. Ohne eine gewisse Leistungsbereitschaft konnen die Wirtschaftssubjekte unter den Bedingungen der Konkurrenz auf offenen Markten nicht bestehen.^ Eine Betonung der Leistung findet sich explizit in bestimmten Politiken der EU, so etwa in der Umstellung der Arbeitsmarktpolitik von der Nachfrage- auf eine Angebotspolitik (Schafer 2002) oder in der bereits erwahnten Lissabon-Strategie. b. Generalisiertes Vertrauen: Wirtschaftshandeln auf anonymen Markten, wie es fiir moderne Industriestaaten kennzeichnend ist, bedarf eines gewissen Vertrauens zwischen den beteiligten Wirtschaftsakteuren (Mummert 2001). Entsprechend betrachtet Georg Elwert Vertrauen als eine „Bedingung des Markthandebis" (1987: 301). Empirisch lasst sich zeigen, dass Vertrauen in andere Wirtschaftssubjekte Transaktionskosten zu reduzieren hilft und insofern wirtschaftsfdrderlich ist (Dorner 2000: 40ff. und 90ff.; Fukuyama 1995; La Porta et al. 1997; Lagemann 2001; Us9 Dieses Argument findet sich bereits bei Max Weber: „Wer sich in seiner Lebensfiihrung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpafit, geht unter oder kommt nicht hoch." (Weber 1988: 56).
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
laner 2004).^o Wirtschaftliches Handeln erfordert haufig eine Kooperation xinter Unsicherheit, etwa auf dem anonymen Markt oder in grofien Organisationen. Diese Unsicherheit lasst sich bis zu einem gewissen Grad durch Vertrage auffangen, was allerdings zu steigenden Transaktionskosten fiihrt. Ein kostengiinstiges, fiinktionales Aquivalent stellt Vertrauen dar. 'Trust reduces transaction costs through providing information and a means to enforce contracts, so that the possibility of opportunistic behaviour diminishes/' (Hohmann et al. 2002: 5f.). Hohmann et al. kommen daher zu der Einschatzung: „Low levels of trust constrain market entry, enterprise growth and competition whilst encouraging unproductive forms of entrepreneur ship. High levels of trust, on the other hand, encourage open and dynamic competition structures and foster enterprise growth." (Hohmann et al. 2002: 4).
4.2 Die Einstellungen der Burger im Bereich der Okonomie Im Folgenden wollen wir die Einstellungen der Burger der EU im Landervergleich fiir die fiinf herausgearbeiteten Aspekte analysieren. Wir betrachten zuerst die individuellen Handlungsorientierungen, u m dann im zweiten Schritt die Akzeptanz der Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU zu untersuchen.
4.2.1 Individuelle Handlungsorientierungen Wir hatten im Hinblick auf die individuellen Handlungsorientierungen der Wirtschaftssubjekte zwei Bereiche identifiziert, die als zentral fiir ein erfolgreiches wirtschaftliches Handeln angesehen werden.
^0 In der Forderinitiative der Volkswagenstiftung, die auch unser Projekt finanziert hat, findet sich ein Projekt, welches direkt die Verteilung und Auswirkungen von Vertrauen auf das Wirtschaftshandeln zum Thema hat. (Vgl. Hohmann und Welter (Hg.) 2002 bzw. http://www.rwi-essen.de/servlet/page?_pageid=285&_dad=portal30&_schema=PORTAL30).
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie
141
a. Leistungsorientierung: Es gibt verschiedene Moglichkeiten, die Leistungsorientierimg der Individuen zu messen. Ronald Inglehart benutzt als Indikator fiir eine Leistungsorientierung die Praferenz fiir leistungsorientierte Erziehungsziele. Diese sind insofern eine gute Messung, da sie iiber den Bezug auf die nachfolgende Generation eine gewisse zeitliche Stabilitat nahe legen.^^ Die entsprechende Frage in der Europaischen Wertestudie lautete: „Eine Frage zur Erziehung. Wir haben hier eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern fiir ihr spateres Leben mit auf den Weg geben soil, was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie fiir besonders wichtig?" Aus einer Batterie mit insgesamt elf Zielen konnten maximal fiinf ausgewahlt werden.^2 Unter den Zielen befinden sich zwei dezidiert leistungsbezogene Orientierungen: „Hart arbeiten" und „Energie, Ausdauer". Wir haben daraus einen Index gebildet, der fiir jeden Befragten von 0 „keines dieser Ziele'' bis 2 „beide Ziele" reichen kann. In Grafik 4.1 sind die durchschnittlichen Mittelwerte der Lander abgetragen. Betrachtet man zuerst die vier Aggregatskategorien im Hinblick auf den Index, so sieht man, dass die Leistungsorientierung der Biirger der Lander der zweiten Beitrittsrunde am hochsten ist, gefolgt von den neuen EU-Landern und der Tiirkei. Die Leistungsorientierung der Burger in den alten Mitgliedslandern ist am geringsten. Innerhalb der Landergruppen gibt es erhebliche Varianzen. Wahrend etwa die skandinavischen Lander Schweden und Danemark, aber auch Finnland eine geringe Leistungsorientierung zeigen, ist die Leistungsorientierung in Luxemburg und Portugal deutlich ausgepragter.
1^ Feldkircher (1997) fiihrt weitere Argumente an, weshalb Erziehungsziele besonders gute Indikatoren fiir Wertvorstellungen sind. 12 Diese Kodieranweisung wurde anscheinend nicht immer beachtet. Alle Falle mit mehr als fiinf Antworten (insgesamt 3,2 % der Falle) wurden daher von uns aus der Analyse ausgeschlossen. Insgesamt wurde in alien Landern die maximale Anzahl von fast alien Befragten ausgenutzt, so dass die durchschnittlich gewahlte Anzahl in den Landern zwischen 4,38 in Rumanien und 4,98 in der Tiirkei liegt.
142 Grafik 4.1:
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU Wichtigkeit leistimgsorientierter Erziehungsziele (Mittelwert des Indexes)
4.2 Die Einstelliingen der Burger im Bereich der Okonomie Grafik 4.2:
143
Prioritat fiir Arbeit statt Freizeit (Mittelwert)
* Die Frage wurde in Osterreich mit Hilfe einer etwas anderen Skala erhoben. Wir haben die Skala angepasst, die Daten sind aber mit Vorsicht zu interpretieren.
Es gibt einen weiteren Indikator, der die Leistimgsorientierung misst. Die Befragten mussten auf einer fiinfstufigen Skala von „stimme iiberhaupt nicht zu (1)" bis „stimme voll und ganz zu (5)" angeben, wie sie zu folgendem Statement stehen: „Die Arbeit sollte immer zuerst kommen, auch
144
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
wenn das weniger Freizeit bedeutet''.^^ Dieses Item bezieht sich direkt auf die Leistungsorientieriing in der Arbeitswelt. Die Mittelwerte der Lander sind in Grafik 4.2 aufgefiihrt. Hohe Werte bedeuten dabei eine starke Leistungsorientierung. Zentrale Befiinde des ersten Indikators wiederholen sich. So weisen die Alt-Mitglieder der EU wiederum die geringste Leistungsorientierung auf, die Gruppe der Beitrittskandidaten dagegen die hdchste. Die Tiirkei und die neuen EU-Mitglieder liegen dazwischen. Auffallig ist, dass Ostdeutschland mit sozialistischer Vergangenheit den hochsten Wert in seiner Gruppe hat, Malta als einziges Neumitglied in unserem Sample ohne sozialistische Vergangenheit dagegen den geringsten. Die Unterschiede innerhalb der Gruppen sind wiederum recht grofi. Auch gibt es einige Verschiebungen zwischen den beiden Indikatoren.^^ Besonders niedrige Werte weisen die Niederlande und Grofibritannien auf, ausgesprochen hohe dagegen Rumanien und Ungam. Es ist schwierig, diese Befunde einheitlich zu interpretieren. Zum Teil widersprechen die Ergebnisse den theoretischen Erwartungen: Zum einen zeigt sich im Unterschied zu fast alien anderen Analysen, die wir bis jetzt durchgefuhrt haben, dass die Vorstellungen der EU von den Blirgern der Beitrittslander starker unterstiitzt werden als von den Biirgern der Mitgliedslander. Mit dem Beitritt dieser Lander erhoht sich die Unterstiitzung der von der EU propagierten Leistungsorientierung im Gesamtaggregat. Zum zweiten lasst sich die klassische Verbindung von Protestantismus und Leistungsorientierung im vorliegenden Fall nicht bestatigen. Protestantisch gepragte Lander wie Grofibritannien und die Niederlande weisen eine eher geringe Leishingsorientierung, katholische Lander wie Polen imd orthodox gepragte Lander wie Bulgarien dagegen eine hohe Leistimgsorientierung auf. Aber auch die Annahme einer geringeren Leistungsorientierung aufgrund eines sozialistischen Erbes wird 13 Wir haben diesen und alle folgenden Indikatoren, wenn notig, so umkodiert, dass hohe Werte der EU-Position entsprechen. 14 Insgesamt ist die Korrelation der beiden Indikatoren mit 0,117 (Spearman's Rho) nicht ausgesprochen hoch. Deutlich besser ist die Ubereinstimmung mit dem einzelnen Erziehungsziel „Hart arbeiten'' (Spearman's Rho von 0,209).
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie
145
widerlegt. Alle exsozialistischen Staaten (inklusive Ostdeutschlands) liegen deutlich iiber dem EU-Durchschnitt, die meisten sogar liber dem leistimgsorientiertesten Land der Gruppe der alten Mitgliedslander. Wir kommen bei der Erklariong der Landerunterschiede in Abschnitt Vier auf diese Fragen zuriick. Grafik 4.3:
Generalisiertes Vertrauen: „Man kann den meisten Menschen vertrauen" (Zustimmung in %)
146
4. Wirtschaftsvorstelliingen in der erweiterten EU
b. Vertrauen: Die zweite wichtige Dimension individueller Wirtschaftseinstellimgen bildet das generalisierte Vertrauen. Wir haben es durch folgende Frage gemessen: „Wurden Sie ganz allgemein sagen, dafi man den meisten Menschen vertrauen kann, oder dafi man da nicht vorsichtig genug sein kann?". Die Befragten mussten sich fiir eine der beiden Alternativen entscheiden. In Grafik 4.3 sind die Werte fiir die verschiedenen Lander abgetragen: Auch bei der Frage nach dem Vertrauen in die Mitmenschen zeigen sich enorme Landerunterschiede. Wiederum belegen die skandinavischen Lander den einen Extrempol, diesmal allerdings die EU-Position unterstiitzend. In Danemark, Schweden, Finnland, aber auch in den Niederlanden wird den Mitbiirgern am starksten vertraut. Das geringste Vertrauen findet sich in der Tiirkei. Sieht man sich die vier Aggregatsgruppen an, so zeigt sich ein schon aus den vorherigen Kapiteln des Buches bekanntes Bild: Die alten EU-Mitglieder weisen das hochste Vertrauen auf (38 %), gefolgt von den Landern der ersten (21 %) und der zweiten Beitrittsrunde (19 %). Die Tiirkei bildet mit unter 7 % der Biirger, die ihren Mitmenschen vertrauen, das Schlusslicht. Die Differenzen innerhalb der Aggregatsgruppen sind allerdings betrachtlich.
4.2.2 Einstellungen zur Wirtschaftsordnung Wir orientieren uns bei der Analyse der Einstellungen der Biirger zu den Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU an den drei erlauterten Dimensionen Wettbewerb, Marktoffenheit und Rolle des Staates. a. Wettbewerb: Wie oben dargestellt, bildet der offene und freie Wettbewerb ein zentrales Merkmal der EU-Wirtschaftsvorstellungen. Fiir die Uberpriifung, ob diese Vorstellung durch erne positive Wettbewerbsorientierung der Biirger der EU gestiitzt wird, liegen zwei Indikatoren vor. Der erste erfragt direkt die Einstellungen der Biirger zum Wettbewerb. Auf einer zehnstufigen Skala konnten die Befragten angeben, inwieweit sie zu einer der beiden vorgegebenen Antwortalternativen tendierten: „Wettbewerb ist gut. Er bringt die Menschen dazu, hart zu arbeiten und
4.2 Die Einstelliingen der Burger im Bereich der Okonomie
147
neue Ideen zu entwickeln." (10) bzw. „Wettbewerb ist schadlich. Er bringt das Schlechte im Menschen zum Vorschein." (1). Die folgende Grafik weist die Landermittelwerte aus. Sieht man sich zunachst die Aggregate an, so erkennt man, dass die Lander der beiden Beitrittsrunden und die Tiirkei wettbewerbsorientierter sind als die bisherigen Mitglieder. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Landern sind aber insgesamt nicht sehr ausgepragt. Alle Lander sprechen sich mehrheitlich fiir den Wettbewerb aus. Am starksten tut dies Rumanien, gefolgt von Malta, der Tschechischen Republik, Osterreich und Slowenien. Am wenigsten stark findet man die Wettbewerbsorientierung in den BeNeLux-Landern und Frankreich. Bis auf Rumanien, sowie (wenn auch knapp) Malta imd Tschechien, liegen damit alle Lander in der bisherigen Spannweite der EU. Das zweite Item erfragt die Einstellungen zum Wettbewerb indirekt. Zunachst wurde eine Situation geschildert, die dann von den Befragten beurteilt werden sollte. „Zwei Sekretarinnen sind gleich alt und tun praktisch die gleiche Arbeit, aber eines Tages stellt die eine fest, daC die andere 400 DM im Monat mehr bekommt. Die besser bezahlte Sekretarin ist jedoch tiichtiger, zuverlassiger und arbeitet rascher. Halten Sie es fiir gerecht, dafi eine mehr bekommt, oder halten Sie es nicht fiir gerecht?". Wettbewerb impliziert, dass das beste Produkt am Markt auch den besten Preis erzielt. Insofern bedeutet eine hohe Zustimmung, dass die ungleiche Bezahlung fair sei, auch eine hohe Zustimmung zum Wettbewerb. Grafik 4.5 zeigt die Anteile der Bevdlkerungen, die zustimmen, in Prozent. Insgesamt zeigt sich ein ahnliches Bild wie bei der ersten Frage. Alle Lander stimmen mehrheitlich zu, dass die bessere Sekretarin auch mehr Geld verdienen soil und unterstiitzen somit die EU-Position. Die meisten Lander, die sich beim ersten Indikator am starksten fiir Wettbewerb ausgesprochen haben, finden sich auch hier in der Spitzengruppe: Tschechien, die Slowakei, Bulgarien, Rumanien, Slowenien und Osterreich. Auch auf der eher wettbewerbsskeptischen Seite gibt es Ubereinstimmungen zwischen den beiden Indikatoren (Belgien, Niederlande, Spanien und Portugal). Entsprechend lasst sich auch beim zweiten Indikator
148
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
eine leichte Tendenz der Beitrittslander fiir mehr Wettbewerb erkennen; dies gilt vor allem fiir die Lander der zweiten Beitrittsrimde. Grafik 4.4:
Wettbewerbsorientierung 1: „ Wettbewerb ist gut versus Wettbewerb ist schadlich" (Mittelwert)
4.2 Die Einstellungen der Burger im Bereich der Okonomie Grafik 4.5:
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Wettbewerbsorientierung 2: „Leisttingsangepasste Bezahlur\g: Fair" (in %)
Insgesamt kann man festhalten, dass die Wettbewerbsorientierung der EU in alien Landern mehrheitlich unterstiitzt wird, dies allerdings in einem etwas unterschiedlichem Mafie. Die osteuropaischen Beitrittslander weisen tendenziell eine hohere Wettbewerbsorientierung auf, die
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
BeNeLux-Staaten imd die siidwesteuropaischen Lander dagegen eine geringere. b. Ojfenheit des Marktes: Die Offenheit der Markte innerhalb des Binnenmarktes in den vier Bereichen Personen-, Waren-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr bildet das zweite Merkmal des EUWirtschaftsskripts. In den uns vorliegenden Daten der Europaischen Wertestudie gibt es lediglich fiir den Bereich des Arbeitsmarktes, also des freien Personenverkehrs, einen Indikator, der die Einstellungen der Biirger zur Marktoffenheit erfragt. Der Arbeitsmarkt ist allerdings insofern eine gute Messung dieser Dimension, da hier die Konkurrenz aus dem Ausland im Prinzip jeden Burger treffen kann. Die Frageformulierung lautete: „Sagen Sie mir bitte zur folgenden Aussage, ob Sie zustimmen oder nicht zustimmen: Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, sollten die Arbeitgeber Deutsche (bzw. die jeweilige Nationalitat) gegeniiber Auslandern vorziehen". Geantwortet werden konnte auf einer dreistufigen Skala mit „stimme zu", „stimme nicht zu" und „weder noch". Die Frage ist relativ restriktiv formuliert, da sie nach der Marktoffenheit in Krisenzeiten fragt. Eine Zustimmung bedeutet eine Zustimmung zur MarktschlielSung und damit die Ablehnung der EU-Position. In der folgenden Grafik sind deshalb die Prozentangaben fiir die Kategorie „stimme nicht zu" fiir die Lander aufgefiihrt. Wahrend die Wettbewerbsorientierung der EU von alien Landern mehrheitlich unterstiitzt wurde, sieht dies bei dem Prinzip der Marktoffenheit deutlich anders aus. In alien Landergruppen findet eine Offnung der Markte mehrheitlich keine Zustimmung. Allerdings fallt das Niveau der Ablehnung recht unterschiedlich aus. Wahrend sich in den alten Mitgliedslandern der EU knapp 40 % fiir offene Arbeitsmarkte aussprechen, sind es in den Landern der beiden Beitrittsrunden jeweils nur gut 10 %. Die Tiirkei liegt mit einem Drittel Zustimmung auf einem mittleren Niveau.
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie Grafik 4.6:
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Einstellimgen zur Offenheit des Arbeitsmarktes: „Inlander sollten gegeniiber Auslandern bevorzugt werden" (Ablehnung in %)
Auch hier zeigen sich deutliche Landerunterschiede innerhalb der vier Gruppen. So findet sich in Schweden, den Niederlanden, Danemark und Luxemburg eine Mehrheit fiir die Offenheit des Arbeitsmarktes. Nur knapp verfehlt wird die Mehrheit von Belgien und Estland. Letzteres ist
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
auch der einzige Beitrittskandidat, der den Durchschnitt der alten EUMitglieder erreicht.^^ Nicht einmal 5 % Unterstiitzung fiir die Offenheit des Marktes finden sich dagegen in Litauen, Polen imd Malta. Nun bezieht sich der verwendete Indikator auf Auslander insgesamt, die Marktoffenheit der EU-Position aber auf den europaischen Binnenmarkt. Es konnte sein, dass die Befragten mit dem Begriff „Auslander" eher Personen von aufierhalb der EU assoziieren, sich aber bei entsprechender Frageformulierung nicht gegen eine innereuropaische Offnung des Arbeitsmarktes aussprechen wiirden. Gliicklicherweise lasst sich diese Vermutung anhand einer Frage aus einem anderen Datensatz, namlich dem Eurobarometer Nr. 53 aus dem Jahr 2000, zumindest tendenziell iiberpriifen.^^ Dort wurde gefragt, ob man verschiedene Personengruppen, die im jeweiligen Befragungsland arbeiten wollen, zulassen sollte oder nicht. Als Gruppen wurden Moslems, Personen aus Osteuropa, aus Krisengebieten, politisches Asyl Suchende sowie Personen aus anderen EU-Landern genannt. Es zeigt sich, dass Personen, welche die Marktoffenheit unterstiitzen, dies fiir alle abgefragten Gruppen in relativ gleicher Weise tun. Bildet man einen additiven Index aus den verschiedenen Fragen, so ergibt sich ein erstaunlich hohes Cronbach's Alpha von 0,89. Man kann also davon ausgehen, dass unser Indikator eine zuverlassige Messung fiir die EU-Position der Offenheit des Binnenmarktes ist. c. Staatliche Kontrolle der Wirtschaft: Wie wir oben ausgefiihrt haben, ist die Position der EU zur RoUe des Staates nicht ganz eindeutig. Einerseits setzt die EU auf Liberalisierung und eine mdglichst unregulierte Entwicklung der Wirtschaft. Andererseits sieht die EU aber auch ihre Aufgabe darin, das okonomische Umfeld durch politische Mafinahmen wirtschafts- und wettbewerbsfreimdlich zu gestalten und die europai-
15 Einen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Werten und realem okonomischem Verhalten gibt die Tatsache, dass Estland das einzige exsozialistische Land ist, welches im Index of Economic Freedom 2003 der Heritage Foundation als freie Marktwirtschaft eingestuft wird (Pejovich 2003). 16 Leider umfasst der Datensatz nicht alle hier analysierten Lander. Auf eine ausfiihrlichere Prasentation der Daten wird daher verzichtet.
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie
153
sche Wirtschaft im Aufienverhaltnis durch staatliche Interventionen zu starken. Grafik 4.7:
Staatliche Intervention in die Wirtschaft (Mittelwert)
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
Zur Operationalisierung der Einstellungen zur RoUe des Staates enthalt die Wertestudie folgende Frage. Die Befragten konnten auf einer zehnstufigen Skala zwischen zwei Statements wahlen: „Der Staat sollte den Untemehmen mehr Freiheit lassen" (10) bzw. „Der Staat sollte die Untemehmen besser kontrollieren" (1). Grafik 4.7 zeigt die Mittelwerte der Lander. Die Daten zeigen, dass sich die Ambivalenz der EU-Position auch in den Einstellungen der Biirger wiederfinden lasst. Kein Land nimmt eine wirkliche Extremposition ein. Betrachtet man zuerst die Aggregatskategorien, so sieht man, dass der Zuspruch zu einem schlanken Staat bei den Blirgern der alten EU-Lander am starksten ist, wahrend er bei den Biirgern der Tiirkei am geringsten ist. Die Lander der ersten und zweiten Beitrittsrimde nehmen eine Mittelposition ein. Allerdings gibt es auch hier wieder die bekannten Landerunterschiede. Die skandinavischen Lander, aber auch Osterreich und Westdeutschland, unterstiitzen die Liberalisierung am starksten. Auch in Litauen, Malta und in Bulgarien finden sich Mehrheiten fiir diese Position. Dagegen sprechen sich bei den Altmitgliedern Belgien, Griechenland und vor allem Luxemburg fiir einen grofieren Einfluss des Staates aus. Die starkste Intervention des Staates in die Wirtschaft wlinschen sich die Biirger in Lettland, der Slowakei und der Tiirkei. Mit dem Beitritt der osteuropaischen Lander diirfte sich somit eine kleine, aber doch entscheidende Verschiebung der Interessen in Richtung auf mehr Staat ergeben. Fassen wir die Ergebnisse der deskriptiven Analysen zusammen: Im Unterschied zu den bisher analysierten Wertebereichen zeichnet sich im Hinblick auf die Unterstiitzung der Wirtschaftsvorstellungen der EU kein einheitliches Bild ab. In manchen Dimensionen werden die Vorstellungen der EU von den Biirgern der alten Mitgliedslander starker unterstiitzt, in anderen Dimensionen finden sie grol?eren Zuspruch bei den Beitrittslandern. In der Dimension der individuellen Leistungsorientierung und der Wettbewerbsorientierung zeigt sich, dass die Biirger der Beitrittslander leistungs- und wettbewerbsorientierter sind als die Biirger der alten EU. Umgekehrt verhalt es sich mit den Einstellungen zur Offenheit des Marktes, zur RoUe des Staates und dem Vertrauen zu den Mitbiirgern. Die
4.3 Klassifikation beziiglich der Wirtschaftsvorstellungen
155
Idee der Offenheit des Marktes wird von den bisherigen Mitgliedern wesentlich starker unterstiitzt als von den Beitrittskandidaten. Das gleiche gilt fiir das generalisierte Vertrauen in die Mitmenschen. Auch die Vorstellung der EU von einer eher passiven Rolle des Staates findet in den westeuropaischen Landern eine starkere Unterstiitzung, wahrend sich in den Landern beider Beitrittsrunden Mehrheiten fiir einen starkeren Eingriff der Politik in die Wirtschaft finden. Die Tiirkei liegt bei den meisten Fragen eher im Mittelfeld. Trotz dieser auf den ersten Blick ambivalenten deskriptiven Befunde soil im folgenden Abschnitt die Nahe bzw. Feme der einzelnen Lander zur Position der EU bestimmt werden.
4.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihrer Wirtschaftsvorstellungen Das Ziel unserer Analysen ist die Bestimmung des Ausmafies, mit dem die Wirtschaftsvorstellungen der Europaischen Union von den Biirgerinnen und Biirgern einer erweiterten Gemeinschaft unterstiitzt werden. Dazu wollen wir die Einzelergebnisse der verschiedenen Indikatoren mit Hilfe einer Diskriminanzanalyse zu einem Gesamtbild tntegrieren. Anders als in den meisten anderen Wertebereichen, die wir analysieren, hat sich in den deskriptiven Befunden keine Landergruppe herausgeschalt, welche das EU-Ideal in besonders guter Weise vertritt und dementsprechend als Gruppe der „Benchmark-Countries" dienen konnte. Statt dessen lassen sich zwei Landergruppen erkennen, die unterschiedliche Aspekte des EU-Ideals besonders stark unterstiitzen. Auf der einen Seite sind dies Schweden, Danemark und die Niederlande. Sie nehmen in den Bereichen „Offenheit des Marktes" und „Vertrauen", die skandinavischen Lander zusatzlich auch in der Dimension „Staatliche Kontrolle der Wirtschaft" einen Platz in der Spitzengruppe ein.^^ Qi^ Biirger dieser Lander unterstiitzen die „Offnungsphilosophie" der EU: Offenheit der Markte, Offenheit gegeniiber den Mitbiirgern (Vertrauen), 17 Die Ergebnisse verandern sich praktisch nicht, wenn man die Niederlande aufgrund ihrer nur mittleren Position bei diesem Item herauslasst.
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
liberale Bedingimgen fiir unternehmerisches Handeln. Auf der anderen Seite sind dies (erstaunlicherweise) die beiden Lander der zweiten Beitrittsrunde Bulgarien und Rumanien. Die von der EU propagierte Wettbewerbs- und Leistungsorientierung ist in diesen beiden Landern am starksten ausgepragt. Im Kapitel zur Religion haben wir mit Hilfe der Diskriminanzanalyse zwischen zwei Gruppen (EU-Ideal und Nicht-EU-Ideal) unterschieden. Die Diskriminanzanalyse erlaubt aber die gleichzeitige Beriicksichtigung auch mehrerer Gruppen. Sie bestimmt dann bei N Gruppen maximal N-1 Diskriminanzfunktionen. Da wir zwei Gruppen von BenchmarkCountries haben, berechnen wir in der folgenden Analyse zwei Funktionen, die zwischen diesen Benchmark-Countries und den restlichen europaischen Staaten trennen. In der Analyse bilden also Schweden, Danemark und die Niederlande die Benchmark-Gruppe 1, Bulgarien und Rumanien die Benchmark-Gruppe 2 und alle restlichen Lander Gruppe 3. An Variablen beriicksichtigen wir praktisch alle oben analysierten Fragen:^^ Fiir die Leistungsorientierung nehmen wir den ErziehungszieleIndex in die Analyse auf, fiir das Vertrauen die Frage „Man kann den meisten Menschen vertrauen". Fiir die Einstellungen zur Wirtschaftsordnung gehen die beiden Items fiir den freien Wettbewerb („Wettbewerb ist gut", „Leistungsangepasste Bezahlung") sowie die Einstellungen zu den Statements „ Inlander soUen gegeniiber Auslandern bevorzugt werden" und „Staat soUte Untemehmen mehr Freiheit lassen" in die Analyse ein.i9
Das Ergebnis der Diskriminanzanalyse ist in Tabelle 4.1 zusammengefasst.
1^ Der zweite Leistungsindikator („Arbeit kommt immer zuerst'') muss unberiicksichtigt bleiben, da fiir Osterreich keine vergleichbaren Daten vorliegen (vgl. Anm. Grafik 4.2). 19 Da bei der Frage nach der Offenheit des Arbeitsmarktes die Antwortaltemative „weder noch'' inhaltlich nicht interpretierbar ist, wurde sie in der Analyse nicht beriicksichtigt.
4.3 Klassifikation beziiglich der Wirtschaftsvorstellungen Tabelle 4.1:
157
Trennimg zwischen den Benchmark-Countries und anderen Landern im Hinblick auf ihre Wirtschaftsvorstellungen Diskriminanzfunktion „Offnungsdimension"^)
Diskriminanzfunktion „Leistungsdimension"^)
Leistungsorientierung Index leistungsorientierter Erziehungsziele ,789 -,183 Vertrauen „Man kann den meisten Menschen vertrauen'' ,604 Wettbewerb „Wettbewerb ist gut'' ,189 ,588 „Leistungsangepasste Bezahlung" (Dummy,316 Codierung mit ,unfair' als Referenzkategorie) Offenheit der Markte ^Inlander sollen gegeniiber Auslandern bevorzugt ,809 werden" (Dummy-Codierung mit „stimme zu" als Referenzkategorie) Rolle des Staates „Staat soUte mehr Freiheit lassen" ,268 Giitemafie der Diskriminanzanalyse ,287 Eigenvalue ,018 Kanonische Korrelation ,472 ,132 % der durch die Funktion erklarten Varianz ^) 75,6 24,4 Gruppenmittelwerte der Diskriminanzfunktionen Benchmark 1 (SE, DK, NL) 1,336 -,575 Benchmark 2 (BG, RO) -,432 ,738 Gruppe 3 (restliche Lander) -,147 ,017 Klassifikationsergebnisse'^) Gruppen (vorhergesagt) Benchmark 1 Benchmark 2 Gruppe 3 Benchmark 1 (SE, DK, NL) 80,4 % (1880) 6,3 % (147) 13,3 % (312) Benchmark 2 (BG, RO) 6,9 % (98) 75,8 % (1076) 17,3 % (246) 23,1 % (3954) 44,6 % (7630) 32,3 % (5518) Gruppe 3 (restl. Lander) Korrekt klassifiziert 40,6 % *) Gemeinsame rotierte Korrelationen innerhalb der Gruppen zwischen Diskriminanzvariablen und standardisierten kanonischen Diskriminanzfunktionen. Werte unter 0,1 werden nicht ausgewiesen. ^) Die Varianz bezieht sich auf die rotierte Losung. <^) Verwendet wurden u m die Stichprobengrofie gewichtete Falle, so dass alle Lander gleichwertig beriicksichtigt werden. Daher erscheinen die Fallzahlen etwas emiedrigt.
158
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
Schauen wir ims zunachst die Giitemafie fiir die Gesamtanalyse an. Eigenvalue und Kanonische Korrelation sind fiir die erste Funktion relativ gut. Da die erste Funktion so bestimmt wird, dass sie die Gruppen moglichst gut trennt, fallen die Werte fiir die zweite Funktion naturgemafi deutlich niedriger aus. Den unterschiedlich starken Beitrag zur Trennung der Gruppen erkennt man auch an der „erklarten Varianz". Sie gibt an, wie hoch der Anteil der beiden Funktionen an der Erklarungskraft der gesamten Diskriminanzanalyse ist. Knapp drei Viertel entfallen auf Funktion 1, lediglich 25 % auf Funktion 2. Relativ gering erscheint allerdings der Prozentsatz der richtig zugeordneten Personen bei den Klassifikationsergebnissen. Schaut man sich die Zahlen allerdings genauer an, dann sieht man, dass die beiden Benchmark-Gruppen ziemlich gut auf der Grundlage der beiden Diskriminanzfunktionen vorhergesagt werden konnen. Die Fehlklassifikationen finden sich vor allem bei Gruppe 3, also den restlichen Landern. Dies ist aber fiir unsere Analyse daher kein Problem, well wir ja gerade beabsichtigen, Personen aus diesen Landern den beiden Benchmark-Gruppen zuzuordnen, u m so die Nahe zu den EU-Vorstellungen bestimmen zu konnen.^o Welche Dimensionen werden nun durch die beiden Diskriminanzfunktionen abgebildet, welche Aspekte trennen unsere drei Gruppen am starksten? Das Bild ist eindeutig. Die erste Funktion bildet das EU-Ideal, wie es die erste Benchmark-Gruppe darstellt, ab. Wir bezeichnen diese Dimension als „Offnungs-/SchliejSungsdimension". Den grofiten Einfluss aller Variablen hat die Frage nach der Offenheit des Arbeitsmarktes. Aber auch das generalisierte Vertrauen sowie, in deutlich geringerem Mafie, die passive RoUe des Staates, bestimmen diese Funktion. Die zweite Funktion, von uns als „Leistungs-/ Wettbewerbsdimension" bezeichnet, wird dagegen von den Erziehungszielen sowie den beiden Wettbewerbsfragen beeinflusst. Diese Funktion trennt die zweite BenchmarkGruppe von den anderen Gruppen. Erkennbar wird dies an den Gruppenmittelwerten der Diskriminanzfunktionen. Wahrend Gruppe 3 bei beiden Funktionen relativ nahe an Null liegt, weisen Schweden, Dane-
20 Vgl. ZU diesem Vorgehen Fuchs und Klingemarm (2003).
4.3 Klassifikation beziiglich der Wirtschaftsvorstellungen
159
mark und die Niederlande bei der ersten Funktion, Rumanien und Bulgarien bei der zweiten einen hohen Wert auf. Auffallig ist, dass beide Benchmark-Gruppen bei der jeweils anderen Funktion einen negativen Wert aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass sich die beiden Fiinktionen wenigstens teilweise widersprechen.^i Was uns aber vor allem interessiert, ist die Position der Blirgerinnen und Biirger in Bezug auf die zwei Aspekte des EU-Ideals. Auf der Grundlage der geschatzten Diskriminanzfunktionen kann die Diskriminanzanalyse jeden Befragten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in eine der drei Gruppen einteilen. In Tabelle 4.2 ist fiir jedes Land ausgewiesen, wie grol? die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit fiir einen Befragten des Landes ist, in eine der drei Gruppen zu fallen. In der ersten Spalte findet sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Befragter des jeweiligen Landes der EU-Position in keiner der beiden Dimensionen zugeordnet werden kann. Sieht man sich die Aggregate fiir die vier Gruppen an, so zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den Gruppen. Etwas liber ein Drittel der Bevolkerungen der bisherigen Mitglieder, der beiden Beitrittsrunden und der Tiirkei stimmen weder in der Leistungs- noch in der Schliei?ungsdimension mit dem EU-Ideal iiberein. Das Ergebnis bleibt auch auf der Landerebene relativ stabil. Am starksten lehnen Malta und Griechenland die EU-Vorstellungen ab, aber auch hier sind es nicht einmal 10 % mehr als der Durchschnitt. Auffallig ist allerdings die geringe Ablehnung in Schweden, den Niederlanden und Danemark, also den drei Benchmark-Countries der Offnungsdimension.
21 Der Widerspruch liegt allerdings nicht im Wettbewerbsaspekt, sondern im Leistungsaspekt, wie sich an den Koeffizienten in Tabelle 4.1 zeigt (der Leistungsaspekt ladt negativ, einer der Wettbewerbsindikatoren dagegen positiv auf Funktion 1).
160 Tabelle 4.2:
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU Nahe der Lander zum L WirtschaftsskriptderEU (
Wahrscheinlichkeit Wahrscheinlichkeit fiir EU-Nahe in der Offfiir EU-Ferne nungsdimension 0,35 0,39 EU-15 0,42 0,17 Griechenland 0,41 0,33 Irland 0,41 Spanien 0,36 0,22 0,40 Portugal Osterreich 0,40 0,31 0,39 0,32 Italien 0,27 Ostdeutschland 0,38 Frankreich 0,38 0,31 0,37 Grofibritannien 0,37 0,37 0,38 0,32 Westdeutschland 0,36 Luxemburg 0,36 0,34 0,36 0,41 Finnland Niederlande 0,25 0,64 Danemark 0,25 0,65 Schweden 0,17 0,78 0,14 BeitrittI 0,39 Malta 0,45 0,19 Slowenien 0,40 0,18 Ungarn 0,40 0,12 Polen 0,39 0,08 0,39 Slowakei 0,10 Litauen 0,38 0,09 0,37 Tschechische Republik 0,13 Lettland 0,36 0,13 Estland 0,36 0,24 Beitritt II 0,35 0,10 Rumanien 0,36 0,13 Bulgarien 0,34 0,07 Tiirkei 0,39 0,20
Wahrscheinlichkeit fiir EU-Nahe in der Leistungsdimension 0,26 0,41 0,27 0,23 0,38 0,29 0,30 0,35 0,31 0,26 0,25 0,31 0,30 0,23 0,11 0,10 0,05 0,47 0,36 0,42 0,48 0,54 0,52 0,53 0,50 0,51 0,41 0,55 0,51 0,59 0,41
Auch wenn sich die Ablehnung der EU-Position in alien vier Landergruppen auf einem ahnlichen Niveau bewegt, so unterscheiden sie sich doch deutlich hinsichtlich der Unterstiitzung der verschiedenen Aspekte des EU-Ideals. Fast alle alten EU-Mitglieder iinterstiitzen die Offnungsdimension starker als die Leistungsdimension. Ausnahmen sind Grie-
4.4 Erklarung der Unterschiede in den Wirtschaftseinstelliingen
161
chenland, Portugal xind Ostdeutschland. Dagegen wird der Leistungsaspekt von alien Beitrittslandern iind der Tiirkei bevorzugt, in der Mehrzahl der Lander liegt die Unterstiitzung fiir diesen Aspekt sogar iiber 50 %. Dieses Ergebnis bleibt auch auf der Landerebene bestehen, trotz zum Teil grofier Differenzen innerhalb der Gruppen. Kein Beitrittsland erreicht in der Offnimgsdimension den Durchschnitt der EU-Mitglieder, und kein altes EU-Mitglied erreicht in der Leistungsdimension den Durchschnitt der Beitrittskandidaten.^^ Es scheint also relevante Unterschiede in den Wirtschaftskulturen der alten EU-Mitglieder und der Beitrittslander und -kandidaten zu geben.
4.4 Erklarung der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellungen Wie wir zeigen konnten, unterscheiden sich die Lander der erweiterten Europaischen Union zum Teil deutlich in ihren Einstellungen zur Okonomie. Wir versuchen in\ Folgenden diese Unterschiede zu erklaren. Wir greifen dabei vor allem auf die in der Einleitung und in den vorangegangenen Kapiteln erlauterten unabhangigen Variablen zuriick, spezifizieren aber genauer, wie man sich die Wirkungskraft der jeweiligen unabhangigen Variable auf die verschiedenen abhangigen Variablen vorstellen kann. 1. Modernisierung: Der Prozess der Modernisierung von Gesellschaften ist, wie wir in der Einleitung zu zeigen versucht haben, ein sehr komplexer Vorgang. Das Ergebnis des Prozesses ist aber ein historisch einmaliges Wachstum der Okonomie, des Reichtums und der Wohlfahrt der Burger. Im Anschluss an die Arbeiten von Daniel Bell (1996; 1979) kann man zwei Phasen des Modernisierimgsprozesses initerscheiden, die Jewells mit unterschiedlichen Wertorientierungen verbunden sind. Die erste Phase der Modernisierung bezeichnet Bell als Industrialisierung. Industrialisierung meint, dass die industrielle Produktion von Giitern der dominante Produktionsbereich wird, Fabriken die dominan22 Nur Griechenland und Portugal weisen Landerwerte auf, die in beiden Dimensionen auf dem Niveau einiger Beitrittskandidaten liegen.
162
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
ten Produktionseinheiten werden, Giiter und Dienstleistungen iiber Markte vermittelt und distribuiert werden iind der Grad der Technisierung der Produktion hoch ist. Die Modernisierung von Gesellschaften fuhrt insgesamt zu einer enormen Verbesseriing des Wohlstandsniveaus von Gesellschaften. Mit der Modernisierung gehen spezifische Werteorientierungen einher. Neben Leistungsorientierung (McClelland 1961) gewinnen individuelle Verantwortung, Wettbewerbsorientierung und die Ablehnung von Fremd-/Staatseingriffen an Bedeutung. Die zweite Phase der Modernisierung bezeichnet Daniel Bell (1979) als Postindustrialisierung; Ronald Inglehart (1997) spricht von Postmodernisierung. Postindustrialisierung ist mit einer Bedeutungszunahme des Dienstleistungssektors verbunden; Technik und Wissenschaftsentwicklung gewinnen weiter an Bedeutung, das Niveau der Bildung einer Gesellschaft steigt erheblich. Zugleich sind postindustrielle Gesellschaften Wohlstandsgesellschaften, in denen durch Massenkonsum und Wohlfahrtsstaatsentwicklung ein historisch einzigartiges Niveau des verfiigbaren Einkommens und des Konsums flir breite Bevolkerungsteile erreicht wird. Man kann diese Entwicklung hin zu einer postindustriellen Gesellschaft recht gut empirisch an der Entwicklung der Bundesrepublik illustrieren.23
23 Die Reallohne haben sich zwischen ,,1949 und 1973 in der Bundesrepublik vervierfacht und liegen damit weit iiber den demgegeniiber recht bescheidenen Steigerungsraten der Realeinkommen und Reallohne wahrend der Prosperitatsphasen des langen 19. Jahrhunderts'' (Ambrosius und Kaelble 1992: 17f.). Der starke Anstieg der Realeinkommen und Reallohne hat den privaten Konsum fundamental verandert (vgl. Ambrosius und Kaelble 1992: 20): Der Wohnstandard wurde erheblich verbessert, langlebige Konsumgiiter (Autos, Radios, Fernsehen, Konsumgiiter fiir Kinder) konnten gekauft werden und Reise- und Freizeitaktivitaten wurden ermoglicht; eine kraftige Reduzierung der Arbeitszeit kam hinzu. So lagen die bezahlten Wochenstunden der mannlichen Beschaftigten im produzierenden Gewerbe (inklusive tJberstxinden) 1960 bei 46,3 Stunden und fielen bis 1990 auf 40,0 Stunden kontinuierlich ab (Bundesamt fiir Statistik 2000: 337). Zugleich hat sich das Bildungsniveau betrachtlich verandert. Gab es 1960 in der Bundesrepublik 247.000 Studierende an deutschen Hochschulen, so waren es 1970 422.000, 1980 1.036.000 und 1990 1.579.000 (Bundesamt fur Statistik 2000: 68).
4.4 Erklanmg der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellungen
163
Mit der Entwicklung hin zu postindustriellen Gesellschaften sind wiederum spezifische Werteorientierungen verbunden. Im Hinblick auf die Wirtschaftseinstellungen betont Bell, dass die fiir die Industrialisierungsphase konstitutiven Werte wie Leistungs- und Wettbewerbsorientierung, Sparsamkeit und Konsumverzicht ersetzt werden durch eine hedonistische Orientierung (Bell 1979). Ronald Inglehart (1997) vermutet, dass die Zunahme der Moglichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse zu einer Werteverschiebung in Richtung auf postmaterielle Werte fiihrt. Zu den postmateriellen Werten gehoren u. a. Wiinsche nach Selbstentfaltung und Partizipation. Leistungs- und Wettbewerbsorientierung und wirtschaftlicher Erfolg verlieren, soziale Werte gewinnen an Bedeutung. Auch wenn der Prozess der Modernisierung entlang der unterschiedenen zwei Phasen zu einer linearen Steigerung des okonomischen Wohlstands (gemessen z. B. durch den Human Development Index) fiihrt bzw. gefiihrt hat, verbergen sich hinter diesem Prozess zwei unterschiedliche gesellschaftliche Ordnungen, die auch unterschiedliche Effekte auf die Werteorientierung der Burger haben. „Thus, cultural change is not linear; with the coming of postindustrial society it moves in a new direction." (Inglehart und Baker 2000: 22). Was bedeuten diese Uberlegungen flir unsere Fragestellung? Die von uns untersuchten Gesellschaften unterscheiden sich im Grad der okonomischen Modernisierung. In alien Fallen handelt es sich aber u m weitgehend industrialisierte Gesellschaften, so dass sich die Unterschiede zwischen den Gesellschaften auf den Grad der Postindustrialisierung beziehen, mit Folgen fiir die Wirtschaftswerteorientierung der Biirger (vgl. dazu die Einteilung der Lander in Inglehart und Norris (2003: 165ff.)): Wir vermuten, dass die Leistungsorientierung und Wettbewerbsorientierung in den geringer postindustrialisierten Gesellschaften hoher ist als in den welter entwickelten Gesellschaften. Zugleich gehen wir von der Hypothese aus, dass die Vertrauensorientierung und die Betonung der Offenheit der Markte in den okonomisch weiter entwickelten Gesellschaften starker ausgepragt ist als in den okonomisch schwacher entwickelten Gesellschaften.
164
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
2. Kulturell-religiose Traditionslinie: Wir gehen von der Vermutung aus, dass in den verschiedenen Religionen unterschiedliche Wirtschaftsvorstellimgen verankert sind, und dass die Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften von diesen Wirtschaftsvorstellimgen beeinflusst werden (Nutzinger 2003; Wuthnow 1994). Max Weber hat in seinen religionssoziologischen Studien versucht herauszuarbeiten, dass der Geist des Kapitalismus protestantischen Ursprimgs ist (Weber 1988). „Als Folge dieser Glaubenslehre ergibt sich eine spezifische Einstellung zur Berufsarbeit der Glaubigen: eine hohe Prioritat fiir die Berufsarbeit und berufliche Leistimg, die aktive und dauerhafte Gestaltimg der Welt durch die Berufsarbeit, eine systematic sche SelbstkontroUe der Lebensfuhrimg, innerweltliche Askese im Sinne des Konsumverzichts und der dauerhaften Reinvestition des erzielten Erfolgs." (Gerhards 1996: 543). Folgt man der Weberschen Argumentationslinie, dann kann man vermuten, dass die Protestanten im Vergleich zu anderen Konfessionen durch eine hdhere Leistungsbereitschaft und Wettbewerbsorientierung, eine starkere Praferenz fiir die Offenheit der Markte und eine Ablehnung eines protektionistischen Staates gekennzeichnet sind.^^ Weber grenzt in seinen Analysen die protestantische Ethik vor allem gegeniiber der Wirtschaftsethik des Katholizismus ab, dem die spezifische religios motivierte Berufsethik fehle. Leider fehlen bis heute ahnlich gute Analysen fiir die anderen in Europa vorherrschenden Konfessionen bzw. Religionen.^^ Die Einfliisse des Islam auf die Wirtschaft und die Wirtschaftseinstellungen werden in der Literatur kontrovers diskutiert (Leipold 24 Samuel Eisenstadt (1970) weist den direkten Einfliissen des Protestantismus auf wirtschaftsbezogene Einstellungen eine eher untergeordnete Rolle bei der Entwicklung des modemen Kapitalismus zu. Fiir ihn war dagegen entscheidend, dass die religiosen Auffassungen des Protestantismus die Innovation neuer Werte, Handlungsformen und Institutionen in alien gesellschaftlichen Spharen legitimierten. Siehe auch Greenfeld (2001) und Delacroix und Nielsen (2001). 25 Die meisten neueren Studien zum Zusammenhang von Religion und Wirtschaft beschaftigen sich direkt mit dem Einfluss der Religion auf das Wirtschaftswachstum (z. B. Barro und McCleary 2003) und erwahnen dabei implizit oder explizit den Umweg iiber die Einstellungen, den wir hier explizit testen.
4.4 Erklarimg der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellungen
165
2003).26 Helmut Leipold (2003) iind Jorg Winterberg (1994) kommen zu dem Schluss, dass der Islam, zumindest was seine zentralen Texte anbelangt, durchaus mit der Wirtschaftsordnimg der sozialen Marktwirtschaft vertraglich ist, da ihm sowohl eine gewisse soziale Ausrichtung^^ als auch eine Leistungsorientierung eigen sei: „Labour was defined as an obligation to all who are able to work/' (Wienen 1999: 41). Aufgrimd des Zinsverbots wird die Erwerbstatigkeit an die personliche Leistung des Einzelnen gebunden, was als „Indiz fiir eine prinzipiell positive Einstellung zum Wettbewerb" interpretiert werden kann (Winterberg 1994: 192f. bzw. 205). Von dieser exegetischen Sichtweise imterscheiden sich Autoren, die eine morphologische Perspektive einnehmen. Diese sehen den Einfluss des Islam auf eine kapitalistische Wirtschaftgesinnung deutlich negativer. Schon Weber beschreibt den Islam als „gerade entgegengesetzt der puritanischen imd jeder innerweltlich-asketischen Lebensmethodik" (Weber 1985: 376). Und auch Leipold (2003) betont die negativen Folgen des Islam fiir die Wirtschaftsentwicklung, da dieser durch seinen Anspruch auf Regelung aller Lebensbereiche eine Rationalisierung der okonomischen Sphare nicht zulasse. Die Empirie scheint diese zweite Position zu bestatigen: „We find that Christian religions are more positively associated with attitudes conducive to economic growth, while religious Muslims are the most anti-market." (Guiso et al.: 2003). Die wenigsten Aussagen findet man in der Literatur zum Einfluss des orthodoxen Christentums auf die Wirtschaftsvorstellungen.^s Jan Delhey beschreibt das orthodoxe Christentum „als kollektivistisch und
26 Die meisten Autoren beschaftigen sich allerdings mit dem fur uns eher nebensachlichen Zinsverbot, welches haufig als „Hauptstuck einer islamischen Wirtschaft" (Hildebrandt 1996:12) angesehen wird (vgl. auch Wienen 1999). 27 Erwahnt wird als zentrales Gebot die Almosensteuer, der sogenannte zakat. „Diese Interpretation, dafi die Armen ein Recht auf Unterstiitzung durch die Reichen haben, begriindet nach Auffassung vieler islamischer Wirtschaftsideologen das Sozialstaatsprinzip in einer islamischen Gesellschaft, welches somit nicht nur moralisch-karitative Elemente enthalte, sondern auf eine rechtlich-verfasste Sozialpartnerschaft hinstrebe/' (Hildebrandt 1996: lOf.). 28 Ein ahnliches Bild zeigt sich auch in der empirischen Forschung. Guiso et al. (2003) analysieren Katholiken, Protestanten, Juden, Moslems, Hinduisten und Buddhisten. Orthodoxe fallen hingegen unter die nicht weiter spezifizierte Kategorie „other affiliations''.
166
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
staats- bzw. autoritatsiinterordnend" (2001: 67f.). Ahnlich sieht es Andreas Buss, der zusatzlich eine „absolute Ablehnung der Erfolgsethik" konstatiert, da „nur das unbedingte ethische Gebot iiberhaupt als moglicher Leitstern positiven Handelns gelte" (1989: 48). Vor allem die stark mystische Komponente des orthodoxen Glaubens fuhre zu einer Minimierung des Handelns (Buss 1989: 44, mit Bezug auf Weber 1988). Daher kommt Buss zu folgender Einschatzung: „Die aktiv handelnde, weltbeherrschende Personlichkeit, jenes spezifisch abendlandische Ideal der Lebensfiihrung, das auch die abendlandische Wirtschaftsethik mitbeeinflusst hat, ist der orthodoxen Religiositat nicht adaquat" (Buss 1989: 95). Insofern lautet unsere Hypothese, dass sich orthodoxe Christen und Moslems, etwas schwacher auch Katholiken eher gegen Leistungsorientierung, offene Markte und Wettbewerb, dafiir aber ftir einen starken Staat aussprechen. Als Indikator fiir die religiosen Einfliisse verwenden wir die Angaben zur Konfessionszugehorigkeit der Befragten. 3. Politisch-institutionelle Ordnung: Schliefilich gehen wir davon aus, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellungen der Burger hat. Zwei Unterdimensionen scheinen hier bedeutsam zu sein: a. Sozialistisches Erbe: Manche der von uns untersuchten Lander waren vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1990 sozialistische Planwirtschaften, andere kapitalistische Marktwirtschaften. Wir haben es also mit zwei fundamental unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen zu tun, denen auch fundamental andere Vorstellungen der Organisationsweise von Wirtschaft unterlegt sind. Zwar ist die institutionelle Transformation der osteuropaischen Planwirtschaften relativ weit vorangeschritten, Beobachter gehen aber von der plausiblen Annahme aus, dass sich die Einstellungen und Werte der Bevolkerung nicht so schnell andern, wie der Institutionenwechsel erfolgt ist: „Auch wenn die Eliten die ,Ruckkehr nach Europa' als beste Option durchsetzten und die Bevolkerungen diese Option auch grofitenteils akzeptierten, diirfte eine breite Mehrheit einige sozialistische Prinzipien - zumal nach den harten Einschnitten der ersten Reformjahre - nach wie vor hochhalten oder wiederentdecken. Prinzipien, die mit dem Aufbau einer kapitalistischen Marktwirtschaft in einem
4.4 Erklarimg der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellimgen
167
gewissen Spannungsverhaltnis stehen und durch die jiingsten Entwicklungen ,bedrangt' oder sogar ,verletzt' worden sind." (Delhey 2001: 65). Sozialistische Planwirtschaften unterscheiden sich von kapitalistischen Marktwirtschaften vor allem dadurch, dass sie die Allokation von Arbeit, Glitern iind Dienstleistungen nicht den Unternehmungen und dem Wettbewerb iiberlassen, sondern staatlich regeln. Insofern erwarten wir, dass Burger, die in diesen Kontexten sozialisiert wurden, sich eher fiir eine Staatsintervention in den Markt aussprechen und Wettbewerb eher ablehnen.^^ Schwieriger ist es, den Effekt einer Sozialisation in einer sozialistischen Planwirtschaft auf die Leistungsmotivation und das Vertrauen einzuschatzen. Einerseits haben sozialistische Gesellschaften mit einem enormen Propagandaaufwand und in Form von symbolischen Anreizen (z. B. mittels der Vergabe von Or den) versucht, die Leistungsbereitschaft ihrer Burger zu motivieren; andererseits waren die materiellen Anreize der Stimulierung von Leistung gering. Ahnlich ambivalent scheint der theoretisch zu erwartende Effekt von Sozialismus auf Vertrauen zu sein. Einerseits sind sozialistische Gesellschaften insofern Vertrauensgesellschaften, als sie das Prinzip der Solidaritat zwischen den Menschen zu einem zentralen Organisationsprinzip der Gesellschaft erklart haben. Andererseits sind die staatssozialistischen Gesellschaften durch ein hohes Mafi an Uberwachung und Bespitzelung ihrer Bevolkerung gekennzeichnet gewesen und hatten damit Misstrauen gleichsam staatlich institutionalisiert. Hinzu kommt, dass die sozialistischen Gesellschaften durch das Fehlen zivilgesellschaftlicher intermediarer Institutionen gekennzeichnet sind, die als Orte der Vertrauensgenerierung gelten.30 Als Indikator fiir das sozialistische Erbe verwenden wir die Jahre,
29 Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen einer offiziellen Doktrin, den tatsachlich durch das System geforderten Einstellungen und den daraus nach dem Systemumsturz resuhierenden Werten. Da wir die These von einem „soziaHstischen Erbe'' iiberpriifen wollen, beziehen wir uns hier allein auf die aus der sozialistischen Doktrin direkt ableitbaren Werteinstellungen. 30 Die vielen von staatlicher Seite organisierten Gruppierungen konnten diese Funktion nicht erfiillen. Vgl. auch unten Kapitel 6.
168
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
die ein Land unter kommunistischer Herrschaft war (vgl. Inglehart 1997).3i b. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft: Unabhangig von der sozialistischen Vergangenheit eines Landes gehen wir davon aus, dass das Ausmafi der Staatseingriffe in eine Wirtschaft die Einstellungen der Burger zur Wirtschaft pragt. Grofiere Staatseingriffe fuhren meist dazu, dass der Wettbewerb reguliert wird und die Anreize fiir individuelle Leistungen, etwa aufgrund hoher Steuern, sinken. Gleichzeitig sorgt aber ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat fiir eine gewisse Sicherheit. Alberto Alesina und George-Marios Angeletos (2003) konnen zeigen, dass der Grad der Staatseingriffe in die Wirtschaft mit bestimmten Wirtschaftseinstellungen korrespondiert.32 Wir gehen davon aus, dass eine hohe Quote der staatlichen Eingriffe die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung sowie die Befiirwortung der Offenheit des Marktes sinken, dagegen das Vertrauen steigen lasst. Es gibt verschiedene Moglichkeiten, den Einfluss des Staates zu messen. Ideal ware es, fiir jede Dimension (Wohlfahrtsstaat, Staatsquote, Anteil staatlichen Eigentums etc.) einen eigenen Indikator zu verwenden. Aufgrund der geringen Fallzahl (28 Lander) ist dies allerdings nicht moglich. Ein Indikator, der die wichtigsten dieser Dimensionen in einer MaCzahl zusammenfasst, ist der auch in den „Index Economic Freedom of the World" des Eraser Institute eingehende „Index Size of Government" (EFW), den wir fiir unsere Analysen verwenden und den wir in der Einleitung genauer erlautert hatten (Gwartney und Lawson 2003). Wir haben die verschiedenen Hypothesen tabellarisch zusammengefasst.
^1 Dies wird, je nach Grundlage der Datenquelle, etwas unterschiedlich eingeschatzt (vgl. z. B. zusatzlich die Zahlen bei Fuchs und Klingemann bzw. bei Banks und Muller 1998). Die Ergebnisse bleiben aber auch bei Verwendung anderer Angaben relativ stabil. 32 Die Autoren gehen von einer wechselseitigen Beeinflussung von Struktur und Kultur aus. Wir analysieren hier ledighch die eine Richtung, namlich den Einfluss der Struktur auf die Werteinstellungen der Biirger.
4.4 Erklarung der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellungen Tabelle4.3:
169
Zusammenhang der Erklarungsfaktoren mit den Einstellungen zur Wirtschaft Vertrauen
Wettbewerbsorientierung
Offenheit der Markte
+
0
+
+
+
-
+
-
+
+
Leistungsorientierung Modemisierung Industrialisierung Postindustrialisierung Religion Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Politisch-Institutionelle Ordnung Staatsintervention Sozialistisches Erbe
Passive Rolle des Staates
+ bedeutet einen positiven Zusammenhang - bedeutet einen negativen Zusammenhang 0 bedeutet kein Zusammenhang bzw. keine Hypothese
4. Ergebnisse: Die folgenden beiden Tabellen weisen die standardisierten Regressionskoeffizienten der multiplen linearen Regressionen fiir alle von iins analysierten Indikatoren aus. Alle Variablen haben wir dabei so kodiert, dass hohe positive Werte in Richtung der EU-Vorstellungen weisen.
33
33 Einige der Indikatoren wurden mit zwei Frageauspragungen erhoben, weshalb die Berechnung einer logistischen Regression statistisch angemessener ware. Wir haben diese auch berechnet. Da sich die Ergebnisse beider Berechnungen aber nicht substantiell, sondern ledigUch graduell unterscheiden, haben wir aus Griinden der besseren Vergleichbarkeit die Koeffizienten einer Unearen Regression angegeben.
170 Tabelle 4.4:
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU Erklarimgindividueller Werteorientierimgen: Regressionen Leistungsorientierung
Modemisierung HDI Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Politisch-Institutionelle Ordnung Staatsintervention Sozialistisches Erbe R2
Generalisiertes Vertrauen
Index Erziehungsziele
„Arbeit kommt stets zuerst''
-,304
-,186
,193
-,082 -,039 -,008+ -,082
,075 ,125 ,068 ,080
,092 -,075 -,022 -,007+
-,009+ ,116 ,153
-,054 ,122 ,084
-,025 ,001+ 0,071
, Wirtschaftsordniingseinstelliingen: Regressionen Tabelle 4.5: Erklarimg d. Wettbewerb
Modemisierung HDI Religion ^) Protestanten Katholiken Orthodoxe MusUme Politisch-Institutionelle Ordnung Staatsintervention Sozialistisches Erbe R2
Marktoffenheit
Intervention des Staates
,Wettbewerb ist g u t "
„Leistungsgerechte Bezahlung''
-,113
-,042
,225
,105
,060 ,040 ,022 -,021*
,006+ -,009+ ,046 ,014+
-,007+ -,191 -,043 ,110
,067 ,010+ ,003+ -,043
-,028 ,015+ ,013
-,058 ,083 ,018
-,085 -,080 ,114
-,013+ -,092 ,047
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (* = signifikant auf 5 %-Niveau, + = nicht signifikant). «) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose''.
4.4 Erklarung der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellnngen
171
Welche Befunde lassen sich bilanzieren: a. Schauen wir uns zimachst die R^-Werte an, die ein Giitemafi fiir die Erklarimgskraft unserer Modelle darstellen, so lasst sich festhalten, dass die Erklarung je nach analysierter Werteorientierung imterschiedlich gut gelingt. Die Leistungsorientierung und die Einstellungen zur Marktoffenheit konnen wir gut erklaren. Deutlich schlechter gelingt uns dies dagegen fiir das generalisierte Vertrauen, die RoUe des Staates und vor allem fiir die Wettbewerbsorientierung. b. Der postulierte ambivalente Einfluss der Modernisierung wird in unseren Analysen deutlich bestatigt. So fiihrt ein hoherer Modernisierungsgrad zu grofierem Vertrauen, erhoht die Unterstiitzung der Marktoffenheit und fordert die Ablehnung von Staatsinterventionismus. Gleichzeitig hat das Modernisierungsniveau negative Auswirkungen auf die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung. Dieser Refund unterstiitzt unsere theoretischen Erwartungen: Der Ubergang von industrialisierten zu postindustrialisierten Gesellschaften fiihrt zu einer geringeren Betonung von Leistung und Wettbewerb, starkt aber die Vertrauens- und Offenheitsorientierung. c. Die Befunde zum Einfluss der Konfessionen ergeben kein einheitliches Bild. Das Ergebnis von Guiso et al., dass „on average religion is associated positively with attitudes that are conducive to free markets and better institutions" (2003: 227) konnen wir nur bedingt bestatigen. Protestanten scheinen die Wirtschaftsvorstellungen der EU am starksten zu unterstiitzen. Sie weisen als einzige Konfession sowohl ein erhohtes Vertrauen als auch eine positive Einstellung gegeniiber einem passiven Staat auf. Bei der Marktoffenheit ist der Einfluss nicht signifikant. Der Islam scheint zwar forderlich fiir die Marktoffenheit, dafiir wird von Muslimen aber ein starkerer Staat gefordert. Katholiken und Orthodoxe scheinen sich am ahnlichsten in ihren wirtschaftsbezogenen Einstellungen. Beide zeichnen sich sowohl durch ein unterdurchschnittliches Vertrauen als auch durch eine Praferenz fiir Marktschliefiung aus. Der Einfluss auf die RoUe des Staates ist dagegen bei beiden nicht signifikant. Auffallig ist schliefilich noch der uneinheitliche Einfluss aller Religionen auf die beiden Leistungsindikatoren. Die Mitglieder aller Religionen be-
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4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
tonen iinterdurchschnittlich leistimgsorientierte Erziehungsziele, sie befiirworten iiberdurchschnittlich eine Arbeits- statt Freizeitorientierung. Dies konnte darauf hindeuten, dass die Operationalisierung der Leistungsdimension nicht ideal gelungen ist. Zumindest scheinen imsere beiden Indikatoren imterschiedliche Aspekte zu betonen. Es kann aber auch daran liegen, dass eine religiose Pragiing dazu fiihrt, zwar die Leistung zu betonen, andere Erziehungsziele aber als noch wichtiger einzustufen. So wird das Erziehungsziel „Energie/Ausdauer" von Atheisten am haufigsten gewahlt. d. Die dritte Gruppe von Erklarungsfaktoren bildet das politischinstitutionelle Umfeld. Entgegen unseren Erwartungen fiihrt eine hohe Quote der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft eher zu einer Befiirwortung der Offenheit des Marktes. Zusatzlich haben staatliche Eingriffe einen positiven Effekt auf die Wettbewerbs- und Leistungsorientierung. Lediglich unsere Annahme zum Einfluss auf das Vertrauen bestatigt sich: Staatliche Intervention generiert ein grofieres Vertrauen. Der Zusammenhang mit den Forderungen nach einem passiven Staat ist nicht signifikant. Auch die Erfahrungen mit dem Sozialismus haben nur zum Teil die Effekte, die wir theoretisch erwartet haben. Zwar erweisen sich die Burger aus vormals sozialistischen Landern iiberdurchschnittlich skeptisch gegeniiber der Idee eines schlanken Staates und gegeniiber einer Marktoffenheit, gleichzeitig sind sie aber iiberdurchschnittlich leistungs- und wettbewerbsorientiert.
4.5 Zusammenfassung Die Europaische Union ist als Wirtschaftsunion entstanden, und die EU hat entwickelte Vorstellungen dariiber, wie das Wirtschaftssystem zu organisieren ist. Wettbewerbsorientierung, Marktoffenheit und eine eher passive RoUe des Staates sowie die Forderimg einer Leistungsorientierung und eines generalisierten Vertrauens bilden die zentralen Elemente des Wirtschaftsskripts der EU. Wir haben versucht zu analysieren, ob
4.5 Zusaminenfassung
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und in welchem Mafie diese Vorstellungen durch die Burger der gegenwartigen iind zukiinftigen EU unterstiitzt werden. Dabei hat sich gezeigt, dass es teilweise deutliche Unterschiede zwischen den alten Mitgliedern und den Beitrittslandern gibt. Erstere betonen starker die Offenheit der Markte und eine zuriickhaltende RoUe des Staates. Aufierdem weisen sie ein deutlich hoheres Vertrauen auf. Dagegen sind die Befragten in den Beitrittslandern durchschnittlich wesentlich leistungs- und leicht wettbewerbsorientierter. Die Unterschiede innerhalb der Gruppen sind dabei allerdings teilweise gravierend. In einem dritten Schritt haben wir deshalb mit Hilfe einer Diskriminanzanalyse versucht, die Nahe der Lander zum EU-Ideal insgesamt zu bestimmen. Deutlich zeigt sich dabei, dass die bisherigen Mitgliedslander und die Beitrittslander sehr unterschiedliche Aspekte des Wirtschaftsskripts der EU unterstiitzen. Wahrend die alten EU-Lander, alien voran Schweden, Danemark und die Niederlande, die Offnungsaspekte (Offenheit der Markte, passive RoUe des Staates, generalisiertes Vertrauen) betonen, weisen die Beitrittslander eine grdjSere Nahe zur EU in einer Leistungs-AVettbewerbsdimension auf. Die Befunde erweisen sich damit als etwas ambivalenter als die der anderen von uns analysierten Bereiche: Die EU-Position wird von den bisherigen Mitgliedslandern nicht unbedingt starker unterstiitzt als von den neuen Mitgliedern und den Beitrittskandidaten. Gerade was die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung der Burger anbelangt, kann mit der Erweiterung der EU eine neue Wirtschaftsdynamik entfaltet werden. Die Erklarung der Wirtschaftseinstellungen der Burger durch die drei Kontextgrofien „Modernisierung", „Religion" und „politischinstitutionelles Umfeld" ist nur mafiig gelungen. Die starkste Erklarungsleistung geht vom Grad der Modernisierung aus und dies in Richtung der theoretischen Erwartung. Je modernisierter ein Land ist, desto starker befiirworten die Burger die Offenheit der Markte, eine passive Rolle des Staates und desto eher zeichnen sie sich durch ein generalisiertes Vertrauen aus; zugleich hat der Grad der Modernisierung einen negativen Effekt auf die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung. Praktisch umgekehrt wirkt dagegen ein sozialistisches Erbe. Die Rolle der Konfessionen
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
ist uneinheitlich. Protestanten unterstiitzen die EU-Position am ehesten, Katholiken imd Orthodoxe lehnen sie dagegen eher ab.
5. Wohlf ahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Unter Wohlfahrtsstaat versteht man diejenigen staatlichen Interventionen und Mafinahmen, mit deren Hilfe zwei Ziele erreicht werden soUen: die Herstellung sozialer Sicherheit und die Verminderung von sozialer Ungleichheit. Wohlfahrtsstaatliche MajSnahmen haben primar die Funktion, Dysfunktionen des Marktes zu kompensieren.^ In der sozialwissenschaftlichen Literatur besteht weitgehend Einigkeit dariiber, dass der „Sozialstaat eine institutionelle Anpassung an Modernisierungsprozesse darstellt, deren zentrale Elemente der demographische Wandel, die Industrialisierung und die Demokratisierung sind. Sozialstaatliche Programme sind in dieser Perspektive Losungsversuche von im Modernisierungsprozess auftretenden Problemen" (Alber, Behrendt und Scholkopf 2001: 654f.). Durch die Trennung von Arbeit und Familie sind neue Risiken entstanden, deren Absicherimg den Kern des Wohlfahrtsstaates ausmachen (Alber 1989: 30ff.; Girvetz 1972). Hierzu zahlt insbesondere der Schutz vor den Folgen von Erwerbsunfahigkeit, etwa durch Alter oder Krankheit (Guillemard 2001:16418). Die Entwicklimg des modernen Wohlfahrtsstaates beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einfuhrung gesetzlicher Sozialversicherungssysteme in mehreren europaischen Landern. Der eigentliche Expansionsschub des Wohlfahrtsstaates findet in alien westlichen Landern nach dem 2. Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren statt, allerdings fiir die ver1 Der Begriff Wohlfahrtsstaat wird hier synonym mit dem Begriff des Sozialstaates gebraucht, auch wenn im deutschen Kontext der Begriff Wohlfahrtsstaat die Bedeutung eines expansiven Sozialstaates hat (vgl. Alber, Behrendt und Scholkopf 2001; vgl. auch Alber 1989: 27).
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
schiedenen Lander auf einem unterschiedlichen Niveau. In der international vergleichenden Forschung gingen die ersten Ansatze von einer Konvergenzthese aus. Die zugrundeliegende Armahme war, dass sich mit der Steigerung der Wirtschaftskraft der Lander auch die Ausgaben fiir die soziale Sicherung erhdhen wiirden (Wilensky 1975). Weitere Forschungen haben aber gezeigt, dass sich sowohl die Intensitat als auch die Extensitat des Wohlfahrtsstaates (Roller 1992) in den verschiedenen Landern, auch unabhangig von der Wirtschaftskraft, deutlich unterscheiden. Um die Unterschiede der Wohlfahrtsstaaten zu beschreiben, sind verschiedene Typologien entwickelt worden. Am prominentesten ist in diesem Zusammenhang die Typologie von Gosta Esping-Andersen (1990), der drei verschiedene Wohlfahrtsstaatsmodelle unterscheidet. Er differenziert bekanntlich zwischen einem sozialdemokratischen (z. B. Schweden), einem konservativen (z. B. Deutschland oder Italien) und einem liberalen Regime (z. B. USA).2 Edeltraud Roller (2000a) kniipft in ihren Arbeiten an diese Modellvorstellungen an, entwickelt aber dann eine eigenstandige Typologie, die sich fiir die Messung der Einstellungen der Burger zum Wohlfahrtsstaat bewahrt hat.^ Roller unterscheidet vier verschiedene Modelle von Wohlfahrtsstaaten. Diese unterscheiden sich durch die Anzahl der Bereiche, die vom Staat per InterventionsmaiSnahme geregelt werden, Dabei nimmt die Anzahl der Bereiche, die reguliert werden, von Modell zu Modell kontinuierlich zu: Das liberale Modell ist dadurch gekennzeichnet, dass der Staat allein die Verantwortung fiir die Sicherung des Einkommens in Risikofallen (Krankheit, Alter, Arbeitsunfahigkeit) tibernimmt. Das von 2 Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Veroffentlichungen zu diesem Typologisierungsvorschlag. Vgl. z. B. Leibfried und Pierson (1995), Lessenich und Ostner (1998), Manow (2002), Obinger und Wagschal (2001), Schmidt (1998: Kap. 2.4), Schmid (1996: Kap. 3), Vobruba (2001: 94ff.), Vogel (1999). 3 Esping-Andersen unterscheidet drei analytische Dimensionen, n\it deren Hilfe er seine drei Wohlfahrtsstaatstypen bestimmt: Dekommodifizierung, Stratifizierung und Verhahnis von Markt zu Staat. Die Typologie von Roller bezieht sich im Kern allein auf die erste Dimension und beschreibt das Ausmafi, in dem die Existenzsicherung der Burger unabhangig vom Erwerbseinkommen gesichert ist. Der Begriff Dekommodifizierung ist vom englischen „ commodity"" (Ware) abgeleitet.
5.1 Wohlfahrtsstaatsvorstellimgen der Europaischen Union
177
Roller als christdemokratisch bezeichnete Modell ist dadurch gekennzeichnet, dass der Staat zusatzlich zur Risikoabsicherung Mafinahmen zur Herstellung von Chancengleichheit ergreift. Im sozialdemokratischen Modell kommt dem Staat zusatzlich die Funktion zu, fiir Ergebnisgleichheit iind Vollbeschaftigung zu sorgen. Das sozialistische Wohlfahrtsstaatsmodell umfasst darliber hinaus staatliche Mafinahmen zur Kontrolle der Lohne und Gehalter (vgl. Roller 2000a). Wir werden uns an dieser Typologie von Roller in unseren Analysen orientieren. In einem ersten Schritt arbeiten wir anhand zentraler Texte die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der EU heraus. Wir prlifen dann, inwieweit das Wohlfahrtsstaatsskript der EU von den Biirgerinnen und Biirgern der Mitgliedslander und Beitrittskandidaten unterstiitzt wird. In einem dritten Schritt versuchen wir, die gefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erklaren. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Zusammenfassung der Befunde.
5.1 Wohlfahrtsstaatsvorstellungen der Europaischen Union Eine Rekonstruktion der wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der EU ist nicht ganz einfach. Dies ist vor allem darauf zuriickzufuhren, dass die politische Bedeutung von Begriffen nicht identisch ist mit deren wissenschaftlicher Bedeutung. Man konnte vermuten, dass sich hinter dem Terminus „Europaisches Sozialmodell" eine genaue Beschreibung europaischer Wohlfahrtsstaatsvorstellungen verbirgt. Schliefilich sehen manche Politiker und Analysten den europaischen Wohlfahrtsstaat als das entscheidende Merkmal, das Europa von anderen Kontinenten, vor allem den USA, abgrenzt. „Die Idee einer offentlichen Verantwortung fiir die Wohlfahrt der Burger (...) stellt historisch ein Spezifikum europaischer Gesellschaften dar. (...) Ein umfassender, wohlfahrtsstaatlich organisierter gesellschaftlicher Bedarfsausgleich lasst sich daher nach wie vor (...) als europaische Eigenart und Gemeinsamkeit bezeichnen" (Aust et al. 2002: 279). Die wissenschaftliche und politische Bedeutung des Begriffs „Europaisches Sozialmodell" haben aber nur in einem sehr eingeschrankten Mafie etwas miteinander zu tun.
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
In den 80er Jahren wurde vor allem durch Francois Mitterand und Jacques Delors das „Konzept des sozialen Raumes" bzw. die Idee eines „Europaischen Sozialmodells" entwickelt und politisch lanciert (Aust et al. 2000; Ostner 2000).^ Die wirtschaftliche Integration Europas sollte um eine soziale Dimension erganzt werden. Was man genau darunter zu verstehen hat, ist enorm vielfaltig und in aller Regel recht diffus. Daniel C. Vaughan-Whitehead (2003: 6) hat jtingst in seiner umfangreichen Dissertation die Elemente dessen, was unter einem europaischen Sozialmodell verstanden wird, zusammengetragen.^ Wir zitieren die grafische Darstellung des Autors: The Different Elements of the European Social Model Labour law on workers' rights Employment Equal opportunities Anti-discrimination Workers' participation, information and consultation Social partner recognition and involvement Social dialogue and collective bargaining Involvement of civil society Public services and services of general interest Decent or "fair" wages Social protection Social inclusion Fundamental working and social rights Regional cohesion Transnational social policies and tools
4 Sichtbarster Ausdruck dieser Entwicklungen ist das „Weifibuch Sozialpolitik" der Kommission aus dem Jahr 1994 (Europaische Kommission 1994). 5 Zur europaischen Sozialpolitik vgl. z. B. auch Keller, (2001), dann Kleinmann (2002), Kowalsky (1999), Leibfried (1996), Leibfried und Pierson (2000), die Beitrage in Schmahl und Rische (1997) und Schulte (2001).
5.1 Wohlfahrtsstaatsvorstellimgen der Europaischen Union
179
Es ist schnell ersichtlich, dass die •politische Vorstellung eines europaischen Sozialmodells eine Vielzahl recht unterschiedlicher Dimensionen umfasst, die weit iiber die wissenschaftliche Definition eines Wohlfahrtsstaates hinausgehen bzw. mit ihr nur wenig zu tun haben. Das Konzept eines europaischen Sozialmodells thematisiert zudem sehr unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, die in unserer Studie in verschiedenen Kapiteln abgehandelt werden. Klassifiziert man die diversen Themengebiete, dann lassen sich folgende Dimensionen unterscheiden: 1. Partizipationsrechte, die sich auf das Verhaltnis von Arbeit und Kapital beziehen. Diese Fragen nehmen den gr5fiten Raum ein und beziehen sich auf Probleme innerbetrieblicher Mitbestimmung. 2. Arbeitsrechtsbestimmungen am Arbeitsplatz (Sicherheit, Gesundheit). 3. Toleranz („anti-discrimination") und Zivilgesellschaft. Beide Themengebiete beziehen sich auf die Organisationsform der Demokratie. 4. Offentliche Dienstleistungen, wie die Sicherstellung der Energieversorgung und des Transportwesens. 5. Lohnpolitik. 6. Vollbeschaftigung. 7. Soziale Sicherheit und sozialer Schutz. Die Vorstellungen eines europaischen Sozialmodells beziehen sich weniger auf die gesellschaftsweit institutionalisierten sozialen Sicherungssysteme, sondern im hohen Mafie auf die betrieblichen Arbeitsbeziehungen und den Arbeitsplatz.^ Von den sieben unter dem Etikett „Europaisches Sozialmodeir' thematisierten Bereichen fallen, wenn man die sozialwissenschaftlichen Vorstellungen (z. B. die diskutierten vier Modelle von Edeltraud Roller) als Bezugspunkt zugrunde legt, allein die zuletzt genannten drei Bereiche potentiell in das semantische Feld „Wohlfahrtsstaat". Die Sicherstellung von sozialer Sicherheit und sozialem Schutz (Pkt. 7) bildet den Kern wohlfahrtsstaatlicher Vorstellungen und deckt sich mit dem, was Roller als liberales, besser vielleicht als das Grundmo^ Die Arbeitsschutzmafinahmen sind z. B. auf EU-Ebene weit entwickelt (vgl. dazu Vobruba 2001: 103).
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
dell von Wohlfahrtsstaat bezeichnet hat. Die staatliche Regulieriing des Arbeitsmarktes zur Herstellung von VoUbeschaftigung (Pkt. 6) kommt dem sozialdemokratischen Modell sehr nahe, und der Eingriff des Staates in die Lohnpolitik zur Nivellieriing von sozialer Ungleichheit (Pkt. 5) tragt Ziige des sozialistischen Modells von Wohlfahrtsstaat. Wir orientieren uns in unserer Rekonstruktion des von der EU favorisierten Wohlfahrtsstaatsmodells nicht an dem sehr weiten und diffusen Konzept des europaischen Sozialmodells, sondern legen die Typologie von Roller zu Grunde und fragen, welches der verschiedenen Modelle von der EU favorisiert wird. Bei der Rekonstruktion des Wohlfahrtsstaatsskripts der EU beschranken wir uns daher bewusst auf die im engeren Sinne als Sozialpolitik verstandenen Regelungen auf EU-Ebene.^ Mittelbare Auswirkungen anderer Bereiche auf den Gestaltungsspielraum der nationalen Wohlfahrtsstaaten werden hier dagegen nicht analysiert.^ Die wichtigste Textquelle bildet wiederum der Verfassungsentwurf.^ Im Teil I des Verfassungsentwurfs, in dem die Ziele und Werte der Union abgehandelt werden, wird Solidaritat (Artikel 1-2) als einer der zentralen Werte der EU definiert (Konferenz 2004). Weiterhin werden „soziale Marktwirtschaft, die auf VoUbeschaftigung und sozialen Fortschritt abzielt" als zentrale Ziele der Union festgehalten (Artikel 1-3). Man kann aus der Erwahnung des Ziels der VoUbeschaftigung aber nicht ableiten, dass sich die EU fur ein sozialdemokratisches Modell des Wohlfahrtsstaates ausspricht; denn es bleibt offen, ob sich VoUbeschaftigung durch regulierende Mafinahmen des Staates oder gerade durch weniger 7 Giandomenico Majone (1996) unterscheidet zwischen „traditioneller'' Sozialpolitik und „sozialregulativer'' Politik. Wahrend z. B. Arbeitsschutzmafinahmen in den zweiten Bereich fallen, werden wir uns hier auf den ersten beschranken. 8 Stephan Leibfried unterscheidet zwischen Autonomie- und Souveranitatsverlusten auf der nationalen Ebene aufgrund der europaischen Integration (Leibfried 1996: 455). Diese grofitenteils indirekten Integrationseffekte, deren Grofie ausgesprochen schwer zu bestimmen ist, bleiben hier aber aufien vor (vgl. auch Leibfried und Pierson 2000; Schulte 2001). 9 Im Teil III des Verfassungsentwurfs sich im Abschnitt II eine Fiille von arbeitsplatzbezogenen sozialpolitischen Regularien. Diese kniipfen an die Europaische Sozialcharta von 1961 und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 an. Auch diese bleiben fiir die folgende Interpretation aus dem genannten Grund unberiicksichtigt.
5.1 Wohlfahrtsstaatsvorstellungen der Europaischen Union
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Staat herstellen lasst. Im Teil I des Verfassungsentwurfs wird ebenfalls die Forderung von sozialem Schutz und der Solidaritat zwischen den Generationen erwahnt. Diese allgemeinen Zielvorstellungen werden aber, im Unterschied zu dem Ziel der VoUbeschaftigung, in spateren Abschnitten des Verfassungsentwurfs konkretisiert. Entscheidend ist hier der Artikel 94 aus Teil II des Verfassungsentwurfs. Der Artikel ist iiberschrieben mit „Soziale Sicherheit und soziale Unterstiitzung". Wir zitieren ihn komplett, weil er die wichtigsten Elemente der Wohlfahrtsstaatsvorstellungen der EU umfasst. »Artikel 11-94: Soziale Sicherheit und soziale Unterstlitzung (1) Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fallen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebediirftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewahrleisten, nach Mafigabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. (2) Jeder Mensch, der in der Union seinen rechtmafiigen Wohnsitz hat und seinen Aufenthalt rechtmafiig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und die sozialen Vergiinstigungen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. (3) Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekampfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstlitzung und eine Unterstlitzung fiir die Wohnung, die alien, die nicht iiber ausreichende Mittel verfiigen, ein menschenwiirdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Mafigabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" (Konferenz 2004). Die EU spricht sich damit deutlich und konkret fiir ein Wohlfahrtsstaatsmodell aus, das die Menschen vor den Grundrisiken schlitzt, die durch einen Wegfall der Erwerbstatigkeit entstehen konnen: Krankheit^^ (inklusive Arbeitsinvaliditat und Pflegebediirftigkeit), Mutterschaft, Alter 10 In Artikel 95, Teil II wird der Gesundheitsschutz nochmals genauer spezifiziert: „Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf arztliche Versorgung nach Mafigabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Bei der Festlegung und Durchfiihrung der Politik und Mafinahmen der Union in alien Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt/'
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
und Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt die Zusicherung eines Rechts auf Wohnung. Dies entspricht ziemlich genau dem, was Roller als das liberale bzw. als das Basismodell eines Wohlfahrtsstaates beschrieben hat. Weitergehende Vorstellungen eines europaischen Wohlfahrtsstaates gibt es nicht, zumindest nicht in einer rechtsverbindlichen Form.^^ Und selbst das Grimdmodell des von der EU praferierten Wohlfahrtsstaates ist im Verfassungsentwurf insofern eingeschrankt formuliert, als die Sicherstellung der definierten Leistungen an die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gekoppelt bleibt. Dies bedeutet im Klartext: „Ein ,Europaischer Sozialstaat' zeichnet sich somit nicht ab." (Leibfried und Pierson 2000: 352).i2 Dass die europaische Sozialpolitik trotz aller groCen politischen Rhetorik nicht sehr weit entwickelt ist, ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur hinreichend beschrieben worden. Fritz Scharpf (1996) hat den Prozess der europaischen Integration als einen Prozess der negativen Integration analysiert. Negative Integration meint vor allem die politische Herstellung eines freien Binnenmarktes und die Beseitigung von Handelshemmnissen, ohne dass die Folgen der Deregulierung politisch gestaltet werden (positive Integration). Scharpf hat versucht, mit Hilfe einer spieltheoretischen Modellierung zu erklaren, warum es nicht zur Entwicklung eines europaischen Sozialstaates (als eine Form der positiven Integration) gekommen ist und wahrscheinlich nicht kommen wird. Die armeren Lander in der EU haben kein Interesse an hohen europaweiten sozialen Standards. Die Faktorproduktivitat (die Produktivitat von Arbeit 11 Wir orientieren uns hier allein am Kemmodell der Europaischen Union, wie es in den Vertragen festgelegt ist. Zwar gibt es durchaus eine Fiille an verschiedenen Programmen und Initiativen zur Armutsbekampfung und auch indirekte Auswirkungen der Wahrungsunion oder des Gemeinsamen Marktes auf die Sozialpolitik, aber „mittelbare'' europaische Sozialpohtik bzw. das „soft law'' der EU (vgl. Leibfried und Pierson 2000; Schulte 2001) bleiben hier unberiicksichtigt. Die hier skizzierte EU-Position stellt dabei das konsensfahige Maximum der Institutionalisierung von Sozialpolitik auf EU-Ebene dar. Historisch hat vor allem Grofibritannien aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips erfolgreich immer wieder gegen eine starkere Ubernahme sozialpolitischer Aufgaben durch die EU interveniert. 12 Da der Verfassungsentwurf fiir Beschliisse des Europaischen Rates im Bereich der Sozialpolitik weiterhin Einstimmigkeit vorsieht, werden sich auch in absehbarer Zukunft keine gravierenden Veranderungen ergeben.
5.2 Die Einstelliingen der Burger zum Wohlfahrtsstaat
183
und Kapital) ist in diesen Landern deutlich geringer als in den okonomisch entwickelteren Landern der EU. Wenn diese Lander trotzdem konkurrenzfahig sein wollen, dann miissen die Faktorkosten - also vor allem die Lohne, die Lohnnebenkosten und die Umweltkosten - recht niedrig sein. Line Angleichung der Lohne und der Sozialstandards ware fiir diese Lander wahrscheinlich mit einer Vernichtung von Arbeitsplatzen verbunden. Die armeren Lander der EU werden entsprechend vor allem fiir die Beibehaltung ihrer landesspezifischen Standards pladieren und ihr Veto gegen eine einheitliche Regelung geltend machen.^^ Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Konstellation mit der Erweiterung der EU u m Lander, deren Faktorproduktivitat noch geringer ist, nicht verbessern wird. Ein einheitlicher europaischer Wohlfahrtsstaat wird sich daher auch in Zukunft sicherlich nicht so schnell entwickeln (vgl. auch Vobruba 2001:102ff.). Wie sehen aber nun die Vorstellungen und Wiinsche der Menschen Europas in Bezug auf den Wohlfahrtsstaat aus?
5.2 Die Einstellungen der Burger zum Wohlfahrtsstaat Der folgende Abschnitt analysiert, inwieweit die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der EU von den Blirgern in den Mitglieds- und Beitrittslandern unterstutzt werden. Wir beziehen uns auch hier in erster Linie auf die Europaische Wertestudie. Wie im letzten Kapitel beschrieben, spricht sich die EU fiir ein Grund- oder Minimalmodell des Wohlfahrtsstaates aus, das eine soziale Sicherheit fiir den Fall der Krankheit, der Behinderung, des Alters, der Mutterschaft und der Arbeitslosigkeit vorsieht. Zudem spricht sie sich fiir etn Recht auf Wohnung aus. Sie erwartet 13 Dass das Niveau wohlfahrtsstaatlicher Regulierungen entscheidend vom Wohlstand einer Gesellschaft abhangt, scheint - zumindest fiir den innereuropaischen Vergleich - ein gesicherter empirischer Behind zu sein. Der Korrelationskoeffizient zwischen dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und der Sozialleistungsquote (Sozialleistungen in % des BIP) liegt iiber einem Wert von 0,8 (vgl. Busch 1998: 276ff.). Dies ist zumindest ein Hinweis darauf, dass die oben erwahnte Konvergenzthese (Wilensky 1975) mit ihren Annahmen trotz aller Kritik nicht ganz falsch liegt.
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
von den Biirgern eine Solidaritat mit denjenigen, die aus den genannten Griinden ihren Lebensunterhalt nicht sichern konnen. Die Europaische Wertestudie enthalt drei Indikatoren, die genau diese Unterstiitzung messen. Die entsprechende Frage lautete: „Ich lese Ihnen nun verschiedene Personengruppen vor. Sagen Sie mir bitte jeweils anhand der Liste: Wie viel liegt Ihnen an den Lebensbedingungen von../'. Als Gruppen wurden unter anderem erfragt: a) „alteren Menschen in unserem Land?", b) „Arbeitslosen in iinserem Land?" und c) „Kranken und Behinderten in unserem Land?". Die Antwortmoglichkeiten reichten von „uberhaupt nichts" liber „nicht so viel", „in einem begrenzten Umfang", „viel" bis zu „sehr viel". Nun kann man argumentieren, dass die Fragestellung insofern kein guter Indikator zur Messung von Wohlfahrtsstaatseinstellungen darstellt, als der Fragestimulus keinen Staatsbezug enthalt. Die Fragen messen also nicht, inwieweit die Befragten dem Staat die Verantwortung fiir die Sicherung der drei Gruppen zuweisen, sondern geben lediglich Auskunft dariiber, ob man prinzipiell bereit ist, Alte, Arbeitslose, Kranke und Behinderte zu unterstiitzen. Wir gehen aber davon aus, dass die generalisierte Unterstiitzung von sozial Schwachen eine positive Disposition fiir die Befiirwortung einer entsprechenden staatlichen Sozialpolitik darstellt. Diese Vermutung wird empirisch durch folgenden Befund erhartet. In der Wertestudie wurde mit Hilfe einer lOer-Skala die generalisierte Einstellimg zur Frage, ob eher der Staat oder eher das Individuum die Verantwortung fiir die Versorgimg iibernehmen soil, erhoben. In einer Korrelationsanalyse stellt sich heraus, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen dieser generalisierten Einstellung zur Staatsverantwortung und den drei Fragen nach der Besorgnis u m Kranke und Behinderte, Alte und Arbeitslose gibt.^^ 14 AUerdings sind die Korrelationskoeffizienten alle nicht sonderlich hoch (gleichwohl alle signifikant auf dem Niveau von 0,01): Der Zusammenhang zwischen Staatsverantwortung und Besorgnis um alte Menschen betragt ,045, der zwischen Staatsverantwortung und Kranken und Behinderten ,055 und der zwischen Staatsverantwortung und Arbeitslosen ,129. Die niedrigen Werte bei den ersten beiden Korrelationen Hegen aber teilweise an der extrem schiefen Verteilung der Unterstiitzung fiir Ahe, Kranke und Behinderte, wie sie sich in Tabelle 5.1 zeigt.
185
5.2 Die Einstellungen der Burger zum Wohlfahrtsstaat
In Tabelle 5.1 sind die kumulierten Prozentangaben fiir die drei Zustimmungskategorien („sehr viel", „vier' iind „in einem begrenzten Umfang") vind die Landermittelwerte (in Klammern) fiir die jeweiligen Fragen abgetragen. Hohe Prozentwerte (und hohe Landermittel) bedeuten dabei eine hohe Unterstiitzung der jeweiligen Gruppe. Tabelle 5.1:
Einstellungen der Bevolkerung zum Wohlfahrtsstaatsskript der EU (Prozentsatze und Mittelwerte der Unterstiitzung verschiedener Gruppen, die hilfsbediirftig sind) Alte Menschen
EU-15 Irland Portugal Italien Griechenland Deutschland-Ost Frankreich Grofibritannien Schweden Spanien Finnland Belgien Deutschland-West Osterreich Niederlande Danemark Luxemburg Beitritt I Malta Slowakei Litauen Polen Tschechien Slowenien Ungam Estland Lettland
Beitritt II Bulgarien Rumanien Ttirkei
91,9 (3,82) 96,2 (4,33) 97,7 (4,28) 96,3 (3,97) 96,1 (3,94) 98,6 (4,03) 90,9 (3,85) 93,1 (3,98) 94,8 (3,92) 95,3 (3,77) 89,4(3,68) 90,7 (3,69) 95,1 (3,75) 88,7 (3,53) 89,2 (3,58) 79,1 (3,51) 78,2 (3,26) 90,2 (3,72) 93,7 (4,14) 94,8 (4,02) 94,3 (3,94) 95,2 (3,97) 85,0 (3,45) 91,6 (3,48) 89,2 (3,74) 89,6 (3,52) 77,9 (3,23) 89,6 (3,86) 96,6 (4,04) 82,5 (3,68) 94,5 (4,21)
Kranke und Behinderte 90,8 (3,69) 97,5 (4,30) 96,0 (4,05) 96,1 (3,94) 94,9(3,96) 94,8 (3,70) 90,0 (3,71) 92,3 (3,83) 94,1 (3,78) 90,1 (3,52) 88,0 (3,56) 89,1 (3,55) 90,1 (3,47) 87,8 (3,49) 90,5 (3,48) 82,8 (3,53) 77,8 (3,19) 89,3 (3,63) 94,1 (4,06) 93,8 (3,82) 94,0 (3,75) 89,0 (3,73) 93,2 (3,77) 92,5 (3,60) 83,2 (3,43) 86,5 (3,38) 76,6 (3,13) 87,2 (3,71) 93,0 (3,78) 81,1 (3,63) 97,3 (4,38)
Arbeitslose 81,4 (3,31) 87,5 (3,58) 86,4 (3,57) 90,6 (3,66) 89,8 (3,59) 91,9 (3,55) 85,6 (3,53) 77,3 (3,18) 78,8 (3,23) 91,5 (3,55) 85,9 (3,42) 76,4 (3,14) 83,0 (3,16) 75,2 (3,13) 72,9 (2,95) 62,3 (2,82) 66,3 (2,85) 81,3 (3,35) 81,4 (3,38) 88,5 (3,57) 92,5 (3,71) 87,3 (3,54) 85,5 (3,40) 90,7 (3,53) 69,0 (3,02) 80,2 (3,27) 55,7 (2,69) 83,8 (3,59) 90,9 (3,73) 76,7 (3,44) 94,9 (4,27)
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Betrachten wir zuerst die Zustimmung zur Unterstlitzung von alten Menschen. Die Zustimmungsraten liegen in alien vier Aggregatgruppen bei rimd 90 %. Die alten EU-Mitglieder und die Lander der beiden Beitrittsrunden imterscheiden sich kaum voneinander.^^ Noch ausgepragter ist die Zustimmung in der Tiirkei. Die generelle Zustimmung zieht sich auch auf Landerebene durch. Bei den alten Mitgliedslandern unterstiitzen Irland, Portugal und Ostdeutschland die Alteren iiberdurchschnittlich, bei den Beitrittslandern vor allem Malta, gefolgt von der Slowakei. Eine vergleichsweise geringe Solidaritat findet sich dagegen in Luxemburg und Lettland. Diese Landerunterschiede konnen aber nicht dariiber hinweg tauschen, dass die Zustimmung insgesamt sehr hoch und fast konsensuell ist. Ein recht ahnliches Bild ergibt sich ftir die Einschatzung gegeniiber Kranken und Behinderten. Wiederum geben alle vier Aggregatgruppen mit grofier Mehrheit an, dass ihnen viel an den Lebensbedingungen von Kranken und Behinderten liegt. Und auch hier erreicht die Tiirkei die hochsten Werte. Auch auf Landerebene gibt es deutliche Ubereinstimmungen mit der ersten Frage. So nehmen Irland, Portugal und Malta einen Spitzenplatz in ihrer Gruppe ein, Luxemburg und Lettland liegen in ihrer Gruppe jeweils am Ende der Zustimmungsraten. Etwas anders sehen die Ergebnisse im Hinblick auf die Unterstlitzung von Arbeitslosen aus. Zwar liegen die Prozentsatze der Unterstlitzung mit ca. 80 % auch hier sehr hoch, allerdings fallt die Zustimmung insgesamt doch etwas schwacher aus als bei den ersten beiden Indikatoren. Zudem sind die Unterschiede zwischen den Landern etwas ausgepragter als bisher. Die mit deutlichem Abstand grofite Unterstlitzung findet sich in der Tiirkei. In Danemark, Luxemburg, den Niederlanden, Lettland und Ungarn sind die Zustimmungen am geringsten. Wir vermuten, dass die geringere Unterstlitzung von Arbeitslosen im Vergleich zu Kranken und Alten mit der Frage der Verantwortlichkeit flir den jeweiligen Status in einem kausalen Zusammenhang steht. Alte, Kranke und Behinderte sind unverschuldet in ihre hilfsbedlirftige Situa15 Die Mittelwertunterschiede sind dennoch in praktisch alien Fallen (Ausnahme sind die EU-Mitglieder und Beitritt II) auf dem 5 %-Niveau signifikant.
5.2 Die Einstelliingen der Burger zum Wohlfahrtsstaat
187
tion geraten.^6 Bei Arbeitslosen kann diese Annahme nicht in gleichem Mafie vorausgesetzt werden. Je nach Perspektive kann entweder das System (nicht geniigend Arbeitsplatze bei prinzipiell arbeitswilligen Biirgem) oder das Individuum selbst (schlechte Arbeitsmoral) dafiir verantwortlich gemacht werden. Die Lander in Tabelle 5.1 weisen iiber alle drei Variablen eine ahnliche Reihenfolge auf. Auch auf der individuellen Ebene korrelieren die drei Items hoch miteinander.^^ Wir haben daher - abweichend von dem Vorgehen in den meisten anderen Kapiteln des Buches - keine aufwendige Diskriminanzanalyse durchgefiihrt, sondern durch einfache Addition einen Index iiber alle drei Indikatoren gebildet. Die Auspragungen des Index reichen von 0 „gar keine Unterstiitzung" bis 12 „sehr starke Unterstiitzimg".i8 Anhand dieses Indexes lassen sich die Lander in eine Rangfolge bringen (Grafik 5.1). In alien Landern findet sich eine Mehrheit fiir die EU-Position einer Unterstiitzung von Alten, Kranken und Arbeitslosen.^^ Dabei zeigen sich die bereits aus der vorherigen Tabelle bekannten Landerunterschiede, die durch die Indexbildung noch besser erkennbar werden. Sieht man sich zunachst die Aggregatgruppen an, so liegen die EU-Mitglieder und die Lander der ersten Beitrittsrunde relativ dicht beieinander. Eine etwas hohere Unterstutzung finden Alte, Kranke und Arbeitslose in den Landern der zweiten Beitrittsrunde. Am starksten werden sie aber in der Tiirkei imterstiitzt. Diese Sonderstellung der Tiirkei zeigt sich nicht nur im Aggregat, sondern auch auf der Landerebene, insofern die Tiirkei 1^ Auch wenn bestimmte Krankheiten in gewissem Mafi durch den eigenen Lebenswandel mit verursacht werden, kann davon ausgegangen werden, dass jeder Mensch versucht, gesund zu bleiben. 17 Die Korrelationen nach Pearson betragen zwischen 0,57 und 0,67. 18 Neben der Addition wurde die Skala so rekodiert, dass sie bei 0 beginnt. Hohe Werte signaHsieren eine hohe Unterstutzung. Der Mittelwert betragt 7,9, die Standardabweichung 2,5. Die Skala weist ein Cronbach's Alpha von 0,82 auf. 19 Dieses Ergebnis wird auch durch eine weitere Frage der Europaischen Wertestudie gestiitzt. Es wurde gefragt, ob die Befriedigung der Grundbediirfnisse AUer eine Voraussetzung fiir eine gerechte Gesellschaft sei. Auch hier findet sich in praktisch alien Landern eine durchschnittliche Zustimmung von iiber 90 % (etwas geringer ist sie in Danemark und Tschechien). Da der Staatsbezug fehlt, analysieren wir die Variable aber nicht weiter.
188
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
einen deutlichen Vorsprung vor den folgenden Landern Irland iind Portugal aufweist. Die niedrigsten Werte weisen Lettland und Luxemburg auf, gefolgt von Danemark und den Niederlanden. Eine Erklarung dieser Unterschiede wollen wir im nachsten Abschnitt versuchen. Grafik 5.1:
Unterstutzung fiir Alte, Kranke und Arbeitslose (Index)
Wie bereits erwahnt, sind die drei bisher benutzten Indikatoren nicht optimal zur Messung der Einstellungen der Burger zum Wohlfahrtsstaat,
5.2 Die Einstellimgen der Burger zum Wohlfahrtsstaat
189
well in der Frageformulierung der Bezug auf den Staat fehlt. Das Wohlfahrtsstaatsskript der EU lasst sich etwas besser mit den Daten aus dem ISSP-Modul „Role of Government III" aus dem Jahr 1996 operationalisieren, weil hier der Staatsbezug mit erhoben wurde. Ein weiterer Vorteil dieses Datensatzes besteht darin, dass neben der Verantwortung des Staates fiir Kranke, Alte und Arbeitslose auch die Verantwortung fiir Wohnungslose erhoben wurde, was ja ein Bestandteil des EU-Skripts ist. Allerdings besteht der Nachteil dieser Umfrage darin, dass sie nicht in alien fiir unser Erkenntnisinteresse relevanten Landern durchgeflihrt wurde; zudem sind die Daten schon etwas alter. Folgende Frage eignet sich zur Messung des EU-Skripts: „Bitte geben Sie nun an, inwieweit die folgenden Dinge in der Verantwortlichkeit des Staates liegen sollten: 1. Gesundheitliche Versorgung fiir Kranke sicherzustellen, 2. Den alten Menschen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, 3. Denjenigen, die es sich finanziell nicht leisten konnen, eine angemessene Wohnung zur Verfiigung zu stellen, 4. Den Arbeitslosen einen angemessenen Lebensstandard zu sichern." Geantwortet werden konnte mit „Der Staat sollte..." „...auf jeden Fall verantwortlich sein", „...verantwortlich sein", „... nicht verantwortlich sein" oder „... auf keinen Fall verantwortlich sein". In Tabelle 5.2 sind die Prozentsatzwerte fiir die beiden Zustimmungsalternativen angegeben.^o Die Ergebnisse stiitzen die Befunde aus der Wertestudie. Die Zustimmung zum EU-Wohlfahrtstaatsskript ist aufiergewohnlich hoch und dies in alien Landern. Das gilt vor allem fiir die staatliche Verantwortung fiir Alte und Kranke. Etwas geringer fallt die Unterstiitzung fiir die Verantwortung des Staates fiir Wohnung und fiir Arbeitslose aus; auch dies entspricht den Ergebnissen aus der Wertestudie. Vor allem in Ungarn und Tschechien fallen die Zustimmungsraten fiir die staatliche Verant-
20 Die Reihenfolge der Lander ergibt sich aus ihrer durchschnittlichen Zustimmung iiber alle vier Bereiche hinweg.
190
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
wortung fiir Arbeitslose deutlich niedriger aus. Leider ist die Umfrage nicht in der Tlirkei durchgefiihrt worden.^i
Tabelle 5.2:
EU-15 Spanien Irland Ostdeutschland Schweden GroCbritannien Italien Westdeutschland Frankreich Beitritt I Slowenien Polen Lettland Ungarn Tschechien Beitritt II Bulgarien
„Der Staat soUte verantwortlichseinmr../'(in%) Gesundheitliche Versorgung der Kranken 97,1 99,2 99,1 99,1 96,2 98,6 98,6 96,6 88,7 98,1 97,2 97,9 98,7 99,3 96,8
Angemessenen Lebensstandard fiir Alte 97,3 98,9 99,1 98,4 97,7 98,1 98,0 96,0 92,4 98,0 96,4 98,5 99,5 98,2 96,6
Wohnung fiir Einkommensschwache 88,3 98,0 93,9 91,1 81,8 88,6 88,1 77,9 86,8 84,0 90,8 90,5 85,7 76,1 79,7
Angemessenen Lebensstandard fiir Arbeitslose 85,8 93,9 91,5 91,6 90,3 78,7 75,1 80,4 80,9 71,8 86,4 81,2 82,6 62,8 44,7
97,2
97,8
79,9
87,6
Fassen wir die deskriptiven Befunde zusammen: Die EU spricht sich mit ihrer Wohlfahrtsstaatskonzeption fiir die staatliche Unterstiitzung von solchen Gruppen aus, die sich nicht liber den Markt selbst versorgen konnen; zu diesen Gruppen zahlen insbesondere Alte, Kranke, Behinderte, Arbeitslose und Wohnungslose. Uber dieses Grundmodell an Wohlfahrtsstaat gehen die Vorstellungen der EU nicht hinaus. Die Daten zei-
21 Lediglich der Indikator fiir die Arbeitslosen zeigt auf der Landerebene eine signifikante Korrelation mit der entsprechenden Frage aus der Wertestudie. Aufgrund der geringen Fallzahl (14 Lander) und der geringen Varianz war dies aber erwartbar.
5.2 Die Einstellungen der Burger zum Wohlfahrtsstaat
191
gen, dass sich in alien Landern eine deutliche Mehrheit findet, die dieses Minimalmodell von Wohlfahrtsstaat unterstutzt.22 Nun mag es sein, dass die Wunschvorstellungen der Biirger im Hinblick auf die Ausstattung eines Wohlfahrtsstaates iiber die Vorstelliongen der EU hinausgehen. Wir konnen dies mit Hilfe der ISSP-Daten - wenn auch nur fiir einige Lander - priifen und orientieren uns dabei an der Typologie von Edeltraud Roller und deren Operationalisierung. Die Daten entsprechen der bereits diskutierten Frageformulierung, wobei wir weitere Zustandigkeiten des Staates beriicksichtigen. Allerdings erlauben die Daten es nicht, zwischen einem liberalen und einem christdemokratischen Modell zu unterscheiden, so dass wir zwischen drei verschiedenen Varianten differenzieren: Einem Grundmodell (bei Roller „ liber ales Modell"), einem sozialdemokratischen und einem sozialistischen Modell.^^ a. Wenn Befragte der staatlichen Verantwortung fiir mindestens zwei von drei Aufgaben zustimmen, die eine Einkommenssicherheit im Fall von Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit messen, alle restlichen staatlichen Aufgaben ablehnen, dann werden sie als Befiirworter des Grimdmodells klassifiziert. b. Befragte werden als Befiirworter des sozialdemokratischen Modells klassifiziert, wenn sie zusatzlich der staatlichen Verantwortung fiir mindestens eine der beiden Aufgaben „Abbau von Einkommensunterschieden" oder „Bereitstellung von Arbeitsplatzen" zustimmen. c. Befragte werden als Vertreter eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates klassifiziert, wenn sie zusatzlich noch die gesetzliche KontroUe von Lohnen und Gehaltem befiirworten. Die Vorstellimgen der Biirger gehen in alien Landern deutlich iiber die Wohlfahrtsstaatsvorstellungen der EU hinaus; das von der EU favori22 Diese Zustimmung ist auch zeitlich relativ stabil, wie andere Forschungen ergeben: „Die Zustimmung zum ,wohlfahrtsstaatlichen Kern' ist sowohl im Zeitverlauf wie im internationalen Vergleich gleichbleibend/' (Immerfall 1998: 75). Der Autor fahrt aber fort: „Erst iiber den ,wohlfahrtsstaatlichen Kern' hinaus treten landerspezifische Unterschiede auf." (ebd.). Dies wollen wir im Folgenden priifen. 23 Der Begriff „soziaUstisches Modeir' ist insofern etwas ungliicklich gewahlt, als sozialistische Vorstellungen weit iiber die KontroUe von Lohnen und Gehaltern hinausgehen und vor allem die Vergesellschaftung der Produktionsmittel einschhefien.
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
192
sierte Minimalmodell reicht den Blirgern in alien Landern bei weitem nicht aus (Tabelle 5.3). In alien drei Aggregatskategorien ist das sozialistische Modell dasjenige, das die hochsten Zustimmungsraten erhalt. Aufier in Schweden und Westdeutschland, in denen das sozialdemokratische Modell bevorzugt wird, gilt dies auch fiir fast alle Lander. Das von der EU favorisierte Minimalmodell wird nur von einer Minderheit unterstiitzt. Tabelle 5.3:
Unterstiitzung unterschiedlicher durch die Burger (in %)
EU-15 Schweden Grofibritannien Westdeutschland Irland Frankreich ItaUen Ostdeutschland Spanien Beitritt I Tschechien Ungarn Polen Lettland Slowenien Beitritt II Bulgarien
Wohlfahrtsstaatsmodelle
Kein Wohlfahrtsstaat 0,5 0,7 0,2 0,8 0,1 1,9 0 0 0 0,5 2,2 0,1 0,4 0 0,2
Grundmodell
Sozialdemokratisch
Sozialistisch
8,9 20,2 15,1 13,7 9,7 8,5 6,7 2,8 1,3 4,7 12,1 5,1 3,1 3,0 1,2
29,8 40,9 32,5 46,8 43,1 23,9 18,0 13,9 19,6 21,8 24,2 30,8 17,2 21,9 11,6
56,5 34,5 46,7 34,0 43,6 56,0 69,3 80,7 77,6 69,1 54,8 61,0 76,7 71,8 82,5
Nicht klassifizierbar 4,4 3,7 5,6 4,7 3,6 9,7 6,0 2,6 1,6 3,9 6,8 2,9 2,6 3,3 4,5
0
6,7
12,1
76,7
4,6
Allerdings muss man bedenken, dass die Daten bereits 1996 erhoben wurden. Roller (2000a: 98) hat in ihrem Zeitvergleich (1985 und 1996) gezeigt, dass die Praferenz der Burger fiir eine reduzierte RoUe des Staates zugenommen hat. Man kann vermuten, dass dieser Trend zwischen 1996 und heute weiter angehalten hat. In alien Landern der EU ist eine heftige Debatte iiber die Nicht-Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungs-
5.3 Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat
193
systeme entfacht und in alien Landern hat - auch unter sozialdemokratischen Regierungen - eine Reduzierung staatlicher Leistungen stattgefunden. Wir vermuten, dass diese Entwickliingen nicht ohne Folgen fiir die Einstellungen der Burger geblieben sind, so dass sich wahrscheinlich das Anspruchsniveau an die staatlichen Wohlfahrtsleistungen reduziert hat. Aber selbst wenn man diese Trendentwicklung unterstellt, wird es weiterhin eine Diskrepanz zwischen dem Wohlfahrtsstaatsskript der EU und den Vorstellungen der Burger geben. Wahrend die EU sich fiir ein Minimalmodell an Wohlfahrtsstaat auf europaischer Ebene ausspricht, wollen die Burger mehr staatliche Fiirsorge und Intervention in die Wirtschaft. Diese Differenz hat sich durch die Erweiterung der EU nochmals deutlich vergrofiert.
5.3 Erklarung der Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat Wir haben gesehen, dass sich die Lander im Hinblick auf die Unterstiitzung fiir Alte, Kranke/Behinderte und Arbeitslose relativ ahnlich sind, die Varianz in den Antworten also nicht sehr grofi ist. Dennoch gibt es gewisse Unterschiede, die wir im Folgenden versuchen wollen zu erklaren. Unsere Analysen beziehen sich auf die Europaische Wertestudie, well allein diese alle fiir uns relevanten Lander umfasst. Die drei Fragen aus Tabelle 5.1 - Einstellungen zu Alten, zu Kranken und Behinderten und zu Arbeitslosen - bilden die abhangigen Variablen. Die unabhangigen Variablen gliedern wir in Individualvariablen (1) und Makrokontexte (2). 1. Es gibt eine relativ breite, zum Teil komparative empirische Literatur zur Frage, welche Faktoren die Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat beeinflussen (vgl. Blekesaune und Quadagno 2003; Delhey 2001; Hasenfeld und Rafferty 1989; Kiinzler et al. 1999; Mau 2003; Roller 2000a; Svallfors 1997). Die meisten dieser Studien fokussieren auf individuelle Merkmale zur Erklarung von Wohlfahrtsstaatseinstellungen. Dabei wird der individuellen Interessenlage eine besondere Erklarungskraft zuge-
194
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
wiesen. Personen oder Personengruppen, die am ehesten von wohlfahrtsstaatlichen Mafinahmen profitieren bzw. davon profitieren konnten, warden einen Wohlfahrtsstaat eher unterstiitzen als Personen, fiir die dies nicht gilt; Vekeskel Z. Hasenfeld und Jane A. Rafferty (1989) konnten diesen Zusammenhang nachweisen; Stefan Svallfors (1997: 293) kann zeigen, dass die unteren Klassen eher einen umverteilenden, interventionistischen Staat befiirworten als die oberen Klassen; dieser Zusammenhang gilt fiir unterschiedliche Wohlfahrtsstaatsregime. Zu einem ahnlichen Ergebnis kommt auch Roller (2000a: 106). Folgt man diesem Argument der Interessensorientierung der Befragten, dann kann man fiir unsere Analysen folgende Hypothesen ableiten: Wir vermuten zum einen, dass altere Menschen eher um ihre Altersgruppe besorgt sind als junge Personen. Ahnlich diirfte es sich mit ihrer Unterstiitzung fiir Kranke und Arbeitslose verhalten, da zum einen die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, mit dem Alter zunimmt, zum anderen die Arbeitslosigkeitsquote von alten, noch erwerbstatigen Personen hoher ist als die von jungen Menschen. Weiterhin vermuten wir, dass Personen, die arbeitslos sind, sich fiir eine Solidaritat mit Arbeitslosen aussprechen. Bei der Frage nach der Unterstiitzung von Arbeitslosen beriicksichtigen wir daher, ob ein Befragter arbeitslos ist oder nicht. 2. Neben den tndividuellen Interessenlagen konnen auch die kulturellen und strukturellen Gesellschaftskontexte, in die die Individuen eingebettet sind, einen Einfluss auf deren Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat haben. Wir unterscheiden hier, wie in den friiheren Kapiteln, drei verschiedene Faktoren. 2.1 Modernisierung: Daniel Lerner hat in seiner klassischen Studie „The Passing of Traditional Society'' (1958) das Argument formuliert, dass der Modernisierungsprozess mit einer Entwicklung der Empathiefahigkeit einhergeht. „Es ist eine der wichtigen Hypothesen unserer Untersuchung, dass hohe Empathie nur in modernen Gesellschaften, das heifit in tndustriellen, urbanisierten, auf Elementarbildung und Beteiligung beruhenden (participant) Gesellschaften, zum herrschenden personlichen Lebensstil gehorf' (Lerner 1979: 365). Unter Empathie versteht Lerner die Fahigkeit, sich auch in fremde Personen htnein versetzen und
5.3 Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat
195
entlang abstrakter Kriterien andere Menschen beurteilen zu konnen. Ein nicht-empathischer Lebensstil, der fiir traditionelle Gesellschaften typisch ist, ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Handlungen und das Denken allein an Verwandten und unmittelbar Bekannten orientiert.^^ Man kann die Uberlegungen Lerners auf die Wohlfahrtsstaatsvorstellungen iibertragen. Solidaritat mit Kranken, Alten, Behinderten und Arbeitslosen ist insofern eine Empathieleistung, als sich die Solidaritatsorientierung nicht auf Verwandte oder personliche Bekannte bezieht, sondern auf abstrakte und fremde Personengruppen, die qua Notlage hilfsbediirftig sind. Folgt man der Lernerschen Hypothese, dann kann man erwarten, dass das Unterstiitzungsniveau fiir die Empfangergruppen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen mit dem Grad der Modernisierung zunehmen wird. Wir bestimmen den Grad der Modernitat eines Landes wiederum mit Hilfe des Human Development Index. 2.2 Religion: Neben dem Grad der Modernisierung ist es plausibel, auch von den religiosen Traditionen eines Landes einen Effekt auf den Wohlfahrtsstaat zu erwarten. a. Integration in die Kirche: Wir gehen davon aus, dass alien Religionsgemeinschaften, wenn auch in unterschiedlicher Intensitat, das Merkmal der Fiirsorge fiir gesellschaftlich schwache Mitglieder eigen ist. So verweist z. B. Elke Schwinger auf das Moment „religios motivierter Nachstenliebe als konstituierendes Element einer auf Praxis angelegten Solidaritat, die auch den mir unbekannten ,Nachsten' wieder einzubeziehen weifi'' (Schwinger 2003: 159). Wir vermuten deswegen, dass die Unterstiitzung von Kranken, Behinderten, Alten und Arbeitslosen bei Konfessionslosen schwacher ausgepragt ist als bei Mitgliedern von Religionsgemeinschaften. Weiterhin gehen wir davon aus, dass der Grad der Intensitat der Einbindung in die jeweilige Kirche die Wohlfahrtsstaatsorien24 Der kausalanalytische Stellenwert des Empathiekonzepts in der Lernerschen Theorie ist nicht ganz klar. Die Fahigkeit zur Empathie scheint einerseits eine Folge von Modernisierungsprozessen zu sein: Erhohung des Wirtschaftswachstums, der Arbeitsteilung, wirtschaftHcher Interdependenz und der Verstadterung erhohen die Kontakte mit Fremden und bilden damit gleichsam die strukturelle Voraussetzung, Empathie zu lemen (siehe hierzu schon die sehr ahnUchen Ausfiihrungen von Georg Simmel (1992)). Andererseits ist Empathie eine notwendige Voraussetzung, um mit Fremden iiberhaupt interagieren zu konnen.
196
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
tierung beeinflusst. Je geringer Menschen in die alltaglichen Praktiken ihrer Kirche eingebunden sind, desto eher werden sie sich fiir eine wohlfahrtsstaatliche Orientierung aussprechen. Den Grad der Integration in die Kirche messen wir durch die Kirchgangshaufigkeit. b. Einfluss der Konfessionen: Die verschiedenen Konfessionen und Religionen haben aber z. T. unterschiedliche Wohlfahrtsstaatsvorstellungen entwickelt; wir vermuten, dass diese die Einstellungen ihrer Mitglieder in spezifischer Weise beeinflussen. So aui?ert Kaufmann mit Bezug auf das Christentum die Vermutung, „dal3 es keinen einheitlichen EinfluiS des Christentums auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung gebe, sondern dafi ein je nach konfessionellem Bekenntnis und je nach dem Verhaltnis von Staat und Kirche unterschiedlicher Einflui? zu vermuten sei" (Kaufmann 1988a: 68). Leider ist dieser Einfluss der Konfessionen auf die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates und die Einstellungen der Menschen bislang nur unzureichend untersucht worden (Kaufmann 1988a; Manow 2002; Opielka 2003a: 169f.). Es finden sich allerdings in der Literatur vereinzelte Hinweise, die eine Ableitung von Hypothesen erlauben. Zentral ist dabei vor allem die Starke der Staatsorientierung. Esping-Andersen geht bei der Konstruktion seiner Regimetypen vor allem auf den Katholizismus ein und sieht einen Zusammenhang zwischen Katholizismus und einem ausgebauten konservativen Wohlfahrtsmodell (1990: 53 und 122f.). Allerdings setzt der Katholizismus weniger auf einen starken zentralen Staat, sondern eher auf korporative Strukturen (Esping-Andersen 1990: 61). Ahnlich sieht es J. Bryan Hehir: "Catholic teaching supports an activist but limited state. By activist I mean a conception of the state which asserts a broad range of normal responsibilities, particularly toward the poor and marginalized members of society. By limited, I mean a conception of the role of the state as the final guarantor of rights rather than the primary agent of social policy. The twofold view of the state is summarized in the principle of subsidiarity, a staple of Catholic social policy which has found broader usage in recent debates about the European Union." (Hehir 1998: 64). Eine noch deutlich starkere Betonung der Selbstverantwortung bei gleichzeitiger prinzipieller Befiirwortung des Wohlfahrtsstaates lasst sich
5.3 Unterschiede in den Einstellimgen zum Wohlfahrtsstaat
197
im Protestantismus finden. Seine Ethik geht von der „personlichen Verantwortung fiir die individuelle Schicksalsverbesserung" aus, die „Fursorge mit Eigeninitiative iind Individualprinzip'' (Manow 2002: 208) verbindet.25 Philip Manow spricht deshalb im Vergleich zu katholischen Landern von „protestantisch geziigelten Wohlfahrtsstaaten" (Manow 2002: 210). Besonders deutlich findet sich diese Position im Calvinismus, fiir den Alfred Miiller-Armack festhalt, „wie wenig seine Dogmatik zu sozialem Mitgefuhl veranlafite. Die alttestamentliche Auffassung des strafenden Richtergottes verhartete sichtlich die Gemliter gegen Not und Elend." (Mtiller-Armack 1959: 234). Insgesamt attestiert Opielka der christlichen und vor allem der katholischen Sozialethik „einen bedeutsamen und oft iibersehenen Anteil an der Entstehungsphase der westeuropaischen Wohlfahrtsstaaten" (Opielka 2003a: 180; vgl. auch Kaufmann 1998a; 1989; Kersbergen 1995), so dass wir sowohl fiir Katholiken als auch, etwas schwacher, fiir Protestanten einen leicht positiven Einfluss auf die Unterstiitzung von Alten, Kranken und Arbeitslosen erwarten. Wahrend sich fiir die katholische und noch starker fiir die evangelische Kirche die Unterstiitzung des Wohlfahrtsstaates mit Selbstverantwortung verbindet (vgl. auch Winterberg 1994; Dietzfelbinger 1998), sind die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der anderen beiden Religionen schwieriger zu rekonstruieren. Sowohl fiir die orthodoxe Kirche als auch den Islam lassen sich aber Belege finden, dass das Individual- und Selbstverantwortungsprinzip in ihnen deutlich geringer ausgepragt ist. Zugleich ist die Verbindung zwischen Kirche und Staat starker ausgepragt. Fiir die orthodoxe Kirche halt Miiller-Armack fest: „Der Mangel des individuell Unternehmerischen findet einzig seinen Ausgleich in der 25 Philip Manow weist aber gleichzeitig darauf hin, dass im Grunde zwischen Lutheranern und freikirchHchem/reformiertem Protestantismus unterschieden werden miisste (worauf wir aus datentechnischen Griinden leider verzichten miissen). Letztere zeichnen sich zusatzlich dadurch aus, dass sie „unter Betonung von gemeinschaftHcher Selbsthilfe, strikter Trennung von Staat und Kirche, innerweltlicher Askese und prudentia eine stark antistaatUche Programmatik entwickeU haben" (Manow 2002: 208). Generell hat das VerhaUnis der Kirchen zum Staat einen deutHchen Einfluss auf deren Formulierung sozialer Ideen (vgl. Miiller-Armack 1959: 230ff.).
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5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Aktivitat des allmachtigen Staates." (Mliller-Armack 1959: 93). Gleichzeitig fehle der Wille, „den Verlockungen und dem Mifibrauch staatlicher Machte zu widersprechen" (Miiller-Armack 1959: 551). Wir gehen davon aus, dass fehlende Eigeninitiative und das Setzen auf den Staat in der orthodoxen Kirche zu einer hohen Unterstiitzung des Wohlfahrtsstaates fuhrt. Der Einfluss des Islam wird, wie schon im Wirtschaftskapitel dargestellt, auch fiir den Bereich des Wohlfahrtsstaates ambivalent eingeschatzt. So gibt es verschiedene Autoren, die den Islam mit dem Prinzip der Selbstverantwortung der Individuen in Verbindiing bringen (z. B. Winterberg 1994). Andere Autoren betonen dagegen, dass die starke Regulieriing des gesamten Lebens dem Individualprinzip widerspricht (z. B. Leipold 2003). Vor allem dann, wenn der Staat alleine als Instrument zur Durchsetzung einer islamischen Gesellschaftsordnung interpretiert wird, fiihrt dies zu einer Forderung nach sozialpolitischem Engagement. So weist der Islam mit der so genannten Armensteuer („zakat") eine religiose Forderung auf, die von vielen islamischen Okonomen als Grundlage eines gut ausgebauten Wohlfahrtsstaates interpretiert wird (Hildebrandt 1996: lOf.). Insgesamt vermuten wir daher eine Rangfolge, die von einer eher geringen Unterstiitzung des Wohlfahrtsstaates bei den Protestanten iiber die Katholiken bis hin zu einer starken Unterstiitzung bei den Orthodoxen und den Muslimen reicht. Wir haben daher die Konfession der Befragten in die Regressionsanalysen mit aufgenommen. 2.3 Rolle des Staates: Wir gehen davon aus, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem institutionellen Arrangement eines Wohlfahrtsstaates und den Einstellungen der Biirger in diesem Wohlfahrtsstaat gibt. Dabei ist allerdings die Kausalitatsrichtung dieser Beziehung in der Literatur umstritten. Einerseits ist es sicherlich plausibel anzunehmen, dass das Wohlfahrtsstaatsregime und der Grad staatlicher Wohlfahrtsaktivitat die Einstellungen der Biirger in der Weise beeinflusst, dass diese das System unterstiitzen, in dem sie selbst leben (Edlund 1999; vgl. auch die Diskussion in Blekesaune und Quadagno 2003). Umgekehrt wissen wir aber auch und haben dies in der Einleitung ausfiihrlicher erlautert, dass gerade in Demokratien Politiker nicht ungestraft die Werteorientie-
5.3 Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat
199
rung ihrer Burger vernachlassigen konnen. Insofern kann man eben auch vermuten, dass die Werteeinstellungen der Burger die Entscheidungen der Politiker und damit auch die institutionelle Struktur des Wohlfahrtstaates beeinflussen. Die empirischen Befunde iiber den Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaat und Einstellungen der Burger sind ambivalent. Stefan Svallfors (1997) kann in seiner 8-Landerstudie, wobei die Lander vier Regimetypen zugeteilt werden, einen Zusammenhang zwischen dem Regimetypus und den Einstellungen der Burger zur Umverteilung feststellen; dieser Zusammenhang gilt aber nicht fiir Schweden. John Gelissen (2000) kommt dagegen in seiner 14-Landerstudie zu einem anderen Ergebnis: "The findings give no support to the claim of a systematic variation between levels of popular support for the welfare state and its institutional set-up." (Gelissen 2000: 285). In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung war es lange Zeit liblich, das Ausmafi des Wohlfahrtsstaates iiber einige wenige Kennzahlen (Staatsquote u. a.) zu erheben. Die Regimeperspektive sah diese Herangehensweise als unterkomplex an. Aus drei Griinden verwenden wir aber weiterhin eine solche Operationalisierung. Erstens haben wir uns allein auf Fragen der Absicherung von Risiken konzentriert. Die deutlich komplizierteren Aspekte der Gleichheit haben wir aufien vor gelassen. Zweitens hat sich gezeigt, dass solche Kennzahlen noch immer die besten Pradiktoren fiir das Ausmafi und die Umverteilungseffekte des Wohlfahrtssektors sind (vgl. Busch 1998: 276ff.). Drittens schliei31ich liegen solche Zahlen fiir eine Vielzahl von Landern in vergleichbarer Form vor und erlauben uns so iiberhaupt eine komparative Analyse.26 Wir verwenden als Indikator die offentlichen Ausgaben fiir soziale Belange („Public Social Expenditure") als Anteil am Bruttosozialprodukt (vgl. OECD 2002). Hohe Werte bedeuten dabei einen grofien
26 Die Einteilung in verschiedene Wohlfahrtsstaatsmodelle ist dagegen je nach verwendeter Typologie doch recht unterschiedlich und ist auch unseres Wissens bisher nicht fiir alle von uns untersuchten Lander geleistet.
200
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Einfluss des Staates. Leider fehlen uns die Angaben fiir Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Rumanien, Slowenien und Ungarn.^^ Wir konnen nun auf der Grundlage dieser Voriiberlegungen multivariate Erklarungsmodelle fiir die Solidaritat gegenuber Alten, Kranken und Arbeitslosen berechnen. Die Ergebnisse sind in Tabelle 5.4 dargestellt. In der letzten Spalte finden sich die Ergebnisse fiir den oben erlauterten additiven Unterstiitzungsindex. Tabelle 5.4:
Erklarung der Unterstiitzung fiir Alte, Kranke, Behinderte und Arbeitslose: Regressionsanalysen
Modemisierungsgrad HDI Religion») Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Integration in die Kirche Staatsintervention Publ. Soc. Expendit. Individualmerkmale Alter Arbeitslosigkeit R2
Alte
Kranke/ Behinderte
Arbeitslose
Additiver Index
,187
,224
,082
,189
,050 ,026 ,095 ,092 ,098
,049 ,003+ ,104 ,111 ,088
-,022 -,009+ ,069 ,126 ,075
,030 ,008+ ,104 ,128 ,101
-,221
-,281
-,164
-,258
,207
,104
0,089
0,07
,112 ,085 0,068
,164 ,030 0,092
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (+ = nicht signifikant). ^^Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose".
27 Wir haben deshalb zur KontroUe die Analysen auch mit Daten zur Grofie des Staatseinflusses auf die Wirtschaft insgesamt (Index Economic Freedom of the World: Size of Government) gerechnet (vgl. Gwartney und Lawson 2003), da diese Daten fiir alle Lander vorliegen und sie hoch mit den offentlichen Sozialausgaben korrelieren. Die Ergebnisse verandern sich nicht substantiell. Lediglich verringert sich der Einfluss des Modernisierungsindikators etwas. Dies lasst sich evtl. damit erklaren, dass die Daten iiber offentliche Sozialausgaben vor allem fiir okonomisch schwachere Lander fehlen.
5.3 Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat
201
Die Einstellungen zu alten Menschen sowie der additive Index lassen sich mit einer Varianzaufklarung von knapp 10 % durch unsere Modelle hinreichend gut erklaren. Die Einstellungen zu Kranken/Behinderten und Arbeitslosen konnen wir mit den eingeflihrten Erklarungsfaktoren etwas schlechter erklaren. Ganz im Sinne unserer Annahmen fiihrt ein hoherer Modernisierungsgrad zu einer hoheren Solidaritat mit Alten, Kranken und Arbeitslosen. Der Einfluss des Human Development Index gehort mit zu den starksten Erklarungsfaktoren iiberhaupt. Auch die postulierten Einfliisse der Religion lassen sich mit unseren Daten bestatigen. Die Integration in die Kirche hat einen signifikanten und deutlich positiven Effekt auf die Unterstiitzung der Alten, Arbeitslosen und Kranken/Behinderten. Auch bei den verschiedenen Religionsgruppen ergibt sich im Grofien und Ganzen die vorhergesagte Reihenfolge. Wahrend sich Katholiken nur sehr schwach von Konfessionslosen unterscheiden, hat der christlichorthodoxe, vor allem aber der muslimische Glaube einen positiven Einfluss auf die Wohlfahrtsstaatsvorstellungen. Lediglich bei den Protestanten gibt es leichte Abweichungen von der Ausgangsvermutung.^s Sie unterstiitzen zwar Alte und Kranke etwas starker als Katholiken, Arbeitslose aber sogar geringer als die Konfessionslosen. Entgegen unserer Annahme fuhrt eine starke Auspragung des Wohlfahrtsstaates nicht zu einer starken, sondern zu einer geringeren Unterstiitzung der Alten, Kranken/Behinderten und Arbeitslosen. Mit Ronald Inglehart (1997: 256ff.) kann man vermuten, dass es sich um den Effekt eines abnehmenden Grenznutzens handelt: Gerade weil der Wohlfahrtsstaat erfolgreich ist, wird die Notwendigkeit von Solidaritat nicht mehr als sonderlich wichtig erachtet und erfahrt eine geringere Unterstiitzung durch die Bevolkerimg. Dies ist aber lediglich eine Vermutung.^^
28 Teilweise lasst sich dies sicherlich auf die fehlende Unterscheidung der verschiedenen Stromungen zuriickfiihren (vgl. Fufin. 25). 29 Zusatzlich wird durch die Korrelation zwischen Sozialleistungsquote und Modernisierungsindikator die Rolle des Staates in ihrer Starke iiberschatzt, d. h. der Koeffizient ist etwas zu hoch. Der negative Einfluss bleibt aber auch bei Ausschluss der Variable „ H D r ' erhalten.
202
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Im Hinblick auf die soziodemographischen Variablen werden alle Hypothesen bestatigt. Das Alter hat auf alle drei Unterstlitzungseinstellungen einen starken Effekt, besonders aber auf die Untersttitzung der Alten. Sehr gut bestatigt sich auch unsere Hypothese zur Arbeitslosigkeit. Selbst von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein, erhoht die Solidaritat mit Arbeitslosen deutlich.
5.4 Zusammenfassung Ein relativ gut ausgebauter Wohlfahrtsstaat gilt als ein gemeinsames Strukturmerkmal aller (west-)europaischen Staaten (Alber 1989: 34). Sein Kernziel ist die Absicherung „gegenuber den Standardrisiken Alter, Invaliditat, Krankheit, Arbeitslosigkeit und seit jungstem Pflege" (Schmid und Niketta 1998: 14). Die Erreichung dieses Ziels wird in den Landern Europas aber sehr unterschiedlich angegangen. Entsprechend lassen sich verschiedene Wohlfahrtsregime identifizieren, deren Besonderheiten unter anderem in kulturellen Unterschieden wurzeln (Kaufmann 2003). Die europaische Integration bringt dabei „die unterschiedlichen institutionellen Losungen ahnlicher sozialer Probleme in weitreichende Wechselwirkungen* Das Verstandnis fiir andere europaische Systeme ist notwendig, u m konvergierende oder zum mindesten einander nicht beeintrachtigende Losungen von Abstimmungsproblemen zwischen verschiedenen Systemen zu finden." (Kaufmann 2003: 12). So beruhren die unterschiedlichen Systeme im gemeinsamen Markt „direkt die Wettbewerbsfahigkeit der nationalen Untemehmen und beeinflussen unmittelbar die Verteilung von Wachstum und Beschaftigung in der Union" (Busch 1998: 274). Entsprechend stellt sich die Frage nach der Rolle einer Sozialpolitik auf europaischer Ebene. Wir haben in diesem Kapitel zunachst das EU-Skript des gewiinschten Wohlfahrtsstaates rekonstruiert. Zwar gibt es eine Vielzahl an Regelungen und Initiativen, vor allem aber sehr viel Rhetorik, die unter dem „Laber' eines „Europaischen Sozialmodells" firmiert, im Kern spricht sich die EU aber nur fiir ein Basismodell eines Wohlfahrtsstaates aus, das die
5.4 Zusammenfassimg
203
Menschen vor den Grimdrisiken schiitzt, die durch einen Wegfall der Erwerbstatigkeit entstehen konnen: Krankheit, Behinderimg, Mutterschaft. Alter und Arbeitslosigkeit. Weitergehende Vorstellungen eines europaischen Wohlfahrtsstaates in einer rechtsverbindlichen Form gibt es nicht. In einem zweiten Schritt haben wir die wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen der Burger analysiert. In alien Landern finden sich breite Mehrheiten, die Solidaritat mit Alten, Kranken und Erwerbslosen zeigen, das Wohlfahrtsstaatsmodell der EU also unterstiitzen. Zugleich hat sich gezeigt, dass die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der Burger weit iiber die Vorstellungen der EU hinaus reichen. Die meisten Burger wiinschen sich einen weit aktiveren, in die Wirtschaft eingreifenden Sozialstaat. Dies gilt in besonderem Mafie fiir die neuen Mitglieder und die Beitrittskandidaten. Schliefilich haben wir versucht, die Unterschiede in den Einstellungen der Burger zu erklaren. Zum einen zeigt sich, dass diejenigen, die von den wohlfahrtsstaatlichen Vergiinstigungen am ehesten profitieren wiirden, diese auch am starksten unterstiitzen. Die starksten Einflussfaktoren auf die wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen bilden aber der Modernisierungsgrad und die Sozialleistungsquote der Lander. Wahrend ersterer einen positiven Einfluss auf die Solidaritat mit Benachteiligten hat, zeigt sich fiir letzteren, im Gegensatz zu vielen bisherigen Forschimgen, ein negativer Effekt. Die Zukimft wird zeigen miissen, inwieweit der einheitliche Binnenmarkt die nationalen Wohlfahrtsstaaten unter Druck setzen wird. Die Burger Europas fordern auf jeden Fall einen starken Wohlfahrtsstaat. Die Fahigkeit der EU, sozialpolitische Einschnitte in den Landern auf transnationaler Ebene kompensieren zu konnen und die entsprechende Forderung „Wer den europaischen Sozialstaat erhalten will, muS sich fiir seine Europaisierung einsetzen" (Busch 1998: 292), schatzen wir eher skeptisch ein; die Vergangenheit hat gezeigt, dass es zwischen den Mitgliedslandern keinen Konsens gibt, die sozialpolitischen Aktivitaten der EU zu verstarken. Mit der Erweiterung der EU diirfte sich die Abneigung, die wohlfahrtsstaatlichen Aktivitaten der EU zu erhohen, eher verstarken.
204
5. Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Die armeren Lander der EU haben kein Interesse, die wohlfahrtsstaatlichen Standards auszudehnen, auch wenn ihre Burger dies woUen. Ahnlich ist die Konstellation in den „alten" EU-Landern. Die Eliten in fast alien Landern drangen aus Griinden der Nichtfinanzierbarkeit auf eine Reduzierung wohlfahrtsstaatlicher Aktivitaten und dies meist gegen den Willen ihrer Burger. Inwieweit sich diese Konstellation auf die Zustimmung der Burger zum europaischen Integrationsprozess und seine Legitimation auswirken wird, ist eine offene Frage (vgl. auch Kersbergen 1997).
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Auch wenn die heutige Europaische Union als Wirtschaftsgemeinschaft startete, hat sie sich vor allem seit den Vertragen von Amsterdam und Maastricht zunehmend als eine politische Union entwickelt. Sie versteht sich als ein Verband demokratischer Staaten und bezeichnet ihre eigene Institutionenordnung als eine demokratische Ordnung. Die zentrale Bedeutiing von Demokratie fiir die Union kommt im neuen Verfassungsentwurf deutlich zum Ausdruck. Der Praambel ist ein Zitat von Thukydides vorangestellt: „Die Verfassung, die wir haben (...) heifit Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Burger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist." Wenig spater, in Artikel 2, definiert der Verfassungsentwurf die Grundwerte der EU. Demokratie gehort zu den genannten Kernwerten: „Die Werte, auf denen die Union sich griindet, sind die Achtung der Menschenwiirde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte." An spaterer Stelle wird dann genauer spezifiziert, welche Form von Demokratie sich die EU vorstellt. Die EU versteht sich vor allem und in erster Linie als ein Zusammenschluss von reprasentativen Demokratien; sie erganzt dieses Grundverstandnis um Elemente einer partizipatorischen Demokratie, indem sie den Einschluss der Zivilgesellschaft betont. Wir werden in einem ersten Unterkapitel das Demokratieverstandnis der EU genauer rekonstruieren, dann analysieren, in welchem Mafie die Burger der gegenwartigen und zukiinftigen Mitgliedslander demokratische Orientierungen aufweisen und schliefilich versuchen, die Unterschiede in den demokratischen Einstellungen zu erklaren.
206
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Zustimmimg zu den Grundwerten und Prinzipien der Demokratie ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die international vergleichende Politikforschung hat vor allem in den letzten Jahren verstarkt darauf hingewiesen, dass fiir die Stabilitat einer Demokratie zusatzlich ein zivilgesellschaftliches Element hinzukommen muss (Putnam 1993).^ Die Biirger miissen nicht nur die von oben oktroyierte demokratische Struktur akzeptieren und unterstiitzen, sondern diese selbst leben. David Easton (1979: 190ff.) unterscheidet entsprechend die Einstellungen zum politischen Regime (Demokratie) von den Einstellungen zur politischen Gemeinschaft, die sich u. a. als Zivilgesellschaft konstituiert. „Mit dem Begriff ,politisches Regime' bezeichnet er die grundlegenden Merkmale der institutionellen Ordnimg (...). Sie machen die Identitat eines politischen Systems als Demokratie aus und grenzen es von autoritaren und totalitaren Regimen ab. Eine bedeutsame Funktion fiir den Systemerhalt erfiillt des weiteren (sic) die politische Gemeinschaft als die Einheit, der sich die Individuen zugehorig fiihlen und der sie ihre Loyalitat entgegenbringen." (Gabriel 1994: 99). Der zweite Teil des Kapitels ist daher einer Analyse der Zivilgesellschaft gewidmet imd folgt dem bekannten Aufbau: Rekonstruktion der zivilgesellschaftlichen Vorstellungen der EU, Deskription des zivilgesellschaftlichen Engagements der Burger in den verschiedenen Landern und ein Versuch der Erklarung der gefundenen Unterschiede.
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie 6.1.1 Die Demokratievorstellungen der EU Demokratie bedeutet etymologisch bekanntlich Volksherrschaft. Unter anderem Robert Dahl hat geltend gemacht, dass Demokratie im Sinne einer Selbstherrschaft des Volkes realiter nicht moglich ist und tnsofern 1 Schon Gabriel Almond und Sidney Verba (1963) haben in ihrer klassischen Studie die ihrer Meinung nach ideale Mischung von politischen Einstellungen als „Civic Culture'' bezeichnet.
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
207
ein reines Ideal bleibt. Realisierbar sei eine Herrschaft von Vielen, von Dahl als Polyarchie bezeichnet, das Modell einer reprasentatlven Demokratie also: "Representative systems with widely inclusive adult electorates as a special, twentieth-century historically distinctive type of (nonideal) democracy" (Dahl 1997: 94). Dahl (1989: lOff.) definiert sieben Kriterien, die Polyarchien bzw. reprasentative Demokratien auszeichnen: 1. Regierungsentscheidungen werden von gewahlten Vertretern getroffen. 2. Die gewahlten Vertreter werden in freien, fairen und tumusmafiig wiederkehrenden Wahlen gewahlt. 3. AUe Erwachsenen haben das aktive Wahlrecht. 4. Alle Erwachsenen haben das passive Wahlrecht. 5. Alle Biirger haben das Recht, ihre Meinung zu politischen Fragen frei zu aufiern. 6. Verschiedene Informationsquellen sind frei und legal zuganglich. 7. Jeder Biirger hat das Recht, eine Partei oder eine Interessensgruppe unabhangig vom Staat zu griinden. Legt man diese von Dahl definierten Kriterien zu Grunde, dann ist die EU nach ihrem Selbstverstandnis eine Polyarchie bzw. reprasentative Demokratie und sie erwartet dies auch von ihren Mitgliedslandern. 1. Die Entscheidungen der EU werden von gewahlten Vertretern getroffen. Dies sind die am Gesetzgebungsprozess beteiligten Abgeordneten des Europaparlaments einerseits und die Mitglieder des Europaischen Rats und des Ministerrats, die Reprasentanten ihrer national gewahlten Regierungen sind, andererseits. In Titel VI des Verfassungsentwurfs, liberschrieben mit „Das demokratische Leben der Union", heiQt es in Artikel 46 unter dem Punkt „Grundsatz der reprasentativen Demokratie": „(1) Die Arbeitsweise der Union beruht auf der reprasentativen Demokratie. (2) Die Burgerinnen und Burger sind auf Unionsebene unmittelbar im Europaischen Parlament vertreten. Die Mitgliedstaaten werden im Europaischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihren jeweiligen Regierungen vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenliber ihrem nationalen Parlament oder gegeniiber den Blirgerinnen und Biirgern Rechenschaft able gen mlissen." (Konferenz 2004).
208
6. Demokratie imd Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
2. Sowohl das Europaparlament als auch die nationalen Regierimgen werden durch freie Wahlen in einem Vier- bzw. Fiinf-Jahresrhythmus gewahlt (Artikel 19 (2) des Verfassungsentwurfs). 3. imd 4. Das aktive iind passive Wahlrecht auf der europaischen Ebene wird alien Unionsbiirgern im Verfassungsentwurf (Artikel 8: Unionsbiirgerschaft), das aktive iind passive Wahlrecht auf nationalstaatlicher Ebene wird alien Biirgern durch ihre jeweiligen nationalen Verfassungen gewahrt. 5. und 6. In Artikel 11-71 wird die Freiheit der MemungsauGerung und Informationsfreiheit geregelt. Darin heiiSt es „(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsaul3erung. Dieses Recht schliefit die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behordliche Eingriffe und ohne Riicksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. (2) Die Freiheit der Medien und ihre Pluralitat werden geachtet." 7. Artikel 11-72 des Verfassungsentwurfs regelt die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit. „(1) Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf alien Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln imd frei mit anderen zusammenzuschliei?en, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu griinden und Gewerkschaften beizutreten. (2) Politische Parteien auf der Ebene der Union tragen dazu bei, den politischen Willen der Unionsbiirgerinnen und Unionsbiirger zum Ausdruck zu bringen/' Ein Vergleich der Verfassungsbestimmungen der EU mit den von Dahl genannten Kriterien zeigt, dass es sich bei der EU um eine representative Demokratie mit einer doppelten Legitimationsgrundlage handelt: Zum einen wahlen die europaischen Burger das Europaische Parlament; die von ihnen gewahlten Abgeordneten sind am Gesetzgebungsverfahren beteiligt und gestalten damit die Geschicke der EU mit. Zum anderen wahlen die Burger als Mitglieder ihrer jeweiligen Nationalstaaten ihre nationalen Regierungen (sei es direkt oder parlamentarisch vermittelt), die dann den Europaischen Rat und den Ministerrat bilden und ent-
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
209
scheidend den Kurs der EU festlegen.^ Dass die EU dariiber hinaus auch Elemente einer partizipatorischen Demokratie eingebaut hat, werden wir im nachsten Kapitel noch herausarbeiten. Die Beriicksichtigung der skizzierten EU-Vorstelliingen in den einzelnen Mitgliedslandern wird auf imterschiedlichen Wegen gewahrleistet. Zum einen sind die im EU-Recht kodifizierten Regeln fiir alle Mitglieder bindend. Entsprechend wird der Europaische Gerichtshof bei einer Beschwerde aufgrimd von Verstofien tatig. Aber auch durch Entschliefiungen der Kommission, des Rates oder des Europaischen Parlaments und die Androhung von Sanktionen kann ein Mitgliedsland zur Einhaltung der demokratischen Spielregeln angehalten werden. So sieht Artikel 7 des EU-Vertrags von Amsterdam vor, dass imter bestimmten Voraussetzungen, etwa einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung" von bestimmten Grundrechten, der Rat die Aussetzung bestimmter Rechte fiir ein Mitgliedsland beschliefien kann. Inwieweit dieses Instrument allerdings greift, bleibt nach den Ermahnungen Osterreichs nach der Regierungsbeteiligung der FPO zumindest fraglich.^ Drittens schliefilich, so sehen es die Kopenhagener Kriterien vor, ist die Akzeptanz und Durchsetzung der EU-Vorgaben eine zentrale Aufnahmebedingung fiir Beitrittskandidaten (Europaische Kommission 2002). So
2 Das in der Literatur vielfach diskutierte Demokratiedefizit der EU besteht darin, dass der Europaische Rat als Versammlung der Regierungschefs der Lander und der Rat der Europaischen Union, bestehend aus den Fachministern, nicht unmittelbar von einem europaischen Volk gewahlt, sondern indirekt iiber die nationalen Wahlen legitimiert sind, wahrend aber die Burger der EU unmittelbar den Beschliissen des Rats und der Kommission unterworfen sind (vgl. fiir viele andere und systematisch zusammenfassend Benz 1998; Scharpf 1998). 3 Am 31. Januar 2000 formulierte der portugiesische Premierminister als Ratsvorsitzender eine Erklarung im Namen der 14 Mitgliedsstaaten, die unter anderem Folgendes vorsah: „ - Die Regierungen der 14 Mitgliedstaaten werden keinerlei offizielle bilaterale Kontakte auf politischer Ebene mit der osterreichischen Regierung unter Beteiligung der FPO begiinstigen oder akzeptieren. - Es wird keine Unterstiitzung fiir osterreichische Kandidaten geben, die sich um Posten in internationalen Organisationen bewerben. - Die osterreichischen Botschafter in den EU-Flauptstadten werden nur auf technischer Ebene empfangen." Diese Erklarung wurde von Kommission und Europaparlament unterstiitzt (zu einer rechtlichen Analyse vgl. Schweitzer (2000)).
210
6. Demokratie iind Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
fiihrt die Tiirkei zur Zeit verschiedene politische Reformen durch (z. B. bessere Rechte fiir die kurdische Minderheit), u m den Anforderungen an eine Mitgliedschaft zu geniigen. Ob sie dabei erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten.
6.1.2 Demokratische Einstellungen der Burger Die iins zur Verfiigung stehenden Daten erlauben es leider nicht, alle Dimensionen des EU-Skripts von Demokratie empirisch zu messen. Wir miissen uns auf eine Messung der Unterstiitzung von Demokratie auf abstrakter Ebene konzentrieren. Dabei orientieren wir uns an einem Vorschlag von Dieter Fuchs (1997, 1999a, 1999b, 2000). Fuchs unterscheidet drei Ebenen der Unterstiitzung einer Demokratie, die in einem hierarchischen Verhaltnis zueinander stehen: Grundwerte, Struktur und Performanz (vgl. z. B. Fuchs 1997: 83ff.). Die oberste Ebene (von Fuchs auch als politische Kultur bezeichnet) bildet die der Unterstiitzung der grundlegenden Werte einer Demokratie. Damit ist einerseits gemeint, dass die Biirger die Demokratie als die beste aller Staatsformen interpretieren, andererseits autokratische Systeme, die eine Alternative zu Demokratien darstellen, ablehnen. Die zweite Ebene bildet die der Einstellungen der Biirger zur politischen Struktur einer Demokratie. Die politische Struktur stellt eine selektive Implementation der demokratischen Kultur dar und bezeichnet die in der Verfassung eines Staates fixierte demokratische Institutionenordnung. Selektive Implementation bedeutet, dass man aus demokratischen Werten unterschiedliche demokratische Ordnungen ableiten kann. Die Ablehnung einer bestimmten demokratischen Institutionenordnung durch die Burger bedeutet nicht zwangslaufig, dass diese keine Demokraten sind. Wenn sich die Burger z. B. mehr Rechte des Europaparlaments wiinschen, oder dass der Prasident der Kommission direkt gewahlt wird, dann zielt dies auf eine Anderung der Institutionenordnung ab, die mit demokratischen Werten durchaus kompatibel ist. Die dritte und hierarchisch niedrigste Ebene bilden die Einstellungen zum politischen Prozess. Diese bezieht sich auf das konkrete Agieren von
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
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Akteuren innerhalb einer Institutionenordnung zur Erreichimg ihrer Ziele. Auch hier gilt, dass man aus einer kritischen Haltung der Burger nicht notwendigerweise auf demokratiefeindliche Einstellungen auf den hoheren Ebenen schliefien kann. Eine Kritik an der Kommission muss z. B. nicht bedeuten, dass die Burger eine andere Institutionenordnung wiinschen oder gar antidemokratische Grundwerte vertreten. Zentral fiir unsere Fragestellung ist also die Akzeptanz demokratischer Grundwerte, weshalb wir uns bei den folgenden Analysen allein auf diese Ebene konzentrieren werden. Zur Messung der grundlegenden Einstellungen zur Demokratie stehen uns insgesamt vier Fragen zur Verfiigung. Zwei davon messen unmittelbar die Unterstiitzung der Demokratie. Die erste Frage lautete: „Ich werde Ihnen nun verschiedene Typen von politischen Systemen beschreiben und fragen, wie Sie iiber die einzelnen Regierungsformen denken. Sagen Sie mir bitte jeweils, ob Sie die Regierungsform als sehr gut, ziemlich gut, ziemlich schlecht oder sehr schlecht ansehen". Gefragt wurde u. a. nach „Man soUte ein demokratisches politisches System haben''. Die Antwortalternativen „sehr gut" und "ziemlich gut" wurden fiir die folgende Auswertung zusammenfasst. Die zweite Frage lautete: „Ich lese Ihnen jetzt einige Meinungen vor, die manchmal iiber Demokratien geaul?ert werden. Konnen Sie mir bitte sagen, ob Sie ihnen voll und ganz zustimmen, zustimmen, sie ablehnen oder stark ablehnen". Gefragt wurde u. a. nach „Die Demokratie mag Probleme mit sich bringen, aber sie ist besser als jede andere Regierungsform". Auch hier wurden die beiden Zustimmungsalternativenzusammengefasst. Wie die Ergebnisse in Tabelle 6.1 zeigen, findet die Idee der Demokratie bei alien Biirgern der von uns analysierten Lander eine fast konsensuelle Unterstiitzung. Dies gilt entsprechend auch fiir die vier Aggregatskategorien. Dieser Befund bestatigt ein Ergebnis von Hans-Dieter Klingemann (1999), der gezeigt hat, dass die abstrakten demokratischen Werte insofern universelle Werte sind, als sie in fast alien Gesellschaften der Welt unterstiitzt werden.
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
212 TabelleG.l:
Unterstiitzung der Demokratie (Zustimmimg in %)
EU-15 Danemark Griechenland Schweden Niederlande Italien Osterreich Westdeutschland Spanien Ostdeutschland Luxemburg Portugal Irland Belgien Frankreich Finnland Grofibritannien
Beitritt I Malta Tschechien Slowenien Lettland Ungarn Estland Litauen Slowakei Polen Beitritt II Rumanien Bulgarian Tiirkei
„Man soUte ein demokratisches politisches System haben'' 93,6 98,0 97,9 97,4 96,7 96,6 96,3 95,4 94,3 92,1 92,1 91,9 91,6 90,6 89,2 88,3 86,8 88,1 93,6 92,9 89,5 88,2 87,4 86,8 85,8 84,1 83,6 87,9 88,7 87,0 91,7
„Demokratie ist besser als jede andere Regierungsform" 93,5 98,6 96,6 94,3 96,4 94,3 96,9 97,3 93,8 92,8 95,0 92,6 93,2 92,0 93,3 90,5 77J 89,3 93,9 92,6 90,1 88,9 83,0 90,3 90,7 84,5 89,3 81,2 78,2 84,3 87,9
Etwas anders sehen die Ergebnisse aus, wenn man die zweite Dimension zur Messiing einer demokratischen Kultur beriicksichtigt, die Unterstiitzung bzw. Ablehnung einer autokratischen Struktur. Zur Messung dieser Dimension stehen wiederum zwei Fragen zur Verfiigung. Die Frageformulierung ist gleich lautend mit der ersten oben wiedergegebenen Frage. Gefragt wurde u. a. nach „Man sollte einen starken Fiihrer haben, der sich nicht um Parlament und Wahlen kiimmern mulS'' und „Das Militar
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
213
soUte regieren". Die Antwortalternativen „sehr gut" iind "ziemlich gut" wurden fiir die folgende Auswertung zusammengefasst. Tabelle 6.2:
Unterstutzung eines autokratischen Regimes (Zustimmung in%)
EU-15 Griechenland Danemark Italien Westdeutschland Osterreich Schweden Spanien Ostdeutschland Finnland Grofibritannien Irland Niederlande Belgien Frankreich Portugal Luxemburg Beitritt I Tschechien Estland Malta Slowakei Ungarn Polen Slowenien Litauen Lettland Beitritt II Bulgarien Rumanien Tiirkei
„Man sollte einen starken Fiihrer haben, der sich nicht um Parlament und Wahlen kiimmern mufi'' 24,0 8,7 13,9 15,6 15,6 16,3 21,1 23,1 23,3 25,2 25,8 26,8 27,2 31,6 34,5 36,5 44,8 27,5 16,8 18,6 18,9 19,8 20,4 22,2 23,9 53,7 57,8 56,5 45,0 66,7 66,1
„Das Militar sollte regieren''
4,8 9,7 0,8 4,4 1,9 1,8 6,6 7,8 1,9 5,7 6,8 4,2 1,1 4,5 4,0 9,0 7,6 5,8 2,1 3,3 4,1 7,4 3,0 17,8 4,6 4,7 5,4 19,8 11,3 27,9 24,7
214
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Vor allem die erste Frage scheint uns sehr gut die Einstellung zur Demokratie zu messen, da die KontroUe der Regierung durch das Parlament und die Burger zu den Kernmerkmalen von Demokratien gehort. Es handelt sich u m eine gute Messung des von Dahl zuerst genannten Kriteriums einer Demokratie. Vergleicht man die Aggregatsgruppen miteinander, dann sieht man, dass die Akzeptanz einer autokratischen Fiihrung in den alten und neuen Mitgliedslandern eine deutliche Minderheitenposition darstellt; dies gilt nicht fiir die zukiinftigen EU-Lander Bulgarien und Rumanien, vor allem aber nicht fiir die Tiirkei. Mehr als die Halfte der Biirger in den Landern der nachsten Beitrittsrunde und zwei Drittel der Bevolkerung der Tiirkei konnen sich mit der Idee eines starken Fiihrers anfreunden (vgl. fiir einige mittel- und osteuropaische Lander die Befunde in Pickel und Jacobs (2001: 6)). Eine ahnliche Struktur der Ergebnisse ergibt sich, wenn auch auf einem insgesamt deutlich niedrigeren Niveau, fiir die Antworten auf die zweite Frage, die Unterstiitzung einer Militarregierung. Mit der Aufnahme der Lander Bulgarien und Rumanen und einer (eventuellen) Aufnahme der Tiirkei in die EU wird sich die Unterstiitzung fiir eines der Kernmerkmale der EU, die Idee der Demokratie, also verschlechtern.
Exkurs: Einstellungen zu verschiedenen normativen Modellen der Demokratie Die bisherigen Analysen konzentrierten sich allein auf die Analyse der Unterstiitzung der Kernelemente der Demokratie. Unter dem allgemeinen Dach der Demokratie versammeln sich aber unterschiedliche Modelle der Realisierung der demokratischen Grundprinzipien. Dieter Fuchs leitet aus der demokratietheoretischen Diskussion insgesamt drei verschiedene Modelle ab (Fuchs 1999): ein libertares, ein liber ales und ein sozialistisches Modell.^ Alle drei Modelle sind insofern demokratisch, als 4 Fuchs weist darauf hin, dass in der europaischen Diskussion die Begriffe liberal, sozialdemokratisch und sozialistisch iiblich seien (Fuchs 1999: 127, FN 1). In manchen Arbeiten behandelt Fuchs zusatzlich ein viertes, republikanisches Modell (Fuchs 1997; 2000).
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
215
ihnen die oben besprochenen Kernelemente der Demokratie gemeinsam sind. Sie lassen sich aber aufgrund erganzender Merkmale imterscheiden. Im Mittelpunkt des libertaren Modells steht die Sicheriing der Freiheitsrechte der Individuen. Dem Staat kommt allein die Schutzfunktion der individuellen Rechte zu; weitergehende Rechte mid Aufgaben des Staates werden als Eingriffe in die Freiheitsrechte der Individuen interpretiert iind entsprechend abgelehnt. Insofern propagiert das libertare Model! einen minimalen Staat. Das aus den Arbeiten von John Rawls abgeleitete liberale Modell geht von der Vorstellung aus, dass zur Ermoglichung individueller Freiheit die Individuen erst einmal in die Lage versetzt werden miissen, die Freiheitsrechte wahrnehmen zu konnen. Dazu ist eine minimale Absicherung Aller mit Giitern und die Sicherung sozialer Rechte notwendig. Insofern spricht sich das liberale Modell flir einen eingeschrankten Wohlfahrtsstaat aus. Im Konflikt zwischen den beiden Prinzipien Freiheit und Gleichheit gilt der Freiheit im Ernstfall aber die Prioritat. Dies ist im sozialistischen Modell anders. Das Gleichheitsprinzip geniefit hier Vorrang. Der Staat tragt die verfassungsrechtlich verbriefte Verantwortung fiir die Absicherung der Biirger und die Herstellung von Gleichheit. Dies ist nur iiber einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat zu realisieren, der in die Okonomie eingreift und eine Umverteilung von Ressourcen anstrebt. Dariiber hinaus beinhaltet das sozialistische Modell eine starkere direkte Biirgerbeteiligung (siehe die Ubersichten bei Fuchs 1997: 88; 1999:125). Tabelle 6.3 (nach Fuchs 1999:125) fasst die Merkmale der drei Modelle zusammen. Wir hatten in den Kapiteln iiber den Wohlfahrtsstaat und die Wirtschaft gesehen, dass die EU einen gemafiigten Wohlfahrtsstaat praferiert, der zwar die Grundversorgiing mit dem Lebensnotwendigen absichert, dariiber hinaus aber praktisch keine sozialen Rechte garantiert. Auch im Hinblick auf die Steuerung der Wirtschaft durch die Politik vertritt die EU eine eher liberale Position eines passiven Staats. Die Biirger or ientierung der EU hat zwar in den letzten Jahren deutlich zugenommen, gleichwohl kann man aber nicht von einer umfassenden Biirgerbeteiligung sprechen, da die EU die Anhorung der Biirger, nicht aber eine di-
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6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
rekte Einflussnahme auf politische Entscheidungen verbessert hat.^ Wir werden dies gleich in dem Kapitel iiber die Zivilgesellschaft noch genauer analysieren. Insgesamt kann man fiir die EU festhalten, dass sie ein liberales Politikmodell praferiert. Tabelle6.3:
Differenzierende Merkmale der normativen Demokratiemodelle
Politische Realisation sozialer Rechte Konstitutionelle Garantie sozialer Rechte Konstitutionelle Garantie direkter Biirgerbeteiligung
Libertare Demokratie
Liberale Demokratie
Sozialistische Demokratie
nein
ja
ja
nein
nein
ja
nein
nein
ja
Doch welches Demokratiemodell wiinschen sich die Burger Europas? Leider konnen wir mit den vorhandenen Daten nicht alle bei Fuchs angesprochenen Aspekte operationalisieren. So fehlt eine Messung des Wimschs nach mehr Biirgerbeteiligung. Wie man aber aus der Tabelle 6.3 erkennen kann, geniigen zwei Merkmale, um die drei Modelle voneinander zu unterscheiden. Die Praferenzen der Befragten fiir eines der Modelle lassen sich erstens iiber die Frage nach der politischen Realisation sozialer Rechte (Unterschied zwischen dem libertaren und den anderen beiden Modellen) und zweitens iiber die Frage nach der konstitutionellen Absicherung der sozialen Rechte (Unterschied zwischen liberalem und sozialistischem Modell) bestimmen. Wir haben die drei Modelle durch folgende Fragen operationalisiert. 1. Das erste Merkmal bezieht sich auf die politische Realisierung sozialer Rechte. Das liberale Modell ist im Unterschied zum libertaren Modell durch die Gewahrleistung der „gerechte[n] Versorgung mit gesellschaftlichen Grimdgiitern" (Fuchs 1997: 89) gekennzeichnet. In der Euro5 Fuchs weist darauf hin, dass die direkte Biirgerbeteiligung im liberalen Modell nicht explizit ausgeschlossen wird, allerdings dort keinen zentralen Stellenwert besitzt (Fuchs 1997: 90 und 97).
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
217
paischen Wertestudie wird genau dies abgefragt: „Welche Voraussetzungen soUte eine Gesellschaft erfullen, damit sie als gerecht gelten kann? Bitte sagen Sie mir fiir jede Aussage, ob Sie das fiir wichtig oder fiir iinwichtig halten: Die Befriedigung der Grundbedurfnisse aller Einwohner: Essen, Wohnung, Kleidung, schulische Grundausbildung, Gesundheit sicherstellen". Geantwortet werden konnte auf einer Flinferskala von 1 „sehr wichtig" bis 5 „uberhaupt nicht wichtig". Die Frage bezieht sich dabei erstens auf die Gesellschaft und nicht auf den Staat als Adressaten, zweitens ist der Mafistab ein Gerechtigkeitskriterium. Er ist also fiir die Trennung zwischen dem libertaren Modell und den beiden „anspruchsvolleren" Demokratievarianten bestens geeignet. 2. Der Unterschied zwischen dem liberalen und dem sozialistischen Modell liegt vor allem in der konstitutionellen Garantie sozialer Rechte, die im ersten Modell abgelehnt, im zweiten Modell befiirwortet wird. Die Einstellung der Burger zur konstitutionellen Absicherung der Grundversorgung lasst sich durch folgende Frage messen: „Nun wiirde ich Sie bitten, mir Ihre Meinung zu verschiedenen Aussagen zu sagen: Jeder einzelne Biirger sollte mehr Verantwortung fiir sich selbst iibernehmen oder Der Staat sollte mehr Verantwortung daftir iibernehmen, dafi jeder Biirger abgesichert ist." Geantwortet werden konnte auf einer zehnstufigen Skala, wobei die erste Position dem Wert 10, die zweite dem Wert 1 entspricht. Wenn ein Befragter sich sowohl gegen eine staatliche Verantwortung bei der sozialen Sicherung als auch gegen die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen als Kennzeichen einer gerechten Gesellschaft ausspricht, ordnen wir ihn dem libertaren Modell zu. Dem liberalen Modell wird ein Befragter zugeordnet, wenn er zwar die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen als Kennzeichen einer gerechten Gesellschaft ansieht, aber gleichzeitig die individuelle Verantwortung jedes Einzelnen unterstiitzt. Dem sozialistischen Modell schliei?lich ordnen wir alle Befragten zu, die sich sowohl fiir die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen als auch fiir eine staatliche Verantwortung aus-
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6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
sprechen.6 Die Tabelle 6.5 enthalt die prozentualen Anteile in der Bevolkerung, die die drei Modelle in den jeweiligen Landern unterstiitzen. Tabelle 6.4:
Operationalisierung der normativen Demokratiemodelle „Jeder Burger soUte Verantwortung fiir sich selbst iibernehmen (10)"' oder „Staat soUte Verantwortung dafiir iibernehmen, dafi Burger abgesichert sind (1)'"
„Welche Voraussetzungen soUte eine gerechte Gesellschaft erfiillen: Befriedigung der Grundbediirfnisse" (1 = sehr wichtig; 5 = iiberhaupt nicht wichtig)
Werte 6-10
Werte 1-5
Praferenz fur Hbertares Modell (6,2 %)
nicht einzuordnen
Werte 3-5
Werte 1-2
Praferenz fiir Hberales Modell (51,1 %)
Praferenz fiir sozialistisches Modell (36,6 %)
(6,1 %)
Das libertare Modell findet in Europa eine nur sehr geringe Unterstiitzirng. Nur in Danemark und Tschechien liegen die Unterstiitzungswerte liber 10 %. Die meisten Befragten praferieren das liber ale Modell oder das sozialistische Modell. Das liberale Modell wird vor allem in den alten Landern der EU, etwas schwacher auch von den Biirgern der drei Beitrittskandidaten favorisiert. In der Gruppe der alten EU-Lander sind es allein die Biirger der ehemaligen DDR, die sich mehrheitlich fiir ein sozialistisches Demokratiemodell aussprechen. Anders sind die Verhaltnisse in der Gruppe der neuen Mitgliedslander, von denen fiinf Lander mehrheitlich ein sozialistisches Demokratiemodell bevorzugen. Aber auch in alien anderen Landern gibt es relevante Minderheiten fiir das sozialistische Modell. 6 Die beiden Variablen lassen sich auch im Sinne einer Guttmann-Skala interpretieren, wobei der Reproduzierbarkeitskoeffizient bei sehr guten 0,98 liegt (vgl. Diekmann 1995: 237ff.). 835 Befragte (2,6 %) weisen ein abweichendes Antwortmuster auf. Diese haben wir aus der folgenden Analyse ausgeschlossen. Zusammen mit den Fallen, fiir welche mindestens eine Einstellungsvariable fehlt, ergeben sich die 6,1 %, die nicht einem der Modelle zuzuordnen sind (Tabelle 6.4).
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie Tabelle 6.5:
EU-15 Frankreich Westdeutschland Osterreich Grofibritannien Schweden Irland Niederlande Luxemburg Finnland Portugal Belgien Danemark Griechenland Italien Spanien Ostdeutschland Beitritt I Malta Polen Litauen Tschechien Ungarn Slowakei Lettland Estland Slowenien Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
219
Unterstiitzung fiir die verschiedenen normativen Demokratiemodelle (in %y Libertares Demokratiemodell 6,7 6,9 6,3 9,7 5,2 9,6 3,8 6,0 6,9 4,3 5,5 5,1 21,5 1,8 5,7 5,7 3,9 5,9 3,3 5,1 4,2 16,0 0,9 2,0 2,2 8,3 3,0 4,9 2,5 7,7 4,1
Liberales Demokratiemodell 56,7 68,9 68,7 65,0 63,8 63,6 62,9 60,1 59,7 59,6 56,7 53,7 50,9 48,8 44,3 43,2 42,7 41,1 54,3 49,5 48,9 44,5 40,8 37,7 33,8 31,6 26,3 50,6 52,3 48,7 47,8
Sozialistisches Demokratiemodell 30,8 21,1 21,1 20,4 25,3 22,9 27,5 29,9 23,5 32,1 31,9 36,9 17,6 44,8 42,2 41,4 47,1 46,9 41,0 40,3 39,6 32,5 52,7 55,0 57,7 49,0 65,8 36,8 36,9 36,6 41,5
Bilanzieren wir die Befunde: Die EU versteht sich als eine liber ale Demokratie, die sich zwar durch das Ziel einer gerechten Versorgung mit dem Lebensnotwendigen auszeichnet, aber eine staatliche Verantwortiing 7 Die kursiv gedruckten Zahlen weisen die Mehrheit in dem jeweiligen Land aus. Die Tabelle ist nach der Unterstiitzung fiir das liberale Modell geordnet.
220
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
dafiir weitestgehend ablehnt. Entsprechend sind einklagbare soziale Rechte im Verfassimgsentwurf praktisch kaum vorhanden. Dieses liberale Modell wird auch in den alten Mitgliedslandern und den drei Beitrittskandidaten mehrheitlich befiirwortet. Die neuen EU-Mitglieder bevorzugen dagegen ein sozialistisches Demokratiemodell, welches den Staat auch in der Verantwortung fiir die soziale Sicherheit sieht. Die Anspriiche an die Politik werden also durch die Erweiterung wachsen.
6.1.3 Zur Erklarung demokratischer Werteeinstellungen Fragen der Entstehung und Stabilitat von Demokratien waren schon immer eines der Hauptforschungsfelder der vergleichenden Politikwissenschaft, haben aber mit der so genannten dritten demokratischen Transformation, vor allem dem Ubergang der staatssozialistischen Gesellschaften zu Demokratien, nochmals einen enormen Aufschwung erfahren (vgl. z. B. Berglund et al. 1998; Huntington 1991). Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses dieser Forschungen steht die Erklarung der Entstehung und der Stabilitat der Institution der Demokratie, weniger die Erklarung der Werteorientierung der Burger. Ein Teil der in der Literatur angebotenen Erklarungen lassen sich aber auch zur Erklarung demokratischer Werte heranziehen: 1. Modernisierung und Demokratie: Seymor M. Lipset behauptet in seinem klassischen Aufsatz von 1959 „Some Social Requisites of Democracy" einen Zusammenhang zwischen soziookonomischer Modernisierung und Demokratisierung. Dieser Zusammenhang ist in einer Vielzahl von Studien empirisch verifiziert worden (Vanhanen 1997; zusammenfassend Lipset 2000). Hinter dem korrelativen Zusammenhang verbergen sich vier Wirkungsmechanismen (vgl. die Zusammenfassung bei Rossel 2000). Wirtschaftliches Wachstum fiihrt zum einen zur Entstehung von Mittelschichten und dies wirkt pazifizierend auf die Polarisierung von Gesellschaften. Wirtschaftliches Wachstum fuhrt zweitens zu mehr Konsum fiir alle Schichten und dies wirkt mafiigend auf die Arbeiterorganisationen. Dies fiihrt drittens dazu, dass die Eliten ihre skeptische Haltung gegen-
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
221
liber der Demokratie verlieren. Schliefilich ist Modernisierung mit einem Ausbau des Bildungssystems verbunden; eine hohere Bildimg ist mit mehr Toleranz imd einer Ablehnung von freiheitseinschrankenden Ideologien verbunden und damit forderlich fiir die Entstehimg demokratischer Einstellungen. Mit dem zuletzt genannten Faktor bezieht sich Lipset explizit auf demokratische Werteorientierungen und behauptet eine kausale Verbindung zwischen Modernisierung und demokratischen Einstellungen. Dieser Gedanke ist von anderen Autoren weiter expliziert worden (Dalton 1988; Inglehart 1997; Vanhanen 1997; Welzel 2000; 2002). Modernisierung fiihrt zu einer Erhohung der okonomischen und kognitiven Ressourcen und dies fiihrt zu einer Steigerung der partizipativen Fahigkeiten und Anspriiche der Biirger.^ Dies wiederum erh5ht den Druck, demokratische Institutionensysteme aufzubauen. Modernisierung ist damit zwar keine htnreichende Bedingung fiir eine Demokratisierung, iiberfiihrt Gesellschaften aber in das, was Samuel Huntington (1991) als „transition zone" bezeichnet hat, von der aus eine Demokratisierung mdglich, aber nicht notwendig ist. 2. Religiose Traditionslinien: Historisch betrachtet stnd Demokratien vor allem in protestantischen Landern entstanden; in katholischen, orthodoxen und islamischen Landern haben sie sich schwer getan. Dieser Unterschied wird in der Literatur mit Rekurs auf zwei Faktoren erklart: Protestantismus betont im Vergleich zu den anderen Religionen in starkerem Mafie die Idee des Individualismus und diese ist Bestandteil einer demokratischen Einstellung; weiterhin ist die Verbindung zwischen Staat und Religion in den nicht protestantischen Religionen starker ausgepragt, was eine Ausdifferenzierung demokratischer Institutionen erschwert hat (Lipset 2000: 399). Der negative Zusammenhang zwischen Katholizismus und Demokratie lasst sich fiir die Entwicklungen nach dem 2. Weltkrieg allerdings nicht mehr nachweisen. Hingegen zeigt sich, dass sich Demokratien in moslemischen Landern imd in orthodoxen Landern weit unterdurchschnittlich haufig entwickelt haben (zusammen8 Was wiederum zu einer wachsenden Kritik fiihren kann, die sich allerdings auf die Ebenen der „Struktur'' und der „Performanz'' bezieht (Hildebrandt und Dalton 1977; Inglehart 1983).
222
6. Demokratie imd Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
fassend Lipset 2000). Nur ein Viertel der 47 Lander mit einer islamischen Mehrheit sind heute Demokratien (Norris und Inglehart 2002: 238). Samuel Huntington (1996) fuhrt dies auf die in den Ideensystemen der Religionen verankerten Vorstellungen der Organisation des Politischen zuriick. Diese These ist empirisch liberaus umstritten. Pippa Norris und Ronald Inglehart (2002) einerseits und Yilmaz Esmer (2002) andererseits haben mit Hilfe der World-Values-Survey-Daten versucht zu priifen, ob es einen Einfluss der Religion auf die demokratischen Werte gibt. Beide konnen zeigen, dass sich die Biirger in islamischen Landern nicht signifikant in ihren demokratischen Werteorientierimgen von den christlichen Landern unterscheiden (vgl. auch Tessler 2002). Der zentrale Unterschied zwischen beiden besteht in ihren Einstellungen zur Emanzipation der Frau und zur Sexualitat (Inglehart und Norris 2003), was aber nicht Gegenstand dieses Kapitels ist. Wir wollen mit unseren Daten die von Huntington formulierte These priifen, ob die demokratischen Ideale von Menschen christlich-orthodoxen oder muslimischen Glaubens weniger unterstiitzt werden als von Katholiken und Protestanten. 3. Demokratische Institutionenordnung: Schliefilich gehen wir davon aus, dass die Erfahrungen, die Biirger mit Demokratien machen konnten, einen Effekt auf ihre demokratischen Einstellungen haben. Je langer sie in Demokratien gelebt haben, desto eher sind sie mit dem demokratischen Institutionensystem vertraut und desto starker unterstiitzen sie die mit dem Institutionensystem implementierten Ideen. „Mit der Dauer des Bestandes demokratischer Strukturen diirfte auch die Chance variieren, die fiir eine Demokratie typischen Wertorientierungen imd Einstellungen zu erwerben." (Gabriel 1994: 103). Diese Sozialisationshypothese demokratischer Einstellungen ist in der Literatur mehrfach diskutiert und empirisch iiberpriift worden (z. B. Muller und Seligson 1994). Dieter Fuchs (z. B. 1999a) erklart mit ihrer Hilfe die Unterschiede in den demokratischen Einstellungen zwischen Ost- und Westdeutschland. Entsprechend nehmen wir eine Variable mit auf, die die Jahre der kontinuierlichen Demokratie seit 1920 misst (vgl. Inglehart 1997: 357f.).
6.1 Demokratie als reprasentative Demokratie
223
Tabelle 6.6: Erklarimgder EinstellungenL zur Demokratie: Regressionen
Modemisierungsgrad HDI Bildung Religion ^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Demokratielange R2
„Man soUte ein demokratisches politisches System haben''
„Demokratie ist besser als jede andere Staatsform''
Additiver Index „DemokratieUnterstiitzung"'
,272 ,166
,268 ,154
,268 ,178
,036 ,041 ,117 ,147 -,045 0,065
,024 ,048 ,067 ,118 -,044 0,059
,039 ,049 ,109 ,143 -,033 0,078
Tabelle 6.7: Erklarimg der Einstellungen zu autoritaren Regierungsformen: Regressionsanalysen
Modemisierungsgrad HDI Bildung Religion ^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Demokratielange R2
„Man sollte einen starken Fiihrer haben"
„Das Militar sollte regieren''
Additiver Index „Unterstutzung fiir autoritare Regime''
,427 ,150
,267 ,115
,435 ,160
,006 + -,030 ,005 + -,027 -,242 0,101
-,010 + -,059 -,069 -,071 -,101 0,075
-,001 + -,048 -,022 -,058 -,225 0,126
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (+ = nicht signifikant). a) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose''.
Die Tabellen 6.6 und 6.7 enthalten die Ergebnisse der multiplen Regressionen. Die abhangigen Variablen sind die vier oben beschriebenen Einstel-
224
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
lungen zu den Grundwerten der Demokratie.^ Aufierdem haben wir aus den beiden Variablen der Zustimmung zur Demokratie bzw. zu einer autoritaren Regierungsform jeweils einen additiven Index gebildet.^o Die Erklarung der Unterschiede in den Einstellungen gelingt mit iinseren Modellen nicht besonders gut. Vor allem die Zustimmung zur Demokratie lasst sich aufgrund der geringen Streuung nur mittelmafiig, die Einstellungen gegeniiber autoritaren Regimen etwas besser und zufriedenstellend erklaren. Die beiden Modernisierungsindikatoren haben durchgangig den von uns erwarteten Effekt. Sowohl der Modernisierimgsgrad als auch die Bildung der Befragten weisen einen deutlich positiven Effekt auf die Unterstiitzung der Demokratie und die Ablehnung eines autokratischen Regimes auf. Die Erfahrungen mit der Demokratie, gemessen liber die Jahre einer kontinuierlichen Demokratie, spielen dagegen nicht die erwartete positive RoUe. Dies stimmt mit Befunden anderer Forscher liberein: „Die Vermutung, dafi die Akzeptanz der demokratischen Prinzipien in traditionsreichen Demokratien am starksten sei, bestatigt sich nicht." (Gabriel 1994: 104). Dies ist auch unser Ergebnis: In alteren Demokratien findet sich eine geringere Unterstiitzung fiir die Demokratie und eine starkere Befiirwortung autoritarer Regime.^^ Der Einfluss der Religionen bzw. Konfessionen ist ambivalent. Einerseits unterstiitzen alle religios Gebundenen die Demokratie starker als die Konfessionslosen. Zugleich unterstiitzen sie auch die autoritaren Regierungsformen starker. Einzige Ausnahme von diesem Befund sind die Protestanten, deren Einfluss auf autoritare Regime nicht signifikant ist.
^ Alle Variablen wurden so rekodiert, dass hohe Werte auch eine hohe Unterstiitzung fiir die Demokratie signalisieren. 10 Cronbach's Alpha fiir die Skalen betragt 0,68 im ersten und 0,49 im zweiten Fall. 11 Allerdings gibt es eine Uberlagerung mit dem Modernisierungsindikator, und zwar in gegenlaufiger Richtung. HDI und Lange der Demokratie weisen eine relativ hohe, wenn auch innerhalb ertragbarer Grenzen liegende KoUinearitat auf (sie korrelieren auf Landerebene mit 0,8). Nimmt man die Demokratielange als erklarende Variable heraus, so sinkt auch der Koeffizient fiir HDI. Lasst man HDI aus der Analyse heraus, so zeigt die Demokratielange einen positiven Einfluss.
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
225
Muslime zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Unterstiitzimg in beiden Richtimgen besonders stark ausfallt. Bevor wir unsere Analysen bilarizieren, wollen wir den zweiten Teilbereich, die Einstellungen zur Zivilgesellschaft, untersuchen.
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft Das Konzept der Zivilgesellschaft hat in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion der letzten 20 Jahre eine enorme Konjunktur erfahren. Zum einen interpretieren viele Analysten den Zusammenbruch der staatssozialistischen Gesellschaften - selbst eine notwendige Vorraussetzung eines spateren EU-Beitritts dieser Lander - als das Resultat sich formierender Zivilgesellschaften, die mit Protesten eine friedliche Transformation dieser Gesellschaften bewirkt haben. Zum anderen erhofften und erhoffen sich einige Beobachter von der Wiederbelebung zivilgesellschaftlicher Gruppierungen in den etablierten westlichen Demokratien eine Losung der dort entstandenen Strukturprobleme. Ein zivilgesellschaftliches Engagement der Burger wird als Rezept gegen eine zunehmende Politikverdrossenheit empfohlen, als Vehikel zur Erhohung der Sozialintegration in einer sich zunehmend individualisierenden Gesellschaft und schliefilich als Entlastung eines iiberschuldeten Sozialstaates durch ehrenamtliches, zivilgesellschaftliches Engagement (vgl. zusammenfassend Gosewinkel et al. 2003). Wir werden uns in diesem Kapitel auf die politische Funktion einer Zivilgesellschaft in Demokratien konzentrieren (vgl. Gabriel 2002). Die These, dass eine entwickelte Zivilgesellschaft eine notwendige Vorraussetzung fiir eine vitale Demokratie darstellt, ist zwar ein fester Topos demokratietheoretischer Uberlegungen seit Alexis de Tocquevilles (1987) Studie iiber die Demokratie in Amerika, hat aber mit den Arbeiten von Robert D. Putnam (1993; 2000) eine neue Aktualitat und empirische Fundierung erfahren. Unter Zivilgesellschaft versteht Putnam ein Netz von freiwilligen Organisationen in einer Gesellschaft: Selbsthilfegruppen, Gewerkschaften, Nachbarschaftsvereine, Kindergarteninitiativen, Agrar-
226
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
genossenschaften, Kirchen etc. Putnam verbindet sein Konzept der Zivilgesellschaft mit einer Theorie der Entstehung von sozialem Kapital. Die Mitgliedschaft und die Teilnahme an freiwilligen Organisationen fiihrt dazu, so die Putnamsche These, dass Menschen lernen zu kooperieren, wechselseitige Erwartungen wahrzunehmen, Vertrauen zueinander zu entwickeln und die Erfahrung der Herstellung von KoUektivgiitern zu machen. Den Erwerb dieser Fahigkeiten durch die Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Organisationen bezeichnet er als soziales Kapital, das von den Menschen zum Aufbau neuer Beziehungen eingesetzt werden kann. Das iiber zivilgesellschaftliches Engagement erworbene soziale Kapital hat wiederum verschiedene positive politische Konsequenzen (vgl. dazu Paxton 2002). Zum einen iiberbriickt die Erfahrung der Kooperation von Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund soziale Konfliktlinien und starkt die fiir Demokratien wichtigen Werte der Toleranz.12 Zum anderen sind in zivilgesellschaftlichen Organisationen engagierte Burger auch wachsame Burger im Hinblick auf die Reprasentationsorgane der Demokratie. Sie beobachten die gewahlten Entscheidungstrager kritisch; diese fuhlen sich in der Folge von den Biirgern kontroUiert und erweisen sich responsiv im Hinblick auf deren Wiinsche. Dies wiederum starkt genau das Element, welches die Performanz guter Demokratien ausmacht: Eine enge Anbindung der kollektiv verbindlichen Entscheidungen an die Wiinsche des Demos.^^ o b die vielfaltigen Hoffnungen, die Putnam mit dem Konzept der Zivilgesellschaft verbindet (und die im Kern aus iiberprtifbaren Hypothesen bestehen), empirisch alle bestandsfest sind, ist in der Literatur umstritten (vgl. die Beitrage in Pharr und Putnam 2000). Dies hindert aber die politischen Akteure
12 Putnam (2002: 22) unterscheidet entsprechend zwei verschiedene Typen von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen „bridging versus bonding associations''; nur fiir den ersten Typus gelten die positiven Effekte fiir die Demokratie; ahnlich auch die Unterscheidung bei Pamela Paxton (2002: 259). 13 Pamela Paxton (2002) kann zeigen, dass das Ausmafi der Existenz einer Zivilgesellschaft positive Effekte auf die Demokratie hat, dass aber zugleich auch der un\gekehrte Zusammenhang gilt: Demokratien wirken sich forderlich auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
227
nicht daran, an dem Konzept der Zivilgesellschaft festzuhalten (vgl. z. B. die Beitrage in Schroder 2002). Die Konjunktur des Konzepts der Zivilgesellschaft ist auch an der EU nicht spurlos vorbei gegangen (vgl. Kaelble 2003). Auch diese hat die Biirger und die Akteure der Zivilgesellschaft entdeckt und entsprechende Vorstellungen liber deren Rolle im demokratischen Entscheidungsprozess entwickelt.^^ Wie diese aussehen, werden wir im folgenden Kapitel genauer rekonstruieren. Danach werden wir priifen, ob und in welchem MaJGe sich die Mitglieds- und die Beitrittslander im Grad des Ausbaus einer Zivilgesellschaft unterscheiden und wie man die Unterschiede erklaren kann.
6.2.1 Die Rolle der Zivilgesellschaft nach den Vorstellungen der EU Die EU hat, wie wir gesehen haben, ihrem Selbstverstandnis nach den Charakter einer reprasentativen Demokratie. Einerseits wird das Europaische Parlament durch die Burger der Union direkt gewahlt, andererseits sind die nationalen Regierungen im Europaischen Rat und den Ministerraten vertreten. Diese Vorstellung der EU von sich selbst als einer reprasentativen Demokratie mit doppelter Legitimationsgrundlage ist aber in den letzten Jahren durch Elemente einer partizipatorischen Demokratie erweitert worden. Dies findet im Verfassungsentwurf in Titel 4, Artikel 47 seinen Ausdruck (Konferenz 2004): Die Organe der EU verpflichten sich, mit den Biirgern, Verbanden und der Zivilgesellschaft einen Dialog zu pflegen; die Kommission wird auf umfangreiche Anhorungen verpflichtet. Wir zitieren die entsprechenden Artikel des Verfassungsentwurf s:
^4 Welchen faktischen Einfiuss zivilgesellschaftliche Akteure auf die EU haben, wird hier nicht analysiert. Zu dieser Frage hegen eine Vielzahl an Untersuchungen vor (z. B. Roose 2003). Einen guten UberbUck Uefert die Arbeit von Christian Lahusen und Claudia Jaufi (2001).
228
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa „(1) Die Organe geben den Biirgerinnen und Biirgern und den reprasentativen Verbanden in geeigneter Weise die Moglichkeit, ihre Ansichten in alien Bereichen des Handelns der Union offentlich bekannt zu geben und auszutauschen. (2) Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmafiigen Dialog mit den reprasentativen Verbanden und der Zivilgesellschaft. (3) Um die Koharenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewahrleisten, fiihrt die Kommission umfangreiche Anhorungen der Betroffenen durch. (4) Unionsblirgerinnen und Unionsbiirger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehorige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, konnen die Initiative ergreifen und die Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschlage zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Biirgerinnen und Burger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verfassung umzusetzen. Die Bestimmungen iiber die Verfahren und Bedingungen, die fiir eine solche Biirgerinitiative gelten, einschliefilich der Mindestzahl von Mitgliedstaaten, aus denen diese Biirgerinnen und Biirger kommen miissen, werden durch Europaisches Gesetz festgelegt/'
Auch wenn diese Formulierungen im Hinblick auf die Rolle der Zivilgesellschaft im demokratischen Willensbildungsprozess recht vage klingen, bedeuten sie doch eine verfassiingsmafiige Verankerung der Rolle der Zivilgesellschaft. Dem Verfassungsentwurf war eine intensive Diskussion iiber die optimale Organisationsform des Regierens auf europaischer Ebene vorausgegangen, die in dem Weifibuch „ Europaisches Regieren" von 2001 einerseits und dem „Bericht der Kommission iiber Europaisches Regieren" sowie der Verabschiedung „Allgemeine Grundsatze und Mindeststandards fiir die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission" von 2002 andererseits ihren Ausdruck fand (Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2001; 2002a; 2002b). In alien drei Dokumenten wird die Bedeutimg der Einbindung der Akteure der Zivilgesellschaft deutlich hervorgehoben. Die EU hofft, durch eine Starkung zivilgesellschaftlicher Akteure die Unterstiitzung der EU-Institutionen durch die Biirger verbessern zu konnen und will damit dem diagnostizierten Demokratiedefizit der EU entgegenwirken.
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
229
a. Das Weifibuch vom Juli 2001 eroffnet seine Argumentation mit der Feststellung, dass die EU den Kontakt zu ihren Biirgern verloren habe. Es wird beklagt, dass sich viele Burger von der Schaltzentrale in Briissel entfremdet fuhlen. Das irische „Nein" zum Nizza-Vertrag sei Ausdruck dieser Haltung. Die Burger hielten die EU fiir unfahig, dort zu handeln, wo es notwendig sei; Nahrungsmittelkrisen und Arbeitslosigkeit wiirden immer wieder als Problemfelder angesprochen, die die EU nicht in den Griff bekomme. Weiterhin wiirden der EU nicht die Leistungen und Erfolge zugesprochen, die ihr zustehen, weil die Burger gar nicht bemerkten, dass diese Verbesserungen nicht auf nationaler sondern auf Gemeinschaftsebene ausgearbeitet wurden. Schliefilich vermittelten die Mitgliedstaaten kaum, wo die Grenze zwischen ihrer und der Tatigkeit der EU liege und machten „Brusser' haufig zum Siindenbock. Letztlich wlissten die Burger zu wenig dariiber, wie die Institutionen der EU funktionieren; diese Unkenntnis erzeuge eine Abkehr von der EU. Eine Reform der „Governance'' der EU soil den Biirgern starker ihre eigene Verantwortlichkeit bewusst machen. Durch die Offnung der Politikgestaltung sollen sie sich in die Briisseler Entscheidungen einbringen konnen. Dazu werden verschiedene Reformvorschlage gemacht, die vor allem auf eine Verbesserung der Kommunikations- und Informationspolitik der EU abzielen. Mit Bezug auf die Rolle der Zivilgesellschaft wird dabei folgendes konstatiert: Die Zivilgesellschaft betrachte Europa mehr und mehr als eine gute Plattform fiir politische und gesellschaftliche Veranderungen. Dies, so das Weifibuch, miisse sich die EU zunutze machen und durch eine Einbindung der Zivilgesellschaft eine grofiere Biirgernahe herstellen. Indem strukturierte Kanale fiir Feedback, Kritik und Protest angeboten wiirden, konnten die Biirger durch die organisierte Zivilgesellschaft an Diskussionen iiber Europa beteiligt werden. Eine groiSere Einbindung bedeute aber natiirlich auch gr56ere Verantwortung. Im Zuge des Entgegenkommens der EU miisse auch die Zivilgesellschaft die Grundsatze guten Regierens, insbesondere Verantwortlichkeit und Offentlichkeit, befolgen. Weiterhin soUe die Rolle des „Europaischen Wirtschafts- und Sozialausschusses" gestarkt werden. Die bisherige Konsultationspraxis, die den EWSA nach einem Gesetzesentwurf lediglich kom-
230
6. Demokratie imd Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
mentieren liefi, soUe in eine proaktive RoUe geandert werden, in der dem EWSA beratende Funktion bei der Erarbeitung einer Vorlage eingeraumt wird. Deshalb fordert das WeiiSbuch eine „verstarkte Konsultations- und Dialogkultur". b. Anderthalb Jahre nach Verdffentlichung des Weifibuchs „Europaisches Regieren" hat die Kommission im Dezember 2002 zum einen einen Bericht vorgelegt, der ein Fazit der Kommission liber die seit dem WeiCbuch erreichten Verbesserungen darstellt, zum anderen allgemeine Grundsatze iiber die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission erlassen (Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2002b; 2002d). In dem Bericht fiihrt die Kommission aus, wie sie ihre Informationspolitik vor allem durch die Nutzimg des Internets verbessert hat. Unter anderem hat sie eine Website mit einem Uberblick iiber zivilgesellschaftliche Organisationen eingerichtet. In den Grundsatzen betont die Kommission einerseits, dass sie sich zu umfassenden Anhorxingen verpflichtet fuhlt, andererseits stellt sie klar, dass zivilgesellschaftliche Akteure nur zur Beratung herangezogen werden, die legislativen Vollmachten aber bei den Institutionen der EU bleiben. Weiterhin legt sie einige Mindeststandards und Verfahrenskriterien fest, die bei der Anhorung von zivilgesellschaftlichen Akteuren beachtet werden miissen (Veroffentlichungspflicht, Fristeinhaltung, Eingangsbestatigungen etc.). Bilanzieren wir die Befunde der kurzen Analyse der Vorstellungen der EU im Hinblick auf die RoUe der Zivilgesellschaft im politischen Prozess: Keine Frage, die EU versteht sich als reprasentative Demokratie mit doppelter Legitimationsgrimdlage. Diese Vorstellimg ist aber in den letzten Jahren u m partizipatorische Elemente erweitert worden. Auch wenn die Akteure der Zivilgesellschaft nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden werden, ist ihre Stellung im Vorhof der Macht gestarkt worden. Die Griinde, die die EU fiir eine Starkung der Zivilgesellschaft anfiihrt, klingen ganz ahnlich wie diejenigen, mit denen Robert Putnam die Bedeutung der Zivilgesellschaft fiir die Stabilitat und die Giite von Demokratien begriindet: Eine Starkung der Zivilgesellschaft reduziert die Entfremdung der Burger von den Institutionen der EU (Kommission 2001: 3f.), weil sie sich iiber ihre Vertretungen in den Entscheidungspro-
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
231
zess eingebunden fiihlen. Zugleich werden die Entscheidungstrager durch die Einbindung der Akteure der Zivilgesellschaft in starkerem Mafie zur Rechenschaft und Verantwortlichkeit („ accountability'') gezwungen; dies macht es wahrscheinlich, dass die Entscheidungstrager die Interessen der Burger und der zivilgesellschaftlichen Akteure aufnehmen. Eine solche Responsivitat der Eliten ist ein Zeichen einer guten Demokratie und starkt zugleich die Identifikation der Burger mit den Institutionen.
62.2
Die Starke der Zivilgesellschaft in den Mitglieds- und Beitrittslandern derEU
Wir werden im Folgenden analysieren, in welchem Mafie der zivilgesellschaftliche Sektor in den verschiedenen Landern entwickelt ist. Eine Auswertung der „Europaischen Wertestudie" ermoglicht es, drei verschiedene Kennzahlen zur Messung von Zivilgesellschaft zu bestimmen. a. Mitgliedschaft in freiwilligen Assoziationen: In der Wertestudie wurde die Mitgliedschaft in verschiedenen freiwilligen Organisationen mit folgender Frage erhoben: „Wenn Sie sich einmal sorgfaltig diese Liste mit verschiedenen Organisationen und Gruppen durchlesen und mir sagen, welcher davon Sie angehoren." Auf der Liste waren folgende Organisationen und Gruppen aufgelistet: Soziale Hilfsdienste; Kirchliche oder religiose Organisationen; OrganisationenA^ereine fiir Bildung, Kunst, Musik und kulturelle Tatigkeiten; Gewerkschaften; Parteien und politische Gruppierungen; Gemeindearbeit; Dritte Welt- und Menschenrechtsgruppen; Okologie- und Umweltgruppen; Berufsverbande; Jugendarbeit; Sport- und Freizeitverbande; Frauengruppen; Friedensbewegung; Hilfsorganisationen im Gesundheitsbereich; Andere Gruppen; Keine. Die Bandbreite der aufgelisteten Gruppierungen ist recht grofi und umfasst traditionelle Interessensorganisationen (Berufsverbande, Gewerkschaften), neue soziale Bewegungen und verschiedene gemeinwohlorientierte Gruppierungen. Mit der Nennimg der Zusatzkategorie „Andere Gruppen" ist die Frage offen gehalten fiir Organisationen, die
232
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
nicht auf der Liste erwahnt werden.^^ AUerdings erfasst die Frage nicht, ob Befragte innerhalb einer Kategorie Mitgliedschaften von mehreren Organisationen aufweisen. Wir haben aus der Frage nach der Mitgliedschaft in freiwilligen Organisationen zwei Variablen gebildet: Zum einen eine Additionsvariable, die die Menge der Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen pro Befragter misst, zum anderen die Haufigkeit, mit der ein Befragter Mitglied in zumindest einer Organisation ist. Auf der Aggregatsebene der vier Landergruppen zeigt sich ein klares Muster. Die Mitgliedschaftsrate in zivilgesellschaftlichen Gruppierungen ist in den 15 Altlandern der EU am hochsten; die neuen EULander fallen im Vergleich dazu deutlich ab; noch geringer ausgebaut ist der zivilgesellschaftliche Sektor in Bulgarien und Rumanien; und die Tiirkei bildet das Schlusslicht. Zugleich zeigt sich, dass die Varianzen innerhalb der ersten beiden Landergruppen erheblich sind. Die drei skandinavischen Lander (Finnland, Schweden und Danemark) und die Niederlande fuhren die Tabelle in der ersten Gruppe an, wahrend die siidlichen Lander Spanien und Portugal die letzten Platze einnehmen. Bei den neuen Landern der EU sind es Tschechien, Slowenien und die Slowakei, die iiber zivilgesellschaftliche Mitgliedschaftsraten verfiigen, die weit iiberdurchschnittlich fiir diese Gruppe sind.^^ Eine ahnliche Struktur zeigt sich bei unserer zweiten und dritten Messung des zivilgesellschaftlichen Sektor s.
15 Es ist nicht ganz auszuschliefien, dass sich vor allem hinter der Kategorie „Andere Gruppen'' durchaus auch ^bonding associations'" im Sinne von Putnam verbergen. Dies steUt dann kein Problem dar, wenn sie iiber alle Lander gleich verteih sind, was wir hier nur annehmen, aber nicht priifen konnen. Aufierdem ist die Kategorie nur sehr schwach besetzt. In der iiberwiegenden Mehrheit diirfte es sich aber um „bridging associations" handeln. 16 Dieses Ergebnis deckt sich in der Struktur mit den empirischen Befunden von Bernhard Wefiels (2003:178) fiir 12 postkommunistische Gesellschaften.
233
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft Tabelle 6.8:
Mitgliedschaft in Gruppen der Zivilgesellschaft
EU-15 Schweden Niederlande Danemark Finnland Osterreich Belgien Luxemburg Irland Griechenland Westdeutschland Italien Ostdeutschland Frankreich Grofibritannien Spanien Portugal
Beitritt I Slowakei Tschechien Slowenien Malta Estland Lettland Ungarn Polen Litauen Beitritt II Bulgarien Rumanien Ttirkei
Mitgliedschaft ii\ mindestens einer Organisation (in %) 57,7 95,7 92,4 84,4 80,1 66,8 65,2 58,2 57,1 56,4 50,9 42,1 42,0 39,4 33,6 30,9 27,6 39,8 65,0 60,2 51,7 42,2 33,5 31,4 30,8 25,0 18,6 22,0 22,9 21,1 7,8
Durchschnittliche Anzahl der Mitgliedschaften 1,34 3,22 3,09 1,91 1,86 1,50 1,57 1,39 1,20 1,25 0,86 0,78 0,62 0,63 0,60 0,53 0,40 0,64 1,13 1,04 0,98 0,63 0,51 0,41 0,45 0,40 0,26 0,34 0,36 0,31 0,12
b, Aktivitat in freiwilligen Assoziationen: Eine Mitgliedschaft in einer Organisation nnd Gruppierung sagt noch nichts dariiber aus, ob der Befragte auch an den Aktivitaten der jeweiligen Gruppierung teilnimmt. Man kann argumentieren, dass sich die von Putnam und der EU unterstellten und gewiinschten Effekte einer Zivilgesellschaft ja nur dann einstellen, wenn Menschen auch an den Interaktionen der Gruppierungen teilnehmen und nicht als „Karteileichen" an den Organisationen partizipieren.
234
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
In der Wertestudie wurde beziiglich aller genannten Gruppierimgen erhoben, ob der Befragte in der jeweiligen Gruppierimg ehrenamtlich, also ohne Bezahlung tatig sei. Wir haben auch aus dieser Frage zwei Variablen konstruiert: zum einen eine Additionsvariable, die die Menge ehrenamtlicher Tatigkeit in verschiedenen Organisationen pro Befragter misst, zum anderen die Haufigkeit, mit der ein Befragter zumindest in einer Organisation ehrenamtlich tatig ist. Auf die empirischen Resultate kommen wir zu sprechen, nachdem wir kurz die dritte Messung zivilgesellschaftlichen Engagements vorgestellt haben. c. Soziales Kapital: Wir haben versucht, das Konzept des Sozialkapitals zu operationalisieren. Bei der Konstruktion eines Indexes „Soziales Kapital" folgen wir einem Vorschlag von Pippa Norris (2002:149). Norris rekonstruiert in einem ersten Schritt das Putnamsche Konzept von Sozialkapital. Sozialkapital setzt sich aus zwei Dimensionen zusammen: einer strukturellen Dimension, bestehend aus der Mitgliedschaft und Aktivitat in zivilgesellschaftlichen Organisationen und einer so genannten kulturellen Dimension, bestehend aus Vertrauen in die anderen Interaktionspartner, Normen der Reziprozitat und der Kooperation. Die kulturellen Elemente werden, so die Putnamsche Vorstellung, durch die Mitgliedschaft in freiwilligen Assoziationen generiert. Die erste Dimension messen wir durch die Frage nach der aktiven Mitgliedschaft in einer der freiwilligen Organisationen, die zweite Dimension durch die Frage: „Wurden Sie ganz allgemein sagen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann oder dass man da nicht vorsichtig genug sein kann" (Antwortalternativen: Man kann vertrauen/Man kann nicht vorsichtig genug sein). Aus diesen beiden Variablen haben wir durch Addition einen Index gebildet, der drei Auspragungen hat (1 = wenig soziales Kapital, 3 = viel soziales Kapital).
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
235
Tabelle6.9: Aktivitat in Gruppen der Zivilgesellschaft vavd soziales Kapitali^
EU-15 Schweden Niederlande Danemark Finnland Grofibritannien* Irland Belgien Griechenland Ostdeutschland Italien Spanien Luxemburg Westdeutschland Frankreich Portugal Beitritt I Slowakei Tschechien Slowenien Malta Estland Litauen Lettland Ungarn Polen Beitritt II Bulgarien Rumanieri Turkei
Aktivitat in mindestens einer Organisation (in %) 32,3 56,1 49,2 37,2 38,0 42,3 32,6 35,4 39,8 30,4 16,4 26,1 17,6 30,2 22,0 27,1 16,4 25,3 51,4 33,2 28,5 28,6 18,0 15,8 22,4 15,4 13,9 17,3 18,8 15,7 6,4
Durchschnittliche Anzahl der Aktivitaten 0,56 1,15 0,93 0,57 0,64 0,83 0,61 0,69 0,96 0,48 0,19 0,46 0,27 0,63 0,28 0,38 0,23 0,40 0,81 0,50 0,54 0,52 0,29 0,20 0,29 0,26 0,21 0,24 0,27 0,21 0,10
Soziales Kapital 1,70 2,22 2,09 2,03 1,96 1,71 1,69 1,65 1,64 1,63 1,60 1,58 1,57 1,55 1,54 1,48 1,29 1,46 1,68 1,58 1,50 1,49 1,41 1,41 1,40 1,38 1,32 1,36 1,46 1,26 1,13
* Fur Grofibritannien liegen fiir die Variable „Aktivitat in sonstigen Organisationen" keine Daten vor. Die Werte von Grofibritannien sind daher vermutlich leicht unterschatzt.
17 Die Tabelle ist nach den Werten fiir das soziale Kapital geordnet.
236
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Auf der Aggregatsebene der Landergruppen zeigt sich dasselbe Bild wie in Tabelle 6.8. Die Burger der 15 alten EU-Lander sind deutlich haufiger in Gruppen der Zivilgesellschaft aktiv und verfiigen liber ein hoheres soziales Kapital als die Burger der drei anderen Kategorien. Die Tiirkei bildet in beiden Dimensionen, auch im unmittelbaren Landervergleich, das Schlusslicht. Und auch hier zeigen sich deutliche Varianzen in den ersten beiden Landergruppen: Schweden ist das Musterland einer ausgebauten Zivilgesellschaft, Spanien und Portugal befinden sich auf den hinteren Rangen. Tschechien und Slowenien weisen in der zweiten Gruppe deutlich iiberdurchschnittliche Werte auf und erreichen bzw. iibertreffen die Durchschnittswerte der alten EU-Lander. Ingesamt aber zeigt sich, dass die 15 alten EU-Lander den zivilgesellschaftlichen Vorstellungen der EU von einer aktiven Biirgerschaft am ehesten gerecht werden. Mit jedem Erweiterungsschritt der EU wird sich die zivilgesellschaftliche Gesamtkonstellation der EU verschlechtern, weil das zivilgesellschaftliche Engagement der Menschen in den Beitrittslandern im Durchschnitt schlechter ist.
6.2.3 Ein Versuch der Erklarung der Starke der Zivilgesellschaft in den verschiedenen Landern Wir sind nicht die ersten, die versuchen, die Mitgliedschaft und das Engagement in zivilgesellschaftlichen Gruppen zu erklaren. Entsprechend konnen wir uns an den Hypothesen und Operationalisierungen anderer Autoren orientieren. Vor allem die Arbeiten von Pippa Norris (2002) einerseits und James E. Curtis, Douglas E. Baer und Edward G. Grabb (1992; 2001) andererseits sind fiir uns besonders hilfreich, weil die genannten Autoren mit ahnlichen Daten arbeiten (World Values Survey) und ebenfalls Landerunterschiede untersuchen (vgl. auch jiingst Paxton 2002). Wahrend Norris sich aber in erster Linie mit den Folgen der Starke einer Zivilgesellschaft beschaftigt, steht im Fokus der Analyse von Curtis, Baer und Grabb der Versuch, die Ursachen der Starke einer Zivilgesellschaft zu erklaren. Dazu rekonstruieren die Autoren in einem ersten
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
237
Schritt die in der Literatur vorfindbaren Hypothesen. Die Argumentation ahnelt verstandlicherweise haufig der Erklarung der Einstellungen zur Demokratie, wie wir sie im ersten Unterkapitel formuliert haben. a. Okonomische Modernisierung: Manche Autoren gehen davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Grad der Modernisierung und der Starke der Zivilgesellschaft gibt (z. B. Smith und Shen 2002). Fiir diesen korrelativen Zusammenhang werden zwei Ursachen ins Feld gefiihrt. Zum einen fuhrt Modernisierung zu einer Erhohung beruflicher Spezialisierung und einer Differenzierung von Status-Positionen. Assoziationen als Interessenorganisationen bilden sich entlang der Berufsspezialisierungen und entlang von Status-Positionen. Diese versuchen dann, den Interessen ihrer Klientel im politischen Prozess Geltung zu verschaffen (Smith 1972). Seymour M. Lipset (1994: 2) vermutet, dass iiber diesen Vermittlungsschritt - okonomische Entwicklung lasst eine starke Mittelschicht mit vielen Interessenorganisationen entstehen - Prozesse der Demokratisierung erklart werden konnen. Zum anderen ist der Prozess der Modernisierung mit einem Anstieg von Wohlstand und Freizeit verbunden. Zusammen mit hoherer Bildung sind dies Ressourcen, die Menschen flexibler machen und damit u. a. die Mitgliedschaft in Assoziationen erleichtern. ''Higher average levels of formal education in a nation tend to make the people of that nation more ready and able to participate in associations as individuals on average (...), leading to greater associational prevalence in the aggregate." (Smith und Shen 2002:101). David H. Smith (1972; Smith und Shen 2002) kann in seinen Untersuchungen zeigen, dass es in der Tat einen starken Zusammenhang zwischen okonomischer Modernisierung und der Entwicklung der Zivilgesellschaft gibt. Wir messen den Grad der Modernisierung einer Gesellschaft durch den Human Development Index und erwarten, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen dem Grad der Modernisierung und der Entwicklung des zivilgesellschaftlichen Sektors gibt (gemessen durch die in den letzten Abschnitten vorgestellten Indikatoren). Zusatzlich nehmen wir die Bildung der Befragten mit in unsere Analysen auf. b. Religiose Traditionslinien: Die USA bilden das klassische Land einer entwickelten Zivilgesellschaft. Alexis de Tocqueville hatte diesen Tatbe-
238
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
stand bereits auf die spezifische Religionspragimg der USA zurlickgefiihrt. Die ersten Siedlergruppen waren bekanntlich protestantische puritanische Sekten, die vor den grofien Amtskirchen geflohen waren. Sie bestanden aus dezentralen kleinen Einheiten mit einer antihierarchischen Grundorientierung, einer Betonung der individuellen Gewissensverantwortung und der Selbstorganisation der Gemeinschaft (de Tocqueville 1987, Band 1: 433; Lipset 1996). Im Unterschied zur katholischen Kirche, der orthodoxen Kirche und dem Islam gilt die protestantische Kirche als egalitarer, partizipationsorientierter und weniger hierarchisch. Dies eroffnet fiir ihre Mitglieder eine gute Moglichkeit, sich einzumischen und Kooperationen mit anderen zu trainieren - mit Transfereffekten auf das Engagement in anderen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen. Die These, dass der Protestantismus im Unterschied zum orthodoxen Christentum, zum Islam und zur katholischen Kirche fordernd auf die Generierung von zivilgesellschaftlichem Engagement wirkt, ist im Anschluss an Toqueville von einer Vielzahl von Autoren aufgegriffen und zum Teil auch empirisch iiberpriift worden (Lipset 1994; Verba et al. 1995; Inglehart imd Baker 2000; Curtis, Baer und Grabb 2001). Wir kniipfen mit unserer Analyse an diese Hypothese an und priifen, ob die Mitglieder der protestantischen Kirche sich im hoheren Mal?e zivilgesellschaftlich engagieren als die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften. c. Politisch-instituHonelle Ordnung: Schliefilich machen einige Analysten geltend, dass das politisch-institutionelle Umfeld einen Einfluss auf die Starke einer Zivilgesellschaft hat. Kontrastiert man demokratische Systeme mit Diktaturen oder totalitaren Systemen, so gilt, dass in Demokratien die Anreize zum Engagement in freiwilligen Organisationen hoher, die Restriktionen fiir ein solches Engagement zugleich geringer sind. Demokratien koppeln die Entscheidungen, die die Gesellschaft betreffen, an die Wiinsche der Burger. Die strukturell angelegte Offenheit des Systems fiir die Willensbekundungen der Burger motiviert diese dazu, sich in Organisationen und Assoziationen zusammenzuschlieCen, u m den eigenen Gesellschaftsvorstellungen Ausdruck zu verleihen. Zugleich sind
6.2 Das Europa der Burger: Zivilgesellschaft
239
die Restriktionen, eine freiwillige Organisation zu griinden bzw. sich einer solchen anzuschliefien, in Demokratien im Vergleich zu Diktaturen und totalitaren Systemen deutlich geringer. Meinungs-, Versammlungsund Demonstrationsrecht sind verbriefte Rechte einer Demokratie; und haufig wird die Grlindung von bzw. die Mitgliedschaft in Assoziationen sogar steuerlich unterstiitzt. Wir vermuten entsprechend, dass in Gesellschaften, die iiber eine langere Demokratieerfahrung verfiigen, der zivilgesellschaftliche Sektor entwickelter ist als in Gesellschaften, die erst in jiingster Zeit zu Demokratien geworden sind (vgl. ahnlich argumentierend Inglehart 1997; Inglehart und Baker 2000; Lipset 1994; Curtis, Baer und Grabb 2001). Wir messen die Demokratieerfahrung durch die Anzahl der Jahre, die ein Land kontinuierlich demokratisch ist. Marc M. Howard (2002) fuhrt eine zusatzliche Unterscheidung ein. Er zeigt einerseits, dass der zivilgesellschaftliche Sektor in Demokratien deutlich entwickelter ist als in autoritaren Regimen. Dariiber hinaus zeigt er in einem Binnenvergleich zwischen von ihm als postautoritar (z. B. Siidafrika, Siidkorea, Chile, Argentinien) und postkommunistisch bezeichneten Regimen, dass das zivilgesellschaftliche Engagement in den postkommunistischen Gesellschaften nochmals deutlich geringer ist als in den postautoritaren Regimen. Howard nennt auf der Basis seiner empirischen Studie drei Grlinde, um diese Differenz zu erklaren: a. Kommunistische Regime haben nicht nur (und darin unterscheiden sie sich nicht von autoritaren Regimen) versucht, einen autonomen zivilgesellschaftlichen Sektor zu unterdriicken, sie haben selbst aktiv einen staatlich kontrollierten Sektor von Assoziationen aufgebaut, in dem die Mitgliedschaft fiir die Biirger zum Teil obligatorisch war.^^ Diese negativen Erfahrungen der Biirger mit einer staatlich implementierten Zivilgesellschaft wirken in der postkommunistischen Phase nach und reduzieren die Bereitschaft, sich in Vereinen zu organisieren. b. Die massive Kontrolle des gesamten offentlichen Lebens durch die kommunistischen Regime hat dazu gefiihrt, dass private Netzwerke und Freundschaften die einzigen 1^ Organisationsgrade im Gewerkschaftsbereich von 90 % waren keine Seltenheit (vgl. Wefiels 1994).
240
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
gesellschaftlichen Bereiche bildeten, in denen man sich frei aufiern konnte. Diese Netzwerke haben die Transformation in marktwirtschaftliche Demokratien iiberstanden und haben weiterhin flir die Burger eine sehr wichtige Funktion, so dass der Bedarf, sich liber zivilgesellschaftliche Organisationen zu vergesellschaften, recht gering ist. c. Schliefilich sind sehr viele Burger in den vormals kommunistischen Gesellschaften enttauscht vom Ergebnis des Transformationsprozesses. Weder die wirtschaftliche noch die politische Entwicklung stellt sie zufrieden; eine Abwendung von einem zivilgesellschaftlichen Engagement ist die Folge. Bernhard Wefiels (2003) kann in seiner Untersuchung zeigen, dass die Mitgliedschaften in zivilgesellschaftlichen Organisationen in postkommunistischen Landern zwischen 1990 und 2000 dramatisch zuriickgegangen sind; ein grofier Teil der Veranderung geht allerdings auf den Riickgang der gewerkschaftlichen Organisationsrate zuriick. Auf der Basis unserer deskriptiven Befunde kann man allerdings etwas skeptisch sein, ob sich der Zusammenhang zwischen kommunistischer Erfahrung einerseits und zivilgesellschaftlichem Engagement andererseits auch in imseren Daten zeigen wird. Wir haben gesehen, dass das zivilgesellschaftliche Engagement in einigen ehemals kommunistischen Gesellschaften - Tschechien, Slowenien und Slowakei - recht hoch ist. Um die These von Howard zu testen, nehmen wir als Variable die Jahre unter kommunistischer Herrschaft mit auf (vgl. Inglehart 1997). Die folgende Tabelle gibt die Ergebnisse unserer Kausalanalyse wieder.19 Manche Autoren halten es fiir sinnvoll, die Gewerkschaftsmitgliedschaft aus der Analyse auszuschliefien, well die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften in manchen Gesellschaften nicht freiwillig ist (vgl. Smith 1975: 249; Curtis et al. 2001: 789). Wir haben die folgenden Analysen auch ohne die Mitgliedschaft in Gewerkschaften gerechnet. Die Struktur der Ergebnisse verandert sich aber nicht.
1^ Aus Platzgriinden fiihren wir die Ergebnisse fiir die beiden Variablen „Mitgliedschaft in mindestens einer Organisation"' bzw. „Mitarbeit in mindestens einer Organisation" nicht mit auf. Die Ergebnisse der dort notwendigen logistischen Regressionen gleichen aber in ihrer Struktur den prasentierten Befunden.
6.2 Das Europa der Biirger: Zivilgesellschaft
241
Tabelle 6.10: Erklarung der Mitgliedschaft und des Engagements in zivilgesellschaftlichen Organisationen: Reigressionsanalysen
HDI Bildung Religion ^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Politische Ordnung Jahre in Demokratie Jahre unter Soz. R2
Durchschnittliche Mitgliedschaft in Organisationen
Durchschnittliches Engagement in Organisationen
Soziales Kapital
,110 ,197
,040 ,150
,118 ,215
,116 -,007+ ,018 ,021
,054 ,028 ,042 -,007+
,117 -,011+ -,015* -,028
,252 ,055 0,159
,095 -,002+ 0,045
,100 ,012+ 0,118
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (* = signifikant auf 5 %-Niveau, + = nicht signifikant). ^) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose''.
Betrachtet man zuerst die R^-Werte, so zeigt sich, dass wir die Mitgliedschaft in zivilgesellschaftlichen Organisationen und das soziale Kapital gut erklaren konnen, nicht aber die Frage des Engagements in diesen Gruppen. Die geringe Varianzaufklarung beim Engagement resultiert vermutlich aus der insgesamt geringen Streuung. Welche Faktoren konnen die Mitgliedschaft in Organisationen der Zivilgesellschaft erklaren? Fiir alle abhangigen Variablen bestatigt sich der erwartete Zusammenhang zwischen dem Grad der Modemisierung und dem Niveau des zivilgesellschaftlichen Engagements. Je modernisierter eine Gesellschaft ist, desto grofier ist die Teilhabe an freiwilligen Organisationen imd das soziale Kapital. Dies gilt fiir beide Indikatoren, wobei die Bildung einen etwas starkeren Einfluss hat. Weiterhin zeigt sich, dass Demokratien forderlich fiir die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sind; je langer ein Land demokratisch regiert wird, desto ausgebauter ist der zivilgesellschaftliche Sektor (vgl. mit ahnlichen Ergebnissen
242
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Paxton 2002). Und auch die These, dass Protestanten ein iiberdurchschnittliches zivilgesellschaftliches Engagement aufweisen, wird bestatigt. Die Zusammenhange der anderen Konfessionen sind ambivalent und haufig nicht signifikant. Unsere Analysen bestatigen nicht die Befunde von Howard (2002), dass - unabhangig von der Demokratielange eine sozialistische Erfahrung das Engagement in freiwilligen Organisationen diskreditiert hat.^^
6.3 Ubereinstimmung der Lander mit den EU-Vorstellungen Nach der Deskription imd Erklarung der Einzelindikatoren fiir die beiden Teilbereiche Demokratie und Zivilgesellschaft werden wir in diesem Abschnitt eine Gesamtschau der Daten prasentieren. Die gleichzeitige Beriicksichtigung aller Variablen erlaubt es uns, die Nahe bzw. Feme der Lander zu dem EU-Ideal insgesamt zu bestimmen. Das Verfahren der Wahl ist dabei wieder die Diskriminanzanalyse. Mit ihrer Hilfe lasst sich erstens feststellen, welche der in den beiden letzten Abschnitten analysierten Variablen am starksten zwischen den Landern trennen. Zweitens konnen wir iiber eine synchrone Analyse aller Variablen die Ubereinstimmimg mit den EU-Vorstellungen insgesamt fiir jeden Befragten, und im Aggregat auch fiir die Bevolkerungen der Lander berechnen. Da die Diskriminanzanalyse als strukturenpriifendes Verfahren die Vorgabe der zu trennenden Gruppen verlangt, miissen wir zunachst fiir die beiden Bereiche Demokratie und Zivilgesellschaft Referenzgruppen 20 Wir haben in einer zweiten Regression die beiden Variablen ,Jahre kontinuierlicher Demokratie'' und ,Jahre unter sozialistischer Herrschaff' durch zwei Dummies ersetzt, die ein sozialistisches bzw. ein autoritares (Griechenland, Portugal, Spanien und die Tiirkei) Erbe beriicksichtigen. Es zeigt sich, dass beide Variablen einen durchgangig negativen Einfluss auf die Zivilgesellschaft haben. AUerdings ist der Effekt der autoritaren Regime grofier als der fiir die exsozialistischen Lander. Dies stiitzt zwar Howards These, dass sowohl eine autoritare als auch eine sozialistische Vergangenheit einen negativen Einfluss auf die Zivilgesellschaft haben, widerspricht aber seiner Annahme, dass dieser Effekt fiir exsozialistische Lander grofier ist.
6.3 Ubereinstimmimg der Lander mit den EU-Vorstellungen
243
definieren.2i Diese sogenannten Benchmark-Countries reprasentieren in besonders guter Weise die EU-Position fiir den jeweiligen Bereich. Sieht man sich die deskriptiven Daten an, so ergeben sich Danemark, Westdeutschland und Osterreich als diejenigen Lander, die das EUDemokratie-Ideal in besonderer Weise imterstlitzen.^^ Fiir den Bereich der Zivilgesellschaft sind dies die Niederlande und vor allem Schweden. Das Ergebnis der Diskriminanzanalyse ist in Tabelle 6.11 dargestellt. ^3 Sieht man sich zunachst die Giitemafie der Diskriminanzanalyse an, so zeigt sich eine gute Trennung der Gruppen. Immerhin 60,3 % aller Befragten werden korrekt klassifiziert. Ein Grofiteil der absoluten Fehlklassifikationen geht auf die Gruppe 3 zuriick. Dies stellt insofern kein Problem dar, da es sich hierbei um die Befragten derjenigen Lander handelt, die nicht als Benchmark-Country definiert wurden, deren Nahe zu den EU-Vorstellungen aber iiberpriift werden soil. Auch Fehlklassifikationen zwischen den Gruppen 1 und 2 sind eher unproblematisch, da die beiden Dimensionen Demokratie und Zivilgesellschaft eng zusammenhangen.^^
21 Vgl. zu diesem Vorgehen Fuchs und Klingemann (2002). 22 Griechenland weist zwar bei drei der Indikatoren ebenfalls eine iiberdurchschnittliche Unterstiitzung fiir die Demokratie auf, wird aber aufgrund seiner hohen Werte bei dem Indikator „Das Militar soUte regieren'" nicht als Benchmark-Country mit aufgenommen. 23 Aufgrund der fehlenden Daten bei der aktiven Mitarbeit in Organisationen konnte Grofibritannien nicht beriicksichtigt werden. 24 Dies kann man u. a. daran erkennen, dass die Mittelwerte der beiden BenchmarkGruppen bei beiden Funktionen positiv sind, wahrend die restUchen Lander (Gruppe 3) negative Werte aufweisen.
244
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Tabelle 6.11: Ergebnisse der Diskriminanzanalyse Diskriminanzfunktionen „Zivil„Demokratiegesellschaft"" ^) Unterstiitzung''») Zivilgesellschaft ,929 Durchschnittliche Mitgliedschaft in Organis. ,495 Soziales Kapital ,355 Durchschnittliche aktive Mitarbeit in Organis. Demokratie „Demokratie ist besser als jede andere Regierungsform'' „Man sollte einen starken Fiihrer haben" (Ablehnung) „Das Militar sollte regieren" (Ablehnung) „Man sollte ein demokratisches System haben" Giitemafie der Diskriniinanzanalyse Eigenvalue 0,279 Kanonische Korrelation 0,467 80,5 % der durch die Funktion erklarten Varianz ^) Gruppenmittelwerte der Diskriminanzfunktionen Benchmark 1 (DK, A, W-D) ,246 Benchmark 2 (SE, NL) 1,577 Gruppe 3 (restliche Lander) -,209 Klassifikationsergebnisse'^) Gruppen (vorhergesagt) Benchmark 1 Benchmark 2 Benchmark 1 (DK, A, W-D) 60,6 % (1584) 14,2 % (372) Benchmark 2 (SE, NL) 28,1 % (522) 55,5 % (1032) Gruppe 3 (restl. Lander) 31,3 % (5337) 7,9 % (1350) Korrekt klassifiziert 60,3 %
,141 -,225 ,731 ,633 ,555 ,533 0,040 0,196 19,5 ,618 ,228 -,119 Gruppe 3 25,2 % (659) 16,5 % (306) 60,8 % (10390)
^) Gemeinsame rotierte Korrelationen innerhalb der Gruppen zwischen Diskriminanzvariablen und standardisierten kanonischen Diskriminanzfunktionen. Werte unter 0,1 werden nicht ausgewiesen. ^) Die Varianz bezieht sich auf die rotierte Losung. <=) Verwendet wurden um die Stichprobengrofie gewichtete Falle, so dass alle Lander gleichwertig beriicksichtigt werden. Daher erscheinen die Fallzahlen etwas niedriger.
Trotz dieses Zusammenhangs bilden sich die beiden Dimensionen in den Daten erstaunlich gut ab. Lediglich zwei Variablen der Zivilgesellschaftsdimension („Soziales Kapital" und „Durchschnittliche Aktivitat")
6.3 Ubereinstimmimg der Lander mit den EU-Vorstellimgen
245
laden auch auf der Demokratiedimension. Das soziale Kapital weist dabei einen positiven Zusammenhang mit beiden Aspekten auf. Den starksten Einfluss auf die Trennung der Lander hat die durchschnittliche Mitgliedschaft in Organisationen. Aber auch die meisten anderen Variablen zeigen recht hohe Werte. Lediglich die schon erwahnte aktive Mitarbeit in Organisationen trennt aufgrund ihrer geringen Varianz nicht sehr gut. Unser eigentliches Erkenntnisziel ist aber die Analyse der Nahe bzw. Feme zur EU-Position. Die Diskriminanzanalyse berechnet fiir jeden Befragten die Werte der beiden Diskriminanzfunktionen. Auf dieser Grundlage lassen sich alle Befragten einer der drei Gruppen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zuordnen. Die Ergebnisse, aggregiert auf Landerebene, finden sich in Tabelle 6.12. In der ersten Spalte wird die Wahrscheinlichkeit aufgefuhrt, dass ein Befragter die Demokratie besonders unterstiitzt. Die zweite Spalte enthalt die Daten fiir eine iiberdurchschnittliche Unterstiitzung der Zivilgesellschaft. Hohe Werte in der letzten Spalte zeigen die Wahrscheinlichkeit an, dass ein Befragter keine der beiden Dimensionen unterstiitzt, d. h. er ist in beiden Aspekten relativ weit von der EU-Position entfemt.^^
25 Es handelt sich hierbei allerdings um relative Messungen im Vergleich zu alien anderen Befragten. Eine hier prognostizierte EU-Ferne bedeutet daher nicht unbedingt eine absolute Ablehnung der EU-Position, sondern lediglich eine (in Bezug auf alle Befragten) unterdurchschnittliche Befiirwortung. Dies ist aber sinnvoll, da sowieso kein absoluter Mafistab fiir eine notwendige Demokratieunterstiitzung existiert (siehe schon Almond und Verba 1963).
246
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im (srweiterten Europa
Tabelle6.12: Nahe und Feme der Lander zur EU-Position
EU-15 Schweden Niederlande Danemark Finnland Osterreich Belgien Deutschland-West Griechenland Luxemburg Irland Deutschland-Ost Italien Frankreich Spanien Portugal
Beitritt I Tschechien Malta Slowenien Slowakei Estland Ungarn Polen Litauen Lettland Beitritt II Bulgarien Rumanien Tiirkei
Wahrscheinlichkeit fiir Nahe zur EU-Position „Demokratie'' 0,35 0,27 0,28 0,43 0,31 0,39 0,34 0,43 0,39 0,32 0,35 0,38 0,37 0,36 0,35 0,29 0,31 0,36 0,37 0,32 0,29 0,31 0,31 0,28 0,28 0,25 0,26 0,31 0,22 0,22
Wahrscheinlichkeit fiir Nahe zur EUPosition „Zivilgesellschaft" 0,26 0,53 0,52 0,32 0,35 0,26 0,27 0,17 0,20 0,27 0,23 0,16 0,17 0,15 0,16 0,15 0,17 0,20 0,15 0,20 0,20 0,15 0,14 0,14 0,13 0,15 0,14 0,15 0,14 0,12
Wahrscheinlichkeit fiir EU-Feme in beiden Dimensionen 0,39 0,19 0,20 0,25 0,34 0,35 0,39 0,40 0,41 0,42 0,42 0,46 0,46 0,49 0,49 0,56 0,52 0,44 0,48 0,49 0,51 0,54 0,54 0,58 0,59 0,60 0,60 0,55 0,65 0,66
Sehen wir uns zunachst die Aggregatebene an. Es zeigt sich ein uns schon bekanntes Bild. Die Unterstiitzung der EU-Position ist in den alten Mitgliedslandern am groiJten und nimmt kontinuierlich iiber die beiden Beitrittsgruppen bis zur Tiirkei ab. Wahrend in der EU-15 knapp 40 % als EU-fern eingestuft werden, sind dies bei den neuen Mitgliedern bereits 52 %, bei der zweiten Beitrittsrunde sogar 60 %. In der Tiirkei schlieClich
6.4 Zusammenfassung
247
imterstutzen % aller Befragten sowohl die Demokratie als auch die Zivilgesellschaft unterdurchschnittlich. Diese Befimde gelten umgekehrt auch fiir die beiden EU-nahen Positionen, wobei insgesamt die Demokratiedimension etwas starker unterstiitzt wird als die Zivilgesellschaft. Die Ergebnisse sind, trotz vorhandener Differenzen innerhalb der Gruppen, auch auf der Landerebene weitgehend stabil. Nur Tschechien und Malta erreichen wenigstens in der Demokratiedimension den EU-15Durchschnitt, und auch Bulgarien und Rumanien liegen jenseits des Durchschnitts der neuen EU-Mitglieder. Die Tiirkei bildet in alien drei Bereichen das Schlusslicht. Eine besonders starke Unterstiitzung findet die EU-Position in den skandinavischen Landern sowie den Niederlanden.
6.4
Zusammenfassung
Wir haben in diesem Kapitel die Einstellungen der Burger mit den Vorstellungen der EU im Politik-Bereich in den beiden Dimensionen „Grundwerte der Demokratie" und „Zivilgesellschaft'' verglichen. Die Europaische Union fuhlt sich den Grundprinzipien der reprasentativen Demokratie verpflichtet und erwartet dies auch von ihren Mitgliedslandern. Die Demokratie als die beste der Staatsformen wird in alien Landern Europas von mehr als 80 % der Bevolkerung unterstiitzt. Fragt man allerdings nach moglichen Alternativen zur Demokratie, so zeigt sich doch in einigen Landern eine Affinitat zu autoritaren Regimen. Vor allem in der Tiirkei und Rumanien, aber auch in Lettland und Litauen finden sich Mehrheiten, die sich mit einem starken Fiihrer, der ohne Parlament und Wahlen regieren kann, anfreunden kdnnen. „Fur die Stabilitat und Funktionsfahigkeit einer Demokratie ist es von ausschlaggebender Bedeutung, ob das demokratische Ordnungsmodell in der Bevolkerung mehr oder weniger unumstritten ist oder ob es mit anderen Ordnungsmodellen konkurriert.'' (Gabriel 1994: 104). Fiir die eben genannten Lander stellt sich daher die Frage, inwieweit die Unterstiitzung fiir autokra-
248
6. Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
tische Regime als ein Anzeichen der Unterstlitzung einer mdglichen Alternative zur Demokratie zu interpretieren ist. Die zweite von ims analysierte Dimension ist die Starke der Zivilgesellschaft. Die EU propagierte vor allem in den letzten Jahren eine verstarkte Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in die Entscheidungsfindung. Verschiedene Studien haben zeigen kdnnen, dass sich eine ausgebaute Zivilgesellschaft, also eine grofie Beteiligimg der Burger an Assoziationen sowie generalisiertes Vertrauen in die Mitmenschen, positiv auf die Demokratie auswirkt (Putnam 1993). Wir haben gesehen, dass die Zivilgesellschaft in den bisherigen Mitgliedslandern am starksten ist und von den Beitrittslandern iiber die Beitrittskandidaten bis zur Ttirkei hin abnimmt. Eine Diskriminanzanalyse unter Einbezug aller Variablen der beiden Dimensionen hat die Ergebnisse bestatigt und bekraftigt. Wir haben in einem dritten Schritt versucht, die Unterschiede in den Einstellungen der Burger zu erklaren. Es zeigt sich, dass vor allem der Modernisierungsgrad einer Gesellschaft einen deutlichen positiven Einfluss auf beide Bereiche hat. Insofern diirften Prozesse der nachholenden Modernisierung, wie sie durch die EU angestrebt und teilweise induziert werden (Delhey 2003a), zu einer Angleichung und starkeren Unterstlitzung der Demokratie auch in den Erweiterungslandern fiihren. Gleichzeitig weisen aber auch kulturelle Faktoren einen Einfluss auf Demokratie und Zivilgesellschaft auf. Auf der einen Seite scheinen die Mitglieder aller Religionsgemeinschaften die Demokratie etwas starker zu unterstiitzen als die Konfessionslosen. Auf der anderen Seite unterstiitzen sie aber - mit Ausnahme der Protestanten - auch autoritare Regime starker. Orthodoxe und vor allem muslimische Traditionen wirken sich dariiber hinaus negativ auf das soziale Kapital aus. Diese kulturellen Traditionslinien diirften sich deutlich langsamer wandeln als mogliche Modernisierungsfaktoren. Insgesam^t werden durch die bereits erfolgten bzw. noch geplanten Erweiterungen der EU die Einstellungen im Politikbereich nicht nur heterogener werden, sie werden auch im geringeren Mal?e der bisherigen EUPosition entsprechen. So ist Oskar Gabriel zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass die bestehenden nationalen Besonderheiten „in der Zukimft
6.4 Zusammenfassung
249
die Geschwindigkeit und die Richhmg des sozio-okonomischen und politischen Integrationsprozesses beeinflussen [werden]. (...) Selbst nach der Einrichtung eines gemeinsamen europaischen Marktes wird der Prozefi der europaischen Integration seine Grenzen in den kulturellen Eigenarten der Mitgliedsstaaten finden.'' (Gabriel 1994: 131). Ob eine Kompensation fehlender Unterstiitzung der Demokratie durch gute Performanz der Politik und okonomische Prosperitat, wie sie etwa in Westdeutschland nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gelang, im europaischen Rahmen moglich ist, bleibt bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage zumindest fraglich.
7. Bilanz und Ausblick
Die Europaische Union wird sich irmerhalb einer kurzen Zeitspanne u m eine Vielzahl an Mitgliedslandern erweitem. Zum 1. Mai 2004 sind zehn Lander dem „Club der 15" beigetreten, Bulgarien und Rumanien werden wahrscheinlich 2007,spatestens 2008 folgen. Im Dezember 2004 hat der Europaische Rat auf der Grundlage einer Empfehlung der Kommission entschieden, dass die Gemeinschaft mit der Tiirkei in Beitrittsverhandlungen einsteigen wird, eine politisch iiberaus umstrittene Entscheidung. Und auch Kroatien und Mazedonien sind mittlerweile zu Beitrittskandidaten geworden. Die meisten der neuen Mitgliedslander der EU unterscheiden sich in einem erheblichen Ausmai? in ihrer okonomischen Leistungsfahigkeit von den bisherigen 15 Mitgliedslandern der EU. Die wissenschaftliche Debatte xiber die Integrationsfahigkeit der EU hat sich entsprechend auf Fragen der okonomischen und politischen Kompatibilitat der neuen Lander mit der EU konzentriert. Chancen und Probleme einer weiteren Integration von Gesellschaften in die EU werden aber nicht nur von okonomischen Unterschieden, sondern auch von den kulturellen Differenzen bestimmt. Derm die Vorstellungen der Burger von einer idealen Gesellschaftsform, von uns hier als die Gesellschaftskultur bezeichnet, bilden eine entscheidende Bezugsgrofie fiir die Stabilitat der Struktur des Institutionengefiiges selbst. Eine erweiterte EU wird langerfristig kein stabiles Institutionengefiige darstellen, wenn dieses nicht mit den Wertevorstellungen ihrer Burger kompatibel ist.i Bei den von uns analysierten Gesellschaften handelt es sich u m Demokratien, in denen die Entscheidungstrager die Werte imd Praferen-
1 Hartmut Kaelble fragt entsprechend, ob „Werte die vierte, kulturelle Saule der gemeinsamen europaischen Zivilisation'" (Kaelble 1998: 319) darstellen.
252
7. Bilanz imd Ausblick
zen ihrer Burger nur bei Strafe ihrer Abwahl vernachlassigen konnen. Diese strukturell verankerte Verkopplung von politischen Entscheidimgen und Entscheidimgstragern mit den Werteorientierungen der Burger verleiht der Kultur ihre Wirkungsmachtigkeit. Die in vielen der Mitgliedslander der EU jiingst gefiihrte Debatte liber die kulturelle Passung der Tiirkei in die EU ist ein Beispiel dafiir, wie Wertedifferenzen politisiert werden kdnnen.
7,1 Zusammenfassung der Ergebnisse Wir haben unsere Analyse der unterschiedlichen Vorstellungen der Burger in den Alt-Mitgliedslandern und den Beitrittslandern der EU beziiglich einer idealen Organisationsform der Gesellschaft durch drei Forschungsfragen strukturiert. Wir bilanzieren die Befunde entlang dieser Problemstellungen: 1. Eine Antwort auf die Frage, ob die Beitrittslander zu den Mitgliedslandern der EU passen oder nicht, setzt die Definition eines Bezugspunktes voraus, an dem gemessen man dariiber entscheiden kann, inwieweit die Lander zu Europa passen oder nicht. Das kulturelle Selbstverstandnis der EU bildet fiir uns den Bezugspunkt zur Beurteilung einer kulturellen Passung der Beitrittslander zur EU. Die Union versteht sich ganz explizit als Wertegemeinschaft, und wir haben in einem ersten Schritt die Werteordnung der EU, ihr Skript von einer gewiinschten Gesellschaft, aus dem Recht der EU, vor allem aus dem Verfassungsentwurf rekonstruiert. Die Bezugnahme auf das Recht scheint uns deswegen ein plausibler Referenzpunkt zu sein, well die dort festgelegten Werte diejenigen sind, die im hohen Mafie demokratisch legitimiert sind, insofern die das Recht von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt und ratifiziert wurde, und diese ja alle aus demokratischen Wahlen hervorgegangen sind. Die normative Frage nach der kulturellen Identitat der EU haben wir damit empirisch gewendet; die fiir die Union konstitutiven Werte haben wir nicht selbst definiert, sondern, so hoffen wir, plausibel aus dem Recht abgeleitet. Bei der Rekonstruktion der Werteordnung der
7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
253
EU haben wir verschiedene Wertspharen - Religion, Familie, Okonomie, Wohlfahrtsstaat iind Politik - unterschieden imd jeweils bestimmt, welche Vorstellungen die Union im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Religion: Die EU versteht sich als eine sakulare Wertegemeinschaft, die keinen konkreten Religionsbezug aufweist, zugleich die Religionsfreiheit des Individuums und von Religionsgemeinschaften schiitzt, aber auch die Grenzen einer jeden Religionsgemeinschaft durch die Prinzipien Toleranz und Nicht-Diskriminierung klar definiert. Die Union weist der Religion ihren ausdifferenzierten Platz in der Gesellschaft zu und schiitzt diesen; sie versteht sich selbst aber als einen sakularen Verband von Gesellschaften, der die Trennung von Politik, Gesellschaft und Religion institutionalisiert hat. Die EU bindet sich an keiner Stelle an eine bestimmte Religion, z. B. an das Christentum. Familie und GeschlechtsroUen: Familienpolitik der EU meint vor allem Gleichstellungspolitik im Erwerbsleben fiir Manner und Frauen. Diese sieht die EU nur realisierbar, wenn die Infrastruktur der aui?erfamiliaren Kindererziehung entwickelt ist und die traditionelle innerfamiliare Aufgabenteilung zwischen Mannern und Frauen aufgehoben wird. Mit dieser Politikorientierung unterstiitzt die EU das Leitbild einer egalitaren Beziehung zwischen Mann und Frau, das Bild einer berufstatigen Frau und die Vorstellung einer zumindest partiellen Sozialisation der Kinder in auiSerfamiliaren Einrichtungen. Wirtschaft: Die EU verfolgt mit ihren Wirtschaftsvorstellungen vor allem ein zentrales Ziel. Sie mdchte die okonomische Wohlfahrt aller Burger der Mitgliedslander verbessern. Diese Zielbestimmung sieht die EU am besten realisierbar, wenn zum einen bestimmte Wirtschaftsordnungsvorstellungen implementiert werden und zum anderen die Burger mit bestimmten Handlungsorientierungen ausgerlistet sind, um als Wirtschaftssubjekte an der Wirtschaft zu partizipieren. Wettbewerbsorientierung, Marktoffenheit und eine eher passive RoUe des Staates bilden die zentralen Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU; die Forderimg einer Leistimgsorientierung und eines generalisierten Vertrauens bilden die
254
7. Bilanz und Ausblick
Elemente des Wirtschaftskripts, die sich auf die Handlungsorientierung der Burger beziehen. Wohlfahrtsstaat: Trotz der ausufernden Rhetorik iiber ein Europaisches Sozialmodell spricht sich die EU im Kern fiir ein Minimalmodell eines Wohlfahrtsstaates aus, das die Menschen vor den Grixndrisiken schiitzt, die durch einen Wegfall der Erwerbstatigkeit entstehen konnen: Krankheit, Behinderung, Mutterschaft, Alter und Arbeitslosigkeit. Weitergehende Vorstellungen eines europaischen Wohlfahrtsstaates, zumindest in einer rechtsverbindlichen Form, gibt es nicht. Staatsform: Die Union versteht sich als ein Verband demokratischer Staaten und bezeichnet ihre eigene Institutionenordnung als eine demokratische Ordnung. Unter Demokratie versteht die EU vor allem reprasentative Demokratie, mit den flir diesen Typus konstitutiven Elementen; sie komplementiert dieses Grundverstandnis u m Elemente einer partizipatorischen Demokratie, indem sie den Einschluss und die Forderung der Zivilgesellschaft betont, damit aus Demokratien gelebte Demokratien werden. Bei dem aus dem EU-Recht rekonstruierten Gesellschaftsskript handelt es sich allerdings nicht um einen Wertekanon, der ausschliefilich flir Europa konstitutiv ist. Auch wenn viele der Vorstellungen okzidentalen Ursprungs sind, so handelt es sich doch um Werte, die in der Gegenwart nicht nur Geltung fiir die Europaische Union, sondern zum Teil eine imiversalistische Geltung beanspruchen: Religionsfreiheit und religiose Toleranz, Demokratie, Gleichheit und Emanzipation der Frauen, Wirtschaftswachstum und Markwirtschaft sind Werte, die nicht nur in den Vertragstexten der Union, sondern zum Teil auch in denen der Vereinten Nationen festgeschrieben sind. Sie entsprechen weitgehend dem, was John Meyer in vielen Arbeiten als das Skript der Weltgesellschaft beschrieben hat (vgl. zusammenfassend Meyer, Boli, Thomas und Ramirez 1997). Eine allein fiir Europa konstitutive Identitat lasst sich iiber diesen Wertekanon nicht bestimmen, wie Yasemin Soysal (2003) herausarbeitet hat. 2. Wir haben in einem zweiten Schritt gepriift, ob die Gesellschaftsvorstellungen der EU von den Biirgern der Mitgliedslander und den
7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
255
Biirgern der Beitrittslander unterstiitzt werden oder ob es zwischen ihnen signifikante Unterschiede gibt. Wir haben dies fiir jeden der Wertebereiche getan. Die folgenden Grafiken fassen die Befiinde getrennt nach verschiedenen Wertebereichen zusammen. Wir haben dazu die Auspragungen der in den Kapiteln naher erlauterten Diskriminanzfunktionen fiir die verschiedenen Wertebereiche grafisch abgetragen. Diese Informationen liegen fiir die Bereiche Religion, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Demokratie vor.^ Die im Wirtschaftskapitel durchgefiihrte Trennung zwischen einer Leistungs- und erner Offniingsdimension wird auch hier beibehalten. In den Bereichen, in denen wir aus verschiedenen Griinden keine Diskriminanzanalyse gerechnet haben (Familie/Partnerschaft und Wohlfahrtsstaat), verwenden wir als Gesamtmai? der Ubereinstimmung mit der EU-Position die Ergebnisse einer Faktorenanalyse.^ Da sowohl die Diskriminanzfunktionen als auch die Faktorwerte so bestimmt werden, dass sie iiber alle Befragten hinweg einen Mittelwert von 0 und eine Varianz von 1 aufweisen, sind die Daten, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen generiert, zumindest grob miteinander vergleichbar.^ Es handelt sich dabei u m eine relative Messung: Ein Wert von 0 bedeutet eine durchschnittliche Unterstiitzung fiir die EU-Position, positive Werte eine iiber-, negative Werte eine unterdurchschnittliche Unterstiitzung.
2 Im Bereich der Familie fehlt eine Variable fiir die Tiirkei, im Bereich der Demokratie/ Zivilgesellschaft eine fiir Grofibritannien. Die Lander sind daher in den entsprechenden Bereichen nicht beriicksichtigt. Die Tiirkei liegt bei den vorhandenen Daten im Bereich der Familie aber deutlich an letzter Stelle, Grofibritannien bei Demokratie/Zivilgesellschaft im Mittelfeld. 3 Wir haben in den entsprechenden Kapiteln genauer ausgefiihrt, weshalb eine Diskriminanzanalyse nicht sinnvoU ist. Der Faktor fiir den Familienbereich erklart 63 % der Gesamtvarianz, derjenige fiir den Wohlfahrtsbereich 74 %. 4 Beide Verfahren gewichten die eingehenden Variablen, allerdings nach einem unterschiedlichen Ansatz. In die Faktorwerte gehen die Variablen aufgrund ihrer „Passfahigkeit'' im Hinblick auf eine gemeinsame Komponente unterschiedlich stark ein. Bei der Diskriminanzanalyse gehen die Variablen aufgrund ihrer „Trennfahigkeit'' zwischen den Benchmark-Countries und den restlichen Landern verschieden stark ein.
256ȱ ȱ Grafikȱ7.1:ȱ
7.ȱBilanzȱundȱAusblickȱ Gesamtwerteȱ derȱ Länderȱ fürȱ dieȱ Bereicheȱ Religionȱ und Familie/Partnerschaftȱ
Familieȱ/ȱPartnerschaft
Religion EUȬ15ȱȱȱȱȱȱȱȱ BeitrittȱIȱȱȱȱȱȱȱ BeitrittȱIIȱȱȱȱȱȱ Türkeiȱȱȱȱȱȱȱȱ Dänemarkȱȱȱȱ S c hwedenȱȱȱȱ Ostdtl.ȱȱȱȱȱȱȱȱ Frankreic hȱȱȱȱ Niederlandeȱȱȱ Belgienȱȱȱȱȱȱȱ Großbritannien Luxemburgȱȱȱ Westdtl.ȱȱȱȱȱȱ Finnlandȱȱȱȱȱȱ S panienȱȱȱȱȱȱȱ Österreic hȱȱȱȱ Italienȱȱȱȱȱȱȱȱ Portugalȱȱȱȱȱȱ Irlandȱȱȱȱȱȱȱȱȱ Griec henlandȱȱ Tsc hec hienȱȱȱ S lowenienȱȱȱȱ Estlandȱȱȱȱȱȱȱ Ungarnȱȱȱȱȱȱȱ Lettlandȱȱȱȱȱȱ S lowakeiȱȱȱȱȱ Polenȱȱȱȱȱȱȱȱ Litauenȱȱȱȱȱȱ Maltaȱȱȱȱȱȱȱȱ Bulgarienȱȱȱȱ Rumänienȱȱȱȱ Türkeiȱȱȱȱȱȱȱ
Ȭ1,5 Ȭ1,0 Ȭ0,5 0,0 0,5 1,0 1,5
Ȭ1,5 Ȭ1 Ȭ0,5 0
0,5
1
1,5
ȱ VergleichtȱmanȱdieȱzuȱAggregatskategorienȱzusammengefasstenȱLänderȬ gruppenȱbezüglichȱderȱverschiedenenȱWertebereicheȱmiteinanderȱ(Grafikȱ
7.1 Zusammenfassiing der Ergebnisse
257
7.1 bis 7.3), so zeigt sich im Hinblick auf Religion, Familie/Geschlechterrollen, Demokratie, Zivilgesellschaft und einer Teildimension der Wirtschaftsvorstellungen (Akzeptanz einer Marktoffnung mit wenig Staatsintervention) ein klares Muster: Die Vorstellungen der EU von einer idealen Gesellschaftsordnung finden die hdchste Unterstiitzung in den fiinfzehn Kernlandern der EU, etwas weniger Unterstiitzung in den zehn neuen Beitrittslandern, noch geringere Unterstiitzung in den beiden Beitrittslandern Bulgarien und vor allem Rumanien, und am wenigsten in der Tiirkei. Mit der schrittweisen Erweiterung der EU wird sich das Wertgefiige innerhalb der EU insgesamt verschieben und zwar in der Weise, dass das Skript der EU immer weniger Unterstiitzung erfahren wird. Anders sehen die Ergebnisse im Hinblick auf die zweite Teildimension des Wirtschaftsskripts - die Leistungsorientierung - und die Wohlfahrtsstaatsvorstellungen aus. Die Varianz zwischen den Landern beziiglich der Wohlfahrtsstaatsvorstellungen ist aber insgesamt sehr gering. Die EU spricht sich allein fiir ein Grundmodell von Wohlfahrtsstaat aus. Die Biirger unterstiitzen praktisch konsensuell in alien Landern dieses Grundmodell wohlfahrtsstaatlicher Absicherung. Die meisten Burger fordern aber dariiber hinaus ein sozialdemokratisches oder sogar ein sozialistisches Modell von Wohlfahrtsstaat, wie der Vergleich mit Daten aus anderen Umfragen im Wohlfahrtskapitel gezeigt hat. Entsprechend findet sich die starkste Unterstiitzung fiir den Wohlfahrtsstaat in der Tiirkei und den beiden Beitrittskandidaten, in den EU-Landern ist die Unterstiitzungsrate dagegen eher unterdurchschnittlich.
258ȱ ȱ
7.ȱBilanzȱundȱAusblickȱ
Grafikȱ7.2:ȱ
Gesamtwerteȱ derȱ Länderȱ fürȱ dieȱ Bereicheȱ Wirtschaftȱ undȱ Wohlfahrtȱȱ Wirtschaft
Wohlfahrt
Leist ung s- ( hell) und Öf f nung sd imensio n ( d unkel)
EUȬ15ȱȱȱȱȱȱȱȱ BeitrittȱIȱȱȱȱȱȱȱ BeitrittȱIIȱȱȱȱȱȱ Türkeiȱȱȱȱȱȱȱȱ Schwedenȱȱȱȱȱ Dänemarkȱȱȱȱȱ Niederlandeȱȱȱ Finnlandȱȱȱȱȱȱ Luxemburgȱȱȱȱ Großbritannien Belgienȱȱȱȱȱȱȱ Westdtl.ȱȱȱȱȱȱ Spanienȱȱȱȱȱȱȱ Österreichȱȱȱȱ Irlandȱȱȱȱȱȱȱȱȱ Frankreichȱȱȱȱȱ Ostdtl.ȱȱȱȱȱȱȱȱȱ Italienȱȱȱȱȱȱȱȱ Portugalȱȱȱȱȱȱ Griechenlandȱȱ Estlandȱȱȱȱȱȱȱȱ Slowenienȱȱȱȱȱ Tschechienȱȱȱȱ Maltaȱȱȱȱȱȱȱȱȱ Lettlandȱȱȱȱȱȱȱ Litauenȱȱȱȱȱȱȱ Ungarnȱȱȱȱȱȱȱȱ S lowakeiȱȱȱȱȱȱ Polenȱȱȱȱȱȱȱȱȱ Rumänienȱȱȱȱȱ Bulgarienȱȱȱȱȱ Türkeiȱȱȱȱȱȱȱȱ Ȭ1,5 Ȭ1,0 Ȭ0,5 0,0 0,5 1,0 1,5
ȱ
Ȭ1,5 Ȭ1,0 Ȭ0,5 0,0
0,5
1,0
1,5
7.1ȱZusammenfassungȱderȱErgebnisseȱ Grafikȱ7.3:ȱ
259ȱ
Gesamtwerteȱ derȱ Länderȱ fürȱ dieȱ Bereicheȱ Demokratieȱ undȱ Zivilgesellschaftȱȱ
Zivilgesellschaft
Demokratie EUȬ15ȱȱȱȱȱȱȱȱ BeitrittȱIȱȱȱȱȱȱ BeitrittȱIIȱȱȱȱȱ Türkeiȱȱȱȱȱȱȱȱ Dänemarkȱȱȱȱ Westdtl.ȱȱȱȱȱȱ Österreic hȱȱȱȱ Griec henland Niederlandeȱȱ S c hwedenȱȱȱȱ Ostdtl.ȱȱȱȱȱȱȱȱ Italienȱȱȱȱȱȱȱȱ Frankreic hȱȱȱȱ Belg ienȱȱȱȱȱȱ Irlandȱȱȱȱȱȱȱȱȱ S panienȱȱȱȱȱȱȱ Luxemburg ȱȱȱ Finnlandȱȱȱȱȱȱ Po rtug alȱȱȱȱȱȱ M altaȱȱȱȱȱȱȱȱ Tsc hec hienȱȱ S lo wenienȱȱȱȱ Ung arnȱȱȱȱȱȱ Estlandȱȱȱȱȱȱ S lo wakeiȱȱȱȱȱ Litauenȱȱȱȱȱȱ Po lenȱȱȱȱȱȱȱȱ Lettlandȱȱȱȱȱȱ Bulg arienȱȱȱȱ Rumänienȱȱȱȱ Türkeiȱȱȱȱȱȱȱ Ȭ1,5 Ȭ1,0 Ȭ0,5 0,0 0,5 1,0 1,5
Ȭ1,5 Ȭ1,0 Ȭ0,5 0,0 0,5 1,0 1,5
260
7. Bilanz und Ausblick
Abweichend vom Gesamtbild der kulturellen Verfasstheit der erweiterten EU sind allein die Werte beziiglich der Leistungsdimension des Wirtschaftsskripts.^ Die Burger der alten EU-15 weisen unterdurchschnittliche Leistungsmotivationen auf und iinterstiitzen damit die Erwartungen der EU weniger als die Burger der ersten Beitrittsrunde, der Tiirkei und vor allem der zweiten Beitrittsrunde. Mit der Erweiterung der EU wird sich in dieser Dimension die Unterstiitzung fiir die Wirtschaftsvorstellungen der EU erhohen, was vermutlich einen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum in diesen Landern haben wird. Man kann nun versuchen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Landern fiir alle Wertebereiche zugleich zu bestimmen. Es gibt zwei Moglichkeiten, ein solches Mai3, welches die Nahe der Lander zu dem EU-Skript insgesamt beriicksichtigt, zu entwickeln. Zum einen kann man die Rangplatze, die die Lander beziiglich der Nahe zum EUSkript fiir alle sechs Wertebereiche einnehmen, addieren imd jeweils den Mittelwert bestimmen. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, dass die Abstande zwischen den Landern als gleich gewichtet werden, auch wenn die faktischen Unterschiede sehr gering sind. So werden geringe Abstande iiber- und grol?e Abstande unterschatzt. Ein besseres Verfahren besteht daher in der Beriicksichtigung der Werte der Diskriminanzfunktionen bzw. der Faktorwerte, wie wir sie oben erlautert und in den Grafiken prasentiert haben. Diese Daten liegen fiir jeden Befragten vor und differenzieren zwischen groi?en und kleinen Abstanden. Wir bilden den Mittelwert aus alien sechs Bereichen, wobei alle Bereiche gleichberechtigt in die Berechnung eingehen.^ Die folgende Grafik zeigt die Werte fiir alle Lander. 5 Wie man aus der Grafik erkennt, korrelieren Offnungsdimension und Leistungsdimension der Wirtschaft negativ miteinander. Man konnte zunachst vermuten, dass dies ein Artefakt der gemeinsamen Diskriminanzanalyse ist. Wie man aber in den Bereichen Demokratie und Zivilgesellschaft sieht, ist durchaus auch ein positiver Zusammenhang der Diskriminanzfunktionen einer gemeinsamen Analyse moglich. ^ Wir beriicksichtigen alle Falle, die fiir mindestens fiinf der sechs Bereiche Daten vorliegen haben. Dies hat den Vorteil, dass auch Befragte aus der Tiirkei, fiir die Daten in einem Bereich fehlen, beriicksichtigt werden konnen. Die beiden Dimensionen der Wirtschaft gehen nur mit halbem Gewicht ein.
7.1ȱZusammenfassungȱderȱErgebnisseȱ Grafikȱ7.4:ȱȱ
261ȱ
NäheȱundȱDistanzȱderȱLänderȱzurȱEUȬPositionȱinsgesamtȱ
EUȬ15 BeitrittȱI BeitrittȱII Türkei Dänemark Schweden Niederlande Österreich Belgien Ostdtl. Finnland Luxemburg Frankreich Westdtl. Spanien Irland Großbritannien Italien Griechenland Portugal Tschechien Slowenien Estland Slowakei Ungarn Malta Litauen Polen Lettland Bulgarien Rumänien Türkei Ȭ1,5
Ȭ1,0
Ȭ0,5
0,0
0,5
1,0
1,5
ȱ ȱ DasȱMuster,ȱdasȱsichȱschonȱbeiȱderȱAnalyseȱeinigerȱderȱWertsphärenȱgeȬ zeigtȱhat,ȱistȱauchȱinȱderȱGesamtschauȱdeutlichȱzuȱerkennen.ȱDieȱEUȬ15Ȭ Länderȱ unterstützenȱ alsȱ einzigeȱ imȱ Aggregatȱ dieȱ EUȬVorstellungenȱ inȱ ihrerȱGesamtheit.ȱUnterdurchschnittlichȱfälltȱdieȱUnterstützungȱdagegenȱ
262
7. Bilanz und Ausblick
in alien Beitrittslandern aus. Dies gilt besonders fiir die Beitrittskandidaten und am starksten fiir die Tiirkei. Das Ergebnis hat auch - mit leichten Uberschneidungen zwischen den Gruppen - auf der Landerebene Bestand. Von den alten Mitgliedslandern findet das EU-Skript die starkste Unterstiitzung bei den protestantisch gepragten skandinavischen Landern und den Niederlanden. Die sudlichen Lander Spanien, Italien, Griechenland und Portugal weisen dagegen unterdurchschnittliche Werte auf. Von den neuen EU-Landern wird das Skript nur von Tschechien unterstiitzt, mit Einschrankung auch von Slowenien. Diese Lander galten im Erweiterungsprozess ohnehin schon als Vorreiter. Lettland, Malta und Polen weisen dagegen die niedrigsten Werte in dieser Gruppe auf. Zwischen den Beitrittskandidaten gibt es relativ grofie Differenzen. Wahrend Bulgarien immerhin auf dem Niveau der letzten EU-15-Lander liegt, unterstiitzt Rumanien zusamimen mit der Tiirkei die EU-Vorstellungen von alien Staaten am geringsten. Der „missmatch" zwischen dem Skript der EU und den Werteorientierungen der Biirger ist hier am starksten. Ob die EU sich mit der Erweiterung kulturell iiberdehnt, hangt entscheidend davon ab, in welchem Ma6e und in welcher Zeit sich die Werte der Biirger in diesen Landern den Werteorientierungen der anderen Lander anpassen werden. Dies leitet zur Frage der Ursachen iiber. 3. Wir haben in einem dritten Schritt versucht, die Ursachen fiir die kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede empirisch zu bestimmen. Dabei haben wir die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir verschiedene soziale Bedingungskonstellationen begriffen, die in den jeweiligen Gesellschaften existent sind und die einen Einfluss auf die Wertevorstellungen haben konnen. Je nach Wertebereich haben wir mit unterschiedlichen erklarenden Faktoren gearbeitet, insgesamt ergeben sich aber drei grofie Variablenkomplexe, die bei vielen Erklarungen eine Rolle spielen Die Lander unterscheiden sich erstens im Grad ihrer okonomischen Modernisierung und dem damit verbundenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstand und dem Niveau der erreichten Bildung. Beide Faktoren haben einen Einfluss auf die Werteorientierung der Biirger. Wir ha-
7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse
263
ben fiir alle Wertebereiche versucht, Hypothesen zu formulieren, warum der Modernisierungsgrad einen Einfluss auf die jeweilige Wertsphare hat. Die jeweilige Hypothese sollte den kausalen Zusammenhang zwischen dem Modernisierungsgrad eines Landes und der Werteorientierung der Burger explizieren. Zweitens haben die verschiedenen Religionsgemeinschaften, die es in der EU und den Beitrittslandern gibt, eigenstandige Perspektiven im Hinblick auf eine ideale Gesellschaft entwickelt. Wir haben diese in die Religionen eingelassenen Vorstellungen fiir die verschiedenen Wertebereiche rekonstruiert und dann gepriift, ob diese Auswirkungen auf die Werteorientierungen der Burger haben oder nicht. Schliefilich gehen wir drittens davon aus, dass die politischinstitutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteinstellungen der Burger hat. Auch diese Grofie kann man nicht abstrakt bestimmen; wir haben versucht, fiir die verschiedenen Wertebereiche zu spezifizieren, in welchem Mafie bestimmte Merkmale eines politischen Regimes die Werteorientierung der Biirger beeinflussen. Mit der Klassifikation der Lander entlang dieser drei recht groben Makrokategorien werden wir in keiner Weise den besonderen historischen Entwicklungen einzelner Lander gerecht. Historisch argumentierende, komparative Sozialwissenschaftler haben die Pfadabhangigkeit der Entwicklung einzelner Lander herausgearbeitet und sich gegeniiber einer Analyse, die Lander in Variablenkomplexe auflost, verwahrt, well ein solches Vorgehen den Besonderheiten der Lander gerade nicht gerecht wird. Wir stimmen dieser Kritik im Grundsatz zu, glauben aber, dass die beiden Verfahrensweisen miteinander kompatibel sind. Systematische Analysen konnen helfen, die Grobstruktur und die augenfalligen Unterschiede zwischen Landern imd Kulturen herauszuarbeiten. Dies ersetzt aber in keiner Weise, auf einer tiefer ansetzenden Analyseebene die historisch entstandenen besonderen Arrangements herauszuarbeiten. Wir haben in unseren Analysen die pfadabhangigen Entwicklungswege der einzelnen Gesellschaften ignoriert. Entsprechend beschrankt ist auch die Aussagekraft unserer Befunde.
7. Bilanz imd Ausblick
264
Trotz der Beschranktheit der Analysetiefe konnen wir mit den drei Makrofaktoren aber recht gut die Werteorientieriing der Burger erklaren. Die folgende Tabelle gibt die Befunde im Hinblick auf verschiedene Wertebereiche wieder7 Tabelle 7.1:
Erklarung der sechs analysierten Regressionsanalysen Religion Familie
Modemisierung ,217 ,131 HDI Bildung ,272 ,129 Religion ^) Protestanten -,108 ,025 Katholiken -,214 -,106 -,187 -,064 Orthodoxe ,067 Muslime -,235 -,437 Integration in -,079 die Kirche Politisch-institutionelles Umf eld GEM ,124 Staatsintervention Staatsquote Sozialstaatsquote Sozialist. Erbe Jahre in Demok. R2 ,506 ,171
Wertedimensionen:
Wohlfahrt Wirtschaft Leistung Offenheit
Demokratie
Zivilgesellsch.
-,281 ,101
,267 ,216
,163 -,009+
,384 ,181
,046 ,165
-,007+ ,020'*,020'^ -,043 -,030
,105 -,117 -,037 ,096 ,008+
,040 ,020'^ ,094 ,108 ,123
,046 -,010+ ,015'^ ,021 -,011+
,134 -,091 -,022 ,007+ ,104
-,037
-,073
,126
-,078 -,115 ,118
,099 ,360 ,190
-,234
,140
,187
,067
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant C*" = signifikant auf 5 %-Niveau, + = nicht signifikant). ^) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose".
7 Wie schon erwahnt, besitzen die Tiirkei fiir den Familienbereich, Grofibritannien fiir die Bereiche Zivilgesellschaft und Demokratie keine Daten und werden in den entsprechenden Regressionen nicht beriicksichtigt. Dies hat im Familienbereich insofern relevante Auswirkungen, da die Mehrheit aller Muslime unserer Stichprobe in der Tiirkei wohnen.
7.1 Zusammenfassiing der Ergebnisse
265
Fur nahezu alle Bereiche gilt, dass ein hoher Modernisierungsgrad, gemessen durch den Human Development Index und die Bildung der Befragten, einen positiven Einfluss auf die Unterstiitzung der EUPosition hat. Fiir alle Bereiche gilt weiterhin, dass die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft einen signifikanten Einfluss auf die Werteeinstellungen hat, wobei der Protestantismus meist einen positiven Einfluss hat. Die Effekte der anderen Konfessionen sind dagegen meist negativ oder ambivalent. Vor allem aber hat sich gezeigt, dass der Grad der Integration in die Kirche oft eine zentralere Rolle spielt als die einzelnen Konfessionen. Wir haben auch hier versucht, die Werteunterschiede fiir alle Wertspharen zugleich zu erklaren. AUerdings lassen sich aufgrund der etwas grofieren Unspezifiziertheit der abhangigen Variable „generelle Unterstiitzung der EU-Wertvorstellungen" keine dezidierten Hypothesen ableiten, wie wir es beziiglich der einzelnen Wertspharen versucht haben. Zudem konnen wir den Effekt des politischen Regimes auf die Werteeinstellungen nicht beriicksichtigen, well diese Variable je nach Wertebereich ja etwas anderes bedeutet (im Fall der Religion z. B. die institutionelle Trennung zwischen Staat und Kirche, im Falle der Familie die politische Unterstiitzung des Doppelverdienermodells). Wir konnen also nur priifen, inwieweit die Modernisierung und die religiose Pragung die generellen Einstellungen zum EU-Skript erklaren.
266
7. Bilanz imd Ausblick
Tabelle7.2: Erklarimg der generellen Unterstiitzung des EU-Skripts: Regressionsanalyse „Generelle Unterstiitzung des EU-Skripts" HDI Bildung Religion a) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Integration in die Kirche R2
,321 ,298 ,082 -,147 -,089 -,021 -,093 0,282
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; sie sind durchgehend auf dem 1 %-Niveau signifikant. ^) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose".
Obwohl wir in dem Modell weniger erklarende Variablen verwendet haben als bei der Erklarimg der Einstellungen zu den einzelnen Wertspharen, ist die Aufklarung der Varianz mit iiber 28 % sehr gut imd deutlich hoher als bei der Ursachenanalyse der Einzeleinstellungen. Dieser Unterschied ist sicherlich auf die AUgemeinheit der abhangigen Variable zuriickzufuhren. Wahrend es innerhalb der Bereiche aufgrimd von spezifischen kulturellen Traditionen in den Landern imd einem imterschiedlichem Verstandnis der Begrifflichkeiten der Frageformulierung Verzerrimgen imd Messfehler geben kann, gleichen sich diese anscheinend liber alle Bereiche hinweg aus. Die Gesamtbilanz bestatigt und bekraftigt die Einzelbefunde; die Werteeinstellimgen der Burger lassen sich vor allem durch den Grad der Modernisierung erklaren. Die beiden Modernisierimgsindikatoren haben den mit Abstand grofiten Einfluss auf die Unterstiitzung der Werte der EU. Je hoher modernisiert ein Land ist, und je gebildeter seine Burger sind, umso starker werden die EU-Vorstellimgen unterstiitzt. Aber auch die religi5sen Traditionsbestande sind nicht zu vernachlassigen. Wahrend eine protestantische Orientierung einen leicht positiven Einfluss auf
7.2 Politische Implikationen der Befunde
267
die Unterstiitzimg des EU-Skripts hat, gilt flir die drei anderen Konfessionen imd flir den Grad der Integration in die jeweilige Kirche das Gegenteil. Sie fiihren eher zu einer Ablehnung der Werteordnung der EU. Die von Samuel Huntington angenommene kulturelle Scheidelinie zwischen protestantischer und katholischer Religion einerseits, orthodoxem und moslemischem Glauben andererseits, wird durch unsere Analysen nicht gestiitzt. Die Tatsache, dass die Tiirkei und auch die dominant orthodox-christlichen Lander der zweiten Beitrittsrunde in geringerem Mafie die Werteordnung der EU unterstlitzen, hat weniger mit der inhaltlichen Orientierung der dort dominanten Religionssysteme zu tun, sondern ist bestimmt durch den Grad der Modernisierung einerseits und die Starke der Integration der Burger in die Kirche andererseits. Da in diesen Landern vor allem der Modernisierungsgrad gering ist, ist auch die Ubereinstimmung mit den Werten der EU geringer als in den anderen Landern.s Was dieser Befund z. B. fiir die Frage der Aufnahme der Tiirkei in die EU bedeutet, werden wir im nachsten Abschnitt diskutieren. Unsere Befunde starken empirisch die schon so haufig als veraltet etikettierte und heftig kritisierte Modernisierungstheorie (vgl. z. B. jiingst Knobl 2001). Eine theoretische Kritik einer Theorie lauft aber etwas ins Leere, solange eine Theorie empirisch erklarungskraftig ist und nicht durch bessere Erklarungen ersetzt werden kann; dann gibt es auch wenig Veranlassung, auf sie in der Forschung zu verzichten.
7.2 Politische Implikationen der Befunde Die Erweiterung der EU ist politisch umstritten. Vor allem die Frage, ob die Union Beitrittsverhandlungen mit der Tiirkei aufnehmen soil, war und wird in den EU-Landern iiberaus kontrovers diskutiert. Seit 1963 hat die Tiirkei den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen EWG und klopft seitdem an die Tiir der Europaischen Union an imd bittet um 8 Zusatzlich lasst sich liber die zumindest fiir Europa immer noch giiltige Erkenntnis, dass Modernisierung langfristig auch zu einer Sakularisierung fiihrt, von einem weiteren indirekten positiven Effekt der Modernisierung ausgehen.
268
7. Bilanz iind Ausblick
Mitgliedschaft. Der Europaische Rat hat im Dezember 2004 auf der Grundlage einer Priifung und Empfehlung der Kommission entschieden, dass die Gemeinschaft mit der Tiirkei in die Beitrittsverhandlimgen einsteigen wird. Dieser Beschluss ist von hitzigen Debatten in den Mitgliedslandern begleitet gewesen. Man kann vermuten, dass diese Diskussionen auch wahrend der Verhandlungen mit der Tiirkei anhalten werden. Im Zentrum der politischen Debatte liber eine EU-Mitgliedschaft der Tiirkei stehen dabei nicht so sehr die okonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Tiirkei, sondern mogliche kulturelle Differenzen. Kritiker eines Beitritts der Tiirkei machen geltend, dass sich die jetzigen Mitglieder der EU und die Tiirkei aufgrund einer ganz anderen Geschichte, unterschiedlicher geisteshistorischer Traditionen, vor allem aber aufgrund einer anderen Religionsorientierung fundamental voneinander unterscheiden und insofern keine hinreichenden kulturellen Gemeinsamkeiten aufweisen, um sich in einem gemeinsamen Verband zusammenzuschliei?en. Einige der Befiirworter eines Beitritts der Tiirkei bezweifeln, dass die kulturellen Unterschiede zwischen der Tiirkei und Europa fundamentaler Natur sind; andere versprechen sich von der Mitgliedschaft der Tiirkei in der EU eine forcierte Anpassung der Tiirkei an die sogenannten westlichen Werte; wiederum andere betonen die Bereicherung, die mit einer kulturellen Heterogenitat verbunden sein kann (vgl. die Beitrage in Leggewie 2004). Unsere Analysen konnen helfen, die Debatte zu versachlichen, indem man sie auf empirische Fiifie stellt. Wir haben gesehen, dass die von der Europaischen Union als wichtig erachteten Werte eine hohe Akzeptanz bei den Biirgern der alten und neuen Mitgliedslander der EU finden; sie erhalten eine geringere Unterstiitzung von den Biirgern der beiden Lander der nachsten Beitrittsrimde, besonders von den Rumanen. Vor allem aber hat sich gezeigt, dass die Tiirkei in vielen Wertebereichen von den Wunschvorstellungen der EU abweicht. Insofern kann man behaupten, dass die Tiirkei kulturell nicht zur EU passt. Der kulturelle Unterschied zwischen der Tiirkei und den anderen Landern fallt zudem deswegen so schwer ins Gewicht, well die Tiirkei heute etn recht bevolkerungsreiches Land ist und aufgrund der hoheren Geburtenziffern wahr-
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scheinlich das bevolkerungsreichste Land einer dann erweiterten EU ware. Allerdings muss man bedenken, dass wir mit unseren Analysen nur eine Momentaufnahme der kulturellen Verfasstheit der Lander anfertigen konnten. Die Werteorientierungen der Burger sind insofern keine statische Grofie, als sie sich wandeln konnen. Gerade die Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg ist ein gutes Beispiel dafiir, wie sich die Werteorientierungen der Burger an die von oben und aufien oktroyierte demokratische Ordnung anpassen konnen. Es lohnt sich, die Entwicklung der Bundesrepublik etwas genauer anzuschauen, um dann auf die „Turkeifrage" zuriickzukommen.^ Deutschland war bis 1949 ein Land mit einer schwachen demokratischen Tradition und einer nur kurzen Erfahrung mit einem demokratischen Regime. Die Implementierung der Demokratie mit der Griindung der Bundesrepublik 1949 ist nicht auf eine endogene, demokratische Entwicklung der Bundesrepublik zuriickzufuhren, sondern geht bekanntlich zuriick auf die Niederlage im Zweiten Weltkrieg, den Zusammenbruch des Nationalsozialismus, die Besetzung Deutschlands durch die Siegermachte und die Implementierung von Marktwirtschaft und reprasentativer Demokratie durch die Westmachte in den westlichen Besatzungszonen. Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1963) haben in ihrer vielzitierten Studie die demokratischen Einstellungen der Burger in fiinf verschiedenen Landern in den 50er Jahren rekonstruiert, u. a. auch in der Bundesrepublik. Die Autoren entwerfen eine Typologie von drei^^ verschiedenen politischen Kulturen und versuchen, die untersuchten Lander empirisch zu klassifizieren. Sie beschreiben die politische Kultur der Bundesrepublik zu Beginn der 50er Jahre als eine Untertanenkultur („subject political culture''). Nachfolgestudien haben gezeigt, dass sich 9 Ganz ahnlich argumentiert Jens Alber (2004) in einem Aufsatzmanuskript, das wir erst nach Fertigstellung unseres Manuskripts erhalten haben. 10 Die Autoren unterscheiden an sich drei verschiedene Typen politischer Kuhur („parochiar", „subject'' und „participant"); die von ihnen favorisierte vierte Form der politischen Kultur („civic culture") ist ein Mischtypus.
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die politische Kultur der Bundesrepublik in einer relativ kurzen Zeitspanne verandert, die Unterstiitzimg einer von aufien implementierten demokratischen Werteordnung kraftig zugenommen hat. David P. Conradt (1980) hat Umfragedaten, die vom Allensbacher Institut fiir Demoskopie erhoben wurden, zusammengestellt. Die Burger wurden u. a. gefragt, warm es Deutschland in diesem Jahrhundert am besten ging. Die Antwortalternativen waren „Zur Zeit der Bundesrepublik (Gegenwart)", „Zur Zeit des dritten Reichs (1933-1945)", „Zur Zeit der Weimarer Republik", „Zur Kaiserzeit" und „Andere Zeitphase" (Tabelle 7.3). Trotz Kriegserfahrung und der 1951 weitgehend bekannten Graueltaten des nationalsozialistischen Regimes unterstiitzen 1951 noch 42 % der Burger das Dritte Reich. Innerhalb von acht Jahren andert sich dies gewaltig und zwar zugunsten der Untersttitzung der Bundesrepublik; die Untersttitzung der Bundesrepublik nimmt in der Folge weiter kontinuierlich zu, die Untersttitzung der undemokratischen Phasen (Drittes Reich und Kaiserreich) hingegen ab. Tabelle 7.3:
Einstellungen gegentiber der Vergangenheit: „Wann ging es Deutschland am besten" (in %)
Bundesrepublik Drittes Reich Weimarer Republik Kaiserzeit Andere Zeit
1951 2 42 7 45 4
1959 42 18 4 28 8
1963 62 10 5 16 7
1970 81 5 2 5 7
Die in den Umfragen verwendete Frageformulierung ist nun keine gute Messung einer politischen Werteorientierung der Btirger, weil nicht nach demokratischen Einstellungen, sondern nach historischen Phasen, die allerdings mit unterschiedlichen Regimen verbunden waren, gefragt wurde. Etwas besser geeignet zur Operationalisierung von Wertedimensionen, die auch unseren Analysen zugrunde liegen, sind Zeitreihen, die u. a. Heiner Meulemann (1996) zusammengetragen imd einer Sekundaranalyse und Interpretation unterzogen hat. Auch ftir diese Fragen gilt.
271
7.2 Politische Implikationen der Befunde
dass sie zwar besser, nicht aber optimal die Wertdimensionen wiedergeben, die ims interessieren (Tabelle 7.4). Besonders beeindruckend sind die Veranderungen im Bereich der demokratischen Werte. Vom Institut fiir Demoskopie wurde seit Beginn der 50er Jahre die Unterstlitzung eines Ein- bzw. eines Mehrparteiensysterns erhoben. Ein Mehrparteiensystem gehort zu den zentralen Elementen einer reprasentativen Demokratie. Die Frageformulierung lautete: „Glauben Sie, dass es fiir ein Land besser ist, eine Partei zu haben, damit moglichst grofie Einigkeit herrscht, oder mehrere Parteien, damit die verschiedenen Meinimgen frei vertreten werden konnen". In Tabelle 7.4 sind die Werte fiir die Unterstiitzung eines Mehrparteiensystems im Zeitverlauf wiedergegeben. Die Zustimmung steigt innerhalb von wenigen Jahren dramatisch an, um dann vom Ende der 50er Jahre bis Mitte der 70er kontinuierlich auf das 90 %-Niveau zu klettern und sich in der Folgezeit zu stabilisieren. Tabelle 7.4:
Wer tewcmde 1 in der I^undiesrepub:lik (Zustimmung in%)
1950 51 Politik „Mehrere Parteien 53 61 besser'' „Brauchen Parlament" Religion Teilnahme Gottesdienst (Katholiken) Teilnahme Gottesdienst (Protestanten) Familie/Erziehungsziele „Gehorsam und Unter25 ordnung" „Selbststandigkeit und 28 freier Wille"
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Nicht ganz so dramatisch ist der Entwickliingsverlauf fiir die Unterstiitzimg der Institution des Parlaments, eines weiteren Kernelements einer reprasentativen Demokratie. 1956 wurde von AUensbach zum erstenmal in einer reprasentativen Bevolkerungsbefragung folgende Frage gestellt: „Wenn man das einmal von der ganz niitzlichen Seite aus betrachtet: Brauchen sie in Bonn eigentlich ein Parlament oder ginge es auch ohne?" Tabelle 7.4 enthalt die Zustimmungsrate zur Notwendigkeit eines Parlaments fiir den Zeitraum 1956 bis 1972. Der Prozentsatz derer, die der Notwendigkeit eines Parlaments zustimmen, hat sich von 69 % auf 82 % erhoht.^^ Wir hatten in unseren Analysen gesehen, dass der Grad der Integration der Burger in die Kirchen einen starken Effekt auf die Ablehnung des EU-Skripts hat. Integration in die Kirche wurde gemessen durch die Frage nach der Kirchgangshaufigkeit. Zu dieser Frage liegen auch Zeitreihen fiir die Bundesrepublik vor. Robert Hettlage (1990: 276) hat die wenigen zur Verfiigung stehenden Daten zusammengestellt. Erfragt wurde die regelmafiige Teilnahme am Gottesdienst, jeweils fiir Katholiken und Protestanten getrennt. Die Ergebnisse (Tabelle 7.4) zeigen fiir beide Kirchen, wenn auch auf einem sehr unterschiedlichen Niveau, einen ganz ahnlichen Verlauf. In der Zeit von 1963 bis 1980 reduziert sich der Anteil der Kirchenmitglieder, die regelmafiig am Gottesdienst teilnehmen, bei den Katholiken von 55 % auf 31 % Prozent, bei den Protestanten von 15 % auf 6 %. Innerhalb von 17 Jahren hat hier ein dramatischer Wandel stattgefunden. Schliefilich liegen Umfrageergebnisse vor, die die von den Eltern praferierten Erziehungsziele wiedergeben. In einer von Emnid in mehreren Jahren durchgefiihrten Umfrage wurde gefragt: „Auf welche Eigenschaften sollte die Erziehung der Kinder vor allem hinzielen. Gehorsam und Unterordnung, Ordnungsliebe und FleiiS oder Selbststandigkeit und freier Wille?'' Die Antwortbefunde sind in einem Text von Helmut Kla11 Beziiglich der Leistungsorientierung als Teildimension der Wirtschaftseinstellungen kann Meulemann ebenfalls einen Wertewandel nachzeichnen. Arbeit wird zugunsten von Freizeit abgewertet und immer weniger als Pflicht interpretiert. Der Wandel findet in den spaten 60er und friihen 70er Jahren statt (Meulemann 1996: 90).
7.2 Politische Implikationen der Befunde
273
ges (1984: 17) ausgewertet worden, aus dem wir auch die Daten fiir zwei der drei Erziehungsziele fiir ausgewahlte Zeitpimkte iibernommen haben.i2 Auch fiir die Erziehungsziele gilt, dass sich innerhalb einer Zeitphase von 50 Jahren die Vorstellung von einer richtigen Erziehung fundamental gewandelt hat, Selbststandigkeit wird grofi geschrieben, Gehorsam hat an Bedeutung verloren. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die Geschichte der Bundesrepublik - die Daten beziehen sich alle auf Westdeutschland und umschliel?en nicht die ehemalige DDR - auch eine Geschichte des Wertewandels ist, in der zunehmend Wertevorstellungen an Bedeutung gewinnen, die auch von der EU favorisiert werden. Und es besteht auch wenig Zweifel, dass dieser Wertewandel durch Prozesse der Modernisierung ausgelost wurde. Die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren zum einen eine Phase einer enormen volkswirtschaftlichen Prosperitat, die historisch friihere Prosperitatsphasen bei weitem iibertroffen hat. Dies hat zu einer aufiergewohnlichen Steigerung des Durchschnittseinkommens und damit auch des Lebensstandards gefiihrt. Die Reallohne haben sich zwischen ,,1949 und 1973 in der Bundesrepublik vervierfacht und liegen damit weit liber den demgegeniiber recht bescheidenen Steigerungsraten der Realeinkommen und Reallohne wahrend der Prosperitatsphasen des langen 19. Jahrhunderts" (Ambrosius und Kaelble 1992:17f.). Der starke Anstieg der Realeinkommen und Reallohne hat den privaten Konsum fundamental verandert (vgl. Ambrosius imd Kaelble 1992: 20): Der Wohnstandard wurde erheblich verbessert, langlebige Konsumgliter (Autos, Radios, Fernsehen, Konsumgiiter fiir Kinder) konnten gekauft werden und Reise- und Freizeitaktivitaten wurden ermoglicht; eine kraftige Reduzierung der Arbeitszeit kam hinzu (Bundesamt fiir Statistik 2000: 337). Neben einer okonomischen Modernisierung hat sich auch das Bildungsniveau der Bundesrepublik verandert. Gab es z. B. 1960 in der Bundesrepublik 247.000 Studierende an deutschen Hochschulen, so waren es 1970 422.000, 1980 1.036.000 und 1990 1.579.000 (Statistisches Bun12 In einigen Jahren sind bei der Befragung Mehrfachnennungen moglich gewesen, so dass die Jahrgange nicht eindeutig miteinander vergleichbar sind.
274
7. Bilanz irnd Ausblick
desamt 2000: 68). Die Zunahme der Moglichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse einerseits und die Erhohung des Bildungsniveaus andererseits fiihrten mit einer Zeitverzogerung zu dem beschriebenen Wertewandel, so wiirden zumindest Modernisierungstheoretiker die Entwicklimg der Bundesrepublik inter pre tier en. Und unsere Kausalanalysen in diesem Buch unterstiitzen diese These. Die Wertorientierungen der Burger werden in der Tat in hohem Mafie durch den Grad der Modernisierung bestimmt. Was bedeuten diese aus der Geschichte der Bundesrepublik gewonnenen Befunde fiir die Frage der Erweiterung der EU? Ubertragt man die Ergebnisse auf die Erweiterung im allgemeinen und auf die „Tiirkeifrage'' im speziellen, dann kann man schlussfolgern, dass die gegenwartig feststellbaren Werteunterschiede, die ja zum Teil recht deutlich ausfalien, sich im Zeitverlauf nivellieren konnten, wenn es zu einem Modernisierungsschub innerhalb der neuen Mitgliedslander bzw. Beitrittskandidaten kommt und wenn die Zeitphase bis zur Mitgliedschaft nicht zu kurz ist. Wenn sich die Beitrittslander weiter industrialisieren und „tertiarisieren", der landwirtschaftliche Sektor an Bedeutung verliert, die Mittelschichten an Bedeutung gewinnen, das Bildungsniveau und der Wohlstand ansteigen, dann kann man erwarten, dass es auch zu einer Veranderung der Werte der Burger kommen wird und sich die kulturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedslandern und den Beitrittslandern angleichen werden. Ob und unter welchen Bedingungen eine solche Modernisierung stattfinden wird, ist eine sozialwissenschaftlich nicht voUstandig zu beantwortende Prognose. Ein Blick auf die Entwicklung der zu fruheren Zeitpunkten beigetretenen Lander mag die Unsicherheit aber etwas reduzieren. Volker Bornschier und Koautoren (Bornschier 2000; Bornschier, Herkenrath und Ziltener 2004) einerseits und Jan Delhey (2003a; 2003b) andererseits haben beziiglich der Lander Griechenland, Portugal, Spanien und Irland gezeigt, dass eine in Aussicht gestellte Mitgliedschaft in der EU und die Mitgliedschaft selbst Modernisierungsprozesse in diesen Landern beschleunigen konnen. Alle genannten Lander waren zum Zeitpunkt des EU-Beitritts deutlich geringer modernisiert als die damaligen
7.2 Politische Implikationen der Befunde
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Mitgliedslander. Die Mitgliedschaft selbst hat in einigen Dimensionen zu einem Modernisiervingsschub der Lander beigetragen.^^ Es muss einer getrennten Analyse vorbehalten bleiben zu priifen, ob mit diesem, zum Teil durch die Mitgliedschaft in der EU ausgelosten Strukturwandel auch ein Wertewandel in den Landern verbunden war. Folgendes Beispiel mag aber illustrieren, dass ein solcher Wertewandel moglich ist und auch stattgefunden hat und mit politischen Implikationen verbunden sein kann. Im „World Values Survey" wurde die Frage gestellt, ob man Homosexualitat in Ordnung findet. Die Frage wurde mit Hilfe einer lOer Skala erhoben, der en Enden durch „Darf man unter keinen Umstanden tim" und „Ist in jedem Fall in Ordnung'' markiert waren. Schaut man sich nur den Verlauf der Extremposition (Wert 1 der lOer Skala) im Zeitverlauf an, dann zeigt sich, dass 1981 52,6 %, 1990 39,9 %, 1995/97 22,4 % und 1999/2000 16,7 % der Spanier sagen, dass Homosexualitat auf keinen Fall legitimiert ist. Innerhalb von knapp zwanzig Jahren hat sich die Akzeptanz von Homosexualitat in der spanischen Bevolkerung fundamental gewandelt. Nicht nur das: Die spanische Regierung hat im Oktober 2004 - begleitet von Protesten der katholischen Kirche einen Gesetzesentwurf zur Einfiihrung homosexueller Ehen verabschiedet. Gleichgeschlechtliche Ehen sollen danach die gleichen Rechte und Pflichten wie heterosexuelle Ehen erhalten und auch Kinder adoptieren konnen. Das Vorhaben der spanischen Regierung ist mittlerweile vom Parlament gebilligt worden. Eine solches Gesetz ware ohne einen Wertewandel in der Bevolkerung nicht moglich gewesen. Und dieser ist wie^3 Hakan Yilmaz (1997) kann zeigen, dass innerstaatliche Demokratisierungsprozesse in der Tiirkei durch die internationalen Kontexte erklarbar sind. So interpretiert er die Demokratisierung der Tiirkei in der Zeit 1945-1950 als eine Anpassungsleistung des tiirkischen Regimes an die mit dem Ende des zweiten Weltkriegs veranderten Gelegenheitsstrukturen. Eine Einbindung in den westlichen Block und das sich Entziehen vor dem sowjetischen Einfluss waren nur moglich durch eine Armaherung an amerikanische Politikvorstellungen, die dann zu innenpolitischen, demokratischen Reformen gefiihrt haben. Ahnlich lautet die Argumentation von Yilmaz im Hinblick auf seine Analyse des Demokratisierungsprozesses innerhalb der Tiirkei in den letzten Jahren. Die in Aussicht gestellte Mitgliedschaft der Tiirkei in der EU fiihrt zu Anpassungsleistungen des Regimes, bei Yilmaz (1999) dargestellt an den tiirkischen Unternehmern, die sich fiir eine Demokratisierung der Tiirkei u. a. aus okonomischem Interesse einsetzen.
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7. Bilanz imd Ausblick
derum durch die Modernisierung Spaniens induziert worden, die wiederum durch die Mitgliedschaft Spaniens in der EU begiinstigt wurde. Ahnlich konnte sich auch die Entwicklung in den Beitrittslandern und der Tiirkei vollziehen. Die entscheidende Frage wird sein, ob sich diese Lander, beschleunigt durch die in Aussicht gestellte Mitgliedschaft, okonomisch modernisieren werden. Ob sich diese Randbedingung wiederum realisieren wird, hangt von einer Vielzahl von Faktoren ab, die sich sozialwissenschaftlich nicht prognostizieren lassen. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse konnen helfen, politische Entscheidungen ein Stiick weit zu rationalisieren. Die Frage, ob die Erweiterung der EU und speziell die Mitgliedschaft der Tiirkei die EU iiberfordern wird, ist aber letztendlich eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten, die sich entsprechend wissenschaftlich nicht beantworten, sondern allein voluntaristisch von der Politik entscheiden lasst.
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9. Verzeichnis der Tabellen und Grafiken
1.
Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Tabelle 1.1: Okonomische Strukturkonvergenz zwischen den bisherigen 15 EU-Mitgliedslandern und den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde 12 Tabelle 1.2: Uberblick iiber das Design der Studie 26 Tabelle 1.3: Informationen zur Europaischen Wertestudie 1999/2000 .... 48 Tabelle 1.4: Makroindikatoren zur Beschreibung der verschiedenen Gesellschaften 54 2.
Religion im erweiterten Europa
Mitgliedschaftsraten in Religionsgemeinschaften 66 Haufigkeit des Kirchgangs 68 Glaube an Gott... 70 Religiose Selbsteinschatzung 71 Trennung von Religiositat und eigener Lebensfiihrung 75 Trennung von Kirche und Gesellschaft 77 Trennung von Kirche und Politik 79 Intoleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften .... 81 Trennung zwischen den Benchmark-Countries und anderen Landern im Hinblick auf Religionsvorstellungen 84 Tabelle 2.8: Nahe der Lander zur EU-Position 88 Tabelle 2.9: Erklarung der Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfiihrung, Gesellschaft und Politik bzw. zur Toleranz gegeniiber anderen Religionen 97
Tabelle 2.1: Tabelle 2.2: Grafik 2.1: Tabelle 2.3: Tabelle 2.4: Tabelle 2.5: Tabelle 2.6: Grafik 2.2: Tabelle 2.7:
316 3.
9. Verzeichnis der Tabellen und Grafiken Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen oder: Wer unterstiitzt die Emanzipation der Frauen
Tabelle 3.1: Einstellungen zur gleichberechtigten Erwerbstatigkeit von Frauen Grafik 3.1: Einstellung zur Berufstatigkeit/Hausf rauentatigkeit von Frauen Tabelle 3.2: Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) der Gleichberechtigungsskala Grafik 3.2: Einstellungen zur Gleichberechtigung Tabelle 3.3: Erklarung der Einstellungen zur Berufstatigkeit und Gleichberechtigung der Frauen 4.
Ill 113 114 115 126
Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
Grafik 4.1 Wichtigkeit leistungsorientierter Erziehungsziele 142 Grafik 4.2 Prioritat fiir Arbeit statt Freizeit 143 Grafik 4.3 Generalisiertes Vertrauen 145 Grafik 4.4 Wettbewerbsorientierung 1 148 Grafik 4.5. Wettbewerbsorientierung 2 149 Grafik 4.6 Einstellungen zur Offenheit des Arbeitsmarktes 151 Grafik 4.7. Staatliche Intervention in die Wirtschaft 153 Tabelle 4.1: Trennung zwischen den Benchmark-Countries und anderen Landern im Hinblick auf ihre Wirtschafts-vorstellungen ..157 Tabelle 4.2: Nahe der Lander zum Wirtschaftsskript der EU 160 Tabelle 4.3: Zusammenhang der Erklarungsfaktoren mit den Einstellungen zur Wirtschaft 169 170 Tabelle 4.4: Erklarung der individuellen Werteorientierungen 170 Tabelle 4.5: Erklarung der Einstellungen zur Wirtschaftsordnung 5.
Wohlfahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union
Tabelle 5.1: Einstellungen der Bevolkerung zum Wohlfahrtsstaatsskript der EU 185 Grafik 5.1: Unterstiitzung fiir Alte, Kranke und Arbeitslose 188 Tabelle 5.2: „Der Staat soUte verantwortlich sein fiir..." 190
9. Verzeichnis der Tabellen und Grafiken Tabelle 5.3: Unterstiitzung unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatsmodelle durch die Burger Tabelle 5.4: Erklarung der Unterstiitzung fiir Alte, Kranke, Behinderte und Arbeitslose 6.
192 200
Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa
Tabelle 6.1: Unterstiitzung der Demokratie Tabelle 6.2 : Unterstiitzung eines autokratischen Regimes Tabelle 6.3: Differenzierende Merkmale der normativen Demokratiemodelle Tabelle 6.4: Operationalisierung der normativen Demokratiemodelle Tabelle 6.5: Unterstiitzung fiir die verschiedenen normativen Demokratiemodelle Tabelle 6.6: Erklarung der Einstellungen zur Demokratie Tabelle 6.7: Erklarung der Einstellungen zu autoritaren Regierungsformen Tabelle 6.8: Mitgliedschaft in Gruppen der Zivilgesellschaft Tabelle 6.9: Aktivitat in Gruppen der Zivilgesellschaft und sozialesKapital Tabelle 6.10: Erklarung der Mitgliedschaft und des Engagements in zivilgesellschaftlichen Organisationen Tabelle 6.11: Ergebnisse der Diskriminanzanalyse Tabelle 6.12: Nahe und Feme der Lander zur EU-Position 7.
317
212 213 216 218 219 223 223 233 235 241 244 246
Bilanz und Ausblick
Grafik 7.1: Grafik 7.2: Grafik 7.3:
Gesamtwerte der Lander fiir die Bereiche Religion und Familie/Partnerschaft Gesamtwerte der Lander fiir die Bereiche Wirtschaft undWohlfahrt Gesamtwerte der Lander fiir die Bereiche Demokratie und Zivilgesellschaft
256 258 259
318
9. Verzeichnis der Tabellen und Grafiken
Grafik 7.4: Nahe und Distanz der Lander zur EU-Position insgesamt Tabelle 7.1: Erklarung der sechs analysierten Wertedimensionen Tabelle 7.2: Erklarung der generellen Unterstiitzung des EUSkripts Tabelle 7.3 : Einstellungen gegeniiber der Vergangenheit Tabelle 7.4: Wertewandel in der Bundesrepublik
261 264 266 270 271