Ivan Illich
Im Weinberg des Textes Als das Schriftbild der Moderne entstand
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Ivan Illich
Im Weinberg des Textes Als das Schriftbild der Moderne entstand
Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt am Main 1991. Copyright © 1991 by Luchterhand Literaturverlag GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten. »L'Ere du livre« © 1990 by Les Editions du Cerf, Paris, und Valentina Borremans, Cuernavaca. Umschlagentwurf: Max Bartholl. Umschlagfoto: Ingo Bulla. Satz: Uhl + Massopust, Aalen. Druck und Bindung: Ebner Ulm, Printed in Germany ISBN 3-630-87105-4
Inhalt Einleitung 7 1 Weisheit - Ziel des Lesens 15 2 Ordnung, Gedächtnis und Geschichte 33 3 Monastisches Lesen 55 4 Lectio auf Latein 67 5 Scholastisches Lesen 77 6 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens 99 7 Vom Buch zum Text 121 Anmerkungen 135 Bibliographie 183
Einleitung Dieses Buch erinnert an die Aufkunft des scholastischen Lesens. Es erzählt, wie ein Kulturverhalten entstanden ist: George Steiner nennt es »bookish«, ans Buch gefesselt. Achthundert Jahre lang hat dieses Verhalten die Einrichtung westlicher Bildungsinstitutionen gerechtfertigt. Die universale Liebe zum Buch wurde zum Kern der westlichen säkularen Religion, Unterricht wurde zu ihrer Kirche. Heute ist die westliche Gesellschaft diesem Glauben an das Buch entwachsen, vielleicht so, wie sie auch dem Christentum entwachsen ist. Inzwischen ist das Buch längst nicht mehr die wichtigste Grundlage des Bildungswesens. Wir haben die Kontrolle über sein Wachstum verloren. Medien und Kommunikation, der Bildschirm haben die Buchstaben, die Buchseite und das Buchlesen verdrängt. Darum beschäftige ich mich hier mit dem Beginn der Bibliophilie, denn diese Epoche geht jetzt zu Ende. In der Kulturgeschichte des Buches gab es zu den Buchseiten viele Grundeinstellungen ihrer Benutzer. Mir scheint heute der Moment gekommen, den Frühformen dieses vom Buch bestimmten Lesens nachzuspüren. Denn sie sind in Vergessenheit geraten. Je suis un peu lune, et un peu commis voyageur Ma spécialité sont les heures qui ont perdu leur montre [...] Ich bin ein wenig Mond, und ein wenig reisender Händler; meine Spezialität sind jene Stunden, die ihre Uhr verloren haben; manche sind ertrunken, manche sind in einem Karneval verloren gegangen, und ich kenne sogar einen Vogel, der sie schluckt [...] Diese Zeilen deuten den Weg zu meinem Thema. Sie stammen aus einem Gedicht von Vicente Huidobro, dem chilenischen Gefährten von Apollinaire, der verletzt wurde, als er Präsidentschaftskandidat seines Landes war; später war er Kriegskorrespondent in Spanien und Frankreich. Ich richte mein Augenmerk auf einen flüchtigen, aber dennoch sehr wichtigen Moment in der Geschichte des Alphabets: den Moment, als - nach Jahrhunderten des christlichen Lesens - die Buchseite sich verwandelte; aus der Partitur für fromme Murmler wurde der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende. Nach dieser Umwandlung wurde die neue Form des buchgebundenen Lesens zur vorherrschenden Metapher für die höchste Form sozialen Handelns. Erst in unserer jüngeren Vergangenheit wurde das Grundmuster des Lesens erschüttert: das Bild und die Bildunterschrift, der Comic, die Tabelle, der Kasten und das Diagramm, die Photographie, die Skizze und deren Zusammenwirken mit anderen Medien zwingen den Benutzer zu einem neuen Umgang mit Lehrbüchern. Er steht im Gegensatz zu dem, den das scholastische Lesen verlangt hatte. Dieses Buch versteht sich nicht als Kritik am neuen Umgang mit den Medien oder an den Lehrmethoden, durch die diese neuen Verhaltensweisen vermittelt werden. Es will auch niemandem die Freude an Bedeutung und Schönheit, am Genuß des Bücherlesens in all seinen Möglichkeiten nehmen. Indem ich zu den Ursprüngen der Buchherrschaft zurückgehe, hoffe ich, die Distanz zwischen meinem Leser - von dem ich erwarte, daß er Bücher liebt - und dem, was er tut, wenn er meinen Text liest, zu vergrößern. »Moderne Theorien zur Entstehung des Universums besagen, daß sie auf einer äußerst feinen Ausgewogenheit bestimmter Faktoren beruhte. Wären gewisse entscheidende Temperaturen und Dimensionen auch nur geringfügig anders gewesen, hätte 8 der Urknall [...] nicht Zustandekommen können. Die Entwicklung des modernen Buchs
und der Buchkultur, wie wir sie kennen, scheint von einer vergleichbaren Fragilität ausschlaggebender und ineinandergreifender Faktoren abhängig gewesen zu sein.«1 So ist die klassische Buchkultur eine vorübergehende Erscheinung. Laut Steiner bedeutete »das Zeitalter des Buches«, daß über die Mittel zum Lesen verfügt werden konnte. Das Buch war zu einem häuslichen Gegenstand geworden. Seine Besitzer konnten es immer wieder lesen. Das Zeitalter des Buches hat den privaten Raum ebenso gebraucht wie Zeiten des Schweigens, die von anderen respektiert wurden. Zu dieser Buch- und Lesekultur gehörten auch die Flüstergalerien, die Journale, die Akademien und später die Kaffeehauszirkel. Zur Kultur des Buches gehörte die Kultur des Lesenlassens. Sie hat einen mehr oder weniger einverständigen Kanon über Wert und Form des Textes gebraucht. Dabei war sie weit mehr als nur das Mittel, dem Buchspezialisten Aufstiegschancen und soziale Privilegien zu verschaffen. Die Lesekundigen hatten einen eigenen sozialen Status. Das bibliophile Lesen brachte Katholiken, Protestanten und assimilierten Juden, Klerikern und aufgeklärten Antiklerikern, ebenso wie Humanisten und Naturwissenschaftlern ein allen gemeinsames Grundverhalten. Ihre gesellschaftliche Rolle wurde durch die Anforderungen an diese Art des Lesens bestimmt, nicht nur widergespiegelt. Heute ist das Buch nicht mehr die Grundmetapher unseres Zeitalters; es mußte dem Bildschirm weichen. Der alphabetische Text ist inzwischen nur noch eine unter mehreren Arten des Kodierens von »Botschaften«. Im Rückblick erscheint die Verbindung jener Elemente, die von Gutenberg bis zum Transistor das Verhältnis zum Buch geprägt haben, als Besonderheit dieser einen langen Epoche. Sie kennzeichnet aber nur eine, die westliche Gesellschaft. Das gilt trotz der Taschenbuchrevolution, der feierlichen Wiederbelebung öffentlicher Dichterlesungen und der manchmal großartigen Blüte alternativer Kleindruckereien. Bibliophiles Lesen kann heute deutlich als epochale Erscheinung eingeordnet werden. Damit war es nicht etwa der logisch notwendige Schritt in der Entwicklung zum rationalen Gebrauch des Alphabets. Nein, es war eine von vielen Möglichkeiten, mit dem beschriebenen Blatt umzugehen; eine unter vielen besonderen Berufungen, die einige auch in Zukunft weiter pflegen werden. Andere benutzen das Buch auf andere Weise. Dieses Nebeneinander verschiedener Lesearten ist nichts Neues. Um das deutlich zu machen, möchte ich die Geschichte erzählen, wie in einem fernen Jahrhundert der Umbruch der Lesekultur stattfand. Mit George Steiner wünsche ich mir, daß es neben unserem Bildungssystem, das inzwischen ganz andere Funktionen angenommen hat, so etwas wie Lesehäuser geben möge, nicht unähnlich der jüdischen Shul, der islamischen Medersa oder dem Kloster, wo die wenigen, die ihre Leidenschaft für ein Leben entdecken, in dessen Mittelpunkt das Lesen steht, die notwendige Anleitung, Ruhe und Anteilnahme finden könnten, die für die lange Initiation in die eine oder andere von vielen »Geisteshaltungen« oder Arten der Buchzelebrierung erforderlich sind. Damit eine neue Askese des Lesens entstehen kann, müssen wir erkennen, daß das »klassische« Lesen der letzten 450 Jahre nur eine von vielen Möglichkeiten ist, alphabetische Techniken zu verwenden. Aus diesem Grunde beschreibe und deute ich in den ersten sechs Kapiteln meines Essays einen technischen Durchbruch, der um 1150 stattfand, 300 Jahre, bevor man anfing, bewegliche Lettern zu benutzen. Dieser Durchbruch basierte auf der Kombination von mehr als einem Dutzend technischer Erfindungen und Einrichtungen, mittels derer die Buchseite von einer Partitur zum Textträger umgestaltet wurde. Nicht
die Druckkunst bildet - wie häufig angenommen - die notwendige Grundlage für all die Etappen, die die Buchkultur seitdem durchlaufen hat, son10 dem dieses Bündel von Neuerungen, das zwölf Generationen früher Anwendung fand. Durch diese Ansammlung von Techniken und Gewohnheiten wurde es möglich, sich den Text als etwas von der physischen Realität der Buchseite Losgelöstes vorzustellen. Sie reflektierte und revolutionierte zugleich, was gebildete Menschen taten, wenn sie lasen und als was sie das Lesen erlebten Mit meinen Kommentaren zu Hugos Didascalicon beabsichtige ich, eine historische Ethologie mittelalterlicher Lesegewohnheiten zu schreiben, und gleichzeitig zu einer historischen Phänomenologie des Lesens als Symbol im 12. Jahrhundert beizutragen. Ich hoffe, daß der von mir gesehene Übergang uns den Umbruch, dessen Zeugen wir heute sind, noch deutlicher sehen läßt. Vorläufer dieses Buches waren sieben Vorträge, zu denen ich eingeladen wurde: von Rustam Roy - er bat mich, ein Seminar im Rahmen seines »Science, Technology and Society«-Programms an der Pennsylvania State University abzuhalten; von Soedjatmoko - er forderte mich auf, über die Symbolik der westlichen Technologie zu schreiben. Er wollte, daß ich mich selbst in große Distanz zu ihr versetze und als sein Gast an der Universität der Vereinten Nationen in Japan lebe; und schließlich die Einladung von David Ramage, am Theologischen Seminar der Universität von Chicago ein Seminar über die Geschichte des Lesens im Verhältnis zur Weisheit abzuhalten. Ich widme dieses Buch Ludolf Kuchenbuch und diesen drei Freunden aus Anlaß ihres glücklichen Entkommens von weiteren akademischen Verwaltungsaufgaben. Meine Vorlesungsnotizen wären nie zu einem Buch geworden, hätte mich Ludolf Kuchenbuch nicht eingeladen, an einem akademischen Abenteuer teilzunehmen, dessen deutsches Motto Schriftlichkeitsgeschichte ist. Die neue europäische Geschichtsforschung versucht, sich auf die wechselseitige Bestimmung einer Gesellschaft und ihres Schriftsystems zu konzentrieren. In dieser Forschung geht es nicht um die Geschichte der Literalität oder der 11 Schriftkundigen, nicht um die Geschichte der Schreibtechniken oder des Gebrauchs, den Kaufleute, Höfe oder Dichter vom Schreiben gemacht haben. Es geht um etwas anderes. Die Buchstaben wurden zum wichtigsten Mittler zwischen der Welt der Begriffe und der sozialen Wirklichkeit. Auf die Geschichte der Rolle, die die damals neue Anwendung der Buchstaben dabei gespielt hat, möchte ich aufmerksam machen. Diese Forschung konzentriert sich direkt auf den Gegenstand, der mit Hilfe der Buchstaben geschaffen wurde, nämlich das Schriftstück. Sie beobachtet das Verhalten, das durch diesen Gegenstand definiert wird, und die Bedeutungen, die - klassenspezifisch diesem Gegenstand und diesem Verhalten zugeordnet werden. Wir untersuchen jenes Ding, das mehr und mehr die Vorstellung der Menschen von der Welt, von der Gesellschaft und vom Ich der jeweiligen Epoche bestimmt, und zwar die Art, den Ursprung und die Grenzen der jeweiligen Weltvorstellungen, die an die Buchstaben gefesselt waren. In unserem Projekt beschäftigen wir uns mit dem Alphabet und mit dem Gebilde, das mit Hilfe des Alphabets entsteht, und nicht mit der Geschichte von Aufzeichnung und Notation, von Sprache und Struktur, von Kommunikation und Medien. Aus unserer historischen Untersuchungsperspektive des Geschriebenen erscheinen die meisten Konzepte, die in der heute modernen Mediengeschichte naiv verwendet werden, als Geschöpfe einer alphabetischen Epistemologie, deren Geschichte gerade das Thema
ist, das wir für unsere Untersuchung wählen. Wir stellen in unserer Analyse den Gegenstand, der mit Hilfe der Buchstaben entsteht, sowie die Gewohnheiten und Vorstellungen, die mit dessen Gebrauch verbunden sind, in den Mittelpunkt. So wird dieser Gegenstand, das Schriftstück, zu einem Spiegel, der bedeutende Veränderungen in der geistigen Verfassung westlicher Gesellschaften reflektiert. Daß ich das frühe 12. Jahrhundert gewählt habe, um die 12 Wirkung des Alphabets während seiner langen Geschichte zu illustrieren, hat mir mein eigenes Leben vorgegeben. Vierzig Jahre lang habe ich immer wieder Freude daran gehabt, die Autoren dieser einen Generation zu lesen und nach ihren Quellen zu suchen. Seit Jahrzehnten fühle ich mich Hugo von St. Viktor durch eine ganz besondere Zuneigung verbunden, einem Autor, dem ich genauso dankbar bin, wie den allerbesten meiner noch lebenden Lehrer, unter denen Gerhart Ladner in diesem Zusammenhang einen besonderen Platz einnimmt. Als Professor Kuchenbuch von der Fernuniversität Hagen seinen Einführungskurs über die Einwirkung des alphabetischen Gegenstands auf die westliche Kultur begann, schien es mir logisch und passend, mich mit einem Kommentar zu Hugos Didascalicon zu beteiligen. Denn das Didascalicon ist das erste Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wurde. Ich habe meinen Essay nicht geschrieben, um einen gelehrten Beitrag zu leisten. Ich habe ihn geschrieben, um einen Weg zu einem Ausgangspunkt in der Vergangenheit zu weisen, von dem aus ich neue Einblicke in die Gegenwart gewonnen habe. Niemand sollte sich verleitet fühlen, meine Kommentare als einen Beweis für Gelehrsamkeit oder als Aufforderung dazu zu betrachten. Sie sind dazu da, dem Leser die reiche Ernte von Erinnerungsstücken zu zeigen - Steine, Tiere und Pflanzen -, die ein Mann bei wiederholten Spaziergängen durch ein bestimmtes Gebiet gesammelt hat, und die er nun mit anderen teilen möchte. Sie sind vor allem dazu da, den Leser zu ermutigen, sich an die Regale der Bibliothek zu wagen und mit verschiedenen Lesearten zu experimentieren. Das Schreiben dieses Buchs war eine geteilte Freude, da jeder Satz seine Form dadurch bekam, daß er zwischen Lee Hoinacki und mir hin- und herflog. Was als Studie einer Technologie begonnen hatte, endete schließlich als neuer Einblick in die Geschichte des Herzens. Wir kamen dahin, Hugos ars legendi als asketische Disziplin zu verstehen, die einem technischen Objekt galt Und unser Nachdenken über das Überleben dieser Form des Lesens unter der Ägide des ans Buch gebundenen Textes brachte uns darauf, eine Studie der Askese zu beginnen, die der Bedrohung durch die Computer-»Literalität« ins Auge schaut Ein weiterer Freund muß erwähnt werden Manfred Werner Ohne seine unermüdliche Ermutigung waren diese Kapitel im Stadium des Manuskripts verblieben Ich bedaure, daß Homakkis Rotstiftkorrekturen mit allen anderen Merkmalen eines manuscriptum verlorengingen, als Manfred den Text m einen Composer eingab Im Grunde genommen haben sich unsere Gespräche ja um die corruptto optimi, quae est pessima gedreht
1 Weisheit - Ziel des Lesens Incipit • Auctoritas • Studium • Disciplina • Sapientia • Lumen • Die Seite als Spiegel • Das neue Selbst •Amicitia Omnium expetendorum prima est sapient la »Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste« So übersetzt Jerome Taylor den Schlüsselsatz des Didascalicon von Hugo von St Viktor, das um 1128 geschrieben wurde Taylors* Einleitung, Übersetzung und Kommentare sind Meisterwerke Mit seiner vorsichtigen Wortwahl und seinen feinsinnigen Metaphern bietet er den besten laufenden Kommentar zu dieser Übersetzung eines Texts des frühen 12 Jahrhunderts In seinen zahlreichen Anmerkungen geht es ihm meist um Hugos Quellen Auch noch nach fünfundzwanzig Jahren, in denen man sich m der Forschung intensiv mit Hugo beschäftigt hat, sind sie kaum veraltet 2 Incipit »Von allen erstrebenswerten Dingen« ist die Anfangs- und zugleich die Schlüsselwendung m Hugos Buch über die Kunst des Lesens. Mittelalterliche Manuskripte hatten meist keinen Titel. Sie wurden nach ihren Eröffnungsworten, dem incipit, benannt. Die Päpste verwenden noch immer das incipit statt eines Titels, * Anm. d. Übers.: Da es eine entsprechende moderne Übersetzung ins Deutsche nicht gibt verwende ich bei Zitaten aus dem Didascalicon die Übersetzung von Joseph Freundgen, Paderborn 1896, hier zitiert als DF. 15 wenn sie eine Enzyklika schreiben, zum Beispiel »Rerum novarum« (15. Mai 1931), »Quadragesimo anno« (15. Mai 1931), »Sollicitudo rei socialis« (18. Februar 1988). Beim Zitieren eines mittelalterlichen Manuskripts gibt man dessen incipit und explicit, die letzten Worte, an. Diese Art des Verweises auf eine Schrift durch die erste und letzte Zeile läßt sie wie ein Musikstück erscheinen, dessen erste und letzte Töne es dem Musiker kenntlich machen. In Hugos Fall haben wir das Glück, einen zuverlässigen Überblick über seine Schriften zu besitzen.3 In diesem frühen Katalog wird omnium expetendorum als incipit angegeben. Weiter unten werde ich erklären, wie das Buch zu dem Vorwort kam, mit dem Taylor es veröffentlicht. Auctoritas Titel sind wie Etiketten. Ein incipit aber ist wie ein Akkord. Mit der Wahl eines bestimmten incipit kann der Autor darstellen, in welche Tradition er sein Werk einordnen möchte. Durch die feinsinnige Abwandlung eines häufig wiederholten Satzes kann er darlegen, was ihn zum Schreiben bewegt. Hugos incipit läßt keinen Zweifel daran, daß er sein Buch in eine lange »didaskalische«4 Tradition stellen möchte, deren Wurzeln zurückgehen auf die griechischen Reflexionen über die paideia, oder die Formung junger Menschen zu Vollbürgern. Diese Tradition wurde von Varro, einem Mann, den Cicero »den Gelehrtesten der Römer« nannte, ins Lateinische übernommen. Varro, Bibliothekar von Cäsar und Augustus, schrieb unter anderem die erste normative lateinische Grammatik. Obwohl er selbst ein Städter war, verfaßte er vier Bücher über den Landbau oder den Gartenbau, die Vergil als Quellen für die bucolica (wörtlich: Kuhhirtenlieder) benutzte, einer Sammlung (Ekloge) 16
von Gedichten, die den Topos des »Zurück-aufs-Land« und die Suche nach inneren Landschaften in der Literatur der westlichen Welt etablierte. Varro war der erste, der das Lernen als »Suche nach Weisheit« darstellte, eine Aussage, die von späteren Verfassern von Schriften über »gelehrte Erziehung« wieder aufgegriffen worden ist. Das Buch, in dem Varro diese Definition gibt, ist verloren gegangen; seine Aussage hat nur durch Erwähnungen anderer klassischer Autoren überlebt. Hugos incipit ist ganz eindeutig das Erbe Varros, das von dessen Schülern Cicero und Quintillian weitergegeben worden ist; der Letztgenannte war der erste gebildete Lehrer, der über die Kunst schrieb, Buchstaben nachzuziehen.5 In dieser Tradition betrachtet man es als höchste Aufgabe des Pädagogen, den Schüler bei der Suche nach dem Guten, bonum, anzuleiten, das ihn dann zur Weisheit, sapientia, führen wird. Beide Wörter kommen in Hugos incipit vor: »Von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste, die in der Gestalt des vollkommenen Guten besteht«, sapientia, in qua perfecti boni forma consistit. Wie viele seiner Zeitgenossen ist sich Hugo dessen bewußt, daß seine Quellen von den großen Literaten Roms, die noch keine Christen waren, stammen. Es ist klar, daß sich Hugo nicht mit irgendeinem »Guten« zufriedengegeben hätte. Seine Wortwahl ist präzise. Indem er Weisheit mit der »Gestalt des vollkommenen Guten« verbindet, gibt er zu verstehen, daß er Varros Definition gelten läßt, aber nur wie diese von Augustinus aufgenommen, verändert und weitergegeben worden ist.6 Hugos Schriften sind von Augustinus durchtränkt. Er lebte in einer Gemeinschaft, die die Regel des Augustinus befolgte. Hugo las immer wieder die Schriften seines Meisters und schrieb sie ab. Lesen und Schreiben waren für ihn kaum unterscheidbare Seiten desselben Studium. Daß Hugos Texte fast gänzlich Kompilationen, Deutungen und Umformu-lierungen von denen des Augustinus sind, sieht man am besten an seinem Werk über die Sakramente, das ein Torso geblieben ist. Hugos schwere Krankheit und sein Tod machten es ihm unmöglich, die letzten Kapitel fertigzustellen; nur ein früher Entwurf ist geblieben.7 Dieser Entwurf besteht großenteils aus Exzerpten von Augustinus, die Hugo seiner eigenen Diktion und seinem eigenen Stil noch nicht vollständig einverleibt hatte.8 Für Hugo wie für Augustinus war die Weisheit nicht ein Etwas, sondern eine Person.9 In der augustinischen Tradition ist die Weisheit die zweite Gestalt der Dreieinigkeit, Christus. »Er ist die Weisheit, durch die (Gott) alle Dinge geschaffen hat [...] Er ist die Gestalt, Er ist der Retter, Er ist das Beispiel, Er ist dein Heilmittel.«10 Die Weisheit, die Hugo sucht, ist Christus selbst. Lernen und ganz besonders Lesen sind zwei Formen der Suche nach Christus, dem Heil, Christus, dem Beispiel und der Gestalt, den der gefallene Mensch, der ihn verloren hat, wiederzufinden hofft. Das Verlangen des gefallenen Menschen nach der Wiedervereinigung mit der Weisheit ist einer der Hauptgedanken Hugos. Daher ist der Begriff remedium, Heilmittel oder Arznei, entscheidend, wenn man Hugos Werke verstehen will. Gott wurde Mensch, um die Krankheit - meist als Finsternis dargestellt - zu heilen, die den Menschen wegen seiner Sünden befallen hat. Das höchste Heilmittel ist Gott als Weisheit. Künste und Wissenschaft leiten ihre Würde aus der Tatsache ab, daß sie sich darin teilen, Heilmittel für denselben Zweck zu sein.11 Hugo hat mit seiner Weiterentwicklung des Begriffs remedium dem denkenden Menschen des 20. Jahrhunderts einen ungewöhnlichen Weg gezeigt, Fragen der Technik und Technologie anzugehen. Das Lesen, wie Hugo es wahrnimmt und deutet, ist eine ontologisch heilende Technik. Ich habe vor, es als solche zu untersuchen. Ich
werde analysieren, was Hugo über Lesetechniken zu sagen hat, um die Rolle, die das Alphabet um 18 1130 bei der Erschaffung eben dieser Techniken gespielt hat, erforschen zu können.12 Eine nähere Betrachtung zeigt, daß Hugos incipit nicht unmittelbar dem Werk des Augustinus entnommen ist. Seine Formulierung stammt aus dem Werk De consolatione philosophiae von Boethius, der Augustinus feinfühlig, aber bedeutsam abgewandelt hat.13 »Von allen erstrebenswerten Dingen ist das erste und der Grund, weshalb alle anderen Dinge begehrt werden, das Gute [...] in dem die Substanz Gottes liegt.«14 Der Philosoph, der von Gott spricht, dämpft die christozentrische Leidenschaft des Neubekehrten, Augustinus.15 Augustinus schreibt als ehemaliger Heide, der nicht vergessen kann, daß er Christus erst vor kurzer Zeit als Person entdeckt hat. Boethius wurde im Jahre 480 geboren, genau fünfzig Jahre nach dem Tod des Augustinus. Er steht als Christ in einer Tradition von mehreren Generationen. Als römischer Konsul ist er in den Dienst König Theoderichs, des ostgotischen Eindringlings, getreten. Des Hochverrats angeklagt, schreibt er sein Werk De consolatione, während er auf seine Hinrichtung wartet.16 Anders als der leidenschaftliche Neubekehrte Augustinus, der versucht, sich von der weltlichen Weisheit zu lösen, wendet sich Boethius ihr zu. In Platon, Aristoteles, Plotinus und Vergil sieht er Wegbereiter für das Kommen Christi. Daher wurde er zu einer der wichtigsten Quellen der Antike für jene mittelalterlichen Gelehrten, die in der klassischen Philosophie, und zwar besonders im Stoizismus, eine praeparatio evangelii, eine Vorbereitung auf das Evangelium, sahen.17 Die Philosophen lehrten, daß das Ziel des Lernens die Weisheit als das vollkommene Gute war, und die Christen glauben an die Offenbarung, daß dieses vollkommene Gute das fleischgewordene Wort Gottes ist.18 Der zeitgenössische Leser erkannte im incipit gleich eine Auctoritas, einen Satz, der es wert war, wiederholt zu werden. Wenn Cerimon, der Herr von Ephesus in Shakespeares Fürst von 19 Tyrus sagt, daß er »by turning o'er authorities«* »so großen Ruhm erworben (hat), daß nie die Zeit ihn auslöscht« (Perikles, Fürst von Tyrus, III, II), dann will er damit nicht ausdrücken, daß er etablierte Macht umgestürzt hat und auch nicht, daß er gewichtige Autoren befragt hat, sondern daß er sich einen Ruf als Mann von großer Weisheit geschaffen hat, indem er über autoritative Sätze nachgedacht hat. In dieser heute veralteten Bedeutung sind auctoritates Sätze, die beispielhaft sind und Wirklichkeit definieren. Wenn Hugo Boethius' auctoritas als Schlüsselsatz wählt, tut er das nicht, weil Boethius angesehen ist. Der Satz drückt eine offensichtliche Wahrheit aus, gerade weil er aus den Darlegungen dieses oder jenes bestimmten Autors herausgenommen ist; er ist zu einer frei treibenden Aussage geworden. Als solche in Worte gefaßte Institution wurde die von Hugo zitierte auctoritas zu einem mustergültigen Zeugnis einer unantastbaren Überlieferung. Studium Wenn wir das incipit mit »von allen erstrebenswerten Dingen ist die Weisheit das erste«, übersetzen, wird uns jeder Lateinanfänger zustimmen. Primum ist das erste. Aber in eben dieser scheinbaren Transparenz des lateinischen Worts liegt auch die Schwierigkeit, die jedem, der einen solchen Text zu übersetzen versucht, begegnen wird. Zweifellos bedeutet omnium expetendorum prima auch »von allen erreichbaren Dingen das (aller)erste«. Und doch wird es nur zu Mißverständnissen führen, wenn ich
primum mit »das erste« übersetze. Für uns heutige Menschen ist das erste das, was zuerst kommt oder am nächsten liegt. Wir machen den * Anm. d. Übers.: »by turning o'er authorities«, deutsch etwa: »indem (er) über Autoritäten nachdachte«; »to turn over« kann »blättern«, »über etwas nachdenken«, aber auch »etwas oder jemanden umstürzen« bedeuten. 2O ersten von vielen Schritten, wenn wir mit einem Buch oder einem Forschungsauftrag beginnen, und wir gehen davon aus, daß uns unsere Bemühungen weiterbringen werden, vielleicht sogar jenseits unseres gegenwärtigen Horizonts. Aber die Vorstellung eines endgültigen Ziels allen Lesens ist uns fremd. Und noch weniger können wir uns vorstellen, daß ein solches Ziel unser Tun jedesmal motivieren sollte, wenn wir ein Buch aufschlagen. Uns beherrscht der Geist technischer Kausalität, und für uns ist der Auslöser Ursache eines Vorgangs. Für uns ist das Herz nicht Ursache für die Flugbahn der Kugel. Wir leben nach Newton. Wenn wir einen fallenden Stein sehen, ist er nach unserer Wahrnehmung im Griff der Schwerkraft. Wir können die Wahrnehmung eines mittelalterlichen Gelehrten schwer nachvollziehen, der die Ursache für das gleiche Phänomen darin sieht, daß der Stein den Wunsch hat, sich der Erde zu nähern, die die causa finalis, die endgültige Ursache dieser Bewegung ist. Wir stellen uns eine Kraft vor, die einen schweren Körper schiebt. Das antike desiderium naturae, der natürliche Wunsch des Steins, so nah wie nur möglich am Busen der Erde zur Ruhe zu kommen, ist für uns zum Mythos geworden. Und die Vorstellung von einer endgültigen Ursache, eines letzten Urgrunds allen Verlangens, der im Wesen des Steins oder der Pflanze oder des Lesers verborgen ist, ist unserem Jahrhundert erst recht fremd geworden.19 Im geistigen Universum des 20. Jahrhunderts ist das »Endstadium« gleichbedeutend mit dem Tod. Die Entropie ist unser endgültiges Schicksal. Wir erleben die Wirklichkeit als monokausal. Wir kennen nur wirkende Ursachen. Deshalb wäre die Übersetzung von primum mit »das erste« sowohl eine perfekte Übersetzung als auch eine irreführende Interpretation. Wenn man im modernen Sprachgebrauch auf das Gute, Schöne oder Wahre hinweisen möchte, das alles Dasein motiviert, muß man vom »endgültigen Grund« sprechen, der alles durch Zerren und nicht durch Schieben entstehen läßt. 21 Es ist eine genauso große Herausforderung, de studio legendi, den Untertitel des Buches, zu übersetzen. Was legere und lectio für Hugo bedeuteten, ist Thema des ganzen Buches. Das läßt sich hier nicht in wenigen Worten darlegen. Das Wort Studium wird in jedem Wörterbuch des klassischen Latein wiedergegeben als »innerer Trieb, Drang, Eifer, Neigung, Beflissenheit, Lust, Liebhaberei«. Es kann auch »Ernst« bedeuten. Es wäre daher verkehrt zu behaupten, das Buch sei eine Einführung zu dem, was man heute »Studium« nennt. Es ist eine Anleitung zu einer Tätigkeit, die kulturell heute ebenso veraltet ist wie die causa finalis .20 Nur mit dieser Einschränkung können wir das Buch eine Anleitung zu höheren Studien nennen. Das Lernen in einem Kloster des 12. Jahrhunderts forderte Herz und Sinne des Schülers mehr noch als seine Ausdauer und seinen Verstand heraus. Das »Studieren« sah man nicht als zeitlich begrenzt an, wie wir das meist tun, wenn wir sagen, daß jemand »noch studiert«. Es gehörte mit zu den täglichen und lebenslangen Aufgaben eines Menschen und bestimmte seine gesellschaftliche Stellung und seine symbolische Funktion mit.
Man kann Hugos Buch ohne Zweifel als mittelalterlichen Vorboten der propädeutischen Literatur betrachten, die in späteren Jahrhunderten Lehrpläne für Erstsemester an den Universitäten lieferte. Hugo behandelt in seinem Buch die zu seiner Zeit übliche Aufteilung der Lehrgebiete und ihre jeweiligen Lehrmethoden. Und er spricht ausführlich über die Aufteilung der Wissensgebiete. Er listet den Kanon der Klassiker auf, die dem Schüler bekannt sein sollten. Dennoch stehen für Hugo im Mittelpunkt die Tugenden, die man für das Lesen braucht, und die durch dieses entwickelt werden. 22 Disciplina21 Das studium legendi formt den Mönch insgesamt, und sein Lesen wird in gleichem Maße wie er selbst Vollkommenheit erreichen22 - Der Beginn der Disziplin ist Demut. . . und der Leser lernt durch die Demut dreierlei: Erstens, daß er kein Wissen und keine Schrift je verachten sollte.23 Zweitens, daß er sich nicht schämen sollte, von jedermann etwas zu lernen.24 Drittens, daß er, wenn er selbst Gelehrtheit erreicht hat, niemals auf einen anderen herabschauen sollte.25 - Ein ruhiges Leben ist ebenso wichtig für die Disziplin, sei es innerlich, so daß der Geist nicht durch verbotene Wünsche abgelenkt ist, oder äußerlich, so daß Muße und Möglichkeiten zu einem lobenswerten und nützlichen Lernen gegeben sind.26 - ... Nicht nach Überflüssigem zu streben, ist besonders wichtig für die Disziplin. Ein fetter Bauch kann, wie das Sprichwort sagt, keinen Scharfsinn hervorbringen.27 - Und endlich muß die ganze Welt zur Fremde werden für die, welche vollendet lesen wollen.28 Wie der Dichter sagt29: »Heimischer Boden zieht mit besonderem, süßem Gefühl an / Und läßt eingedenk seiner beständig uns sein«. . . Der Philosoph muß lernen, ihn zu verlassen.30 Das sind einige von einem Dutzend Regeln allgemeinen Charakters, die der Formung jener Gewohnheiten dienen, die der Leser annehmen muß, damit ihn sein Streben zur Weisheit führt und nicht zum Ansammeln von Wissen, mit dem er sich brüsten kann.31 Der Leser soll sich ins Exil begeben, um seine ganze Aufmerksamkeit und all sein Verlangen auf die Weisheit richten zu können, die dann zum ersehnten Zuhause wird.32 23 Sapientia Im zweiten Satz dieses ersten Kapitels beginnt Hugo damit, zu erklären, was die Weisheit tut. Am Anfang des Satzes steht: sapientia illuminat bominem, »die Weisheit erleuchtet den Menschen« . . . lit seipsum agnoscat, »damit er sich selbst erkenne«. Wieder einmal stehen, in dieser Version, Übersetzung und Exegese im Widerspruch, und die deutschen Wörter könnten leicht den Sinn verschleiern, den eine Interpretation zu enthüllen vermag. Erleuchtung in der Welt Hugos und das, was wir darunter verstehen, sind vollkommen verschiedene Dinge. Und der Unterschied liegt nicht nur darin, daß wir einen Lichtschalter betätigen und Hugo Wachskerzen benutzte. Das Licht, das - in Hugos metaphorischem Wortgebrauch - den Menschen erleuchtet, bildet den absoluten Kontrast zum Licht der Vernunft des 18. Jahrhunderts. Das Licht, von dem Hugo hier spricht, bringt den Menschen zum Glühen. Mit der Annäherung an die Weisheit fängt er an zu strahlen. Das emsige Streben, das Hugo lehrt, ist die Verpflichtung zu einer Tätigkeit, bei der das eigene »Selbst« des Lesers erglühen und zum Funkeln gebracht werden wird.33 Das Buch, das Hugo kennenlernte, als ihm in seiner Kindheit in Flandern oder als Knabe in Sachsen beigebracht wurde, ein Schreibrohr oder eine Feder zu halten, war mit dem gedruckten Gegenstand in unseren Regalen kaum zu vergleichen. Es hatte nichts von der Aura, die jenes uns wohlbekannte
Bündel von Blättern, die mit gedruckten Zeichen bedeckt und am Rücken zusammengeleimt sind, charakterisiert. Die Blätter waren noch immer aus Pergament und nicht aus Papier. Die lichtdurchlässige Schaf- oder Ziegenhaut war mit Manuskript beschrieben und bekam Leben durch Miniaturen, die mit feinen Pinseln gemalt waren. Die Gestalt der vollkommenen Weisheit konnte durch diese Häute scheinen, Buchstaben und Symbole zum Leuchten bringen und das Auge des Lesers erglühen lassen.34 Ein Buch anzuschauen war ein Erlebnis ähnlich dem, das man am frühen Morgen in gotischen Kirchen haben kann, in denen die Originalfenster erhalten sind. Wenn die Sonne aufgeht, bringt sie Leben in die Farben des Glases, das vor Sonnenaufgang wie eine schwarze Füllung in den Steinbögen ausgesehen hatte. Lumen Wenn man besser verstehen möchte, wie das Wesen des Lichts im 12. Jahrhundert wahrgenommen wurde, ist es hilfreich, eine Miniatur aus einem zeitgenössischen codex neben ein nahezu beliebiges Gemälde einer späteren Periode zu legen. Wenn man die beiden Kunstwerke vergleicht, fällt sofort auf, daß die Gestalten auf dem Pergament von selbst leuchten. Natürlich sind sie nicht mit Leuchtfarben gemalt, und sie bleiben in völliger Dunkelheit unsichtbar. Aber wenn man sie in den Schein einer Kerze rückt, beginnen die Gesichter und Kleider und Symbole, Licht auszustrahlen. Dies steht in starkem Kontrast zur Kunst der Renaissance, deren Schöpfer sich an Schatten erfreuen und am Malen von Dingen, die in der Dunkelheit versteckt sind. Die Welt wird so dargestellt, als besäßen alle Kreaturen ihre eigene Lichtquelle. Licht wohnt dieser Welt mittelalterlicher Dinge inne, und das Auge des Betrachters nimmt diese als Quellen ihrer eigenen Leuchtkraft wahr. Man hat das Gefühl, daß das Bild nicht nur unsichtbar wäre, sondern ganz aufhören würde zu existieren, wenn diese Leuchtkraft erlöschen würde. Das Licht hat hier nicht einfach eine Funktion, sondern es ist eins mit der Bildwelt, der gemalten Wirklichkeit.35 Die Miniaturen des frühen 12. Jahrhunderts stehen hierin in der Tradition der Ikone der oströmischen Kirche.36 Dieser Tradition nach malt der Maler kein Licht, das den Gegenstand trifft und dann von diesem reflektiert wird, und er deutet solches Licht auch nicht an. Signorelli - und noch mehr Caravaggio - ist stolz darauf, daß er opake Gegenstände malen und sogar das Licht darstellen kann, das diese zum Leuchten bringt. Wenn man eines seiner Gemälde anschaut, spürt man, daß dessen Licht von einer anderen Ebene als der des Gemäldes selbst ausgeht, und daß es dazu da ist, die abgebildete Welt sichtbar zu machen. Diese Maler vermitteln den Eindruck, eine dunkle Welt von Dingen geschaffen zu haben, die auch dann noch da wären, wenn das Licht, das sie beleuchtet, ausgelöscht würde. Im Gegensatz zu den leuchtenden Wesen der mittelalterlichen Welt, die in ihrem Eigenlicht glänzen und Licht aussenden (Sendelicht), malen die späteren Künstler Licht, das zeigt, was da ist (Zeigelicht), das Licht, das von einer gemalten Sonne oder Kerze ausgeht und die Gegenstände beleuchtet (Beleuchtungslicht). Wenn Hugo vom Licht spricht, das den Leser erleuchtet, spricht er ganz eindeutig vom ersteren.37 Für Hugo strahlt die Seite, aber nicht nur die Seite, auch das Auge strahlt.38 Noch heute sagt man in der Umgangssprache, daß die Augen »leuchten«. Wenn man das sagt, weiß man jedoch, daß man metaphorisch spricht. Das war für Hugo nicht so. Er faßte geistige Vorgänge analog zur Wahrnehmung seines Körpers.39 Nach der spirituellen Optik der Frühscholastik benötigte man das lumen oculorum, das Licht, das vom Auge
ausgeht, um die leuchtenden Gegenstände der Welt sinnlich wahrnehmbar zu machen. Das leuchtende Auge war Voraussetzung für das Sehen. Hugos incipit deutete an, daß das Lesen Schatten und Finsternis von den Augen der gefallenen Menschen nahm. Das Lesen ist für Hugo ein Heilmittel, weil es Licht in eine Welt zurückbringt, aus der es wegen der Sünde verbannt worden war. Laut Hugo wurden Adam und Eva mit Augen erschaffen, die so strahlend waren, daß sie immerwährend betrachteten, wonach der Mensch jetzt mühsam Ausschau halten muß. 26 Wegen ihrer Sünden wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben. Aus einer strahlenden Welt wurden sie in eine Welt des Nebels verbannt, und ihre Augen verloren die Leuchtkraft, mit der sie erschaffen worden waren und die dem Wesen und Verlangen des Menschen noch immer ansteht. Hugo bietet das Buch als Arznei für das Auge an. Er bedeutet, daß die Buchseite ein vortreffliches Heilmittel ist; sie erlaubt es dem Leser, durch Studium einen Teil dessen zurückzuerhalten, wonach es ihm wesensgemäß verlangt, was ihm aber seine sündige innere Finsternis verweigert. Die Seite als Spiegel Hugo fordert seinen Leser auf, sich dem Licht, das von der Seite ausgeht, auszusetzen, ut agnoscat seipsum, damit er sich selbst erkenne, sein Selbst anerkenne. Im Licht der Weisheit, das die Seite zum Glühen bringt, wird das Selbst des Lesers Feuer fangen und im Feuerschein wird er sich selbst erkennen.40 Auch hier zitiert Hugo eine auctoritas, das gnoti seauton, die Maxime »erkenne dich selbst«, deren früheste Quelle Xenophon ist, und die während der Antike ein stehendes Epigramm bleibt und im 12. Jahrhundert häufig zitiert wird.41 Die Tatsache allein, daß ein autoritativer Schlüsselsatz ein Jahrtausend oder länger immer wieder in unveränderter Form zitiert wird, ist jedoch keineswegs eine Garantie dafür, daß auch seine Bedeutung unverändert geblieben ist. Deshalb bin ich versucht, Hugos seipsum mit »dein Selbst« und nicht mit »dich selbst« zu übersetzen. Das, was wir heute meinen, wenn wir in einem normalen Gespräch vom »Selbst« oder vom »Individuum« reden, ist eine der großen Entdeckungen des 12. Jahrhunderts. Es gab weder in der griechischen noch in der römischen Begriffswelt einen passenden Platz dafür. »Wer die griechischen Väter oder die hellenistische Philosophie studiert, wird sich wahrscheinlich des Unterschieds zwischen ihrem Ausgangspunkt und unserem schmerzlich bewußt werden. Unsere Schwierigkeit, sie zu verstehen, liegt hauptsächlich in der Tatsache begründet, daß sie keine Entsprechung zu unserer »Person« besaßen.42 Eine soziale Wirklichkeit, in der unsere Form des Selbst vorausgesetzt wird, stellt eine kulturelle Exzentrizität dar.43 Diese Exzentrizität kommt während des 12. Jahrhunderts auf. Hugos Werk bezeugt das erste Auftauchen dieser neuen Daseinsweise. Als Mensch, der in »aller Literatur, die es gibt«, belesen ist, findet er Wege, die überlieferten auctoritates und Mentalitäten so zu interpretieren, daß dieses neue Selbst in ihnen zum Ausdruck kommen kann. Er möchte, daß der Leser die Seite so betrachtet, daß er mit Hilfe des Lichts der Weisheit sein Selbst im Spiegel des Pergaments entdeckt.44 In der Seite wird der Leser sich selbst erkennen; nicht so, wie andere ihn sehen oder durch die Titel oder Spitznamen, die sie ihm geben, sondern indem er sich selbst sieht. Das neue Selbst Mit dem Geist der Selbstdefinition bekommt das Fremdsein einen neuen, positiven Sinn. Hugos Aufforderung, »die Süße des heimatlichen Bodens« zu verlassen und sich auf eine Reise der Selbstentdeckung zu begeben, ist nur ein Beispiel für das neue Ethos.
Bernhard von Clairvaux ruft zu den Kreuzzügen auf, die in anderer Form die gleiche Aufforderung ausdrücken: Menschen auf allen Ebenen der feudalen Hierarchie sollen die gemeinsame Gedankenwelt ihrer Umgebung verlassen, in der Identität dadurch entsteht, wie andere mich benennen und behandeln, und ihr Selbst in der Einsamkeit der langen Reise entdecken. Bernhards Aufruf veranlaßt Zehntausende dazu, ihre Dorfgemein28 schaft zu verlassen, und sie entdecken, daß sie, auf sich allein gestellt, überleben können, ohne die Bindungen, die sie innerhalb des festgefügten feudalen ordo sowohl versorgt als auch gefesselt hatten. Als Pilger und Kreuzritter, als reisende Steinmetze und Mühlenbauer, als Bettler und Reliquiendiebe, als fahrende Spielleute und Scholaren gehen sie am Ende des 12. Jahrhunderts auf Wanderschaft.45 Hugos Forderung, daß der Gelehrte ein Heimatloser im Geiste zu sein habe, spiegelt diese Stimmung wider. Er ist nicht der einzige seiner Generation, der das Klosterleben in eine peregrinatio in stabilitate umgedeutet hat, also in eine geistige Pilgerschaft derer, die sich zum Verbleiben an einem Ort innerhalb einer religiösen Gemeinschaft verpflichtet haben.46 Ich behaupte nicht, daß das »moderne Selbst« im 12. Jahrhundert geboren wurde und auch nicht, daß das Selbst, das in dieser Zeit zutage tritt, nicht eine lange Reihe von Ahnen gehabt hätte.47 Heute betrachten wir uns gegenseitig als Menschen mit Grenzen. Unsere Persönlichkeiten sind genauso voneinander getrennt wie unsere Körper. Ein Dasein in innerer Distanz zur Gemeinschaft, das der Pilger, der sich nach Santiago aufmachte und der Schüler, der das Didascalicon las, allein entdecken mußte, ist für uns eine soziale Realität; etwas so Selbstverständliches, daß wir gar nicht auf den Gedanken kämen, es wegzuwünschen. Wir werden in eine Welt von Fremden hineingeboren. Winston Auden drückt das deutlich aus: Some thirty inches from my nose The Frontier of my Person goes And all the untilled air between Is untilled pagus and demesne. Stranger, unless with bedroom eyes I beckon you to fraternize 29 Beware of rudely crossing it I have no gun, but I can spit.48 Diese existentielle Grenze ist unbedingt notwendig für jeden, der in unsere Welt hineinpassen möchte. Und wenn sie erst einmal die geistige Topologie eines Kindes geprägt hat, wird dieses Wesen immer ein Fremdling sein in allen »Welten« außer denen, in welchen ebensolche Fremde wohnen.49 Es wird häufig behauptet, daß diese Grenze zur Zeit Hugos entsteht, und zwar als ein Aspekt der neuen Bedeutung des Wortes Person, persona, und deren gesellschaftlicher Anerkennung.50 Für Menschen des früheren Mittelalters bedeutete persona Amt, Funktion oder Rolle; diese Bedeutungen waren auf verschiedene Weise vom lateinischen Wort persona, Maske, abgeleitet. Für uns bedeutet es das Individuum im eigentlichen Sinne, das eine einzigartige Persönlichkeit, Physis und Psyche hat. »In der Person von« bewahrt, zur Formel versteinert, die ältere Bedeutung, wie auch der englische parson - Pastor, Pfarrer - lange als die juristische persona betrachtet, die als Kläger oder Beklagter in Gemeindefragen auftrat.51 Was ich hier betonen möchte, ist die besondere Übereinstimmung zwischen der Entstehung des Selbst als Person und dem Abheben »des« Textes von der Seite. Hugo weist seinem Leser den Weg in ein fremdes Land. Er verlangt aber nicht von ihm, daß er seine Familie und seine gewohnte Umgebung verläßt, um von Ort zu Ort in Richtung Jerusalem oder Santiago zu wandern. Er erwartet vielmehr, daß sich der Leser ins Exil
begibt, um eine Pilgerreise durch die Seiten eines Buchs anzutreten.52 Er spricht vom Höchsten, zu dem sich der Pilger hingezogen fühlen sollte, und für die Pilger der Feder ist das nicht, wie für die Pilger des Stabs, die himmlische Stadt, sondern die Gestalt der vollendeten Güte. Und er macht darauf aufmerksam, daß der Leser auf dieser Straße zum Licht unterwegs ist, das ihm sein eigenes Selbst 30 enthüllen wird. Hugo drängt seine Leser, nicht zu lesen, um gelehrt zu erscheinen, sondern »(die Seite) immer vor das Auge des Geistes zu halten, als wäre sie ein Spiegel für das eigene Antlitz«. In lumine tuo videbimus lumen. (Psalm 36,9) Immer spricht Hugo aus nachhaltig visueller Perspektive. Bei der Suche nach Weisheit gibt er stets dem Auge Vorrang. Mit dem Auge nimmt er die Süße der Schönheit wahr. Er spricht vom Schatten, aus dem der Philosoph treten muß, um sich dem Licht zu nähern, und von der Sünde spricht er meist als Finsternis. Die Erleuchtung berührt für Hugo drei Augenpaare: die Augen des Fleisches, die die materiellen Dinge entdecken, die in der irdischen Sphäre der greifbaren Gegenstände enthalten sind, die Augen des Verstandes, die das Selbst betrachten sowie die Welt, die es widerspiegelt, und schließlich die Augen des Herzens, die im Licht der Weisheit ins Innere Gottes vordringen, zu Gottes Sohn, der als höchstes »Buch« im Schoß des Vaters verborgen ist.53 Amicitia Wenn Hugo liest, erlebt er die Rückkehr des Lichts, das uns unserer Sünden wegen genommen worden ist. Seine frühmorgendliche Pilgerschaft durch den Weinberg der Seite führt ins Paradies, das er sich als Garten vorstellt. Die Worte, die er vom Spalier der Zeilen pflückt, sind Vorgeschmack und Versprechen der Süße, die noch kommen wird. Freundschaft ist Hugos bedeutsamste Metapher für die erhoffte Erfüllung und für den Weg dorthin. Est philosophia amor et studium et amicitia quodammodo sapientiae , »Liebe, Suche und gewissermaßen Freundschaft der Weisheit« motivieren ihn zu seiner Pilgerschaft.55 Paradoxerweise klingt es für Leser des späten 20. Jahrhunderts schamlos, wie Mönche des 12. Jahrhunderts von Freundschaft sprechen. Die zarte Freundschaft, die diese Mönche in leibhaftiger Erregung füreinander und ihre Schwestern, die Nonnen waren, empfanden, bezeugt einen Erfahrungsraum, der auch der edelsten persönlichen Beziehung diametral entgegengesetzt ist, die seit »dem Verbot von >Lady Chatterley< und der ersten LP der Beatles«56 bestanden hat. Bei Hugo ist Freundschaft das Wort für jene Liebe zur Weisheit, die sapientia oder geschmackvolles57 Wissen ist.58 Der Freund ist paradisus homo, »allein seine Gegenwart macht selig; Freundschaft ist ein Garten, ein Lebensbaum, Schwingen für den Flug zu Gott. . . Süße, Licht, Feuer, Schmerz [...] die Rückkehr ins Paradies.«59 Wenn Hugo im Didascalicon den Reiz der Weisheit erklärt, muß er einfach die Metapher der Freundschaft wählen, die letztlich das Studium motiviert.60 Einige Jahrzehnte lang haben Hugos Zeitgenossen die platonische Doktrin wiederentdeckt und christianisiert, die besagt, daß Wissen ohne Freundschaft, die sich am Wissen des Freundes erfreut, unzureichend ist. Hugo selbst konnte nicht anders, als das höchste Ziel des Studium anhand dieser Erfahrung zu interpretieren. Das Licht der Weisheit, das den Geist des Schülers umgibt, ruft ihn und zieht ihn so zu sich selbst zurück, daß er den anderen immer als Freund berührt. Durch die unsichtbaren Dinge der Welt gelangt der wahre Leser zu den unsichtbaren [...], indem er in seinem Herzen eine Leiter hinaufsteigt zu einer Vereinigung in den Armen eines wunderbaren Gottes.61 32
2 Ordnung, Gedächtnis und Geschichte Schaue niemals auf etwas herab • Ordo • Artes • Die Schatztruhe im Herzen des Lesers • Die Geschichte des Gedächtnisses • Römische Juristenkunst im Dienste mönchischen Gebets • Die Arche ist die Kirche • Historia als Fundament • Alle Schöpfung ist sinnträchtig Schaue niemals auf etwas herab Wenn du dich an kleinen Dingen getränkt hast, kannst du dich gefahrlos an die Großen wagen«62 zitiert Hugo Marbodus63, um einen der beiden Abschnitte in seinem gesamten Werk einzuleiten, in denen er etwas aus seiner eigenen Jugend erzählt.64 In diesem Bruchstück einer Autobiographie verfällt er gelegentlich in die direkte Rede. »Ich wage es zu behaupten, daß ich nichts von dem, was für meine Ausbildung Wert hatte, verachtet habe; daß ich vielmehr oftmals manches gelernt habe, was andere für Tändelei oder Thorheit hielten. Ich entsinne mich, daß ich zur Zeit, wo ich noch Schüler war, mich abgemüht habe, die Namen aller Dinge, die uns in die Augen fallen oder uns unter die Hände kommen, zu lernen, indem ich dabei der Erwägung Raum gab, daß einer die Wesenheit der Dinge nicht ohne Hemmnis erforschen könne, wofern er die Namen derselben nicht kenne. Wie oft habe ich meine Schlußreihen, die ich der Kürze wegen mit einem oder zwei Ausdrücken auf einem Blatte angedeutet hatte, in der von mir selbst für den einzelnen Tag festgelegten Anzahl hin und her überlegt, so daß ich fast von allen Behauptungen, Fragen und 33 Einwendungen, wie ich sie gelernt hatte, Erklärung und Regel gedächtnismäßig mir einprägte. Oftmals habe ich Rechtshändel erdichtet und dann die Rollen, die dabei nach Art gerichtlicher Streitigkeiten von einem Lehrer der Beredsamkeit, von einem geschulten Redner, von einem spitzfindigen Wortklauber übernommen werden würden. Steinchen stellte ich zu Reihen zusammen und mit schwarzer Kohle entwarf ich Zeichnungen auf dem Fußboden, und an solchen in die Augen fallenden Darstellungen machte ich dann den Unterschied zwischen einem stumpfen, einem rechten und einem spitzen Winkel offenkundig. Und daß bei einem gleichseitigen rechtwinkeligen Viereck sich durch die Vervielfältigung zweier Seiten miteinander der Flächeninhalt ergiebt, habe ich dadurch in Erfahrung gebracht, daß ich fußweise die Seiten abschritt. Häufig habe ich die Winternächte hindurch im Freien zugebracht, um astronomische Beobachtungen65 anzustellen (excubavi). Oft spannte ich die Saiten in gewisser Zahl über ein Stück Holz, auf daß ich den Unterschied der Töne mit meinem Ohr vernahm und zugleich mein Gemüt an der lieblichen Weise des Liedes ergötzte. Dies war ein kindisches Verfahren, gleichwohl aber kein nutzloses. Das Wissen um diese Dinge verspüre ich auch heute nicht als eine Last. Dies enthülle ich dir aber nicht, um mich mit meinem Wissen, welches gar nichts oder doch nur sehr wenig auf sich hat, zu brüsten, sondern um dir zu zeigen, daß derjenige am zweckmäßigsten weiter schreitet, welcher nach einem wohlüberlegten Plane (ordinate) einhergeht und nicht in der Weise anderer, die da, während sie einen weiten Sprung thun wollen, in den Abgrund stürzen.«66 Ordo Der Übergang vom kindlichen Suchen zum erwachsenen Lesen wird von etwas bestimmt, das Hugo ordo nennt. Hugo betont an 34 mehreren Stellen, daß der Leser geordnet vorangehen müsse, ordinate procedere
debet, oder daß er in ausgeglichener Gangart voranschreiten solle. Hugo schafft nicht die Ordnung der Dinge, sondern er folgt ihr, hält sich an sie, sucht sie. Das »Ordnen« ist die Verinnerlichung jener kosmisch-symbolischen67 Harmonie, die Gott mit dem Akt der Schöpfung entstehen ließ. Ordnen bedeutet nicht, Wissen nach vorgegebenen Themen zu organisieren und zu systematisieren und auch nicht, es zu verwalten. Die Geschichte wird nicht der Ordnung des Lesers unterworfen, sondern er muß sich in ihre Ordnung fügen. Die Suche nach Weisheit ist eine Suche nach den Symbolen der Ordnung, denen wir auf der Seite begegnen. Dichter und Mystiker verwenden das Motiv der Jagd68, der Pilger steht immer wieder vor einer Weggabelung.69 Er ist auf der Suche nach Symbolen, die er erkennen und finden muß, indem er seinen Platz innerhalb ihres ordo findet. Gerhart Ladner, dessen dankbarer Schüler ich bin, hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß es in der Bedeutung des Symbols im 12. Jahrhundert sowohl eine Kontinuität als auch einen Bruch gibt. »Es war einer der grundlegenden Charakterzüge der frühen christlichen und mittelalterlichen Mentalitäten, daß die zeichenhafte, symbolisierende und allegorisierende Funktion alles andere als arbiträr oder subjektiv war; man glaubte, daß Symbole verschiedene Aspekte eines Universums objektiv wiedergeben und getreulich ausdrücken konnten, das als zutiefst bedeutungsvoll wahrgenommen wurde.«70 Für unsere Generation, die mit Freud und Jung großgeworden ist, ist es fast unmöglich, zu begreifen, was das Symbol bedeutet hat. Das griechische Verb symbalein bedeutet »zusammenbringen, -werfen oder -setzen«. Es kann die Nahrung meinen, die die Teilnehmer zum Mahl am festlichen Tisch mitbringen. Es ist etwas Zusammengefaßtes, dinglich Bedeutsames, das erst in der Spätantike zum semeion, Zeichen, wird. Bezeich35 nenderweise nahm symbolon in den Schriften der späten griechischen Kirchenväter die Bedeutung signum an, besonders in denen des Pseudo-Dionysius, des Areopagiten, der alle Schöpfung, uns und die Engel eingeschlossen, als Symbole oder Zeichen behandelt, die Gott schuf, damit ihn die Menschen durch diese erkennen lernen. Aber »Gott steht so hoch über der menschlichen Vorstellungskraft (daß) es mehr offenbart, wenn man das Göttliche und Himmlische mit Erscheinungen ausdrückt, die aus den niederen Bereichen des erschaffenen Kosmos stammen, als wenn man Symbole wählt, die Ihm oberflächlich näher zu sein scheinen. So kann, wenn man biblische Symbolik verwendet, [...] nicht nur das Licht der Sonne oder der Sterne, sondern auch ein wildes Tier, wie ein Löwe, oder auch ein Stein, der von einem Bauarbeiter aussortiert worden ist, Christus symbolisieren.«72 Hugos Denken war durch sein Lesen und Kommentieren von Dionysius fast ebenso stark geprägt wie durch seine Bekanntschaft mit Augustinus. Er übersetzt Dionysius vollendet, wenn er sagt: »Ein Symbol ist das Zusammentragen sichtbarer Formen, um das Unsichtbare zu zeigen. «73 Das »Zusammentragen« gibt die klassische griechische Bedeutung des Worts symbolon wieder und läßt Rückschlüsse darauf zu, was man zu Hugos Zeit unter Symbol verstand: »Brücken zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem, was jenseits davon liegt.«74 Im Gegensatz zu modernen Deutungen von Symbolik, die Symbole als gleichrangig mit Mythen einschätzen oder beide sogar als identisch betrachten, sind sie für Hugo »Tatsachen und Ereignisse, Erscheinungen in Natur und Geschichte und jenseits davon, so, daß sie zu den meta-physischen und meta-historischen Bereichen fuhren, die von Glauben und Theologie umfaßt sind«.75 Nur wenn man das Gegebene der kosmischen Ordnung voraussetzt, klingen Hugos
Schwierigkeiten, methodologische Ordnung zu erklären, nicht mehr kindisch. Der Leser muß lernen, eine Ordnung von der anderen zu unterscheiden. Die 36 chronologische Reihenfolge, in der Cicero seine Bücher schrieb, ist eine andere Form der Ordnung als die Folge, in der sie der Archivar zufällig zwischen zwei Buchdeckel gebunden hat. Die historische Ordnung muß von der Ordnung, in der wir zufällig lernen, unterschieden werden; darauf besteht Hugo seinen Schülern gegenüber. Beim sorgfältigen Lesen pickt man immer Häppchen heraus, die anschließend gebündelt, gesichtet und gruppiert werden müssen. Aber dieser Vorgang des Ordnens wird nur eine Wirkung haben, wenn sich der Leser an ein Grundlegendes erinnert: Alle Dinge und Ereignisse dieser Welt beziehen ihre Bedeutung von dem Ort, an dem sie in der Geschichte von Schöpfung und Heil eingefügt sind. Es ist die Aufgabe des Lesers, alles, was er liest, an der entsprechenden Stelle in der historia zwischen Genesis und Apokalypse einzuordnen.76 Nur wenn er das tut, wird ihn das Lesen der Weisheit näher brin-gen.77 Artes78 Das Didascalicon ist für Anfänger geschrieben. Es versieht sie mit Regeln, die ihnen ein geordnetes Vorankommen ermöglichen sollen. In der ersten Hälfte (Kapitel 1-3) werden die sieben freien Künste79 behandelt, in der zweiten (Kapitel 4-6) das Lesen der Heiligen Schrift.80 Im ersten Teil nimmt Hugo ein Konzept auf, das erstmalig von reisenden sophistischen Lehrern formuliert worden war. Diese boten Unterricht in den Freien Künsten an - Seneca unterschied sie von jenen anderen Künsten, die manuelle Fähigkeiten verlangten - und bereiteten ihre Schüler auf die Philosophie vor.81 Die Teilung dieser Künste durch die heilige Zahl sieben kommt in der Spätantike auf, und Hugo übernimmt sie von Isidor von Sevilla, über Beda und Alkuin.82 Hugo äußert seine Unzufriedenheit mit den Schülern seiner 37 Zeit, die »ob sie nicht können oder nicht wollen, die dem Studium entsprechende Ordnung nicht einhalten, und so finden wir viele, die studieren, aber wenige, die weise sind«. Aber von den Alten sagt er: »Zu damaliger Zeit erschien niemand des Namens eines Lehrers würdig, welcher nicht im stände war, die Kenntnis dieser sieben Wissenschaften durch seine Lehre kund zu thun. Pythagoras soll bei seinen Lehrunterweisungen die Gepflogenheit beobachtet haben, daß keiner seiner Schüler über das, was von Pythagoras gelehrt wurde, eine Erklärung zu fordern sich erkühnte, bevor er die Siebenzahl, d. i. die sieben freien Künste, beherrschte, sondern daß er den Worten des Lehrers Vertrauen schenkte, bis er alles gehört hatte und damit die Begründung für diese Lehren aus sich selbst ausfindig machen konnte. Es sollen einige seiner Schüler diese sieben freien Künste mit solchem Eifer gelernt haben, daß sie dieselben vollständig ihrem Gedächtnisse einprägten, so daß sie - welche Schriften sie auch zur Hand nahmen und welche Fragen sie auch zur Lösung oder zur Begründung sich vorlegten - die Lehrsätze und Vernunftgründe zur Erläuterung des strittigen Punktes nicht in Büchern aufsuchten, sondern das einzelne ohne weiteres in ihrem Gedächtnisse zurecht liegen hatten.«83 Hugo möchte Schüler84, die so gut lesen, daß sie, ohne zu blättern, sofort Einzelheiten in ihrem Herzen bereit haben.85 Die Gedächtnisübung ist für Hugo eine Voraussetzung für das Lesen, etwas, was er in einem Handbuch darstellt, das er bei den Lesern des Didascalicon als bekannt voraussetzt.86 Die Schatztruhe im Herzen des Lesers
In diesem speziellen Lehrbuch87 richtet sich Hugo an ganz junge Schüler, die er auffordert, ihre Merkfähigkeit zu erweitern und zu verfeinern. 38 »Mein Kind. Die Weisheit ist ein Schatz, und dein Herz ist Her Platz, ihn zu verwahren. Wenn du die Weisheit lernst, sammelst du wertvolle Schätze; Sie sind unsterbliche Schätze, die ihren Glanz nie verlieren. Es gibt viele Arten der Weisheit, und in der Truhe deines Herzens gibt es viele Verstecke; solche für Gold, für Silber und für Edelsteine... du mußt lernen, diese Plätze zu unterscheiden, zu wissen, welche Dinge hier liegen und welche dort. . . Mach es wie der Geldwechsler auf dem Markt, dessen Hand ohne Zögern in den richtigen Sack taucht und sofort die richtige Münze herausfischt.«8S Damit sie diese Form der Kontrolle über ihren eigenen Gedächtnispalast entwickeln können, leitet Hugo seine Schüler dazu an, sich einen Raum im eigenen Inneren vorzustellen, modum imaginandi domesticum, und sagt ihnen, wie sie bei seinem Aufbau vorgehen sollen. Er fordert den Schüler auf, sich eine Reihe ganzer Zahlen vorzustellen, seinen Fuß auf deren Anfangspunkt zu setzen und die Reihe dann bis zum Horizont laufen zu lassen. Wenn sich solche »Straßen« dann der Phantasie des Kindes eingeprägt haben, besteht die Übung darin, die Zahlen stichprobenartig zu »besuchen«. In seiner Phantasie soll der Schüler zwischen den einzelnen Punkten, die er mit römischen Zahlen markiert hat, hin und her flitzen. Wenn er das häufig genug getan hat, werden diese Besuche so zur Gewohnheit werden, wie die Handbewegungen des Geldwechslers. Wenn der Schüler in diesem Grund fest verankert ist, kann er alle Ereignisse der biblischen Geschichte in den richtigen Rahmen bringen; alle bekommen eine Zeit und einen Platz innerhalb einer Serie: Patriarchen, Opfer, Siege.89 Die siebzig Tafeln, die dieser Einführung folgen, enthalten mehrere tausend Posten, die in der Bibel vorkommen. Hugo erwartet von seinem Schüler, daß er jeden Apostel in die Reihe der Apostel, jeden Patriarchen in die Reihe der Patriarchen einordnen kann und lehrt ihn, zwischen den verschiedenen Kolumnen hin und her zu rasen.90 Bestimmte 39 Sätze, mnemotechnische Wendungen, werden für das Gedächtnistraining verwendet. Ein Beispiel ist: »In sechs Tagen wurde die Welt vollendet erschaffen, und in sechs Zeitaltern wurde der Mensch erlöst.« So bildete man, ein Jahrhundert vor der Gründung der Universität und ein Jahr vor der Zusammenstellung des ersten erhaltenen rudimentären Sachverzeichnisses, in Paris die Novizen zum Nachschlagen aus. Das Kind wurde dazu geschult, Gedächtnislabyrinthe zu erbauen und die Gewohnheit zu entwickeln, sich in ihnen zu bewegen und etwas wiederzufinden. Erinnerung betrachtete man nicht als Kartierung, sondern als psychomotorischen, moralisch motivierten Akt. Als modernem jungen Menschen war mir der Baedeker von Kindheit an vertraut. Als Bergführer habe ich gelernt, daß man Karten und Photographien deuten können muß, bevor man sich ins Gebirge wagt. Als ich Jahrzehnte später zum ersten Mal nach Japan kam, kaufte ich einen Stadtplan von Tokio. Ich durfte ihn aber nicht benutzen. Die Frau meines Gastgebers ließ es einfach nicht zu, daß ich mir einen Weg durch die Labyrinthe der Stadt suchte, indem ich sie im Geiste von oben betrachtete. Tag für Tag führte sie mich bald um diese, bald um jene Ecke, bis ich mich im Labyrinth zurechtfand und meine Ziele erreichen konnte, ohne jemals abstrakt zu wissen, wo ich mich befand. Das Nachschlagen muß vor der Zeit der Inhaltsangabe und des Index dieser kartenlosen Orientierung, zu der wir infolge unserer Schulbildung unfähig sind, sehr ähnlich gewesen sein. Fortgeschritteneren Schülern empfahl Hugo eine viel komplexere, dreidimensionale
Arche - eine räumlich-zeitliche Matrix, die sich der Schüler nach dem Muster der Arche Noah im Geiste aufbauen sollte. Nur jemand, der schon in seiner frühen Jugend gelernt hat, sich in den eher einfachen Kolumnen von De tribus circumstantiis zu bewegen, und der historiam sacram, die Heilsgeschichte (die die Geschichte der eigenen Erlösung ist), innerhalb dieses zweidimensionalen Rahmens untergebracht hat, kann 40 Hugo beim Aufbau dieses anspruchsvollen, dreidimensionalen, vielfarbigen Mammutgedächtnisplans folgen. Der Mann, der Hugos Schriften über die moralische und mystische Arche am eingehendsten studiert hat, ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Etwa 200 Quadratmeter Papier würde man benötigen, um einen noch lesbaren Plan von Hugos Archenmodell historischer Zusammenhänge herzustellen. Mediävisten des 20. Jahrhunderts, von denen die meisten keinerlei mnemotechnische Ausbildung erhalten haben, können sich einen Plan von Hugos Arche vielleicht vorstellen, aber sie werden die Erfahrung einer solchen Arche im eigenen Geist, »in der ihr Denken vollkommen zu Hause ist«91, nie herbeiführen können. Die Geschichte des Gedächtnisses Daß Hugo die Kunst des Gedächtnistrainings, die nach der Antike in Vergessenheit geraten war, wiederentdeckt hat, ist erkannt worden.92 Man hat auch wahrgenommen, daß das geübte Gedächtnis für ihn eine Grundvoraussetzung für das Lesen ist. Daß Hugo aber die Gedächtnismatrix von einem architektonisch-statischen zu einem historisch-wandelbaren Modell tiefgreifend weiterentwickelte, hat wenig Beachtung gefunden.93 Die vorschriftliche griechische Redekunst und der epische Gesang bauten nicht auf dem visuellen Gedächtnis auf, sondern auf dem Erinnern von Formeln, die zum Rhythmus der Lyra geäußert wurden.94 Bevor die Praxis bewiesen hatte, daß das Alphabet flüchtige Wörter in Schriftreihen festhalten konnte, hätte sich niemand eine Vorratskammer oder eine Wachstafel im Verstand vorstellen können. Diese Form des Gedächtnisses und dessen künstliche Verbesserung entstehen während des Übergangs vom archaischen zum klassischen Griechenland.95 Wir müssen uns auf einige Rudimente der Geschichte des Gedächtnisses besinnen, um Hugos einzigartige Stellung begreifen zu können. Was Anthropologen als »Kulturen« unterscheiden, könnte der Historiker geistiger Räume als verschiedene »Gedächtnisse« unterscheiden. Wie man sich etwas ins Gedächtnis zurückruft, sich erinnert, hat eine Geschichte, die sich zu einem gewissen Grad von der Geschichte dessen, woran man sich erinnert, unterscheidet. Während des 12. Jahrhunderts machte die Kunst der disziplinierten und kultivierten Erinnerung eine Metamorphose durch, die man nur mit dem vergleichen kann, was während des Übergangs vom präliteraten zum literaten Griechenland vor sich ging. Es besteht eine offensichtliche Analogie zwischen der Entdeckung des »Wortes« und der »Syntax« an der Wende des 5. Jahrhunderts vor Christus und der Erschaffung von Layout und Index kurz vor der Entstehung der Universität in Europa. Wir vergessen manchmal, daß Wörter Kreaturen des Alphabets sind. Die griechische Sprache hatte ursprünglich kein Wort für »ein Wort«, als einzelnes betrachtet.96 Das Griechische besaß nur verschiedene Termini, die sich auf Laute und andere Signale oder Ausdrucksweisen bezogen: Äußerungen konnten mit den Lippen, der Zunge oder dem Mund artikuliert werden, aber auch mit dem Herzen, wenn es zum Freund sprach, oder mit dem thymos, der in Achilles hochstieg und ihn in die Schlacht trieb, oder durch das Aufwallen des Bluts. Unsere Art »Wörter« nahmen, wie die anderen syntaktischen Bestandteile des Sprechens, erst Bedeutung an, nachdem sie während der ersten
Jahrhunderte der Alphabetbenutzung mit dessen Hilfe »ausgebrütet« worden waren. Das ist offensichtlich ein Grund dafür, daß man vor dem 5. Jahrhundert keine »Wort«-Ketten auswendig lernen oder behalten konnte. Wir sind in unserem Denken auf solche Einheiten eingestellt und können sie aus unserem geistigen Wörterbuch heraussuchen, weil wir wissen, wie man sie schreibt. Das Alphabet ist schon eine ausgezeichnete Technik zur Sichtbarmachung von Lautäußerungen. Seine zwei Dutzend Zeichen können die Erinnerung an Äußerungen auslösen, die mit dem Mund, der Zunge oder den Lippen artikuliert worden sind, und das herausfiltern, was durch Gestik, Mimik oder Gefühle gesagt worden ist. Anders als andere Schriftsysteme zeichnet es Laute auf und nicht Gedanken. Und hierin ist es absolut narrensicher: Einem Leser kann beigebracht werden, Dinge zu äußern, die er niemals vorher gehört hat. Das hat das Alphabet während der letzten zweitausend Jahre immerhin geleistet, und zwar mit unvergleichlicher Effizienz. Neben diesem technischen und zweckdienlichen Gebrauch des Alphabets als Werkzeug sagt dessen bloße Existenz in einer Gesellschaft deren Mitgliedern etwas, was selten, wenn überhaupt, niedergeschrieben worden ist. Als es deutlich wurde, daß das Sprechen mit Hilfe des Alphabets festgelegt und in sichtbare Einheiten eingeteilt werden kann, wurde es gleichzeitig zu einem neuen Mittel, die Welt zu betrachten. Platon stellte schon im Cratylus (424d) fest, daß die Buchstaben inzwischen als Elemente des Sprechens angesehen wurden. So wurden Wörter zu den kleinsten Einheiten von Aussagen, und den Akt des Sprechens konnte man sich als Herstellung von Sprache vorstellen, die wiederum in ihren einzelnen Einheiten analysiert werden konnte. Einige Griechen machten aus dieser symbolischen Alphabetisierung des Sprechens ein Paradigma der metaphysischen Zusammensetzung des Universums. So drückt Aristoteles das aus : »Leukippos und sein Gefährte Demokritos lehren, Elemente seien das Volle und das Leere, und sie nennen das eine >seiend<, das andere >nicht seiend<, und zwar ist das Volle, Raumerfüllende das Seiende, das Leere und Dünne das Nichtseiende . . . und das seien die stofflichen Ursachen. Und wie die Denker, die von der Einheitlichkeit des Gegebenen ausgehen, es übrige durch dessen verschiedene Eigenschaften entstehen 43 lassen und dabei Verdünnungen und Verdichtungen als Urformen aller Eigenschaften benutzen, so sehen diese beiden auch in gewissen Unterschieden die Ursachen für alles übrige. Solcher Unterschiede gebe es drei, Gestalt, Anordnung und Lage, sie liegen, wie sie es nennen, nur im >Fluß< der Teilchen und in ihrem Zusammenhalt und ihrer Richtung; hier bedeutet der >Fluß< die Gestalt, der Zusammenhalt die Anordnung, die Richtung die Lage: es unterscheidet sich ein A und ein N durch seine Gestalt, AN und NA durch seine Anordnung, Z und N durch seine Lage.« Platon und Aristoteles berichten hier beide davon, was sie bei ihren Zeitgenossen beobachten; sie stellen nicht ihre eigene Meinung dar. Beide aber deuten auf die Analogie zwischen der alphabetischen Analyse des Sprechens und die philosophische Analyse des Seins, die gleichzeitig aufkamen. Und Platon betont, besonders im Phaedrus und im Symposium, die Überlegenheit des lebendigen Gedächtnisses über das Gedächtnis, das auf trockenen Buchstaben basiert, die nicht protestieren können, wenn ihr Sinn vom Leser verdreht wird. Das Symbol der vor-schriftlichen Erinnerung war der Barde, der die Lumpen der Vergangenheit zusammenflickte. Deshalb hieß er rhapsode: Näher oder Flicker. Laut Platon verspürte er einfach die Inspiration, das zu äußern, was ihm die Muse eingab;
nicht Regeln der Kunst trieben ihn zum Singen, sondern göttliche Kraft (Ion, 533). Der Gott nahm ihm seinen Geist und setzte ihn als seinen Diener ein. Durch den Rhapsoden hängt ein Mann vom anderen herunter, wie die Ringe der Eisenkette, die vom »herakleiischen Steine, wie man ihn gewöhnlich nennt, während Euripides ihn den Magneten nannte«, herunterhängen (Ion 535). Wie eine magnetische Kraft bindet die Muse den Hörer an die Kette der Sänger. Der Barde dachte nicht über Worte nach, sondern er ließ sich durch den Schlag seiner Lyra treiben. Homer war ein solcher Sänger. Aber er sang während 44 einer einzigartigen Epoche: in einer Welt, in der es schon Buchstaben gab, auch wenn sie meist nur Geritze von Töpfern auf Weihgefäßen waren. Aber das genügte, um die Äußerung vor den Augen der Griechen aufdämmern zu lassen. Einige Generationen lang wurden die Ohren präliterater Griechen ständig zur Zusammenarbeit mit den Augen verführt. Die Erinnerung, die bis dahin »nach Echo-Prinzipien akustisch gehandhabt worden war, bekam Konkurrenz von der Sprache, die auf architektonischer Grundlage visuell gehandhabt wurde«.98 Das Ergebnis dieser noch immer unbeabsichtigten Synergie zwischen dem Laut und dem Gewahrsein seiner Form war ein ganz spezieller Typ der schöpferischen Komposition, die die reine Schriftlichkeit nicht einmal in Griechenland jemals wieder zustande gebracht hat. Der Terminus »Rhetorik« wurde für die neue, nicht-mündliche Kunst geprägt, durch die ein Redner im Kopf Sätze vorbereiten kann, die er zu einem späteren Zeitpunkt in der Öffentlichkeit vortragen wird. Platon macht einen klaren Unterschied zwischen der esoterischen Kraft schöpferischer Erinnerung und der exoterischen, schriftgebundenen Fähigkeit, einen geschriebenen Text auswendig zu lernen." Als das öffentliche Reden zu einer hohen Kunst wurde, wollte der Redner nicht allein Sätze, sondern auch die Argumentationsstruktur und die Metaphern memorieren, die er verwenden würde, um seinen Ansichten Nachdruck zu verleihen. Die bei den Griechen gebräuchlichste Methode, das zu erreichen, war die geistige Errichtung eines Gedächtnispalastes. 100 Hugos Zahlenreihen, die sich bis zum Horizont erstrecken, sind eine schiere Nachbildung dieses Hilfsmittels. Wer Schüler eines angesehenen Lehrers werden wollte, mußte beweisen, daß er sich in einer gewaltigen Architektur heimisch fühlte, die nur in seinem Kopf existierte, und in der er sich blitzschnell zu einem Punkt seiner Wahl begeben konnte. Jede Schule hatte eigene Regeln für den Aufbau eines solchen Gebäudes. Es mußte viele 45 sichtlich voneinander unterscheidbare Merkposten wie Säulen, Winkel, Dachsparren, Zimmer, Torbögen, Nischen und Schwellen enthalten. Man fand früh heraus, daß die wirksamste Methode, Erinnerungen zu orten und abzurufen, darin bestand, jede einzelne im Geiste mit einem Etikett zu versehen, das man einem großen Bestand von Dingen entnahm, die dem Schüler vertraut waren. So wurde zum Beispiel einer Ziege oder der Sonne, einem Zweig oder einem Messer ein Satz zum Auswendiglernen zugeordnet. Der Autor, der seinen Palast auf solche Weise für eine Rede oder einen Disput eingerichtet hatte, begab sich einfach zum passenden vorgestellten Raum, warf einen Blick auf den Gegenstand auf den Etiketten und hatte sofort die auswendig gelernten Formulierungen parat, die er - zu diesem speziellen Anlaß mit diesen Etiketten verbunden hatte. Hugos Forderung, junge Anfänger sollten sich mit Leichtigkeit von einem numerierten Punkt zu einem anderen auf der gleichen geistigen Straße bewegen und von einer
»Station« auf der einen zu irgendeiner »Station« auf einer anderen springen können, um auf diese Weise Querverbindungen zu schaffen, führt sie auf die einfachste mögliche Weise an diese traditionelle Kunst heran. Die Technik, die Hugo sich zu eigen machte, um das meditative Lesen zu intensivieren, war jedoch ursprünglich als Hilfsmittel für etwas anderes, nämlich für das öffentliche Reden, entwickelt worden. Römische Juristenkunst im Dienste mönchischen Gebets Die Gedächtniskunst als symbolische Etikettierung von memorierten Sprechakten wurde im 4. Jahrhundert erschaffen, von Sophisten gelehrt und in der Politik verwendet. In Rom veränderten sich - etwa seit Quintillian (35 - 100 n. Chr.) - Zweck und Technik der Gedächtniskunst. Sie wurde hauptsächlich von 46 Juristen verwendet. Diese legten Wert auf das verinnerlichte Lesen. Der öffentliche Redner lernte in der römischen Spätantike sich im Geiste »Notizen zu machen« und diese bei der richtigen Gelegenheit »abzulesen«. Rhetorischer Virtuose war fortan der, der im Geiste jeden Satz den er zu verwenden gedachte, erfassen und etikettieren und unverzüglich dem passenden architektonischen Merkmal in seiner inneren Topologie entnehmen konnte. Heute, in einer Zeit, in der wir von den Meisterleistungen der Computer geblendet sind, kommt uns eine solche Fertigkeit wie eine unmögliche Unternehmung oder wie die groteske Akrobatik irgendeines akademischen Zirkus vor. Aber dieses Gedächtnistraining war Teil der Grundausstattung, die Hugo bei einem Anfänger sehen wollte. Die Gedächtniskunst ist eng mit der Lesekunst verknüpft; man kann die eine ohne die andere nicht verstehen. Um zu begreifen, was Hugo tut, wenn er liest, muß man den Punkt erkennen, an dem er in der Geschichte beider Künste steht. Er entdeckt die antike Kunst der Rhetorik wieder und lehrt sie monastischen Murmlern als Lesekunst. Das griechische Gedächtnistraining stellte die visuelle Vorstellungskraft in den Dienst des mündlichen Vertrags. Römer wie Quintillian lehrten die Kunst, geistige Etiketten mit geistigen »Notizen« zu assoziieren. Es wäre aber ein Fehler, anzunehmen, daß diese an einen gedachten Torbogen oder Dachsparren gehefteten Notizen dazu dagewesen wären, leise gelesen zu werden. So, wie man sich den Akt des Findens als leibliches Eilen zum passenden Teil der eigenen geistigen Architektur vorstellte, nahm der Akt des Abrufens die psychomotorische Innervation der Zunge in Anspruch. Ut duplici modo iuventur memoria dicendi et audiendi, »um die Erinnerung des Sagens und des Hörens zu fördern« muß der Schüler immer wieder zum gleichen Punkt zurückkehren. Quin47 tillian betont, daß das innere Lesen von Notizen von einem Murmeln begleitet werden sollte, das die Erinnerung fördert und die Zunge übt, und vom unermüdlichen Lauschen des eigenen Gemurmels, das das Ohr schult: »die Stimme sei gemäßigt, wie ein Flüstern« . . . vox sit modica, et quasi murmur. Plinius meint, daß der Lernende durch diese begleitende Aktivität weniger abgelenkt sein wird. Im 2. Jahrhundert waren im kaiserlichen Rom Vorführungen durch Gedächtniskünstler sehr verbreitet. Wie Cicero und Plinius überliefern, verurteilte man solche literarischen Kunststücke101, denn bei ihnen wurde zuviel Wert auf technische Fertigkeiten gelegt, und sie konnten die freie und kreative assoziative Erinnerung gefährden, wenn man sie bei der Ausbildung junger Menschen einsetzte. Die Kirchenväter beschäftigten sich kaum mit der Gedächtnisübung, was nur teilweise mit einer Anpassung an den Zeitgeist erklärt werden kann. Wir müssen den wichtigsten Grund für die christliche
Vernachlässigung des künstlichen Memorierens woanders suchen. Für die Christen war die memoria vor allem ein liturgisch zelebriertes Ritual, bei dem die wichtigsten Ereignisse des Alten und des Neuen Testaments dargestellt wurden. Und anders als andere Menschen - mit Ausnahme der Juden - hatten die Christen ein Buch, das ihnen als die Frohe Botschaft oder als Testament der Offenbarung gegeben worden war. Diese kanonischen Schriften machen die neue gemeinschaftliche Substanz der christlichen Erinnerung aus. Lectio, »Lesen«, wird in diesem Rahmen in erster Linie zu einem rituellen Gedenken an diese eine Geschichte. Der fromme Leser wünscht, vom Wort erfüllt zu werden, und nicht, es umzugestalten. Er sucht in der Heiligen Schrift, um von Erlösung und Herrlichkeit überrascht zu werden. Er liest sich selbst vor oder hört anderen zu, um die nüchterne Trunkenheit (sobria ebrietas) seines Glaubens zu nähren. Lesen ist für den frühen Christen vor allem die Deutung des einen Buches. 48 Christliche Predigten waren Kommentare zur Heiligen Schrift. Die meisten Kirchenväter wollten nicht wie römische Redner auftreten. Die Mnemotechnik war ein Gebiet der Redekunst, die einem predigenden Bischof nur in begrenztem Maße vonnutzen sein konnte. Der Rahmen, in den er alles Wissen und Denken stellen wollte, war ihm als »Bibel« längst gegeben. Augustinus bewunderte seinen Klassenkameraden Simplicius, der auf Verlangen irgendein Buch Vergils vorwärts oder rückwärts aufsagen konnte. Während er über seinen Freund nachdenkt, überlegt er, wie sein eigenes lebendiges Gedächtnis arbeitet. In eben dem Augenblick, als er entscheidet, das nicht zu vergessen, was ihn am tiefsten berührt, verbirgt sein Gedächtnis es vor ihm und gibt es ihm zu einer vollkommen unpassenden Zeit wieder. Er möchte in sich selbst nicht die Erinnerungskraft entwickeln, sondern ein Bewußtsein, das es ihm ermöglicht, sein liebevolles Verständnis zum Ausdruck zu bringen, wenn er die Heilige Schrift kommentiert; er möchte jedes Zurschaustellen von Wissen vermeiden. Im christlichen Gebrauch ist memoria der Zweck, zu dem sich die Gemeinde versammelt; und sie steht für das Bewußtsein, Teil eines neuen Volkes zu sein. Mehr als ein halbes Jahrtausend lang wurde die Gedächtniskunst vernachlässigt. Alkuin, der Lehrer und Vertraute Karls des Großen, versetzt sich selbst unter dem Namen Albinus in einen imaginären Dialog mit dem Kaiser, der beabsichtigt, die antike Gelehrsamkeit wiederzubeleben. karl Und was kannst du uns vom Gedächtnis, diesem bedeutenden Teil der Rhetorik, sagen? albinus Was kann ich dir sagen, außer dem, was Cicero schon , gesagt hat: Das Gedächtnis ist eine Schatzkammer aller Dinge. Wenn diese nicht verwendet wird in allem, was wir gedacht und gefunden haben, seien diese nun Wörter oder 49 Sachen, haben sie keinen Nutzen, und wenn sie noch so bedeutend wären. karl Gibt es denn Regeln, wie man es (das Gedächtnis) erwerben oder vergrößern kann? albinus Wir haben keine Regeln außer diesen: Übung im Sprechen, Gewohnheit des Schreibens, eifriges Nachdenken und Vermeiden des Saufens, das dem Körper die Gesundheit und dem Geist die Unversehrtheit nimmt. Der Dialog ist als Antwort des Lehrers an den königlichen Herrscher gedacht. Karl der
Große möchte die Mnemotechnik aus einem weltlichen Grund wiederbeleben: Er hält sie für nützlich bei der Ausbildung klassischer Juristen, die den Glanz römischer Gerichte wiederherstellen könnten. Alkuin, der größte Gelehrte der Zeit, beteuert, daß er wenig zu bieten habe.102 Die Arche ist die Kirche 103 Kennzeichnend für die Gelehrten des frühen 12. Jahrhunderts ist ihr Bestreben, das Erbe der christlichen Vergangenheit zu sammeln, zu ordnen und dessen Teile aufeinander abzustimmen, soweit dieses Erbe auf die Jurisprudenz, die theologische Doktrin und die Heilige Schrift bezogen ist.104 Das Decretum Gratiani, die Sententiae von Petrus Lombardus und die Glossa Ordinaria sind bemerkenswerte Ergebnisse dieses Bestrebens. Sie sind alle bis 1150 fertiggestellt und bleiben bis weit ins Zeitalter der Reformation hinein für diese drei Gebiete die wichtigsten Lehrbücher zur Grundausbildung von Klerikern. Hugo von St. Viktor scheint die letzte wichtige Gestalt zu sein, die das Gedächtnis als einziges oder wichtigstes Mittel betrachtet, Wissen zu bewahren. Aber man hört nicht auf, das Gedächtnis zu schulen.105 Von 1150 an stellen neue technische Suchmittel einige der neuen Schlüsselmetaphern, mit Hilfe derer man das Arbeiten des Gedächtnisses untersucht und Methoden, es zu üben, ersinnt. Dann, frühen 15. Jahrhundert, hat die ehemalige Disziplin der Gedächtniskunst ihr ungewöhnliches Comeback. All das macht Hugos zwei Abhandlungen zur Mnemotechnik, die einführende De tribus und die ungeheuer umfangreiche, zweiteilige De arca Noe, so außerordentlich wichtig. Wie im archaischen Griechenland das Auge zur Zusammenarbeit mit dem Ohr verführt worden war, um die Inspiration der Muse festzuhalten und damit die einmalige Ilias, die auf Homer zurückgeführt wurde, zu erhalten, so lehrte Hugo vor der Scholastik die Praxis monastischen, kommemorativen Murmelns in einem sorgfältig aufgebauten inneren Raum - einem claustrum animae (Kloster der Seele) - der nach seiner Anlage jedoch kein willkürlich erfundener Gedächtnispalast war, sondern die offenbarte Struktur des Zeitenraums, die er historia nennt. Mit seiner Wiederbelebung der antiken architektonischen Gedächtnisübung hofft Hugo, Knaben, die um 1120 geboren wurden, dabei helfen zu können, einen Weg zu finden, sich die Weisheit zu erlesen in einem Zeitalter, in dem die neuen juristischen und theologischen Sammlungen nur zu leicht Verwirrung stiften und überwältigend wirken konnten. Er bietet ihnen eine radikal verinnerte Technik, dieses riesige Erbe mit Hilfe eines persönlich erschaffenen inneren Zeitenraumgebäudes zu ordnen.106 107 Historia als Fundament Hugo sorgt nicht nur für die Wiederbelebung der alten Kunst des Memorierens, sondern gestaltet sie auch um, indem er sie in den Dienst der historia stellt. Das Lesen ist für ihn gleichbedeutend mit der Nachbildung der Struktur der historia in der Arche im Herzen des Lesers.108 Seine Vorstellung von Wissenschaft »basiert eindeutig auf der Annahme, daß die Zeit einer Ordnung unterworfen ist, die an Hand des wörtlichen Studiums der Heiligen Schrift untersucht werden kann«109. Alles kann einen Sinn ergeben, wenn es mit diesem ordo der Zeit in Verbindung gebracht wird; und nichts hat eine Bedeutung, das nicht vom Leser in diesen ordo gefügt wird. Hugos moralische und geistige Arche Noah ist mehr als ein mnemotechnischer Palast mit biblischen Zügen Die Arche steht für eine gesellschaftliche Einrichtung, für einen Vorgang, der mit der Schöpfung beginnt und der
bis zum Ende der Zeit fortdauert, von Hugo »die Kirche« genannt.110 Die Tätigkeit, die Hugo »Lesen« nennt, vermittelt zwischen dieser makro-kosmischen Kirche und dem Mikrokosmos im Inneren des Lesers. 111 Jeder Mensch, jeder Ort, jeder Gegenstand innerhalb dieses räumlich-zeitlichen Kosmos muß zuallererst buchstäblich verstanden werden. Erst dann wird er sich auch als etwas anderes offenbaren: als Zeichen für etwas, das in der Zukunft kommen wird, und als Vollendung von etwas anderem, das durch Analogie sein Kommen angezeigt hat.112 Alle Schöpfung ist sinnträchtig Die Exegese hat drei Stufen: Die erste ist das wörtliche Lesen, das den ersten, materiellen Sinn der Heiligen Schrift richtig in die Arche der Seele einbettet, die zweite ist die allegorische Deutung und die dritte die persönliche Erkenntnis des Lesers, daß auch er seinen Platz innerhalb dieser Ordnung113 hat, und diese Ordnung ist vergänglich. »Zunächst nun ist es von nöten, daß der Leser der heiligen Schrift die gebührende Ordnung . . . bezüglich der geschichtlichen, der allegorischen und der tropologischen Deutung beachte; diese Rücksichtnahme soll ihm wichtiger sein als jede andere Ordnung beim Lesen.«114 Hier bezieht sich Hugo auf Papst Gregor den Großen, für den das Lesen ein dreistufiger Bauplan ist; »hier wird zuerst der (wörtliche) Unterbau gelegt; dann wird darüber das (analoge) Gebäude aufgesetzt; zuletzt wird nach Vollendung des Bauwerks das Haus mit einem Farbenanstrich bekleidet.«115 Schon in seinen frühesten Schriften zeigt sich Hugo über Leute verärgert, die »die Brüste der Heiligen Schrift pressen«, um ihre allegorische Bedeutung herauszuholen, bevor sie sämtliche historische Einzelheiten fest in ihr Gedächtnis eingebettet haben.116 »Die Einsicht ins Geheimnis des Sinns der Heiligen Schrift kann nur aus dem gewonnen werden, was eben der Buchstabe vorgibt, und so wundere ich mich, wie frech sich gewisse Leute für Lehrer ausgeben, die eben jenen ersten, buchstäblichen Sinn vernachlässigt haben.«117 Im Didascalicon sagt er voll Arger von solchen Mythomanen: »Ihre Wissenschaft hat Eselsgestalt. Ahme ihnen nicht nach.«118 Er spricht seinen Leser persönlich an: ». . . daß du ... zuerst die Geschichte kennen lernst und daß du, die Wahrheit der Geschehnisse erwägend, sorgfältig vom Anfang bis zum Ende dem Gedächtnisse einprägst, was geschehen ist, unter wessen Einwirkung es geschehen ist, wo es geschehen ist... Und nach meinem Dafürhalten wirst du dich bei der allegorischen Deutung . . . nicht hinreichend scharfsinnig erweisen, wenn du nicht zuvor in der Geschichte eine gute Grundlage gewonnen hast.«119 Hugo entwickelt die Doktrin über die dreifache Bedeutung der Bibel so, daß der Akt des Lesens zum Akt der Gottesverehrung wird, in deren Mittelpunkt die Inkarnation der Weisheit steht: »Wenn Gottes Weisheit nicht erst in ihrer Fleischlichkeit (corporaliter) erkannt wurde . . . kannst du nicht zu ihrer geistigen Beschauung erleuchtet werden. Habe also keine Geringschätzung für die Demut des Wortes Gottes, denn eben durch die demütige Haltung wirst du erleuchtet werden.«120 Hugo weiß, daß corporaliter »dem Lehm der Erde im Akt der Schöpfung entnommen« bedeutet. Deshalb erscheint ihm das Buch im nächsten Satz als einfache Tontafel, so wie Adams Körper aus Lehm war, bevor ihm der Schöpfer Geist einhauchte. 53 Gottes Wort mag dir wie Lehm erscheinen, und vielleicht trittst du darauf und schaust auf das herab, was der Buchstabe auf sichtbare und körperliche Art erzählt. Vergiß
nicht, daß dieser Lehm, auf den du trittst, jener ist, mit dem Jesus (in Joh. 9) die Augen des blinden Mannes geöffnet hat. Lies die heilige Schrift und trachte, leibhaftig (corporaliter) zu erfahren, was sie sagt. Die harten Brocken können nur geschluckt werden, wenn sie gut gekaut worden sind. 121 »Geschichte ist die Erzählung der Dinge, die geschehen sind, und die finden wir im buchstäblichen Sinn; durch die Allegorie wird anhand dessen, was geschehen ist, etwas anderes in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angedeutet; durch die Tropologie wird durch etwas, das geschehen ist, etwas, das geschehen sollte, angedeutet.«122 Bei der Hochzeit von Kanaa werden die fließenden Wasser des buchstäblichen Sinns dann in berauschenden Wein verwandelt werden.
3 Monastisches Lesen Meditation • Gemeinschaften von Murmlern • Die Seite als Weinberg und Garten • Lectio ah Lebensart • Otia monastica • Das Ableben der lectio divina Meditation Das »Lesen«, das Hugo lehrt, ist eine monastische Tätigkeit. Dreierlei ist für diejenigen, die sich hiermit beschäftigen, vonnöten: »Begabung, Übung, Zucht.123 Hinsichtlich der Begabung (natura) achtet man darauf, daß sie das Gehörte leicht auffasse und das Aufgefaßte treu behalte; hinsichtlich der Übung darauf, daß sie durch Ruhe und Fleiß die natürliche Begabung ausbilde; hinsichtlich der Zucht, daß sie bei einem löblichen Leben (laudabiliter viventes) die Sitten124 mit der Erkenntnis in Einklang bringe.«125 Das Studium legendi fordert den Leser heraus, beim Vorankommen auf dem steilen Weg zur Weisheit alles zu geben: zu Beginn beim Kinderspiel der Gedächtnisübung, dann weiter bei der historia, ihrer Interpretation durch analogia zwischen den Ereignissen der historia, weiter bei der anagogia, der Einverleibung des Lesers in die historia, die er nun kennt. Zum Übergang von der cogitatio, die konzeptuelle Analyse ist, zur meditatio, der Inkorporation, sagt Hugo in Buch III, Kapitel 11: »Die Meditation ist das anhaltende Nachdenken . . .126 Die Meditation nimmt ihren Anfang mit der Lesung; gleichwohl bindet sie sich an keinerlei Regeln und Vorschriften des Lesens; denn sie findet ihr Vergnügen daran, einen passenden Abschnitt zu durcheilen, um dann nach freiem Entschlüsse mit 55 der scharfsinnigen Betrachtung der Wahrheit einzusetzen und bald diese, bald jene Ursachen der Dinge zu erforschen, bald aber bis zu den tiefsten Tiefen vorzudringen und nichts unentschieden und nichts unklar zu lassen. In der Lesung besteht also der Anfang des Unterrichts (prinripium doctrinae), die Vollendung desselben in der Meditation.«127 Doctrina bedeutet hier nicht Dogma oder Grundsatz. Mit dem Wort ist hier eine persönliche Verwirklichung gemeint, die darin besteht, gelehrt zu werden. Principium doctrinae ist der Anfangspunkt auf dem Weg des Lernens und nicht der erste Tag der Unterweisung auf dem Weg zu einer »Ausbildung«. Hugo spricht von der Lehrzeit, die beginnt, wenn jemand mit dem handwerklichen Rüstzeug vertraut ist, und in der man es durch meditatives Lesen zur Meisterschaft bringt. »Wenn einer dieselbe (die Meditation) durch vertraulichen Umgang lieben gelernt hat und derselben häufiger seine Muße gewidmet hat, so gestaltet sie das Leben gar angenehm und gewährt in Trübsal reichen Trost.«128 Das meditative Lesen kann zuweilen sehr schwer sein, es ist eine Aufgabe, der mit Mut, fortitude), ins Auge gesehen werden muß. Aber der Leser wird, gestützt durch seinen »Eifer beim Erkunden«, an dieser Betätigung Freude gewinnen. Begeisterung kommt mit der Übung.129 Um den Fleiß des Schülers zu fördern, muß man ihm eher ermutigende Beispiele als Anweisungen geben.130 Die Weisheit ist von großer Schönheit, wie die Jungfrau im Hohenlied. Dem Mädchen aus Sunem so nah zu sein, wie es König David war, bereitet große Freude. Und die Weisheit wird ihren Geliebten nicht verlassen. Ist Abisag von Sunem nicht in Davids Bett gekrochen, um seinen alten, verfallenden Körper zu wärmen?131 Hugo ermutigt seine Leser, in allem, was sie lernen können, Freude zu suchen. »Später
wirst du einsehen, daß nichts überflüssig ist. Beschränktes Wissen bringt keine Freude.«132 Er macht 56 zu einer Einstellung Mut, bei der der Leser Fortschritte macht, weil er sich jener Meisterschaft sehnt, die dem Geist Ruhe gibt. »Lesen« ist ein Ikonogramm für den Vorgeschmack der Weisheit. Um den Leser einzustimmen, zitiert Hugo Psalm 54,7 aus der Vulgata: Quis dabit mihi pinnas columbae, ut volem et requies. Gemeinschaften von Murmlern Hugos Meditation ist eine intensive Lesetätigkeit und kein passives, quietistisches SichVersenken in Gefühle. Und diese Tätigkeit wird in Analogie zu den Körperbewegungen dargestellt: als Schreiten von Zeile zu Zeile, oder als Flügelschlagen, während man die schon bekannte Seite mustert. Hugo erlebt das Lesen als motorische Aktivität des Körpers. In einer anderthalb Jahrtausende langen Tradition geben die sich bewegenden Lippen und die Zunge die klingenden Seiten134 als Echo wieder. Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund äußert. So wird die Buchstabenfolge unmittelbar in Körperbewegungen umgewandelt, und sie strukturiert die Nervenimpulse. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen buchstäblich einverleibt. Der moderne Leser nimmt die Seite als Platte wahr, die seinen Verstand mit Zeichen versieht, und er erlebt seinen Verstand als Bildschirm, auf den die Seite projiziert wird und von dem sie mit einem Knopfdruck wieder ausgeblendet werden kann.135 Für den monastischen Leser, an den sich Hugo wendet, ist das Lesen keine derartige phantasmagorische, sondern eine eher leibliche Tätigkeit. Er nimmt die Zeilen auf, indem er sich nach ihrem Takt bewegt, und er erinnert sich an sie, indem er 57 ihren Rhythmus erneut heraufbeschwört. So ist es nicht verwunderlich, daß uns die voruniversitären Klöster als Aufenthaltsort für Murmler beschrieben werden.136 - Petrus Venerabilis (1092/94-1156), der gelehrte Abt, der Cluny vorsteht, sitzt meist des Nachts auf seinem Bett und käut die Schriften ohne Unterlaß wieder.137 - Während der dunklen Stunden zwischen Mitternachtsgebet und Morgendämmerung summt Johannes von Gorze (976 gest.) »wie eine Biene die Psalmen, leise und ohne Unterbrechung«138. - Gregor der Große »kaut die Schrift mit dem Mund seines Herzens« und erfreut sich an der Labsal, die er aus ihr saugt. Bernhard von Clairvaux selbst möchte, daß der Leser an der Schrift saugt, wie an einer Honigwabe139, und er erfreut sich am angenehmen Geschmack von deren Poesie.140 Bernhard genießt es, von der Seite zu nippen. Am Tag, während er seinen Aufgaben nachgeht, käut er die Lesungen der Nacht wieder141; er ist berauscht vom süßen Duft der Worte142, von denen er sich ernährt.143 Für einen Augenleser mag dieses Zeugnis der Vergangenheit anstößig wirken; er kann die Erfahrung nicht teilen, die durch den Nachhall des mündlichen Lesens in allen Sinnen entstand.144 Es kommt noch dazu, daß unser Wortschatz für Geschmack und Gerüche gewelkt und geschrumpft ist.145 Die Seite als Weinberg und Garten Wenn Hugo liest, erntet er; er pflückt die Beeren von den Zeilen. Er weiß, daß schon Plinius das Wort pagina, Blatt, von espalier hergeleitet hat.140 Für Hugo waren die Zeilen auf der Seite der Draht eines Spaliers, das die Weinreben stützt. Während er die
Früchte von den Pergamentblättern pflückt, fallen die voces paginarum aus seinem Mund; als gedämpftes Murmeln, wenn sie für 58 seine eigenen Ohren gedacht sind, oder recto tono, wenn er sich an die Gemeinschaft der Mönche wendet. Es gibt Ausdrücke, die es möglichen, die beiden Tätigkeiten auseinanderzuhalten: sibi legere heißt »für sich selbst lesen«, und im Gegensatz dazu hat die clara lectio, »für die Ohren der anderen gedacht«. Es ist verwunderlich, daß man das Lesen während der gesamten Antike als anstrengende Beschäftigung betrachtete. Hellenistische Ärzte verschrieben die Lektüre als Alternative zu Ballspiel oder Spaziergang. Das Lesen setzte eine gute körperliche Verfassung voraus; schwächliche oder kranke Leute sollten nicht mit eigener Zunge lesen. Bei einer Sonnenwende hatte sich Nikolaus von Clairvaux mit den übrigen Mönchen dem vierteljährlichen Brauch von Reinigung und Aderlaß unterzogen, aber diesmal hatten ihn Fasten und Schröpfen so geschwächt, daß er eine Weile nicht mehr lesen konnte. Und als Petrus Venerabilis erkältet war und jedesmal husten mußte, wenn er den Mund aufmachte, konnte er weder im Chor noch in seiner Zelle »für sich« lesen.147 Mündliche Aktivitäten herrschten beim Lesen nicht nur vor, sie bestimmten auch die Aufgabe der Augen. Die Wurzel des englischen Worts »to read« schließt sowohl »Rat geben« als auch »entziffern« und »interpretieren« mit ein. Das lateinische legere kommt von einer leiblichen Tätigkeit.148 Legere konnotiert »pflücken, bündeln, ernten« oder »sammeln«.149 Das lateinische Wort für Äste und Zweige, die gesammelt werden, leitet sich von legere ab, und man nennt sie lignum. Lignum unterscheidet sich von materia150 etwa so, wie sich Brennholz von Bauholz unterscheidet. Das deutsche Wort »lesen« vermittelt noch deutlich die Vorstellung vom Buchenholzsammeln - Buchstaben sind ja ursprünglich Stäbchen aus Buchenholz und erinnern uns an die Runen, die bei magischen Beschwörungen verwendet wur-den.151 Für Hugo, der die lateinische Sprache benutzt, ist das Lesen 59 eine Tätigkeit, die dem Sammeln von Brennholz nicht unähnlich ist: Seine Augen müssen die Buchstaben des Alphabets aufklauben und sie zu Silben bündeln.152 Die Augen unterstützen die Lungen, die Kehle und die Lippen, die meist keine einzelnen Buchstaben, sondern Wörter artikulieren. Lectio als Lebensart153 Sowohl für den klassischen Rhetor oder Sophisten als auch für den Mönch ist das Lesen eine Tätigkeit, die den ganzen Körper in Anspruch nimmt. Für den Mönch ist das Lesen jedoch nicht nur eine Tätigkeit, sondern eine Lebensweise. Der Mönch liest, ganz gleichgültig, was er bei der Befolgung der Regel seines Klosters gerade zu tun hat.154 Der heilige Benedikt hat eine Regel erschaffen, nach der der Tag aufgeteilt ist in zwei Tätigkeiten, die beide als gleich wichtig gelten: ora et labora155, bete und arbeite. Siebenmal täglich kommt die kleine Gemeinschaft des idealen Klosters in der Kirche zusammen. Die Mönche lauschen den Rezitationen auf einem Ton, die festgelegte Inflektionen haben, mit denen Fragen, direkte Rede oder das Ende einer Perikope gekennzeichnet werden können156, und sie singen aus dem Buch der Psalmen. Zwischendurch dann, beim Melken oder Pflügen, Butter machen oder Meißeln, wird der gemeinschaftliche Sprechgesang zu einem gedämpften Summen, bei dem jeder Mönch seine eigenen Verse wählt. Diese Verse sind der Weg seiner Pilgerreise himmelwärts, beim Beten und beim Arbeiten.157 Das Lesen erfüllt seine Tage und Nächte.158 Dieses Aufgehen im ununterbrochenen Lesen ist jüdischen, rabbinischen Ursprungs,
wie auch der cantus planus, der die Zeilen im Herzen verankert. Der gregorianische Gesang ist vorn Gesang der Synagoge inspiriert. Ebenso gehört das Verlangen, mit dem Buch zu leben, zum jüdischen Mystizismus.159 60 Wenn der fromme Jude den Gottesdienst in der Synagoge besucht und Abschnitte aus der Thora und aus den Propheten gehört hat, fährt er fort, Teile dieser Lesungen zu murmeln, während er auf dem Markt auf seine Waren achtet, oder während er auf den Stufen seines Hauses sitzt. Ein Rabbi tut das, bis ihm diese Worte »so süß werden wie die Muttermilch dem Säugling«160- Er erinnert sich an Ezechiel 3, wo Gottes Sendbote seinem Diener eine Rolle hinhält, die »auf beiden Seiten vollgeschrieben war«. Ezechiel wird geboten, diese »Rolle zu essen«, »sie sich einzuverleiben«, und »als er die Rolle schluckt, schmeckt sie so süß wie Honig«. Gott sagt das Schicksal des jüdischen Volkes nicht voraus, sondern er schreibt es vor - und jeder Jude erlebt sein Schicksal, indem er sein eigenes Los als Postscriptum entdeckt. Und meist hat dieses Postscriptum einen bitteren Geschmack. »Der Jude scheint fest entschlossen gewesen zu sein, sich des Weges zu vergewissern, den ihm der Prophet gewiesen hatte.«131. Hugo möchte, daß sein Schüler die heilige Vergangenheit der ganzen Welt seiner eigenen Gegenwart einverleibt, indem er die drei Bedeutungen der Heiligen Schrift erforscht. Er möchte, daß der Schüler im Auszug der Juden aus Ägypten eine Vorwegnahme des Weges von Jerusalem nach Golgatha sieht, und als die Weise deutet, wie die Christen Jesus folgen, und dabei die Geschichten auf sich selbst bezieht: Er soll seine Familie für das Kloster verlassen, dessen Sinnbild die Wüste ist. Unbehaust findet er sein irdisches Zuhause in den Seiten des Buchs. So ist die Bedeutung, die Hugo und seine Zeitgenossen dem studium legendi geben, durch Vorstellungen aus dem Alten Testament geprägt. Dazu schafft die Benediktinerregel einen Rahmen, in dem der ganze Körper symbolisch in die lebenslange Lektüre einbezogen ist. Der einzelne Mönch mag ein rudis sein - ein illiterater Diener oder ein ungehobelter Einfaltspinsel. Dennoch gesellt er sich siebenmal täglich zu allen anderen im Chor 61 und singt vor dem Buch die Psalmen. Sie sind Teil seines Daseins geworden, und er kann sie, wie sein gelehrtester Bruder, hersagen, während er die Ziegen hütet. Der Vorgang, bei dem der geschriebene Text der Heiligen Schrift Teil der Biographie eines jeden Mönchs wird, ist nicht griechisch, sondern typisch jüdisch. Die Antike besaß kein einzigartiges Buch, das einverleibt werden konnte. Weder die Griechen noch die Römer waren Gemeinschaften eines Buchs. Kein einzelnes Buch stand im Mittelpunkt der klassischen Lebensweise, wie bei den Juden, Christen und Moslems, und es gab dafür auch keinen Platz. Während des ersten christlichen Jahrtausends ging man beim Memorieren dieses einen Buchs auf eine Weise vor, die in deutlichem Kontrast zum Erbauen von Gedächtnispalästen stand. Man widmete den psychomotorischen Nervenimpulsen, die das Lernen der Sätze begleiten, große Aufmerksamkeit. So und nicht anders wurde das Buch einverleibt. Noch heute sitzen Schüler der Thora und des Korans mit dem geöffneten Buch auf den Knien auf dem Fußboden. Jeder singt seine Verszeilen im Singsang, oft ein Dutzend Schüler gleichzeitig, jeder eine andere Zeile. Während sie lesen, schaukeln sie ihre Körper von der Hüfte aufwärts, oder sie wiegen sich sanft vor und zurück. Bewegung und Rezitation gehen wie in Trance weiter, auch wenn der Schüler die Augen schließt oder den Mittelgang der Moschee hinunterschaut. Die Körperbewegungen setzen die Sprechorgane in Gang, die mit ihnen verbunden
sind. Auf eine rituelle Weise setzen diese Schüler ihren ganzen Körper ein, um sich die Zeilen einzuverleiben. Marcel Jousse hat die psychomotorischen Techniken untersucht, eine gesprochene Wortfolge »einzufleischen«. Er hat gezeigt, daß für viele Menschen das Erinnern darin besteht, eine festgelegte Folge von Muskelbewegungen auszulösen, an die die Lautäußerungen gebunden sind. Wenn das Kind während eines Wiegenlieds geschaukelt wird, wenn sich die Schnitter im Rhyth62 mus eines Erntelieds beugen, wenn der Rabbi den Kopf schüttelt, während er betet oder nach einer richtigen Antwort sucht, oder wenn jemand erst eine Weile mit den Fingern trommeln muß, ehe ihm ein bestimmtes Sprichwort einfällt - laut Jousse sind das nur einige wenige Beispiele einer weit verbreiteten Verbindung zwischen Lautung und Gebärde.162 Jede Kultur hat dieser bilateralen, aber dissymetrischen Komplementarität ihre eigene Form gegeben. Jeweils in eigener Weise prägen sich Sprüche links und rechts, vorne und hinten Rumpf und Gliedern ein, nicht nur dem Ohr und dem Auge. Das Leben im Kloster dürfte ein umsichtig gegliedertes Terrain für die Ausübung dieser Techniken abgegeben haben.163 Otia monastica Es ist jedoch keine der Regel innewohnende soziale Technik, die den Mönch ausmacht, sondern die Haltung, mit der er an das Buch als Mittelpunkt seines Lebens herangeht. Im kurzen Kapitel über die Meditation, das wir hier behandeln (Didasc. III, 10), spricht Hugo von dem Geist, in dem dieses der Lektüre geweihte Leben gelebt werden sollte. Er gebraucht das Wort vacare, das alles sagt, aber einfach nicht zu übersetzen ist. Das Wort kommt in dem Satz vor, in dem er von der Meditation als einer Fertigkeit spricht, an der der Lesende Freude haben sollte. In Hugos Worten: »Wenn einer dieselbe (die Meditation) durch vertraulichen Umgang lieben gelernt hat (familiarius amare) und derselben häufiger seine Muße gewidmet hat (vacare voluerit), so gestaltet sie das Leben gar angenehm. . .«164 Das Wort vacare ist ein wesentlicher Terminus Technicus165, der zur Definition des christlichen Mönchs verwendet wird. Rufinus (ca. 435-510) war der erste, der den Mönch als jemanden, »der sich selbst für Gott allein frei macht« definiert, solus soli Deo vacans,166 63 Vacare bedeutet »befreit« oder »frei werden«. Wenn christliche Autoren das Wort benutzen, liegt die Betonung nicht auf der Befreiung, die jemand erfährt, sondern auf der Freiheit, die er aus eigenem Antrieb »nimmt«. Der Terminus betont eher das Verlangen, sich einer neuen Lebensweise hingeben zu können, als die Befreiung von oder die Flucht aus den eigenen alten Bindungen und Lebensgewohnheiten. Das Wort wird auch im klassischen Latein verwendet. Seneca, der Zeitgenosse von Petrus und Paulus, stoischer Lehrer von Nero, unterscheidet drei Lebensarten, denen sich ein Mensch hingeben kann: die Wollust, die Kontem-plation und das politische Mittun.167 Seneca sagt, man sollte großmütig auswählen, wofür man frei sein möchte. Wahre Muße könnten jedoch nur solche Menschen finden, die sich der Weisheit hingeben.168 In dieser, seiner klassischen Bedeutung wurde das Verb noch zu Hugos Lebzeiten verwendet. Es bedeutete, sich dem Wein »hinzugeben«, sein Leben fleischlichen Gelüsten »zu widmen«, in das Lernen »vertieft zu sein«. Kein Autor des 12. Jahrhunderts hätte jedoch diesen Begriff verwenden können, um solche »Abweichungen« zu benennen, ohne zugleich anzudeuten, daß sie ungebührlich waren im Vergleich zur wahren Freiheit, die sich der Christ nehmen sollte. Diese letzte
Bedeutung gab Augustinus dem Wort vacare. Kurz nach seiner Taufe im Jahre 387 ging er nach Afrika, da er sich von Gott zur Muße (otium)169 berufen fühlte, und gründete in der Stadt Thagaste eine kleine Gemeinschaft. Für ihn besteht der Sinn des Gemeinschaftslebens darin, »mittels der Muße zu Gott zu kommen«170. Seine Bekehrung zum Christentum deutet er als Berufung, »sich der müßigen Gelehrsamkeit hinzugeben«171. Gott ruft ihn zur Muße, was ihn nicht davon abbringt, sich »über alle Maßen der Lektüre zu widmen«172. Hugo fordert also vom Leser, dem es nach Vollkommenheit verlangt, daß er sich der Muße hingebe. »Sie nämlich ist es vor allem, welche die Seele von dem Geräusch des irdischen Treibens 64 abzieht und schon in diesem Leben die Süßigkeit der ewigen Ruhe kosten läßt.«173 Meditatives Lesen gibt der Seele Ruhe. Und wenn ein Mensch durch die Betrachtung der Schöpfung Gott zu suchen und zu kennen lernt, dann wird sein Geist belehrt174 und mit Freude erfüllt.175 Hugo unterscheidet hier zwischen der Pilgerwanderung und dem Spaziergang, zwischen der anstrengenden lectio und der müßigen meditatio. Er unterscheidet zwei Bewegungsstile, betont aber zugleich ihre Ähnlichkeit. In der monastischen Tradition sind beide Formen der Lektüre nur zwei Momente derselben lectio divina. Hugo kennt keinen Bruch zwischen Philosophie und Theologie, etwas, worauf die Scholastiker nicht lange danach ihre Methode aufbauen sollten. Erst während des 13. Jahrhunderts wird die Unterscheidung des »Lichts der Vernunft« vom »Licht des Glaubens« zu zwei Arten des Lesens führen: zur Philosophie, in der die Vernunft ihr Licht auf die Dinge wirft (lumen rationis) und dann nach den Gründen für deren Sein sucht, und zur Theologie, in der sich der Lesende bei der Deutung der fühlbaren und rationalen Welt der Autorität unterwirft, die von Gottes Wort und dessen Licht (lumen fidei) ausgeht.176 Bei Hugo sind diese beiden klar voneinander unterscheidbaren Arten der Lektüre noch immer Teile desselben otium, und die beiden Formen des Lichts, die die Seite erhellen können, sind noch immer zwei Momente ein und desselben Studium. Die lectio ist immerwährend ein Beginn, die meditatio eine consummatio, und beide machen das Studium aus. Das Studium der Geschöpfe lehrt uns, nach ihrem Schöpfer zu suchen177, alsdann wird dieser Schöpfer die Seele mit Wissen füllen178, sie mit Freude tränken und die Meditation zur erhabenen Wonne machen.179 Für Hugo gibt es nur eine Form der Lektüre, die wirklich lohnend ist, die lectio divina. Damit steht er am Ende eines Jahrtausends, in dem sich lectio und otio vacare gegenseitig bestimmt haben. Das Ableben der lectio divina180 Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wird sogar der Begriff lectio divina immer seltener und verschwindet aus manchem Kontext ganz und gar.181 Für die Bettelmönche, die Franziskaner und Dominikaner, ist das fromme Lesen, das mittels der Kontemplation nährt, nur eine Form der Buchbenutzung. Der Terminus lectio spiritualis wird dafür verwendet, um es von akademischen Beschäftigungen zu unterscheiden, die jetzt das Wort studium monopolisieren. Wenn Hugo über Lektüre spricht, mit der andere Absichten verbunden sind als die persönliche Suche nach Weisheit, warnt er in scharfen Tönen davor.182 Einer seiner Zeitgenossen, Wilhelm von Thierry, der sechs Jahre nach Hugo starb, nimmt hier schon einen ganz anderen Standpunkt ein. Er trennt zwischen einer Form des Lesens, die aus Neigung183 betrieben wird und bei der der Leser die Erfahrungen des Autors seinen
eigenen einverleibt, und einer anderen, die dem Wissenserwerb dient.184 Die neue Art, die neugestaltete Seite zu lesen, bedarf eines neuen Rahmens innerhalb der Stadt: Kollegien, aus denen die neue Universität hervorgeht mit ihren akademischen statt monastischen Ritualen. Das Studium legendi ist nicht mehr eine Lebensweise für die große Mehrheit gelehriger Leser, sondern eine spezielle asketische Praxis, die man lectio spiritualis nennt. Auf der anderen Seite steht Studium nun immer öfter für den schieren Wissenserwerb. Die lectio fällt in Gebet und Studium auseinander.
4 Lectio auf Latein Das lateinische Mönchtum • Der gregorianische Gesang • Die Alleinherrschaft des Lateins über die Buchstaben Hugos Schüler waren die letzten ihrer Art, die letzten mittelalterlichen Latinisten, für die Lesen, Schreiben und Latein eins waren. Während ihres Lebens wurde das Lateinische zu einer Sprache unter anderen. Die nachfolgende Generation verfaßte mundartliche Gedichte neben lateinischen Versen. Sie entdeckte, daß man mit lateinischen Buchstaben Mundarten aufzeichnen kann. Für Hugos Schüler hatten diese Buchstaben noch immer eine lateinische Stimme. Durch seine Buchstaben war das Latein sichtlich eine der drei heiligen Sprachen, neben Hebräisch und Griechisch. Was die Leute sprachen, nahm man als etwas vollkommen anderes wahr, so wie für uns Singen oder Tanzen etwas anderes ist als Sprechen. Das Lateinische war Laut und Buchstabe in einem, und es hielt nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Theorie eingeschlossen. Die spekulativen Grammatiker der Mitte des 12. Jahrhunderts bleiben Gefangene des Lateinischen. Was sie modale Logik nennen, ist eine ontologische Interpretation grammatischer Kategorien, die von den Zeitgenossen Ciceros definiert worden waren.185 Das lateinische Mönchtum Hugos Schüler lernten Latein nicht als zweite, tote oder gelehrte Sprache. Für sie war es ein wesentlicher Bestandteil der monasti67 sehen Lebensweise. Die religiöse conversio, wie man die Verpflichtung zum klösterlichen Leben damals nannte, führte sie hin zu Latein, Gelehrsamkeit, lebenslanger Verwurzelung und zum komplexen Gebetsritual als verschiedenen Aspekten monastischen Gehorsams. In der Mundart, die man in der Heimat des Novizen sprach, wurde nie geschrieben. Man betrachtete sie auch noch nicht als Muttersprache.186 Das galt sowohl für den Bauern als auch für den Ritter. Das Alphabet warf noch keinen Schatten auf das alltägliche Reden. Es gab noch keine Möglichkeit, die Mundart nach Silben oder Wörtern zu gliedern. Geschichten, die in romanischen oder germanischen Zungen erzählt wurden, waren noch nach den Regeln oraler Gesellschaften aufgebaut, flössen dahin wie Wasser, obgleich das Zeitalter der epischen Dichtung lange vorbei war, und Chronisten zeichneten sie zuweilen - meist auf lateinisch - auf. Die Zeit war noch nicht gekommen, »Sprache« als Terminus für den Vergleich zwischen Mundart und Latein als gleichartigen Gebilden, aber mit wohl unterschiedlichem Status, zu verwenden.187 Das heißt aber nicht, daß das Lateinische außerhalb der Klostermauern unbekannt war. Sein Klang lag in Hugos Jugend in der Luft. Wenn ein Vater sein Kind an die Klosterpforte brachte, um es unterweisen zu lassen, waren dem Kleinen lateinische Klänge längst vertraut.188 Er hatte sie mit Sicherheit schon durch die Responsorien der Laien bei Messe und Vesper in der Gemeindekirche aufgeschnappt. Aber nachdem das Kind erst einmal in die Stille des Klosters eingetreten war, wurde das Lateinische zum Hauptausdrucksmittel für seine Stimme.189 Klösterliche Stille beim Arbeiten, in der Küche, auf dem Feld und im Stall bildete den Hintergrund, gegen den sich das Lateinische deutlich abhob. 68 Der gregorianische Gesang
Vom Tag seines Klostereintritts an saß das Kind mit den anderen Novizen den Mönchen zu Füßen. Siebenmal täglich versammelte sich die Gemeinschaft zum Gebet, dem opus dei, dem Gottesdienst. 190 Jede Woche mußten die 150 Psalmen wenigstens einmal rezitiert werden. Bald konnte sie der Knabe auswendig. Die Rezitation der Psalmen wurde durch Antiphonen und Responsorien unterbrochen, aber diese waren leicht zu lernen. Schon nach wenigen Wochen wird das Kind das Rascheln der Kutten am Ende jedes Gebets mit dem Sich-Erheben der Mönche und dem gloria patri verbunden haben. Die rhythmische Wiederholung des Sich-Erhebens und Verbeugens und ihr Zusammenfallen mit einem kleinen Kanon kurzer Formeln waren für den Novizen leicht mit frommen Gefühlen und Praktiken assoziierbar, noch bevor er die Bedeutung der lateinischen Worte ausmachen konnte. Das deo gratias - Gott sei Dank - hörten die Novizen mit Erleichterung am Ende einer langen nächtlichen Bibellesung. Zur Mittagszeit war es im Refektorium ebenfalls das sehnsüchtig erwartete Signal, daß die Gebete vorüber waren und mit dem Essen begonnen werden konnte.191 Das Latein, das der Schüler im Kloster hörte, war meist nicht umgangssprachlich moduliert. Es bestand aus Folgen von formelhaften Aufforderungen und Erwiderungen, die nach den strengen Regeln des cantus planus intoniert wurden.192 Der Unterschied zwischen Rezitation und Sprechen ist ebenso groß wie der zwischen dem Klang eines Diktats und dem eines normalen Gesprächs. Gebete und Lektionen, Lesungen und Ankündigungen zum Tage wurden rezitiert, nicht gesprochen. Latein war die Artikulation ebenso von Gesang wie von Geschriebenem. Es gibt viele Theorien zu den Ursprüngen des gregorianischen Gesangs und seinen Wurzeln in der Synagoge. In einem Punkt sind sich jedoch alle Fachleute einig: Er weist Besonderheiten auf, die in 69 keiner anderen Musik zu finden sind; Besonderheiten, die so auffällig sind, daß sie auch dem oberflächlichsten Hörer kaum entgehen können, und die so gleichbleibend sind, daß wir sie in jedem Entwicklungsstadium, das dieser Gesang vom 3. bis zum 19. Jahrhundert durchlaufen hat, finden können.193 Eine seiner Eigentümlichkeiten ist seine Verknüpfung mit dem Kirchenlatein, die bis zum heutigen Tage so eng geblieben ist wie die Verbindung der lateinischen Buchstaben mit der lateinischen Sprache in Hugos Jugend. Der einfachste Teil des cantus planus bestand in den sogenannten Akzenten, die beim Lesen verwendet wurden. Sie können definiert werden als »die nach musikalischen Gesetzen erfolgende Reduktion der gewöhnlichen Betonungen beim Sprechen, um Verwirrung und Kakophonie bei der Vereinigung vieler Stimmen zu vermeiden [...] als die unpersönliche Lautäußerung der Sprache korporativer Autorität im Unterschied zur oratorischen Betonung individueller Sprechtechnik«194. Das öffentliche Lesen des 12. Jahrhunderts klingt für den Hörer des 20. Jahrhunderts wie ein seltsamer Gesang. Es gab strenge Regeln für die charakteristischen Betonungen, die bei verschiedenen Büchern eingesetzt wurden: der buchstäblich monotone cantus lectionis für die Glossen; der tonus prophetiae, epistolae, evangelii, durch die jeder, ohne auch nur ein Wort verstehen zu müssen, wissen konnte, daß jeweils das Alte Testament, Paulus oder die Evangelien gelesen wurden. Die feierlicheren Teile der Liturgie hatten -und haben noch ihre besonderen musikalischen Eigenheiten, die der jeweiligen Zeit des Kirchenjahres entsprechen, in der sie gelesen werden. Das Latein war ebenso Resultat des Chors wie der Schreibstube. In der Zeit Hugos hatte sich das westliche Mönchtum schon über 500 Jahre an der Regel des Heiligen Benedikt orientiert. Und diese Regel, die noch heute befolgt wird,
verlangt, daß der Mönch nach Mitternacht aufsteht, um mehr als eine volle Stunde in der Gemeinschaft zu beten.195 Im 28. Kapitel der Regel von St. Viktor196 wird dem Buch, in persona, die Aufgabe übertragen, die Mönche zu wecken. Sogar Einzelheiten dieser Zeremonie werden in diesem Kapitel der Regel genauestens beschrieben. Zur festgesetzten Stunde wird das Buch hinter zwei Kerzen her durch die Dormitorien getragen. Der Bruder, der es trägt, darf seinen Kopf nicht gegen den schweren Band pressen und das Buch auch nicht nachlässig im Arm halten, sondern er soll mit großer Würde einherschreiten und die obere Kante des Buchs an seiner Brust ruhen lassen. An jeder Kehre singen die Mönche der kleinen Prozession das benedicamos domini, und die schlafenden Novizen werden im Augenblick ihres Erwachens in die Welt des Lateins taumeln oder eintreten und mit dem deo gratias antworten. Auch kranke Brüder, die nicht aufstehen müssen, sollen sanft angestupst werden, damit sie den nächtlichen Besuch des Buchs würdigen.197 Wenn die Mönche ihre Gürtel gebunden haben, versammeln sie sich im dunklen Chorraum. Das Buch wird auf das Lesepult in der Mitte des Kirchenschiffs postiert. Davor wird eine Kerze angezündet, nicht allein um das Erkennen der Buchstaben zu erleichtern, sondern auch, um daran zu erinnern, daß Christus das Licht ist, das aus diesen Seiten in die Finsternis scheint. Das zeremonielle Feiern des Buchs, das Latein, der liturgische Gesang und die Rezitation bilden so ein akustisches Ganzes, eingebettet in ein komplexes Gebäude aus Rhythmus, Pausen und Gebärden. All das mußte den Schülern in den Knochen sitzen, wenn sie nach kurzem Schlaf vor Sonnenaufgang und nach zwei weiteren Morgenversammlungen zu Messe und Matutin endlich im Schneidersitz vor ihrem Lehrer beim Diktat saßen, bei dem sie mit ihren Händen einem Latein Schriftgestalt gaben, dessen melodischer Gebrauch ihnen schon sehr vertraut war. Die Alleinherrschaft des Lateins über die Buchstaben Der Schüler, der das Latein gewohnt ist, lernt seine Vokabeln anhand der Zeichen, die sein Griffel im Bienenwachs hinterläßt, das er vor der Stunde auf seiner Schreibtafel geglättet hat. Der Lehrer spricht jede Silbe einzeln vor, und die Schüler wiederholen sie im Chor. Während der Lehrer dem Schüler diktiert, diktiert dieser seiner eigenen Hand.198 Das deogratias, eine vertraute Wendung, nimmt jetzt die Gestalt zweier aufeinanderfolgender Wörter an. Die einzelnen Wörter des Lateins prägen sich als Silbenfolge dem Ohr des Schülers ein. Zudem werden sie Teil seines Tastsinns, der sich daran »erinnert«, wie sich die Hand bewegt hat, um sie ins Wachs einzukerben. Und sie erscheinen als sichtbare Zeichen, die sich dem Sehsinn einprägen. Lippen und Ohren, Hände und Augen wirken zusammen, um das Behalten der lateinischen Wörter zu ermöglichen. Keine moderne Sprache wird durch einen so intensiven Gebrauch von psychomo-torischen Erinnerungsspuren gelehrt, die sich Hand und Auge als Ergebnis des Schreibens einprägen.199 Wenn wir das Alphabet betrachten, sehen wir in ihm ein Werkzeug, das der Aufzeichnung sprachlicher Laute dient. Anderthalb Jahrtausende lang war das einfach nicht so. Die Buchstaben, die, ohne sich in dieser Zeit nach Form und Anzahl zu verändern, ihre Fähigkeit bewiesen haben, Hunderte verschiedener Sprachen zu kodieren, sind während dieser anderthalb Jahrtausende ausschließlich zu einem Zweck verwendet worden -nämlich um Latein zu schreiben. Aber nicht etwa das Latein, wie man es sprach, sondern wie es in den letzten Jahrhunderten vor Christus alphabetisiert worden war. Während der 650 Jahre römischer Herrschaft über die mediterrane Welt wurde nicht eine Mundart eines unterworfenen und beherrschten Volkes jemals in
lateinischen Buchstaben aufgezeichnet. Das Monopol des Lateinischen über sein Alphabet war so absolut, daß es nie als Ergebnis eines »Tabus« betrachtet und nie als überraschende historische Anomalie eingeschätzt worden ist. Diese Vernachlässigung einer verfügbaren Technik ist genauso auffällig wie die Vernachlässigung des Rads in präkolumbianischen Kulturen, in denen nur Götter und Spielsachen jemals auf einen Wagen gesetzt wurden. Die Alleinherrschaft des Lateins über die lateinischen Buchstaben und ebenso des Griechischen über das griechische Alphabet war in der Annahme verankert, daß eine notwendige Beziehung zwischen Gestalt und Lautung bestünde. Als Kyrillos und Methodios um 850 das »Glagolische« als Sprache schufen, in die sie die griechische Bibel für die Bulgaren übersetzen konnten, erstellten sie auch ein neues Alphabet. Sie kamen gar nicht auf den Gedanken, das griechische Alphabet um einige für das Aufzeichnen slawischer Laute notwendige Zeichen zu erweitern. Daß man diese zugänglichen Werkzeuge für ungewohnte Aufgaben nicht verwendet hat, erscheint noch erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß das lateinische Alphabet nicht einmal dazu benutzt wurde, das Latein niederzuschreiben, das wirklich gesprochen wurde. Im ersten Jahrhundert nach Christus klangen die Mundarten der in Gallien und Spanien angesiedelten Legionäre nicht mehr wie die, die in ihrer Heimat in Latium und Kampanien gesprochen wurden.200 Und auch in diesen Ursprungsgebieten des Lateinischen gaben die orthographischen Konventionen des 3. vorchristlichen Jahrhunderts nicht mehr die Kadenzen und Laute wieder, die die Leute beim Reden tatsächlich benutzten. Im ausgedehnten und politisch differenzierten Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und Spanien wurde das lateinische Alphabet nie dazu verwendet, das niederzuschreiben, was die Leute redeten. Bis zum 13. Jahrhundert blieb es ein Werkzeug im Dienste des Diktats. Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Belegen, mit deren 73 Hilfe diese Behauptung modifiziert werden kann. So benutzten zum Beispiel römische Notare die Kursivschrift, um Schriftstücke zu beglaubigen, und römische Rhetoren verwendeten sie, um sich Notizen für ihre Reden zu machen; und gelegentlich schrieben Leute wie der Heilige Hieronymus eigenhändig in dieser Schrift bei Kerzenlicht Briefe, statt sie zu diktieren, wenn der Schreiber verfügbar war. Und auch nachdem die Kursivschrift in Vergessenheit geraten war, machte sich so mancher Kleriker des Früh- und Hochmittelalters seine eigenen Notizen. Das karolingische Minuskelalphabet war nicht so geheimnisvoll, daß der Autor unbedingt einen Schreiber benötigte. Es gibt auch einige Beispiele dafür, daß das lateinische Alphabet schon vor der Zeit Hugos zur Aufzeichnung nichtlateinischer Sprechformen verwendet wurde. Am auffallendsten ist hier das Angelsächsische vor der normannischen Eroberung. Überdies benutzte man bisweilen das Alphabet bei dem Versuch, Übersetzungen zu schaffen. Schon unter Karl dem Großen arbeitete man in den Benediktinerklöstern der Bodenseegegend an alemannisch-lateinischen Glossaren, mit deren Hilfe man dann mundartliche Fassungen der Benediktinerregel und von Teilen der Evangelien erstellte. Aber je mehr solcher Zeugnisse wir finden, desto mehr erscheint uns die Benutzung des Alphabets bei der Abfassung nichtlateinischer Schriftstücke als Ausnahme, die die Identifikation der lateinischen Schrift mit der lateinischen Sprache bestätigt. Erst nach Hugos Tod begannen Chronisten und Notare mit einem Mal, das Alphabet zum Aufzeichnen wirklicher Rede zu verwenden. Jetzt erst wurde eine Erfindung, die
schon so lange zugänglich und den Menschen vertraut gewesen war, die mit nichtlateinischen Sprachen aufgewachsen waren, routinemäßig angewendet, um diese in schriftlicher Form zu fixieren. Aus der Sicht des Technikhistorikers bietet sich hier eine gute Möglichkeit, fundamentale Hypothesen zu prüfen. Statt die eine Theorie 74 zu bestätigen, nach der Aufgaben möglich werden, wenn die Geräte, die man zu ihrer Ausführung braucht, zugänglich werden, oder die andere, nach der Werkzeuge dann geschaffen werden, wenn bestimmte Aufgaben gesellschaftlich erwünscht sind, deutet dieser Gebrauch des Abc darauf, daß ein schon in einer Gesellschaft vorhandenes, sehr geeignetes komplexes, künstliches Hilfsmittel erst in dem historischen Augenblick zu einem Werkzeug zur Ausführung einer Aufgabe gemacht werden wird, wenn diese symbolische Bedeutung erlangt. Die Seite mußte den sichtbaren Text hervorbringen, das gläubige Selbst mußte das moralische Selbst und die juristische Person hervorbringen, bevor die Mundart, in der diese Person redete, zum Schriftbild »einer« Sprache gerinnen konnte. Die alphabetische Aufzeichnung deutscher oder provencalischer Mundarten führte nicht gleich zu der Erkenntnis, daß mit der Alphabetisierung des Sprechens andere, mit dem Latein vergleichbare Sprachen entstünden. Uwe Pörksen lieferte mir einen der besten Beweise hierfür: Während der ersten beiden Generationen, in denen an deutschen Höfen eine große Nachfrage nach provençalischen Texten bestand - und umgekehrt -, wurde nicht eines der großen Lieder direkt aus einer Mundart in die andere übersetzt. In jedem einzelnen Fall entstand erst eine lateinische Version des Liedes, und danach dann eine Übersetzung aus dem Lateinischen in die Mundart, in der das Lied überliefert ist. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts scheint es dann schon üblich zu sein, lateinische Buchstaben für das Deutsche, Romanische und Italienische zu verwenden. Die Phonographie eines Lateins, das schon nicht mehr gesprochen worden war, als der Vesuv Pompeji begrub, wurde erst nach einem vollen Jahrtausend zu einem phonetischen Aufzeichnungsmittel zur Erfassung tatsächlicher Rede. Was auch immer gesagt, gesungen und bald auch gedacht wurde, konnte auf der Oberfläche eines Blattes, einer »Seite«, landen. So, wie der Text jetzt vom konkreten 75 Gegenstand losgelöst war, also von eben diesem oder jenem Pergament, so wurden die Zeichen des Abc unabhängig vom Latein. Aber das Lateinische verlor nicht von heute auf morgen seine uralte Geltung als einzig wirkliche Sprache. Langsam nur, aber unaufhaltsam setzte sich die Vorstellung durch, daß nicht nur die Schreiber, sondern alle Menschen Sprache benutzen, und daß diese Sprache geschrieben, analysiert, gelehrt und übersetzt werden kann.201 Und diese verdinglichte Abstraktion des Redens, die man Sprache nennt, konnte nun für die Aufgabe eingesetzt werden, die Wirklichkeit auf neue Art zu definieren. Das Sprechen konnte man sich jetzt als Buchstabieren der eigenen Gedanken vorstellen. Die Zeilen des Didascalicon wurden noch geschrieben, um den Mund zu verlassen. Der Klang der alphabetischen Zeichen war noch immer von ihrer Herkunft, dem Latein, geprägt. Griechische oder hebräische Brocken wurden vom Fluß des Lateinischen mitgetragen, auf das ein paar Dutzend anregende Zeitgenossen, die zwischen 1060 und 1110 geboren wurden, einen außergewöhnlichen Einfluß hatten. Ein Jahrhundert später schrieb der Heilige Franziskus das erste Gedicht in italienischer Sprache. Ganz anders als der zu Beginn des 12. Jahrhunderts geborene Flame Hugo, der das, was ihn in der Tiefe seines Herzens bewegte, nur diktieren, verfassen oder
formulieren konnte, wenn er ihm auf lateinisch Ausdruck gab, konnte der umbrische Kaufmannssohn zu Beginn des 13. Jahrhunderts sein Lob der Sonne und des Mondes als mundartliches Liebeslied nach dem Vorbild eines provençalischen Lai verfassen. Ganz selbstverständlich benutzte er lateinische Buchstaben, um Wort für Wort aufzuzeichnen, was er den Armen zu sagen hatte. Während Hugos Pilgerschaft die Sprossen der lateinischen Zeilen hinaufführt, stellt Franz von Assisi sein Selbst an italienischen Straßenecken bloß.
5 Scholastisches Lesen Hugo fügt ein Vorwort hinzu • Die Pflicht, zu lesen • Trotz kargen Unterhalts • Der Regularkanoniker gibt mit seiner lectio ein Beispiel • Das Umblättern einer Seite • Der neue Kleriker übernimmt die Vorherrschaft über das Schreiben • Leises Lesen • Die scholastische dictatio Hugo fügt ein Vorwort hinzu Der Liste zufolge, die Abt Gilduin aufgesetzt hat - kurz nachdem sein Sohn, Meister Hugo, im Kloster von St. Viktor am linken Seineufer 1142 gestorben war - und die bis heute im Merton College in Oxford liegt, hatte das Didascalicon kein Vorwort.202 Hugo ist einer der wenigen frühen Autoren, von deren Werken ein Inventar erhalten ist, und deshalb ist man geneigt, es als vertrauenswürdig anzusehen. Es gibt jedoch auch gegenteilige Zeugnisse. In manchen Manuskripten, die in Hugos Zeit datierbar sind, geht dem ersten Kapitel ein Vorwort voraus.203 In Buttimers kritischer Edition des Didascalicon ist diese Einführung 62 Zeilen lang. Es ist daher ein größerer Text, da nur wenige Kapitel des gesamten Didascalicon länger sind. Dieses Vorwort ist in Hugos Stil geschrieben; Ton und Aufbau sind so typisch für Hugo, daß man es allgemein als authentisch betrachtet. Die Historiker sind sich jedoch nicht darüber einig, weshalb es in manchen Manuskripten fehlt. Nach einer Ansicht schrieb Hugo es für seine erste Fassung und versuchte später, es zu unterdrücken. Andere meinen, daß Hugo erst nach Jahren, in denen das Didascalicon von Hand zu Hand gegangen 77 war, ein Vorwort für notwendig hielt, und daß die Abschriften, in denen es fehlt, von früheren Manuskripten stammen. Wie dem auch sei, in ihm erfahren wir viel über die soziale Umgebung, in der Hugo schrieb.204 Die Pflicht, zu lesen »Gar zu viele hat die Natur so ärmlich bedacht205, daß ihr Verstand kaum die einfachsten Dinge fassen kann. Und diese Art (Leute) scheint mir von zwei Sorten zu sein. Es gibt so manche, die ihre eigene Schwerfälligkeit kennen206 und doch alles daransetzen, in unablässigem Eifer nach Wissen zu streben207. Was ihnen an Leistungen abgeht, das verdienen sie sich durch ihre Plage. Andere hingegen, die wissen, daß sie Erhabenes gar nicht begreifen können, vernachlässigen dann auch das Kleine und verkriechen sich in muffige Trägheit; je mehr sie sich so vor dem Streben nach dem Einfachen drücken, um so mehr verblaßt bei ihnen auch das Augenlicht für die große Wahrheit.«208 Hugo eröffnet sein Vorwort mit einer doppelten Unterscheidung.209 Manche Menschen sind weniger begabt als andere, und unter den Schwerfälligen gibt es wiederum zwei Gruppen. Den ersteren, den Demütigen, stellt Hugo in Aussicht, daß ihr Fleiß sie zu Einsichten führen wird, die über ihren intellektuellen Horizont gehen. Für die zweite Gruppe, die der Selbstgefälligen, kann es nur einen Abstieg geben: »Nichtwissen entstammt der Schwäche; aber Verachtung für das Wissen entspringt einem bösen Willen.«210 Das Lesen ist für Hugo nicht so sehr eine technische, sondern eine moralische Handlung. Es dient der persönlichen Erfüllung. Hugo ist ebensosehr daran interessiert, den Dummkopf mit guten Absichten zu unterstützen, wie den Eitlen vor dem Versumpfen zu bewahren.
78 »Es gibt jedoch noch eine Art, die von Natur aus so reichlich begabt ist, daß sie den Zugang zur Wahrheit leicht finden könnte. Auch wenn man voraussetzt, daß ihre Fähigkeiten ungleich verteilt sind211, haben nicht alle die gleiche Tugendhaftigkeit oder den gleichen Willen, ihre natürliche Begabung durch Übung und Lernen zu pflegen.«212 Nachdem er die Schwerfälligen in zwei Gruppen eingeteilt hat, ordnet Hugo die Begabten nach Talent, Tugend und Willen. Er wendet sich dann zwei speziellen Gruppen unter den Begabten zu: den Verantwortungslosen und denen, die sozial benachteiligt sind. Von den Fähigen sagt er: »viele . . . verwickeln . . . sich weit über das Notwendige in Geschäfte213 oder . . . sie ... lassen sich in Laster und Ausschweifung gehen, sie begraben die Gabe Gottes in der Erde214, suchen in ihr weder die Frucht der Weisheit noch den Nutzen guter Werke.«215 Hugo hält diese für valde detestabiles, »äußerst verabscheuungswürdig«216. Wenn er mit dieser Aussage nur die Mönche gemeint hätte (von denen viele nie technisch literat wurden), wäre sie in ihrer Härte überraschend. Aber, wie ich zeigen werde, richtet sich Hugo hier indirekt an den »Mann auf der Straße«, dem er Vorwürfe macht, wenn er zuläßt, daß negotia (Geschäfte, Ablenkungen von der Muße) die Suche nach Studium, das ja otium ist, beeinträchtigen. Trotz kargen Unterhalts »Wieder andere kommen aus einem armen Haus und verfügen über nur geringe Mittel217, was auch ein Hindernis beim Studium ist. (Hugo ist sich bewußt, daß die Muße, die er verficht, von bestimmten materiellen Voraussetzungen abhängt). Aber auch damit - und das ist unsere Überzeugung - können sie nicht entschuldigt werden; haben wir doch schon viele gesehen, die 79 sich hungrig und durstig und nackt an die Arbeit gemacht und Früchte gezeitigt haben.«218 Das Studium legendi ist laut Hugo eine Berufung, die sich an alle richtet, und die als Pflicht, zu lernen zu verstehen ist. »Alle«, ob sie nun dumm oder schlau sind, fähig oder weniger fähig, ob ihr Wille stark oder schwach ist, machen sich schuldig, wenn sie sich weigern, mit dem Lernen voranzukommen. Vor Hugo hat niemand auf solche Weise die Doktrin einer universalen Lernpflicht formuliert. Indem er das Problem der wirtschaftlichen Ungleichheit anspricht, macht Hugo deutlich, daß er sich nicht an eine geschlossene Mönchsgemeinschaft richtet. In einem Kloster des 12. Jahrhunderts bestimmte die Herkunft zwar den sozialen Status eines Mönchs, aber das eigene Vermögen wirkte sich nicht auf die alltäglichen Lebensbedingungen Einzelner aus. Wenn der Novize begabt war, stand es ihm frei, seine Fähigkeiten zu entwickeln, ungeachtet seines sozialen Hintergrunds. Viele Novizen traten mit sieben Jahren ins Kloster ein, erwarben bestimmte Fertigkeiten als Kinder und gaben das Gelübde lebenslanger Seßhaftigkeit in eben diesem Kloster ab. Die Herkunft »aus einem armen Haus« und »geringe Mittel« und, als Folge davon, die Arbeit in Hunger, Durst und Nacktheit, waren nicht das Los eines Novizen. Hier richtet sich Hugo also nicht an die Mönche, sondern an die allgemeine Bevölkerung, an die Einwohner einer wachsenden und geschäftigen mittelalterlichen Stadt. Bei den Städtern entscheidet die wirtschaftliche Lage darüber, ob jemand Muße zum Lernen hat. »Es ist eines, wenn du dich dem Studium nicht widmen kannst - oder, um es genauer zu sagen, nur mit Ach und Krach studieren kannst -, und es ist etwas ganz anderes, es zu können und nicht zu
wollen. Denn so großartig es ist, wenn einer mittellos sich daran macht, mutig aus eigener Kraft der Weisheit nachzustellen, so widerlich ist es, wenn einer trotz seiner Gaben und Mittel faul versumpft.«219 8o Selbstverständlich wäre es verkehrt, wollte man Hugo als Fürsprecher einer allgemeinen Bildung sehen oder dessen, was wir heute unter »Literalität« verstehen. Und dennoch spricht Hugo im Didascalicon von einer universalen Berufung zum Lernen. Zweifellos gehört in die Doktrin der Kirche, daß »alle« dazu aufgerufen sind, etwas Bestimmtes zu lernen. Alle sollen glauben und diesen Glauben bekennen. Und der Islam hat, in einer förmlichen Bedeutung, der Lernpflicht einen besonderen Ausdruck verliehen: Muslime müssen die Gebete auswendig können, die sie, ob in der Gemeinschaft oder ganz allein, fünfmal täglich aufsagen. Im Paris des 12. Jahrhunderts definiert Hugo die Pflicht, zu lernen als Pflicht, zu lesen. Daß Hugo die Städter meint und nicht nur die Novizen, die Kanoniker werden sollen, oder auch andere Kinder, die im Kloster leben, wird auch durch etwas anderes glaubhaft: nämlich durch die vollständig andere Art und Weise, in der er junge Knaben anspricht, die ihre Familien verlassen haben, um Mitglieder der Gemeinschaft von St. Viktor zu werden. Der Regularkanoniker gibt mit seiner lectio ein Beispiel Hugos Schrift De institutione novitiorum ist an solche Neulinge »aus der Welt« gerichtet. Hier wird auf fast jeder Seite betont oder angedeutet, daß diese Kinder einer besonderen, außergewöhnlichen Berufung gefolgt sind. Während die Einführung zum Didascalicon alle Leser dazu auffordert, das Studium als Pflicht zu betrachten, wird im De institutione die Verpflichtung einer auserwählten Gruppe behandelt. Hier hören wir von den Vorstellungen, die man im Kloster von St. Viktor in Hugos Generation von Sinn und Zweck des Klosterlebens hatte.220 In seinem ist der Novize nicht nur für den Zustand seiner Seele 81 verantwortlich221; es ist seine besondere Aufgabe, für die »Erbauung« der Städter zu sorgen, indem er mit seinem Lernen ein Beispiel gibt.222 Studium ist, als Teil des Lebensstils, den der angehende Kanoniker gewählt hat, nach Hugos Meinung ein Mittel, das Bild Gottes in sich selbst wiederzufinden, ein Abbild, das von der Sünde verdeckt worden war.213 Wenn Hugo sich an Novizen richtet, wünscht er, daß sie coram deo et coram hominibus lernen. Coram bedeutet »vor den Augen« oder »vor dem Antlitz« Gottes und der Menschen. Der allgemeinen Pflicht aller Menschen, zu lernen und sich zu bemühen, entspricht die Pflicht des Regularkanonikers, zu lehren: durch seinen Lebenswandel (vita) und seine Weisheit (doctrina) und sein Beispiel.224 Hugo betrachtet das Lernen seiner Schüler als Tätigkeit, die sozial ist, weil sie vorbildlich ist. In dem Vorwort sagt Hugo, daß er mittels der ersten drei Bücher des Didascalicon den Leser die Regeln lehren möchte, die beim Auswählen und Lesen weltlicher Bücher befolgt werden sollten, und daß er ihn in den folgenden Teilen lehren will, wie heilige Bücher »gelesen werden sollten von dem Menschen, der in ihnen die Heilung seiner Moral und eine Lebensform sucht«225. Hugo denkt bei seinen Novizen an deren Berufung; sie nämlich werden eines Tages andere durch das Beispiel ihrer forma vivendi belehren. Hugo redefiniert hier das Klosterleben im Geiste einer neuartigen kirchlichen Gemeinschaft, der er angehört. Er verwendet die überkommene Sprache, gibt ihr aber eine grundlegend neue Betonung. Dadurch, daß er exemplum als Aufgabe des
Lehrenden und aedificatio als dessen Folge für die Stadtbevölkerung im Ganzen darstellt, zeigt er, daß er erkannt hat, daß die neuen Regularkanoniker - und nicht nur er selbst als Mensch - auf einer Wasserscheide zwischen dem monastischen und dem scholastischen Lesen stehen. In der Regel des Heiligen Benedikt wird nirgends ausdrück82 lich daraufhingewiesen, daß ein Mönch dem anderen ein Beispiel sein sollte.227 Noch weniger wird das Klosterleben als moralisch vorbildhaft für diejenigen hingestellt, »die in der Welt leben«. Achtung gegenüber dem Mitbruder, Nachsicht mit dessen Schwächen, gegenseitige Liebe und Gehorsam gegenüber dem Abt kennzeichnen den vorbildlichen Mönch, wie ihn Benedikt in seiner Regel darstellt. In der alten benediktinischen Tradition hätte es einen Verlust an Unabhängigkeit und Freiheit bedeutet, wenn der Mönch, der sich in tugendhaftem Verhalten übte, dabei über seine Schulter hätte schauen und sich Gedanken über seine Vorbildhaftigkeit hätte machen müssen. St. Bernhard von Clairvaux, der Zeitgenosse Hugos war, rettete diese alte Tradition ins 12. Jahrhundert hinüber. Auch er schrieb eine Abhandlung über die Ausbildung von Novizen. Schon der Titel weist daraufhin, daß Bernhard etwas ganz anderes betonen möchte als Hugo: De gradibus humilitatis spricht zum angehenden Benediktiner über die »Stufen der Demut«, und an keiner Stelle dieser Schrift wird angedeutet, daß der Mönch sich um die Erbauung seiner Gemeinschaft oder die der Menschen jenseits der Klostermauern Gedanken machen sollte. Hugos De institutione dagegen ist durchdrungen von der Sorge um den Einfluß des Regularkanonikers in der Öffentlichkeit, der anhand der aedificatio ausgeübt wurde. Hugos Gemeinschaft lebt nicht nach der Benediktsregel, sondern nach der Regel des Heiligen Augustinus, die zweihundert Jahre älter ist. Benedikt schrieb seine Regel nach dem Niedergang des Römischen Reiches, in einer Zeit, als das römische städtische Leben in Europa faktisch verschwunden war. Er schrieb sie für Gemeinschaften, die jeweils aus einem Dutzend Mönchen bestanden, die häufig in entvölkerten Gebieten lebten und nur für ihr eigenes Auskommen sorgten, indem sie Ödland wieder fruchtbar machten. Es waren nur wenige Menschen da, denen man ein Vorbild sein konnte im dunklen Zeitalter zwischen dem Fall Roms und der Ankunft arabischer und mongolischer Eindringlinge. Augustinus schrieb vor diesem zivilisatorischen Zusammenbruch.228 Er und seine Gefährten wurden noch im römischen Bürgergeist aufgezogen. Gegenseitige Hilfe229 und die Wichtigkeit wechselseitigen Einflusses unter den Brüdern werden in seiner Regel erwähnt.230 Für Augustinus sind »Gewissen und Ruf zwei Dinge. Das Gewissen ist für dich und der Ruf für deinen Nächsten. Wer sich aufsein Gewissen stützt und seinen Ruf vernachlässigt, ist unbarmherzig [...] Vor allem anderen, zeige dich als Vorbild in dem, was du tust.«231 Die Regularkanoniker der mittelalterlichen Städte wählten nicht die Benediktsregel, sondern die Regel des Heiligen Augustinus. Ihnen war es wichtig, den Menschen, denen sie predigten, ein Beispiel zu sein.232 Hugo ist einer der wichtigsten Urheber dieser Erneuerung. Für ihn besteht die neue Vorbildhaftigkeit darin, sich in die lectio divina zu vertiefen - kurz bevor diese sich in die lectio spiritualis, die Gebet ist, und das Studium, das zum Wissenserwerb wird, aufspaltet. Diese seine Stellung an einem Scheidepunkt macht es Hugo möglich, vom künftigen Kanoniker als einem Individuum zu sprechen, das durch sein Vorbild zur geistigen Erbauung einer Stadt des frühen 12. Jahrhunderts beiträgt. Zwei Generationen später kann das Studium legendi eine solche Beziehung zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten nicht mehr artikulieren oder
herbeiführen. Das Lesen kann nicht mehr als Analogon zur Glocke betrachtet werden, die von allen Städtern gehört und erinnert wird, obgleich sie vor allem dazu da ist, die Gebetsstunden des Klosters einzuläuten. Das scholastische Lesen wird zur beruflichen Aufgabe für Gelehrte, und zwar für solche, die gemäß ihrer Definition als klerikale Geistesarbeiter kein erbauendes Beispiel für den »Mann auf der Straße« abgeben. Sie betrachten sich selbst als Menschen, die etwas Besonderes tun, von dem der Laie ausgeschlossen ist. 84 Das Umblättern einer Seite M.-D. Chenu spricht von der Wasserscheide der Gewißheiten und Vorstellungen, die während des 12. Jahrhunderts überquert wurde und die einen Wandel brachte, der mindestens so tiefgreifend war wie der des Zeitalters der Reformation.233 R. Southern spricht von einer hinge time, einer Angelzeit.234 Eine andere Metapher dafür könnte die einer Seite sein, die umgeblättert wird. Die westliche Kultur mit ihren Naturwissenschaften, ihrer Literatur und ihrer Philosophie entsteht mit dem alphabetischen Schreiben und ist ohne dieses nicht zu verstehen. Dieses westliche historische Chronotop235 hat eine Geschichte, und die Epochen dieser Geschichte fallen mit größeren Veränderungen in der Benutzung des Abc zusammen.236 Um 1140 wird ein Blatt gewendet. In der Buchkultur wird die monastische Seite zu- und die scholastische Seite aufgeschlagen. Und das Kloster von St. Viktor manifestiert den prekären Moment, in dem die Seite umgeblättert wird. In Hugos Generation leben in St. Viktor einige sehr sensible Männer. Sie bilden eine Gemeinschaft, ein städtisches Kolleg, das sich in einem Vorort von Paris etabliert hat. Sie nehmen Teil am Leben und an vielen Bestrebungen eines aufsteigenden Bürgertums, das die Vorherrschaft des Feudalismus herausfordert. Im Gegensatz zu Bernhard, der in Clairvaux das Leben der Benediktiner auf sehr feudale Weise reformiert, entdeckt man in St. Viktor den antiken Bürgergeist wieder, der in der Regel des heiligen Augustinus seinen Ausdruck gefunden hatte, und »entfeudalisiert«237 die monastische Tradition. Das Kloster wird zur Metapher für das Sich-Versenken des Lesers in sein eigenes Inneres238, während die soziale Abgrenzung und die körperliche Distanz zwischen Städtern und Kanonikern schwinden. Das Verhältnis zwischen der Laienbevölkerung und dem klösterlich reguliert lebenden Kleriker kann jetzt neu gefaßt 85 werden: Beispielhaft und sichtbar tut der Kleriker das, wozu alle berufen sind, weil sie in der gleichen Welt leben, in der, wie Hugo sagt, nichts bedeutungslos ist. »Die Natur spricht in allen ihren Einrichtungen von Gott. In all ihren Erscheinungen belehrt die Natur den Menschen. In all ihren Erscheinungen erzeugt die Natur Vernunft, und in der Gesamtheit der Dinge ist nichts Unfruchtbares.«239 Das Buch der Schöpfung umfaßt beide Seiten der Klostermauern; die weltlichen Künste und die Heilige Schrift berichten beide von Gottes Werk. Als sich das Blatt im Buch der Zivilisation von der monastischen zur scholastischen Seite wendet, geht auch mit dem Leser eine radikale Veränderung vor: sein gesellschaftlicher Status ist nach dem Umblättern nicht mehr derselbe wie vorher. Der monastische Leser - der »Leierer« oder Murmler - klaubt die Wörter von den Zeilen und schafft ein Hörforum. Alle diejenigen, die mit dem Leser an diesem Hörmilieu teilhaben, sind vor dem Verlauteten gleich. Es ist gleichgültig, wer liest, so wie es gleichgültig ist, wer die Glocke läutet. Lectio divina ist immer ein liturgischer Akt, coram,
vor dem Antlitz irgend jemandes; Gottes, der Engel oder jemandes in Hörweite. In der Zeit zwischen Benedikt und Bernhard bestand keine Notwendigkeit, soziales Verantwortungsgefühl vom Leser zu verlangen. Es war klar, daß das, was er gelesen hatte, in den Kommentaren zu seinen Predigten und Schriften wiederkehren würde. Bezeichnenderweise war das fünfzig Jahre nach Hugo nicht mehr so. Der technische Akt des Entzifferns schafft keinen auditiven, und daher auch keinen sozialen Raum mehr. Jetzt durchblättert der Leser das Buch. Seine Augen spiegeln die zweidimensionale Seite. Bald wird er seinen eigenen Verstand in Analogie zu einem Manuskript wahrnehmen. Das Lesen wird zu einer individualistischen Tätigkeit werden, zu einem Hin und Her zwischen einem Selbst und einer Seite. Hugo schreibt sein De institutione und auch das Didascalicon 86 zu einem Zeitpunkt, als dieser Übergang sich anbahnt, aber noch nicht begonnen hat. Sein Nachdenken über den Akt des Lesens und dessen Bedeutung krönt eine Tradition, die über Jahrhunderte gewachsen war. Und doch trägt Hugo auf subtile Weise dazu bei, den unmittelbar bevorstehenden Erdrutsch auszulösen. Er fordert den Schüler zum nutzenlosen Studium auf und gleichzeitig dazu, auf diesem Weg ein bewußtes individuelles Beispiel zu geben. Hugo »entdeckt« eine universale Pflicht, sich dem Lernen zu widmen. Er entdeckt die vorbildhafte Aufgabe neu, die der einzelne, der sein Leben dem Lernen widmet, übernimmt. Indem er das tut, zieht er die letzten Konsequenzen aus der mittelalterlichen Praxis, in der die lectio divina nicht nur eine Aufgabe des Klerus ist. Der neue Kleriker übernimmt die Vorherrschaft über das Schreiben Klerus kommt vom griechischen Wort für »Los« oder »Auswahl«. Seit dem 2. Jahrhundert hat es in der Kirche immer einen klaren Unterschied zwischen Laien und Klerus gegeben. Und so sehr sich die Stellung des Klerus auch verändert und sein Aufgabenbereich sich entwickelt haben mag, das Wort hat immer den Beiklang von »Hierarchie« und »Elite« gehabt. Überdies war der Klerus sowohl in der Ost- als auch in der Westkirche vom 3. bis zum 11. Jahrhundert eine Elite, die ausschließlich aus Männern bestand.240 Man betrachtete ihn als Gruppe von dem Bischof zu besonderen Diensten stehenden Männern, die diesem half, dem Volk Gottes Offenbarung und Gnade zu vermitteln. Dieses Volk - die Laien - bestand aus Männern, Frauen und Mönchen.241 Während dieses gesamten Zeitraumes wurden die Kleriker als besondere Vertreter des ganzen Volkes betrachtet und behandelt. Sie sahen sich selbst als jene Christen, die beauf87 tragt sind, sich bei Gott als Fürbeter für die gesamte Kirche zu verwenden, die Mitglieder des Klerus selbst eingeschlossen.242 Gegen diesen Hintergrund betrachtet ist das monastische Lesen während des frühen Mittelalters bis noch weit ins 11. Jahrhundert hinein ein Werk, das von einer besonderen Gemeinschaft, die die gesamte Kirche repräsentiert, geleistet wird - und zwar immer »für alle«.243 Die monastische lectio divina führt die liturgische Feier der Messe fort, die von einem Priester verrichtet wird (der selbst Mönch sein kann). Wenn Hugo also »alle« zum Studium legendi aufruft, drängt er nicht alle jene, die innerhalb der Stadtmauern leben, dazu, sich wie der Klerus zu verhalten, sondern er fordert sie auf, ihr Leben so ernst zu nehmen, wie es die Mönche tun. Lektüre um ihrer selbst willen - und nicht zur Hantierung des Rechts und zur Rezitation klerikaler Formeln -wurde traditionell eher mit
dem Mönch als mit dem Angehörigen des Klerus assoziiert. Chenu spricht von einem Erdrutsch; ich stelle mir lieber einen »Buchrutsch« vor, dessen Donnern Hugo schon vernahm. Im letzten Stadium der alten Herrschaft des Buches stellt er das studium legendi als neues Ideal auf, als eine Bürgerpflicht, und die universale Gelehrsamkeit als nutzenlosen, feierlichen, müßigen Umgang mit dem Buch. Selbstverständlich ist dies nicht die Konstellation, unter der die universale Pflicht, lesen und schreiben zu können, zum grundlegenden Ideal moderner Gesellschaften wurde. Mit der Zeit, nach und nach, wurde das Lesen zum unbedingten »Muß« für die apologetische Katechese, für das politische Pamphletieren und später für technologische Kompetenz. Als dann, noch viel später, das Ideal der allgemeinen Literalität formuliert wurde, befürwortete man die Lesefertigkeit für »alle«, um sie in die neue verschriftete Kultur einbeziehen zu können, die nun das Gegenteil des monastischen Lebensstils war. Dennoch war die Neudefinierung des Lesers, die schon in Hugos Zeit ansatzweise aufkam, 88 ein Schritt hin zur Vorstellung, daß Lesefähigkeit eine Voraussetzung für den Status als Bürger ist - wie das für unser Jahrhundert gilt. Als sich ein Blatt in der Geschichte des Alphabets wendet, wird allmählich derjenige als Kleriker betrachtet, der mit der neugestalteten Buchseite zurechtkommt und den neuen Index benutzen kann, der den Zugang dazu bietet. Seine geschulte Schriftkundigkeit macht ihn zum »Kleriker«; sei er nun Priester in Diensten des Bischofs, Jurist eines Fürsten, Schreiber in einem Rathaus, Benediktiner, Bettelmönch oder Universitätslehrer. In der alten sozialen Dualität waren die in Seelsorge und Liturgie eingesetzten Mitarbeiter des Bischofs (der Klerus) gegen das »Volk« (seine spezialisierten kontemplativen Leser, die Mönche, eingeschlossen) abgegrenzt. Die neuartige, spätmittelalterliche gesellschaftliche Dualität läßt diejenigen, die Schreiber sind, denen gegenüberstehen, die das nicht sind. Die neue Technik des Lesens und Schreibens, die während des 12. Jahrhunderts Platz greift, wird gleich von den Schreibern monopolisiert. Sie definieren sich selbst als Schriftkundige im Gegensatz zu den einfachen Laien, die schlicht Hörer des geschriebenen Wortes sind.244 Die neuen scholastischen Schreiber verschleiern die Diskontinuität. Sie berufen sich auf den Zusammenhang mit dem liturgisch-pastoralen Klerus früherer Zeiten und übernehmen deshalb dessen kirchlichen Status mitsamt dessen gewohnten Privilegien. So kann zum Beispiel der Gauner oder Landstreicher, der im 13. Jahrhundert wegen eines Kapitalverbrechens festgenommen wird, sich auf die Immunität des Klerus vor grausamer Bestrafung berufen, wenn er nachweisen kann, daß er dazu in der Lage ist, einige Sätze zu entziffern und zu schreiben. Ein solcher Mensch wird einem kirchlichen Gericht überstellt und entgeht dadurch der Folter oder zumindest dem schmählichen Schicksal, gerädert zu werden. 89 Hugos Didascalicon wurde in der Annahme geschrieben, daß die neue Welt, die - mit ihren Stadtrechten und ihren neuen Rechten für die Bauern - im Entstehen begriffen war, weiterhin die alte Seite lesen würde. Tatsächlich war es aber so, daß eine neue Art Buch von Menschen mit einer neuen Geistesverfassung gelesen wurde.245 Ich stelle mir gern vor, daß bei Hugo einige Jahre nach dem Diktieren des Didascalicon der Verdacht aufkam, daß dies geschehen könne, und daß er dem Didascalicon ein Vorwort gab, als er merkte, wie es mißverstanden werden konnte.240 Ich stelle mir auch gern
vor, daß dieses neue Vorwort dem neuen »Klerus« peinlich war, und daß sein Verschwinden aus einigen frühen Manuskripten vielleicht aufs Konto eben dieser neuen Schreiber geht. Das Lesen, wie man es seit dem 13. Jahrhundert kulturell definiert, ist eine dem Klerus und denen, die von ihm unterwiesen werden, vorbehaltene Kompetenz.247 Es hat aufgehört, eine Lebensart für solche Menschen zu sein, die an nutzenlos und vorbildhaft Lesenden Erbauung finden und diesen dann freimütig nacheifern. Hugos Utopie konnte allein in den zwanziger Jahren des 12. Jahrhunderts formuliert werden. Nur zu diesem Zeitpunkt konnte man sich vorstellen, daß die Erneuerung der Gesellschaft248 in einer allgemeinen Akzeptanz der Berufung zum Studium legendi wurzeln müsse. Die Lebensart der Mönche mit ihrem beständig-frommen Suchen nach Weisheit wurde nicht zum Modell für universale Literalität, sondern die Lebensart geschulter Schreiberlinge. Die vita clericorum wurde zur idealen forma laicorum, zum Modell, das die Laien anstreben mußten, und durch das sie zwangsläufig zu Schriftlosen herabgesetzt wurden, die von den Höherstehenden belehrt und beherrscht werden konnten.249 90 Leises Lesen250 Wenn Historiker auf den phänomenologischen Umbruch im Lesen während des 12. Jahrhunderts aufmerksam werden, neigen sie dazu, das Geschehene auf einen Übergang vom lauten zum leisen Umgang mit der Seite zu reduzieren. Obgleich dieser Ansatz leicht zu einer Verschleierung der Wirkung der alphabetischen Technik auf die Deutung des menschlichen Handelns fuhrt - und damit beschäftigen wir uns hier - ist die »Entdeckung« des leisen Lesens doch ein guter Ausgangspunkt. Auch die erste formale explizite Aussage über eine spezielle, leise Art des Lesens hat Hugo geliefert.251 »Wir lesen, wenn wir uns an den Regeln und Lehren, welche niedergeschrieben worden sind, bilden.«252 Und das Lesen ist von dreifacher Art: »das des Lehrenden, das des Lernenden und das desjenigen, welcher für und aus sich selbst wissenschaftliche Untersuchungen anstellt.«253 Hugo unterscheidet drei Situationen: den Menschen, der der Stimme der Seiten lauscht, während er anderen vorliest, den Menschen, dem vorgelesen wird, der also durch einen oder »unter« einem Lehrer oder Lektor liest, und den Menschen, der liest, indem er in das Buch Einblick nimmt.254 Ohne Zweifel praktizierte man in der Antike gelegentlich das leise Lesen, aber man betrachtete derlei als Kunststück.255 Quintillian spricht voller Bewunderung von einem Schreiber, der einen ganzen Satz mit den Augen aufnehmen kann, bevor er ihn laut liest. Augustinus war über seinen Lehrer Ambrosius verblüfft, der manchmal ein Buch las, ohne die Lippen zu bewegen. Die Schreiber kopierten Bücher meist, indem sie sich diese von anderen diktieren ließen. Wenn sie vor dem Original allein waren, lasen sie laut daraus und schrieben soviel nieder, wie sie in ihrem auditiven Gedächtnis behalten hatten. Frühe monastische Schreibstuben waren laute Orte. Dann, während des 7. Jahrhunderts, erreichte eine neue Technik, die in Irland aufgekommen war, Kontinentaleuropa. Sie bestand darin, daß man zwischen den einzelnen Wörtern Platz frei ließ. Als sich diese Technik verbreitete, verstummten die Klosterskriptorien.256 Die Kopisten konnten jetzt einzelne Wörter mit den Augen erfassen, als wenn sie Ideogramme wären, und sie auf die Seite, an der sie arbeiteten, übertragen. Diese im Entstehen begriffene Kunst, allein nach Sicht zu lesen, ist jedoch noch nicht jene meditative, stille Rückkehr zu den Seiten, die auf das Lesen folgte, die Übung, die mit der Meditation und der »dritten Art des Lesens« gemeint ist.257
Um die Geschichte des Lesens in diesem Stadium verständlich zu machen, sind an dieser Stelle einige Bemerkungen zu den mittelalterlichen Schreibtechniken angebracht. Der Versuch einer historischen Ethologie des Lesens verlangt, daß wir dazu in der Lage sind, zu erkennen, wie sich über die Jahrzehnte die Trennungslinie zwischen Tätigkeiten verschiebt, die als »lesen« und solchen, die als »schreiben« klassifiziert sind. Heute scheint es uns selbstverständlich, daß diese zwei Verben leicht zu unterscheidende Tätigkeiten bezeichnen. Historisch gesehen ist das anders. Bonaventura sucht ein Jahrhundert nach dieser Zeit noch immer nach Worten, um Schreiber, Kompilator, Kommentator und Autor auseinanderhalten zu können. Wir müssen jetzt sorgfältiger zwischen dem Autor als Diktierendem und seinem Sekretär als Schreiber unterscheiden. Der scriptor hält die Feder und der dictator führt sie.258 Nur in Ausnahmefällen wird im 12. Jahrhundert ein Autor einer Seite den Griffel in die eigene Hand nehmen, um einen Entwurf auf einer Wachstafel zu machen. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, das Schreibrohr zu ergreifen oder auf teurem Pergament zu schreiben. Das war Aufgabe eines anderen, amanuensis genannt, der Schrift-Setzer oder Feder-Halter, der dem Autor seine Hand »lieh«. ?59 Es gibt gute Darstellungen von Autoren bei der Arbeit." 92 Origenes diktierte einem größeren Mitarbeiterstab. Sein wohlhabender Freund Ambrosius von Nikomedias stellte ihm die nötigen Mittel zur Verfügung. Sein enormes Schaffen während eines kurzen Zeitraums ist nur zu erklären, wenn man berücksichtigt, daß die römische Stenographie gerade zu seiner Zeit den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hatte.260 In festgelegten Abständen wechselten sich die Tachy-graphen, die Schnellschreiber, ab. Nachdem sie in Kurzschrift mehrere Wachstafeln beschrieben hatten, diktierten sie von diesen einer Mittelsperson, die das Diktierte dann in Kursivschrift ausschrieb. Erst von dieser Handschrift erstellte ein kleines Heer von Frauen, die Kalligraphinnen, das Original, von dem die Abschriften für den Leser zu machen waren. Ambrosius konnte sich auf eine ähnliche Einrichtung stützen. Allerdings wissen wir von ihm, daß er eine der Ausnahmen war, die die Regel bestätigen. Gelegentlich sah man ihn lautlos lesen, und er selbst erzählt uns, daß er manchmal nachts bei Kerzenschein einem Freund einen Brief schrieb. Er hat sogar einen besonderen Ausdruck für so etwas Selbstgeschriebenes geprägt: »hic lucubratiunculam dedi«, »hier richte ich an dich ein kleines Kerzenlichtgeschwätz.« Unter den Autoren des 12. Jahrhunderts gab es einen, über dessen Gewohnheiten wir besonders gut unterrichtet sind. Es ist Bernhard, der Abt, der die Mönche einer großen Gemeinschaft als Personal für seine Schreibstube heranziehen konnte.261 Fünf seiner Sekretäre sind uns namentlich bekannt. Daher können wir die Klassifizierung der Tätigkeiten rekonstruieren, wie sie unter seinen Assistenten aufgeteilt waren.262 Bernhard redet (loquitur) oder sagt (dicit) etwas. Seine Äußerungen (dicta) werden von einer anderen Hand (a-manuensis, »Handlanger«) aufgezeichnet. Dieser Schreiber zeichnet sie mit seinem stylus, einem spitzen Instrument aus Holz oder Horn, auf ein Wachstäfelchen. Er ritzt die Buchstaben in die mit Wachs überzogene Oberfläche ein. Was er tut, erinnert den Zuschauer ans Pflügen (exarare). Nicht selten 93 wird der Schreiber dieses ersten Stadiums daher Pflüger genannt, und man nimmt die Einritzungen als Furchen wahr, in denen die Saat der Worte aufgehen wird.263 Die
Metaphern, die den dictator mit dem Sämann und den Schreiber mit dem Pflüger vergleichen, stammen von Isidor von Sevilla, und sie waren zu Hugos Zeit wohlbekannt. Tatsächlich stellt das Bild des Pflügers gut dar, wie sehr sich ein mittelalterlicher Amanuensis im Vergleich zu seinem Pendant in der Antike abmühen mußte. Die Technik der Kurzschrift war in der Zwischenzeit verlorengegangen. Cicero und Origenes sprachen so schnell sie wollten; ihre Sekretäre konnten ihnen Wort für Wort folgen. Bernhard dagegen mußte vom Sprechen (dicere) zu einer anderen, bedächtigeren Diktion (dictare) übergehen, wenn er seine Sätze verbatim, wortwörtlich, niedergeschrieben haben wollte. In seiner Zeit waren nicht nur die tachygraphischen Zeichen verlorengegangen; den Mönchen von Clairvaux war ebenfalls die Kursivschrift unbekannt. Zuweilen mußte ein dictator ein Wort mehrmals wiederholen, bis sein Novize es richtig niedergeschrieben hatte. Aber die meisten Schriften mittelalterlicher Autoren sind nicht derart sorgfältig diktiert, und sie sind nicht im modernen Sinne die Worte des Autors. Scriptura (die Schrift) oder littera (die Schriftzeilen) entsteht, wenn die derben Buchstaben auf dem Wachstäfelchen sorgfältig auf das Pergament übertragen werden. In Bernhards Fall besitzen wir zwei Reinschriften des gleichen Diktats; aus ihm sind zwei unterschiedliche Texte geworden. Wir dürfen annehmen, daß zwei verschiedene Mönche das Diktat aufgenommen und jeweils sorgfältig ausgearbeitet haben. Sicherlich folgt Bernhard zuweilen dem Beispiel Ciceros und läßt sich das Geschriebene noch einmal vorlesen, um zu hören, wie es klingt; eine correctio. Sein Diktat wird aber in den meisten Fällen ohne Überprüfung durch ihn in Umlauf gebracht worden sein.264 Die Gewohnheit, einen Text zu unterschreiben, ist - sofern es sich dabei nicht um eine 94 Urkunde handelt - noch nicht üblich.265 Auch bei jenen seltenen Gelegenheiten, als sich Bernhard selbst um die correctio eines Diktats kümmerte, hatte diese keinerlei Ähnlichkeit mit dem Korrekturlesen, wie wir es kennen. Unser Korrekturlesen ist die Berichtigung einer idealen Kopie, von der dann mit Hilfe des Drucks viele identische Kopien entstehen werden. Für Bernhard war es einfach selbstverständlich, daß sein Diktat bei jeder Abschrift verändert werden würde. Zudem setzt das Korrekturlesen voraus, daß jemand laut liest, während ein anderer leise nach Fehlern sucht; etwas, das zu der Zeit nicht praktiziert wurde und wofür auch kein Bedarf bestand. Wir wissen, daß sein Amanuensis zuhörte und murmelte, während Bernhard einen Absatz sprach oder diktierte. Er nahm Bernhards Diktat auf, und er diktierte es weiter - wie man sich das damals vorstellte -, indem er es seiner eigenen Hand zumurmelte: Der Mund des Schreibers führte die Hand, die den stylus hielt.266 Das Schreiben blieb, wie das Lesen, eine murmelnde Tätigkeit. Deshalb war es dem Mönch, der als Strafe in seine Zelle verwiesen worden war mit der Aufforderung, zu schweigen, auch verboten, zu schreiben: Er hätte seinen Stift nicht führen können, ohne das vom Abt auferlegte Schweigen zu brechen. Die scholastische dictatio Hugo sprach zu seinen Schülern. Ein Jahrhundert später hielt Thomas von Aquin seinen Studenten Vorlesungen. Wenn Hugo vor einem offenen Buch sprach, waren dessen Seiten aus Pergament, und er kommentierte die Zeilen. Thomas kam mit eigenen Vorlesungsnotizen zum Unterricht. Anders als Hugo schrieb Thomas in Kursivschrift, die zum Notieren von Schlüsselwörtern gut geeignet war. Und er schrieb auf glattem, billigem Pergament, das nicht, wie das sperrige Leder, festgenagelt werden 95
mußte. Hugos Novizen lasen seine Ansprachen oder Verlautbarungen267, während die Universitätsstudenten den Ausarbeitungen von Thomas folgten. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatten sich die Studenten daran gewöhnt, sich von ihren Lehrern diktieren zu lassen.268 Die Worte, die der Lehrer gesprochen hatte, wurden vom Studenten erfaßt, indem er sich selbst vorlas, was ihm gerade diktiert worden war. In Miniaturen kann man sehen, wie Schüler des 12. Jahrhunderts ihrem Lehrer zuhörten. Studenten des 14. Jahrhunderts nehmen entweder Diktate auf, oder sie sitzen vor einem Abriß der Vorlesung, den sie sich vor dem Unterricht bei einem öffentlichen Kopisten beschafft haben. Die scholastische Argumentation ist inzwischen so durchgliedert und differenziert, daß man visuelle Hilfen braucht, um ihr folgen zu können. Im 14. Jahrhundert kamen unter den Lehrern der Sorbonne darüber Kontroversen auf, wie eine Vorlesung richtig zu halten sei.269 Unter den Studenten herrschte Unzufriedenheit - die von einigen Lehrkräften geteilt wurde -, weil eine Reihe von Lehrern ihre Studenten als Kopisten benutzten und ihnen Bücher diktierten, die von anderen geschrieben waren, in der Absicht, die Abschriften dann zu verhökern. Eine solche Ausbeutung war sicherlich ein Extremfall. Aufgrund solcher Kontroversen wissen wir aber, daß der Universitätsunterricht am Ende des 14. Jahrhunderts im Diktieren und Notizenmachen bestand. Man nannte das, was der Lehrer tat, nominare (verdeutlichen) oder pronunciare ad pennam (für die Feder verkünden). Es wurde auch legere ad calamum genannt: direkt ins Schreibrohr lesen, mit dem der Student die Seite beschreibt. Die Studenten wurden nun als Leser betrachtet.270 Den Texten solcher Lehrer, die um ihre Studenten bemüht waren, können wir entnehmen, daß es üblich war, denselben Satz mehrmals zu wiederholen, bis es klar war, daß alle Studenten ihn aufgezeichnet hatten. Aus dem auditor der Antike und der Gruppe von 96 Novizen um Hugo war ein Heer von Schreiberlingen geworden, die die Darlegungen des Lehrers nur verstanden, wenn sie den Text davon vor Augen hatten. Zu Hugos Zeit bedeutete philosophari noch, »das Leben eines Mönchs leben«271. Im 13. Jahrhundert setzte man bereits lectio, philosophari und conversio morum nur noch in einigen wenigen Klöstern272 gleich, und Hugos incipit wurde nicht mehr verstanden.273
6 Vom aufgezeichneten Reden zum Aufzeichnen des Denkens Das Alphabet als Technologie • Von der aufgezeichneten Äußerung zum Spiegel der Vorstellung • Vom Kommentar zu einer Geschichte zur Geschichte über ein Thema • Ordinatio: sichtbare Anordnung • Statim inveniri: sofortiger Zugang • Registermachen nach dem Abc • Autor versus Kompilator, Kommentator und Schreiber • Layout • Illuminatio versus illustratio • Das tragbare Buch Das Alphabet als Technologie Hugos Didascalicon ist unter anderem auch ein Hauptzeugnis über einen Wendepunkt in der Geschichte jener Technologie, die die westliche Realität tiefgreifend geformt hat. Die Technologie, die ich meine, ist natürlich das Alphabet.274 Das 12. Jahrhundert erbte etwa zwanzig römische Buchstaben.275 Die Grundreihenfolge dieser Buchstaben geht über die Etrusker und die Griechen des 7. vorchristlichen Jahrhunderts auf die Phönizier und von da auf einen nordsemitischen Stamm in Palästina zurück. Das Mittelalter erbte auch einen Bestand von Schreibgefäßen und Beschreibstoffen: Wachstafel, Pergament, Schreibrohr, Griffel, Feder und Pinsel.276 Aus der späten Kaiserzeit übernahm das Mittelalter das Buch; das heißt die Technik, eine Rolle zu Bögen zu schneiden, diese zusammenzunähen und sie zwischen zwei Deckel zu einem Buch zu binden. Diese technischen Elemente blieben während des 12. Jahrhunderts im wesentlichen unverändert. Aber in der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden sie in ein neues Bündel von Techniken, 99 Gebräuchen und Materialien eingegliedert. Einige der Neuerungen waren Wiederentdeckungen antiker Fertigkeiten; ein Beispiel ist die Kursivschrift.277 Andere wieder wurden importiert: So wurde zum Beispiel die Technik, einen neuen Preßstoff, das Papier, herzustellen, über Toledo aus China eingeführt. Andere, weniger auffällige Techniken waren gänzlich neue Erfindungen westlicher Schreibstuben: das Ordnen von Schlüsselwörtern nach dem Alphabet, das Sachregister und eine neuartige Gestaltung der Buchseite, die das leise Aufnehmen des Geschriebenen erleichterte. Zudem war das Zeitalter der großen gotischen Kathedralen auch die Zeit, in der das wirklich tragbare Buch entstand. Das Ergebnis war, daß die überkommenen zwei Dutzend Buchstaben und ihre Abc-Reihenfolge Teil einer qualitativ neuen Technologie und Grundlage für ein Bündel bisher beispielloser persönlicher und sozialer Verhaltensmuster wurden.278 Ich möchte herausfinden, wie diese alten und neuen Techniken kurz nach dem Jahr 1128 (dem Jahr, in dem die ersten Abschriften von Hugos Manuskript umliefen) aufeinander abgestimmt wurden, und ich möchte begreifen, auf welche Weise diese Integration zu einer Art der Lektüre führte, die ganz anders war als die des Jahrhunderts davor und des Jahrhunderts danach. Ich lese das Didascalicon wegen meines allgemeinen Interesses an der symbolischen Interaktion zwischen »Technologie und Kultur«, oder, genauer gesagt, ich interessiere mich für das Zusammenspiel von Tradition und Zweck, Materialien, Werkzeugen sowie den formalen Regeln ihres Gebrauchs.279 Ich möchte verstehen, was Hugo tat, als er das Buch seiner Zeit las, welche Gewohnheiten und Bedeutungen durch das Zusammenspiel der sozialen Fertigkeit des Lesens mit der Aufzeichnungstechnik entstanden, die man damals »Buch« oder litterae nannte. Und ich möchte eine Deutung dessen versuchen, was Hugo mit dem Lesen
bezweckte. Ich möchte begreifen, welche Bedeutung er der alphabetischen Technik und den Lese100 gewohnheiten im Leben eines Regularkanonikers beimaß. Ich möchte die symbolischen Auswirkungen einer epochenspezifischen Technologie auf die Sitten und Gebräuche eines bestimmten historischen Zeitalters verstehen.280 Von der aufgezeichneten Äußerung zum Spiegel der Vorstellung Vor Hugos Zeit ist das Buch eine Aufzeichnung dessen, was ein Autor geredet oder diktiert hat. Nach Hugo wird es zunehmend zu einem Repertorium der Gedanken eines Autors, zu einer Bildfläche, auf die er seine noch unausgesprochenen Intentionen projizieren kann. Als junger Mann wurde Hugo an eine Tätigkeit herangeführt, die wir »monastisches Lesen« nennen können. Er hörte dem Buch hauptsächlich zu. Er lauschte ihm, wenn er sich selbst vorlas, wenn er die Responsorien im Chor sang, wenn er einer Lesung im Kapitelsaal beiwohnte. Hugo schrieb ein Traktat über die Kunst des Lesens für Leute, die dem Klang der Zeilen lauschen würden. Aber er verfaßte sein Buch am Ende einer Epoche; diejenigen, die das Didascalicon während der nachfolgenden vier Jahrhunderte tatsächlich benutzten, lasen nicht mehr mit Zunge und Ohr. Sie waren ausgebildet, auf neue Art zu lesen. Die Formen und die Ordnung der Zeichen auf den Seiten waren für sie weniger Auslöser von Klangmustern als sichtbare Symbole für Ideen. Ihre Literalität war »scholastisch« und nicht »monastisch«. Für sie war das Buch nicht mehr Weinberg, Garten oder Landschaft einer abenteuerlichen Pilgerreise. Sie betrachteten das Buch eher als Schatzkammer, Mine, Vorratskammer - als untersuchbaren Text. Für Hugos Generation ist das Buch wie ein Korridor, dessen Haupteingang das incipit ist. Wenn jemand das Buch in der Hoffnung durchblättert, eine bestimmte Stelle zu finden, ist die Wahrscheinlichkeit, daß er darauf stößt, nicht viel größer, als wenn er das Buch aufs Geratewohl aufgeschlagen hätte. Aber nach Hugo kann das Buch an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen werden, und die Wahrscheinlichkeit, daß der Leser das Gesuchte findet, ist groß. Es ist noch immer ein Manuskript, kein gedrucktes Buch, aber technisch gesehen ist es schon ein grundlegend anderer Gegenstand als vorher. Der Fluß der Erzählung ist schon in Absätze gegliedert, deren Gesamtsumme das neue Buch ausmacht. Was das bedeutete, kann anhand einer den meisten von uns bekannten Erfahrung veranschaulicht werden. Bis in die späten siebziger Jahre hinein konnten Schallplatten wiederholt abgespielt werden, aber es gab keinen sicheren und einfachen Zugang zu einer ganz bestimmten Stelle. Um 1988 gehörten nicht nur Rillenzähler, sondern auch neue elektronische Programmiervorrichtungen zur Standardausstattung von Plattenspielern. Auf ähnliche Weise war das Buch für den Leser im Kloster ein Diskurs, dem man folgen konnte, in den man aber nicht an einer beliebigen Stelle mit einem Blick einsteigen konnte. Erst nach Hugo wird der direkte Zugang zu einer speziellen Stelle zur Norm.281 Vor Hugo wurden alte Bücher allein durch Zusätze erweitert. Zu Lebzeiten Hugos beginnt man damit, Bücher zu redigieren und zu edieren; juristische Entscheidungen werden nun geordnet und gesammelt; alle bekannten Bibelkommentare der Kirchenväter werden Vers für Vers zusammengestellt; Abelard trägt gegensätzliche Meinungen zur gleichen theologischen Frage zusammen. Die Überlieferung wird nach Gutdünken der neuen Herausgeber ausgeschlachtet und kompiliert. Aber zu denen gehört Hugo nicht.
Erst nach seinem Tod beginnen die Schüler, solche Kompilationen zu benutzen. Ein neuer Leser entsteht, der innerhalb 102 weniger Jahre des Studiums eine neue Art Bekanntschaft mit einer größeren Anzahl von Autoren machen wird, als ein meditierender Mönch in seinem ganzen Leben hätte lesen können. Diese neuen Anforderungen werden anhand von neuen Verweisungs- und Erschließungshilfsmitteln sowohl angeregt als auch erfüllt. Und deren Existenz und Gebrauch sind vollkommen neu. Nachdem diese Hilfsmittel erfunden worden waren, blieben sie im wesentlichen unverändert, bis zu den Textverarbeitungsprogrammen für Computer in den achtziger Jahren. Damit erst setzte ein vergleichbar tiefgreifender Wandel ein. Diese Verschiebung von der Aufzeichnung des Sprechens zur Aufzeichnung von Gedanken, von der Aufzeichnung von Weisheit zur Aufzeichnung von Wissen, von aus der Vergangenheit überlieferten Autoritäten zur Speicherung von schnell zugänglichem, klar geordnetem »Wissen« kann man natürlich als Widerspiegelung einer neuen Mentalität und Ökonomie des 12. Jahrhunderts verstehen. Die Veränderungen in den Verschriftlichungstechniken kann man als Reaktion der Schreiber auf die Anforderungen von Fürsten, Juristen und Kaufleuten sehen. Aber ich möchte dieses Zusammenspiel zwischen Gesellschaft und Buchseite aus dem Blickwinkel betrachten, welche Einwirkung die Aufzeichnungstechnologie hatte. Wie trug der Gebrauch der neuen Techniken zur Schaffung neuer Sichtweisen auf die Wirklichkeit bei? Man schätzt, daß sich in den hundert Jahren nach Hugos Tod die Zahl von Rechnungen und Urkunden in England um den Faktor 50 bis 100 vervielfacht hat.282 Die alphabetische Technologisierung des Worts hatte sowohl auf einer praktischen als auch auf einer symbolischen Ebene tiefgreifende Folgen.283 Beschriebene Wirklichkeit wurde in der Rechtsprechung wichtiger als das Wort des Zeugen; Urkunden hatten vor Gericht das letzte Wort. In meiner Interpretation des Didascalicon möchte ich erfunden, wie sich diese Veränderungen auf die Axiome auswirk103 ten, kraft derer soziale Wirklichkeit entsteht, und wie sie die Geistesverfassung späterer Generationen beeinflußt haben. Vom Kommentar zu einer Geschichte zur Geschichte über ein Thema In Hugos Jugend waren gelehrte Bücher entweder ehrwürdige »Schriften« (Bibel, Kirchenväter, Philosophen) oder Kommentare zu diesen. Der Lehrer folgte in seinen Auslegungen dem Text einer solchen Schrift. Ordo glossarum sequitur ordinem narrationis. Zuweilen wurde die glossa sichtbar der narratio, die sie kommentierte, einverleibt. Aber Glossen wurden auch in die Marginalien oder zwischen die Zeilen geschrieben. Diese Art des Glossierens ist ein sichtbares Resultat des geistigen Verfahrens beim monastischen Lesen. So sagt zum Beispiel eine auctoritas, daß »alle Formen der Wissenschaft im Dienste der Heiligen Schrift stehen«. Nichts, was dem Leser durch den Kopf ging, wurde als unangemessen erachtet, einem solchen Text als Kommentar zu dienen. Damals entstanden Texte aus Tangenten zu älteren Texten, die dann langsam von den neuen absorbiert wurden. Während des ersten Viertels des 12. Jahrhunderts entsteht auf der Manuskriptseite eine neue Ordnung.284 Interlinearglossen werden seltener. Man schafft nun absichtlich eine neuartige Verbindung zwischen Glosse und Text.285 In dieser Ordnung haben beide den ihnen zustehenden Platz: Die Glosse ist dem tonangebenden Haupttext untergeordnet. Sie wird mit kleineren Buchstaben geschrieben. Hinter der Verbindung
der beiden ungleichen Partner steht sorgfältige Überlegung. Dem Autor wird selbst bewußt, daß das Layout Teil eines sichtbaren Ganzen ist, das dem Leser das Verstehen erleichtern kann. Um 1260 beaufsichtigt Petrus Lombardus286 persönlich den Kalligraphen, der die vom Sekretär aufgenommenen Diktate 104 abschreibt. Das Buch, an dem sie gemeinsam arbeiten, ist ein Psalmenkommentar, bei dem Vers Rir Vers vorgegangen wird. Bevor der Kalligraph anfing, eine Seite zu schreiben, mußte er das Verhältnis zwischen Vers und dazugehörigem Kommentar ausrechnen, die auf diese Seite passen sollten. In dieser Verteilung kommt ein neues ästhetisches Gefühl zum Ausdruck. Eine solche Anordnung des Textes auf der Seite hielt die Phantasie derartig im Griff, daß Gutenberg und seine Schüler taten, was in ihrer Macht stand, um seine wesentlichen Züge ins Zeitalter der Druckkunst hinüberzuretten. Das soll nicht heißen, daß nicht auch frühere Manuskripte wunderbare Beispiele eines harmonischen räumlichen Zusammenspiels zwischen Zeilen, Glossen und Miniaturen mit botanischen Ornamenten gewesen wären. Aber die neue abstrakte Schönheit, die vor allem mit Hilfe des Schriftbilds entstand, ist das Ergebnis eines der Mitte des 12. Jahrhunderts eigenen Kalküls beim Gebrauch der Buchstabengröße. Sie spiegelt die neue Freude daran wider, geistig geordnete und quantifizierte »Wissensmuster« auf die Seite zu projizieren. In den Kommentaren des Petrus Lombardus sind die Schlüsselwörter mit hellroten Linien auf Quecksilberbasis unterstrichen. Er überläßt es nicht dem Leser, Zitate zu erkennen, sondern er führt einfache Anführungszeichen ein, um anzudeuten, wo ein Zitat beginnt und wo es endet. In den Marginalien gibt er Verweise auf die Quelle, aus der er zitiert. Diese Ordnungshilfsmittel ermöglichen es Petrus Lombardus, einen Aristotelestext seiner eigenen Vorstellung von dessen Struktur zu unterwerfen. Aber Petrus ist ein Mensch seiner Zeit.287 Er wagt es nicht, die Heilige Schrift in der gleichen weise zurechtzustutzen. Sein Kommentar folgt ihr Zeile für Zeile. Im anschaulichen Gegensatz dazu sind seine sententiae zu Aristoteles keine Sammlung von Kommentaren, Tangenten und Exkursen, die den jeweiligen Zeilen folgen. Dieser Kommentar 105 entfaltet sich sichtlich als Petrus' eigener Gedankengang, der durch häufige Verweise auf ein Aristoteleswerk unterlegt wird. Hier hat die Glosse den Sinn, einen ordo herauszustellen, den Petrus in Aristoteles' Werk hineingelesen hat. Das gelehrte Buch besteht nun nicht mehr aus einer Folge von Kommentaren, die wie Perlen auf der Schnur der Darstellung eines anderen aufgereiht sind. Der Autor nimmt es jetzt auf sich, die ordinatio zu stellen. Er wählt selbst ein Thema und bringt seine eigene Ordnung in die Reihenfolge, in der er sich mit dem Thema befassen wird. Die sichtbare Seite ist nicht mehr die Aufzeichnung von Äußerungen, sondern die visuelle Darstellung einer durchdachten Beweisführung.288 Ordinatio: sichtbare Anordnung Die Strukturen, die mit dieser neuen graphischen Technik geschaffen werden, tragen dazu bei, die geschriebene Sprache zu verbessern. Im frühen 13. Jahrhundert faßt eine kurze Folge von Glossen zu Beginn eines jeden Kapitels die Beweisführung zusammen. Die Argumente stehen in numerischer Reihenfolge: prima causa, secunda . . ., quinta. Rhetorische Standardfragen sind der Schlußfolgerung eines jeden Arguments vorangestellt. Diese Fragen sind durch eine Formel »markiert«, die häufig mit obicitur,
das heißt, »man könnte den Einwand erheben«, beginnt. Mit Hilfe einer auctoritas, eines Zitats oder eines Scheingegners werden Zweifel am gerade dargestellten argumentum des Autors geäußert. Dies gibt ihm die Möglichkeit, seinen Standpunkt mittels einer responsio näher zu erläutern. Solche Momente sind auf der Seite durch bestimmte Farben hervorgehoben. Der Leser erkennt sofort, wann der »Versucher« oder adversarius das Sagen hat. Die sichtbare Markierung verlagert die Aufgabe, die ordinatio des Autors aufzunehmen, vom inneren Ohr zum Auge und 106 vom Rhythmus des Gesagten in einen neuen künstlichen Raum. Daß man sich nun auf das sichtbare Gebäude der ordinatio stützen muß, macht es immer mehr zur Notwendigkeit, beim Lesen das Buch vor Augen zu haben.289 Statim inveniri: sofortiger Zugang Über diese Beschäftigung mit dem Seitenbild hinaus ist sich Petrus Lombardus auch eines neuen Zeitrahmens bewußt, in den der Akt des Lesens jetzt verlegt worden ist.290 Er möchte es dem Leser leichter machen, indem er ihm hilft, schneller zu lesen. Er möchte, daß ein ausgedehntes Herumblättern in den Seiten vermieden wird, und setzt daher Kapitelüberschriften ein, die es dem Leser ermöglichen, das, was er sucht, sofort zu finden. Seine sententiae ordnet er so an, daß »derjenige, der sucht, nicht die Seiten vieler Bände wenden muß, sondern schnell und ohne Mühe das, wonach er fragt, finden kann«. Hugo besteht auf Geduld291 und mußevollem Abschmecken292 dessen, was auf der Seite vorgefunden wird.293 Petrus dagegen möchte seinem Schüler jede erdenkliche Hilfe geben, leicht und schnell das zu finden, was er in einem Buch lesen möchte.294 Die scholastische Lektüre, die von Petrus' Generation geschaffen wird, steht in deutlichem Kontrast zum Ansatz eines Bernhard von Clairvaux, der darauf besteht, daß seine Mönche die harte Arbeit leisten, die notwendig ist, um »unter großen Mühen die versteckten Freuden der Heiligen Schrift zu entdecken«, und der sie ermahnt, »nicht an den voraussehbaren Schwierigkeiten zu ermüden, denen sie auf dieser Suche begegnen werden«295. 107 296 Registermachen nach dem Abc Wie schon erwähnt, sind die gewaltigen Kompilationen des 12. Jahrhunderts noch keine Orientierungsmittel im modernen Sinne. So ist zum Beispiel die glosia ordinaria297 eine Sammlung von Kommentaren der Kirche zur gesamten lateinischen Bibel. Mehrere Klöster arbeiteten drei bis vier Generationen lang gemeinsam daran.298 Die langen Abschnitte umgeben den Text, und kurze Kommentare sind interlinear eingefügt. Aber diese vielen, sich teilweise überlappenden Kompilationen haben keinen anderen verbindenden Faktor als den Text des heiligen Buchs. Den glossatores fällt einfach keine bessere Methode ein, das Material zu redigieren, zu anthologisieren und zu ordnen, als die Anordnung der Abschnitte als »Fußnoten« zur Bibel. Da alles, worüber geschrieben werden kann, seinen Sinn nur durch seinen Bezug zu einem in der Bibel dargestellten Ereignis erhält, ist es folgerichtig, eine Ansicht des Chrysostom nicht nach »Thematik« nachzuschlagen, sondern sie in der Bibel zu suchen. Aber Techniken zum »Suchen« in der Bibel verbreiten sich erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts.299 Die vielleicht revolutionierendsten aller neuen Suchmittel sind die, die auf dem basieren, was wir »Alphabetisierung« nennen.300 Wir sind heute so daran gewöhnt, Lexika und Telefonbücher zu benutzen, daß uns die Verwendung der a-b-c-d-. . . - z-Sequenz zum
Erstellen von Sachregistern so selbstverständlich erscheint wie der Gebrauch der Buchstaben beim Schreiben eines Worts. Die Wissenschaftler erkennen zunehmend, daß das wirklich phonetische Schreiben eine einzigartige Erfindung der Griechen um 770 v. Chr. war. Die Verwendung von Zeichen sowohl für Konsonanten (die Atemhindernisse sind) als auch für Vokale (die die Klangfarbe der Luftsäule wiedergeben, die aus den Lungen ausgehaucht wird) ist eine Technik von unermeßlicher gesellschaftlicher Bedeutung. Sie löst die Gesellschaften, 108 die sie verwenden, aus der Gemeinschaft aller anderen Kulturen heraus. Aber nur wenige Gelehrte haben bisher erkannt, daß die Anordnung von Namen oder Themen in der Reihenfolge dieser Buchstaben ein vergleichbarer technischer Durchbruch ist, und daß er zudem innerhalb einer Generation geschah. Analog zum Bild der Wasserscheide, die die präalphabetische mündliche Kultur der Griechen von der griechischen Kultur unter der Ägide von Literatur und Wissenschaft trennt, scheint es berechtigt, von einem Prä- und Post-Index-Mittelalter zu sprechen.301 Ohne für Registrierungen benutzt zu werden, hat sich die Abc-Sequenz über die Jahrhunderte kaum verändert. Seit dem Beginn der Geschichte verblieb sie so festgelegt wie die Gestalt der griechisch-römischen Buchstaben. Daß man diese Sequenz nicht zur Erstellung von Sachregistern verwendet hat, ist daher eine bemerkenswerte und vielsagende Tatsache. Es ist den fünfundachtzig Generationen von Alphabetbenutzern ebensowenig in den Sinn gekommen, Dinge nach dem Abc zu ordnen, wie den Herstellern der Encyclopedia Britannica, die Artikel nach ihrem Bezug zu den Kapiteln und Versen der Bibel anzuordnen. Die Griechen übernahmen die Sequenz von den Phöniziern. Sie revolutionierten sie, indem sie Konsonanten und Vokale unterschieden. Später ließen die Römer einige Zeichen weg, die für die italische Sprache nicht benötigt wurden, fügten ein paar neue hinzu und gestalteten so das a-bg-d der Griechen zum lateinischen Abc um. Die Erscheinungsform der Buchstaben veränderte sich über die Jahrtausende. Hugos Lektüre basierte hauptsächlich auf Buchstaben, die während des 9. Jahrhunderts eine neue Form bekommen hatten.302 Aber 2700 Jahre lang blieb die Buchstabenfolge im wesentlichen unverändert. Das Abc war und blieb bis vor kurzem eine Art magische Formel, die auch solchen Leuten wie selbstverständlich von den Lippen ging, die die Zeichen, die sie als A oder C sprachen, gar nicht erkennen konnten. In Hugos Kindheit lernte jeder Schuljunge, das Alpha109 bet aufzusagen, und er beherrschte es ebenso gut wie das Vaterunser. Aber bis zu Hugos Zeit wurde die Folge dieser Zeichen niemals als Hilfsmittel zum Auflisten von Begriffen und Gegenständen verwendet.303 Dann erst, in der Mitte des 12. Jahrhunderts, wurde eine Lawine von bis dahin beispiellosen Erfindungen ausgelöst; Register, Bibliotheksinventare und Konkordanzen. Sie sind alle dazu da, in Büchern bestimmte Abschnitte und Themen zu suchen und zu finden, die man sich vorher überlegt hat. Der Stoff, aus denen diese Hilfsmittel gemacht sind, die zwei Dutzend Buchstaben und ihre Jahrtausende alte Ordnung, bleibt unverändert. Der technische Gebrauch aber, der jetzt von der alphabetischen Formel gemacht wird, ist ein wesentlicher Bestandteil einer konzeptuellen Umwälzung.304 Die revolutionäre Verwendung einer an sich trivialen Sequenz zum Ordnen nach Themengruppen anstatt nach konkreten Ereignissen ist nur ein Ausdruck des im 12. Jahrhundert vorhandenen Verlangens, eine neue Art der Ordnung zu erkennen und zu erschaffen.
Dieses Verlangen ist eingehend untersucht worden. Es findet seinen ästhetischen Ausdruck in der Architektur, im Rechtswesen, in der Wirtschaft und in den neuen Städten; nirgends jedoch so deutlich wie auf der Buchseite. Das neue Seitenbild, die Kapiteleinteilung, Distinktionen, das konsequente Durchnumerieren von Kapitel und Vers, die neue Inhaltsangabe für das ganze Buch, die Übersichten zu Beginn eines Kapitels, die dessen Untertitel benennen, die Einführungen, in denen der Autor erklärt, wie er seine Darlegung aufbauen wird, sie sind alle Ausdruck eines neuen Ordnungswillens.305 Hinter diesem allen steht ein kultureller Impuls, ein geistiger Zweck und ein graphisches Hilfsmittel, die in der Kombination etwas noch nicht Dagewesenes schaffen. Wir können jedoch den Einfluß der Technologie auf die Geistesverfassung nirgends so gut beobachten wie in der Erschaffung von 110 tischen Registern. Die geistige Topologie, in der von nun an nach Wissen gestrebt wird, und die Klassen von wissenschaftlichen Verfahren definiert, steht in keiner Kontinuität zu dem Raum, in dem sich Hugos Verstand noch bewegt hat. Der Autor mutiert vom Erzähler einer Geschichte zum Schöpfer eines Texts. Autor versus Kompilator, Kommentator und Schreiber Es ist nicht das lateinische corpus des 12. Jahrhunderts, das verändert oder erweitert wird. Hugo und seine Zeitgenossen gingen noch immer davon aus, daß ihnen alle aus der heidnischen und christlichen Antike erhaltenen Bücher bekannt waren.306 Diejenigen antiken Autoren und Werke, die das dunkle Zeitalter in arabischer und nicht in lateinischer Sprache überlebt hatten, waren Hugos Zeitgenossen in Paris noch nicht als Übersetzungen zugänglich. Den kanonischen Autoren wurde auch von Hugos Schülern noch die Achtung entgegengebracht, die er ihnen selbst gezeigt hatte. Aber da diese Schüler die neuen Hilfsmittel besaßen, behandelten sie die alten Bücher nicht mehr als etwas Reproduziertes oder auf den neuesten Stand Gebrachtes. Die Autoren des späten 12. Jahrhunderts gingen ganz anders mit ihnen um: Für sie waren die alten Bücher nicht mehr Nahrung für die eigene Meditation, sondern Baustoff für die Errichtung neuer geistiger Gebäude. Petrus Lombardus, Gratian und die benediktinischen ordinatores glossae307 waren noch vom Ideal einer Neuordnung des christlichen corpus getrieben. Die Schöpfer von Registern, in der überwältigenden Mehrheit Mitglieder der neuen Predigerorden, waren entschlossen, vorgefaßte »Inhalte« aus diesem corpus herausszuholen und seinen Kern, seine Themen dem Gebrauch durch Theologen, Prediger und Juristen zugänglich zu machen. Hugo lehrt eine Form des Lesens, die so wohlgeordnet ist, daß der Schüler sein Gedächtnis als Suchmittel einsetzen kann, statt »das Buch zu durchblättern«. Der meditative Leser entdeckt im Inneren seines Herzens, welches Ereignis im Wege der Analogie auf ein anderes hinweist. Deshalb sollten wir »bei allem, was wir lernen, kurze und verläßliche Fassungen in der kleinen Truhe unserer Erinnerung sammeln«. Erst nach Hugos Tod verschwinden die klingenden Zeilen von der Seite. Sie wird zu einer Bildfläche für die Ordnung, die der Verstand schafft. Das theologische und philosophische Buch wird zur Verkörperung einer cogitatio, eines Denkgebäudes, statt ein Mittel zu sein, die narratio wiederzubeleben. Diese cogitatio ist nicht primär die in Worten wiedergegebene Erinnerung an ein Ereignis, sondern die durchdachte Skizzierung von Gründen. Das Seitenbild hilft mit, dem Gedächtnis diese Skizze einzuprägen. Die Seite wird in Absätze aufgebrochen, und jeder entspricht einer
distinctio, einem klaren Standpunkt. Markierungen weisen auf die Folge der distinctiones hin. In der Antike hat man gelegentlich Überschriften verwendet. Nach Isidor waren sie sehr selten. Im 13. Jahrhundert kehren sie in überraschend großer Zahl wieder: In der summa jenes Jahrhunderts haben die Verweise auf die Absichten des Autors, wie die quaestio, obicitur, respondeo dimidum est, die eigentliche Darlegung in ihrer Gewalt. Für einen Theologen wird es fast unmöglich, zu diktieren, wenn er nicht auf seine Notizen zurückgreifen kann. Nur ein Jahrhundert später definiert oder entdeckt Bonaventura die Personen, die am Schreiben eines Buchs beteiligt sein können.308 »Es gibt vier Arten, ein Buch zu machen. Man kann Fremdes schreiben, ohne etwas hinzuzufügen oder zu verändern, dann ist man ein Schreiber (scriptor). Man kann Fremdes schreiben und etwas hinzufügen, das nicht von einem selbst kommt, dann ist man ein Kompilator (compilator). Man kann auch schreiben, was von anderen und von einem selbst kommt, aber doch hauptsächlich das eines anderen, dem man das Eigene zur Erklärung beifügt, und dann ist man ein Kommentator (commentator), aber nicht ein Autor. Man kann auch Eigenes und Fremdes schreiben, aber das Eigene als Hauptsache und das Fremde zur Bekräftigung beifügen, und dann muß man als Autor (auctor) bezeichnet werden.« Layout Bis zu dieser Zeit hatte das Ohr die Stimme des toten Autors von der des Lesers unterschieden. Jetzt verlangte die sichtbare Artikulation der Seite nach einer neuen Unterscheidung zwischen all den Personen, die ihren speziellen Beitrag zur Beschaffenheit der Seite leisteten. Das neue Seitenbild reflektierte nicht nur den Willen, die sichtbare Artikulation als Mittel der Interpretation zu nutzen; es führte auch zu den ersten textkritischen Versuchen. Dreihundert Jahre bevor die Druckkunst die kritische Edition möglich machte, versuchte man häufig, die Fäden zu entwirren, aus denen der sichtbare Text gewoben war. Das, was vom Autor stammt, der »sein Eigenes« schreibt, wird von dessen Formung und Ordnung durch andere Schreiber unterschieden. Unwiderruflich löst sich »der« Text eines Buches von seiner schriftlichen Fassung in diesem oder jenem anderen Manuskript. Diese Unterscheidung erlangte Bedeutung, lange bevor die Drucktechnik es möglich machte, diesen Text in einer kritischen Edition zu fixieren. Illuminatio versus illustratio s sinntragende Seitenbild, das das Auge anspricht, muß mit Illustration auf der gleichen Seite um die Aufmerksamkeit 113 des Lesers ringen.309 Man hat dem Zierat christlicher Manuskripte fünf Funktionen zugeschrieben. Für Cassiodor (ca. 485 - 580) ist alles, was der Mönch in der Schreibstube tut, eine Art stummen Verkündens von Gottes Wort.310 Illustrationen sind wie feierliche Gewänder, die dem leibhaftigen Wort Gottes auf der Seite durch ihre Schönheit einen seiner Würde angemessenen Rahmen geben.311 Für den Mönch ist das Buch ein heiliger Gegenstand, der während der Liturgie feierlich umhergetragen, mit Weihrauch geehrt, von einer besonderen Kerze beleuchtet wird, und vor und nach der Lesung einer bestimmten Bibelstelle küßt man die Initialen, die diese markiert.312 Das Buch ist ein Objekt der Anbetung. So, wie man Gold und Edelsteine zur Verschönerung seines Deckels verwendet, so überzieht man die Seiten geradezu mit Farben. Außer der Ehrung des Worts durch ihm gebührende Kleider hatte die Illustration auch
einen didaktischen Zweck. Wie der Prediger seine Worte durch seine Gebärden belebt, so erhellt das Bild den Sinn des geschriebenen Worts. Es war dazu gedacht, dem leiblichen Auge der Einfältigen zu zeigen, was ihren Verstand überstieg. Während man dem geschriebenen Wort »zuhörte«, sollte das Bild die Vorstellungskraft nähren.313 Diesem Zweck dienen die sogenannten exultet-Rollen314, die am Nordhang der Alpen verwendet werden. Sie sind nach dem exultet, einem langen, feierlichen Gesang benannt, der während der Osternacht vom Diakon gesungen wird. Seine eindringliche, unvergeßliche Melodie, die man noch heute hören kann, ist dem alten Synagogengesang ähnlich. Der Diakon steht hinter einem Lesepult, während die Osterkerze gesegnet wird, intoniert Bibelverse und ihre Kommentare der griechischen Kirchenväter, und erzählt die Heilsgeschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten bis zur Auferstehung Christi. Und während er singt, entrollt er eine Rolle, auf der Text und Bilder aufeinanderfolgen. Wenn man diese Rolle liest, stehen die Bilder Kopf, und ihr Thema 114 geht der jeweiligen Geschichte um viele Zeilen voraus. Es gibt einen einfachen Grund für diese Machart: Der Diakon soll die Rolle so über das Pult gleiten lassen, daß die Leute, die davor zuhören, die Illustrationen betrachten können, während er die Geschichte erzählt. Die Illustrationen dienen aber nicht nur der Belehrung der Einfältigen.315 Ihre dritte Aufgabe besteht darin, exegetische und heuristische Stichworte zu geben, die dem monastischen Leser Ansporn sein sollen. Sie sind als nonverbale Träger der gleichen Offenbarung gedacht, die der Klang der Buchstaben vermittelt. Hoc visibile imaginatum figurat illud invisibile verum steht in der Bildunterschrift einer dieser Miniaturen: »Dieses sichtbar Vorgestellte deutet auf jenes unsichtbare Wahre.« Eine andere Bildunterschrift ist eine klare Ermahnung: »Hier solltest du folgendes bedenken. . .«, hic erat contemplandum. In einem irischen Codex des 12. Jahrhunderts wird gesagt, wie Wort und Bild zu verknüpfen sind: »Was dir dieses Bild sinnlich faßbar macht, das sollst du geistig hervorbringen.«316 Viertens wird die frühmittelalterliche Miniatur als Begleitung wahrgenommen, die den Klang unterstützt, den die Zeilen von sich geben, während sich der Leser durch sie bewegt. Die Miniatur soll zeigen, wie schön die Stimmen der Seiten tönen. Sie hat keineswegs den gleichen Zweck wie die Schaubilder oder Tabellen in einem modernen Lehrbuch, wo diese Hilfsmittel das Thema auf eine abstrakte Eindeutigkeit reduzieren, für die die Sprache zu schwerfällig ist. Mittelalterliche Illuminationen laden den Murmler ein, zu verstummen in der Verehrung dessen, was keine Worte auszudrücken vermögen. Solche Bilder sind auch nicht wie Photographien dazu da, eine Tatsache zu dokumentieren oder den Beweis für das im Text Dargelegte zu erbringen. Miniaturen und Zeilen verweben Ohr und Auge in der Wahrnehmung der herrlichen Symphonie, die Dante das verführerische »Lächeln der Seiten« (ridon le carte) nennt.317 Endlich hat die Buchillustration vor dem 13. Jahrhundert einen praktischen - heute oft vergessenen - mnemonischen Zweck. Hugo spricht vom Lesen als einer Reise. Er bewegt sich körperlich von Seite zu Seite. Die Ornamente, die die Buchstabenreihen säumen, stellen die Worte in die Landschaft, durch die diese Reise führt.318 Auf keinen zwei Zeilen trifft der Leser auf die gleiche Aussicht, keine zwei Seiten sehen gleich aus, keine zwei initialen A's haben die gleiche Farbe. Das Rankenwerk und die Grotesken helfen, im Verbund mit den Zeilen, das Erinnerungsvermögen zu stärken; sie unterstützen den Leser darin, sich die voces paginarum ins Gedächtnis zurückzurufen,
so wie die Landschaft, durch die der Weg führt, das Gespräch, das während eines Spaziergangs stattfand, in die Erinnerung zurückbringt. Das moderne Lesen, besonders das akademische und berufliche, ist eine Tätigkeit, die von Pendlern und Touristen ausgeführt wird und nicht mehr von Fußgängern und Pilgern. Die Geschwindigkeit des Autos, die Monotonie der Straße und die Ablenkung durch Reklametafeln versetzen den Fahrer in einen Zustand sinnlicher Entbehrung, der fortbesteht, wenn er an seinem Schreibtisch angekommen ist und Handbücher und Zeitschriften überfliegt. Wie ein mit der Kamera ausgerüsteter Tourist greift ein Student heute zur Xerokopie, um ein Erinnerungsphoto zu haben. Er befindet sich in einer Welt der Photographie, der Illustrationen und Tabellen, die ihm die Erinnerung an illuminierte Buchstaben-Landschaften unmöglich machen. Während des 12. Jahrhunderts löst sich der eigentliche Zusammenhang zwischen der Zeile und ihrer Illumination.319 Als die Zeile zum Baustein für Absätze wird, wandelt sich die Miniatur zu einem Zirkus von Phantasiegeschöpfen, ja oft zu einem Dschungel, der den alphabetischen Teil der Seite zu überwuchern und zu überwältigen droht.320 Bernhard von Clairvaux versucht in mehreren Predigten, diesem sinnlichen Eindringen wildgewordener Geister exorzie116 end zu wehren. Er erkennt, daß die Illuminationen in denjenigen Gebetbüchern einen Platz haben, die der Laienbevölkerung von den Bischöfen gestellt werden. Er beharrt darauf, daß die Sinne ansprechende, aufwendige Ornamente eine sinnliche Hingabe oder Frömmigkeit in denen fördert, deren Geist noch nicht erwacht ist. Doch er mißbilligt die Illustration von Manuskripten, die zur geistlichen Lektüre der Mönche gedacht sind, da ihr Eintritt ins Kloster sie über die Massen der diesseitigen Welt gestellt hat.321 1134 wird in einem Generalkapitel der Zisterzienser gefordert, daß auch Initialen unverziert und einfarbig sein sollen.322 Diesem Veto wurde keine Beachtung geschenkt; es verstieß zu sehr gegen den Zeitgeist. Das tragbare Buch Die Miniatur des spätgotischen Manuskripts ist häufig ein Kunstwerk für sich. Manchmal scheinen die Buchstaben nur einen Rahmen für die Bilder abzugeben. Das Buch wird in einer Zeit des wachsenden städtischen Wohlstands zum Gegenstand privaten Eigentums. Seine Miniaturen heben den Status des eigenen Reichtums.323 Aber diese Privatisierung des »Buchs« als physisches Gebilde hätte ohne eine Reihe weiterer technischer Durchbrüche nicht zustande kommen können. Im 12. Jahrhundert kannte man die Bibel noch nicht in Form eines einzigen, sperrigen Gegenstands. Sie war noch, wie sie es immer gewesen war, eine Sammlung separater, voluminöser Bände. Und meist waren diese Bände von unterschiedlicher Größe, zu unterschiedlichem Gebrauch geschrieben und gelegentlich zur kanonischen Sammlung heiliger Bücher zusammengefaßt. Das Evangeliar lag auf dem Ambo nördlich des Zelebranten, so daß der Diakon dem Bereich von Finsternis und Kälte und Heidentum zugewandt war, wenn er aus ihm las, und das Epistolar lag auf der gegenüberliegenden Seite, um vom Lektor gelesen zu werden; es waren selbstverständlich separate Bände. Der Psalter lag geöffnet auf einem Lesepult in der Mitte des Chorraums. Der Pentateuch hatte meist andere Buchdeckel als die Propheten. Diese funktionale Aufteilung der Bibel in unterschiedlich gebundene und ausgeschmückte Gebilde hatte zwei rein technische Gründe. Die zur Verfügung stehenden Blätter waren zu schwer und zu sperrig, als daß sie die Bibel vollständig hätten aufnehmen können, und die Buchstaben, die man benutzte, waren zu groß, um
damit den ganzen Text auf den Seiten unterbringen zu können. Erst während des 13. Jahrhunderts ging man dazu über, die Buchstaben so klein zu schreiben, daß man die ganze Bibel in einem Band unterbringen konnte. Auch die intensive Verwendung von Abkürzungen trug zu dieser Verdichtung der Schrift bei. Aber dennoch wog eine Bibel des 13. Jahrhunderts selten unter fünf Kilogramm. Weitere Techniken mußten erschaffen werden, damit aus dem Buch, das man mühsam schleppen mußte, das wirklich tragbare Buch werden konnte. Das ganze Mittelalter hindurch war Pergament die übliche Oberfläche für alles Geschriebene, das von Dauer sein sollte. Anders als Leder wird Pergament nicht aus gegerbten, sondern aus gewaschenen, geschabten, entfetteten und unter Spannung getrockneten Häuten hergestellt. Diese geglätteten Häute von Kälbern, Ziegen, Lämmern oder Schafen werden dann in Streifen geschnitten, die gerollt werden. Zu bestimmten juristischen und liturgischen Zwecken ließ man diese Rollen ganz; das Pergament wurde dann in Kolumnen beschrieben, von denen jeweils nur einige wenige vom Leser entrollt wurden. Man verwahrte solche Rollen bisweilen in zylindrischen Behältern. Im 2. Jahrhundert begann man, das Pergament in Rechtecke zu schneiden, diese ein- oder zweimal zu falten und sie zu einem codex - was wir ein Buch nennen würden - zu binden. Die Qualität des Pergaments hing vom Alter des benutzten Tieres ab, von der Dauer des 118 Wasch- und Trockenvorgangs und dem Feingefühl beim Schaben des gespannten Fells mit einem sichel- oder kreisförmigen Messer. Für die Entwicklung hin zum handlichen Buch war die Präparierung eines neuen, feineren »Jungfernpergaments« ausschlaggebend.324 Man stellte es aus der Haut ungeborener Schafe her, die vorsichtig mit Alaun gebeizt und behutsam mit einem feinkörnigen Bimsstein geglättet wurde. Diese Technik war sehr aufwendig und das Ergebnis fein genug, um viele Schätze aufzunehmen. Diese neue Technik war noch kaum verbreitet, als das Papier wieder in Europa auftauchte. Die Ägypter hatten Papyrus verwendet, ein Geflecht aus sorgfältig präparierten Schilffasern. Papyrus entsteht durch manuelle Anordnung in Lagen.325 Es sollte nicht mit dem verwechselt werden, was man durch die Sedimentierung einer breiigen Masse aus Zellulose, vorzugsweise Lumpen, erhält, und woraus ein Preßstoff, nämlich das Papier, entsteht. Die Technik der Papierherstellung wurde irgendwann zwischen 100 v. Chr. und 100 n. Chr. von den Chinesen erfunden. Die Koreaner und Japaner machten sich die Fertigkeit um 600 n. Chr. zu eigen. Arabische Händler, die sich mit ihren Karawanen nach Transoxanien vorwagten, übernahmen die Kunst der Papierherstellung von chinesischen Handwerkern.326 Das älteste erhaltene europäische Schriftstück auf Papier ist ein 1109 geschriebener Brief Gräfin Adelaides an ihren Sohn Roger, später König von Sizilien. Der Brief wurde in Spanien diktiert, aber in griechischer und arabischer Schrift geschrieben. Der neue Konkurrent für das Pergament kommt über Spanien nach Paris, gerade rechtzeitig zur Eröffnung der Universität. Die Tinte trug ebenfalls dazu bei, daß man jetzt schneller schreiben konnte. Antike ägyptische und traditionelle chinesische Tinten wurden ähnlich hergestellt wie unsere Wasserfarben: pflanzliche Pigmente oder Lampenruß wurden in Gummiwasser suspendiert und klebten nach dem Trocknen einfach auf dem 119 Blatt. Während des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurde Tinte auf Metallbasis erfunden; sie ist
eine Lösung aus Metallsalz und Tannin, das man durch das Kochen von Rinde oder Galläpfeln der Eiche gewann. Beim Trocknen auf dem Papier wirkt das Tannin als Ätzwasser, und durch eine chemische Reaktion werden die Zeichen in den Beschreibstoff eingeprägt. Ohne den neuen, billigen und leichten Beschreibstoff und ohne die allgemeine Verbreitung der neuen Schreibflüssigkeit327 hätten scholastische Studien kaum in Mode kommen können. Die Verkleinerung der Buchstaben, die Verminderung des Blattgewichts und neue Abkürzungen genügten aber nicht, um das Buch tragbar zu machen.328 Man mußte erst eine Methode finden, kleine Papierbögen so zusammenzuheften, daß sie sich in der Hand des Lesers vollständig öffnen ließen. Zudem mußte ein neuer biegsamer Buchdeckel für ein Buch erfunden werden, das erstmals zum Halten in den Händen und nicht zum Offnen auf einer Stütze gedacht war. Um 1240 war das Buch dem uns bekannten Gebilde schon viel ähnlicher als dem Buch, in das sich Hugo noch vertiefte.
7 Vom Buch zum Text Die Aufkunft des Textes als Gegenstand • Die Abstraktion des Textes • Lingua und textus • »Alle Natur ist sinnträchtig« Gegen Ende des 12. Jahrhunderts nimmt das Buch einen Symbolcharakter an, den es bis in unsere Zeit hinein behält. Es wird zum Symbol für einen bis dahin beispiellosen Gegenstand, der sichtbar, aber nicht greifbar ist, und den ich den buchbezogenen Text nenne.329 In der langen Sozialgeschichte des Alphabets ist die Wirkung dieser Entwicklung nur mit zwei anderen Ereignissen vergleichbar: mit der Einführung der phonetischen Schrift um 400 v. Chr., die das Griechische zu einer Sprache machte, über die der Sprecher nachdenken konnte,330 und zweitens mit der Verbreitung des Buchdrucks im 14. Jahrhundert, die den Text zu einer mächtigen Gußform für ein neues literarisches und naturwissenschaftliches Weltbild machte. Derjenige Technikhistoriker, dem es mehr um die symbolische als um die zweckdienliche Wirkung einer Technik geht, und der die Technologie des Alphabets untersucht, muß sorgfältig unterscheiden zwischen den manuellen Techniken, mit deren Hilfe um 1150 der Text als Gegenstand geschaffen wurde, und den mechanischen, die diesen Gegenstand um 1460 zu einem Prägestock verdinglichten. Wenn man sich das vor Augen hält, dann stellt man fest, daß ein bescheidenes Bündel von Verschriftungstechniken, mit denen auf höchst anspruchsvolle Weise gearbeitet wurde, eine Veränderung in der europäischen Geistesverfassung hervorriefen, die sich deutlich vom Übergang vom manuellen 121 Schreiben zur Druckkunst abhebt. Die Geschichte des Textes als Gegenstand par excellence während der nachfolgenden Jahrhunderte verlangt eine klare Unterscheidung dieser beiden frühen Momente. Die Seite wurde zu einem buchgebundenen Text, der den scholastischen Verstand entstehen ließ, und das Verhältnis zwischen Text und Verstand war ebensosehr Grundlage der Druckkultur, wie die alphabetische Aufzeichnung Grundlage für die literarische und philosophische Kultur der griechischen Antike gewesen war. Dies ist bisher übersehen worden. Kein einziges Buch, kein größerer Artikel beschäftigt sich ex professo mit der Hypothese, daß eine Verschriftlichungsrevolution den Gegenstand schuf, der dreihundert Jahre später gedruckt werden würde. Ich habe dieses Buch in der Absicht geschrieben, genau dieses zu behaupten. Wenn meine Sicht der Dinge im wesentlichen richtig ist, folgt daraus einiges. Die Materialisierung der Abstraktion in Form des buchgebundenen Textes kann man als versteckte Grundmetapher ansehen, die den geistigen Raum dieser langen Epoche eint. Wir könnten sie auch die »Epoche der Universität« oder »die Epoche des buchbezogenen Lesens« nennen. Mit der Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks wurde diese Ära des Buches mit einer Reihe weiterer Eigenschaften versehen, die sie zu einer mächtigen Determinante einer neuen Weltsicht machte.331 Diese Ära besteht aus zwei größeren Abschnitten: Im ersten war das Buch Ergebnis des Schreibens mit der Hand; im zweiten das einer mechanischen Reproduktion eines handgesetzten Prototyps aus beweglichen Lettern.332 122 Die Aufkunft des Textes als Gegenstand In der Sozialgeschichte des Alphabets trennt eine Gebirgskette das vortextliche und das
textgeprägte Lesen, Schreiben, Sprechen und Denken voneinander. Die Wasserscheide zwischen diesen beiden Bündeln von geistigen Mustern und Verhaltensmustern ist das Thema dieses Essays. Die Unterscheidung fällt nicht mit anderen zusammen, die uns geläufig sind, seit Millman Parry 1926 die Debatte über die Mündlichkeit bei Homer eröffnete - zum Beispiel die zwischen oraler und geschriebener Geschichte, zwischen epischer und literater Tradition, zwischen ideographischer und alphabetischer Aufzeichnung oder zwischen Ornamentierung und Illustration. Und sie sollte keinesfalls mit der Unterscheidung von handschriftlicher und durch den Druck geprägter Wissenschaft verwechselt werden. Wir müssen jetzt neu überdenken, was während des 15. Jahrhunderts geschah. Der Übergang zum Buchdruck ist allgemein - und ganz besonders von Elizabeth Eisenstein333 - als Hauptwendepunkt in der Sozialgeschichte des Alphabets betrachtet worden. Ihrer Meinung nach war die Typographie eine notwendige Voraussetzung für einen Text, der so beschaffen ist, daß durch ihn Dichtung, Prosa, astronomische Tabellen und anatomische Tafeln vermittelt werden können. Ohne die standardisierten Eigenschaften des Textes - er konnte auf den neuesten Stand gebracht und durch Indices zugänglich gemacht werden -, hätten weder die Geisteswissenschaften noch die Naturwissenschaften die Charakteristika annehmen können, die sie von der Gelehrsamkeit früherer Epochen unterscheiden. All das ist unbestreitbar. Meine Interpretation ficht diese Ansicht nicht an, rückt sie aber doch in eine andere Perspektive und bereichert sie damit. Wenn ich recht habe, war die Erfindung der beweglichen Lettern das auffälligste Ereignis innerhalb einer übergreifenden Epoche, des Zeitalters des biblionomen Textes. Diese hier vorge123 schlagene Verlagerung des historischen Akzents eröffnet nicht nur neue Einsichten in Denkstrukturen der Vergangenheit, sondern sie ermöglicht es uns auch, auf neue Art über eine andere epochale Wende in der Sozialgeschichte des Alphabets zu sprechen, die während meines Lebens eingetreten ist: die Auflösung der alphabetischen Technik ins Miasma der Kommunikation.334 An eben dieser Stelle muß man den Grund dafür suchen, warum der Geschichte des Textes als Gegenstand keine Aufmerksamkeit zuteil geworden ist: Die humanistische Tradition, die Generationen von Historikern hervorgebracht hat, ist ein Phänomen innerhalb der Matrix des Textes selbst. Mit der Lösung des Textes vom physischen Objekt, dem Schriftstück, war die Welt selbst nicht mehr der Gegenstand, der gelesen werden sollte, sondern sie wurde zum Gegenstand, der zu beschreiben war. Exegese und Hermeneutik wurden zu Eingriffen am Text statt an der Welt. Erst jetzt, da die Welt als kodierte Information verstanden wird, kann die Geschichte der »Lesbarkeit der Welt« zu einem Gegenstand der Forschung werden.335 Im Didascalicon ist es noch immer das lumen im Auge des Lesers, das den Text auf der Oberfläche des Pergaments beleuchtet. Hundert Jahre später, als Bonaventura den von ihm bewunderten Vorgänger Hugo kommentiert, schwebt der Text schon über der Seite. Er ist auf dem Wege dazu, eine Art Lastschiff zu werden, das die bedeutungstragenden Zeichen durch den Raum befördert, der die Kopie vom Original trennt; hier und da geht er vor Anker. Aber trotz dieser Dissoziation des Textes von der Seite bleibt er seinem Hafen im Buch verbunden. Das Buch wiederum stellt metaphorisch einen Hafen für den Text dar, in dem dieser seinen Sinn entlädt und seine Schätze offenbart. So, wie das Kloster die Welt des heiligen Buchs gewesen war, so entstand die Universität als institutioneller Rahmen und symbolischer Vormund für den neuen biblionomen Text.
Etwa zwanzig Generationen lang sind wir unter seiner Ägide 124 gehegt worden. Und ich zum Beispiel bin unwiderruflich im Boden des textualisierten Buchs verwurzelt. Meine monastische Erfahrung hat mich empfindsam für die lectio divina gemacht. Aber die Reflexion über ein der Lektüre gewidmetes Leben macht mich geneigt zu glauben, daß die meisten meiner Versuche, mich von einem frühen christlichen Meister auf einer Pilgerreise durch die Seiten führen zu lassen, mich bestenfalls zu einer lectio spiritualis angeleitet haben; sie aber ist ebenso textgebunden wie die lectio scholastica, deren Ort nicht das Betpult, sondern das Schreibpult ist. Der buchbezogene Text ist mein Zuhause, und die Gemeinschaft der biblionomen Leser sind die Menschen, die ich mit wir meine. Dieses Zuhause ist jetzt genauso veraltet wie es mein erstes Zuhause war, als einige wenige Glühbirnen begannen, die Kerze zu ersetzen. In jedem Computer lauert ein Bulldozer mit dem englisch gefaßten Versprechen, neue Wege zu data, replacements, inversions und instant print zu eröffnen. Eine neue Art Text formt den Verstand meiner Studenten, ein Aus-Druck, der keinen Anker hat, der keinen Anspruch darauf erheben kann, eine Metapher oder ein Original von der Hand eines Autors zu sein. Seine Schriftzeichen werden willkürlich geformt, sind wie die Signale eines Phantomschiffs, geistern auf dem Bildschirm herum und verschwinden wieder. Immer weniger Menschen gehen an das Buch als Hafen des Sinns heran. Zweifellos wird es so manchen noch erstaunen und erfreuen, verwundern und bitter enttäuschen, aber noch mehr Menschen sehen - so befürchte ich - seine Legitimation darin, daß es für sie gerade noch als Metapher taugt, die auf Information verweist. Die Menschen vor uns, die in der Epoche des biblionomen Textes sicher aufgehoben waren, brauchten dessen Anfänge nicht zu erforschen. Ihre Sicherheit war ja durch die strukturalistische Annahme gestützt, daß alles, was auch immer ist, auf irgendeine Art auch ein Text ist. Das trifft für diejenigen nicht mehr zu, die 125 sich dessen bewußt sind, daß einer ihrer Füße auf der einen und der andere auf der anderen Seite einer neuen Wasserscheide steht. Sie können es nicht lassen, sich nach den Relikten der Buchgelehrtheit umzusehen, um die Bibliothek der Gewißheiten archäologisch zu erkunden, in denen sie großgeworden sind. Der biblionome Leser hat einen historischen Ursprungsort, und die Sicherung seines Überlebens kann jetzt als eine moralische Aufgabe erkannt werden, die ihre intellektuelle Grundlage darin hat, die historische Fragilität des biblionomen Textes aufzuspüren. Die Abstraktion des Textes Die Wandlung des Buchs von einem Verweis auf die Welt zu einem Verweis auf den Verstand läßt sich auf zwei verschiedenartige, aber dennoch verwandte Neuerungen zurückführen; einerseits auf die Entwurzelung des Textes von den Manuskriptseiten und andererseits auf die Loslösung des Buchstabens aus seiner Jahrtausende alten Dienstbarkeit für das Lateinische. Man konnte den Text seitdem als etwas vom Buch vollkommen Getrenntes sehen. Er wird zu einem Gegenstand, der auch mit geschlossenen Augen visualisiert werden kann. Und es ist die Feder in der Hand des Schreibers, nicht der vom Drucker bewegte Schriftsatz, die dieses neue Gebilde schafft. Im Dienst eines Dutzends neuer graphischer Konventionen werden die überkommenen zwei Dutzend Buchstaben Bausteine für eine beispiellose Konstruktion. Die Anwendung dieser Verschriftlichungsregeln des 12. Jahrhunderts bedeutet, daß von nun an
Buchstabenketten - Wörter oder Zeilen - ein abstraktes architektonisches Phantom auf einer leeren Fläche, der Seite, erzeugen werden. Die Seite hat nicht mehr die Eigenschaft eines Ackers, in dem 126 die Buchstaben verwurzelt sind. Der neue Text ist ein Gespinst auf den Seiten des Buchs, das in ein eigenständiges Dasein abhebt. Dieser neue Text hat zwar eine materielle Existenz, aber nicht die Existenz gewöhnlicher Dinge; er ist weder hier noch dort. Nur sein Schatten erscheint auf der Seite dieses oder jenes konkreten Buchs. Daraus folgt, daß das Buch nicht mehr das Fenster zur Welt oder zu Gott ist; es ist nicht mehr die durchscheinende optische Einrichtung, mittels derer der Leser einen Zugang zur Schöpfung findet. Soweit es noch ein optisches Instrument bleibt, hat sich das Buch um 180 Grad gedreht, so, als wäre eine konvexe durch eine konkave Linse ersetzt worden. Aus dem Symbol für kosmische Wirklichkeit ist ein Symbol für das Denken hervorgegangen. Statt des Buchs wird jetzt der Text zum Gegenstand, in dem Gedanken gesammelt und gespiegelt werden. Diese Revolution des Kopfes fand nicht in einem Vakuum statt. Sie geschah in jenen Zisterzienserklöstern und Schulen der städtischen Regularkanoniker, in denen während dieser Jahrzehnte - das Wesen der Universalien heiß erörtertes Thema war. Der dictator hatte das Pergament zu einem Garten der Worte gemacht. Der neue Denker und auctor räumte, mit eigener Hand und in schnellen Kursivbuchstaben, einen Bauplatz für die Kathedrale einer summa. Er nahm Feder, Tinte und Papier auf, um einem Prozeß der Abstraktion Gestalt zu geben - ein Gegenstück dessen, was gerade in den Schulen debattiert wurde. Der bibliogene Text - sowohl wie er geschrieben als auch wie er gelesen wurde - reflektiert, artikuliert, verstärkt und legitimiert das mentale Klima, in dem der neue Umgang mit Recht, Philosophie und Theologie erwächst. Chenu hat das 11. Jahrhundert die aetas boetiana genannt.336 Damit erinnert er uns daran, daß in dieser Zeit in den Klöstern die griechischen Philosophen über die Handschriften spätrömischer Denker wie Boethius aufgenommen wurden. Aber Boe127 thius, der Latein schrieb, brachte durcheinander, was Aristoteles unterschieden hatte. Boethius hat zwei Worte des Aristoteles mit dem einen Begriff abstractio wiedergegeben. Das eine Wort ist chorízein, das »trennen« bedeutet. Von Aristoteles wird es als Terminus technicus verwendet, und es weist, meist kritisch, auf die Geschiedenheit der platonischen Ideen von der Wirklichkeit hin. Das zweite Wort, das Boethius mit abstractio übersetzt, ist aphairesis, das in der aristotelischen Terminologie etwa »Absonderung« oder »Ausschluß« bedeutet.337 Es wird durchweg benutzt, um den geistigen Prozeß zu bezeichnen, mittels dessen das materielle Objekt vom klassifizierenden Verstand abgesetzt wird. So wird zum Beispiel der Fuß als Körperteil vom Mathematiker ausgeklammert, wenn er in ihm ein Längenmaß sieht. Frühscholastische Philosophen haben mehr als eine Generation gebraucht, um diese Unterscheidung wieder einzuführen, und um begriffliches Denken als Vorgang formaler Absonderung zu begreifen. Abstraktion ist für die meisten Denker des frühen 12. Jahrhunderts kein Thema. Der Terminus kommt im modernen Sachregister der Werke Anselms von Canterbury nicht einmal vor.338 Wenn er erklären muß, wie eine Einsicht zustandekommt, zitiert Anselm den einen oder den anderen Passus aus Augustinus, der von der göttlichen Erleuchtung des Geistes spricht, die Gottes Vorstellung über die Schöpfung den Menschen verständlich macht. Späteren mittelalterlichen Boethianern, zum Beispiel Abelard339
und Hugo, ist es selbstverständlich, daß Begriffsbildung etwas mit abstractio zu tun hat. Sie stehen jedoch noch zu sehr unter dem Bann der boethianischen Vermengung dessen, was getrennt, und dessen, was in Parenthese gesetzt wird. Sie wurden ins schwache Licht einer Vor-Dämmerung hineingeboren. Hugo wußte - obwohl die Seite das nicht zeigte -, daß es eine dritte Art des Lesens geben mußte, die nicht für mein oder dein Ohr, sondern für meine Augen gedacht war. Und er war so, ohne es zu 128 betonen, schon darauf festgelegt, Erkenntnisse im Wege der Abstraktion zu erklären und deutete damit implizit an, was zur allgemeinen Doktrin werden sollte, als Avicenna und Averroes erst einmal geholfen hatten, einen Zugang zum aristotelischen Denken zu finden. Hierin entspricht Hugos Analyse des Denkens seiner Analyse des Lesens. Lingua und textus Noch eines muß man sich vor Augen halten, wenn man den Wandel der Buch-Metapher diskutiert. In der Zeit, als der Text von der Seite abhebt, zerbricht auch die traditionelle Bindung zwischen den Buchstaben und der lateinischen Sprache. Zu dem Zeitpunkt, als die 24 Buchstaben für ein vorwiegend sichtbares Gebilde verwendet werden, werden sie endlich auch zu dem Zweck verwendet, für den sie nach der Vorstellung des modernen Lesers auch geschaffen worden sein müssen: Sie werden zur Aufzeichnung der Laute einer lebendigen, gesprochenen Sprache benutzt. Man vergißt zu leicht, daß die lateinischen Buchstaben bis zu dieser Zeit immer nur eine einzige lingua, nämlich das Latein, konnotierte. Der Buchstabe »L« entsprach etwa dem ersten Laut in lingua, liber und lumen, aber niemals einer Lautäußerung einer Mundart. Aber in der Mitte des 12. Jahrhunderts kann der Buchstabe »L« dann schon den ersten Laut in lieb, love und lust wiedergeben. Die Buchstaben hörten nun auf, jene Gravuren des Schreibers zu sein, die den Klang der Seiten hervorrufen. Die auf der Seite verstummten Buchstaben konnten nun der Aufzeichnung nichtlateinischer Äußerungen dienen. Die zügige Vermehrung mundartlicher Überlieferung, zumindest jener, die mit Hilfe des lateinischen Alphabets geschrieben wurde, fällt zeitlich mit einer weiten Verbreitung einer biblionomen Einstellung zur Seite zu129 sammen. Das Buch hat, als Symbol betrachtet, im gleichen Moment aufgehört, unzweideutig auf die Welt als Buch und auf das Latein als die Sprache zu verweisen. Man sollte in diesem doppelten Rahmen sehen, wie sich der symbolische Vektor des Buches nach 1200 verkehrt. »Alle Natur ist sinnträchtig« Diese Richtungsverkehrung des Schriftstücks als Symbol macht auf eine lange, komplexe und vielfältige metaphorische Tradition aufmerksam. Seit der Antike wurde das Buch als Ideogramm, Attribut und Chiffre verwendet. 340 Schon in Mesopotamien betrachtete man die Schriftrolle als Metapher für das Schicksal, und dieses Bild wanderte nach Westen, zu den Griechen. In der Anthologia Palatino, wird das Leben mit einer Schriftrolle verglichen, die sich bis zum schmuckvollen Schnörkel des Schreibers am Ende der letzten Zeile entrollt.341 Im etruskischen Zentrum Italiens war das Schicksal Werk der Parcae, dreier Hexen der Unterwelt. Atropos spinnt das menschliche Schicksal, Clotho nimmt den Faden auf, Lachesis mißt ihn ab und durchtrennt ihn, wenn das Leben zu Ende ist. In der Spätantike wird ihre Arbeitshöhle als Sekretariat dargestellt, wo eine schöne Frau das Horoskop diktiert, eine andere es aufzeichnet und
eine dritte das Los jedes Sterblichen vorliest.342 Die Parzen sind keine Herrscherinnen mehr über das Schicksal; sie sind zu seinen bürokratischen Verwalterinnen geworden. Dieses »Buch des Schicksals« oder »Leben als Buch« muß man vom »Buch des Lebens« babylonischen Ursprungs unterscheiden. Das Letztere ist eine Art himmlischer Zensusliste derer, die auserwählt sind, zu überleben. Gelegentlich enthält diese Liste Kommentare des Schreibers, und so wird sie zu einer Schuldenaufzeichnung, die den einzelnen in die Unterwelt be130 gleitet.343 Flachreliefs zeigen die Schriftrolle als Attribut des jenseitigen Gerichts.344 Die Schriftrolle ist in der Antike nicht nur Metapher, sondern auch Attribut. Sie kennzeichnet den Herrscher. Wie das Gesetz, das er diktiert, liegt auch die Schriftrolle in der Hand des Herrschers. Hier ist das Buch Zeichen diesseitiger, nicht göttlicher Macht. Im Alten Testament ist das Buch Metapher für das Schicksal, den Appell und das Schuldregister, aber kein Attribut. Kein einziger vorchristlicher Gott der mediterranen Antike hat das Buch oder eine Schriftrolle in der Hand. Hierin ist Christus einzigartig. Er allein hat göttliche Attribute und hält eine Rolle. Er hat das Wort, und er offenbart das Buch. Das Wort wird Fleisch ¡m Buch. Das Schreiben wird zur Allegorie für die Inkarnation im Schoß der Jungfrau. Daher die liturgische Verehrung des Buchs als Gegenstand. Augustinus hat diese Metapher weiter bereichert. Er geht über die drei Bedeutungen von Schicksal, Appell und Schuldregister hinaus und trifft eine noch nicht dagewesene Distinktion. Er macht das Buch zum Symbol für Gottes zweifache Offenbarung.345 »Gott hat zwei Bücher geschrieben, das Buch der Schöpfung und das Buch der Erlösung. « Zu seiner Zeit hatte sich die äußere Erscheinung des Buchs schon von der Schriftrolle zum codex gewandelt, zu dem Stoß geschnittener und gebundener Blätter, der uns immer noch vertraut ist. Und in dieser Gestalt wurde es für das Mittelalter zum Zeichen für Gottes zweifache Gnade als der Quelle allen Wissens. Hugo kommt in seinen Schriften immer wieder auf diesen Satz von Augustinus zurück. Und aus eben diesem Passus des Augustinus ersinnt Hugo einen seiner schönsten Sätze: Omnis natura rationem parit, et nihil in universitate infecundum est.346 »Alle Natur ist sinnträchtig, und nichts in der Welt ist unfruchtbar.« Mit diesem Satz bringt Hugo die christliche Metaphorik vieler Jahrhunderte zur vollen Reife. In den Zeilen der Seite begegnen dem Leser, der von Gott erleuchtet ist, Geschöpfe, die dort warten, um Sinn ans Licht zu bringen. Dieser ontologische Status des Buchs ist der Schlüssel zum Verständnis des christlichen Monastizismus als der Lektüre geweihtes Leben. Daß das Studium legendi eine wirksame und unfehlbare Suche nach Weisheit ist, gründet in der Tatsache, daß alles sinnträchtig ist, und daß der Sinn nur darauf wartet, vom Leser ans Licht gebracht zu werden. Die Natur ist nicht nur wie ein Buch; die Natur selbst ist ein Buch, und das vom Menschen gemachte Buch ist ihr Analogon. Das Lesen dieses vom Menschen gemachten Buchs ist ein Hebammendienst. Und das Lesen ist alles andere als ein Akt der Abstraktion, es ist ein Akt der Inkarnation. Es ist eine somatische, eine körperliche Anstrengung bei einer Geburt. Sie bezeugt den Sinn, der von allen Dingen hervorgebracht wird, denen der Pilger auf seinem Weg durch die Seiten begegnet. Im früheren 12. Jahrhundert ist das librum manu factum nur die dritte Art Buch, das nach dem Buch unserer Erlösung, dem Heiland, und dem Buch der Schöpfung, das Gott mit seinem Finger schrieb, kommt. omnis mundi creatura quasi über, et pictura nobis est, et speculum.347
»Alle Schöpfung ist uns gegeben als Buch, Bild und Spiegel.«348 Das Buch als Symbol, Analogon und Metapher ist in Hugos Zeit vor allem ein Symbol für das Lesen, als mäeutisches Entziffern der Wirklichkeit vorgestellt und erlebt, mittels dessen der Leser, wie die Hebamme - in Gottes unsichtbarem Licht - den Sinn hervorholt, mit dem alle Schöpfung trächtig ist, Gottes Wort. »Tres sunt libri: primus est quem fecit homo de aliquo, secundus quem creavit Deus de nihilo, tertius quem Deus genuit: Deum de se Deo. Primus est opus hominis corruptible. 132 secundus est opus Dei quod numquam desinit esse, in quo opere visibili invisibilis sapientia creatoris visibiliter scripta est; tertius, non opus Dei sed sapientia. . .«349 »Es gibt drei Bücher: das erste, das der Mensch aus etwas herstellt, das zweite, das Gott aus dem Nichts geschaffen hat, und das dritte, das Gott aus sich selbst gebar: Gott von Gott. Das erste ist vergängliches Menschenwerk; das zweite ist Gottes Werk, das niemals zugrunde geht, denn in ihm ist in einem sichtbaren Werk die unsichtbare Weisheit des Schöpfers ersichtlich; das dritte ist nicht Gottes Werk, sondern die Weisheit, durch die Gott alle seine Werke tat. . .«350
Anmerkungen 1 George STEINER, The End of Bookishness, in: The London Times Literary Supplement (8-16July 1988), S. 754. 2 Jerome TAYLOR, The Didascalicon of Hugh of St. Victor. A Medieval Guide to the Arts. Translated from the Latin with an Introduction and Notes, New York/London 1961 [zitiert als DT]. Charles Henry BUTTIMER, Hugonis de Sancto Victore, Didascalicon De Studio Legendi: A Critical Text. Dissertation by Brother Charles Henry Buttimer M.A., Washington, D.C. 1939 [zitiert als DB]. Jacques-Paul MIGNE, Patrologiae cursus completus, sive bibliotheca universalis. . . omnium sanctorum patrum. Series Latina, 221 Bde, Paris 1844-1896. Wenn ich aus dieser Reihe zitiere, kürze ich mit PL ab (d. h. patres latini); Band, Spalte und gelegentlich die Abschnitte der Seite mit den Buchstaben A-D. Die beste Edition von Hugos Schriften, die es gibt, ist hier in Band 175-77 abgedruckt. [Zitiert als PL, gefolgt von Band und Seitenzahl.] Fassungen und Zusammenfassungen aus dem Lateinischen ohne Verweise sind vom Autor. 3 Joseph de GHELLINCK, La Table des matieres de la première édition des œuvres de Hughes de St. Victor, in: Recherches des Sciences Religieuses 1 (1910), S. 270-289 und 283-296. 4 Didascalica ist ein griechisches Wort. Es ist vielleicht am besten mit »dem Unterricht Dienendes« zu übersetzen. Ursprünglich wurde es in Griechenland für die Sitzungen zum Einstudieren eines Chores verwendet. Im Griechischen der hellenistischen Zeit bekam es eine andere Bedeutung: Es bezeichnete die in den Stadtarchiven aufbewahrte offizielle Liste der Theateraufführungen und athletischen Veranstaltungen. Im byzantinischen Griechisch ist die vorherrschende Bedeutung von didascalica »die Bildung betreffende Dinge«. Mittelalterliche Autoren verwenden es als gelehrten Terminus. 5 »Ich billige den Brauch, Kinder zum Lernen anzuregen, indem man ihnen Elfenbeinbuchstaben zum Spielen gibt [...], deren Betrachtung, Berühren und Benennen Freude macht [. . .]. Sowie das Kind anfängt, sich die Form der verschiedenen Buchstaben einzuprägen [. . .] laß sie so genau wie möglich in ein Brett einkerben, damit der Stift die Kerben entlang geführt werden kann, wenn wir die Häufigkeit und Geschwindigkeit, mit der das Kind diese festen Linien nachzieht, vergrößern, helfen wir ihm dabei, ruhige Finger zu bekommen. Die Kunst, gut und schnell zu schreiben, ist für unsere Zwecke nicht unwichtig, obgleich sie von Menschen von hohem Stand mißachtet wird.« 135 Diese Abschnitte stammen aus Quintillians erstem Werk über die Redekunst das er schrieb, als er um 85 n. Chr. den Unterricht aufgab. Der hervorragende Pädagoge Quintillian hält es für wichtig, daß »die Besten seiner Schüler« flüssig schreiben können; ich kann nicht umhin, dies mit der Bedeutung zu vergleichen, die mein bester Gymnasiallehrer der guten Beherrschung der Kurzschrift (Stenographie) bei seinen begabtesten Schülern beimaß. 6 Ludwig OTT, Hugo von St. Viktor und die Kirchenväter, in: Divus Thomas 3 (1949), S. 180-200 und 293-332. Bonaventura, dem Hugos Werke gut bekannt waren, staunte ein Jahrhundert nach Hugos Tod über dessen tiefe Kenntnis der Patristik. Obgleich Hugo für ihn »der neue Augustinus« war sprach er auch mit den Stimmen von Gregor und
Pseudo-Dionysius, da Augustinus sein Lehrer für spekulative Theologie, Gregor der Große für deren praktische Anwendung und Pseudo-Dionysius für die mystische Kontemplation war. 7 Heinrich WEISWEILER, Die Arbeitsmethode Hugos von St. Viktor. Ein Beitrag zum Entstehen seines Hauptwerkes »De sacramentis«, in: Scholastik 20-24 (1949), S. 59-87 und 232-267, hat Hugos persönliche Methode, Notizen zu machen und seine Art, Bücher aufzubauen, untersucht. 8 Joseph de GHELLINCK, L'Essor de la littérature latine au XIIe siècle. Museum Lessianum, Paris 1957. - Hugos Stil ist »herrlich verfeinert, aber von einer Bescheidenheit, die im Kontrast zur selbstbewußten Diktion Abelards steht. Er ist einer der auf anrührende Weise anziehenden Autoren jenes Jahrhunderts« (S. 50). »Sein Stil ist gewiß weniger lebendig als der Abelards, der mit klassischen Zitaten der Dichter und Platos und Aristoteles'« und den Grammatikern durchsetzt ist [. . .] Hugos Stil ist von zarter Lebendigkeit in einer zurückhaltenden Anteilnahme, die es ihm erlaubt, den Zustand der Seele auf eine Weise zu beschreiben (scruter les états d'âme), wie sie unter seinen Schülern nie gebräuchlich wurde.« Hugo schreibt den gleichen Absatz immer wieder neu und konstruiert mit großer Mühe seine Wendungen, damit seine komplexen Gedankengänge in all ihren Schattierungen angemessen zum Ausdruck kommen. Oft gelingt es ihm, sich vollkommen, korrekt und stilvoll auszudrücken, und das ist ihm dann selbst bewußt; wenn ihm etwas gelungen ist, hat et keine Bedenken, den mühsam herausgearbeiteten Satz zu wiederholen und ihn in einen anderen Kontext zu übertragen. 9 Die wichtigste Studie über das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Weisheit bei Hugo von St. Viktor stammt von Roger BARON, Science et sagesse chez Hugues de Saint-Victor, Paris 1957. Ungeachtet der zentralen Bedeutung, die Hugo der augustinischen Vorstellung von Weisheit zumaß, hat sie in seiner Geistigkeit einen anderen Stellenwert. In Augustinus' leidenschaftlicher Hingabe an die Weisheit steht die zweite Gestalt der Dreieinigkeit im Mittelpunkt; für Hugo, den spätromanischen Mystiker, steht an dieser Stelle die fleischgewordene Göttlichkeit seines Herrn. Das führte wahrscheinlich 136 Étienne GILSON, Introduction à l'étude de Saint Augustin, Paris 1943, S. 149-63 zu dem Urteil: »Malgré l'intérêt des notations de Hugues, on ne trouvera pas chez lui d'analyse de la sagesse aussi poussée que celle de Saint Augustin.« 10 Dieser Kommentar Hugos zu Augustinus ist in »De tribus diebus« zu f den unzutreffend von Migne als »Didascalicon«, Kapitel 7 (PL 176, 834) abgedruckt. 11 Am eindeutigsten wohnt die Weisheit den Künsten und Wissenschaften inne, denen sich der lector artium in seinem Studium widmet. Omnium autem humanarum actionum seu studiorum, quae sapientia moderatur, finis et intentio ad hoc spectare débet, ut vel naturae nostrae reparetur integritas vel defectuum, quibus praesens subiacet vita, temperetur nécessitas. DB, 5, S. 12. »Zweck und Absicht aller menschlichen Tätigkeiten und Bestrebungen aber, die von der Weisheit gelenkt werden, müßten auf die Wiedererlangung der Unversehrtheit unserer Natur gerichret sein oder auf die Mäßigung der Schwächen, denen unser gegenwärtiges Leben unterworfen ist.« nach DT, S. 51 f. Sermo XI: Duodecim autem sunt quae de sanatione humani generis nobis exponere proposuimus. Aegrotus, medicus, vulnera, medicina, vasa, antidota, diaeta, dispensatores, locus, tempus, sanitates, gaudia de ipsis sanitatibus recuperatis [. . .]
Antidota sunt septem dona Spiritus sancti, Spiritus sapientiae et intellectus, Spiritus consilii et fortitudinis. Spiritus scientiae et pietatis, Spiritus timoris Domini et simus per timorem humiles, per pietatem miséricordes, per scientiam discreti, per fortitudinem invicti, per consilium providi, per intellectum cauti, per sapientiam maturi. Timor expellit elationem, pietas crudelitatem, scienria indiscretionem, fortitudo debilitatem, consilium improvidentiam, intellectus incautelam, sapientia stultitiam. O quam bona antidota, quibus tam mala curantur aposremata! PL 177, 922-24. »Wir möchten über zwölf Dinge sprechen, die mit der Heilung der Menschheit zu tun haben. Es gibt den Kranken, den Arzt, Wunden, Arznei, Geräte, Gegenmittel, Diät, Pfleger, Ort, Zeit, Gesundheit und die Freude, die auf die Wiederherstellung der Gesundheit folgt [. . .] Die Gegenmittel sind die sieben Gaben des Heiligen Geistes, der Geist von Weisheit und Verständnis, der Geist von Rat und Mut, der Geist von Wissen und Frömmigkeit, der Geist der Gottesfurcht [. . .]damit wir aus Furcht demütig seien, aus Frömmigkeit barmherzig, durch Wissen verständig, durch Mut stark, durch Rat hilfsbereit, durch Verständnis reif. Furcht vertreibt den Stolz, Frömmigkeit die Grausamkeit, Wissen das Unverständnis, Verständnis die Rücksichtslosigkeit, die Weisheit die Dummheit. Oh welch gute Gegenmittel, mit deren Hilfe solch böse Apostasien geheilt werden!« 12 Mir geht es hier vor allem um die »alphabetische Technologie« und ihr einzigartiges, epochenspezifisches Zusammenspiel mit der nordwesteuropäischen symbolischen Welt um 1130, und darum, wie Veränderungen in der Weltsicht wiederum die Wahl von Technologien ermöglichten und lenkten. 137 Meine Wahl einer solchen Sichtweise des Alphabets als Technologie verdanke ich Walter J. ONG. Die einfachste Einführung in seine Gedanken zu diesem Thema findet sich in: Walter J. ONG, Orality and Literacy: The Technologiza-tion of the Word, London 1982. [Dt. Übers.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.] Dies ist eine andere Fragestellung als die der Untersuchung von Brian STOCK, The Implications of Literacy Written Language and Models of Interpretation in the nth and 12th Centuries, Princeton 1983. Mich beschäftigt die historische Herausbildung der Vorstellung vom »Text«, und die Diskontinuität dieser Vorstellung während der Mitte des 12. Jahrhunderts. Für Stock ist »Text« eine analytische Katego-rie, eine Seite oder irgendein strukturierter Diskurs, der laut gesprochen wird. Stock interessiert sich dafür, wie die Elemente oraler und schriftkundiget Kulturen aufeinander eingewirkt haben, »indem sie das Kommunikationssystem einer anderen Gesellschaft ihren eigenen Bedingungen angepaßt haben«. 13 Siehe Pierre COURCELLE, Etude critique sur le commentaire de la »Consolation« de Boece (XIe-XVe siècles), in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 12 (1939), S. 6-140. 14 Boethius: De consolatione philosophiae, lib. 3,10. Zitiert nach TAY-LOR, DT, S. 175. 15 Henri-Irénée MARROU, Saint Augustin et la fin de la culture antique, 4. Aufl., Paris 1958. Augustinus ist der erste bedeutende Denker, der kein Griechisch geschrieben hat und dessen gesamte philosophische Formung ausschließlich lateinisch war. Sein Stil ist tief geprägt vom kulturellen Milieu der späten Kaiserzeit und deren Philosophen. Er schätzt die Rezitation und Rhetorik sehr, hat Freude an schlagfertigen Antworten, ist es gewohnt, laut zu lesen und hört häufig einem lector beim Latein lesen zu. Bei seinem Kircheneintritt ist er sich seiner Wurzeln in diesem spätkaiserlichen Milieu vollkommen bewußt. 16 Boethius wurde nach Konstantin in Rom geboren und entstammte der adeligen
Familie der Ancini. Er wurde in Athen aufgezogen und beherrschte die griechische Sprache gut. Nach seinem Konsulat im Jahre 510 wurde er der Verschwörung mit Byzanz zum Sturz Theoderichs bezichtigt und unter der Anklage, »Magie« betrieben zu haben - eine nicht ungewöhnliche Beschuldigung gegen jemanden mit enzyklopädischer Bildung - inhaftiert, zweihundert Jahre nach der offiziellen Etablierung der Kirche im römischen Reich. 17 Emile MALE, L'Art religieux du I3e siècle en France, 4 Bde, 5. Aufl., Paris 1923 sagt, er sei »hochgeachtet gewesen als Verwahrer der antiken Weisheit und als der Erzieher moderner Zeiten« (S. 92). Während des Spätmittelalters wurde Boethius mit einem geheimnisvollen Nimbus versehen, ähnlich dem, den Dante Vergil gegeben hatte: er war »der Weise, der zwischen zwei Welten stand«. Jean de MEUN fügte seine Übersetzung des Werks »Trost der Philosophie« dem »Roman de la Rose« als Postskriptum hinzu. Chaucer lernte ihn durch diese Übersetzung kennen und sah in ihm den »ersten aller Kleriker«. 138 18 DT, S. 175-76 gibt eine kurze Übersicht über Hugos Quellen zu diesem Satz und über spätere Autoren des 12. Jahrhunderts, die sich auf Hugo als Quelle stützten. 19 Étienne GILSON, From Aristotle to Darwin and Back Again: A Jour-in Final Causality, Species and Evolution, Indiana 1984. Eine herrliche Geschichte der teleologischen Kausalität (durch den Zweck bestimmte Veränderung), von einem alten, gelehrten Mediävisten geschrieben. 20 Robert JAVELET, Sens et réalité ultime selon Hugues de Saint-Victor, in: URM 3 (1980), S. 81-113. 21 Marie-Dominique CHENU, Notes de lexicographie philosophique médiévale: disciplina, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 25 (1936), S. 686692. 22 Henri-Irénée MARROU, Doctrina et disciplina dans la langue des pères de l'Église, Bulletin DU CANGE 10 (1934), S. 5-25, behandelt die semantische Transformation dieser beiden Begriffe, die durch deren Integration ins Kirchenlatein des 3.-4. Jahrhunderts zustandekam. Disciplina, ein Wort, das im klassischen Latein als Übersetzung von paideia (Griechisch: Erziehung) verwendet wurde, bekam die Bedeutung »Zurechtweisung« oder »Anleitung«. Der Begriff doctrina, der die Bedeutung »allgemeine Bildung« gehabt hatte, verschob sich hin zu »höherem Wissen« und Weisheit. 23 DB III, 13, S. 63: Sapientior omnibus eris, si ab omnibus discere volueris. qui ab omnibus accipiunt, omnibus ditiores sunt. Nullam denique scientiam vilem teneas, quia omnis scientia bona est. »Du wirst. . . weiser als alle sein, wenn du von allen lernen willst. Diejenigen, die von allen empfangen, sind reicher als alle. Halte schließlich keine Erkenntnis für geringfügig, weil jede Erkenntnis gut ist.« (DF 3,14, S. 128; DT, S. 96) 24 DB III, 13, S. 62: Platonem audistis, audiatis et Chrysippum. in proverbio dicitur: Quod tu non nosti, fortassis novit Ofellus (cf Horace Sat. 2,2,2). nemo est cui omnia scire datum sit, neque quisquam rursum cui aliquid spéciale a natura accepisse non contingerit. prudens igitur lector omnes libenter audit, omnia legit, non scripturam, non personam, non doctrinam spernit. indifferenter ab omnibus quod sibi déesse videt quaerit, nec quantum sciat, sed quantum ignoret, considérât hinc illud Platonicum aiunt:. Malo aliéna verecunde discere, quam mea impudenter ingerere (Isidor von Sevilla, Sententiae. 2,38,3 PL 83 col 639 B). »Ihr habt den Plato gehört, ihr werdet auch den Chrysippus hören. Im Sprichwort heißt es: >Was du nicht weißt, weiß vielleicht ein
Eselein. < Niemand ist es gegeben, alles zu wissen; aber es gibt hinwiederum auch niemanden, dem nicht von Natur aus irgendeine Geistesgabe zuteil geworden wäre. Der verständige Leser hört daher alle gern, liest alles, verachtet kein Schriftwerk, keine Person, keine Lehre. Unterschiedslos er bei allen das, was ihm, wie er sieht, abgeht, und er betrachtet nicht, wieviel er weiß, sondern wieviel er nicht weiß. Deshalb wird auch jener Ausspruch des Plato angeführt: »Ich will lieber bescheiden von anderen lernen, 139 als unbescheiden anderen mein eigenes Wissen aufdrängen.« (DF III, 14, S. 128) (DT, S. 95). 25 Übersetzt nach DT III, 13, S, 94ff. 26 Übersetzt nach DT III, 16, S. 99. 27 Übersetzt nach DT III, 18, S. 100. 28 Robert BULTOT, Cosmologie et contemptus mundi. Recherches de théologie ancienne et médiévale. Numéro Special 1. Mélanges de théologie et de littérature médiévales offerts à Dom Hildebrand Bascuoa, OSB, Leuven 1980. [TAYLOR, S. 190, FN 56] Das Verhältnis zwischen asketischen Idealen und den natürlichen »Tatsachen«, die ihre Grundlage in der Naturwissenschaft der Epoche haben, ist zuwenig untersucht worden. Die etablierte Doktrin der vier Elemente, aus denen alle sichtbare Wirklichkeit zusammengesetzt ist, machte die »Erde« zum schwersten, niedersten und am wenigsten geistigen Bereich. Die gesamte Sphäre »unterhalb der Mondbahn« ist Teil des »Bodens«, auf dem sich derjenige, der die Weisheit liebt, wie ein Fremder fühlen sollte. DB I, 7, S. 14: item, superlunarem, propter lucis et quietis tranquilitatem, elysium, hunc autem propter inconstantiam et confusionem rerum fluctuan-tium, infernum nuncupabant. »In gleicher Weise nannten sie die Welt über dem Monde das Elysium, mit Rücksicht auf die derselben eigene Unzulänglichkeit des Lichtes und Gleichmäßigkeit der Ruhe. Die Welt unter dem Monde aber nannten sie die Unterwelt (infernum) wegen der Unbeständigkeit und des Wirrsals der im Werden begriffenen Dinge.« (DF I, 8, S. 56; DT I, 7, S. 54) BULTOT untersucht dieses Bild des Philosophen als Fremdem im infernum anhand der Überlieferung von Makrobius über Beda bis zu Alcuin. Literatur hierzu auch bei TAYLOR, S. 190, FN 56. 29 TAYLOR verfolgt das Zitat zu Ovid zurück, Epistulae ex Ponto I, 3, 5.35-36. 30 DF III, 20, S. 135; DT III, 19, S. 101. 31 G. CREMASCOLI, Exire de saeculo. Esami di alcuni testi della spiri-tualita benedettina e francescana (Sec. XIII-XIV). Quaderni di Richerche Storiche sul Primo Movimento Francescano e del Monachesimo Benedettino, III, Nantes 1982, stellt fest, daß die Verpflichtung, die Heimat zu verlassen und Jesus zu folgen, von den frühen Franziskanern eher in einem körperlichen Sinne interpretiert wird. Die Mitglieder der älteren Orden bleiben weiter bei einer »literarischen« statt einer »buchstäblichen« Deutung. 32 Gerhart H. LADNER, Homo viator: Medieval Ideas on Alienation and Order, in: Speculum 42 (1967), S. 233-259. Das Wanderleben wurde »als radikal christliche Lebensart hochgeschätzt, die ihre eigene stabilitas besitzt« (S. 242). 33 K. EMERY, Reading the World Rightly and Squarely: Bonaventure's Doctrine of the Cardinal Virtues, in: Traditio 39 (1983), S. 183-218. Der Anhang ist »Bonaventure and Hugh of St. Victor: Scripture, Prime Matter and the Illumination of Vittue« gewidmet. »Die aufeinanderfolgenden Beleuchtungen der Welt bieten eine lehrreiche Analogie zur allmählichen Beleuchtung der Welt
des menschlichen Herzens durch die Sonne der Gerechtigkeit, die erst die läuternden Tugenden und dann die Kontemplation hervorruft«; Hugo drückt sich in »De sacramentis Christianae fidei«, I, r, Kap. 12; PL 176. I95d-96a, so aus: quia omnis anima quandiu in peccato est, quasi in tenebris est quibusdam et confusione. Sed non potest evadere confusionem suam et ad ordinem justitiae formamque disponi, nisi illuminetur primum videre mala sua, et discernere lucem a tenebris, hoc est virtutes a vitiis, ut se disponat ad ordinem et conformet veritati. Hoc igitur anima in confusione jacens sine luce facere non potest; et propterea necesse est primum ut lux fiat, ut videat semetipsam, et agnoscat horrorem et turpitudinem confusionis suae, et explicet se atque coaptet ad illam rationabilem dispositionem et ordinem veritatis. Postquam autem ordinata fuerint omnia ejus, et secundum exemplar rationis formamque sapientiae disposita, tunc statim incipiet ei lucere sol justitiae; quia sic in repromissione dictum est: Beati mundo corde; quoniam ipsi Deum videbunt (Matth. 5). Prius ergo in rationali illo mundo cordis humani creatur lux, et illuminatur confusio ut in ordinem redigatur. Post haec cum fuerint purificata interiora ejus, venit lumen solis darum et illustrât eam. Non enim digna est contemplari lumen aeternitatis, donee munda et purificata fuerit; habent quodammodo et per materiam speciem, et per justitiam dispositionem. »Solange eine Seele in Sünde ist, ist sie in Finsternis und Verwirrung. Aber sie kann ihrer Verwirrung nicht entrinnen und zur Ordnung und Form der Gerechtigkeit kommen, wenn sie nicht erst erleuchtet wird, um ihre Fehler zu sehen, Licht von der Finsternis zu unterscheiden, das heißt, Tugenden von Lastern, damit sie sich der Ordnung füge und sich nach der Wahrheit richte. Aber eine Seele, die in Verwirrung gestürzt ist, kann das ohne Licht nicht tun. Daher ist es notwendig, daß erst Licht sei, daß sie sich selbst sehen möge und das Grauen und die Schändlichkeit ihrer Verwirrung erkennen, sich selbst verstehen möge und sich dann jener vernünftigen Einteilung und Ordnung der Wahrheit anpasse. Nachdem sie aber alles geordnet hat und nach dem Vorbild der Vernunft und der Form der Weisheit ausgerichtet ist, beginnt die Sonne der Gerechtigkeit sogleich, ihr zu leuchten. Denn so wird verheißen: Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen (Mt. 5). Nach all diesem, wenn ihr Inneres geläutert ist, wird das klare Licht der Sonne kommen und sie erleuchten. Denn es ist nicht würdig, das Licht der Ewigkeit zu betrachten, bis daß sie rein und geläutert ist: durch das Reinigen wird sie die Erscheinung und durch die Gerechtigkeit die Ordnung (dieses Lichts) haben.« 34 Die Weisheit ist vor allem im Herzen, aber sie liegt auch im Gegenstand. In De unione corporis et Spiritus, PL 177, 287a-b spricht Hugo über das Element Feuer und unterscheidet es wegen dessen Feinheit und Beweglichkeit von Erde, Wasser und Luft. Er betont dessen besondere Verbindung mit dem Geist, indem er es sapientia vitalis nennt. Die mittelalterlichen Speku141 lationen über das wirkliche Wesen des geistigen Lichts hat Dante poetisch, zusammengefaßt. 35 Diese Erkenntnisse über gemaltes Licht in der westlichen Male • werden detailliert dargestellt von Wolfgang SCHÖNE, Über das Licht in der Malerei, Berlin 1954. Die Leuchtkraft der Ikone ist zu einem zentralen Them der theologischen Reflexion in der ostchristlichen, und zwar speziell in der griechisch-orthodoxen Tradition geworden. Siehe hierzu die glänzende Studie' von C. von SCHÖNBORN, L'Icône du Christ. Fondements théologiques élaborés entre le Ie et le 2e Concile de Nicée (325-987), 2. Aufl., Collection Paradosis, Fribourg 1976, und, allgemeiner L. OUSPENSKY, La Théologie de l'icône dans l'Église Orthodoxe, Paris 1980.
36 Gerhart H. LADNER, The Concept of the Image in the Greek Fathers and the Byzantine Iconoclastic Controversy, in: Dunbarton Oaks Papers 7 (1953), S. 1-34. [Dt. Übers. in: Der Mensch als Bild Gottes, hg. v. Leo Scheffczyk, Darmstadt 1969, S. 144192.] Ebenso Wolfgang SCHÖNE, Die Bildgeschichte der christlichen Gottesgestalten in der abendländischen Kunst, in seinem Werk »Das Gottesbild im Abendland«, Berlin 1959. 37 Für Hugo und St. Bernhard und andere Philosophen-Mystiker des 12. Jahrhunderts ist »Gott voll Verlangen«, deus desiderans, und nicht Dem in sua beatitudine, d. h. »ewig ruhend«, wie bei Thomas von Aquin. 38 Gudrun SCHLEUSENER-EICHHOLZ, Das Auge im Mittelalter, 2 Bde, Münstersche Mittelalterschriften 35, München 1985, ist die wichtigste neue Monographie zu Auge und Sehen im Mittelalter. Siehe, zum »leuchtenden Auge« S. 129-87; zur »Blindheit der Seele« S. 532-92; zum »Auge als Metapher« S. 849-87 und vor allem zum inneren und äußeren Auge S. 931-1010. In diesem letzten Teil wird immer wieder auf Hugo Bezug genommen. 39 Der »gelebte Körper« der Erfahrungswelt von Hugos Zeitgenossen ist die primäre Quelle für Analogien. Sermo XXI (PL 177, 937 A-C): Homo quandiu in justitia perstitit, sanus fuit; sed postquam per culpam corruit, gravem languorem incidit. Et qui ante culpam in omnibus spiritualibus membris suis habuit sanitatem, post culpam in omnibus patitur infirmitatem. Ciamet igitur, necesse est: sana me domine, et sanabor. Sed nunquid est dicendus homo habere membra spiritualia? Habet membra spirirualia, scilicet virtutes. Sicutenim exterius membris sibi convenientibus formatur, sic interius virtutibus sibi concordantibus mirabiliter disponitur et ordinatur; et ipsa membra corporis virtutes figurant substantiae spiritualis. Caput significat mentem [. . .] Oculi désignant contemplationem. Quomodo namque oculis corporis foris visibilia cernimus, sic radiis contemplationis invisibilia speculamur. Per nares discretiones accipimus. Naribus etenim odores ac fetores discernimus, et ideoper nares vittutem discretionis non inconvenienter significamus. Aures exprimunt obedientiam, eo quod audiendi obediendique sunt instrumenturn. Os insinuât intelligentiam. Sicut enim cibum ore recipimus, ita virtute intelligentiae pastum divinae lectionis captamus. Dentés vero significant medi142 tationaem, quia sicut dentibus receptum cibum comminuimus, ita meditationis officio panem lectionis acceptum subcilius discutimus ac dividimus [. . .]. I nge der Mensch fortfuhr, gerecht zu sein, war er gesund, aber nachdem er Sünde gestürzt war, fiel er einer ernsten Krankheit anheim. Und wer vor der . Sünde in seinen geistigen Kräften gesund war, dem waren sie nach der Sünde geschwächt. Es ist daher vonnöten, auszurufen: Herr, heile mich, und ich rde genesen. Aber wie hat der Mensch geistige Kräfte? In den Tugenden. Wie er äußerlich durch passende Kräfte geformt wird, so wird sein Inneres auf wunderbare Weise durch ähnlich angemessene Kräfte geordnet. Und die leiblichen Glieder versinnbildlichen die geistigen Tugenden. Der Kopf steht für den Geist. Die Augen sprechen für die Kontemplation. Denn wie wir sichtbare Dinge mit den Augen des Leibes sehen, so bekommen wir durch die Strahlen der Kontemplation eine Vorstellung von der unsichtbaren Wirklichkeit. Wir können mit der Nase unterscheiden. Denn mit unseren Nasenlöchern können wir gute und schlechte Gerüche voneinander trennen. So ist es nicht unziemlich, daß wir die Nase als Kennzeichen der Urteilskraft sehen. Die Ohren bedeuten Gehorsam, da sie dem Hören und damit dem Gehorchen dienen. Der Mund deutet Intelligenz an. Denn wie wir Nahrung mit unserem Mund aufnehmen, so nehmen wir kraft der Intelligenz die Nahrung des heiligen Lesens auf.
Und die Zähne stehen für Meditation, denn wie wir die Nahrung mit unseren Zähnen kauen, so können wir durch die Übung der Meditation die Feinheiten im lebensspendenden Brot des Lesens schmecken [. . .].« 40 dicta sapientium quaerat, et semper coram oculis mentis quasi speculum vultus sui tenere ardenter studeat. »De modo dicendi et meditandi«, PL 176, 877. »Er sollte Worte der Weisheit suchen und hart arbeiten daran, sich diese stets vor die Augen seines Geistes zu halten, wie er einen Spiegel halten würde, um sein Antlitz zu sehen.« 41 Pierre COURCELLE, Connais-toi toi-même, de Socrate à Saint Bernard, 3 Bde, Paris 1974, untersucht die Übermittlung dieser sogenannten »delphischen Maxime« von deren erster Erwähnung bei Xenophon zu deren Rezeption in der Schule von St. Viktor. Hervorragende Untersuchung mit umfassenden Quellenzitaten. Immortalis quippe animus sapientia illustratus respicit principium suum et quam sit indecorum agnoscit, ut extra se quidquam quaerat. . . scriprum legitur in tripode Apollinis: gnoti seauton, id est, cognosce te ipsum. »Aber sein (des Menschen) unsterblicher, durch die Weisheit erleuchteter Geist er-kennt seine eigene Grundlage und sieht, wie unziemlich es ist, etwas außerhalb seiner selbst zu suchen, wenn das, was in ihm ist, ihm genug sein kann. Auf dem Dreifuß des Apollo steht geschrieben: gnothi seauton, das heißt, »erkenne dich selbst«. (Übers. nach DT, S. 46) 42 Colin D. MORRIS, The Discovery of the Individual 1050-1200, London 1972, S. 2ff. Auf bewundernswerte Weise wird in diesem Buch versucht, dem Leser die Erkenntnisse der neueren Forschung nahezubringen, ohne ihn mit deren gelehrtem Autwand zu belasten. Der Autor untersucht eine - uns heute selbstverständliche - Vorstellung in einer Gesellschaft, die »in mancher Hinsicht mit Problemen konfrontiert war, die nicht ganz unähnlich denen des 20. Jahrhunderts waren.« In einer größeren Rezension erkennt Yves CON-GAR, Rezension zu Colin D. MORRIS, The Discovery of the Individual, in: Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 57 (1973), S. 305-307, die Verdienste des Buches an, betont aber, daß das »Individuum«, das im 12. Jahrhundert entdeckt wird und das sich in neuen Formen von Freundschaft und Ehe, Lesen und Reflexion, Satire und Bekenntnis ausdrückt, in einem religiösen Kosmos fest eingebettet bleibt, und daß die neue Bedeutung von Individualität nur gedeutet werden kann, wenn man sie in dieser geistigen Welt organisch eingefügt sieht. Deshalb ist das neue Gefühl von Individualität, das während des 12. Jahrhunderts zutagetritt, auch gänzlich anders als die für spätere Epochen der Geschichte der westlichen Welt typische Individualitätsvorstellung. Zur Antwort des Autors auf die Kritik an seinem Werk: besonders C. W. BYNUM; siehe auch Colin D. MORRIS, Individualism and 12th Century Religion: Some Further Reflections, in: Journal of Ecclesiastical History 31 (1980), S. 195-206. 43 Pierre MICHAUD-QUANTIN, Études sur le vocabulaire philosophique du moyen âge (Lessio intellectuale europeo V), Rom 1970. Und (derselbe Autor): Pierre MICHAUDQUANTIN, Collectivités médiévales et institutions antiques, in: Miscellanea Medievalia 1 (Antike und Orient im Mittelalter), Berlin 1962, S. 240-252, untersucht die Herausbildung des Begriffs »moralische Person« im Zusammenhang mit den im 12. Jahrhundert entstandenen innovativen Kommentaren zu den römischen Juristen, wie UL-PIAN; mit der Rückkehr zum klassischen römischen Recht wird anhand der auctoritas: »Quod omnes tangit, ab omnibus débet approbari« (die Autorität, die alle berührt, sollte von allen anerkannt werden) eine vollkommen neue Vorstellung vom Individuum und dessen Platz in der Gesellschaft vermittelt. 44 Das 12. und 13. Jahrhundert bilden eine jener Epochen, in denen der Gebrauch des
Spiegels als Metapher einen bedeutenden Wandel durchmacht. Wilhelm WACKERNAGEL, Über den Spiegel im Mittelalter, in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 128-142, und Odo CASEL, OSB, Vom Spiegel als Symbol. Nachgelassene Schriften zusammengestellt von Julia Platz, Maria Laach 1961, sind viele Schlüsselstellen gesammelt. Jutgis BAL-TRUSAITIS, Essai sur une légende scientifique: le miroir. Révélations, science-fiction et fallacies, Paris 1978, bringt die verschiedenen mittelalterlichen Spiegelmotive in den Zusammenhang der längeren Traditionen, in die sie hineingehören. G. F. HARTLAUB, Zauber des Spiegels: Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst,, München 1951, ist das Standardwerk zur Darstellung des Spiegels in der Kunst und zur Entwicklung des Spiegels als gemalte Metapher seit dem Mittelalter. 45 Friedrich HEER, Der Aufgang Europas: Eine Studie zu den Zusam144 menhängen zwischen politischer Religiosität, Frömmigkeitsstil und dem Werden Europas im 12. Jahrhundert, Wien 1949, bringt mehrere fesselnde Kapitel über diesen »Ausbruch aus dem Prokrustesbett theokratischer Ordnung« während der Mitte des 12. Jahrhunderts, einer Zeit der Veränderungen weitverbreiteter Begriffskategorien, die mit kaum einer anderen Epoche der europäischen Geschichte zu vergleichen ist. (ex. gr., S. 9-20). 46 Jean LECLERCQ, Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter, in: Römische Quartalschrift 55 (1960). Zur Stabilität in peregrinatione, siehe S. 47. 47 Literatur hierzu siehe MORRIS, Individualism, bes. S. 6-10, und Caroline Walker BYNUM, Did the 12th Century Discover the Individual?, in: Journal of Ecclesiastical History 31 (1980), S. 1-12. 48 W. H. AUDEN, About the House, London 1966, S. 16. 49 Paul MUS, The Problematic of Self, West and East, in: Philosophy and Culture, East and West. 3e conference internationale des philosophes occidentaux et orientaux, Juillet 1959, hg. v. L. A. Moore, Honolulu 1959, stellt den fundamentalen Unterschied dar zwischen dem Entstehen des Individuums der westlichen Gesellschaft, das sich »seiner selbst bewußt« ist, und dem Individuum der östlichen Gesellschaft, vor allem der indischen, das eine Vorstellung von sich selbst innerhalb eines sozialen Kontexts hat. Siehe auch vom gleichen Autor: India seen from the East: Indian and Indigenous Cults in Champa, Monash Papers on South East Asia 3, Melbourne 1975. Ebenso Louis DUMONT, A Modified View of our Origins. The Christian Beginnings of Modern Individualism, in: Religion 12 (1982), S. 1-27. Er besteht auf dem Kontrast zwischen der indischen und der christlich-westlichen Wertung des unabhängigen und autonomen Individuums. Charakteristisch für das westliche Individuum ist folgendes: Unter dem Einfluß der Kirche entstanden die weltlichen Institutionen Europas um ein im wesentlichen nichtsoziales Geschöpf. 50 Peter DRONKE, Poetic Individuality in the Middle Ages. New Departures in Poetry 1000-1150, Oxford 1970, ergänzt durch: ders., Women writers of the Middle Ages: A Critical Study of Texts from Perpetua (230) to Marguerite Porete (1310), Cambridge 1984, betont sowohl die Kontinuität romantischer Motive als auch das Neue an der Selbstspiegelung der Person zu dieser Zeit. Der Mensch wird als jemand dargestellt, der in seinem Leid über sich selbst nachdenkt, als jemand, der scheitert, als tragische Figur. 51 Siehe C. T. ONIONS, The Oxford Dictionary of English Ethymology, New York 1966, S. 653. 52 Jean LECLERCQ, Mönchtum.
53 Siehe: »De area Noe morali«, lib. II, cap. 12. (Dieser Abschnitt wird am Ende von Kapitel 7 auf lateinisch und deutsch zitiert.) Die franziskanische Schule übernimmt von Hugo die Art, die zweite Gestalt der Dreieinigkeit als Buch darzustellen: Bonaventura, Op. Om. »De ligno vitae« 46 (VIII, 84b). Sapientia scripta est in Christo Jesu tamquam in libro Vitae, in quo omnes rhesauros sapientiae et scientiae recondidit Deus Pater. »Weisheit ist in Jesus !45 Christus geschrieben wie im Buch des Lebens, in dem Gott der Vater alle Schätze von Weisheit und Wissen versteckt. « Und in Fer VI in Par. Sermo 2 (IX, 263b; 265b): Liber Sapientiae est Christus, qui scriptus est intus apud patrern, cum sit ars omnipotentis Dei; et foris quando carnem assumpsit. Iste liber non est apertus nisi in cruce; istum librum debemus tollere, ut inteliigamus arcana sapientiae Dei. . . multi istum librum tenent clausum, et sunt insipien-tes. »Das Buch der Weisheit ist Christus, der innerlich mit dem Vater beschrieben ist, da Er die Kunst des allmächtigen Gottes ist; und äußerlich, da er Fleisch annahm. Und dieses Buch wird nur am Kreuz geöffnet. Wir sollten dieses Buch aufnehmen, damit wir die Geheimnisse von Gottes Weisheit verstehen lernen. . . Viele lassen dieses Buch zu, und sie sind töricht.« 54 Zitiert nach Boethius, »In Porphyrium dialogi«, I, 3. Siehe DT, S. 195. 55 »Epistola prima ad Ranulphum de Mauriaco«; PL 176, (1011a-b): Quod Charitas numquam excidit. Dilecto fratri R. Hugo pecator. Charitas numquam excidit. Audieram hoc et sciebam quod verum erat. Nunc autem, frater charissime, experimentum accessit, et scio plane, quod charitas numquam excidit. Peregre profectus eram, et veni ad vos in terram alienam; et quasi aliéna non erat, quoniam inveni amicos ibi. Sed nescio, an prius fecerim an factus sim. Tamen inveni illic charitatem, et dilexi eam; et non potui fastidire, quia dulcis mihi erat, et implevi sacculum cordis mei, et dolui quod angustus inventus est. Et non valuit capere totam; tarnen implevi quantum potui. Totum implevi quod habui, sed totum capere non valui, quod inveni. Accepi ergo, quantum capere potui et onustus pretio pretioso, pondus non sensi, quoniam sublevabat me sarcina mea. Nunc autem, longo itinere confecto, adhuc sacculum meum plénum reperio, et non excidit quidquam ex eo: quoniam charitas numquam excidit. »>Die Liebe vergeht nie. < Meinem lieben Bruder von Hugo, einem Sünder. Die Liebe vergeht nie. Ich habe es gehört, und ich habe gewußt, daß es wahr ist. Jetzt aber, liebster Bruder, habe ich es erfahren, und weiß, daß die Liebe nie vergeht. Denn ich war ein Fremder und kam zu Euch in ein fremdes Land. Und dennoch war es doch nicht die Fremde, denn ich habe dort Freunde gefunden. Ich weiß nicht, ob ich erst sie zu Freunden gemacht habe oder ich erst zum Freund gemacht wurde. Aber ich habe die Liebe gefunden und habe sie geliebt; und ich konnte ihrer nicht überdrüssig werden, weil sie mir süß war, und ich habe mein Herzenssäcklein mit ihr gefüllt, und es betrübte mich, daß es so eng war. Ich konnte sie nicht ganz fassen - aber so viel es ging, habe ich es gefüllt. Ich habe so viel angenommen, wie ich konnte, aber ich konnte nicht alles fassen, was ich gefunden hatte. Ich nahm alles, was ich konnte, und mit diesem kostbaren Schatz beladen habe ich keine Last empfunden, weil mich meine Bürde erleichtert hat. Jetzt aber, am Ende eines langen Weges, ist mein Herzenssäcklein noch immer voll, und nichts ist aus ihm verloren, denn die Liebe vergeht nie.« Ludwig OTT, Untersuchungen zur theologischen Briefliteratur der Frühscho146 lastik unter besonderer Berücksichtigung des Viktorinischen Kreises, Münster 1932, S. 350, gibt paläographische Informationen zu diesem Brief.
56 Sexual intercourse began In nineteen sixty-three (Which was rather late for me) Between the end of the Chatterley ban And the Beatles' first LP Philip LARKIN, High Windows, New York 1974. 57 Hugo »In Hier.« 6 (PL 175,1036d). Si minus excitor ad cognitionem, incitabor ad dilectionem. Et erit interim dilectio ipsa refectio, donee ex ea oritatur contemplatio. »Wenn ich auch nicht so zur Erkenntnis angetrieben bin, so bin ich doch getrieben, zu lieben. Und diese Liebe wird mich laben, bis aus ihr die Kontemplation entsteht.« 58 J. M. DÉCANET, Amor ipse intellectus est, in: Revue du moyen âge latin (1945), S. 368. 59 Adèle M. FISKE, Paradisus Homo amicus, in: Speculum 40 (1965), S. 426-459. 60 Er steht in einer langen Tradition, die Freundschaft so interpretiert: est autem hic amor sapientiae, intelligentis animi ab illa pura sapientia illumina-tio, et quodammodo ad seipsam retractio atque advocatio, ut videatur sapientiae Studium divinitatis et purae mentis illius (DB 1,2, S. 7). »Die Liebe zur Weisheit aber besteht darin, daß der zur Erkenntnis gelangende Geist jener unverfälschten Weisheit seine Erleuchtung verdankt und gewissermaßen sich in sich selbst zurückzieht und für sich bei sich selbst Rat und Belehrung einholt, so daß das Streben nach Weisheit als eine Freundschaft zwischen der Gottheit und jenem durch Erkenntnis geläuterten Geiste erscheint. « (DF I, 3, S. 47; DT S. 48). 61 »De arca Noe morali«, lib. IV, cap. VI; PL 176, 672c-d: Electi autem dum temporalia Dei bénéficia recolunt, ad agnitionem aeternorum proficiunt. Reprobi per visibilia ab invisibilibus cadunt; electi autem per visibilia ad invisibilia ascendunt [. . .] De operibus conditionis per opera restaurationis, ad conditionis et restaurationis auctorem ascendunt. Ascensus autem isti non extrinsecus, sed intrinsecus cogitandi sunt, per gradus in corde de virtute in virtutem dispositos. »Die Auserwählten aber kommen, während sie Gottes vergängliche Wohltaten bedenken, zum Wissen über seine ewigen Wohltaten. Durch die sichtbaren Dinge fallen die Verdammten zu den unsichtbaren; die Auserwählten aber steigen von den sichtbaren Dingen zu den unsichtbaren empor [. . .] siehe auch TAYLOR, S. 173 und 168 und »De Laude Charitatis«, PL 176, 972-973a: Dic mihi, o cor humanum, utrum magis eligis, semper gaudere cum hoc saeculo, an esse semper cum Deo? quod plus diligis, hoc potius eligis. audi ergo, ut aut corrigas dilectionem, aut non différas electionem. Si muundus iste pulcher est, qualis putas est pulchritudo ubi Creator mundi est? Dilige ergo ut eligas, dilige melius ut eligas salubrius. Dilige Deum, ut eligas 147 esse cum Deo, ergo per dilectionem eligis. Sed quo plus diligis, eo citius pervenire cupis, et festinas ut appréhendas, ergo per dilectionem curris, et per dilectionem apprehendis. Item quo plus diligis, eo avidius amplexaris, ergo per dilectionem frueris. »Sage mir, o menschliches Herz, ob du diese Welt für immer genießen oder immer mit Gott sein wolltest? Das, was du mehr liebst, wirst du wählen. Höre also, damit du deine Liebe verbessern und deine Wahl nicht verzögern mögest. Wenn diese Welt schön ist, wie denkst du, wird die Schönheit des Ortes sein, wo der Schöpfer der Welt ist? Liebe also, daß du wählen mögest, liebe noch mehr, daß du gut wählen mögest. Liebe Gott, daß du wählen mögest, mit Gott zu sein - also wirst du aus Liebe wählen. Und wenn du mehr liebst, wirst du begehren, ihn schneller zu erreichen, und du wirst eilen, zu ihm zu kommen, also wirst du aus Liebe eilen und ihn mit Liebe erreichen. Und je mehr du liebst, je eifriger wirst du ihn umfassen und dich an der Liebe erfreuen.« 62 DT VI, 3, S. 136 übersetzt: Parvis imbutus tentabis grandia tutus (DB S. 114)
schlichter mit: »Once grounded in things small, you may safely strive for all«. 63 MARBODUS, »De ornamentis verborum«, Prologus. PL 171. 64 Roger BARON, Notes biographiques sur Hugues de Saint-Victor, in: Revue d'histoire ecclésiastique 51 (1956), S. 920-934. 65 Zeitmessung; nächtliches Horoskop. Man beachte, daß es zu Lebzeiten Hugos keine Möglichkeit gab, die Zeit abzulesen; die Uhr und ihr Quadrant waren unbekannt. Die 36 Fixsterne waren horo-scopi, Stundenschauer. Und Hugo verbrachte die Nächte mit Sterngucken, was für ihn »die Zeit beobachten« hieß. Zur symbolischen Bedeutung des Sternguckens für Theologen des 12. Jahrhunderts: Marie-Thérèse de ALVERNY, Astrologues et théologiens au XIIe siècle, in: Mélanges offerts à Marie-Dominique Chenu, Bibliothèque Thomistique 37, Paris 1967, S. 31-50. 66 DF VI, 3, S. 186-87 (DT VI, 3, S. 136-37; DB S. 114-15). 67 Siehe Gerhart H. LADNER, Medieval and Modern Understanding of Symbolism: A Comparison, in: Speculum 54 (1979), S. 223-256; Über den Einfluß der muslimischen Ordnungsauffassung auf westliche Vorstellungen von Symbolik: Marie-Thérèse de ALVERNY, L'Homme comme symbole. Le microcosme, in: Simboli e simbologia nell'alto Medioevo, 3-9 aprile, 1975, Settimane di studio del Centro Italiano dell'Alto Medioevo, Bd. 26,1, Spoleto 1976, S. 123-183. 68 Friedrich OHLY, Die Suche in den Dichtungen des Mittelalters, in: Zeitschrift Rir deutsche Altertumskunde 94 (1965), S. 171-184. 69 Wolfgang HARMS, Homo viator in bivio: Studien zur Bildlichkeit des Weges, Medium Aevum 21, München 1970. 70 LADNER, Medieval and Modern Understanding, S. 243. 71 W. MURI, Symbolon: Wort- und sachgeschichtliche Studie. Beilage zum Jahresbericht über das Städtische Gymnasium in Bern, Bern 1931. 148 72 LADNER, Medieval and Modern Understanding, S.241, einen Abschnitt aus PseudoDionysius, »De Coelesti hierarchia«, cap. 2 PG 3, 137 und 144 zusammenfassend. 73 symbolum est collatio formarum visibilium ad invisibilium demonstra-tionem. Hugo a S.V. »Commentarii in Hierarchiam Coelestem S. Dionysii Areopagitae«, 2 (ad cap 1) PL 175, 941b. 74 LADNER, Medieval and Modern Understanding, S. 241. 75 LADNER, Medieval and Modern Understanding, S. 252. 76 DB V, 2, S. 96: Divina Scriptura ita per Dei sapientiam convenienter suis partibus aptata est atque disposita, ut quidquid in ea continetur, aut vice chordarum spiritualis intelligentiae suavitatem personet, aut per historiae seriem, et literae soliditatem mysteriorum dicta sparsim posita continens, et quasi in unum connectens, ad modum ligni concavi super extensas chordas simul copulet, earumque sonum recipiens in se, dulciorem auribus référât, quem non solum chorda edidit, set et lignum modulo corporis sui formavit [. . .] saepe tarnen in una eademque littera omnia simul reperiri possunt, sicut historiae veritas et mysticum aliquid per allegoriam insinuet, et quid agendum sit pariter per tropologiam demonstret. »Daher ist in wunderbarer Weise die gesamte hl. Schrift kraft Gottes Weisheit hinsichtlich ihrer einzelnen Teile so in Übereinstimmung gebracht worden, daß alles, was in derselben enthalten ist, entweder nach Art der Saiten die liebliche Weise des mystischen Sinnes ertönen läßt oder durch die ununterbrochene Folge der geschichtlichen Darstellung die hier und da eingestreuten geheimnisvollen Aussprüche für alle Dauer festhält und gewissermaßen zusammenfaßt und so nach Art des gewölbten Holzes die darüber gespannten Saiten zugleich
verbindet und den Ton derselben in sich auffängt und denselben in lieblicher Klangwirkung dem Ohre zuführt, den dann nicht die Saite allein erzeugt, den vielmehr auch das Holz vermöge seiner rhythmisch geordneten Maßverhältnisse hat bilden helfen [. . .] Häufig wird gleichwohl unter ein und demselben Wort alles ausfindig gemacht werden können, sowie eine geschichtliche Wahrheit sowohl in allegorischer Weise eine mystische Anweisung enthält und ebenso durch moralische Deutung das, was wir zu thun haben, anzeigt.« DF V, 2, S. 168 (DT, S. 121). 77 Gottes Weisheit gibt sich durch die Schönheit seiner Geschöpfe zu erkennen. Das ist eines der Leitmotive von »De tribus diebus«, insbesondere des 3. Kapitels. Qui autem spiritualis est et omnia dijudicare potest, in eo quidem quod fors considérât pulchritudinem operis, intus concipit quam miranda sit sapientia creatoris (»De tribus diebus«, cap III; PL 176, 814c). »Wer vom Geist erfüllt ist und alles unterscheiden kann, der sieht, während er die äußere Schönheit des Werkes bedenkt, innerlich wie wunderbar die Weisheit des Schöpfers ist.« Universus enim mundus iste sensibilis quasi quidam liber est scriptus digito Dei, hoc est virtute divina creatus, et singulae creaturae quasi figurae quaedam sunt [• • .] divino arbitrio institutae ad manifestandam invisibilium dei sapientiam (»De tribus diebus«, cap III; PL 176, 814b). »Diese gesamte sinnlich wahrnehm149 bare Welt ist gewissermaßen wie ein mit dem Finger Gottes geschriebenes Buch, das heißt, durch göttliche Macht erschaffen, und einzelne Geschöpfe sind gewissermaßen wie Gestalten, die durch den göttlichen Willen gebildet sind, um die Weisheit der unsichtbaren Dinge Gottes offenbar werden zu lassen.« 78 Zum Übergang von der frühmittelalterlichen zur spärmittelalterlichen artes-Literatur siehe Bernhard BISCHOFF, Eine verschollene Einteilung der Wissenschaften, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 33 (1958), S. 5-20. Franz H. BÄUML, Der Übergang mündlicher zur artes-bestimmten Literatur des Mittelalters. Gedanken und Bedenken, in: Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift Gerhard Eis, Stuttgart 1968, S. 1-10. 79 Alle Künste führen zur Weisheit, auch die des Handwerkers. »Die Theorie allein indes nennen wir Weisheit im Hinblick auf die Erforschung der Dinge.« DF II, 19, S. 89 (DT, S. 73) Solam autem theoricam, propter specula-tionem veritatis verum, sapientiam nominamus (DB II, 18, S. 37). »Denn wenn wir . . . die drei übrigen Zweige, d. i. die Ethik, die Mechanik, die Logik passend auf die Weisheit als auf ihre Quelle zurückführen können, so benennen wir gleichwohl die Logik im Hinblick auf die Kunst der Rede, die Mechanik im Hinblick auf Klugheit und Geschicklichkeit im Handeln, die Ethik im Hinblick auf die Umsicht in der Sittenzucht.« DF II, 19, S. 89, circumspectio morum et operum. (Diese) [. . .] tres [. . .] id est ethicam, mecanicam, logicam congrue ad sapientiam referre possimus (DB II, 19, S. 37). 80 TAYLOR, Didascalicon, S. 3-39, zeigt am besten, wie Hugo das »Didascalicon« aufbaut. Hierzu auch: Jean CHATILLON, Le Didascalicon des Hugues de Saint-Victor, in: La Pensée encyclopédique au moyen âge, Neuchâtel 1966, S. 63-76. Der Einfluß des »Didascalicon« auf die Regularkanoniker wird, passim, behandelt von Bernhard BISCHOFF, Aus der Schule Hugos von St. Viktor, in: Aus der Geisteswelt des Mittelalters, hg. v. A. Lang/J. Lecher/ M. Schmaus, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 3,1, Münster 1935, S. 246-250, und in Jean CHATILLON, De Guillaume de Champeaux à Thomas Gallus: Chronique littéraire et doctrinale de l'école de Saint-Victor, in: Revue du moyen âge latin 8 (1952), S. 139-162.
Jean CHATILLON, Les Écoles de Chartres et de Saint-Victor, in: La scuola nell' Occidente Latino nell' alto medio evo. Settimane di Studio 19,2, Spoleto 1972, S.795-83981 Zu Hugos Stellung innerhalb dieser Tradition siehe M. GRABMANN, Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd. 1., 2. Aufl., Freiburg, Br. 1957, S. 28-54 und 235-60. Gillian R. EVANS, Old Arts and New Theology: The Beginnings of Theology as an Academic Discipline, Oxford 1980. Gillian R. EVANS, A Change of Mind in Some Scholars of the nth and Early 12th Century, in: Religious Motivation: Biographical and Sociological Problems for the Church Historian, hg. v. D. Baker, Oxford 1978, S. 27-37. CHATILLON, Écoles, S. 795-839. BISCHOFF, Eine verschollene Einteilung der Wissenschaften, S. 5-20. 150 82 Die bis heute umfassendste und gründlichste Untersuchung dieser Siebenteilung bietet noch immer Josephe MARIETAN, Le problème de la classification des sciences d'Aristote à St. Thomas, Paris 1901. Da ich den historischen Standpunkt von Hugos Ethologie, implizite Phänomenologie und Metaphorik des »Lesens« untersuchen möchte, verzichte ich hier auf eine Behandlung dieser Einteilung. Einen Aspekt von Hugos Denken bei der Einteilung des Wissens, der ihm speziell eigen ist, nämlich die scientiae mechanicae, habe ich bereits an anderer Stelle behandelt. Siehe Ivan ILLICH, Shadow Work, London 1981, S. 75-95 und 33-36. 83 DF III, 3, S. 116-17 (DT III, 3, S. 87). 84 DB VI, 3, S. 115: Sicut in virtutibus, ita in scientiis quidam gradus sunt. sed dicis: >multa invenio in historiis, quae nullius videntur esse utilitatis, quare in huiusmodi occupabor?< bene dicis. multa siquidem sunt in scripturis, quae in se considerata nihil expetendum habere videntur, quae tamen si aliis quibus cohaerent comparaveris, et in toto suo trutinare coeperis, necessaria pariter et competentia esse videbis. alia propter se scienda sunt, alia autem, quamvis propter se non videantur nostro labore digna, quia tamen sine ipsis illa enucleare sciri non possunt, nullatenus debent negligenter praeteriri. omnia disce, videbis postea nihil esse superfluum. coartata scientia iucunda non est. »Wie bei den Tugenden so giebt es auch bei den Wissenschaften bestimmte Stufen. Aber du sagst mir: Vieles finde ich in den geschichtlichen Büchern, was mir keinen Nutzen zu bringen scheint; warum soll ich mich mit solchem beschäftigen? Gut! Es gibt zwar viele Stellen in der hl. Schrift, die, für sich allein betrachtet, nichts Begehrenswertes in sich zu enthalten scheinen. Wenn du dieselben aber mit anderen Stellen, mit welchen sie in Verbindung stehen, vergleichst und in ihrem Zusammenhang abzuwägen beginnst, so wirst du einsehen, daß dieselben ebenso notwendig wie angemessen sind. Einige Stellen sind an und für sich wissenswert; wiewohl andere Stellen an und für sich unserer Mühewaltung nicht wert erscheinen, so darf man solche nicht sorglos beiseite liegen lassen, weil ohne sie jene Stellen der ersten Art nicht deutlich verstanden werden können. Lerne alles; später wirst du einsehen, daß nichts überflüssig ist. Beschränktes Wissen bringt keine Freude.« DF VI, 3, S. 187-88 (DT, S. 137). 85 DB III, 3, S. 53: statim singula corde parata haberent. 86 HUGO VON ST. VIKTOR, De tribus maximis circumstantis gestorum, in: Speculum 18 (1943), S. 484-493. Hier erstmals ediert von William M. GREEN. Zu Hugos Stellung innerhalb der Überlieferung siehe G. A. ZINN, Hugh of St. Victor and the Art of Memory, in: Viator 5 (1974), S. 211-234. »Bis heute hat Hugo von St. Viktor keine Anerkennung gefunden für seinen Beitrag zur mittelalterlichen Entwicklung der klassischen Kunst der
Gedächtnistradierung.« (Übers. nach S. 211). 87 Arca - etwas, in dem alles aufbewahrt werden kann: ein Kasten, eine Kiste, eine Truhe; auch ein Sarg oder die Arche Noah. Die arca des Klosters wurde in der Sakristei verwahrt und enthielt die Schätze: Kelche, Gewänder für die Liturgie; Reliquien, vor allem die verschiedenen Schädel und Gebeine von Heiligen in wertvollen Schreinen; und darüber hinaus auch Bücher. Erst im 11. Jahrhundert beginnt man, Bücher in speziellen, getrennten Archen, den Archiven, zu verwahren, und erst am Ende des Jahrhunderts werden Bibliotheken üblich. 88 HUGO, De tribus maximis circumstantis gestorum. Erstveröffentlichung in: Speculum 18 (1943). Hugos Freund Aelred von Rievaulx schreibt in »De anima«, lib. II (Op. Omn. I. ed. A. HOSTE et C. H. TALBOT, Corpus Chrisrianorum Continuatio Medievalis I (1971), 707. 19-21): Est enim memoria quasi ingens quaedam aula, continens quasi innumerabiles thesauros, diversarum scilicet rerum corporalium imagines per sensus invenras. »Das Gedächtnis ist wie ein riesiger Saal mit unzähligen Schatzkisten, deren jede Abbilder von Dingen enrhälr, die mit Hilfe der Sinne gesammelt (und verwahrt) wurden.« 89 DB VI, 3, S. 114: Haec enim quattuor praecipue in historia requirenda sunt, persona, negotium, tempus et locus. »Diese vier Stücke sind es nämlich hauptsächlich, die bei der Geschichte festzustellen sind: Person, That, Zeit und Ort.« DF VI, 3, S. 186 (DT, S. 136). In »De tribus maximis circumstantiis gestorum« (GREEN, S. 491, Zeile 16-19): Tria sunt in quibus praecipue cognirio pendet rerum gestarum, id esr, personae a quibus res gestae sunt [. . .] loca in quibus gestae sunt, et tempora quando gestae sunt. Haec tria quisquis memoriter animo tenerit, inveniet se fundamentum habere bonum. »Das Wissen um Dinge die getan sind, hängr von dreierlei ab; d. h. von den Personen, die handeln, [. . .] den Orten und den Zeiten. Wer diese Dinge fest in seinem Gedächtnis behält, wird entdecken, daß er eine gute Grundlage hat.« 90 »De tribus maximis circumstantiis gestorum«, (GREEN, S. 488, Zeile 11 - 12): Confusio ignoranriae et oblivionis mater est; discretio autem intelli-gentiam illuminât et memoriam confirmât. »Die Unordnung ist die Mutter von Unkenntnis und Vergeßlichkeit; aber das Unrerscheidungsvermögen beleuchtet die Intelligenz und stärkt das Gedächtnis.« 91 Hanc autem cogitationem et hunc modum imaginandi domesticum habe usitatum (GREEN, S. 489, Zeile 24-25). 92 Zum Beispiel von Frances YATES, The Art of Memory, Chicago/ London 1966. [Dte. Übers.: Gedächrnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Acta humaniora, Weinheim 1990.] Sie nimmt Hugos Existenz beiläufig wahr, trägt aber nicht zum Verständnis seiner historischen Einzigartigkeit bei. Gillian R. EVANS, Two Aspects of Memoria in the Eleventh and Twelfth Century Writings, in: Classica et medievalia 32 (1971-1980), S. 263-278, stellt fest, daß von Augustinus an das Studium des Gedächtnisses als grundlegende Kraft vom Studium des Memorierens, das jerzr vernachlässigr wird, unterschieden werden muß. 93 Joachim EHLERS, Hugo von St. Victor: Studien zum Geschichtsden152 ken und zur Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts, Frankfurter historische Abhandlungen 7, Wiesbaden 1973, sieht dies. Der Kathedralenbau des 12. Jahrhunderts kann als öffentliche Darstellung einer symbolischen Welt der memoria verstanden werden; als feierliche Reminiszenz an die historia. Die Wiederkehr der
individuell ausgeübten Gedächtniskunst im 14. Jahrhundert erscheint dann als Folge des Niedergangs des Zeitalters des Glaubens. Martha HEYNEMAN, Dante's Magical Memory Cathedral, in: Parabola 11 (1986), S. 36-45. Ein interessantes Beispiel für eine Kathedrale als Modell einer internalisierten memoria in späterer Zeit gibt Bernhard BISCHOFF, Die Gedächtniskunst im Bamberger Dom, in: Anecdota Novissima, Stuttgart 1984, S. 204-211. 94 Als Einführung in die Geschichte der prä-literaten Erinnerung siehe die Anmerkungen zum ersten Kapitel bei B. PEABODY, The Winged Word: A Study in the Technique of Ancient Greek Oral Composition as Seen Principally Through Hesiod's Works and Days, Albany 1975. Albert LORD, Perspectives on Recent Work on Oral Literature in: Oral Literature: Seven Essays, hg. v. J. Duggan, Edinburgh 1975, S. 1-24. 95 James A. NOTOPOULOS, Mnemosyne in Oral Literature, in: Transactions of the American Philosophical Association 69 (1938), S. 465-493. 96 Die nächsten Absätze bieten einen etwas blassen Kommentar zu Eric A. HAVELOCK, The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences, Princeton Series of Collected Essays, Princeton 1982. 97 »Metaphysik«, I, 4, 985b Aristoteles: Die Lehrschriften, hg., übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke, 3. Aufl., Pader-born 1972. 98 HAVELOCK, Literate Revolution, S. 9. 99 Phaidros, Ion. 100 H. BLUM, Die antike Mnemotechnik, Spudasmata. Studien zur klassischen Gesetzgebung, Bd. 15, Hildesheim 1969. 101 Helga HAJDU, Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters, Amsterdam 1967. [Orig. hg. Leipzig, 1936.] 102 Harry CAPLAN, Rhetorica ad Herrenium. De ratione dicendi. With an English translation, Cambridge, Mass. 1954. 103 G. A. ZINN, Hugh of St. Victor and the Ark of Noah: A New Look, in: Church History 40 (1971), S. 261-272. Hugo versucht, den »Buchstaben selbst« zu einem eigenen Studiengegenstand zu machen. Er sucht ein wörtliches Verständnis der Zeilen der Heiligen Schrift, um die Ordnung jener Ereignisse, die allein Träger eines tieferen Sinns sein können, zu extrahieren und sichtbar zu machen. Hugo bestand darauf, daß man, »bevor man den Honig dieser tieferen Bedeutung herauszieht«, erst den buchstäblichen Sinn wirklich verstehen müsse, »das Wachs der Wabe, das den Honig umgibt«. (S. 272) Die Arche Noah, im Herzen des Lesers nachgebaut, stellt für Hugo eine solche Wabe köstlicher Erinnerungen dar. Bis zu dieser Zeit hatte man die Arche Noah 153 in der Malerei als typologischen Plan und nicht als seetüchtiges Schiff dargestellt. Das änderte sich während des 12. Jahrhunderts. Siehe zu dieser ikonogra-phischen Transformation Don Cameron ALLEN, The Legend of Noah: Renaissance Rationalism in Art, Science and Letters, in: Illinois Studies in Language and Literature 23 (1949), S. 155ff. Joachim EHLERS, Arca significat ecclesiam: ein theologisches Weltmodell aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972), S. 12187. 104 R. L. BENSON/G. CONSTABLE (Hg.), Renaissance and Renewal in the 12th Century, Cambridge, Mass. 1982. 105 Eine gute Sammlung von Erwähnungen des Gedächtnisses im 12. Jahrhundert: Christel MEIER, Vergessen, erinnern. Gedächtnis im Gott-Mensch-Bezug. Zu einem Grenzbereich der Allegorese bei Hildegard von Bingen und anderen Autoren des
Mittelalters, in: Verbum et Signum, hg. v. M. Fromm u. a., München 1975, S. 143-194. 106 Über die »Kirche« als Ordnungsschema für Geschichte in der Schule von St. Viktor: Jean CHATILLON, Une Écclésiologie médiévale: L'idée de l'Eglise dans la théologie de l'école de Saint-Victor au XIIe siècle, in: Irénikon 22 (1949), S. 115-138 und 395-411. Sogar mythische Ereignisse konnten in diese »Geschichte« eingefügt werden: MarieDominique CHENU, Involu-crum: Le Mythe selon les théologiens médiévaux, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 30 (1955), S. 75-79. 107 G. A. ZINN Jr., Historia fundamentum est: The Role of History in the Contemplative Life According to Hugh of St. Victor, in: Contemporary Reflections on the Medieval Christian Tradition. Essays in Honor of Ray C. Petry, hg. v. G. H. Shriver, Durham, NC. 1974, S. 135-158. 108 Habes in historia quo Dei facta mireris, in allegoria quo eius sacra-menta credas, in moralitate quo perfectionem ipsius imiteris (DB VI, 3, S. 116). »In der Geschichte findest du Veranlassung, Gottes Werke zu bewundern; bei der Allegorie: an seine Sakramente zu glauben; bei der moralischen Auslegung: seine Vollkommenheit nachzuahmen.« (DF VI, 3, S. 189; DT VI, 3, S. 138). Die einzigen Tatsachen, die Hugo als Ausgangspunkt und Fundament theologischer Reflexion zuläßt, sind historische Ereignisse, die in der Heiligen Schrift wörtlich beschrieben sind, und die während des Kirchenjahres zyklisch zelebriert werden. Vide quia, ex eo quo mundus coepit usque in finem saeculorum, non deficiunt miserationes Domini (DB VI, 3, S. 117). »Erkenne also, daß vom Anbeginn der Welt bis zum Ende der Zeiten die Barmherzigkeit Gottes kein Ende nimmt.« (DF VI, 3, S. 190; DT VI, 3, S. 139) Valde admiror, et stupeo in memetipsa cum dispositionem divinam in rebus transactis considero - »Ich bin voller Bewunderung und staune selbst, wenn ich die göttliche Ordnung vergänglicher Dinge betrachte« [. . .] quoniam ex ipsa rerum praetereuntium ordine nescio quo pacto fixam quaedam providentiam attendo (»De vanitate Mundi«, lib 3; PL 176, 724d-725a). »[. . .] denn in der Ordnung jener Dinge, die geschehen sind, kann ich kein Prinzip finden, wie 154 die Vorsehung arbeitet.« Die Ereignisse, auf denen Hugo seine gesamte Untersuchung der Heiligen Schrift aufbaut, sind so außerordentlich erstaunlich, daß er sich nicht in der Lage sieht, aus ihnen irgendwelche festen Regeln herzuleiten, nach denen Gottes Vorsehung erschafft oder handelt. 109 Gillian R. EVANS, Hugh of St. Victor on History and the Meaning of Things, in: Studia Monastica 25 (1983), S. 223-234. »Hugo erklärt, daß Moses ein Geschichtsschreiber ist (historiographus). Er legt die Geschichte (texens historiam) dar vom Beginn der Welt bis zum Tod Jakobs. Zweierlei muß man folglich beim Lesen der Genesis suchen, die veritas rerum gestarum oder die Wahrheit des Geschehenen und die forma verborum: »Denn so, wie wir die Wahrheit der Dinge durch die Wahrheit der Worte kennen, so können wir umgekehrt, wenn uns die Wahrheit der Dinge bekannt ist, leichter die Wahrheit der Worte erkennen. Denn durch jene historische Erzählung werden wir zu einem höheren Verständnis der Dinge geführt.« (PL 175, 32-33: Quia per istam historicam narrationem ad altiorum rerum intelligentiam provehimur.) »Es erscheint, als läge die im Entstehen begriffene Unterscheidung zwischen -genau gesagt - »historisch« und »wörtlich« dicht an der Unrerscheidung zwischen der Bedeutung von Wörtern und der Bedeutung von Themen der Bibel.« (S. 232). Siehe auch Herbert GRUNDMANN, Die Grundlagen der mittelalterlichen Geschichtsanschauung, in: Archiv für Kulturgeschichte 24 (1934), S. 326-36. Ders.: Geschichtsschreibung im Mittelalter. Göttingen 1978.
110 EHLERS, Arca significat, S. 121-87. 111 Arca Noe Morali, IV, 4 (PL 176, 712): Consideremus deorsum in mundo isto magnam quamdam, et horribilem omnium rerum confusionem, et infinitam humanarum mentium distractionem; sursum autem apud Deum perpetuam et inconcussam stabilitatem. »Vollkommene Verwirrung in der überfluteten Welt unten, und kristallene Stille in Gott [. . .]« post haec imaginemur quasi humanum animum de hoc mundo sursum ad Deum ascendentem, et in ascendendo magis semper ac magis in unum sese collegentem [. . .] »während der Leser sich von hier nach dort bewegt, sammelt er sich [. . .]« tunc spiritualiter videre poterimus formam arcae nostrae, quae in imo lata fuit, et sursum in angustum surrexit »[. . .] und wird sich dessen bewußt, daß seine Arche auf den Wassern wogt [. . .]« similiter enim nos de hoc profundo, de hac convalle lacrymarum per quaedam incrementa virtutum, quasi per quosdam gradus in corde nostro dispositos, ascendentes paulatim in unum colligimur, quousque ad illam simplicem unitatem et veram simplicitatem, aeternam stabilitatem, quae apud Deum est, pertingamus »[. . .] und steigt, Stufe für Stufe, in seinem Herzen aufwärts.« 112 Daß der Palast durch das Bild der Arche, die auf dem Wasser treibt, das die Flut der Sünde gebracht hat, ersetzt wird, führt dazu, daß sich sogar die Vorstellung von memoria wandelt. Die Arche steht für ein Gespinst von Ereignissen, die im Alten Testament angedeutet sind, mit der Ankunft Christi zur 155 irdischen Wirklichkeit wurden und weiter auf die Apokalypse zutreiben. Hugo sucht Zuflucht auf diesem Schiff der Erlösung. Et sicut in diebus Noe aquae diluvii universam terram operuerunt, sola autem arca aquis superferebatur, et non solum mergi non poterat, verum etiam quanto amplius aquae intumesce-bant, tanto altius in sublime elevabatur, ita et nunc intelligamus in corde hominis concupiscentiam hujus mundi esse, quasi quasdam aquas diluvii arcam vero, quae desuper ferebatur, fidem Christi, quae transitoriam delectationem calcat, et ad ea quae sursum sunt, aeterna bona anhelat (Arca Noe morali, IV, 6; PL 176, 672d-673a). »Und wie in den Tagen Noahs, als die Wasser der Sintflut die ganze Erde bedeckten, allein die Arche von den Wassern getragen wurde und nicht nur unsinkbar war, sondern sogar höher stieg, wenn die Wasser stiegen, so laßt uns nun uns vorstellen, daß das Verlangen dieser Welt im Herzen der Menschen gleichsam das Wasser der Flut sei, und die Arche, die von ihm getragen wird, der Glaube Christi, der die vergänglichen Freuden niedertritt und die ewigen Wohltaten anstrebt, die in der Höhe sind.« (Übers. nach Hugh of St. Victor, Selected Spiritual Writings, S. 138f.) Die Gier nach dem Irdischen im Herzen der Menschen ist die Sintflut; die Aufnahme der Arche der historia in das Herz des Lesers schafft ihm einen Zufluchtsort innerhalb der Heilsgeschichte. In omni enim homine, quamdiu in hac vita corruptibili vivit, ubi caro concupiscit adversus spiritum, hoc diluvium est; velpotius omnis homo in hoc diluvio est, sed boni in eo sunt sicut ii, qui in mari portantur a navibus, mali vero in eo sunt sicut naufragi, qui volvuntur in fluctibus; [. . .] sola ergo navis fidei mare transit, sola arca diluvium evadit, et nos si salvari cupimus non solum ipsa in nobis sit, sed nos in ipsa oportet maneamus (Arca Noe morali, IV, 6; PL 675b-c). »Für jeden Menschen ist, solange er in diesem verdorbenen Leben lebt, in dem das Fleisch gegen den Geist kämpft, das die Flut; und jeder Mensch befindet sich in dieser Flut. Die Guten sind wie jene, die in einem Boot über die Wasser getragen werden, die Bösen wie jene, die schiffbrüchig sind und ertrinken. Allein dem Schiff des Glaubens gelingt es, dieses Meer zu überqueren, allein die Arche entkommt der Flut, und wenn wir gerettet werden wollen, genügt es nicht, die Arche in unserem Herzen zu
tragen - wir müssen auch in ihr verharren.« 113 Hugos Originalität liegt in seiner Forderung, der Leser müsse sich diese Arche im Verstand aufbauen und dann darin leben wie in einem geistigen Zuhause. Die Vorstellung, daß der Kosmos mit der heiligen Geschichte als Zeitachse dargestellt werden kann, ist in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts häufig. Friedrich OHLY, Die Kathedrale als Zeitenraum: zum Dom von Siena, in: ders., Schriften, Darmstadt 1972, S. 171-273, untersucht sehr detailliert, wie eben dieses Konzept in der Architektur und Ausschmückung des Doms von Siena dargestellt ist. Die Innenarchitektur des Doms, die graphische Darstellung der Welt und die ikonographischen Darstellungen am Kirchenportal wurden in der Absicht konstruiert, die Zeitachse der heiligen Geschichte greifbar zu machen. Mittelalterliche geographische Karten wurden zu einem 156 ähnlichen Zweck verwendet. Anna Dorothea von den BRINCKEN, Mappa Mundi und Chronographie. Studien zur imago mundi des Mittelalters, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), S. 118-186, bes. S. 125-61, zeigt, daß der Zweck von Karten darin lag, »den Ablauf der Weltgeschichte in Verbindung mit einer Beschreibung des ganzen historischen Raumes darzustellen.« Während des 12. Jahrhunderts hatte das Tympanon (das ausgeschmückte Bogenfeld über dem Türsturz) des Haupteingangs den gleichen Zweck. Siehe e.g. Joseph Anton ENDRES, Das Jakobsportal in Regensburg und Honorius Augustodunensis. Ein Beitrag zur Ikonographie und Liturgiegeschichte des 12. Jahrhunderts, Kempten 1903. Dieses Portal stellt in Stein die imago mundi von Honorius Augustodunensis dar, das ausführlichste Werk des sehr frühen 12. Jahrhunderts zur Übereinstimmung zwischen Makro- und Mikrokosmos. 114 DF VI, 2, S. 185 (DT VI, 2, S. 135). 115 DB VI, 2, S. 113. 116 Henri du LUBAC, Hugues de Saint-Victor: les mamelles trop pressées, in: ders., Exégèse médiévale: les quatre sens de l'écriture, 1. Bd., Paris 1961, S. 301-17. 117 Hugo entnimmt diesen Satz unmittelbar dem Werk »De oratore« von Cicero (2, 9, 38). DT VI, 10, S. 148-49. 118 DF VI, 3, S. 186 (DT VI, 3, S. 136). Quorum scientia formae asini similis est. noli huismodi imitari (DB, S. 114). 119 DF VI, 3, S. 186 (DT VI, 3, S. 136f): Ut videlicet prius historiam discas et rerum gestarum veritatem, a principio repetens usque ad finem quid gestum sit, quando gestum sit, ubi gestum sit, et a quibus gestum sit, diligenter memoriae commendes. [. . .] neque ego te perfecte subtilem posse fieri puto in allegoria, nisi prius fundatus fueris in historia (DB, S. 113f.) Marie-Dominique CHENU, La Décadence de l'allégorisation. Un témoin, Garnier de Rochefort, in: L'Homme devant Dieu. Mélanges de H. Lubac, Bd. 2, Paris 1964, S. 129-136. Dieses Bestehen auf das buchstäbliche Lesen der biblischen Geschichte steht im Widerspruch zur Tendenz zu wilden moralischen Analogien, die für viele zisterziensische Autoren der zweiten Generation typisch waren. 120 »De scripturis«, Kap. 5; PL 175, 14-153. 121 DB VI, 4, S. 118. Solidus est cibus iste, et, nisi masticetur, transglutiri non potest. »Diese Speise ist nämlich eine kräftige; wenn sie nicht gehörig gekaut wird, kann sie nicht heruntergeschluckt werden.« (DF VI, 4, S. 190; DT, S. 139). 122 »De sacramentis«, lib. I prol. cap. 4; PL 176, 185: Historia est rerum gestarum narratio, quae in prima significatione litterae continetur; allegoria est cum per id, quod factum dicitur, aliquid aliud factum sive in praeterito, sive in praesentia, sive in futuro
significatur. Tropologia est, cum per id quod factum dicitur, aliquid faciendum esse significatur. 157 123 Natura. exercitium und disciplina sind die drei Begriffe, deren relative Bedeutung in der lateinischen didaskalischen Tradition unter anderem diskutiert wird von Cicero, »De oratore«, III, v. 1; Augustinus, »De civitate Dei«, II. 25, Boethius, »In topica Ciceronis commentaria«, VI, PL 64, 1168 C. In dieser Trias meint natura die dem Verstand innewohnende Eigenschaft, ingenium. Zu Hugos Gebrauch des Terminus natuira siehe sein eigenes Kapitel hierzu: DB I, 10 und den Kommentar in DT, S. 193ff. Das Wort disciplina, das Hugo statt des gebräuchlicheren »Kunst«, ars, verwendet, deutet auf eine Akzentverschiebung in didascalica von der Lesekunst, die der angehende Redner brauchte, zur moralischen Vortrefflichkeit, die der Mönch anstrebte. 124 Mores cum scientia componant, »Sie sollen die richtige Lebensart mit ihren Studien verbinden.« Das lateinische mores ist noch immer dem näher, was wir »Gewohnheiten« oder »Lebensweise« nennen würden, als unserem Begriff »Moral«. 125 DF III, 7, S. 121 (DT III, 6, S. 90): Triasunt [. . .] necessaria: natura, exercitium, disciplina, in natura consideratur ut facile audita percipiat et percepta firmiter retineat; in exercitio, ut labore et sedulitate naturalem sensum excolat; in disciplina, ut laudabiliter vivens mores cum scientia componat. DB III, 6, S. 57. Siehe auch PL 176, 93 3 ff. »De meditatione seu meditandi artificio opusculum aureum« - diese Schrift bietet eine prägnante Sequenz von Kommentaren zur Meditation. 126 Cogitatio frequens cum consilio (DT, S. 92; DB, S. 59). Ich würde folgende Übersetzung bevorzugen: »Meditation ist wohlüberlegtes und anhaltendes Nachdenken.« In seiner Abhandlung über die Gaben des Heiligen Geistes stellt Hugo consilium als Aufblühen einer Tugend dar. A. GARDEIL, Dons du Saint Esprit, in: Dictionnaire de théologie catholique, Bd. 4 (1939), Sp. 1728-1781, untersucht die Geschichte dieser Doktrin und Hugos Beitrag zu deren Entwicklung. Diese sieben Gaben werden als »Aufblühen« der natürlichen Tugenden betrachtet, die Aristoteles definiert hatte, und die den Frommen als freie Gabe Gottes zuteil werden. Siehe auch: Marie-Thérèse de ALVERNY, La Sagesse et ses sept filles. Recherches sur les allégories de la philosophie et des arts libéraux du IXe siècle, in: Mélanges F. Grat, Bd. 1, Paris 1946, S. 245-278. 127 DF III, 11, S. 124-25 (DT III, 10, S. 92-93): Meditatio principium sumit a lectione, nullis tamen stringitur regulis aut praeceptis lectionis. delectatur enim quodam aperto decurrere spatio, ubi liberam contemplandae veritati aciem affigat, et nunc has, nunc illas rerum causas perstringere, nunc autem profunda quaeque penetrare, nihil anceps, nihil obscurum relinquere. principium ergo doctrinae est in lectione, consummatio in meditatione (DB, S. 59). 128 DF III, 11, S. 125 (DT III, 10 S. 93): Quam si quis familiarius amare didicerit eique saepius vacare voluerit, iucundam valde reddit vitam, et maximam in tribulatione praestat consolationem (DB, S. 59). 158 129 DB III, 14, S. 64: Studium quaerendi ad exercicium pertinet. 130 DB III, 14, S. 64: In quo (studio) exhortatione magis quam doctrina lector indiget. 131 DB III, 14, S. 65: Sola Abisac Sunamitis senem David calefecit quia amor sapientiae etiam marcescente corpore dilectorem suum non deserit.
132 DB VI, 3, S. 115: Omnia disce, videbis postea nihil esse superfluum. coarctata scientia iucunda non est. 133 O hätte ich Flügel wie die Taube! Wie wollte ich fliegen, bis ich Ruhe fände! (Zwingli-Bibel, Psalm 55,7) 134 Zitate siehe Joseph BALOGH, Voces Paginarum, in: Philologus 82 (1926-1927), S. 84-109 und 202-240. 135 Oder er sieht seinen Verstand sogar als einen Zustand, »that ink may character«, wie W. McCULLOCH, Embodiments of Mind, Cambridge 1965, S. 387-98, meint. 136 Giles CONSTABLE, Monachisme et pèlerinage du moyen âge, in: Revue historique 101 (1977), S. 3-27. 137 Ore sine requie sacra verba ruminans, Petrus Venerabilis, »De Miraculis« I, 20; PL 189, 887 A. 138 In morem apis psalmos tacito murmure continuo revolvens, »Vita Joannis abbatis Gorziensis«; PL 137, 280 D. 139 C. GINDELE, Bienen-, Waben- und Honigvergleiche in der frühen monastischen Literatur, in: Review of Benedictine Studies 6-7 (1977-1978), S. 1-26, stellt fest, daß seit der Antike Metaphern aus der Sprache der Imkerei für geistige Erfahrungen dann auftauchen, wenn neue Mönchsgemeinschaften aus alten Einsiedeleien entstehen. In der Antike galt Honig als eine Art himmlischen Taus, der von den Bienen gesammelt wurde. Zucker war so gut wie unbekannt, und Honig bot die intensivste Süße nach dem Apfel. Sein Gegensatz ist der bittere Geschmack von Hölle und Galle. W. ARMKNECHT, Geschichte des Wortes »Süß«; bis zum Ausgang des Mittelalters, Germanische Studien 171, Berlin 1936. 140 Vgl. auch: Chronicon Centulense IV 10 (PL 174, 1319b) und IV 26: Divini verbi favos sibi congerabat (ibid. 1346). 141 Iucunda ruminatio psalmodiae; der Vergleich zwischen meditierendem Mönch und Kuh, Schaf oder Ziege beim Grasen ist ein kontinuierliches Motiv. J. LECLERCQ (Franz. Version, Fn. 42) zitiert aus einem anonymen Mariale des 12. Jahrhunderts (ms. Paris B.N. lat. f. 58v): Monachus in claustro iumentum est Samaritani in stabulo: huic foenum apponitur in praesepie dum assidue ruminando imitatur memoria Jesu Christi. »Ein Mönch in seinem Kloster ist wie das Vieh des Samariters im Stall. Dem einen wird in seiner Bucht Heu gegeben; der andere kaut unermüdlich und nährt sich an der Erinnerung an Jesus Christus.« HAUSHERR zitiert eine ähnliche Aussage eines griechischen Mönchs: »Ein alter Mann sagte: Der Schäfer gibt seinen Schafen gutes Futter, aber sie fressen auch viele der Unkräuter, die sie finden. Wenn sie Brennesseln 159 schlucken, suchen sie Gras zum Wiederkäuen (anamerychatai), bis das Bittere der Nesseln schwindet. In der gleichen Weise ist das Meditieren über die Heilige Schrift ein gutes Mittel gegen den Angriff von Dämonen.« Irénée HAUSHERR, The Name of Jesus, Kalamazoo 1978, S. 176. 142 Soporifera ruminatione gustando. 143 Mit »Süße« ist vor allem eine angenehme Erfahrung der Zunge, des Ohrs oder sogar des Tastsinns gemeint. Im ersten Jahrtausend wird es von christlichen Autoren für den Geschmack des Wortes verwendet. Erst während des späteren Mittelalters findet eine Bedeutungsverschiebung statt, hin zu einer bestimmten Speisen innewohnenden Eigenschaft. Der Honig ist nun nicht mehr so süß wie Gottes Wort, aber fast so süß wie Zucker. Friedrich OHLY, Geistige Süße bei Otfried, in: ders., Schriften, Darmstadt 1977, S. 93-127, bes. S. 98ff. Joseph ZIEGLER, Dulcedo Dei. Ein Beitrag zur Theologie der
griechischen und lateinischen Bibel, Alttestamentliche Abhandlungen 13,2, Münster 1937. ARMKNECHT, Geschichte des Wortes »Süß«. 144 Während des 12. Jahrhunderts beobachtete man zunehmend die das Lesen begleitenden körperlichen Widerspiegelungen geistiger Erfahrungen. Karl RAHNER, Le début d'une doctrine des cinq sens spirituels, chez Origène, in: Revue d'ascétique et de mystique 13 (1932), S. 113-145, behandelt die Wurzeln dieser Doktrin bei Origines. Ders., La doctrine des sens spirituels au moyen âge, en particulier chez Saint Bonaventure, in: Revue d'ascétique et de mystique 13 (1932), S. 263-299, gibt einen Überblick über spätere Wahrnehmungen und Ausfeilungen dieser Doktrin. 145 Geschmack und Geruch wurden nicht eindeutig unterschieden, aber viel klarer als Ergebnis des Empfindens während des gefühlvollen Nachdenkens oder während des meditativen Lesens ausgedrückt. Der Wortschatz für Gerüche und Düfte war in den Mundarten des Mittelalters viel reicher als in den modernen europäischen Sprachen. Artur KUTZELNIGG, Die Verarmung des Geruchswortschatzes seit dem Mittelalter, in: Muttersprache 94 (1983-1984), S. 328-346. 146 Plinius 17, 169 zitiert von A. ERNOUT/A. MEILLET, Dictionnaire étymologique de la langue latine: histoire des mots, Paris 1967, S. 474. 147 Jean LECLERCQ, The Love of Learning and the Desire for God, New York 1982, bes. »Lectio and Meditatio«, S. 15 - 17 und 87ff., ist noch immer die lesenswerteste und geschlossenste Beschreibung des monastischen Lesens. 148 ERNOUT/MEILLET, Dictionnaire étymologique, S. 508, laut Cicero (Farn 9, 7, 1) bedeutet diligere, das den gleichen Stamm hat, weniger leidenschaftlich »lieben« als amare. Laut Isidor von Sevilla (Diff. 1, 17) fügt diligere zu amare die explizite Wahl des anderen als jemand, den ich »aufnehme« hinzu. 149 Vergil und Cicero betonen diesen Zusammenhang. ERNOUT/MEILLET, Dictionnaire étymologique, S. 507 ff. 150 Von mater, Mutter-Teil des Baums, als Baumaterial verwendet. 160 151 F. KLUGE, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 18. Aufl., Berlin 1960. Das Kompositum »Buch-Stabe« entstand, als man anfing, Zeichen auf Pergament zu schreiben statt auf Holztafeln oder Steinplatten. »Buchstaben lesen« konnotierte das Sammeln von mit Runen beschriebenen Stäben, eine Tätigkeit, die mit der Weissagung zusammenhing. 152 Review of Benedictine Studies 6-7 (1977-1978) und 10 (1981), verfolgt die literarische Überlieferung der Begriffe audire, edificare, memoria und vacare zurück. 153 B. CALATI, La lectio divina nella tradizione monastica benedettina, in: Benedictina 28 (1981), S. 407-438, ist ein guter Leitfaden. Siehe auch: A. WATHEN, Monastic Lectio: Some Clues from Terminology, in: Monastic Studies 12 (1976), S. 207-216. PC. SPAHR, Die lectio divina bei den alten Cisterciensern. Eine Grundlage des cisterciensischen Geisteslebens, in: Analecta Cisterciensia 34 (1978), S. 27-39. M. VAN AASCHE, Divinae vacari lectioni, in: Sacris Erudiri I (1948), S. 13-14. 154 LECLERCQ, The Love of Learning, bes. S. 37-80. 155 Zu der Schwierigkeit für einen modernen Leser, die Bedeutung von Begriffen wie »work, labour, toil« zu erfassen, siehe ILLICH, Shadow Work, S. 123ff.; Literaturangaben sind dort zu finden. 156 Recto tono. 157 Die Geschichte dieser Lebensweise und deren Entstehung wird anhand von Texten geschildert und reich ausgeschmückt in Jean LECLERCQ, L'Amour des lettres et le
désir de Dieu: Initiation aux auteurs monastiques du moyen âge, Paris 1957. [Dt. Übers.: Wissenschaft und Gottverlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963.] 158 In den griechischen und russischen Kirchen liegt die enge Verbindung von Wort und Atem im murmelnden Gebet, und gilt noch heute als anerkannter und geschätzter Weg der »Pilgerschaft durch das Leben«. Siehe HAUSHERR, The Name of Jesus, bes. S. 174, zum Murmeln in der Tradition des griechischen Mönchtums. 159 George STEINER, Our Homeland the Text, in: Salmagundi 66 (1985), S. 4-25. 160 B. GERHARDSON, Memory and Manuscript: Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity, Uppsala 1961. 161 STEINER, Homeland, S. 12. 162 Marcel JOUSSE, L'Anthropologie du geste, Paris 1974. Jousse war ein in Beirut stationierter Jesuit, der sein ganzes Leben mit der Erforschung des leiblichen Aufnehmens semitischer sprachlicher Äußerungen zubrachte. Er erforschte zuerst den Zusammenhang zwischen Bewegung und Erinnerung: ders., Le Style oral rythmique et mnémotechnique chez les verbo-moteurs, in: Archives de Philosophie 2 (1924), S. 1240, und dann das dis-symmetrische, bilaterale Wesen dieser Bewegungen und ihren Zusammenhang mit dem 161 Sprechrhythmus: ders., Le Bilatéralisme humain et l'anthropologie du langage, in: Revue anthropologique (August-September 1940), S. 1-30. Sein Einfluß auf den jungen Millman Parry brachte diesen dazu, seine Theorie über die Oralität zu entwickeln. 163 »Corporage« ist der Terminus, den Marcel JOUSSE, La Manducation de la parole, Paris 1975, verwendet. 164 DF III, u , S. 125 (DT III, 10, S. 93): Quam si quis familiarius amare didicerit eique saepius vacare voluerit, iucundam valde reddit vitam (DB S. 59). 165 Das klassische Latein besitzt, wie das moderne Englisch, das Nomen vacatio mit der Bedeutung »Freiheit, Befreiung, Immunität« (Oxford Latin Dictionary). Hugo benutzt nicht dieses Nomen, sondern das entsprechende Verb. 166 Rufinus, »Historia Monachorum« I; PL 21, 391b. 167 Seneca, Ad Serenum de otio (Dialogi VIII), 7,1: Praeterea tria genera sunt vitae [. . .] unum voluptati vacat, alterum contemplationi, tertium actioni. 168 Sapientiae vacant. 169 »Vocatur ad otium«, Augustinus; PL 34, 151 n 65. 170 Georges FOLLIET, »Deificare in otio«. Augustin, Epistula X,2, in: Recherches Augustiniennes 2, Hommage au R. P Fulbert Cayrè (1962), S. 225-236. 171 Olio literato vacari. 172 Super modiim lectioni vacabat, 173 DF III, II, S. 125 (DT III, 10, S. 93): Ea enim maxime est, quae animam terrenorum actuum strepitu segregat, et in hac vita etiam aeternae quietis dulcedinem quodammodo praegustare facit (DB S. 59). 174 Über die Gaben des Geistes. 175 Übers. nach DT III, 10, S. 93. Cumque iam per ea quae facta sunt eum qui fecit omnia quaerere didicerit et intelligere, tunc animum pariter et scientia erudit et laetitia perfundit, unde fit ut maximum in meditatione sit oblectamentum (DB S. 59). 176 Diese Theologie ist immer zuallererst historia: (the sense of history which Hugh shows in his writings was characteristic of a particular segment of 12th-century society: monks and canons regular. History had no place in the liberal arts and consequently in
the later university curriculum [. . .] The masters in the schools tended to move away from the practice of integral biblical reading in lectio divina with its historical frame to a program oriented around collections of quaestiones covering theological topics in a systematic, objective manner [. . .] Abelard [. . .] broke decisively with any notion of an historical economy for divinitas [. . .] to be logically consistent, statements of faith must be constant through the ages, a position counter to that embraced by Hugh [. . .] for the dialecticians the tense of the verb was incidental, not essential.« ZINN Jr., Historia, S. 135-58. 162 177 Iam per ea quae facta sunt, eum qui fecit omnia quaerere didicerit. DB III, 10, S. 59. 178 Animum scientia erudit. DB III, 10, S. 60. 179 Maximum [. . .] oblectamentum. DB III, 10, S. 60. 180 Jaques ROUSSE/Herman Joseph SIEBEN, Lectio divina et lecture spirituelle, in: Dictionnaire de spiritualité, Bd. 9 (1975), Sp. 470-487. Im ersten Teil dieses Artikels wird die Transformation, die ich hier darstelle, ausführlich behandelt. Zur Einfuhrung in die benediktinische Tradition in den hochmittelalterlichen Zisterzienserklöstern siehe: SPAHR, Lectio, S. 27-39. Zur früheren Geschichte: Ursmer BERLIERE, Lectio divina, in: L'Ascèse bénédictine des origines à la fin du XIIe siècle. Collection Pax, Maredsous 1927. 181 Jean LECLERCQ, Les Caractères traditionels de la lectio divina, in: ders., La Liturgie et les paradoxes chrétiens, Paris 1963, S. 243-257. 182 »De arca Noe moralia«, IV, 6 (PL 176, 672c): Reprobi dum temporalibus inhiant, cognitionem aeternorum perdunt. Electi autem, dum temporalia Dei bénéficia recolunt, ad agnitionem aeternorum proficiunt. »Die Verworfenen verlieren, während sie nach vergänglichen Dingen lechzen, die Vorstellung von den ewigen; die Auserwählten aber schreiten, während sie die vergänglichen Wohltaten Gottes überdenken, zur Erkenntnis der ewigen.« 183 Affectus. 184 Die Seite wird zum »Objekt«, Gegenstand - und ihr Inhalt zum »Stoff«. L. DEWAN, Obiectum. Notes on the Invention of a Word, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 48 (1981), S. 37-96, untersucht, wie der Terminus obiectum um 1220 gebräuchlich wurde. 185 Jan PINBORG, Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 42, 2. Aufl. Münster 1979, S. 58-59. Siehe auch ders., Medieval Semantics. Selected Studies on Medieval Logic and Grammar, Collected Studies Series 195, hg. v. Sten Ebbesen, London 1984. 186 Karl HEISIG, Muttersprache: Ein romanistischer Beitrag zur Genesis eines deutschen Wortes und zur Entstehung der deutsch-französischen Sprachgrenze, in: Muttersprache 22 (1954), S. 144-174. Die Römer kannten den patrius sermo, die Redeweise des Vaters, die die Herkunft eines Mannes verriet. Die Bindung zwischen Mutterschaft und Mundart wurde erstmals am Oberrhein im späten 9. Jahrhundert festgestellt, und zwar im Zusammenhang mit Grundbesitzstreitigkeiten zwischen der Abtei von Gorze und benachbarten Klöstern. Der Terminus »Muttersprache« wird in Urkunden des 12. Jahrhunderts selten verwendet und meint immer eine Redeweise, sermo, im Unterschied zur lingua, der lateinischen Sprache. 187 BÄUML, Übergang, S. 1-10. Franz H. BÄUML/Edda SPIELMANN, From Illiteracy to Literacy: Prologomena to a Study of the Nibelungenlied, in: Oral Literature. Seven Essays, hg. v. Joseph J. Duggan. London 1975, S. 62-73.
163 188 Mit der Geschichte der Teilnahme der Bevölkerung an der Messe während des Mittelalters beschäftigt sich A. FRANZ, Die Messe im deutschen Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Liturgie und des religiösen Volkslebens. Freiburg/Br. 1902. 189 Unter den Zisterziensern wurde das Gebot des Schweigens so rigoros durchgesetzt, daß eine komplexe Zeichensprache erfunden wurde: Robert Z. BARAKAT, The Cistercian Sign Language: A Study in Non-Verbal Communications, Cistercian Studies Series No. 11, Kalamazoo, Michigan 1975. 190 Als Einführung in die Geschichte der monastischen Hören siehe Josef A. JUNGMANN, Christian Prayer through the Centuries, New York 1978. Zur Orientierung über die reichhaltige ältere Literatur Henry LECLERCQ, Bréviaire, in: Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie, Bd. 2 (1925), Sp. 1262-1316. 191 P. RICHÉ, La vie quotidienne dans les écoles monastiques d'après les colloques scolaires, in: Sous la règle de Saint Benoît. Structures monastiques et sociétés en France du Moyen-Age à l'époque moderne (Hautes études médiévales et modernes 47), Genf/Paris 1981, S. 417-426. 192 Als Orientierung zur Geschichte des lateinischen Kirchengesangs: Willi APEL, Gregorian Chant, Champaign 1958. Zur musikwissenschaftlichen Archäologie des Kirchengesangs: Henry LECLERCQ, Chant romaine et grégorien, in: Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie, Bd. 3 (1913), Sp. 256-311. Vervollständigt von A. GATARD, Chant Grégorien du 9e au 12e siècle, in: Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie, Bd. 2 (1913), Sp. 311-321. 193 Zur Terminologie George GROVE, A Dictionary of Music and Musicians, New York 1880, bes. Bd. 2, S. 760-69. 194 GROVE, Dictionary, Bd. 1, S. 17. 195 C. GINDELE, Die Strukturen der Nokturnen in den lateinischen Mönchsregeln vor und um St. Benedikt, in: Revue bénédictine 64 (1954), S. 9-27. 196 Lucas JOCQUÉ/Ludovicus MILIS (Hg.), Liber ordinis Sancti Victoris Parisiensis, Corpus Christianorum: Continuatio Medievalis 41, Turnholti 1984, S. 136-38. 197 Postet tarnen frater, qui circuit, facto modesto signo, infirmes, si dormierint, excitare. JOCQUÉ/MILIS, Liber ordinis, S. 138, Zeile 39-40. 198 F. GASPARRI (Hg.), L'Enseignement de l'écriture à la fin du moyen âge: Apropos du tractatus in omnem modum scribendi, MS 76 de l'abbaye de Kremsmünster, in: Scrittura e civilità 3 (1979), S. 243-265. 199 Wer sich mit der traditionellen chinesischen Kalligraphie beschäftigt, lernt Ideogramme auswendig, beabsichtigt aber nicht, eine Sprache zu lernen. Wer sich mit den Rudimenten von Devanagari, dem der Aufzeichnung von Sanskrir dienenden Silbensystem, beschäftigt, wird üblicherweise aufgefordert, darauf zu achten, wie seine Sprechorgane die verschiedenen Laute und Sandhis 164 (Ligaturen) produzieren. Wer semitische Sprachen, z. B. Hebräisch oder Arabisch, lernt, kommt den Erfahrungen des Klosterschülers nahe; aber er beschäftigt sich selbstverständlich nicht mit Zeichen, die für die Intonation, die Vokallaute, stehen. 200 Carlo BATTISTI, Secoli illetterati. Appunti sulla crisi del latino prima délia riforma carolingia, in: Studi medievali (1960), S. 369-396. Nach E. PULGRAM, Spoken and Written Latin, in: Language 26 (1950), S. 458-466. Nach dem Jahr 1000 hatte die Aussprache des Lateinischen keinen Einfluß mehr auf die lateinische Orthographie. Roger WRIGHT, Speaking, Reading and Writing Late Latin and Early Romance, in:
Neophilologus 60 (1976), S. 178-189. 201 ILLICH, Shadow Work. Siehe zur ersten Grammatik einer gesprochenen europäischen Sprache, der »Gramática Castellana« von E. A. NEBRIJA, 1492 herausgegeben, besonders das zweite und dritte Kapitel. 202 GHELLINCK, Table des matières, S. 270-89 und S. 283-96. Die erste Erwähnung des »Didascalicon« nach incipit. 203 R. GOY, Die Überlieferung der Werke Hugos von St. Viktor. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 14., Stuttgart 1976. Eine wichtige Untersuchung aller Manuskripte Hugos. 204 Noch immer erfreulich zu lesen: Charles H. HASKINS, The Life of Medieval Students Illustrated by Their Letters, in: The American Historical Review 3 (1897-1898), S. 203-229. [Jetzt in: ders., Studies in Medieval Culture, New York 1929, Reprint 1965, S. 1-35.] 205 Multi sunt quos ipsa adeo natura ingenio destitutes reliquit (DB S. 1). 206 licet suam hebetudinem non ignorent (DB S. 1). 207 studio insistentes (DB S. 1). 208 Übers. nach DT, Vorwort, S. 43. 209 Ich gehe davon aus, daß Hugo das Vorwort hinzugefügt hat, nachdem sein »Didascalicon« schon ein paar Jahre im Umlauf gewesen war. Der erste Satz dieses Vorworts klingt, als würde der Autor das Buch verteidigen gegen die Vorstellung einer seltsamen - und wenig bekannten - akademischen Sekte, die Cornificiani, Diese vertraten die Ansicht, daß Lerndisziplin für Unbegabte sinnlos und für Begabte überflüssig war. Siehe Daniel McGARRY, The Metalogicon of John of Salisbury, Berkeley 1955, S. 9-33. 210 Übers. nach DT, Vorwort, S. 43. 211 DB, praefatio, S. 1: non eadem tarnen omnibus virtus aut voluntas est per exercitia et doctrinam naturalem sensum excolendi. Zur Bedeutung von exercitium, exercitia Jean LECLERCQ, Exercices spirituels; antiquité et haut moyen âge, in: Dictionnaire de spiritualité, Bd. 4 (1960), Sp. 1903-1908. 212 Übers. nach DT, Vorwort, S. 43. 213 negoia: neg-otium ist die Negation von Muße, otitim. In diesem Kontext 165 bedeutet es die Wahl einer Lebensart, die das Gegenteil der des Mönches ist, der sich der Muße (otium) hingibt (vacat). 214 Mt. 25, 18. 215 Übers. nach DT, Vorwort, S. 43. 216 DB, praefatio, S. 1 217 census, Vermögen, Besitz. 218 Übers. nach DT, Vorwort, S. 43-44. 219 torpere otio. Übers. nach DT, Vorwort, S. 44. 220 Siehe PL 176, Sp. 928 A. ANSELM OF HAVELBERG, »Epist. Apologetica« (PL 188, 1229a): Der Regularkanoniker, »im Allgemeinen von einfachen Leuten gesucht, wird gewählt und angenommen, und wie eine Laterne, die einen dunklen Ort beleuchtet, wird er, der durch Wort und Beispiel lehrt, geliebt und geehrt.« Siehe auch: G. SEVERINO, La discussione degli ordines di Anselmo de Havelberg, in: Bolletino dell'Istituto Storico Italiano per il Medioevo e Archivo Muratoriano 78 (1967), S. 75-122. 221 Zur Geschichte des Klosters von St. Viktor: Fourier BONNARD, Histoire de l'Abbaye Royale et de l'ordre des Chanoines Réguliers de St.-Victor de Paris. Première période
1013-1500, Paris 1907. Zu Hugos »Didascalicon« im Zusammenhang mit den neuen Lehrmethoden: CHATILLON, Didascalicon, S. 63-76. 222 Caroline Walker BYNUM, Docere verbo et exemple: An Aspect of Twelfth-Century Spirituality, in: Harvard Theological Studies 31, Missoula 1979, und dies., The Spirituality of Regular Canons in the 12th Century: A New Approach, in: Medievalia et Humanistica, New Series 11 (1973), S. 3-24. Der wesentliche Unterschied zwischen Kanonikern und Mönchen besteht nicht darin, daß die Kanoniker das Recht oder die Pflicht beanspruchen, zu predigen, und auch nicht darin, daß sie die Predigten in ihren Abhandlungen de institutione noviciorum häufiger behandeln, sondern in ihrer Behauptung, educare verbo et exemplo sei eine wesentliche Komponente ihrer Lebensweise. Siehe auch Marie-Dominique CHENU, Moines, clercs, et laïcs au carrefour de la vie évangélique, in: Revue d'histoire ecclésiastique 49 (1954), S. 59-80. E. W. McDONNELL, The Vita Apostolica: Diversity or Dissent, in: Church History 24 (1955), S. 15-31. Zoltan ALSZEGY, Die Théologie des Wortes bei den mittelalterlichen Theologen, in: Theologie und Predigt (1958), S. 233-257. 223 Hugo, De hist., Vorwort PL 176, 925-26. Aelred, Speculum 1, 3-5, Sp. 507-10. Zum Weg »aus der Verstellung« zur Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes im Leser in der Schule von St. Viktor siehe Robert JAVELET, Image et ressemblance au XIIe siècle de St. Anselm à Alain de Lilie, 2 Bde, Paris 1967, Bd. 1: S. 266-69 und Anmerkungen; Bd. 2: S. 288ff. 224 docere, im Kirchenlatein »lehren«, hatte nun vor allem die Bedeutung »predigen« angenommen. Instruere, »unterrichten«, gelegentlich auch insti166 tuere, (an)ordnen, verwendete man fur die Anleitung eines Schülers durch einen Lehrer. Obwohl Hugo beide Begriffe benutzt, nennt er die Aufgabe des Klerikers aedificare, »erbauen«. 225 Übers. nach DT, Vorwort, S. 45. Deinde docet qualiter legere debear sacram scripturam is qui in ea correctionem morum suorum et formam vivendi querit (DB S. 3). 226 Marie-Dominique CHENU, Civilisation urbaine et théologie. L'École de Saint-Victor au XIIe siècle, in: Annales: Economies, Sociétés, Civilisations 29 (1974), S. 1253-1263. 227 Eine Untersuchung der Terminologie der Benediktinerregel zeigt, daß nicht educare, sondern regere (lenken), servire (dienen) oder instruire (unterweisen) Aufgaben des Lehrers sind. B. JASPERT, La tradizione litteraria dei termini audire, aedificare, memorare, vacare, in: Review of Benedictine Studies 6-7 (1977-1978) und 10 (1981). A. GRÜN, Benediktinische Erziehung. EA 53 (1977), S.323-331. 228 MARROU, Saint Augustin. 229 Melchoire VERHEIJEN, Praeceptum, Paris 1967, I, S. 426-28, bes. 1. 115-19. 230 VERHEIJEN, Praeceptum, S. 423, Zeile 78-83. 231 Siehe BYNUM, Spirituality, S. 15. 232 Benediktinerklöster nahmen gelegentlich Schüler auf, die keine Mönche werden würden. Kanoniker eröffneten als erste in ihren Klöstern Schulen für solche Schüler. R. GRÉGOIRE, Scuola e educazione giovanile nei mona-steridalsec. IV al XII, in: Esperienze di pedagogia cristiana nella storia I, 1983, S. 9-44. Richard W. SOUTHERN, The Schools of Paris and the School of Chartres, in: Renaissance and Renewal in the 12th Century, hg. v. R. L. Benson/Giles Constable, Cambridge, Mass. 1982, S. 113-137. 233 Marie-Dominique CHENU, L'Éveil de la conscience dans la civilisation médiévale, in: Conférence Albert le Grand 1968, Montréal 1969, S. 10ff. und S. 36ff. 234 Richard W. SOUTHERN, The Making of the Middle Ages. 16. Aufl., New Haven
1976 (Orig. Aufl. 1953). [Dte. Übers.: Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Das Abendland im 11. und 12. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1980.] 235 Ich würde Einsteins Terminus »Spime«, d. h. »space-time« (Raum-Zeit) verwenden, wenn er nicht schon von der Physik besetzt wäre. 236 HAVELOCK, Literate Revolution, ist eine Sammlung von Aufsätzen, in denen eben dieser Punkt erörtert wird. 237 CHENU, L'Éveil, S. 37. 238 Claustrum animae. 239 DF VI, 5, S. 196 (DT VI, 5, S. 145). Omnis natura Deum loquitur, omnis natura hominem docet, omnis natura rationem parit, et nihil in universi-tate infecundum est (DB S. 123). 167 240 Elisabeth SCHÜSSLER-FIORENZA, In Memory of Her: A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1986, verwendet feministische Hermeneutik bei ihrer Argumentation zum Verschwinden der Gleichstellung von Schülerinnen und Schülern des ersten und zweiten Jahrhunderts. 241 Gegen Ende dieser Epoche, besonders während des Investiturstreits, wurden Mönche und sogar Nonnen im Kirchenrecht, aber nur zu bestimmten Zwecken, als Kleriker definiert. 242 Étienne GILSON, Heloise and Abaelard, Ann Arbor 1960. Siehe besonders das erste Kapitel als detaillierte Besprechung der Bedeutung des Begriffs »Kleriker« in der Korrespondenz zwischen den beiden. Yves CON-GAR, Modèle monastique et modèle sacerdotal en Occident, de Grégoire VII (1073-1085) à Innocent III (1198), in: Études de civilisation médiévale (IXe-XID. Mélanges offerts à Edmond-René Labande, Poitiers 1973, erklärt, daß der klerikale Status während des 11. Jahrhunderts ein amorphes Konzept war; es konnte sowohl »zum Priester geweiht« als auch »literat« bedeuten und wurde zunehmend als Recht und Pflicht zur Seelsorge definiert. 243 Pro omnibus, 244 Die neuen Kleriker waren diejenigen, die Nachschlagewerke benötigten: W. GOETZ, Die Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die deutsche Rechtsgeschichte 2 (1936), S. 227-250. 245 Den Forschungsstand zur spätmittelalterlichen Literalität und Illite-ralität stellt dar: Franz H. BÄUML, Varieties and Consequences of Medieval Literacy and Illiteracy, in: Speculum 55 (1980), S. 237-265. 246 GOY, Überlieferung. Einhundertfünfundzwanzig Manuskripte des »Didascalicon« sind erhalten; mehr als von irgendeinem anderen Werk Hugos. Überdies sind wichtige Teile des »Didascalicon« in 3 r Manuskripten anderer Autoren überliefert. Von den vollständigen Manuskripten stammen 34 aus dem 12. Jahrhundert, 31 aus dem 13. und 40 aus dem 15. Jahrhundert. Da als Faustregel gilt, daß mehr derartige Manuskripte des 13. Jahrhunderts als des 15. Jahrhunderts verloren gegangen sind und die Zahl der erhaltenen Abschriften aus beiden Jahrhunderten etwa gleich ist, dürfen wir davon ausgehen, daß Hugo im 15. Jahrhundert häufiger gelesen wurde, als im 13. Hugo wurde in Frankreich, Deutschland und Osteuropa gelesen, und zwar vor allem von Benediktinern, Zisterziensern, Augustinern und Kartäusern. Giles CONSTABLE, The Popularity of 12th Century Spiritual Writers in the Late Middle Ages, in: Religious Life and Thought, London 1979. CHATIL-LON, Guillaume de Champeaux, S. 139-62. BISCHOFF, Aus der Schule Hugos, S. 246-50. 247 Die neue Literalität und die Enthaltsamkeit des säkularen Klerus im frühen 12.
Jahrhundert stehen im engen Zusammenhang. In der römischen Rechtstradition war das Konkubinat eine sowohl von der Prostitution als auch von der Ehe unabhängige Institution. Im Recht der späten Kaiserzeit lag die 168 Betonung auf dem Unterschied zwischen Konkubinat und Ehe; man unterstrich die Wahlmöglichkeit zwischen der Freiheit der ersteren und der Sicherheit der letzteren. Die Kaiser - von Konstantin bis Theodosius - ließen diese Tradition bestehen. Die Kirche interessierte weniger die Form dieser Verhältnisse als ihre Unauflöslichkeit. Das klerikale Konkubinat im ersten Jahrtausend muß in diesem Zusammenhang gesehen werden. Erst während der gregorianischen Reform wurden die Priester vor die Wahl gestellt, sich entweder von ihrer Konkubine zu trennen oder Pfründe und Unterhalt zu verlieren. Beide Möglichkeiten führten zu einer Distanz zwischen Priester und Gläubigen und begünstigten die Entstehung klerikaler Gemeinschaften, die nicht im alten benediktinischen Sinne monastisch waren. Der größere Abstand zwischen den Helfern des Bischofs und den Laien hatte sowohl materielle als auch literarische Folgen. Die Kirche wurde zum beneficium (einer Besitzdomäne), als eine corporatio (klerikale Korporation) betrachtet, und der Klerus versuchte, die neue notarielle Macht zu monopolisieren, die dadurch größer wurde, daß sich Urkunden gegen mündliche Übereinkünfte durchsetzten. 248 Gerhart H. LADNER, Terms and Ideas of Renewal, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, hg. v. R. L. Benson und Giles Constable, Cambridge, Mass. 1982. S. 1-33. Siehe auch: ders., Concept, S. 1-34. 249 Herbert GRUNDMANN, Litteratus-illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 1-65. 250 Eine enzyklopädische Einführung in die Forschung über das leise Lesen während des Mittelalters: Paul SAENGER, Silent Reading: Its Impact on Late Medieval Script and Society, in: Viator 113 (1982), S. 367-414. 251 Gelegentliche Ansätze, in der lectio divina mit gedämpfter Stimme, wenn auch nicht völlig leise, zu lesen, gab es schon früher. BALOGH, Voces Paginarum, S.84-109 und 202-40, hat hierzu Äußerungen monastischer Autoren seit dem 7. Jahrhundert gesammelt. 252 DF III, 8, S. 123 (DT III, 7, S. 91). Lectio est, cum ex his quae scripta sunt, regulis et praeceptis informamur (DB S. 57). 253 DF III, 8, S. 123. DB III, 7, S. 57-58. Trimodum est lectionis genus: docentis, discentis, vel per se inspicientis. Taylor (DT III, 7, S. 91) übersetzt die letzten drei Wörter anders: »and the independent reader's«. PL Ein vergleichbarer Absatz in Hugos »de modo dicendi et meditandi«: . . . trimodum est genus lectionis, docentis, discentis vel per se inspicientis. Dicimus enim, lego librum illi et lego librum ab illo et lego librum. Zur Erforschung dessen, was Hugo tat und beabsichtigte, wenn er las, könnte ein Kommentar zu diesem sehr kurzen Werk Hugos ebensoviel beitragen wie ein Kommentar zum »Didascalicon«. Siehe Interpretation SAENGER, Silent Reading. 254 John of Salisbury, Metalogicon, 1, 24 (in: McGARRY Metalogicon, 169 S. 36). Das Wort »lesen« ist mehrdeutig. Es kann entweder die Aktivität des Lehrens oder Gelehrtwerdens bedeuten, oder auch »etwas auf eigene Faust lernen«. 255 F. di CAPUA, Osservazioni sulla lettura e sulla preghiera ad alta voce presso gli antichi, in: Rendiconti dell'Accademia di Archeologia. Lettere e Belle Arti di Napoli, New
Series 28 (1953-1954), S. 59-62. 256 Giles CONSTABLE, The Letters of Peter the Venerable, Cambridge, Mass. 1967. Im Scriptorium von Cluny setzte sich Schweigen durch. 257 Zur Rekonstruktion des Lesens im Früh- und Hochmittelalter kann man die Entwicklung zweier ikonographischer Motive heranziehen: Evangelisten schreiben - bis zum Jahr 700 - nach dem Diktat Gottes, der oft als ihnen ins Ohr zwitschernder Vogel dargestellt wird. Danach kommt ein neues Motiv auf: Der Evangelist, der von einer schmalen Schriftrolle abschreibt, die gelegentlich von einem Vogel im Schnabel getragen wird. Siehe E. KIRSCHBAUM, »Evangelien« und »Autorenbildnis«, in: Lexikon für christliche Ikonographie, Bd. 1, Freiburg 1968, Sp. 3Oiff. und Sp. 696ff. 258 Zur etymologischen Verschiebung von dicere (sagen) zu dictare (mit Nachdruck sagen) zu »dichten«, siehe A. ERNOUT, Dictare, »dicter«, allem. »dichten«, in: Revue des études latines 29 (1951), S. 155-161. 259 Gedeutet von Joseph de GHELLINCK, Patristique et moyen âge: études d'histoire littéraire et doctrinale, 2 Bde, Paris 1947. 260 A. MENTZ, Die tironischen Noten. Eine Geschichte der römischen Kurzschrift, in: Archiv für Urkundenforschung 17 (1942), S. 222-235. 261 Zur Arbeitspraxis im Skriptorium des 12. Jahrhunderts: J. VEZIN, L'Organisation matérielle du travail dans les scriptoria du haut moyen âge, in: Sous la règle de Saint Benoît. Structures monastiques et sociétés en France du Moyen-Age à l'époque moderne, Ecole pratique des Hautes Etudes. IVe Section, Sciences historiques et Philologique V. Hautes Etudes médiévales et modernes 47, Genf/Paris 1982, S. 427431. Ders., La Fabrication du manuscrit, in: Histoire de l'édition française, hg. v. H. J. Martin/R. Chartier, Bd. 1. Paris 1982, 5.25-48. Ders., Les »scriptoria« d'Angers au 11e siècle, Paris 1974. 262 Diese Rekonstruktion hat Jean LECLERCQ vorgenommen: Saint Bernard et ses secrétaires, in: Revue bénédictine 61 (1951), S. 208-229. 263 Petrus Venerabilis (1115) reclusione perpetua. . . pro aratro conver-tatur ad pennam, pro exarandis agris divinis litteris paginae exarentur, zitiert in: L. GOUGAUD, Muta praedicatio, in: Revue bénédictine, Maredsous, 42 (1930), S. 168-171. 264 Pascale BOURGAIN, L'Édition des manuscrits, in: L'Histoire de l'édition française, hg. v. H.J. Martin/R. Charrier, Bd. 1, Paris 1982, S. 48-75. 265 W. SCHLÖGL, Die Unterfertigung deutscher Könige von der Karolingerzeit bis zum Interregnum durch Kreuz und Unterschrift. Beiträge zur 170 Geschichte und zur Technik der Unterfertigung im Mittelalter, Münchener Historische Studien, Abt. Geschichtliche Hilfswissenschaften 16, Kellmünz 1978. 266 P. RASSOW, Die Kanzlei St. Bernhards von Clairvaux, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 34 (1913), S. 63-103 und 243-293. 267 Loquela: dicta. 268 In spanischen Universitäten passiert es noch, daß mich Studenten fragen: »Maestro, donde dicta?« (»Wo diktieren Sie?«) 269 Der Senat der Sorbonne forderte die Lehrkräfte wiederholt auf, ihre Diktate auf Zusammenfassungen zu beschränken. Die Häufigkeit der Wiederholung dieser Anordnungen deutet darauf hin, daß sie kaum befolgt wurden. 270 Istvan HAJNAL, L'Enseignement de l'écriture aux universités médiévales, 2. Aufl.,
Budapest 1959. Siehe auch Bernd MICHAEL, Johannes Buridan: Studien zu seinem Leben, seinen Werken und zur Rezeption seiner Theorien im Europa des späten Mittelalters, Phil. Diss., Berlin 1985, S. 239ff. 271 Monachum agere. 272 Jean LECLERCQ, Études sur le vocabulaire monastique du moyen âge, Studia Anselmiana Fasz. 48, Rom 1961, S. 39-79. 273 Charles Du Fresne Sieur DU CANGE, Glossarium mediae et infimae latinitatis. Editio nova, aucta 1883-1887, Reprint, Graz 1954. [Orig. 1678], S. 237 und 305. 274 Siehe zur Einführung in die Forschung zum Alphabet als Technologie und zur Geschichte des Alphabets ONG, Orality, und die kommentierte Bibliographie in Ivan ILLICH/Barry SANDERS, ABC: The Alphabetization of the Popular Mind, San Francisco 1988. [Dt.: Das Denken lernt schreiben. Lesekultur und Identität, Hamburg 1988.] 275 »Die einzigen dauerhaften Hinzufügungen des Mittelalters waren die Zeichen U, W und J; eigentlich waren sie keine Hinzufügungen, sondern Differenzierungen schon existierender Buchstaben: U (um den Vokallaut vom konsonantischen V zu unterscheiden) und das konsonantische W waren beide einfache Abwandlungen von V und J, das konsonantische >i< ist nur eine geringfügige Abänderung.« David DIRINGER, The Alphabet: A Key to the History of Mankind, Bd. 1, 3. Aufl., New York 1968. [Orig. 1948.] 276 Der Griffel wurde zum Einritzen von Buchstaben auf Wachstäfelchen verwendet. Der Pinsel wurde aus einem Schilfrohr hergestellt, das angespitzt und an den Rändern ausgefranst wurde, um die Tinte besser aufnehmen zu können. Seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. benutzte man den Gänsekiel, dessen Spitze gefranst und gefüllt war. 277 Der Übergang von einer Schrift, bei der die einzelnen Buchstaben, die Minuskeln (Kleinbuchstaben) und Majuskeln (Großbuchstaben) fein säuberlich nebeneinandergesetzt werden zu einer Schrift, bei der alle Buchstaben eines Worts oder Ausdrucks als Linie aus dem Schreibgerät fließen, ist sowohl technisch als auch symbolisch betrachtet eine wichtige Veränderung, zu der es während des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts kommt. Dieser Übergang spiegelt mehrere Faktoren wider: die zunehmende Verwendung der Feder (statt des Diktierens) durch den Autor; ein neuer Status des schreibkundigen Teils der Bevölkerung; neue Materialien - vor allem die Einführung des Papiers. Dazu O. HÖRM, Schriftform und Schreibwerkzeug. Die Handhabung der Schreibwerkzeuge und ihr formbildender Einfluß auf die Antiqua bis zum Einsetzen der Gothik, Wien 1918. 278 Michel ROUCHE, Des origines à la Renaissance, in: Histoire générale de l'enseignement et de l'éducation en France, hg. v. L.-H. Parias, Bd. 1, Paris 1983. In den ersten vier sorgfältig edierten und illustrierten Bänden geht es um die verschiedenen Stufen der Schriftkultur in Frankreich. In den Beiträgen werden sowohl Lese- und Schreibtechniken als auch ihre jeweilige Relevanz für das Lesen untersucht. 279 Man könnte an dieser Stelle die Verlockung verspüren, über eine Transformation der Medien und der Kommunikation im 12. Jahrhundert zu sprechen, d. h. von neu geschaffener »Hardware« wie Papier und Pergament und Feder mit Filzspitzen und von neuer »Software« wie Fußnoten, Hervorhebungen, Register, Veränderungen der Buchstabentypen. Ich enthalte mich sorgsam der Verwendung neugeschaffener Begriffe zur Erklärung längst vergangener Ereignisse. Dieser Kommentar des »Didascalicon« sollte eine Distanz zu Vorstellungen des 20. Jahrhunderts schaffen und die Gründe dafür darlegen, weshalb die Verwendung moderner Begriffe für Ereignisse in mittelalterlichen Schreibstuben um 1150 deren historische Bedeutung für diejenigen, die
sie erlebten, eher verschleiert als enthüllt. 280 Ludolf KUCHENBUCH, Schriftlichkeitsgeschichte als methodischer Zugang: das Prümer Urbar 893-1983. Einführung in die Altere Geschichte, Kurseinheit 2, Hagen 1990. 281 Edwin A. QUAIN, The Medieval Accessits ad Auctores, in: Traditio 3 (1945), S. 215264. 282 M. T. CLANCHY, From Memory to Written Record, England 1066-1307, Cambridge, Mass. 1979, gibt hier einen Überblick über den zunehmenden Gebrauch schriftlicher Dokumente und stellt dar, wie diese Zunahme die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft sowohl widerspiegelt als auch intensiviert. CLANCHY geht es dabei um die Einwirkung dieser Verschriftlichung auf das Alltagsleben, und er läßt parallele Entwicklungen in der Literatur, der Naturwissenschaft und der Philosophie bewußt aus. Siehe auch Alexander MURRAY, Reason and Society in the Middle Ages, New York 1978. Eine Sozialgeschichte literaler Kompetenz und der Macht, die sie den Schriftkundigen zwischen 1050 bis etwa 1300 verleiht. 283 Ivan ILLICH, Schule ins Museum: Phaidros und die Folgen, mit einer Einleitung von Ruth Kriss-Rettenbeck und Ludolt Kuchenbuch, Bad Heilbrunn 1984, bes. S. 53 ff. 172 284 Nikolaus M. HAERING, Commentary and Hermeneutics, in: Renaissance and Renewal in the 12th Century, hg. v. R. L. Benson und Giles Constable, Cambridge, Mass. 1982, S. 173-200, faßt zusammen, was bekannt ist über den Gebrauch der Glosse gegen Ende des 12. Jahrhunderts. 285 R. H. ROUSE/M. A. ROUSE, The Verbal Concordance of the Scriptures, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 44 (1974), S. 5-30. Die Bibelkonkordanz »did not evolve over generations, but was invented and perfected through careful tinkering and adjustment in less than 50 years« (S. 5). Anna Dorothea von den BRINCKEN, Tabula Alphabetica. Von den Anfangen alphabetischer Registerarbeiten zu Geschichtswerken, in: Festschrift für Hermann Heimpel. Veröffentlichungen des Max Planck Instituts für Geschichte, Göttingen 1972, S.900-923. 286 CHATILLON, Écoles, S. 795-839. Auf Empfehlung von St. Bernhard war Petrus 1139 nach St. Viktor gekommen, um Hugos Kommentare zur Heiligen Schrift zu verfolgen. 287 P. C. SPICQ, Esquisse d'une histoire de l'exégèse au moyen âge, Paris 1946, ist noch immer eine meisterhafte Einführung in die Geschichte der Exegese. 288 GOETZ, Enzyklopädien, S. 227-50. Die neuartigen Enzyklopädien erscheinen um 1225 (Bartholomäus Anglicus), 1240 gefolgt von »De rerum natura« von Thomas Chantimpré und Vincent de Beauvais, die 2000 Bücher von 450 Autoren verwertet haben. 289 Malcolm B. PARKES, The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book, in: Medieval Learning and Literature. Essays presented to Richard William Hunt, hg. v. Jonathan James Graham Alexander/M. T. Gibson, Oxford 1976, S. 115-141. »Thirteenth-century scholars paid close attention to the development of good working tools based on scientific principles. The drive to make inherited material available in a condensed or more convenient form led them to recognize the desirability of imposing a new ordinatio on the material for this purpose. In the thirteenth century this led to the development of the notion of compilatio both as a form of writing and as a means of making material easily accessible. Compilation was not new (it is implicit in the work of Gratian and Peter Lombard); what was new was the amount of thought and
industry that was put into it, and the refinement that this thought and industry produced. The transmission of these refinements on to the page led to greater sophistication in the presentation of the text« (S. 127). Vincent von Beauvais gab der compilatio eine literarische Form: »In working out his scheme, with commendable humility he followed the example of the Almighty »[. . .] ut iuxta ordinem sacrae scripturae, primo de creature, postea de creaturis, postea quoque de lapsu et reparatione hominis, deinde vero de rebus gestis iuxta seriem temporum suorum, et tandem etiam de iis que in fine temporum futura sunt, Ordinate disserem.« In the Speculum naturale, he follows 173 the chronological order of the six days of creation given in the Book of Genesis. At the lower end of ordinatio, his procedure was influenced by the modus definitivus of his own age. Since, according to Alexander of Hales, »[. . .] apprehensio veritatis secundum humanam rationem explicatur per divisiones, definitiones, et ratiocinationes«, Vincent achieves the subordination of his material by dissecting his auctoritates and redeploying the diverse materials into discrete, self-contained chapters. In the Speculum naturale, the third, fourth, and fifth days of creation give him the opportunity to review all that was then thought about minerals, vegetables, and animals. By dividing his work into books and chapters he is able to include as many as 171 chapters on herbs, 134 chapters on seeds and grains, 161 chapters on birds, and 46 chapters on fish. In the Speculum historiale by the same process of redeployment into discrete units he includes such material as the account of the ancient gods, and the »biographies of leading authors« of antiquity accompanied by extracts from their works, all subordinated within the framework of universal history. In all, the Speculum mains is divided into 80 books, and 9,885 chapters. It is the classic example of the principle of compilatio which emerged in the thirteenth century, >divide and subordinates« (S. 128) 290 Petrus Lombardus kompilierte seine »Sentenzen«, ut non sit necesse quaerenti, librorum numerositatem evolvere, cui brevitas, quod queritur, offert sine labore [. . .] ut autem, quod quaeritur, facilius occurat, titulos quibus singulorum librorum capitula distinguuntur, praemisimus (PL 192, S. 522). »Daß es nicht nötig sei für den Suchenden, viele Bücher durchzugehen, für den die Kürze, die er sucht, leicht zu bieten ist. Damit das Gesuchte leichter gefunden werden mag, schicken wir die Titel, mit deren Hilfe die Kapitel der einzelnen Bücher unterschieden werden, voraus.« 291 DB V, 2, S. 96: Sie et mel in favo gratius, et quidquid maiori exercitio quaeritur, maiori etiam desiderio invenitur. »So ist auch der Honig in der Honigscheibe süßer. Und alles, was mit größerer Anstrengung gesucht wird, wird auch mit größerer Sehnsucht gefunden« (DF V, 2, S. 168, DT, S. 121). DB IV, 1, S. 70: Contra, divina eloquia aptissime favo comparantur, quae et propter simplicitatem sermonis arida apparent, et intus dulcedine plena sunt. »Die göttlichen Aussprüche werden [. . .] dagegen am passendsten mit einer Honigscheibe verglichen; sie erscheinen nämlich ob der Einfachheit ihrer Sprache trocken; innerlich sind sie aber voller Süßigkeit« (DF IV, 1, S. 136; DT, S. 102). 292 Für den Sprecher der lateinischen Sprache evozierr das Wort sapientia sapere, »schmecken«. Die Suche nach Weisheit konnotiert die Suche nach etwas, das einen vollendeten, unvergleichlichen Geschmack besitzt: hoc ergo omnes artes agunt, hoc intendunt ut divina similitudo in nobis reparetur, quae nobis forma est, Deo natura, cui quanto magis conformamur, tanto magis sapimus. »Je ähnlicher wir (der Wesenheit Gottes) werden, desto mehr schmek-ken wir.« (DB II, 1, S.23) Der uns vertraute
Ausdruck »geschmackvoll« 174 kommt erst während des letzten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts in Spanien auf; er wurde vermutlich von Königin Isabella geprägt. 293 DB III, 13, S. 62-63: Considéra potius quid vires tuae ferre valeant. aptissime incedit, qui incedit ordinate, quidam, dum magnum saltum facere volunt, praecipitium incidunt. noli ergo nimis festinare. hoc modo citius ad sapientiam pertinges. ». . .die einen großen Sprung tun wollen, stürzen jäh dahin. Eile also nicht zu sehr; auf diese Weise gelangst du schneller zur Weisheit« (DF III, 14; DT, S. 96). 294 R. H. ROUSE/M.A. ROUSE, Statim inveniri. Schools, Preachers, and New Attitudes to the Page, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, hg. v. R.. Benson/Giles Constable, Cambridge, Mass. 1982, S. 201-225. 295 Zitiert in: PARKES, Influence, S. 115-41. E. MANGENOT, Concordances de la bible, in: Dictionnaire de la Bible, hg. v. F. G. Vigouroux, Paris 1907-1926, Sp. 892-905. BRINCKEN, Mappa Mundi, S. 118-86. 296 R. H. ROUSE, L'évolution des attitudes envers l'autorité écrite: le développement des instruments de travail au XIIIe siècle, in: Culture et travail intellectuel dans l'Occident médiéval. Bilan des Colloques d'humanisme médiéval, Paris 1981, S. 115 144. 297 Die Bezeichnung ordinaria wird erst seit dem 14. Jahrhundert verwendet. 298 Beryl SMALLEY La Glosa Ordinaria, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 9 (1937), S. 365-400. 299 MANGENOT, Concordances. QUAIN, Medieval Accessus, S. 215-64. 300 Horst KUNZE, Über das Registermachen, München 1964. M. A. ROUSE/R. H. ROUSE, Alphabetization, History of, in: Dictionary of the Middle Ages, Bd. 1, New York 1982, S. 204-207. Homer G. PFANDER, The Mediaeval Friars and Some Alphaberical Reference-Books for Sermons, in: Medium Aevum, Oxford, 3 (1934), s. 19-29. Hier geht es um fünfzehn von Mönchen erstellte Nachschlagewerke aus dem 13. bis 15. Jahrhundert, die als Themen für Tausende von Predigten alphabetische Listen mit Hinweisen auf die Bibel, patristischen Zitaten, Geschichten, Analogien, und Verweise auf andere Quellen enthalten. 301 Natürlich konnte man erst dann anhand der Seitenzahl von einem Register auf den Text verweisen, als es durch die Druckkunst 250 Jahre später gesichert war, daß das erste Wort der ersten Zeile jeder Kopie einer bestimmten Edition das gleiche, z.B. »Rom«, sein würde. Vorher mußte auf »Buch, Kapitel und Vers« verwiesen werden. Siehe H. J. KOPPITZ, Buch, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 2., München 1981-83, S. 802-811. In der Antike hatte man zuweilen Folgen von Blättern numeriert. Um sicherzustellen, daß in der Buchbinderei die richtige Reihenfolge eingehalten werden würde, wurde im Mittelalter ein neuer Satz Blätter in der unteren rechten Ecke numeriert und 175 custodes, Wächter, genannt. Auf die darauffolgende erste Seite des Satzes von Blättern schrieb man die sogenannten reclamantes. 302 David GANZ, The Preconditions of Caroline Minuscle, in: Viator 18 (1987), S. 23-43. Um eine normative Schrift erstellen zu können, benötigte man eine »Grammatik der Leserlichkeit«, die den Klerikern, deren Mundart Germanisch und deren Latinität selten augustinisch war, das Verstehen dieser Texte erleichterte.
303 Alphabetische Psalmen oder Gedichte konnten witzige Spiele sein oder als mnemonische Auslöser dienen; in ihnen wurden nicht Dinge, sondern Zeilen nach der Aleph-beth-Folge angeordnet. Glossare waren zwar nicht unbekannt; es gab Listen von alphabetisch geordneten griechischen Wörtern, neben denen deren lateinische Entsprechung geschrieben stand; aber in ihnen werden Wörter geordnet, und sie sind keine Verweise auf Dinge oder auf die Seiten, auf denen diese Dinge als Themen auftauchen. 304 ALBERTUS MAGNUS, De Animalibus. Opera Omnia, hg. von Auguste BORGNET, 38 Bde. in 90, Paris 1890-99, v. 12.433, entschuldigt sich für seine alphabetische Auflistung von Tieren, da solches eines Philosophen unwürdig sei. Hunc modum non proprium philosopho esse, ROUSE/ROUSE, Alphabetization, S. 211. 305 Einführende Zusammenfassungen haben, wie alle neuen Techniken, die im 13. Jahrhundert für das Layout verwendet wurden, eine eigene Geschichte. Der sogenannte accessus, in dem ein Kommentator einen Text mit Häppchen aus dem Leben des Autors, dem Inhalt des Werks und mit Bemerkungen über dessen Nutzen für den Leser einleitet, geht auf Kommentatoren der griechischen Philosophen zurück. Siehe QUAIN, Medieval Accessus, S. 215-64. Die neuen Zusammenfassungen jedoch bieten eine Beschreibung des Aufbaus des Buchs oder Kapitels, dem sie als Einleitung dienen. 306 SOUTHERN, Making, S. 204: In der zweiten Generation des 12. Jahrhunderts erreichen wir mit Bernhard, Abelard und Hugo von St. Viktor »[. . .] a point where scholars begin to feel comfortable about their command of the achievements of the past [...] Throughout the greater part of the twelfth century there was a confident sense that the steady mastery of works of the past was reaching its natural end«. 307 SMALLEY, Glosa Ordinaria, S. 365-400. 308 Zu dieser Zeit nimmt die moderne Vorstellung vom Autor als authentischem Urheber langsam Gestalt an. Marie-Dominique CHENU, Auctor, Actor, Autor, in: Bulletin du Cange 3 (1927), S. 81-86. Sallust und Sueton bezeichnen die Person, die ein Buch diktiert, gelegentlich als auctor (von augere in der Bedeutung: eine Statue, ein Gebäude oder eine Schrift »hervorbringen«) oder als actor, im Sinne von »Macher«. Während der nachfolgenden 1000 Jahre gab ein Autor, der Autor der Heiligen Schrift, also Gott, dem Wort eine überragende Bedeutung. Gleichzeitig warf die auctoritas, die Würde, die eine bestimmte Aussage wegen des ihr innewohnenden Wertes besitzt, einen Teil 176 ihrer Bedeutung auf den auctor-actor zurück. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird mit dem Wort »Autor« die Authentizität (S. 83) des Urhebers ausgedrückt. Siehe auch: A. J. MINNIS, Medieval Theory of Authorship: Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages, London 1984. 309 Christel MEIER/Uwe RUBERG (Hg.), Text und Bild: Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, publizieren die Vorträge eines Symposions über die Geschichte des Zusammenwirkens von Buchstaben und Illustrationen auf der spätmittelalterlichen Buchseite. 310 GOUGAUD, Muta praedicatio, S. 168-71. 311 Für Cassiodor predigt der ganze Körper. Was für ein glückliches Vorhaben, felix intentio, »den Menschen mit den Händen zu predigen, ihre Zungen mit den Fingern zu öffnen, schweigend den Sterblichen das Heil zu vermitteln und gegen die verstohlenen Angriffe des Teufels mit Schreibrohr und Tinte zu kämpfen.« [. . .] manu hominibus praedicare, digitis linguas aperire, salutem mortalibus tacitam dare et contra diaboli subreptiones illicitas calamo atramentoque pugnare. GOUGAUD, Muta praedicatio, S.
169. 312 Jonathan James Graham ALEXANDER, The Decorated Letter, New York 1978. H. HERMANN, The Bible in Art: Miniature, Paintings, Drawings and Sculpture Inspired by the Old Testament, in: Sacris Erudiri 6 (1954), S. 189-281. 313 Beda Venerabilis (735 n. Chr.): »Wir machen Bilder für jene, die nicht lesen können . . . posset opera Domini et Salvatoris nostri per ipsarum contuitum discere »damit sie durch das Betrachten (der Bilder) die Werke unseres Herrn und Heilands kennenlernen.« GOUGAUD, Muta praedicatio. Die Synode von Arras (1025 n. Chr.) ordnet die Benutzung von Bildern an, damit diejenigen, die den Herrn nicht in der Heiligen Schrift anschauen können, ihn in den Umrissen der Bilder betrachten mögen: illiterati. quod per scripturas non possunt intueri, hoc per quaedam picturae lineamenta contemplantur. Die Betonung liegt auf den zwei unterschiedlichen Weisen der Erleuchtung; durch das »Sehen« bei den Buchstaben und durch das »Betrachten« beim Gemälde. Ebd. 314 H. DOUTEIL (Hg.), Exultet Rolle: Easter Praeconium, MS Biblio-teca Vaticana 9820, Graz 1975. Guigues Cartusian (1136 n. Chr.): Si ore non possumus dei verbum manibus praedicamus. »Wenn wir nicht sprechen können, sollten wir die Worte Gottes mit unseren Händen predigen.« Honorius Augustodunensis (1130 n. Chr.): Ob tres autem causas fit pictura: primo quia est laicorum litteratura. »Aus drei Ursachen sollten Bilder gemacht werden: die erste ist die Literatur der Laien.« Siehe GOUGAUD, Muta praedicatio. 315 S. LEWIS, Sacred Calligraphy: The Chi-Rho Page in the Book of Kells, in: Traditio 36 (1980), S.139-159. »The page [. . .] intended to confront the eye with an awesome array of Christological and Eucharistie allusions consonant with the liturgical usage of the book . . . An enormous erudition underlies each illumination.« Christel MEIER, Zum Verhältnis von 177 Text und Illustration bei Hildegard von Bingen, in: Hildegard von Bingen 1179-1979. Festschrift zum 800. Todestag, hg. v. A. Brück, Mainz 1979, s. 159-169. 316 Verweise siehe M. SMEYERS, La Miniature. Typologie des sources du moyen âge occidental, fasc. 8, Turnhout 1974, S. 96-101. 317 DANTE, Divina commedia, Purgatorio 11, 82, auch kommentiert von James Thomas CHIAMPI, From Unlikeness to Writing: Dante's »Visible Speech« in Canto Ten, Purgatorio, in: Medievalia 5 (1982), S. 97-112. 318 H. JANTZEN, Das Wort als Bild in der frühmittelalterlichen Buchmalerei, in: ders., Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 1951, S. 53-60. 319 Im 13. Jahrhundert spricht das Bild nicht mehr zum Betrachter von der littera, die ihm vorgelesen wird. Die Illustration wird jetzt als eine Art paralleler Erzählung wahrgenommen, sie ist selbst Literatur für die Illiteraten. Thomas von Aquin, IV Sentent, 1, III, 9 2, 2, 3. Fuit autem ratio institutionis imaginis in Ecclesia: primo ad instructionem rudium qui eis quasi quidam libris edocentur: die Metapher des Buchs ist jetzt so mächtig, daß das Bild selbst als »Buch« zur Belehrung derjenigen, die des Lesens unkundig sind, wahrgenommen wird. 320 Als Einführung in die Geschichte des illuminierten Manuskripts als Kunstgattung sui generis, siehe David M. ROBB, The Art of the Illuminated Manuscript, South Brunswick/New York 1973. H. FOCILLON, L'Art d'Occident, le moyen âge roman et gothique, Paris 1938, behandelt den Gegensatz zwischen dem Stil der Ausgewogenheit und Integration in der Ausschmückung und in Skulpturen des frühen (noch
romanischen) 12. Jahrhunderts und der späten (schon gothischen) Zeit, speziell im Raum nördlich der Loire. Jurgis BALTRUSAITIS, La Stylistique ornamentale dans la sculpture romane, Paris 1931, enthält viele Illustrationen im Stil des 11. Jahrhunderts. Dem Buch sind zwei weitere Studien gefolgt: ders., Réveils et prodiges: le Gothique fantastique, Paris 1960, das die Kontinuität von Motiv und Glauben in der romanischen und gothischen Phantasie behandelt. Das 6. Kapitel, »Le réveil fantastique dans le décor du livre« stellt die wahre Explosion des neuen gothischen Stils in den Manuskriptmarginalien dar, meist anhand von in der Bibliothèque Nationale erhaltenen Werken. Der zweite Band, ders., Le Moyen âge fantastique, Paris 1955 [Dt.: Das phantastische Mittelalter, Frankfurt/Berlin/ Wien 1985.], behandelt den Einfluß klassischer und orientalischer Motive auf die skurrilen Kreaturen, die die mittelalterliche Phantasie hervorgebracht hat. 321 Scimus namque quod illi (die Bischöfe) [. . .] carnalis populi devotio-nem, quia spiritualibus non possunt, corporalibus excitant ornamentis. Nos vero, qui iam de populo exivimus [. . .] »Denn wir wissen, daß sie (die Bischöfe) die Frömmigkeit des weltlichen Volkes, das fleischlicher ist, mit Ornamenten fördern. Wir aber, die wir das Volk verlassen haben, [. . .]« (Bernhard von 178 Clairvaux, Apologia ad Guillelmum abbatem 12, 28; in: Sancti Bernardi opera, hg. von J. LECLERCQ, S. 104-5). 322 Litterae unius coloris fiant et non depictae. »Die Buchstaben sollten einfarbig und ohne Ornamente gemacht werden.« J.M. CANIVEZ (Hg.), Status Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis ab anno 1116 ad annum 1786, Bd. 1, Leuven 1933, stat. LXXX, S. 31. 323 Paradoxerweise konvergierten der neue Reichtum und ein neuer Geist der freiwilligen Armut im Bedarf an tragbaren Büchern: C. H. TALBOT, The Universities and the Medieval Library, in: The English Library before 1700, hg. v. F. Wormland/C. E. Wright, London 1958, S. 76-79, meint, daß die Bettelmönche eine wichtige treibende Kraft hinter der Reduktion der Buchgröße waren. Sie wollten die Bücher auf ihren ständigen Reisen mitnehmen. 324 Siehe R. J. FORBES, Studies in Ancient Technology, 9 Bde, Leiden 1964-1972. Bd. 5, passim, zu Papyrus und Pergament. L. SANTIFALLER, Beiträge zur Geschichte der Beschreibstoffe im Mittelalter, mit besonderer Berücksichtigung der päpstlichen Kanzlei, 1. Untersuchungen. Mitteilungen des Institutes für österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 16, 1, Graz 1953. D. V. THOMPSON, Medieval Parchment Making, in: Library, 4th series, 16 (1935), S. 113-117. Eine schöne und vollständige Beschreibung der Pergamentherstellung, die die Techniken des 18. Jahrhunderts reflektiert, findet sich in »Parchemin, en commerce, etc.«, in: Denis DIDEROT/Jean Le Rond d'ALEMBERT, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. u (1765), S. 929-931. 325 Theodor BIRT, Das antike Buchwesen in seinem Verhältnis zur Literatur, mit Beiträgen zur Textgeschichte des Theokrit, Catull, Properz und anderer Autoren, Berlin 1882. [Reprint 1959], S.223-285, behandelt die Papierherstellung in der Antike. 326 Zum Zusammenhang zwischen (Al-)Chemie und Papierherstellung siehe M. LEVY, Medieval Arabic Bookmaking and its Relation to Early Chemistry and Pharmacology, Transactions of the American Philosophical Society 52, New York 1962. 327 Einzelheiten zur Geschichte der Tinte bei: FORBES, Studies, S. 236-39. (Gute Bibliographie)
328 Graham POLLARD, Describing Medieval Bookbinding, in: Medieval Learning and Literature: Essays presented to R. W. Hunt, hg. v. Jonathan James Graham Alexander/M. T Gibson, Oxford 1976, S. 50-65. Den Einfluß der kommerziellen Manuskriptreproduktion außermonastischer Schreibstuben auf die äußere Erscheinung des Buchs behandelt Graham POLLARD, The Pecia System in the Medieval Universities, in: Medieval Scribes, Manuscripts and Libraries. Essays presented to N. R. Ker, London 1978, S. 145-161. 329 siehe die Einleitung S. 7ff. 330 HAVELOCK, Literate Revolution. In dieser Sammlung kontroverser Artikel, die kurz vor seinem Tod entstanden, sagt der Autor: Das 179 Alphabet wird hier betrachtet als: »a system of small shapes in an endless variety of linear arrangements which, when seen (read), trigger an acoustic memory of the complete spoken speech that is indexed by these shapes.» (S. 6) »it became the means of introducing a new state of mind, the alphabetic mind [. . .]« (S. 7) and »furnished a necessary conceptual foundation to build the structure of science and philosophies. It converted the Greek spoken tongue into an artifact, thereby separating it from the speaker and making it into a language.« (ebd.) 331 Ausgewählte und kommentierte Literatur, die diese Meinung untermauert, ist zu finden in ILLICH/SANDERS, ABC, S. 128-66. 332 In diesem Aufsatz geht es um die Kunst des Lesens und nicht um die Kunst des Schreibens. Eine parallele Geschichte der psychomotorischen ars scribendi, an der ich arbeite, ist erforderlich. Solange wir keine historische Perspektive der Ethologie und der Symbolik der diktierenden Zunge, der Hand und der Schreibhaltungen haben, wird uns die den Geist prägende Bedeutung des Textes als Gegenstand nicht verständlich werden. So läuft z. B. der Übergang vom monastischen Skriptorium zum kommerziellen Verleger (pecia) und vom Manuskript zur gedruckten Seite parallel zu einem neuen Kult der Handschrift des Autors. Man diktierte kaum noch, und das eigenhändige Schreiben des Autors wurde erst jetzt zu einer manuellen Kunst, da der gedruckte Text meist nach dem Manuskript des Autors entstand und nicht nach der Niederschrift seines Schreibers. Der Text ah geistiger Gegenstand hebt anhand des vom Autor selbst hergestellten Manuskripts von der Seite ab. 333 Elizabeth EISENSTEIN, The Printing Press as an Agent of Change: Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe, 2 Bde, Cambridge 1979. Siehe auch: dies., The Printing Revolution in Early-Modern Europe, London 1984, das weniger enzyklopädisch und leicht zu lesen ist. 334 Das betont Vilèm FLUSSER, Die Schrift. Hat Schreiben eine Zukunft? Göttingen 1987. Eine wichtige Rezension des Buchs: Aleida ASSMANN, Rezension zu Vilèm FLUSSER, Die Schrift. Hat Schreiben eine Zukunft? in: Poetica 20 (1988), S. 284-288. 335 Die größte Leistung bei der Erforschung dieser Geschichte hat Hans BLUMENBERG, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1986, erbracht. Für meine Argumentation ist besonders wichtig Kapitel 22, S. 372-409, über den Aufbau des »genetischen Code« als »Text« seit Erwin Schrödingers Vorlesungen im Trinity College 1944. Der neue »Text« hat keine Bedeutung, keinen Sinn und keinen Autor; er ist eine Sequenz von Befehlen, und durch ihn wird die Bedeutung des Worts »Lesen« verändert. 336 Marie-Dominique CHENU, La Théologie au XIIe siècle, in: Etudes de philosophie médiévale, hg. v. Étienne Gilson, Paris 1957, S. 142. 337 M. D. PHILIPPE, Aphaóresis próthesis, chorízen dans la philosophie d'Aristote, in:
Revue Thomiste 49 (1948), S. 461-479. 338 Opéra omnia, hg. von F. S. SCHMITT, 6, Index rerum, S. 28. 180 339 J. F. BOLER, Abaelard and the problem of the universals, in: Journal of the History of Philosophy 1 (1963), S. 37-51. 340 Leo KOEP, Das himmlische Buch in Antike und Christentum: eine religionsgeschichtliche Untersuchung zur altchristlichen Bildersprache, Theophaneia: Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Altertums 8, Bonn 1952. 341 Zitiert in Ernst Robert CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 7. Aufl., Bern/München 1969, S. 311. 342 Otto J. BRENDEL, The Celestial Sphere of the Moirai, in: Symbolism of the Sphere. A contribution to the History of Earlier Greek Philosophy. Études préliminaires aux religions Orientales dans L'Empire Romain, Bd. 67, Leiden 1977, S. 81-83. »The Parcae are shown as casting the horoscope: Atropos, after reading the exact time from a sundial, turns to Lachesis in order to impart it to her who takes note of it in ink. The spinner, now superfluous, is missing. The ancient concept of the spinning sisters and subrerranean sorceresses was so completely absorbed and digested [. . .] The Moirae observe and write down what must happen according to elementary laws. As a group they form a transcription, as it were, of the horoscope under which all that comes into existence lives and dies.« 343 BRENDEL, Celestial Sphere, S. 26-28. 344 Siehe Gottlieb SCHRENK, Biblos, biblíon, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, Stuttgart 1933, S. 613-620. 345 Augustinus, De Genesi ad Litteram, PL 34, 245. 346 Didascalicon 4, 5. 347 Alanus ab Insulis (Alain de Lilie, 1120-1202). Magistri Alani Rhythmus alter, quo graphice natura hominis fluxa et caduca depingitur, PL 210, 579. Siehe auch Frank Olaf BÜTTNER, Mens divina liber grandis esr: zu einigen Darstellungen des Lesens in spätmittelalterlichen Handschriften, in: Philobiblon 16 (1972), S. 92-126. 348 Eine hervorragende und gründliche Studie der komplexen Transformationen von »Abbild« und »Ähnlichkeit« während dieser einen Generation stammt von JAVELET, Image. 349 Hugo, De arca Noe morali 4, lib 2, c 12, PL 176, S. 343 ff. 350 Übers. nach Hugh of St. Victor, Selected Spiritual Writings.
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