Johannes Richter „Gute Kinder schlechter Eltern“
VS RESEARCH
Johannes Richter
„Gute Kinder schlechter Eltern“ Fami...
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Johannes Richter „Gute Kinder schlechter Eltern“
VS RESEARCH
Johannes Richter
„Gute Kinder schlechter Eltern“ Familienleben, Jugendfürsorge und Sorgerechtsentzug in Hamburg, 1884–1914
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Hans-Joachim Plewig
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Leuphana-Universität Lüneburg, 2009 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger | Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17625-3
Für Maria und Rainer
Geleitwort
Historische Forschung ist ebenso Interesse geleitet wie deren Deutung. Dies lässt sich am Beispiel des Umgangs mit Kindern gut nachweisen. Sobald er nicht mehr als reine Privatangelegenheit gilt, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen der Staat – gegebenenfalls mit Hilfe Freier Träger – in die Belange der Eltern eingreifen darf und soll. Für diesen Themenkomplex gibt es einen bedeutsamen historischen Ausgangspunkt: die Hamburger Fürsorgereform von 1788.1 In jener Zeit hatte der Hamburger Senat die Hinweise der Wirtschaft aufgenommen, dass es an gesundem und angemessen schulisch ausgebildetem Nachwuchs fehle. Die Politik startete daraufhin eine einmalige Initiative, indem sie „soziale Brennpunkte“ kartographierte, den Beruf des Fürsorgers erfand und den neuen Berufsstand beauftragte, die gefährdeten Teile der Bevölkerung systematisch zu beobachten, zu kontrollieren und die Daten zu erfassen. Das Vorgehen bewegt sich zwischen Ökonomie und Moral. Die Justiz spielte keine maßgebliche Rolle. Mit dem Niedergang der Hamburger Wirtschaft infolge der kriegerischen Eroberungen durch Napoleon geriet dieses planmäßige Vorgehen in Vergessenheit. Doch die Maßstäbe für staatliches Vorgehen unter spezifischen Interessengesichtspunkten waren festgelegt und erprobt. Die zweite, nunmehr international stattfindende Phase zur Ausgestaltung des staatlichen Wächteramtes im Hinblick auf das Kindeswohl fand um 1900 statt.2 Industrialisierung und kolonialistische Bestrebungen führten zur Parole „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“. Die Herausforderung stellte sich weit komplexer dar als noch rund einhundert Jahre zuvor. Wenn der Staat in die Offensive geht, muss er einerseits sein Eingreifen ausgestalten, andererseits über das Bild von Familie in der bürgerlichen Gesellschaft entscheiden. Die Regelung des Kindeswohls bietet mithin einen Indikator für Gesellschaftspolitik zwischen Freiheit und staatlicher Fürsorge. In dem von Richter ausgewählten Zeitraum von 1884 bis 1914 lassen sich Entwicklungen, Konfliktlinien und Entscheidungen in vortrefflicher Weise nachvollziehen. Die staatliche Einmischung verlangt zweierlei: öffentliche Hilfeangebote einschließlich der dafür erforderlichen Verwaltung und eine Kontrollinstanz in Form der 1 2
Vgl. hierzu: Scherpner [1927] Vgl. hierzu: Dahl [1985]
8
Geleitwort
Justiz. Administrative und justizförmige rechtsstaatliche Maßnahmen erfolgen nicht im abstrakten Raum. Sie folgen einem Menschenbild und einem Bild von Gesellschaft. Diese Konstruktionen von Wirklichkeit repräsentieren gesellschaftlichsoziales Bewusstsein ebenso wie Aushandlungen. Die Entscheidungen zum Sorgerecht betreffen die Verantwortung („Schuld“) der leiblichen Eltern. Sie setzen zunächst voraus, dass der Staat überhaupt eine Verletzung des Kindeswohls gemäß § 1666 BGB wahrnimmt. Wer sich im Leben umschaut, entdeckt täglich allerorten diesen Tatbestand, selbst wer sich nur auf schwerwiegende Beeinträchtigungen des körperlichen, geistigen und seelischen Befindens konzentriert. Eingriffe finden immer nur selektiv statt. Sorgerechtspolitik betrifft mindestens drei Bereiche:
die Lebenswelt der betroffenen Eltern, zumeist Angehörige des Proletariats (heute „mehrfach belastende Lebenslagen“); die Denk- und Handlungslogik der Jugendbehörden: die Justiznutzung (Aushandlungsprozesse).
Im Ergebnis erkennt Richter für den untersuchten Zeitraum eine zunehmende Individualisierung und Pädagogisierung in der Fallbearbeitung. Hingegen tritt der strafende Staat tendenziell in den Hintergrund. Die Grenzen der Erziehbarkeit werden offenkundig. Mit eher zufälligen denn professionell abgesicherten Ergebnissen ist zu rechnen. Formal seit Geltung des Grundgesetzes (1949), materiell mit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) 1990 ergibt sich rechtlich eine grundlegend andere Situation. Die Minderjährigen sind zu Trägern von Grundrechten geworden. Das KJHG versteht sich als Angebots- und Leistungsgesetz, das nur subsidiär hoheitliche Aufgaben wahrnimmt. Insbesondere § 36 (Hilfeplan) verlangt den Verantwortlichen in der Verwaltung kontrolliertes fachliches Handeln ab und sichert – formal – die Mitwirkung der Betroffenen. Die Justiz schließlich ist an rechtsstaatliche Verfahren gebunden. Historisch befinden wir uns gegenwärtig in einer Phase, in der kaum jemand ein Zuviel an staatlichem Eingriff beklagt. Kritisiert wird vielmehr auf Grund skandalöser Einzelfälle, dass der Staat zu wenig, zu spät und zu wenig koordiniert das Kindeswohl schütze. Die vorzügliche Untersuchung von Richter bietet der Devianzpädagogik, der Wirkungsforschung zu Justizhandeln und der Rechtsgeschichte eindrucksvoll differenziertes Material zur Grundlegung der jeweiligen Wissensgebiete und zur Fortschreibung der Analysen. Prof. Dr. Hans-Joachim Plewig
Vorwort
In der sozialpädagogischen Arbeit mit Familien wird häufig ein afrikanisches Sprichwort bemüht: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen!“. Ganz so verhält es sich bei einer Doktorarbeit nicht. Besinnt man sich aber, wer einem alles im Verlauf der Zeit durch die eine oder andere Handreichung unterstützt, im Gedankenaustausch angeregt oder einfach nur wohlwollend im Auf und Ab des Schaffens begleitet hat, so sieht man ebenfalls eine nicht gerade kleine Gemeinschaft vor sich stehen. Alle aufzuzählen, dafür fehlt an dieser Stelle der Platz. Zu danken habe ich zuallererst Herrn Prof. Dr. Plewig und Herrn Prof. Dr. Wolff für den großen Vertrauensvorschuss und Langmut, den sie mir und meinem Projekt entgegenbrachten. Insbesondere die Diskussionen mit den Teilnehmenden des Doktorandenkolloquium des AK Jugend- und Strafrecht der Leuphana-Universität Lüneburg haben mir den interdiszplinären Zugang sehr erleichtert und die Arbeit stets von Neuem angeregt. Konzeptuelle Anstöße bekam ich im allerersten Stadium auch von den Teilnehmenden des Fachtreffens „Historische Sozialpädagogik“. Prof. Dr. Hans Gängler und Prof. Dr. Uwe Uhlendorf haben die ersten Exposés kritisch durchgesehen. Meinem historischem Laienverstand auf die Sprünge geholfen haben Herr Prof. Dr. Kopitzsch und Frau Prof. Dr. Hilgers, indem sie mich an ihren Dikussionsrunden am Historischen Seminar der Universität Hamburg haben teilnehmen lassen und mir zahlreiche lokalgeschichtlichen Bezüge vermittelten. Die monatelange Archivarbeit wurde mir besonders durch den Austausch mit Christoph Bitterberg erleichtert. Frau Dr. Bickelmann vom Staatsarchiv Hamburg half mir, mich in dem noch kaum erschlossenen Bestand der Vormundschaftsbehörde zurecht zu finden. Großzügige ideelle und materielle Unterstützung erhielt ich durch die Hans-Böckler-Stiftung, die sich auch an den Druckkosten des vorliegenden Buches beteiligte. Elisabeth Hahn, Joachim Seifert und Michael Wenning möchte ich für die freundliche Zurverfügungstellung günstiger Büroräumlichkeiten danken. Das Typoskript auf stilistische Fehler und inhaltliche Unstimmigkeiten durchgesehen haben Markus von Schmude sowie mein Vater, Jörg Richter. Peter Bastian ging mir bei der Formatierung der Karten und Tabellen zur Hand. Frau Dr. Tatjana Rollnik-Manke vom VS-Verlag, lektorierte die Endfassung dieser Arbeit. Zu Danken habe ich nicht zuletzt meiner Frau und meinen beiden Söhnen, die mich in den letzten Jahren regelmäßig entbehren mussten, mir aber dennoch
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Vorwort
viel Geduld entgegenbrachten und mich mit ihrer Lebendigkeit und Liebenswürdigkeit immer wieder dazu anspornten, die Arbeit zu Ende zu bringen. Johannes Richter
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ................................................................................................... 25 1.1 Anlage der Untersuchung und Eingrenzung des Gegenstandes........... 32 1.2 Theoretische Bezugspunkte und heuristische Konzepte...................... 39 1.3 Forschungsstand .................................................................................. 46 1.4 Gliederung und Quellenbasis............................................................... 50
2
Unterschichtfamilien und Sozialisationsbedingungen in Hamburg zwischen Zollanschluss und Erstem Weltkrieg ....................................... 53 2.1 Hamburg im Kaiserreich: politische Verfassung, demografische Entwicklung und soziale Differenzierung ........................................... 54 2.2 Zwischen schleichender Verbürgerlichung und struktureller Überforderung: Die Entwicklung des Familienlebens......................... 62 2.2.1 Zeitgenössische (Zerr-)Bilder der Arbeiterfamilie .......................... 62 2.2.2 Familie und generatives Verhalten im „sozialen Raum“: Die demografische Grundkonstellation.................................................. 72 2.2.2.1 Proletarisches Heiratsverhalten und innerstädtische Mobilität ... 72 2.2.2.2 Familiengröße ............................................................................. 81 2.2.2.3 „Unvollständige“ Familien ......................................................... 85 2.2.3 Familienleben und Wohnsituation in Hamburg............................... 92 2.2.3.1 Übervölkerte Wohnungen und „offene Haushaltsstruktur“ ........ 92 2.2.3.2 Zwei lokale Armutszentren mit unterschiedlicher Baustruktur... 98 2.2.3.2.1 Die Gängeviertel der Alt- und Neustadt 98 2.2.3.2.2 Die neuen Arbeiterstadtteile im Südosten der Stadt 102 2.2.3.3 Proletarische Wohnkultur und Wohnraumnutzung................... 107 2.2.4 Arbeit, Einkommen und Haushalt ................................................. 110 2.2.5 Die Binnenstruktur der Arbeiterfamilien: Paarbeziehung, Sexualität und Erziehung .............................................................. 120 2.3 Die außerfamilialen Sozialisationsinstanzen: Volksschule, Arbeitsplatz und „Straße“.................................................................. 132
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Inhaltsverzeichnis
2.3.1 2.3.2 2.3.3
Die Volksschule ............................................................................ 133 Arbeit und Ausbildung.................................................................... 141 Sozialisationsraum „Straße“: Gleichaltrigengruppe, neue Medienerfahrungen und organisierte Freizeit................................ 148 2.4 Zusammenfassung: Individualisierungsschübe und strukturelle Überforderung traditioneller Sozialisationsinstanzen........................ 158 3
Vom „Rettungshaus“ zur „überwachten Freiheit“............................... 167 3.1 Privatwohltätige und öffentliche Angebote der Jugendfürsorge bis Mitte der 1880er Jahre....................................................................... 171 3.1.1 Privatwohltätige Initiativen und Einrichtungen zur „Rettung“ und „Bewahrung“ Minderjähriger................................................. 171 3.1.2 Die halbstaatlichen Einrichtungen der Jugendfürsorge bis in die 1880er Jahre .................................................................................. 188 3.2 Der Waisenhausskandal von 1885/1886 als Katalysator einer umfassenden Modernisierung der Hamburger Jugendfürsorge ......... 200 3.3 Zentralisierung, Ausbau und Ausdifferenzierung: Die Entwicklung öffentlicher Jugendfürsorge bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs . 212 3.3.1 Organisatorische und personelle Entwicklung .............................. 212 3.3.1.1 Die organisatorischen und personellen Veränderungen unter dem Direktorat Stalmann .......................................................... 216 3.3.1.2 Die organisatorische Weiterentwicklung der ehrenamtlichen Waisenpflege unter dem Direktorat Petersen............................ 220 3.3.1.3 Soziale Zusammensetzung und defensive Feminisierung der ehrenamtlichen Waisenpflege 1900-1914................................. 223 3.3.2 Neue Tätigkeitsfelder der öffentlichen Jugendfürsorge ................ 232 3.3.2.1 Die Erziehung „verwahrloster“ und straffälliger Jugendlicher – „Zwangserziehungswesen“ (1908)......................................... 234 3.3.2.2 Berufsvormundschaft über uneheliche Kinder (1908/1910) ..... 249 3.3.2.3 Erziehungsaufsicht und Jugendgerichtshilfe (1909) ................. 257 3.3.2.4 Fürsorge für Säuglinge und Kleinkinder: Säuglingsschutz und Kostkinderwesen (1910) ........................................................... 268 3.3.3 Die „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ entsteht ................ 275 3.4 Innovation im Schatten – Neue privatwohltätige Initiativen und Einrichtungen in ihrem Verhältnis zur öffentlichen Jugendfürsorge. 279 3.5 Die Hamburger Sonderentwicklung – ein Ergebnis von Reformstau, äußerem Anpassungsdruck und sozialmanagerialer Durchgestaltung................................................................................. 292
Inhaltsverzeichnis
4
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug – Fürsorge- und rechtspolitische Debatten zum Eingriff in das Elternrecht.................. 301 4.1 Die rechtliche Stellung des Vaters im Spätabsolutismus und die Hamburger Vormundschaftsordnung von 1832................................. 302 4.1.1 Gottvater, Hausvater, Landesvater: Die gesellschaftliche und rechtliche Position des Vaters zu Beginn des 19. Jahrhunderts..... 303 4.1.2 „Gewiß handelt bey mehrerer Freyheit der Mensch im Ganzen besser ...“ Die Reform des Hamburger Vormundschaftswesens in den 1820er Jahren ..................................................................... 307 Exkurs: Die praktische Bedeutung des Sorgerechtsentzugs in der „liberalen Ära“............................................................................... 317 4.2 Interventionsstaat und jugendliche Devianz: Das „verwahrloste Kind“ im Fokus straf- und privatrechtlicher Eingriffsbefugnisse...... 325 4.2.1 Die Formierung des Interventionsstaates und die „bürgerliche Sozialreform“ ................................................................................ 326 4.2.2 Die Erfahrungen mit dem preußischen Zwangserziehungswesen als Hintergrund der Debatte im DVAW........................................ 339 4.2.3 Die Grundsatzdebatte über die Zwangserziehung „verwahrloster“ Minderjähriger ............................................................................... 344 4.2.4 Die Auswirkungen der DVAW-Kontroverse auf die Debatte zum Hamburger Zwangserziehungsgesetz von 1887 .................... 358 4.3 Auf dem Weg zum staatlichen Wächteramt: Die reichsweite Normierung vorbeugender Zwangserziehung ................................... 371 4.3.1 Die parlamentarischen Beratungen und öffentlichen Diskussionen zum § 1666 BGB .................................................... 371 4.3.2 Die Reklamationsproblematik in Hamburg................................... 385 4.4 Die landesrechtliche Einführung der Eingriffsnorm.......................... 392 4.4.1 Wer bezahlt die „künstliche Armut“? Die preußische Kostendebatte zur vorbeugenden „Fürsorgeerziehung“ ................ 392 4.4.2 Die Debatte zum Hamburger Zwangserziehungsgesetz: öffentliche Ersatzerziehung für „gute Kinder schlechter Eltern“ .. 405 4.5 Zusammenfassung: Von der „künstlichen Hilfsbedürfigkeit“ bis zur Proklamation des „Rechts des Kindes auf Erziehung“ ................ 416
5
Die Praxis des Sorgerechtsentzugs in Hamburg vor und nach Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900.................................................... 423 5.1 Die Vormundschaftsbehörde ............................................................. 425
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Inhaltsverzeichnis
5.1.1
Die Aufgaben-, Personal- und Organisationsentwicklung der Vormundschaftsbehörde bis zum Inkrafttreten des BGB.............. 425 5.1.2 Die organisatorischen und personellen Veränderungen seit der Jahrhundertwende.......................................................................... 435 5.2 Die Laienrichter................................................................................. 441 5.3 Das Absetzungs- und Entzugsverfahren nach den verfahrensrechtlichen Bestimmungen................................................ 449 5.4 Der Sorgerechtsentzug im Kontext justizförmiger Sozialkontrolle: Eine quantitative Annäherung ........................................................... 459 5.4.1 Die obervormundschaftliche Kontrolltätigkeit als Experimentierfeld – die Entwicklung bis zur Jahrhundertwende.. 460 5.4.2 Die Entwicklung von 1900-1914: Die Einbindung der Eingriffe in das elterliche Sorgerecht in die justizförmige Sozialkontrolle .. 470 5.5 Die Ausgestaltung des Sorgerechtsverfahrens in der Praxis.............. 483 5.5.1 Soziale Herkunft und Wohnort der betroffenen Familien ............. 483 5.5.2 Ausgangskonflikte, Anzeigeverhalten und Interventionsanlässe .. 486 5.5.2.1 Lebensweltliche Ausgangskonflikte ......................................... 488 5.5.2.1.1 Eltern-Kind-Konflikte 489 5.5.2.1.2 Eheauseinandersetzungen um die Kindeserziehung und Konflikte mit dem weiteren sozialen Umfeld 503 5.5.2.2 Anzeigen ohne erkennbaren Konfliktanlass.............................. 511 5.5.2.3 Konflikte zwischen Eltern und Behörden und Behörden untereinander 515 5.5.3 Das Ermittlungs- und Beweisverfahren......................................... 518 5.5.3.1 Die Anhörung............................................................................ 519 5.5.3.2 Die Ermittlungstätigkeit der Vormundschaftsbehörde.............. 522 5.5.3.2.1 Zur Vorgehensweise bei den Ermittlungen 522 5.5.3.2.2 Die Verhandlung von Normen bezüglich Arbeit, Geschlecht und Generationenverhältnis..............................................................540 „Wäre ich ein verkommener Mensch, würde mich kein Arbeitgeber annehmen“ – Die Verhandlungen der Arbeitshaltung ...................................................................................541 „ ... und werde unverzüglich Anstalten treffen, um die Ehescheidung einzuleiten“ Die Verhandlung des Geschlechterverhältnisses.................................................................550 „Der Knabe ist ein großer Taugenichts, es muss wirklich etwas Rücksicht darauf genommen werden, wenn die Eltern etwas weit in ihrem Züchtigungsrecht gingen“ – Die Verhandlung des Erziehungsverhaltens.........................................564
Inhaltsverzeichnis
15
5.5.4 „Hauptverhandlung“ und Beschluss.............................................. 577 5.5.4.1 Die „Hauptverhandlungen“ und die formelle Gestaltung der Beschlüsse................................................................................. 578 5.5.4.2 Die inhaltliche Ausgestaltung der Beschlüsse .......................... 583 5.5.4.2.1 Die Ausdeutung der Tatbestandsvoraussetzungen vor Inkrafttreten des BGB.......................................................................584 5.5.4.2.2 Die Ausdeutung der Tatbestandsvoraussetzungen nach Inkrafttreten des BGB.......................................................................589 Die „missbräuchliche“ Ausübung der Personensorge ....................590 Die „vernachlässigte“ Erziehung......................................................595 Die gerichtliche Ausdeutung des Tatbestandes des „unsittlichen und ehrlosen Verhaltens“..................................................................599 Die „Erforderlichkeit“ als übergeordnete Tatbestandsvoraussetzung................................................................608 5.5.5 Umsetzung der vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse und Rechtsmittelgebrauch .................................................................... 613 6
Schluss: Der gesetzliche Schutz „gefährdeter Kinder“ – vom „Kulturstaat“ zum „aktivierenden Staat“............................................. 621
Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................ 637 1 Archivalien ........................................................................................ 637 2 Gedruckte Quellen............................................................................. 640 2.1 Amtliche Veröffentlichungen........................................................ 640 2.2 Einzelne Verordnungen sowie Gesetzes- und Entscheidungssammlungen ........................................................... 641 2.3 Sonstige Periodika – Veröffentlichungen von Verbänden, privatwohltätigen Organisationen usw. ......................................... 642 3 Sekundärliteratur ............................................................................... 643 3.1 Literatur vor 1945.......................................................................... 643 3.2 Literatur nach 1945 ....................................................................... 649 4.
Bildnachweis ..................................................................................... 666
Zusätzliche Materialien sowie Quellennachweise zu den aufgenommenen Tabellen, Grafiken und Karten sind über den „OnlinePlus“-Service des VS-Verlags im Internet einzusehen: www.vs-verlag.de/buch/ 978-3-531-17625-3/
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 u. 2:
Links: Hof mit Buden und Sählen. Brauerknechtsgraben um 1904. rechts: „Die Brutstätten der Cholera in Hamburg“, Stich nach einer Fotografie von 1893....................................... 101
Abbildung 3: Typische Hammerbrooker Schlitzbauten. Idastraße, um 1930. 103 Abbildung 4: Das „Rauhe Haus“ in Hamburg-Horn um 1845. Die Abbildung betont den beschaulichen dörflichen Charakter der Anstalt. ..................................................................................... 174 Abbildung 5: Das Hamburger Waisenhaus von 1858 in der Averhoffstraße, Uhlenhorst (um 1910)............................................................... 191 Abbildung 6: „Hamburger Waisenkinder-Sprüchlein – modernen Verhältnissen angepasst.“ Karikatur zur Waisenhausaffäre 1885/86..................................................................................... 204 Abbildung 7: Salomon Abendana Belmonte (1843-1888), Berichtererstatter des Bürgerschaftsausschusses zur „Waisenhausaffäre“ von 1888.......................................................................................... 206 Abb. 8 u. 9:
Gegenspieler in der Hamburger Reformdiskussion zum Vormundschaftswesen Ende der 1820er Jahre. Links: Wilhelm Amsinck (1752-1831); Rechts: Martin Hieronymus Hudtwalcker (1787-1865). ....................................................... 311
Abb. 10 u. 11: Die Kontrahenten in der DVAW-Debatte um die Zwangserziehung verwahrloster Kinder von 1884/85. Links: Der Oberbürgermeister Albrecht Ohly (1829-1891); Rechts: Stadtrat Eduard Gustav Eberty (1840-1894). ........................... 351 Abbildung 12: Die „Alte Post“, in der Zeit von 1887-1916 Dienstsitz der Hamburger Vormundschaftsbehörde........................................ 429 Abbildung 13: Wohnungsskizze aus einer anwaltlichen Stellungnahme von 1886. ......................................................................................... 560
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Anteil der Verheirateten und Verwitweten an den erwerbstätigen Hamburger Arbeiterinnen und Arbeitern nach Berufsgruppen, 1895 und 1907. ................................................. 75
Tabelle 2:
Anteile der Hamburger Arbeiter mit „Eheerfahrung“ in Industrie und Handel nach Alter und Qualifikation 1895 und 1907............................................................................................ 76
Tabelle 3:
Dimensionen der DVAW-Kontroverse zur Zwangserziehung „verwahrloster“ Kinder und Jugendlicher 1884/85 .................. 355
Tabelle 4:
Entwicklung des Arbeitsanfalls in der Kanzlei der Vormundschaftsbehörde 1884-1899......................................... 431
Tabelle 5:
Entwicklung der Arbeitsbelastung der Vormundschaftsbehörde........................................................... 433
Tabelle 6:
Personalentwicklung Vormundschaftsbehörde Hamburg 1884-1914................................................................................. 439
Tabelle 7:
Soziale Herkunft der Laienrichter der Hamburger Vormundschaftsbehörde 1884-1914......................................... 443
Tabelle 8:
Entwicklung justizförmiger Sozialkontrolle in Hamburg bis 1900.......................................................................................... 462
Tabelle 9:
Entwicklung justizförmiger Sozialkontrolle in Hamburg 1900-1914................................................................................. 476
Tabelle 10:
Die Anordnung vorbeugender Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung in Hamburg, Berlin und Preußen im Vergleich .................................................................................. 481
Tabelle 11:
Überlieferte Beschlüsse der Beschwerdeinstanzen in Sorgerechtsverfahren (1900-1914) ........................................... 617
Grafiken- und Kartenverzeichnis
Grafik 1:
Entwicklung der Unehelichenquote in Hamburg 1884-1913 nach Stadtteilgruppen. ................................................................ 88
Grafik 2:
Verwaltungsaufbau des Stadtstaats Hamburg nach dem Verwaltungsgesetz von 1863.................................................... 196
Grafik 3:
Berufl. Zusammensetzung der Hamburger Waisenpfleger, 1899.......................................................................................... 224
Grafik 4:
Berufl. Zusammensetzung der Hamburger Waisenpfleger, 1911.......................................................................................... 225
Grafik 5:
Anträge auf Zwangserziehung nach Antragstellern und Erledigung Okt. 1887 – Dez. 1892 ........................................... 468
Grafik 6:
Vormundschaftsgerichtliche Maßregeln zur Sicherung des Kindeswohls und Zwangserziehung in Hamburg, 1900-1921.. 472
Grafik 7:
Soziale Herkunft der von Sorgerechtsverfahren betroffenen Familien nach dem Beruf der Eltern......................................... 484
Karte 1:
Pro-Kopf-Einkommen nach Hamburger Stadtteilen 1900.......... 60
Karte 2:
Jungverheiratetenanteile nach Hamburger Stadtteilen 1900. Quelle: Stat. Hbg. Staats XXI/1902, S. 43. ................................ 78
Karte 3:
Fruchtbarkeitsziffer nach Hamburger Stadtteilen 1900.............. 83
Karte 4:
Unehelichenquote nach Hamburger Stadtteilen 1900. ............... 86
Karte 5:
Ehescheidungsquote nach Hamburger Stadtteilen 1900............. 90
Karte 6:
Anteil der Bewohner „übervölkerter Wohnungen“ nach Hamburger Stadtteilen 1900....................................................... 94
Karte 7:
Prozentualer Anteil der Familienhaushalte mit Einlogierern oder Schläfern nach Hamburger Stadtteilen 1900. ..................... 96
Abkürzungsverzeichnis
AFET AG ALR BGB BlHWpfl.
: : : : :
BlHAW DVAW EG BGB pr. FEG FE FGG GVG GWR JdF HAB Hbg. StaHB HGZ i.d.F. i.V.m. LG MCrt. NP OLG RStGB STAH UWG VerwBer. VfS VO ZBfVJF
: : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : : :
ZE
:
Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag Amtsgericht Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Bürgerliches Gesetzbuch Blätter für die Hamburgische Waisenpflege (ab 1910: Blätter für die Hamburgische öffentliche Jugendfürsorge) Blätter für das Hamburgische Armenwesen Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Preußisches Fürsorgeerziehungsgesetz Fürsorgeerziehung Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit Gerichtsverfassungsgesetz Gemeindewaisenrat Jahrbuch der Fürsorge Hamburger Adressbuch Hamburgisches Staatshandbuch Hanseatische Gerichtszeitung in der Fassung in Verbindung mit Landgericht Mark Courant Neue Praxis Oberlandesgericht Reichsstrafgesetzbuch Staatsarchiv Hamburg Unterstützungswohnsitzgesetz Verwaltungsbericht Verein für Sozialpolitik Vormundschaftsordnung Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung Zwangserziehung
24 pr. ZEG ZEB ZEG ZPO
Abkürzungsverzeichnis
: : : :
preußisches Zwangserziehungsgesetz Zwangserziehungsbehörde Hamburger Zwangserziehungsgesetz Zivilprozessordnung
1
Einleitung
Im Spätsommer des Jahres 1884 ließ der Hamburger Armenvorsteher Dr. Riecke der örtlichen Vormundschaftsbehörde den Bericht eines seiner Armenpfleger übermitteln. Der Pfleger schilderte darin die Lebenssituation des Buchbinderehepaares Köhnsen, das wenige Tage zuvor zusammen mit seinen sechs Kindern wegen Mietrückständen vom Hauseigentümer auf die Straße gesetzt worden war. Es war kein neutraler Bericht, den der ehrenamtliche Helfer lieferte. Er brachte den Fall dem Armenvorsteher vielmehr deshalb zur Kenntnis, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass die Familie eine dauerhafte finanzielle Unterstützung nicht verdient hätte und dringend etwas zum Schutz der Kinder unternommen werden müsse. Zur Begründung gab er an: „Durch Augenschein hab ich mich überzeugt, daß das Zimmer in welchem der Köhnsen mit Frau & 6 Kindern gehaust hat in einem Zustand sich befand der jeder Beschreibung spottet. Der Schmutz & die Unordnung übertraf jeden Begriff. Nach Aussagen der Nachbarn ist der p. K. fast jeden Abend betrunken zu Hause gekommen, doch leugnet er dieses, ebenso seine Frau, die nur für einige Fälle es zugiebt. Es wurde mir auch mitgeteilt, daß während seine Kinder hungerten, der Mann seine Cigarren geraucht habe. [...] Die Aussage der Frau, daß die Tochter bei der Aussetzung krank im Bett gelegen habe, bewahrheiteten sich nicht, da die Kinder nur schwach von Mangel genügender Ernährung sind. Der älteste 15 jähr. Sohn, welcher noch bei den Eltern lebt, & wie sein Vater sagt, bei ihm die Buchbinderei lernt, wird als ein großer Herumtreiber geschildert, der auch schon mit der Polizei Bekanntschaft gemacht hat. Ebenso der 14 jähr. Carl. Der Vater giebt dieses zu, & behauptet, sie deßhalb im Hause behalten zu haben. – Das Inventar der Wohnung bestand aus 2 Bettstellen mit Strohsäcken, einem Kinderbett & Wagen, einem alten Stuhl, [...] & Toilette, sowie aus diversen in alle Himmelsrichtungen zerstreuten Kleidungsstücken, die kaum den Ausdruck Lumpen verdienten.“1
Es lässt sich rückblickend nicht mehr genau feststellen, wie der Armenpfleger auf die Familie aufmerksam geworden war. Vermutlich wohnte er im selben Quartier und hatte zunächst eher beiläufig von dem seit langem schwelenden Konflikt zwischen dem Buchbinder und seinem Hauswirt erfahren, bei dem es auch zu Handgreiflichkeiten gekommen war. 1
STAH 232-1 Abt. I 291, Bl. 2a im Folgenden abgekürzt: 1884, Köhnsen, Abt. I 291.
J. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
Vor die Vormundschaftsbehörde geladen, bestritten die Eheleute alle gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen, erklärten die Unordnung in ihrer Wohnung damit, dass der Vermieter sich unerlaubten Zutritt verschafft und alles „durcheinander geworfen“ habe und verwahrten sich gegen eine Bevormundung ihrer Kinder. Die Behörde beschloss trotz dieser Dementis, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen und bestellte den Gerichtsreferendar Dr. Behn als Spezialvormund, dem sie den Auftrag gab zu begutachten, „ob die Kinder den Eltern zu belassen event. ob und welche denselben abzunehmen und anderweitig unterzubringen seien“.1 Nach mehrfacher Erinnerung und Androhung eines Strafgeldes kam der Spezialvormund drei Monate später seiner Pflicht nach und reichte einen umfassenden Bericht ein, in dem er die zwangsweise Abnahme aller Kinder bis auf den ältesten, bereits „verdorbenen“ Sohn, empfahl.2 Behn entwarf ein ähnlich düsteres Bild von der häuslichen Situation der Buchbinderfamilie wie zuvor schon der Armenpfleger, fügte ihm jedoch noch einige wichtige Aspekte hinzu. Über die Mutter wusste er zu berichten, sie habe, während er sie zur Rede stellte, in sehr unsauberer Bekleidung das Mittagessen zubereitet, das aus einem Kohlkopf und einem „sehr kleinen Stück Fleisch“ bestanden habe. Was sie zur Verteidigung ihres Mannes vorbrachte, hielt er für rundweg erlogen. Noch wesentlich schlechter schnitt in der Stellungnahme des Spezialvormundes der Vater selbst ab. Wiederholt, so erklärte Behn, habe er den Buchbinder in seiner Werkstatt anzutreffen versucht, sei aber immer vor verschlossene Türen gekommen. Als er eines Tages endlich Zutritt erlangt habe, habe er nur ein paar Tische, einige Schraubstöcke, einen Leimtopf sowie den fest schlafenden Vater vorgefunden. Weckversuche seien vergeblich geblieben, was sich der Spezialvormund nur dadurch erklären konnte, dass der Mann völlig betrunken gewesen sei. Bezeichnender Weise stachen die Eindrücke, die Behn von den jüngeren Kindern gewonnen hatte, von der negativen Beurteilung der Eltern deutlich ab. Die Lehrer, so stellte der ehrenamtliche Ermittler klar, hätten den Kindern ein gutes Zeugnis ausgestellt und sie als „klare arbeitsame Köpfe“ geschildert, „die bei richtiger Beeinflussung außer der Schule zu durchaus brauchbaren Menschen erzogen werden könnten“. Dennoch war sich Behn sicher, dass die Eltern „in jeder Richtung [einen] schädlichen Einfluß auf die Kinder“ ausübten. Den Ausschlag für dieses Urteil hatten augenscheinlich die Aussagen des Vermieters und weiteren Nachbarn gegeben, die übereinstimmend beobachtet haben wollten, wie die Eltern ihre Kinder vom Schulbesuch abhielten und zum Betteln ausschickten. 1 2
A.a.O., Beschluss vom 11.8.1884. A.a.O., Bl. 7.
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Die Vormundschaftsbehörde nahm den Bericht des Spezialvormundes zwar kommentarlos entgegen, glaubte aber sowohl die Eheleute als auch die von Behn benannten Zeugen vor einer Entscheidung in der Sache noch einmal vernehmen zu müssen. Erneut lud man die Eheleute vor, konfrontierte sie mit den Ergebnissen der Untersuchung und forderte sie zur Benennung von Entlastungszeugen auf. Der Buchbinder und seine Frau nutzten diese Gelegenheit, um ihre eigene Version der Dinge darzulegen: Die unzureichende Ausstattung der Wohnung erklärten sie damit, dass sie erst kurz vor dem Besuch des Spezialvormundes umgezogen seien und noch keine Zeit gefunden hatten, alle Betten aufzuschlagen; die „Bettelei“, zu der sie die Kinder angeblich anhielten, sei in Wahrheit nichts anderes als die Inanspruchnahme mildtätiger Unterstützung gewesen und zuhause behalten hätten sie dieselben nur dann, wenn sie ernstlich krank gewesen seien. Bereitwillig räumten sie wirtschaftliche Engpässe ein. Inzwischen, so erklärte Köhnsen, habe er aber wieder ausreichend Verdienst und könne seine Kinder selbst ernähren. Der Aufforderung, Entlastungszeugen zu benennen, kam der Vater in einem kurz darauf verfassten Schreiben nach, in dem er seiner Empörung über die „Verleumdungen“ der Nachbarn freien Lauf ließ und sich über das abschätzige Urteil des Spezialvormundes beschwerte. Behns Aussagen, so meinte er, „zeugen [...] höchst gelinde gesagt von Vorurtheil, Unerfahrenheit, oder grenzenloser Gleichgültigkeit in der Behandlung von Fragen [...], die so tief in das innerste Mark des Familienlebens hineingreifen“.1 Mit der wiederholten Anhörung der Eltern und der eingehenden Zeugenvernehmung glaubte die Vormundschaftsbehörde endlich genug Material beisammen zu haben, um zur Tat schreiten zu können: Ein halbes Jahr nach Eingang der Anzeige beschloss sie, dem Vater die Vormundschaft über seine fünf jüngsten Kinder zu entziehen und diese durch die Armenanstalt anderweitig unterbringen zu lassen.2 Noch einmal zwei Monate später wurden die Köhnsen-Kinder von der Polizei abgeholt und dem Kostkinderinstitut der Armenanstalt übergeben. Soweit, wie die Geschichte anhand der Vormundschaftsakte bisher nacherzählt wurde, scheinen alle Bemühungen der Eltern, die gegen sie vorgebrachten 1
A.a.O., Bl. 8. Die sehr umfangreiche schriftliche Begründung stützte sich v.a. auf die unzureichende Ernährung der Kinder – nach Aussagen einer Nachbarin waren die Kinder nicht nur über ihren Hundenapf hergefallen, sondern hatten auch die Exkremente ihres Kanarienvogels mit Leidenschaft verzehrt – daneben aber auch auf den mangelnden Arbeitseifer des Vaters und seinen an angeblichen Hang zum Trinken und Geldvergeuden. Apodiktisch hieß es im Beschluss: „Wenn auch die Absprechung der elterlichen Vormundschaft und die Wegnahme der Kinder eine scharfeinschneidende Maßregel ist, wenn auch den Kindern viel verloren geht, dadurch daß man sie den leiblichen Eltern entzieht, so kann doch eine Liebe, die bei dem Vater in nichts anderem besteht, als in Worten und bei der Mutter in untätigem Gefühl, keine Berücksichtigung finden; und ein elterliches Gefühl, das seine Pflichten nicht kennt, kann und darf nicht geschont werden, wenn das leibliche und auch das moralische Wohl der Kinder auf dem Spiele steht.“ A.a.O., Bl. 9. 2
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Anschuldigungen zu entkräften, erfolglos geblieben zu sein. Der Fall war mit der Abnahme der Kinder aber noch nicht abgeschlossen, denn auf die Beschwerde des Vaters gegen den Beschluss der Vormundschaftsbehörde hob das Hanseatische Oberlandesgericht vier Wochen später die erstinstanzliche Entscheidung wieder auf, weil es die „moralische Vernachlässigung“ der Kinder für nicht erwiesen hielt und die Unfähigkeit des Vaters, seine Söhne und Töchter zu ernähren, für das Gericht keinen ausreichenden Grund darstellte, um den schweren Eingriff zu rechtfertigen. Pikanterweise hatte die mündliche Aussage des Spezialvormundes maßgeblich zur Kehrtwende in der Geschichte beigetragen. Schon kurz nach der Fortnahme der Kinder wurde Behn angesichts der verzweifelten Reaktionen der Eltern offenbar von schweren Skrupeln geplagt. Auch dem Oberlandesgericht trug er seine geläuterte Auffassung vor, wonach weniger „böser Wille, sondern Mangel und Not“ zur Vernachlässigung der Kinder geführt hätten. Das Gericht sah daraufhin keinen Grund mehr, den Beschluss der ersten Instanz aufrechtzuerhalten. Die Geschichte des Hamburger Buchbinderehepaares Köhnsen, dem man vor rund 120 Jahren von Staats wegen die Kinder wegnahm, führt ins Zentrum der vorliegenden Untersuchung: Sie handelt vom Familienleben am unteren Rand der Gesellschaft, von vernachlässigten bzw. „gefährdeten“ Kindern und sie untersucht den gesellschaftlichen Umgang mit diesen sozialen Phänomenen. Damit ist ein Thema angeschnitten, das in den letzten Jahren wieder an Aktualität gewonnen hat: Kaum eine Woche vergeht, in der die Tagespresse nicht einen neuen, noch gravierenderen Fall von Kindesvernachlässigung bzw. -misshandlung ans Tageslicht fördert. Auf allen möglichen Ebenen wird die nachlassende Erziehungsleistung von Eltern aus der „neuen“ Unterschicht diskutiert und auch Vorschläge zur sozialpädagogischen und gesetzlichen Eindämmung abweichenden Erziehungsverhaltens haben Hochkonjunktur. Trotz der zeitgeschichtlichen Facetten kommt einem am Fall Köhnsen deshalb vieles bekannt vor. Der Begriff des „leiblichen und moralischen Wohls“, der im Beschluss der Vormundschaftsbehörde Verwendung fand, verrät bereits, dass man es mit einem frühen Vorläufer des heute noch gebräuchlichen zivilrechtlichen Vorgehens bei vermuteter Kindeswohlgefährdung zu tun hat. In der vorliegenden Studie werden die gesellschaftlichen, diskursiven und organisatorischen Kontexte nachgezeichnet, die am Ende des 19. Jahrhunderts zur Etablierung des Sorgerechtsentzugs führten, um auf dieser Grundlage die vormundschaftsgerichtlichen Interventionen in einem begrenzten geografischen Raum – der Hansestadt Hamburg – und in einem abgeschlossenen Zeitraum von rund 30 Jahren zu rekonstruieren. Es geht mithin nicht darum, ein aktuelles Thema von seiner geschichtlichen Seite her aufzurollen. Die historische Analyse
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hat ihren eigenständigen Stellenwert.1 Gleichwohl zeichneten sich Grundprobleme, die die gesetzliche Kinderschutzdebatte bis heute bestimmen, wie etwa die diffizile VerhältnisbestimEinleitungmung von Zwang und Kooperation oder die Diskrepanz zwischen rechtspolitischen Forderungen einerseits und fortgesetztem kommunalen Sparzwang andererseits, bereits in der historischen Ausgangskonstellation vor rund 120 Jahren ab. Von daher bietet der distanzierte Blick auf die Vergangenheit auch die Chance, zu einer Differenzierung und Versachlichung der emotional hochaufgeladenen aktuellen Auseinandersetzung beizutragen und gleichzeitig Fragestellungen zu entwickeln, die über die rein tagespolitischen Erörterungen und ad-hoc-Maßnahmen hinausreichen. Die Untersuchung wendet sich einem Personenkreis und einer gesellschaftlichen Praxis zu, die, gemessen an der Bedeutung, die ihr die Zeitgenossen beimaßen, in der Fürsorgegeschichtsschreibung bisher keine adäquate Berücksichtigung gefunden hat.2 Sie beschäftigt sich – um eine zeitgenössische Wendung zu gebrauchen – mit den „guten Kindern schlechter Eltern“ und sie fokussiert die Auseinandersetzungen, die im Vorfeld der Fremdunterbringung zwischen Eltern, Nachbarn, ehrenamtlichen Ermittlern, Lehrern und nicht zuletzt den Mitgliedern der Vormundschaftsbehörde über den richtigen erzieherischen Umgang mit Kindern geführt wurden. Der „Fall Köhnsen“ ist einer der frühesten Fälle, in denen sich die Hamburger Vormundschaftsbehörde entschloss, von ihrem Recht Gebrauch zu machen und einem Vater die „natürlichen Rechte zu entsetzen“. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollten ihm rund 2.500 vergleichbare Eingriffe folgen.3 Beispielhaft ist er insofern, als von den Interventionen vor allem Familien der städtischen Unterschicht betroffen waren: Bei den Vätern handelte es sich zumeist um ungelernte Arbeiter, gelegentlich fanden sich auch verarmte Handwerker darun-
1 Zuzustimmen ist hier Sachße, der in seiner Literaturübersicht zum Stand der historischen Forschung zur Sozialarbeit und Sozialpädagogik anmerkt: „Natürlich dient sie dem besseren Verständnis aktueller Probleme, dem Aufdecken verschütteter Alternativen. Aber Geschichte hat ihr eigenes Recht und ihre eigenen Gesetze, die verstanden und erschlossen sein wollen. Sie ist kein Selbstbedienungsladen für Munition in aktuellen Domänestreitigkeiten und Positionskonflikten; kein Steinbruch, aus dem man herausklauben kann, was heute gelegen kommt.“ Sachße [1995], S. 55 2 Vgl.: Uhlendorff [2001a], S. 620. Das zeitgenössische Interesse der Fachöffentlichkeit am Sorgerechtsentzug lässt sich aus der umfangreichen Fallkommentierung in Entscheidungssammlungen und Fachzeitschriften herauslesen. Die Anteilnahme, die die einfachere Bevölkerung am Schicksal „gefährdeter“ Kinder nahm, schlug sich demgegenüber in der Anzeigenflut nieder, die der Hamburger Kinderschutzverein zu bewältigen hatte: 1909 gingen 238 Anzeigen von Nachbarn, Angehörigen und anonym gebliebenen Personen bei den Meldestellen des Vereins ein. 1913 war die entsprechende Zahl bereits auf 613 gestiegen (Müller [1911] und ders. [1913a]). 3 Vgl. unten Abschnitt: 5.4.2.
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ter.1 Anders als gegenwärtig, wo der altersmäßige Schwerpunkt der Eingriffe nach § 1666 BGB bei den noch sehr jungen Kindern liegt2, waren von den Hamburger Sorgerechtsentzügen in den Jahren 1884-1914 vor allem noch schulpflichtige Kinder betroffen, also Kinder, die sich im Übergang vom Kindes- zum Jugendalter befanden. Viele Aspekte am „Fall Köhnsen“ entsprechen dem Bild, das die Sozialgeschichte der vergangenen Jahrzehnte von den unterbürgerlichen Lebensverhältnissen und dem Aufwachsen im Arbeitermilieu gezeichnet hat. Die geschilderten beengten Wohnverhältnisse passen ebenso zu dieser Vorstellung wie der Kinderreichtum der Familie, ihr häufiger Wohnortwechsel und die angedeutete katastrophale Ernährungslage.3 Auch das Ineinandergreifen von informeller Sozialkontrolle, armenfürsorgerischen Ermittlungspraktiken und vormundschaftsgerichtlichem Verfahren sowie die moralische Abqualifizierung der beschuldigten Eltern durch die ermittelnden Organe sind schon vielfach beschrieben worden.4 Der Fall scheint damit beispielhaft für den kolonialisierenden Zugriff der Fürsorgeinstitutionen auf die Lebenswelt der städtischen Unterschicht zu sein.5 Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch eine ganze Reihe von Facetten, die in auffälligem Kontrast zu dieser Vorstellung fürsorgestaatlicher Interventionen und ihrer Adressaten stehen. Trotz der moralischen Aburteilung der Eltern im Untersuchungsverlauf haben wir es mit einem recht aufwändigen Verfahren zu tun. Der Sachverhalt wird durch einen Spezialvormund eingehend ermittelt, die Wohnung wird in Augenschein genommen, den Eltern wird mehrfach Gelegenheit gegeben, Stellung zu den Vorwürfen zu beziehen usw. ... Von behördlicher Routine ist gleichwohl wenig zu spüren. Die Eltern scheinen als Rechtssubjekte ernstgenommen zu werden, was angesichts der damals vorherrschenden paternalistischen Fürsorgepraxis einigermaßen erstaunlich ist.6 Vor allem aber 1 Rechtlich war auch ein Eingriff gegen Väter und Mütter aus gehobeneren Ständen möglich. De facto aber handelte es sich bei den Bestimmungen des BGB (und seinen landesrechtlichen Vorläufern), um eine Art „Ausnahmegesetz“, das fast ausschließlich gegenüber den ärmsten Bevölkerungsschichten zur Anwendung gelangte. In dieser Hinsicht glichen sich Sorgerechtsentzug und Zwangserziehung stark. 2 Münder/Mutke u. a. [2000], S. 83 ff. 3 Stellvertretend für viele Veröffentlichungen zum Gegenstand etwa: Saul/Flemming u. a. [1982]. 4 Mit Bezug auf Hamburg vgl.: Dießenbacher [1986] und Döbler [1992]. 5 Zur Fachdebatte über den Ertrag des Habermasschen Kolonialisierungskonzeptes für die Analyse sozialpädagogischer Handlungszusammenhänge vgl.: Müller/Otto [1986]. Eine gelungene Adaption des Ansatzes im Bereich der Jugendfürsorgegeschichtsschreibung findet sich bei Peukert [1986]. 6 Der paternalistische Charakter der Armenfürsorge kam insbesondere darin zum Ausdruck, dass die Zuwendungspraxis auf face-to-face-Kontakten zwischen Armenpflegern und Unterstützungsempfängern beruhte, wobei sich die Autorität der ersteren aus ihrer höheren gesellschaftlichen Stellung ableitete. Die Pfleger übten ihr Amt in einer Mischung aus herablassender Güte und erzieherischer
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will das dokumentierte elterliche Verhalten nicht so recht zur Vorstellung von Unterschichtsangehörigen als passiven Objekten staatlicher Disziplinierungsbemühungen passen. Sie treten vielmehr als historische Akteure in Erscheinung, die ihre abweichenden Meinungen und Wirklichkeitsdeutungen selbstbewusst vortrugen und mehr oder weniger gekonnt ins Verfahren einbrachten. Die Irritationen, die das herkömmliche Bild vom wehrlosen Opfer staatlicher Fürsorge durch Fälle wie den vorgetragenen erfährt, ist der Ausgangspunkt für ein ganzes Bündel von Fragen, denen in der vorliegenden Untersuchung nachgegangen wird: Welche sozialen Konflikte gaben den Anlass für die eingehenden Ermittlungen der Vormundschaftsbehörde? Wer initiierte sie? Existierten gesellschaftliche Gruppierungen, die ein besonderes Interesse an vormundschaftsgerichtlichen Eingriffen hatten? In welchem Verhältnis stand die Entzugspraxis zur sich formierenden öffentlichen Jugendfürsorge? Wie wurden die Eingriffsbefugnisse des Staates begründet? Welches elterliche Verhalten wurde im Kaiserreich als „gefährdend“ eingestuft? Wie ging die Vormundschaftsbehörde bei der Feststellung der „Tatbestände“ konkret vor? Mit welchen Instanzen und Personen kooperierte sie dabei? Welches Vorverständnis der behandelten Sachverhalte brachten sie mit? Und nicht zuletzt: Wie verhielten sich die betroffenen Eltern im Verlauf des Verfahrens bzw. nach erfolgter Fremdunterbringung? Das Absetzungs- bzw. Entzugsverfahren besaß in der untersuchten Periode den Charakter eines gesellschaftlichen Experimentier- und Streitfeldes, auf dem alte und neue Auffassungen von Fürsorge aufeinander prallten, Interventionsformen erprobt und das Verhältnis von Zwang und Kooperation im Umgang mit der städtischen Unterschichtsbevölkerung neu austariert werden mussten. Die Untersuchung der Entzugspraxis lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Einbindung staatlicher Jugendfürsorgebemühungen und macht fassbar, was quellenmäßig ansonsten nur schwer zugänglich ist: Die Perspektive der betroffenen Eltern und ihre Positionierung zu den Fürsorgemaßnahmen des Staates.1
Strenge aus. Durch den konstitutiven persönlichen Bezug war die Gewährung bzw. Nichtgewährung der Unterstützungsleistung allerdings auch in sehr viel höherem Maße einer Beeinflussung durch die Empfänger zugänglich, als dies unter den Voraussetzungen der vollbürokratisierten Sozialverwaltung des 20. Jahrhunderts möglich wurde. 1 Hierin liegt auch der entscheidende forschungsstrategische Vorteil gegenüber Untersuchungen, die ihren Schwerpunkt auf die Rekonstruktion der zumeist sehr repressiven Erziehungspraxis in den öffentlichen Besserungsanstalten legen. Zur Bedeutung von „Akten betreuter Personen“ als historische Quelle vgl.: Radkau [1997]. Eine ausführliche, quellenkritische Auseinandersetzung mit den von der Vormundschaftsbehörde produzierten Personenakten ist über den „OnlinePlus“-Service des VSVerlags einsehbar unter: www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/.
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1.1 Anlage der Untersuchung und Eingrenzung des Gegenstandes Die im Vorangegangenen umrissene Thematik bewegt sich im Schnittbereich dreier wissenschaftlicher Disziplinen: der Rechtswissenschaft, der Sozialpädagogik und der Historiographie. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Untersuchung als ein interdisziplinär ansetzender Beitrag zur Erforschung der historischen Praxis Sozialer Arbeit, im Engeren: der Devianzpädagogik.1 Der besondere Stellenwert des Sorgerechtsentzugs für die sozialstaatliche Entwicklung ganz allgemein und die Geschichte der Sozialen Arbeit im Besonderen lässt sich grob in zwei Punkten umreißen. Erstens: Als massiver, staatlicher Eingriff in die „heilige Sphäre“ der Familienerziehung war der Sorgerechtsentzug Ausdruck eines gewandelten, auf soziale (und wirtschaftliche) Intervention setzenden Staatsverständnisses, das sich ungeachtet bestehender nationaler Besonderheiten fast gleichzeitig in sämtlichen
1 Das Programm der „Devianzpädagogik“ entwirft Plewig [1994]. Devianzpädagogik reflektiert auf jenes (sozialpädagogisch-strafrechtspflegerische) Praxisfeld, das sich als i.d.R. staatlich initiierte Reaktion auf abweichendes Verhalten auf der Basis jugendstraf- und jugendhilferechtlicher Kodifizierungen aufspannt. Der Aufnahme spezialpräventiv-erzieherischer Vorstellungen und Konzepte spätestens seit der Differenzierung der strafrechtlichen Sanktionen hinsichtlich des Alters der Delinquenten kommt in dieser Praxis der zentrale Stellenwert zu. Ein Grund für den erhöhten Reflexionsbedarf und damit einer eigenständigen (Sub-)disziplin rührt daher, dass diese Aufnahme nicht spannungsfrei vor sich geht, sondern von einer Reihe von Aporien gekennzeichnet ist. In der fachinternen Geschichtsschreibung hat sich in den vergangenen Jahren der Begriff der „historischen Sozialpädagogik“ etabliert, der gegenüber der Titulierung „Geschichte der Sozialpädagogik“ das „historische Gewordensein der heutigen sozialpädagogischen Bedeutungskontexte aus den sozialpädagogisch relevanten Diskursen der damaligen Zeit“ betonen soll (Niemeyer/Schröer u. a. [1997b], S. 9). Eine solchermaßen konzipierte Forschung ist allerdings der Gefahr einer erneuten ideengeschichtlichen Verengung ausgesetzt zu sein, die nur durch eine praxeologische Erweiterung des Forschungsdesigns, etwa in Anlehnung an die jüngere sozialwissenschaftliche Praxistheorie abgewendet werden kann. Letztere steht in kritischer Distanz sowohl zu einem empathischen Praxisverständnis – wie es etwa in den sozialphilosophischen Beiträgen Georg Lukacs oder Agnes Heller zum Tragen kommt – als auch zu einem mentalistisch und textualistisch verkürzten Kulturkonzept, das ‚das Soziale’ entweder auf der Ebene intentional angelegter kollektiver Überzeugungssysteme bzw. diskursiv kodierter Sprechakte angesiedelt. Nach Reckwitz ist „der ‚Ort’ des Sozialen [...] nicht der (kollektive) Geist und auch nicht ein Konglomerat von Texten und Symbolen [...], sondern es sind die ‚sozialen Praktiken’, verstanden als know-how-abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen’ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert’ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten’ materialen Artefakten annehmen. Aus praxeologischer Perspektive geht es weniger um die empathische Totalität einer ‚Praxis’, sondern darum, dass sich die soziale Welt aus sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verflochtenen Praktiken (im Plural) zusammensetzt: Praktiken des Regierens, Praktiken des Organisierens, Praktiken der Partnerschaft, Praktiken der Verhandlungen, Praktiken des Selbst etc.“ Reckwitz [2003], S. 298.
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Industrienationen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchsetzte.1 Dieses neue Staatsverständnis stach deutlich gegen die bisherige Verhältnisbestimmung von Obrigkeit und Gesellschaft ab, die etwas unscharf, aber anschaulich unter dem Begriff des „liberalen Nachtwächterstaats“ zusammengefasst wurde. Besonders prägnant gelangte diese Veränderung in jenen Rechtsbestimmungen zum Ausdruck, die, wie der § 1666 BGB und seine Vorläufer, als Abgrenzungsnorm zwischen staatlicher und privater Sphäre fungierten.2 Zweitens: Für die Formierung des noch jungen Praxisfeldes der öffentlichen Jugendfürsorge hatte der Sorgerechtsentzug insofern eine zentrale, bis heute fortwirkende Bedeutung, als er die Maßnahmen privatrechtlich flankierte, gegenüber kontraproduktiven Einmischungen der natürlichen Gewalthaber absicherte und – eher implizit und beiläufig – auch noch general- und spezialpräventive Effekte entfaltete.3 Was oberflächlich betrachtet als randständiges Aktionsfeld erscheinen mag, strukturierte und strukturiert bis heute das gesamte Aufgabengebiet der Jugendhilfe. Zentraler Akteur des Sorgerechtsentzug war in Hamburg die Vormundschaftsbehörde. Diese „Behörde“ nahm eine Zwischenstellung zwischen Verwaltungsbehörde und Gericht ein: Während ihre Arbeitsabläufe in den rein rechtspflegerischen Angelegenheiten denjenigen einer Verwaltungsbehörde entsprachen, nahm sie als Entscheidungsgremium im Zwangserziehungs- und Sorgerechtsverfahren zentrale gerichtliche Funktionen wahr.4 Der für Hamburg typischen antibürokratischen Haltung entsprechend verfügte die Vormundschaftsbehörde nur über sehr eingeschränktes Personal. Vor allem bei den Ermittlungen war sie deshalb in hohem Maße auf ehrenamtliche Unterstützung angewiesen. Mit dem Inkrafttreten des BGB 1900 wurde als Organ der Gerichtshilfe der so genannte Gemeindewaisenrat (GWR) etabliert, den man beim Waisenhauskollegium als oberster staatlicher Jugendfürsorgebehörde ansiedelte.5 Erstmals war damit eine Institution geschaffen worden, die ihre Erkundigungen
1 Vgl. zur historischen Entwicklung der Sozial- und Wohlfahrtsstaaten in komparativer Perspektive: Ritter [1991], insbesondere S. 87 ff. und Kraus/Geisen [2001]. Die Fokussierung der Sozialversicherungssysteme in beiden Untersuchungen führt allerdings eher zu einer Betonung der Differenzen anstatt der Übereinstimmungen innerhalb der sozialstaatlichen Entwicklung Europas. Die Internationalisierung der Kinderschutzdebatte am Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert: Dupont-Bouchat [2002]. 2 Liebler-Fechner [2001], S. 30. 3 Oberwittler [2000], S. 146. 4 Vgl. unten Abschnitt 5.1 und 5.2. 5 Beim GWR handelte es sich ursprünglich um rein preußisches Rechtsinstitut, das dem Aufbau einer kommunalen Organisation diente, die die örtlichen Vormundschaftsgerichte durch die Auswahl geeigneter Vormünder und deren fortgesetzte Überwachung entlasten sollte. In durchaus zeittypischer Weise verknüpfte es dabei ehrenamtlich-privatwohltätige mit hoheitlich-staatlichen Aufgaben.
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unter einer besonderen, pädagogisch-fürsorgerischem Blickwinkel vornahm und somit als Ausgangspunkt einer Verfachlichung der Waisenpflege dienen konnte.1 Aber nicht nur durch die Rolle des Gemeindewaisenrates als Gerichtshilfeorgan ergab sich eine enge Verbindung von vormundschaftgerichtlichen Eingriffen und jugendfürsorgerischen bzw. „sozialpädagogischen“ Tätigkeiten. Schon seit Mitte der 1890er-Jahre trat das Waisenhauskollegium auch als Antragsteller und ausführendes Organ der vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen auf. Diese Omnipräsenz im Entzugsverfahren und die charakteristische Verschmelzung von anzeigenden und ermittelnden Tätigkeiten zu einer quasi-staatsanwaltschaftlichen Funktion ließen das Kollegium und seinen Nachfolger, die 1910 gebildeten Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben der Vormundschaftsbehörde zum wichtigsten Akteur in der Entzugspraxis werden. Bis heute hat sich an dieser Grundkonstellation nichts Grundlegendes geändert. Insofern ist die Praxis des Sorgerechtsentzugs als ein zentraler Baustein öffentlicher Jugendfürsorge anzusehen. Die Studie behandelt die Eingriffe in das elterliche Sorgerecht aus einem regionalgeschichtlichen Blickwinkel. Nur in der lokal stark eingegrenzten Perspektive, so die Grundüberlegung, lassen sich die anvisierten Mikroprozesse der gesellschaftlichen Aneignung der Gerichtspraxis mit der erforderlichen Genauigkeit studieren. Hamburg bot sich aus mehreren Gründen als Beispiel an: 1.
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Die Hansestadt nahm im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert innerhalb der Jugendfürsorge und speziell in der Behandlung „verwahrloster“ bzw. „sittlich gefährdeter“ Kinder eine Vorrangstellung ein.2 Zumindest auf nationaler Ebene galt die schon früh zentralisierte öffentliche Jugendfürsorge Hamburgs als mustergültig. Dieses Ansehen verdankte sie nicht zuletzt den frühzeitig ansetzenden Maßnahmen, die auf „gefährdete“ Kinder und Jugendliche abzielten. Hamburg präsentierte sich gerne als Vorreiter präventiver Ersatzerziehung.3 Hamburg wies als Stadtstaat und Handelsmetropole eine Reihe von lokalen Besonderheiten auf, die es zu einem besonders ertragreichen Studienobjekt
1 Auch der beim Waisenhauskollegium angegliederte GWR war allerdings ein Gremium, das sich zum ganz überwiegenden Teil aus Ehrenamtlichen zusammensetzte und die männliche Dominanz blieb zunächst ebenfalls ungebrochen. Nur zögerlich und ansatzweise setzte vor 1914 ein Verberuflichungs- und Feminisierungsprozess des Arbeitsbereiches ein. 2 Schon in der liberalen Ära errang die Hafenstadt mit Johann Hinrich Wicherns 1833 gegründeter Rettungsanstalt „Rauhes Haus“ in Hamburg-Horn auf dem Gebiet der privatwohltätigen Jugendfürsorge ein internationales Renommee. 3 Johannes Petersen, Direktor der Hamburger Jugendbehörde in den Jahren 1900-1913, hob in der Fachpresse wiederholt die besondere präventive Stoßrichtung Hamburgs hervor (Petersen [1909b]). Zur empirischen Evidenz der diesbezüglihen Vorrangstellung kritisch: Roth [1997], S. 419 f.
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für die Herausbildung des modernen Wohlfahrtsstaates machen. Auf der einen Seite existierte eine Reihe von Faktoren, die einer raschen Übernahme interventionsstaatlicher Ansätze zur Lösung sozialer Probleme entgegenstanden. Die (wirtschafts-)liberale Haltung der tonangebenden Kaufmannsfamilien und die tiefverwurzelte Tradition einer „bürgernahen“, auf persönlichen Kontakt setzenden Verwaltung gehörten ebenso dazu wie der herausragende Stellenwert, den das Mäzenatentum und das Engagement im privatwohltätigen Bereich für das bürgerlich-patriotische Selbstverständnis besaßen. Auf der anderen Seite sah sich der Stadtstaat einem besonderen Handlungs- und Anpassungsdruck ausgesetzt. Die Elbmetropole war nicht nur zum wichtigsten Zu- und Weiterwanderungsmagneten im Norden Deutschlands geworden; durch die schrittweise Vereinheitlichung des Rechts und mehr noch durch den unter deutschen Städten entbrannten Wettbewerb um einen zügigen Ausbau der kommunalen Leistungsverwaltung, sahen sich Senat und Bürgerschaft auch gezwungen, ihren sozialpolitischen Kurs nachhaltig zu ändern. Waren neue politische Prinzipien und Handlungsmaximen aber erst einmal anerkannt, so ließen sie sich angesichts der übersichtlichen lokalen Verhältnisse auch vergleichsweise einfach und zügig umsetzen.1 Neben diesen beiden inhaltlichen Gesichtspunkten sprechen forschungspraktische Erwägungen für die Wahl Hamburgs. Die Geschichte der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge kann als gut erforscht gelten.2 Die Sekundärliteratur zum Thema ist inzwischen so umfangreich, dass man geradezu von einem paradigmatischen Stellenwert Hamburgs in der Jugendfürsorgegeschichtsschreibung sprechen kann. Dieser günstige Forschungsstand gibt eine solide Basis für jede Untersuchung ab, die die politische und administrative Entwicklung durch einen handlungstheoretischen Ansatz zu erweitern sucht. Das forschungspraktische Argument wog in Bezug auf den Sorgerechtsentzug umso schwerer, als sich herausstellte, dass die Personenakten der Vormundschaftsbehörde bis 1900 komplett überliefert sind. Bezogen auf diese Quellengattung, die in weiten Teilen die Grundlage der vor-
1 Zu den Aufholungsbemühungen Hamburgs im Bereich der „Inneren Sicherheit“ vgl.: Roth [1997], S. 139 f. Zum Wettbewerb in der Armenfürsorge: Pielhoff [1999], S. 347 ff. 2 Für die Zeit der Aufklärung und des Vormärz: Scherpner [1927], Commichau [1961], Klapproth [1957], Grolle [1991] sowie Döbler [1992]. Auf das Kaiserreich legen den zeitlichen Schwerpunkt: Schröder [1966], Schmidt, H. [2002], Uhlendorff [1998], [2000] u. [2003]. Die Weimarer Republik behandelt zentral: Harvey [1993]. Einen Überblick über die gesamte Geschichte der Hamburger der Jugendfürsorge geben: Thorun [1988] u. [2004] sowie Weber [2004].
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liegenden Untersuchung bildet, dürfte die Überlieferungssituation für Deutschland einmalig sein.1 Zeitlich ist die Untersuchung eingegrenzt auf die dreißig Jahre zwischen 1884 und 1914. Die Begrenzung auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bedarf keiner ausführlichen Kommentierung.2 Demgegenüber ist die Jahreszahl 1884 erklärungsbedürftig. Sie steht für den Durchbruch der interventionistischen Stoßrichtung im Bereich der Jugendfürsorge: Auf den beiden Jahresversammlungen des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ (DVAW) 1884 in Weimar und im Folgejahr in Bremen war das prinzipientreue, liberale-freisinnige Lager, das gegen jede auf unbestimmte Rechtsbegriffe gestützte präventive Ausdehnung öffentlicher Jugendfürsorge opponierte, in die Defensive geraten. Die gewandelten Mehrheitsverhältnisse hatten tiefgreifende Folgen für die Weiterentwicklung der Jugendfürsorgelandschaft im gesamten Deutschen Reich.3 Auch in Hamburg, wo die politische Kultur zu diesem Zeitpunkt noch durch freisinniges Gedankengut beherrscht wurde, stellten die Jahre 1884/85 eine unübersehbare Zäsur dar: Im Frühjahr 1884 eröffnete in Ohlsdorf eine große staatliche Erziehungs- und Besserungsanstalt für etwa 130 Kinder und Jugendliche ihre Pforten und ein gutes Jahr später erschütterte die „Waisenhausaffäre“ das Vertrauen in die bisherige Organisation der Waisenfürsorge und setzte umfangreiche Reformbemühungen in Gang.4 Das Jahr 1900 fungiert gleichsam als zeitliche Mittelachse der Untersuchung. Es markiert die reichsweite Vereinheitlichung des staatlichen Eingriffsrechts in die elterliche Erziehung auf der Grundlage des § 1666 BGB. Diese zeitliche Anlage der Untersuchung ermöglicht es, die Herausbildung und Entwicklung der staatlichen Eingriffspraxis in einem der 24 deutschen Teilstaaten über drei Jahrzehnte hinweg zu verfolgen. Zugleich bietet sie die Gelegenheit, einen Vergleich zwischen der vormundschaftsgerichtlichen Praxis vor und nach Inkrafttreten der Rechtsnorm anzustellen, das heißt den landesrechtlich gestützten Umgang mit „gefährdeten Kindern“ vor der Jahrhundertwende der 1 Eingehend geprüft wurde die Quellenlage für die Reichshauptstadt. Für München und Köln, nach Berlin, Hamburg und Breslau die zwei bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands, musste die Überlieferungssituation auf der Basis der online-Bestandsübersichten der jeweiligen Staats- bzw. Stadtarchive abgeschätzt werden. 2 Mit der kriegsbedingten Verallgemeinerung jugendfürsorgerischer Notlagen und dem damit einhergehenden massiven Verberuflichungs- und Feminisierungsschub stellt der Beginn des Ersten Weltkrieges nicht nur eine wichtige zeitgeschichtliche, sondern auch eine allgemein anerkannte fürsorgegeschichtliche Zäsur dar. 3 Der DVAW galt als eine der wichtigsten nationalen Plattformen der bürgerlichen Sozialreform. Vgl.: vom Bruch [1985], S. 94 ff. 4 Richter [2005].
Anlage der Untersuchung
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Praxis auf reichsrechtlicher Grundlage gegenüberzustellen. Damit ist auch eine nationale Kontextualisierung des untersuchten Handlungsfeldes vorgegeben, denn das BGB brach relativ abrupt mit Traditionen, die sich in Hamburg im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten und setzte an ihre Stelle Rechtsbegriffe und Rechtsinstitute, die in Preußen entwickelt worden waren. Die Thematik des Sorgerechtsentzugs muss gegen eine andere, nahverwandte fürsorgerisch-justizielle Maßnahme abgegrenzt werden, die in der bisherigen historischen Forschung eine prominente Rolle gespielt hat: die Zwangsbzw. Fürsorgeerziehung. Unter Zwangserziehung verstand man im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die öffentliche Ersatzerziehung straffälliger bzw. „verwahrloster“ Kinder und Jugendlicher in privaten oder staatlichen Besserungsanstalten. Obwohl als pädagogische Einrichtungen erdacht, besaßen diese meist sehr großen, kasernenartigen Anstalten den Charakter von Gefängnissen, waren in ihrem Alltag durch strikte Disziplin und ein hartes Arbeitsregiment geprägt und wurden auch von der Mehrzahl der Eingeschlossenen als Strafeinrichtungen erlebt.1 Ende des 19. Jahrhunderts war nach zeitgenössischem Verständnis „Zwangserziehung“ gleichbedeutend mit Erziehung mit den Mitteln des Zwangs. Es handelte sich um eine öffentlich-rechtliche Maßnahme, bei der die Sicherung des Gemeinwohls im Vordergrund stand. Während sich die Zwangserziehung auf Minderjährige bezog, die schon durch deviantes Verhalten aufgefallen waren, zielte der Sorgerechtsentzug auf bloß „gefährdete Kinder“ bzw. die „guten Kinder schlechter Eltern“ ab. Auch diese Maßnahme hatte eindeutig Zwangscharakter. Aber hier richtete sich der Zwang nicht gegen die Kinder, sondern zuerst und vor allem gegen die Erwachsenen. Ihr erzieherisches Versagen stand im Fokus der Maßnahme und nicht das normabweichende Verhalten der Minderjährigen. Der Eingriff war als privatrechtliche Maßnahme zum Schutz des „Wohls des Kindes“ gedacht.2 Zum Ende der Untersuchungsperiode verwischten sich die begrifflichen und tatsächlichen Unterschiede zwischen Sorgerechtsentzug und Zwangserziehung zunehmend. In Preußen wurde bereits 1900 der Begriff der Zwangserziehung 1 Hierauf deuten die zahlreichen Anstaltsrevolten hin, die für die Zeit vor 1914 nachgewiesen. Mit Bezug auf Hamburg: Uhlendorff [1998]. 2 Zwar ist der öffentlich-rechtliche Charakter des § 1666 BGB inzwischen unumstritten. In historischer Hinsicht bleibt die hier vorgenommene Differenzierung der rechtspolitischen Stoßrichtung gleichwohl von grundlegender Bedeutung, denn seit dem so genannten Planckschen Vorentwurf sprachen sich zahlreiche Rechtstheoretiker für eine - sowohl in dogmatischer wie rechtssystematischer Hinsicht – strikte Trennung zwischen den Eingriffen in die elterlichen Rechte zur Sicherstellung des Kindeswohls und den rechtlichen Maßnahmen zur vorbeugenden Eindämmung der Jugendkriminalität aus. Am sinnfälligsten wurde dieses Bemühen in Polligkeits Rede vom „vormundschaftsgerichtlichen Rechtsschutzverfahren“, das er durch den § 1666 BGB grundgelegt sah (vgl. unten, S. 420).
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Einleitung
durch die Bezeichnung „Fürsorgeerziehung“ ersetzt, weil klar wurde, dass die Assoziation mit Strafe und Zwang dem öffentlichen Ansehen der staatlichen Bemühungen um die „verwahrlosten“ Minderjährigen abträglich war.1 In Hamburg hielt man dagegen am Terminus Zwangserziehung bis Anfang der 1920erJahre fest, bemühte sich aber ebenfalls um eine Aufbesserung des schlechten Images der Maßnahme, indem man den „Zwang“ nicht mehr auf die Erziehung als solche, sondern auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der Maßregel bezog. „Zwangserziehung“ sollte jetzt heißen zwangsweise Erziehung.2 Trotz dieser im Laufe der Zeit erfolgten Einebnung der systematischen Differenzen zwischen Maßnahmen gegenüber „verwahrlosten“ und bloß „gefährdeten“ Kindern und Jugendlichen stehen in der vorliegenden Untersuchung die staatlichen Reaktionen auf deviantes Erziehungsverhalten im Vordergrund der Betrachtung. Die Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung findet nur insofern Berücksichtigung, als sich auf der phänomenalen und der organisatorischen Ebene Überschneidungen ergaben oder sich in der Praxis ein systematischer Zusammenhang beider Maßnahmen abzuzeichnen begann.
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Statt von Zwangserziehung sprach man forthin von „Fürsorgeerziehung“, ohne dass sich der Erziehungsalltag in den Anstalten grundlegend gewandelt hätte. 2 Diese semantische Umdeutung war keineswegs nur ein kosmetischer Akt. Sie markierte sinnfällig den Übergang von einer konditionalen, nach dem „wenn-dann“ Prinzip gestalteten Vorgehensweise zu einer zweckprogrammierten Verwaltungslogik: Es sollte nicht mehr länger entscheidend sein, ob die Kinder oder ihre Eltern bestimmte mehr oder weniger klar definierte Bedingungen erfüllten, um die Zwangserziehung anordnen zu können. Ausschlaggebend sollte vielmehr sein, was man zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form mit einer bestimmten erzieherischen Maßnahme erreichen konnte. Vgl. hierzu: Uhlendorff [2001], S. 191.
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1.2 Theoretische Bezugspunkte und heuristische Konzepte Verfolgt man die fachpolitischen und parlamentarischen Diskussionen um den öffentlichen Kinderschutz über die Zeit hinweg, so ergeben sich zwei unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Die Auseinandersetzungen können entweder als linearer Prozess der Modernisierung verstanden werden, bei dem sich die Überzeugung von der Notwendigkeit eines möglichst frühzeitigen staatlichen Eingreifens in die Familiensphäre im Sinne einer umfassenden Sicherung des „Kindeswohls“ gleichsam „über die Köpfe“ der Debattierenden hinweg durchsetzt. Oder aber man kann die Debatten als ideologisch hochaufgeladenen, gesellschaftspolitischen Richtungsstreit auffassen, der immer wieder neu entflammt und nur zu kurzfristigen politischen Kompromisslösungen führt, die das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Interventionsbefürwortern und -gegnern widerspiegeln. Die erste, modernisierungstheoretische Deutung kennt eine optimistische und eine pessimistische Variante. Die Fürsorgegeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte hat unter dem Sozialdisziplinierungsparadigma vor allem die Schattenseite des Ausbaus der öffentlichen Jugendfürsorge im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert betont: die Zunahme von immer subtileren Kontrollpraktiken, die Zerstörung lebensweltlicher Zusammenhänge, das Aufoktroyieren bürgerlicher Normen und Werte auf die Angehörigen der Unterschicht usw. ...1 In Bezug auf den „Kinderschutz“ und seine derzeitige Aktualität neigen auch die neueren Beiträge der Kindersoziologie dieser Interpretation zu. Mit dem Konzept der „Macht der Unschuld“ lassen sich die historischen und aktuellen Debatten zum Thema gleichsam funktional-machttheoretisch verorten.2 Unter „Macht der Unschuld“ versteht Bühler-Niederberger die diskursive Vereinnahmung des Kindes zur Durchsetzung einzelner pädagogisch-diziplinierender Maßnahmen und zur Absicherung eines strikt asymmetrischen Generationengefüges. Kennzeichnend für den beschriebenen Mechanismus ist ein Paradox: eine gesellschaftliche Macht bezieht ihre Wirkung aus einer sozialen Gruppe, die marginalisiert und von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen ist. Die Einführung des „bedürftigen Kindes“ in öffentlichen Debatten operiert – nach BühlerNiederbergers Beobachtung – vorzugsweise mit den Mitteln geistiger Überhöhung und Sentimentalisierung. Die behauptete grundsätzliche Andersartigkeit und Schwäche von Kindern führt in Kombination mit dem Rückbezug auf unangreifbare Kategorien wie „Natur“ und „Heiligkeit“ dazu, dass sich die vermeintlichen Bedürfnisse Minderjähriger nahezu beliebig ausdeuten und ausdehnen lassen. Entsprechend rigoros fallen dann auch die moralischen Appelle aus, die un1 2
Vgl.: Uhlendorff [2001b]. Bühler-Niederberger [2005a].
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ter Zuhilfenahme der Figur des „bedürftigen Kindes“ formuliert werden. Die polarisierende zeitgenössische Rede von den „guten Kindern schlechten Eltern“ und die präventive Ausdehnung der Zwangserziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts legen es nahe, den Kinderschutzdiskurs des Kaiserreiches als Ausschnitt der sich allmählich durchsetzenden „Macht der Unschuld“ zu begreifen. So fruchtbar und instruktiv das Konzept für die Analyse der aktuellen Debatten zum Thema „Kindesmisshandlung“ und „Kindesvernachlässigung“ auch sein mag, so sehr verliert es in der Übertragung auf historische Kontexte an analytischer Aussagekraft. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es zu einer Verdinglichung von Macht neigt, sich für die konkrete gesellschaftliche Position ihrer Fürsprecher und Widersacher kaum interessiert und die kontingenten Lösungsansätze, die die Geschichte auch immer mitführt, tendenziell unterschlägt. Hier gewinnt nun die zweite Interpretationsmöglichkeit der Diskussionen zum Thema „Kinderschutz“ an Bedeutung, die sich in den historischen Forschungsbeiträgen der letzten Jahren mehr und mehr durchzusetzen scheint. Schon Edward Ross Dickinson hat in seiner systemvergleichenden Untersuchung zur deutschen Jugendwohlfahrtspolitik von 1996 darauf hingewiesen, dass die Debatten zur Jugendfürsorge im Kaiserreich eher einem „demolition derby“ als einer Einbahnstraße geglichen habe.1 Und auch Andrew Lees ist es in seiner Studie von 2002 über den Großstadtdiskurs im Deutschen Kaiserreich gelungen, die „bürgerliche Sozialreform“ in der ganzen Vielfältigkeit ihrer Beiträge, Kommentare und Lösungsvorschläge darzustellen und den vielfach unterschlagenen positiven Antworten auf die soziale Herausforderung „Großstadt“ zu neuer Geltung zu verhelfen.2 Tatsächlich zeigt sich auch im Hinblick auf den kleineren Ausschnitt des Kinder- und Jugendschutzes, dass die zeitgenössischen Auffassungen und Konzeptionen alles andere als einheitlich waren. Statt durch Einhelligkeit und Versöhnlichkeit war die politische Auseinandersetzung zum Gegenstand durch Meinungspluralismus und Dissens bestimmt.3 Aber nicht nur die Wege, wie man die 1
Dickinson [1996], S. 9. Vgl.: Lees [2002]. Die Verschiebung der Blickrichtung in der Fürsorgegeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert hat ihre Wurzeln in einer Neubewertung der Jahre 1871 bis 1918 insgesamt. Das Kaiserreich gilt nicht mehr nur als Untertanenstaat bzw. als rückwärtsgewandtes, autoritärobrigkeitsstaatliches Gebilde. Statt dessen hebt die aktuelle Geschichtsschreibung zum Kaiserreich verstärkt die prinzipielle Offenheit der historischen Entwicklung hervor, betont die Parallelen zu benachbarten Staaten und deckt die Elemente politischer und kultureller Pluralität und gesellschaftlicher Öffnung auf, die auch in der Zeit des Kaiserreichs zu finden waren. 3 Während die „Allgemeine Konferenz der Deutschen Sittlichkeitsvereine“, aufgeschreckt durch den „Fall Heinze“ und gegen den Protest linksliberaler Kräfte für den „öffentlichen Jugendschutz”, also das Verbot unsittlicher Darstellungen in Kunst und Reklame eintrat (Evans [1997a], S. 272 ff.), verstand die Sozialdemokratie unter „Kinderschutz“ immer noch vorrangig den gesetzlichen Schutz vor unzumutbaren Arbeitsbedingungen (Barenthin [1912]). Die bürgerliche Frauenbewegung war in 2
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nachwachsende Generation in ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Nation am besten gegen die Bedrohungen des großstädtischen Lebens schützen zu können meinte, waren vielfältig und umstritten. Wer mit der „Macht der Unschuld“ operierte, musste sich auch auf die Opposition aus dem liberalen und konservativen Lager gefasst machen, das in der Familie den sittlichen Kern der Gesellschaft erblickte und die Familienerziehung um jeden Preis gegen unbedarfte Einmischungen von außen schützen wollte. Nicht zuletzt erwies sich die gesellschafts- bzw. fiskalpolitische Opposition, die sich in der Praxis gegen eine ausufernde Anwendung staatlicher Eingriffsbefugnisse formierte, als äußerst zählebig und hartnäckig. So wie die referierten Konzepte der Kindheitssoziologie und der Fürsorgegeschichtsschreibung einen theoretischen Bezugsrahmen für die Analyse der fachpolitischen und parlamentarischen Debatten zum Sorgerechtsentzug liefern, so bieten sich auch für die Rekonstruktion der konkreten Gerichtspraxis vor allem Anleihen bei der Geschichtswissenschaft und der Soziologie an. Jacques Donzelot hat zur Beschreibung der Tätigkeit der Jugendgerichte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Frankreich allerorts entstanden waren, den Begriff des „Vormundschaftskomplexes“ geprägt.1 Gemeint ist damit die mit der erzieherischen Erweiterung der gerichtlichen Sanktionspalette verbundene Verlagerung der Definitionsmacht vom Strafrichter auf die mit den Vorermittlungen und diagnostischen Spezialuntersuchungen betrauten sozialen und psychologisch-psychiatrischen Normierungsinstanzen. Der Vormundschaftskomplex konkretisiert sich aber auch auf einer räumlichen Ebene: An die Stelle des kreuzförmigen, auf Anklage und Verteidigung angelegten Arrangements des liberalen Strafprozesses tritt nach Donzelots Beobachtung eine kreisförmige Anordnung. Der „Angeklagte“ wird gegenüber dem Richter platziert, ist aber umringt von Praktikern und Anwälten, die ihrer eigentlichen Funktion enthoben sind.2 Die Position der Eltern lässt sich Donzelot zufolge durch eine dopihren Positionen zur Bekämpfung der Prostitution als sittlicher Gefahrenherd für die weibliche Jugend schon in sich tief gespalten: Während die gemäßigte Mitte neben Aufklärungskampagnen eine Erweiterung der strafrechtlichen Sanktionspalette um jugendfürsorgerische Maßnahmen für das Gebot der Stunde hielt, übernahm der radikale Flügel die abolitionistischen Forderungen seiner englischen Kampfgefähtinnen (Deutelmoser/Ebert [1981], S. 140-161; Evans [1997a], S. 289 ff.). Auch die neuen privatwohltätigen Initiativen wie Bahnhofmissionen, Kinderschutz- und Lehrlingsvereine, setzten sich z.T. bewusst vom staatlichen Jugendschutz ab (Weber [2000], S. 33). 1 Donzelot [1980], S. 108 ff. Bei den zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast sämtlichen westlichen Industrienationen entstehenden Jugendgerichten handelte es sich keineswegs um reine Strafgerichte. Gerade für die deutschen Jugendgerichte war kennzeichnend, das hier die ehemals strikt getrennten vormundschafts- und strafgerichtlichen Aufgaben der Justiz organisatorisch zusammengeführt wurden. 2 A.a.O., S. 115.
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pelte Sprachlosigkeit bestimmen: Die Eltern können sich in der Sprache der anwesenden Fachleute nicht verständlich machen und sind, weil sich die Beschuldigungen immer auch auf ihr Verhalten richten, gleichsam zum Schweigen verurteilt. Dementsprechend selten legten sie in Frankreich offenbar auch Rechtsmittel gegen die Beschlüsse der Jugendgerichte ein. Analysiert und kritisiert Donzelot mit seiner Untersuchung gewissermaßen den „idealen“, uns auch heute noch vertrauten Endzustand der Jugendgerichtsbarkeit, so geht der Medizin- und Kriminalhistoriker Martin Dinges den umgekehrten Weg. Unter dem Begriff der „Justiznutzung“1 entwickelt er ein Verständnis frühneuzeitlicher Gerichtspraxis, das zumindest zur Kennzeichnung der Ausgangslage obervormundschaftlichen Rechtspflege im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deutlich besser zu passen scheint als Donzelots „Vormundschaftskomplex“. Unter „Justiznutzung“ versteht Dinges sowohl die Inanspruchnahme von Gerichten durch die Zeitgenossen als auch die Form dieser Inanspruchnahme. Gerichte begreift er als institutionelle „Angebote“ des Staates, deren Inhalte entscheidend davon abhingen, ob und wie sie von der Bevölkerung angenommen wurden. Kennzeichnend für diese Nutzung der Justiz ist nach Dinges, dass sie in ein Kontinuum alltagsweltlicher Konfliktlösungsstrategien eingebunden blieb. Die Gerichte der frühen Neuzeit wurden von der Bevölkerung regelmäßig als ein zusätzliches Mittel der Sozialkontrolle eingeschaltet. Eine formelle Sanktion war bei ihrer Inanspruchnahme nicht notwendig intendiert und die Rückkehr auf die informelle Ebene wurde von den Anzeigenden regelmäßig bewusst offengehalten. Aus diesem Grund war die Inanspruchnahme der Gerichte zu einem Großteil durch die Struktur sozialer Konflikte bestimmt. Das Konzept der „Justiznutzung“ bricht mit der Vorstellung einer durch die Machtfülle der Richter bzw. den Buchstaben des Gesetzes einseitig vordeterminierten Rechtsprechung. Es ist damit besonders geeignet, die gesellschaftliche Einbindung von Gerichten sowie die Prozesse ihrer Aneignung und Umformung durch die Praxis sichtbar zu machen. In diesem heuristischen Sinne lässt es sich auch für die Untersuchung der vormundschaftsgerichtlichen Praxis im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzen. Sein Erkenntnispotenzial ist dabei vor allem darin zu sehen, dass es den Blick für Handlungsmuster der Verfahrensbeteiligten schärft, die der überkommenen Vorstellung eines Ineinandergreifens von elterlicher und staatlicher Gewalt entsprachen und in Hamburg – wie vermutlich überall in Deutschland – noch lange Zeit für den Umgang mit dem Vormundschaftsgericht bestimmend blieben.2 1
Dinges, [2000]. Der Gedanke eines kooperativen Zusammenwirkens zwischen väterlichem und staatlichem Gewalthaber bei der Disziplinierung der heranwachsenden Generation wurde im Preußischen Allgemeinen Landrecht mit dem Bild der „hülfreichen Hand des Staates“ auf den Punkt gebracht. In etwas abge2
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Anders als in der deutschen Forschung zur Vor- und Frühgeschichte des sozialen Interventionsstaates, wo der Einschaltung von Fürsorgeinstitutionen und Gerichten zur Regulierung familialer Konflikte bisher so gut wie keine Beachtung geschenkt wurde, kann die ausländische Geschichtsschreibung eine ganze Reihe von Beiträgen vorweisen, die gerade diesen Aspekt ins Zentrum ihrer Betrachtung rücken. Hinzuweisen ist hier insbesondere auf die französische Literatur. Auf die Inanspruchnahme der „lettres de cachet“ zur Regulierung von Ehestreitigkeiten und Erziehungskonflikten durch die Pariser Unterschicht des 18. Jahrhunderts haben erstmals Arlette Farge und Michel Foucault hingewiesen.1 Für das Frankreich des 19. Jahrhunderts hat Quincy-Levebvre die Überreste dieser Praktiken aufgedeckt, die die Umwälzungen der Französischen Revolution nahezu unbeschadet überstanden haben.2 Aus dem englischsprachigen Raum ist insbesondere Linda Gordons Studie über die gesellschaftliche Konstruktion innerfamilialer Gewalt (Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung und Gewalttätigkeiten gegenüber Ehefrauen) zu erwähnen, die auf einer eingehenden Untersuchung der Berichterstattungspraxis privatwohltätiger Kinderschutzorganisationen in Boston im Zeitraum 1880 bis 1960 beruht.3 Eines der wichtigsten Ergebnisse ihrer Studie ist die Beobachtung, dass die vermeintlichen „Objekte“ sozialer Kontrolle sehr häufig selbst die Interventionen der Kinderschutzorganisationen einforderten, weil sie über ihr Unvermögen, die Kinder gemäß den eigenen Standards aufzuziehen, besorgt waren. Einmal zu Klienten der Organisationen geworden, versuchten sie, offensiv und mehr oder weniger erfolgreich deren Arbeitsweisen und Problemdefinitionen zu beeinflussen.4 schwächter aber immer noch klar zu erkennender Form, lebt er aber in der Bestimmung des § 1631 Abs. 2 des BGB bis heute fort. 1 Farge/Foucault [1989]. Die königlichen Internierungsbefehle, die unter Umgehung der ordentlichen Gerichtsbarkeit ergingen, dienten hier zur temporären Bestrafung und Disziplinierung unliebsamer bzw. sozial abweichender Familienangehöriger. Eine ähnliche Inanspruchnahme der Obrigkeit im Rahmen von Familien- und Erziehungsstreitigkeiten ist für Deutschland auch für die kirchlichen Sittengerichte nachgewiesen worden (vgl.: Schmidt, H.R. [1998]). 2 Quincy-Lefebvre [1997a] und [1997b]. In ihrer „Geschichte der schwierigen Kindheit“ zwischen 1880 und 1940 rekonstruiert sie anhand von elterlichen Aufnahmeanträgen in ein staatliches Internat für „undisziplinierte Kinder“ die alltäglichen Wahrnehmungsmuster kindlicher Devianz sowie die Handhabung häuslicher Korrektionsmittel im Vorfeld der Einweisungen. Zum Tragen kam dabei, dass das Rechtsinstitut der „correction paternelle“ bzw. das daraus abgeleiteten „droit de détention“ die Einweisung von Minderjährigen in private oder öffentliche Erziehungsanstalten auf Antrag ihrer Eltern stützte. Vgl. hierzu auch: Schnapper [1980]. 3 Gordon [1988]. 4 Wenn auch eine Übertragung dieser Ergebnisse auf den kontinental-europäischen Kontext wegen der unterschiedlichen Ausprägung der Wohlfahrtssysteme der USA und der europäischen Staaten ausgeschlossen ist, so eröffnen sie doch auch für die hiesige Forschung eine vielversprechende, neue Perspektive. In der geschlechtergeschichtlich orientierten Forschung sind die USA in Absetzung zu
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Hinsichtlich des Gegenstandes und der methodischen Herangehensweise kann sich die vorliegende Arbeit am ehesten an einem neueren Beitrag zur Geschichte der Schweizer Jugendfürsorge orientieren. Wie Gordon, so wählt auch Nadja Ramsauer in ihrer Untersuchung über die von der Züricher Amtsvormundschaft im Zeitraum 1914-1934 vorgenommenen „Kindeswegnahmen“ einen geschlechtergeschichtlichen Zugang. und beruft sich dabei explizit auf britische bzw. amerikanische Forschungstraditionen.1 Auf der Basis von 55 aktenkundig gewordenen Eingriffen in das elterliche Sorgerecht nach den Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuches gelingt es ihr, die Sichtweisen der betroffenen Eltern, ihre Einstellung zu den Einrichtungen der Jugendfürsorge und nicht zuletzt ihre Strategien im Umgang mit diesen Institutionen herauszuarbeiten. Den professionellen Anstrengungen, das deviante Verhalten ihrer Kinder als Erziehungsproblem zu definieren, so stellt Ramsauer in ihrer Arbeit fest, hielten die Angehörigen hartnäckig ihre eigene, zumeist ökonomisch bestimmte Problemdefinition entgegen. Außerdem hätten die zahlreichen Prozesse, die Eltern gegen die staatlichen Eingriffe anstrengten, zu einer verwaltungsinternen Ausdifferenzierung der Jugendfürsorge geführt.2 Schließlich ist noch kurz auf einen aktuellen Beitrag der sozialwissenschaftlich orientierten Rechtstatsachenforschung einzugehen, der die vorliegende Untersuchung in methodischer Hinsicht angeregt und das zugrundegelegte Vorverständnis bezüglich der gerichtlichen Ermittlungs- und Entscheidungspraxis beeinflusst hat. In ihrer Untersuchung über die interaktive Herstellung von „Glaubwürdigkeit“ in amtsgerichtlichen Strafprozessen weisen Wolff und Müller darauf hin, dass die Herstellung einer „amtlichen“, das heißt intersubjektiv gültigen „Wirklichkeit“ ein voraussetzungsreicher Prozess ist, der nach bestimmten den als „paternalistisch“ apostrophierten Sozialsystemen Europas als „maternalistischen“ Wohlfahrtsstaat bezeichnet worden (Thane [1994], S. 17). 1 Ramsauer [2000], S. 16. 2 Gerade gegenüber den zwei zuletzt referierten Beiträgen ist der Vorwurf erhoben worden, sie spielten in unzulässiger Weise die sich den historischen Akteuren bietenden Handlungsspielräume gegen die Disziplinierungsbemühungen der sozialen Kontrollinstanzen aus, würden einem unreflektierten Subjektbegriff aufsitzen und die zwingende Macht der Diskurse systematisch unterbelichten (vgl.: Scott [1990] und Wilhelm [2005], S 14 ff.). Eine solche Kritik läuft m.E. aber insofern ins Leere, als sie das tatsächliche Anliegen der Autorinnen verfehlt. Dem in der Geschichtsschreibung der vergangenen Jahrzehnte allgemein zu beobachtenden Trend einer Hinwendung zur Handlungs- und Aneignungsebene, in dem sich Impulse aus der Alltagsgeschichte bzw. der „Geschichte von unten“, der Geschlechterforschung und der historischen Anthropologie vereinigen, geht es weder um die Restituierung eines idealistischen und damit ahistorischen Subjektbegriffs (Mitterauer/Saurer [1993]), noch um eine Verleugnung der prägenden Wirkung sozialer oder textualer Strukturen. Vielmehr geht es um eine perspektivische Ergänzung und Öffnung, oder, mit den Worten von Gordon ausgedrückt: „my interpretation seeks to complicate [the social-control, J.R.] critique, not to overthrow it, to transcend the opposition between social control and agency and to explain how they combine”. Gordon [1990], S. 853.
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ungeschriebenen Methoden, Spielregeln und Programmen abläuft und den Beteiligten entsprechende Kompetenzen abverlangt.1 In Übereinstimmung mit den oben referierten Befunden der historischen Forschung zur frühneuzeitlichen Gerichtspraxis gelangen auch Wolff und Müller zu dem Schluss, dass es sich beim (straf-)gerichtlichen Verfahren um ein eigenständiges „soziales System“ handelt, zu dessen Reproduktion alle Verfahrensbeteiligten beitragen. Gerade dort, wo es im Gerichtsverfahren um die Feststellung „rechtlicher Fiktionen“ – also etwa dem Kindeswohlsbegriff des § 1666 BGB – gehe, müssten „Tatsachen“ als Ergebnisse von Einigungsprozessen vor Ort verstanden werden.2 Das historiographische Konzept der Justiznutzung und das hier vertretene Verständnis von der interaktiven Herstellung einer verfahrensbezogenen Wirklichkeit ergänzen sich insofern, als Ersteres besonders geeignet ist, die weiteren gesellschaftlichen Kontexte der Inanspruchnahme von Gerichten abzustecken, während Letzteres die Besonderheiten der konkreten Interaktionen im Verfahrensverlauf zu erfassen versucht.
1 Wolff/Müller [1997]. So müssen Zeugen bestimmte Darstellungsregeln beherrschen, um als glaubwürdig zu gelten. Richter hingegen stehen vor der Aufgabe, Aussagen auf ihre soziale Rationalität hin zu überprüfen, d.h. darauf, ob sie in sich konsistent, vernünftig und nachvollziehbar sind usw. Das Verfahren, mit dem diese Voraussetzungen gerichtlicher Interaktion untersucht werden können, nennen Wolff und Müller im Rückgriff auf H. Garfinkel „ethnomethodologische Konversationsanalyse“ (a.a.O., S. 24). 2 A.a.O., S. 291.
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1.3 Forschungsstand Wie bereits angedeutet, ist dem Sorgerechtsentzug bisher weder in der rechtshistorischen noch in der fürsorgegeschichtlichen Forschung eine besonders große Aufmerksamkeit zuteil geworden.1 Zwar beschäftigte sich erst jüngst ein in Deutschland ausgetragener internationaler bildungshistorischer Kongress mit dem gesellschaftlichen Umgang mit „gefährdeten“ Kindern und Jugendlichen.2 Die gerichtlichen Eingriffe in die elterliche Erziehung und Pflege fanden dabei aber nur am Rande Erwähnung. Es existiert bislang so gut wie keine historisch ausgerichtete Arbeit, die den Sorgerechtsentzug als soziale Praxis in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Zwei ältere rechtswissenschaftliche Abhandlungen beschäftigen sich mit der Entstehungsgeschichte der staatlichen Eingriffsbefugnisse ins elterliche Sorgerecht und gehen dabei ausführlich auf den § 1666 BGB ein.3 Die konkrete Rechtsanwendung der Eingriffsnormen wird jedoch in keiner der beiden Arbeiten eingehender thematisiert. Welche weitreichenden fachpolitischen, organisatorischen und rechtsstaatlichen Fragestellungen die Praxis des Sorgerechtsentzugs aufwirft und wie eine anspruchsvolle (historische) Forschung hierzu aussehen könnte, führt indessen ein aktueller Beitrag zur Rechtstatsachenforschung zum „Kindeswohlverfahren“ vor. In der Untersuchung von Johannes Münder u.a., die sich methodisch im Wesentlichen auf leitfadenstrukturierte Interviews stützt, rücken die Wahrnehmungsmuster und das Interaktionsgeflecht von Eltern und Minderjährigen einerseits, dem Jugendamt und den Familienrichtern andererseits, ins Zentrum des Interesses.4 Obwohl sich die empirische Basis und infolgedessen auch der Prozess der Erkenntnisgewinnung in der aktuellen und historischen Praxisforschung grundlegend unterscheiden, kann die Arbeit in 1 Aktuelle Überblicke zum Stand sowie zu offenen Fragestellungen in der historischen Forschung zu Jugendfürsorge und Sozialpädagogik liefern u.a.: Sachße [1995] und Steinacker [2003]. 2 “Children and Youth at Risk. Approaches in the History of Education.” University of Hamburg, July 25-28, 2007 – 29th Session of the International Standing Conference for the History of Education 3 Mohrmann [1934], Balks [1986]. Während Balks den einschlägigen Rechtsbestimmungen aus dem gemeinen Recht und den großen aufgeklärten und bürgerlichen Zivilrechtskodifikationen nachspürt, die Eingang in den Planckschen Vorentwurf zum BGB gefunden haben, um anschließend die Beratungen und Debatten zum § 1666 BGB im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens detailliert nachzuzeichnen, ordnet Mohrmann die Rechtsentwicklung in ein größeres Stufenmodell sich wandelnder Staatsauffassungen ein, das vom spätabsolutistischen „Wohlfahrtsstaat“ über den liberalen „Rechtsstaat“ bis hin zum national geeinten „Kulturstaat“ reicht. Es existieren außerdem zwei neuere, ebenfalls rechtswissenschaftliche Dissertationen zur Auslegung des § 1666 BGB während der NSHerrschaft und in der DDR, die die Dehnbarkeit und Ideologieanfälligkeit der Rechtsnorm anhand veröffentlichter Entscheidungen darstellen. Aufgrund ihrer dogmatischen Ausrichtung sind diese Arbeiten für die kultur- und sozialwissenschaftlich inspirierte Forschung allerdings nur von geringem Erkenntniswert (Liebler-Fechner [2001], Andermann [2003]). 4 Münder/Mutke u. a. [2000].
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ihrer Gesamtanlage auch für die historische Forschung zum Themenkomplex als Orientierung dienen. Zum weiteren Kontext der Jugendfürsorge existieren zahlreiche außerordentlich fundierte wissenschaftliche Beiträge. Ein besonderes Interesse galt dabei der Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung und ihrer Entwicklung während der Weimarer Republik, wobei die Frage erkenntnisleitend war, inwieweit die unter dem Stichwort „Grenzen der Erziehbarkeit“ bereits in der Weimarer Republik erprobten Ausgrenzungsmechanismen die Selektionspraktiken der Nazis vorbereiteten.1 Sowohl die Zeit des Kaiserreichs, in der die Mehrzahl der staatlichen Jugendfürsorgemaßnahmen konzipiert worden waren, als auch andere Zielgruppen und Teilbereiche öffentlicher Jugendhilfe, wie etwa die Säuglingsfürsorge, das Pflegekinderwesen und die diversen ambulanten Hilfemaßnahmen („Erziehungspflegschaft“, „Schutzaufsicht“ usw.) blieben demgegenüber deutlich unterbelichtet.2 Das gilt bemerkenswerter Weise auch für die gerichtlichen Maßnahmen zum Schutz „gefährdeter“ Kinder und Jugendlicher, obwohl diese – wie bereits oben dargelegt – eine systematische Erweiterung der staatlichen Zwangserziehung darstellten. Bei Peukert verliert die praktisch zunächst höchst bedeutsame Unterscheidung von zivilrechtlich und öffentlich-rechtlich angeordneter Fremdunterbringung ihre Konturen, wenn er zur Einführung des § 1666 BGB anmerkt, die „Sozialpädagogen“ hätten den darin verankerten Verschuldensgrundsatz zwar als einen herben Rückschlag ihrer langjährigen Bemühungen erlebt, mit einem im Einführungsgesetz aufgenommenen Ländervorbehalt jedoch den gewünschten „Gummiparagrafen“ erhalten, mit dem sich die Anstaltserziehung und der Kreis der Fürsorgezöglinge nahezu beliebig ausweiten ließ.3 Dass sich die Vertreter insbesondere der Preußischen Jugendfürsorge noch zwei Jahrzehnte daran aufrieben, dass sie mit dem Fürsorgeerziehungsgesetz der „gefährdeten“ Kinder und Jugendlichen gerade nicht habhaft werden konnten, findet dabei keine Erwähnung. Zu einer anderen Einschätzung gelangt Dickinson. Er erwähnt nicht nur die Querelen um den § 1666 BGB und die Probleme seiner Umsetzung im Rahmen der preußischen Fürsorgeerziehung, sondern vermittelt auch den Eindruck, der Staat sei in Bezug auf die „gefährdeten Kindern“ nahezu untätig geblieben.4 1
Zu den ertragreichsten Studien gehören: Peukert [1986] und Gräser [1995]. Während Peukert die Selektions- und Ausgrenzungspraktiken der Jugendfürsorge im Übergang zum Nationalsozialismus aus Widersprüchen erklärt, die in der Moderne selbst angelegt seien (a.a.O., S. 305 ff.), macht Marcus Gräser den ungebrochenen Einfluss rückwärtsgewandter, an vorindustriellen Idealen festhaltenden Gesellschaftskräfte für die Krise der Jugendfürsorge am Ende der Weimarer Republik verantwortlich (a.a.O., S. 217, 229). 2 Vgl.: Uhlendorff [2001a] u. [2001b]. 3 Peukert [1986], S. 128. 4 Dickinson [1996], S. 100 f.
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Am ausführlichsten wird die Thematik von Oberwittler in seiner komparativ angelegten, rechtshistorischen Studie zum Umgang mit deviantem Jugendverhalten in England und Deutschland in der Zeit von 1850–1920 erörtert. Er hebt die anhaltende Bedeutung der Auseinandersetzungen um die Finanzierung der mit den vormundschaftsgerichtlichen Eingriffen geschaffenen „künstlichen Hilfsbedürftigkeit“ hervor, betont aber gleichzeitig den systematischen Stellenwert der gerichtlichen Maßnahmen zum Schutz „gefährdeter“ Kinder für die Jugendfürsorge insgesamt und geht auch auf die quantitative Bedeutung der Maßnahmen nach § 1666 BGB ein.1 Die konkrete Rechtsanwendung und der Umgang der Betroffenen mit der Maßnahme liegen jedoch auch außerhalb seines Untersuchungsrahmens. Auch die öffentliche Jugendfürsorge Hamburgs beschäftigt die historische Forschung schon seit einer ganzen Reihe von Jahren und hat zahlreiche quellengesättigte Darstellungen zu ihrer Gesamtentwicklung und zu Teilaspekten des Handlungsfeldes angeregt. Zu erwähnen sind zunächst die Veröffentlichungen der „Behördengeschichtsschreibung“, die die gesamte Entwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge seit ihren frühneuzeitlichen Ursprüngen nachzeichnen.2 Allerdings ist die Rezeption der Ergebnisse dieser Untersuchungen aufgrund ihres zum Teil offenkundig legitimatorischen Charakters nicht ganz unproblematisch. Hinzu kommen mehrere, ebenfalls schon etwas ältere rechtswissenschaftliche Abhandlungen, die einen guten Überblick über die gesamte Bandbreite des Jugendrechts, die Organisation der öffentlichen (und privaten) Jugendfürsorge sowie über die Diskussionen der gesetzgebenden Körperschaften zum Gegenstand geben.3 An jüngeren Beiträgen, die der Hamburger Jugendfürsorge breite Aufmerksamkeit widmen und dabei auch den aktuellen Stand der sozialhistorischen bzw. sozialpädagogischen Forschung reflektierend einbeziehen, sind schließlich vor allem zwei Arbeiten zu nennen: Heike Schmidts Untersuchung zur Entwicklung der „weiblichen“ Zwangserziehung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und Uwe Uhlendorffs Geschichte des Jugendamtes.4 1
Oberwittler [2000]. Huvalé [1980]; Thorun [1988] u. [2004]; Weber [2004]. 3 Commichau [1961]; Klapproth [1957]; Schröder [1966]. Bezogen auf das Kaiserreich ist hier v.a. die Studie von Heinz Schröder über die Entwicklung im Zeitraum 1863-1924 zu erwähnen, die ausführlich auf das Zwangserziehungs- und Vormundschaftswesen eingeht und in diesem Zusammenhang auch die Debatten über die „guten Kindern schlechter Eltern“ nachzeichnet (a.a.O., S. 56, S. 118). Eine weitere rechtswissenschaftliche Dissertation, die die Entstehung der Jugendstrafgerichtsbarkeit in Hamburg behandelt, thematisiert außerdem die besonderen Schwierigkeiten, die einer Vereinigung von vormundschaftsgerichtlichen und strafjustiziellen Funktionen am Vorabend des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges im Wege standen (Ramcke [1959]). 4 Schmidt, H. [2002]. Vgl. auch: dies. [1999] u. Uhlendorff [2003]. Beiden Arbeiten ist gemein, dass die Hamburger Jugendfürsorge nur als eines von mehreren Fallbeispielen herangezogen wird. 2
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Um den weiteren gesellschaftlichen Kontexte abzustecken, konnte die vorliegende Untersuchung schließlich auf eine Anzahl fundierter sozialgeschichtlicher Studien über Hamburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zurückgreifen, die hier jedoch aus Platzgründen nicht ausführlich erörtert werden können.1
1 Allen voran ist hier die Studie Richard Evans' über den Cholera-Ausbruch von 1892 zu nennen (Evans [1996]), in der er ein ebenso zeitüberspannendes wie dichtes Bild von der gesellschaftlichen und politischen Situation Hamburgs während des Kaiserreichs entwirft. Instruktiv sind neben der differenzierten Beschreibung der räumlichen Verteilung sozialer Ungleichheit und der Wohnsituation in einzelnen Stadtteilen insbesondere seine Ausführungen zum Politikstil und den speziellen Hamburger Verwaltungstraditionen. Sowohl inhaltlich als auch konzeptionell hat außerdem Stephen Pielhoffs Arbeit über die Wahrnehmung von Armut und die privatwohltätigen Unterstützungsangebote im Hamburg des 19. Jahrhunderts die vorliegende Untersuchung angeregt (Pielhoff [1999]).
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Einleitung
1.4 Gliederung und Quellenbasis Die Untersuchung ist in vier Hauptteile gegliedert, die vier unterschiedlichen historischen Zugängen zum Thema Sorgerechtsentzug entsprechen. Der erste Teil ist dem gesamtgesellschaftlichen Kontext der Entzugspraxis gewidmet. Ausgehend von der Annahme, dass der Sorgerechtsentzug als Bestandteil einer auf die großstädtische Unterschicht gerichteten „interventiven Familienpolitik“1 verstanden werden kann, wird darin der Frage nachgegangen, wie sich das Familienleben im Arbeitermilieu während des Untersuchungszeitraums in Hamburg entwickelte und in welchem Verhältnis die familiale Erziehung zu anderen Sozialisationsinstanzen wie Schule, Arbeitsstelle und „Straße“ stand. Ausgangspunkt ist dabei das im Kaiserreich weitverbreitete pessimistische Bild der Arbeiterfamilie, dessen empirische Evidenz durch die sozialhistorische Forschung inzwischen nachhaltig in Frage gestellt worden ist. Die Diskrepanz zwischen zeitgenössischer Wahrnehmung und langfristiger demografischer Entwicklung wird für Hamburg auf der Grundlage statistischer Massendaten nachvollzogen. Vor allem dort, wo es darum ging, die Umgangsweisen der Familien mit der vorgefundenen Lebensrealität in den Blick zu bekommen, wurde ergänzend auf biografische Schilderungen von Angehörigen der Hamburger Unterschicht zurückgegriffen. Der zweite Teil nähert sich dem Gegenstand auf einer systemischwohlfahrtsstaatlichen Ebene. In ihm wird die allgemeine Entwicklung der öffentlichen und privaten Jugendfürsorge Hamburgs seit den 1880er-Jahren nachgezeichnet, wobei der Vorgang der organisatorischen Ausdifferenzierung und Zentralisation der Jugendfürsorge, die zögerlichen Ansätze einer Verberuflichung und das schwierige Verhältnis zwischen öffentlicher und privatwohltätiger Jugendfürsorge im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Dieser Teil der Untersuchung beruht im Wesentlichen auf einer Rekapitulation der vorhandene Sekundärliteratur zum Gegenstand. Darüber hinaus wurden zeitgenössische Periodika, insbesondere das seit 1902 erscheinende amtliche Organ der Jugendbehörde sowie die Verhandlungsprotokolle der gesetzgebenden Körperschaften zur Neuorganisation des Verwaltungszweiges ausgewertet. Anders als in der Fachgeschichtsschreibung üblich, wird der Modernisierungsprozess im Bereich der Ju1 Der Begriff „staatliche Familienpolitik“ bürgerte sich erst gegen Ende unseres Untersuchungszeitraumes ein und diente zunächst v.a. zur Bezeichnung der bevölkerungspolitischen Maßnahmen des Staates. Demgegenüber wird hier „Familienpolitik“ als ein vorbegriffliches, empirisch aber äußerst wirkungsvolles (kommunal-)politisches Handlungskonzept gefasst, das nicht mehr auf die Verhinderung von Familiengründungen (Phase der Defamiliarisierungspolitik), sondern auf die Stabilisierung der Sozialisationsfunktion von Unterschichtfamilien durch gezielte Einflussnahme auf ihre innere Beziehungsstruktur abzielte (Phase der Familialisierungspolitik). Vgl. hierzu u.a.: Herlth/Kaufmann [1982]; Gestrich [1999], S. 47 u. Lipp [1990], S. 219.
Gliederung und Quellenbasis
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gendfürsorge nicht einseitig als Reaktion auf die sozialen Herausforderungen der Zeit bzw. als Produkt weitsichtiger Vertreter von Politik und Verwaltung verstanden. Vielmehr muss die herausragende Rolle Hamburgs im Bereich der Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch als Ergebnis von anfänglichem Reformstau, öffentlicher Skandalisierung und politischer Aufarbeitung unter dem Druck der Reichsvereinigung begriffen werden. Der dritte Teil führt eine diskursive Perspektive in die Untersuchung ein.1 Hier geht es um die zahlreichen rechts- und fachpolitischen Debatten, die im Vorfeld der gesetzlichen Regelung zur staatlichen Eingriffsbefugnis in die elterlichen Erziehungsrechte auf den unterschiedlichsten Ebenen geführt wurden. Ausgehend von der ersten landesrechtlichen Regelung des Sorgerechtsentzugs in der Vormundschaftsordnung von 1832 ausgehend, wird die politische Auseinandersetzung zum Thema bis zur Postulierung des „Rechts des Kindes auf Erziehung“ durch Wilhelm Polligkeit Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgt.2 Als Quelle dienen die Protokolle der Verhandlungen der gesetzgebenden Körperschaften, Mitschriften zu den Diskussionen, die in den einschlägigen Fachverbänden geführt wurden sowie die fortlaufende Kommentierung in der Fach- und Tagespresse. Aufgezeigt werden sollen nicht nur die ideologischen und parteipolitischen Gräben, die sich bei der Verhandlung des Gegenstandes auftaten, sondern auch ihre schrittweise Einebnung bzw. Verlagerung zu einem fachpolitischen Meinungsstreit: Am Ende des Untersuchungszeitraumes verliefen die Frontlinien nicht mehr zwischen den einzelnen Parteien, sondern zwischen den an Machbarkeitsgesichtspunkten orientierten Vertretern der kommunalen Jugendfürsorge einerseits und der liberal gesinnten, auf Einhaltung minimaler rechtsstaatlicher Prinzipien pochenden höheren Richterschaft andererseits. Der vierte und letzte Teil der Arbeit wendet sich schließlich der Handlungsund Aneignungsebene zu. Er bildet inhaltlichen und quantitativ den Schwerpunkt der Arbeit und rekonstruiert den Sorgerechtsentzug als soziale Praxis auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsnormen, der Jahresberichte der Vormundschaftsbehörde und nicht zuletzt der Vormundschaftsakten, die in den Jahren 1 Damit ist keine diskursanalytische Untersuchung im Sinne Foucaults gemeint. Zwar wird der „Diskurs“-Begriff im Folgenden insofern analog zum Foucaultschen Verständnis gebraucht, als damit die Gesamtheit von Aussagen in Form von protokollierten Kommentaren, schriftlichen Stellungnahmen, Gesetzen, Hausordnungen, Tabellen, Grafiken, architektonischen Entwürfen usw. in Bezug auf die Institution des Sorgerechtentzugs gemeint sind, die durch ihre spezifischen Interdependenzen bestimmen, was und wie überhaupt über dieses Thema kommuniziert und gleichzeitig was nicht geäußert werden konnte. In die Untersuchung haben jedoch weder die weiteren theoretischen und methodologischen Überlegungen Foucaults noch die ethischen Implikationen des Habermasschen Diskurskonzepts Eingang gefunden. Um Missverständnissen vorzubeugen, wurde deshalb insgesamt sehr sparsam mit dem Begriff umgegangen. 2 Vgl.: Lappenberg 11.1832, S. 391 ff. u. Polligkeit [1907].
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Einleitung
1884 bis 1914 angelegt worden sind. Der vierte Teil ist in fünf größere Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel wird die Aufgaben- und Personalentwicklung sowie der allgemeine Arbeitsanfall der Vormundschaftsbehörde analysiert, um die strukturellen Voraussetzungen des behördlichen Handelns zu bestimmen (5.1). Darauffolgend wird die soziale Herkunft und das Selbstverständnis der (Laien)Richter untersucht (5.2). Das dritte Kapitel zeichnet schließlich die quantitative Entwicklung der Eingriffe ins elterliche Personensorgerecht im Kontext des sehr viel breiteren Spektrums justizförmiger Sozialkontrolle nach (5.3), wohingegen das vierte Kapitel den formalen Ablauf des Absetzungs- bzw. Sorgerechtsentzugsverfahrens auf der Grundlage der geltenden Rechtsnormen rekonstruiert (5.4). Das letzte und umfangreichste Kapitel ist der Untersuchung des „law in action“, also der Rechtsanwendung, vorbehalten. Hier geht es um die praktische Ausgestaltung des Verfahrens vom Interventionsanlass und Anzeigeverhalten über das mehr oder weniger ausgedehnte Untersuchungsverfahren und die Beschlussfassung bis hin zur Umsetzung der Beschlüsse und der jeweiligen Reaktion der Betroffenen. Die systematische Analyse von etwas über 180 Einzelfällen, die durch die Personenakten der Vormundschaftsbehörde, durch Generalakten der Jugendbehörde sowie durch veröffentlichte Beschlüsse der verschiedenen Gerichtsinstanzen vollständig oder ausschnittweise dokumentiert sind, folgt dem oben beschriebenen Konzept der „Justiznutzung“.
2 Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen in Hamburg zwischen Zollanschluss und Erstem Weltkrieg
Die vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen, dienten vor allem der privatrechtlichen Absicherung der Ende des 19. Jahrhunderts erst im Entstehen begriffenen Jugendfürsorgetätigkeit des Staates. Sie stellten einen zentralen Baustein eines sich allmählich formierenden Systems dar, das darauf abzielte, die prekären Sozialisationsleistungen der Familie in den städtischen Unterschichten durch die Bereitstellung und zwangsweise Durchsetzung verschiedener Formen öffentlicher Ersatzerziehung sicherzustellen. Die Entschlossenheit, mit der die staatlichen Instanzen darangingen, Kinder von ihren Eltern zu trennen, sind dabei nur vor dem Hintergrund des zutiefst pessimistischen Familienbildes zu verstehen, das die zeitgenössische Wahrnehmung bestimmte. In diesem Teil der Untersuchung geht es deshalb in einem ersten Schritt darum, die Bestandteile und gesellschaftliche Verankerung dieses zeitgenössischen Bildes näher zu bestimmen und herauszuarbeiten, wie es die Wahrnehmung des proletarischen Familienlebens gerade in Hamburg beeinflusste. In einem zweiten Schritt wird dann der Versuch unternommen, sich von den Gewissheiten der Zeit zu lösen und das Familienleben der Hamburger Arbeiterschaft anhand der nüchternen Zahlen zu betrachten. Die Auswertung und kartografische Aufschlüsselung der wichtigsten bevölkerungs-, wohn- und gewerbestatistischen Daten lässt zahlreiche Korrekturen an der zeitgenössischen Wahrnehmung und Thematisierung des proletarischen Familienlebens notwendig erscheinen. Allerdings lassen sich auf dieser Grundlage auch die ersten, vor allem sozialstrukturell bedingten Problemkonstellationen identifizieren, die das Familienleben und das Aufwachsen von Kindern in der Hamburger Unterschicht belasteten. Den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der sich sozialräumlich abzeichnenden „moralpolitischen Unterschiede“ der Hamburger Arbeiterbevölkerung, so wird sich zeigen, bildeten dabei die Wohnverhältnisse. Dagegen war die Wahrnehmung des Verhaltens der großstädtischen Jugend durch diffuse Ängste bestimmt, die kulturelle Neuerungen und urbane Unübersichtlichkeit bei den erwachsenen Beobachtern hervorriefen. Am Ende dieses
J. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Teils der Untersuchung werden deshalb die drei bedeutendsten außerfamilialen Sozialisationsinstanzen bzw. -bereiche untersucht: die Schule, die Arbeitsstelle und die „Straße“. Für den jugendfürsorgerischen Zugriff stellten sie wichtige intermediäre Instanzen dar, weil sie vielfältige Ansatzpunkte für die Ausbildung einer spezifischen Form der pädagogisch-fürsorgerischen Beobachtung abweichenden Kindesverhaltens boten und auch der Entwicklung von Maßnahmen zur Behebung von Sozialisationsdefiziten als Referenzsysteme dienten. Bevor sich die Untersuchung jedoch der Analyse der Sozialisationsbedingungen in Hamburg an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zuwendet, müssen vorab die politischen, wirtschaftlichen und demografischen Rahmenbedingungen umrissen werden, die das gesellschaftliche Leben und das ins Auge gefasste Politikfeld im Untersuchungszeitraum bestimmten.
2.1 Hamburg im Kaiserreich: politische Verfassung, demografische Entwicklung und soziale Differenzierung Im Vergleich zu den anderen 23 Mitgliedsstaaten des 1871 geeinten Deutschen Reiches wies der Stadtstaat Hamburg bezüglich seiner Verfassung eine Reihe von Besonderheiten auf, die auch für die Gestaltung und Umsetzung der Sozialund Jugendfürsorgepolitik von entscheidender Bedeutung waren. Wenn Außenstehende etwas abschätzig von den „Hamburger Verhältnissen“ sprachen, spielten sie vor allem auf die „quasiparlamentarische republikanische Staatsverfassung“1 und die eigentümlichen Verwaltungstraditionen der Hansestadt an. „Quasiparlamentarisch“ war die Verfassung zunächst deshalb, weil das „Parlament“, die so genannte Bürgerschaft, zusammen mit dem Senat zwar die Stadt regierte, formal aber kein gesetzgeberisches Initiativrecht besaß. Außerdem hatte die Bürgerschaft nur einen sehr beschränkten Einfluss auf die Wahl der Senatoren, die ihr Amt auf Lebenszeit bekleideten. Noch wichtiger war allerdings, dass auch die Bürgerschaft selbst als Volksvertretung nur etwa zur Hälfte aus freien Wahlen hervorging und wahlberechtigt nur diejenigen männlichen Einwohner waren, die das Bürgerrecht erworben hatten und Einkommenssteuer zahlten. De facto lenkte also ein sehr eingeschränkter, begüterter Personenkreis, der sich mehrheitlich aus Kaufleuten und Hauseigentümern zusammensetzte, die politischen Geschicke der Stadt. Entsprechend dieser sozialen Zusammensetzung war die Hamburgische Politik während des gesamten Kaiserreichs durch den Handelsprimat bestimmt, dem nicht nur der Ausbau der sozialen Leistungsverwaltung untergeordnet wurde. 1
Evans [1996], S. 35.
Hamburg im Kaiserreich
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Für den hier behandelten Gegenstand viel wichtiger als die angeführten Besonderheiten der Legislativen ist jedoch der Umstand, dass die bürgerliche Mitsprache ein bestimmendes Merkmal der Verwaltungsorganisation war. Bei der großen Mehrheit der Verwaltungsbehörden der Hansestadt handelte es sich um so genannte Deputationen, das heißt sie wurden von einem oder zwei Senatoren präsidiert, während die übrigen, ehrenamtlich tätigen Mitglieder von der Bürgerschaft aus dem Kreis der erbgesessenen Bürgerschaft gewählt wurden. Dieser als Laienverwaltung bezeichneten besonderen Verwaltungsstruktur Hamburgs lag ein selbstbewusst vorgetragenes, jedoch im Kern amateurhaftes Politikverständnis zu Grunde, dessen Richtschnur der „gesunde Menschenverstand“ war.1 Anders als in Preußen, wo seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die wichtigeren Verwaltungsgeschäfte von einer ganztägig tätigen Berufsbeamtenschaft geleitet wurden, stand man in Hamburg einer Professionalisierung der höheren Verwaltungsebenen noch bis Ende des 19. Jahrhunderts ablehnend gegenüber. Auch für die Zusammensetzung und die Entscheidungsstrukturen der Vormundschaftsbehörde, blieben das Laienprinzip und die kollegiale Beschlussfassung im gesamten Untersuchungszeitraum bestimmend.2 Wie sämtliche deutschen Großstädte unterlag auch die alte Handelsstadt Hamburg während des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts einem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel, der von den beiden großen Umwälzungen der Zeit, der Industrialisierung und mehr noch der Urbanisierung vorangetrieben wurde. Hamburg, dessen Bevölkerung schon seit langem nur zur Hälfte aus vor Ort geborenen Personen bestand, entwickelte sich im Untersuchungszeitraum zum wichtigsten Zuwanderungsmagneten im Norden des Deutschen Reiches: Laut Volkszählung lebten im Hamburger Staat Ende 1885 etwas mehr als eine halbe Million Menschen - knapp 475.000 von ihnen in der Stadt selbst und die restlichen rund 44.000 im Hamburger Landgebiet. An der Wende zum 20. Jahrhundert war allein die städtische Bevölkerung bereits auf 705.738 angewachsen und näherte sich kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges der Marke von einer Million.3 Geschuldet war das rapide Bevölkerungswachstum vor allem dem Zuzug von meist jüngeren, männlichen Personen aus dem übrigen Reichs-
1
A.a.O., S. 52. Vgl. eingehend hierzu: Abschnitt 5.3. 3 Stat. Hbg. Staats, Heft XXI (1900), Tab. I, S. 6 u. Bd. XXXI (1921), S. 2. Amtliche Angaben zum Umfang der Stadtbevölkerung für das Jahr 1914 fehlen. Im Staat Hamburg wurden im Herbst des Jahres 1914 1.070.094 Personen gezählt. Geht man auf der Basis vorangegangener Zählungen von einem 92%igen Anteil der städtischen Hamburger Bevölkerung aus, so ergibt sich für 1914 eine absolute Bevölkerungszahl von rund 984.500 Personen. Matti [1983], S. 114, vermittelt dagegen den Eindruck, die Millionengrenze der Stadtbevölkerung sei schon 1913 erreicht worden, ohne dafür allerdings die entsprechende Quelle zu nennen. 2
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Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
gebiet.1 Während zunächst in erster Linie die Einwohnerzahl der alten Vororte St. Georg und St. Pauli stieg, verzeichneten ab den 1890er Jahren die durch den Wegfall der Zollschranken im Jahr 1888 neu entstandenen Wohnviertel in Stadtrandlage die größten Bevölkerungsgewinne.2 Dagegen stagnierte wegen des Baus umfangreicher Speicher- und Kaianlagen im neu eingerichteten Freihafen und aufgrund des schleichenden Prozesses der Citybildung die Einwohnerzahl in den baufälligen Vierteln der Innenstadt. Hamburgs Bevölkerung war jung. Der Anteil der Altersgruppe unter 21 Jahren an der Gesamtbevölkerung der Stadt lag 1885 bei 40 Prozent, und 22,8 Prozent der Bevölkerung befanden sich sogar erst im Alter von 0-10 Jahren.3 Diese durch „kumulative Großstadtverjüngung“4 verursachte demografische Situation war durchaus charakteristisch für die Städte des Deutschen Reiches um die Jahrhundertwende; in angrenzenden Staaten wie Frankreich mit vergleichsweise „alter“ Bevölkerung wurde sie mit Besorgnis beobachtet. Verglichen mit Städten der Schwerindustrie wie Duisburg, Oberhausen oder Gelsenkirchen war der Anteil junger Personen an der Gesamtbevölkerung in Hamburg aber immer noch gering.5 Ähnlich wie in Berlin war der Zenit der Bevölkerungsverjüngung in Hamburg 1905 bereits seit Jahren überschritten. In der Untersuchungsperiode ging der Anteil der unter 15-Jährigen langsam aber stetig von 31,5 Prozent (1885) über 30,6 Prozent (1900) auf 27,6 Prozent (1910) zurück.6 Für den Altersaufbau der Hamburger Bevölkerung war nicht so sehr der hohe Anteil der jugendlichen Bevölkerung kennzeichnend, als die überdurchschnittlich starke Besetzung der produktiven Altersjahrgänge, das heißt der Personen im Alter von 15-60 Jahren.7 Gleichwohl scheint das gesellschaftliche und staatliche Engagement im Bereich von Bildung, Erziehung und Sozialem, auf das in den folgenden Teilen der Untersuchung näher eingegangen wird, auch eine demografische Wurzel besessen zu haben: Einerseits wuchsen die Belastungen der urbanen Inf1 Zum Verhältnis von Geburtenüberschuss und Wanderungsgewinnen vgl.: Stat. Hbg. Staats, Bd. XXIV, S. 5. 2 Matti [1983], S. 134 f., Wischermann [1983], S. 343 u. Uhlendorff [2003], S. 165. 3 Stat. Hbg. Staats, Bd. XIV, I. Abt. (1887), S. 67 ff. und Bd. XXI (1900), Tab. 1, S. 6. 4 Es wirkten hier mindestens drei Prozesse zusammen: die insgesamt schon stark „jugendgewichtige“ Altersstruktur der Reichsbevölkerung, der periodische Anstieg der Gebürtigkeit und die durch die Wanderungsbewegungen verursachte Verjüngung der Bevölkerung der städtischen Industriezentren. Vgl.: Tenfelde [1982], S. 185. 5 Während z.B. in Gelsenkirchen 1905 die unter 15-Jährigen 42,9% aller Einwohner ausmachten, lag der Vergleichswert in Hamburg bei relativ moderaten 29,2%. A.a.O., Tab. 12, S. 203. 6 A.a.O., S. 193 u. 204 ff. und Stat. Hbg. Staats, Bd. XIV, I. Abt. (1887), S. 67 ff. u. Tab. 11, S. 31; Bd. XXI (1900) Tab. 1, S. 9 u. Tab. 14, S. 28; Bd. XXVIII (1910) Tab. 1, S. 6 u. Tab. 14, S. 28. 7 Der prozentuale Anteil der Bevölkerung im Alter von 15-60 Jahren lag 1905 mit 64,5% gute sechs Prozentpunkte über dem Reichsdurchschnitt (Tenfelde [1982], Tab. 12, S. 203 u. S. 207; Matti [1983], S. 149).
Hamburg im Kaiserreich
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rastruktur im Bereich des Bildungswesens, der Armen-, Jugend- und Gesundheitsfürsorge.1 Auf der anderen Seite spreizte sich durch die parallel verlaufende Erhöhung der Lebenserwartung der Lebenszyklus, was zu einer zunehmenden Differenzierung generationeller Erfahrungsmuster führte, die nicht zuletzt das Konfliktpotenzial zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen erhöhte und die Ausgestaltung der Jugendfürsorge beeinflusste.2 Neben der veränderten demografischen Situation spiegelte sich der gesellschaftliche Wandel vor allem auf der Ebene des Wirtschaftslebens wider. Für Hamburgs Wirtschaft war und blieb im gesamten Untersuchungszeitraum die Rolle der Elbmetropole als wichtigster deutscher Seehafen bestimmend. Die selbständige, hafenunabhängige Industrie entwickelte sich dagegen erst nach und nach.3 Nicht nur die in Handel und Verkehr beschäftigten Personen arbeiteten in ihrer Mehrheit im bzw. für den Hafen. Auch die meisten Industrie- und Gewerbebetriebe hingen mehr oder weniger direkt vom Umschlag des Hafens und seinem Bedarf an Hilfsgütern ab. Die metallverarbeitende Industrie, einer der wichtigsten Wachstumssektoren der „ersten“ industriellen Revolution, war in Hamburg z.B. in Form der Werftindustrie präsent.4 Daneben stellte die Weiterverarbeitung und Veredelung importierter Rohstoffe wie Kaffee, Kakao und Tabak, aber auch von Mineralöl, Asbest und Kautschuk in Hamburg einen äußerst wichtigen Industriezweig dar.5 Mit der Nutzbarmachung des stromintensiven Elektrolyseverfahrens durch die bereits seit 1866 ortsansässige Kupferaffinerie, vor allem aber durch den Aufstieg der chemisch-pharmazeutischen Industrie zeichnete sich dann in aller Deutlichkeit der Einfluss der „zweiten“ industriellen Revolution auf das Hamburger Wirtschaftsleben ab. Zu Beginn des Jahres 1914 waren in rund 5.000 industriellen Produktionsstätten bereits 115.000 Männer und Frauen beschäftigt, was einem Anteil von rund 40 Prozent aller Erwerbstätigen und einer Vervierfachung der Beschäftigtenzahlen gegenüber 1890 entsprach.6
1 Nach Uhlendorff flossen 1913 rund 26,2 Mio. Mark oder 13,5% der Staatsausgaben in den Bereich von Erziehung und Bildung. 1895 waren es erst relativ bescheidene 7,8 Mio. bzw. 10,5% des Staatshaushalts gewesen (Uhlendorff [2003], S. 166 ff.). 2 Vgl. zu dieser Thematik: Tenfelde [1982], S. 210 ff. 3 Vgl.: Ollenschläger [1948] S. 24, Jochmann [1968], S. 23. Etwas anders sieht das Bild aus, wenn man den auch in wirtschaftlicher Hinsicht eng verflochtenen Vierstädteraum Hamburg-HarburgWandsbek-Altona insgesamt in den Blick nimmt. 4 Seit dem Übergang vom Holz- zum Eisenschiffbau in den 1880er Jahren hatten sich mehrere neue Großwerften in Hamburg niedergelassen. Bereits 1895 waren annähernd 6.000 erwerbstätige Personen für den Schiffsbau tätig. Vgl.: Stat. Hbg. Staats, Bd. XVIII (1900), S. 35 ff. Eine vergleichbar starke Dominanz von Großbetrieben gab es in Hamburg zur damaligen Zeit nur noch im Bereich der Gummiveredelung bzw. -verarbeitung. A.a.O., S. 35 ff. 5 Vgl.: Evans [1996], S. 58. 6 A.a.O., S. 25.
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Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Zwei Zäsuren waren für die wirtschaftliche - und demografische - Entwicklung Hamburgs im Untersuchungszeitraum von besonders nachhaltiger Bedeutung: Der 1888 vollzogene Zollanschluss und die Wirtschaftskrise im Anschluss an den Choleraausbruch von 1892. Die Einrichtung des Freihafens bei gleichzeitigem Fall der Zollgrenzen zum übrigen Reichsgebiet hatte eine intensive Bautätigkeit ausgelöst und gleichzeitig zu einem ungeahnten Aufschwung des Handels geführt. Vor allem der seewärtige Warenverkehr zog explosionsartig an. Die Stadt stieg zum viertgrößten Seehafen der Welt auf und lief Rotterdam und Antwerpen den Rang ab.1 Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung seit Mitte der 1880er Jahre war auch ein vermehrter Arbeitskräftebedarf verbunden gewesen: Im Verlauf des Jahres 1890 heuerten nicht weniger als 33.000 Seeleute in Hamburg an und die Ausweitung der Zulieferer- und Verarbeitungsindustrie trug ebenfalls zur massiven Steigerung der Nachfrage am Arbeitsmarkt bei. Der Wegfall der Zollschranken hatte allerdings auch eine kaum zu übersehende soziale Kehrseite, denn in den Folgejahren stiegen die Lebensmittelpreise stark an, ohne dass dieser Preissteigerung in allen Industriezweigen und Berufsstellungen eine entsprechende Lohnerhöhung entsprochen hätte.2 Die Cholera-Epidemie von 1892 brachte eine mehrere Jahre anhaltende wirtschaftliche Stagnation mit sich, die sich wiederum besonders nachteilig auf die ökonomische Lage von Arbeiterhaushalten auswirkte. Die durch das Reich verfügten Quarantänemaßnahmen brachten den Handel über Monate hinweg zum Erliegen.3 Neben den sozialen Folgekosten, die der Tod von über 10.000 größtenteils der Unterschicht entstammenden Menschen mit sich brachte, wirkte sich vor allem die durch gesundheitspolizeiliche Maßnahmen verursachte Massenarbeitslosigkeit verheerend auf die soziale Lage der Hamburger Unterschichtsbevölkerung aus.4 Zusätzlich verschärft wurde die Situation noch dadurch, dass der 1 Der Aufschwung des Handels lässt sich am besten anhand der durchschnittlichen Transportleistung der in den Hamburger Hafen einlaufenden Schiffe dokumentieren: 1885 betrug die Gesamttonnage der einlaufenden Schiffe 3,7 Mio. t, 1890 bereits 5,2 Mio. t und 1913 war die Gesamtleistung sogar auf 14,2 Mio. t gestiegen. Die Ausfuhr zog im gleichen Zeitraum noch deutlich stärker an. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg wurde ein sattes Fünftel des Exports deutscher Industrie- und Agrarprodukte über Hamburg abgewickelt. Vgl.: Matti [1883], S. 135 u. Evans [1996], S. 55 f. und zur Belebung des Arbeitsmarktes durch den Zollanschluss auch S. 84 f. Zu den durch beide Zäsuren ausgelösten innerstädtischen Bevölkerungsverschiebungen vgl.: Wischermann [1983]. 2 Vgl.: Evans [1996], S. 106 ff. 3 Die umfassenden Quarantänemaßnahmen traten Ende August 1892 in Kraft und waren z.T. noch zu Beginn des Jahres 1893 wirksam. Schenkt man der „Kölnischen Zeitung“ Glauben, so sank der wöchentliche Gesamtumsatz der Handelsstadt bereits im ersten Monat nach Bekanntwerden der Seuche von 50 Mio. auf wenige tausend Mark ab (a.a.O., S. 467 ff.). 4 Allein die Werft „Blohm und Voss“ entließ bis Januar 1893 2.300 Leute, was mehr als 75% ihrer Gesamtbelegschaft entsprach. Aufgrund fehlender Nachfuhr an Rohstoffen waren auch Tausende
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Winter 1892/93 außergewöhnlich kalt und die jahreszeitenbedingte Arbeitslosigkeit im Hafen und im Baugewerbe infolgedessen besonders hoch war. In Folge des Stadtwachstums, der eher zögerlich einsetzenden Industrialisierung und der soeben skizzierten Verwerfungen des Wirtschaftlebens nahm in Hamburg während des Kaiserreichs auch die soziale Segregation nach Stadtteilen zu. Es existierten „arme“ und „reiche“ Stadtteile, zunehmend verslumte, durch Arbeitslosigkeit und soziales Elend geprägte Stadtviertel neben „respektablen“ Arbeiterquartieren, eher kleinbürgerlich geprägte Wohnbezirke und nicht zuletzt natürlich die Villengegenden des wohlhabenden Großbürgertums. Einer der wichtigsten Indikatoren für die sozialräumliche Differenzierung ist das in Karte 1 für die einzelnen Stadtteile dargestellte Pro-Kopf-Einkommen. Zusammen mit der Wohndichte und der beruflichen Stellung der erwerbstätigen Bevölkerung liefert es zuverlässige Anhaltspunkte für das jeweilige soziale Gepräge der einzelnen Wohnbezirke und das Gefälle, das hinsichtlich des Einkommens, der Wohnqualität und der beruflichen Lebenserfahrungen zwischen den verschiedenen Stadtteilen und ihren Bewohnern bestand. Evans unterscheidet nach diesen Kriterien vier Stadtteil-Typen1:
In die erste Kategorie fielen die sehr dicht bevölkerten Altbauviertel der Innenstadt (Altstadt Nord und Süd, Neustadt Nord und Süd). Mit Ausnahme der südlichen Neustadt, für die ein ausgesprochen niedriges Lohnniveau kennzeichnend war, entsprach das Pro-Kopf-Einkommen dieser Stadtteile etwa dem Hamburger Durchschnitt, der im Jahr 1900 bei 662 Mark lag. In diesen Vierteln war das kleinbürgerliche Element zwar noch vertreten, wurde aber dominiert durch die meist im Hafen beschäftigte Arbeiterschaft, die zwischen 60-70 Prozent der Bevölkerung ausmachte. Zur zweiten Kategorie zählt Evans die beiden Vorstädte St. Pauli und St. Georg. Auch sie wurden bevorzugt von im Hafen beschäftigten Arbeitern bewohnt. Gerade am Beispiel St. Georgs zeigte sich jedoch eine bedeutsame Binnendifferenzierung, die sich in der Art der Bebauung ebenso niederschlug wie im Durchschnittseinkommen und der Verteilung der Berufsstellungen unter den Bewohnern: Während im verhältnismäßig jung besiedelten und dicht bebauten südlichen Teil, dem „Hammerbrook“, vor allem Arbei-
Tabakarbeiter ohne Arbeit und mehrere Tausend Handwerker mussten existenzgefährdenden Auftragseinbussen hinnehmen, weil die bessersituierte Bevölkerung aus Hamburg geflohen war. Nach einer Untersuchung des Waisenhauskollegiums vom August 1893 waren durch die Cholera 632 Kinder voll- und 4.235 halbverwaist (Schröder [1966], S. 87). Nach den amtlichen Statistiken starben im Zeitraum vom 16.08.1892 bis zum 12.11.1892 8.605 Menschen an der Cholera. Die Zahl der Erkrankten lag etwa doppelt so hoch (Evans [1996], S. 377). 1 A.a.O., S. 86 ff.
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Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Karte 1:
Pro-Kopf-Einkommen nach Hamburger Stadtteilen 1900
ter mit niedrigem Einkommen lebten, wies der nördliche alsterzugewandte Teil einen beachtlichen Anteil an Angestellten und Besserverdienenden auf. Nördlich an St. Pauli und St. Georg angrenzend, schloss sich ein „innerer Ring“ von mehr oder weniger großzügig bebauten Vororten der Besserverdienenden an, der östlich und westlich die Außenalster umschloss. In Rotherbaum und Harvestehude, wo der Anteil der Selbständigen unter den Erwerbstätigen im Jahr 1895 38 bzw. 50 Prozent ausmachte, während nur etwa ein Drittel der Erwerbstätigen der lohnabhängigen Bevölkerung angehörte, lag das Einkommen um das Drei- bzw. Vierfache über dem Hamburger Durchschnitt. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt waren die Verhältnisse in den Stadtteilen Uhlenhorst und Hohenfelde am gegenüberliegenden Alsterufer.1
1 Die herrschaftlichsten, von ausgebreiteten Gartenanlagen umgebenen Anwesen, die zumeist von Großkaufleuten bewohnt wurden, befanden sich am nördlichen Teil der Alster. In Uhlenhorst war der
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Umschlossen wurden die Innenstadtviertel sowie die Vororte der Reichen schließlich durch einen vorwiegend von Arbeitern bewohnten „äußeren Ring“ von Vororten, die mehrheitlich erst im Zuge des 1888 vollzogenen Zollanschlusses entstanden waren. Das Pro-Kopf-Einkommen dieser Stadtteile lag deutlich unter dem städtischen Durchschnitt. Am niedrigsten lag es im dicht bevölkerten Billwerder Ausschlag, wo es nicht einmal die Hälfte des Durchschnittwertes erreichte. Etwas besser waren die Einkommens- und Wohnverhältnisse in den sozial heterogeneren Wohnvierteln im Nordwesten der Stadt. Fast allen diesen Stadtteilen war gemein, dass sie verkehrstechnisch nur unzureichend erschlossen waren und die Infrastruktur auch sonst noch viel zu wünschen übrig ließ. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass Hafenarbeiter gegenüber Industriearbeitern hier in der Minderheit waren.
mit mondänen Villen besetzte Ufergürtel recht schmal. In dem für die Gesamtbevölkerung errechneten, relativ niedrigen Pro-Kopf-Einkommen spiegelt sich die tatsächliche Sozialstruktur des Stadtteils deshalb auch nur unzureichend wider. Wie in St. Georg verlief auch hier die Scheidelinie zwischen bürgerlichen Wohnvierteln und Arbeiterquartieren mitten durch den Stadtteil. Hohenfelde und Rotherbaum können dagegen als typische Wohnviertel des „neuen Mittelstands“ gelten. In den geräumigen und reich verzierten Etagenhäusern, die das Erscheinungsbild der Stadtteile prägten, wohnten auffallend viele Angestellte. 1895 machten Verwaltungs- Aufsichts- und Comptoir-Personal in Hohenfelde 21%, in Rotherbaum sogar 30% aller Erwerbstätigen aus (a.a.O., S. 94, Karte 7).
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2.2 Zwischen schleichender Verbürgerlichung und struktureller Überforderung: Die Entwicklung des Familienlebens Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich das Familienleben der Hamburger Arbeiterschaft vor dem Hintergrund der skizzierten politischen, demografischen und wirtschaftlichen Veränderungen während des Kaiserreichs entwickelte, welche Probemlagen sich dabei rückblickend identifizieren lassen und vor allem wie die Zeitgenossen diese Schwierigkeiten familiären Zusammenlebens öffentlich thematisierten. Die Erörterung dieser Fragestellungen wird auf der Grundlage ganz unterschiedlicher Quellengattungen und Ansätzen nachgegangen. Dieser mehrperspektivische Zugang bietet den Vorteil, die spezifischen Vereinseitigungen der jeweiligen Ansätze auszugleichen. Den zeitgenössischen Kommentare zum Zustand des Familienlebens in der Arbeiterschaft muss gleichwohl ein besonderes Maß an Skepsis entgegengebracht werden - zum einen, weil sie stark ideologisch gefärbt waren und in einer Mischung aus moralischer Panikmache, politischer Agitation und unbedarftem Machbarkeitsoptimismus befangenen waren; zum anderen, weil sie zu einer Art Gründungsmythos der Sozialpädagogik verdichtet wurden, der als legitimatorische Basis der Fürsorgewissenschaft und später auch der Sozialen Arbeit diente.
2.2.1 Zeitgenössische (Zerr-)Bilder der Arbeiterfamilie Ein Buch, das wie kein zweites im 19. Jahrhundert zur Verbreitung des düsteren Sittengemäldes vom Familienleben im großstädtisch-proletarischen Milieu beigetragen hatte, war Wilhelm Heinrich Riehls in den 1850er Jahren erschienene „Naturgeschichte des deutschen Volkes“. Im fünften und letzten Band seiner voluminösen Abhandlung, der als eine Art Handbuch für den bürgerlichen Hausgebrauch konzipiert worden war1, diagnostizierte Riehl die Auflösung der vorindustriellen Großfamilie und den Verfall der sittenstiftenden Idee des „ganzen Hauses“. Wie viele seiner Zeitgenossen verfolgte Riehl die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen der Epoche mit größter Besorgnis. In besondere Alarmbereitschaft versetzte ihn das beschleunigte Wachstum der Städte und Industriemetropolen. Das großstädtische Leben mit der örtlichen Ungebundenheit seiner Bewohner, den „entgeisteten“ Mietwohnungen und dem Mangel an „häuslicher Zucht“, galt ihm als der größte Feind der Familie - und der „vierte Stand“, das Proletariat, stellte in seinen Augen die Antithese zum familialen Großverband des vorindustriellen Zeitalters dar. Nur durch die Wiederbelebung 1
Riehl [1858], Vorwort, S. IX f.
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des „deutschen Hauses“, das heißt eines auf Grundbesitz basierenden, traditionsbewussten bürgerlichen Familienhaushalts, ließen sich nach Riehls Überzeugung die Gefahren bannen, die von der städtischen Arbeiterschaft ausgingen.1 Die charakteristische Verbindung von Idealisierung des „ganzen Hauses“, Großstadtkritik und Argwohn gegenüber dem im Entstehen begriffenen großstädtischen Proletariat sollte bald zu einem integralen Bestandteil bürgerlichen Kulturpessimismus’ werden. Beklagt wurde neben der schwindenden Stabilität familialer Bindungen und den ungesunden Wohnverhältnissen, die keine funktionale Ausdifferenzierung der Lebensbereiche mehr zuließen, Kinder auf die Straße und Männer ins Wirtshaus trieben, vor allem die Zunahme außerhäusiger Frauenarbeit, die Abkoppelung von ländlichen Sitten und Gebräuchen sowie der damit einhergehende Bedeutungsverlust der althergebrachten Instanzen sozialer Kontrolle wie Kirche, Zunft und Nachbarschaft.2 Das politische Spektrum, das sich diese Grundauffassung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu eigen machte, war äußerst breit gefächert und reichte von der konfessionell inspirierten Sittenkritik über die verschiedenen Schattierungen der bürgerlichen Sozialreform bis tief hinein ins sozialistische Lager.3 Zwar gab es zwischen den angesprochenen Gruppierungen erhebliche Differenzen in der Erklärung der festgestellten Mißstände und dementsprechend gingen auch die Ansichten über die Maßnahmen auseinander, welche zu ihrer Behebung erdacht und empfohlen wurden.4 Die Diagnose selbst aber war kaum umstritten. Angesichts der breiten gesellschaftlichen Verankerung des pessimistischen Bildes proletarischen Familienlebens im Kaiserreich ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die sich formierende Fürsorgewissenschaft und später dann die geisteswissenschaftliche Sozialpädagogik zu einer wenig nuancierten, die beobachteten Missstände überspitzenden Betrachtung der familialen Sozialisationsbedingungen im Arbeitermilieu neigten. Allerdings kam der Hervorhebung der Defizite proletarischen Familienlebens in der wissenschaftlichen Beschäftigung 1 „Es wird der vierte Stand, bei dem ein berechtigtes Familienleben überhaupt kaum existirt, durch eine Concentration des bürgerlichen Lebens großentheils aufgehoben, denn eben aus der Verleugnung des bürgerlichen Hauses geht eine ungeheure Schaar von Proletariern hervor.“ A.a.O., S. 227. 2 Vgl.: Ritter/Tenfelde [1992], S. 539-542. 3 Vgl.: Rosenbaum [1992], S. 11-13 u. Ritter/Tenfelde [1992], S. 539-542. 4 Während sozialistische Kritiker wie Otto Rühle oder August Bebel v.a. sozialstrukturelle bzw. wirtschaftliche Gründe für die Misere verantwortlich machten, führte man im protestantischen Lager den familiären Niedergang in erster Linie auf mangelnde Religiosität und um sich greifenden Materialismus zurück. Im sozialreformerischen Mittelfeld hielten sich beide Erklärungsmuster in etwa die Waage, aber auch hier gab es eine ausgeprägte Neigung, das Scheitern der Familie als Sozialisationsinstanz neben kulturellen Einflussfaktoren v.a. auf individuelles Fehlverhalten zurückzuführen. Vgl. zu den Schattierungen der bürgerlichen Sozialreform differenziert: Lees [2002], S. 94. Vgl. zu Bebels Schrift „Die Frau und der Kapitalismus“: Evans [1981], S. 273. Zu Otto Rühles Familienbild vgl.: Rühle [1911], S. 14 ff.
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mit der Jugendfürsorge insofern ein besonderer Stellenwert zu, als sich auf diesem Wege problemlos zahlreiche Bedürfnisse identifizieren ließen, die eine öffentliche Unterstützung und pädagogische Intervention erforderlich machten. Die Disziplin griff also nicht nur ein populäres zeitgenössisches Wahrnehmungsmuster auf, sondern reproduzierte es beständig aufs Neue, um die Grundlagen ihres gesellschaftlichen Auftrags zu sichern. Eine besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang Maria Offenbergs Beitrag zum Nohl/Pallatschen „Handbuch der Pädagogik“ von 1929 zu, mit dem sie die bürgerliche Kritik an den Sozialisationsleistungen der städtischen Unterschichtsfamilie zu einem ebenso düsteren wie suggestiven Bild verdichtete, das die Optik der geisteswissenschaftlichen Sozialpädagogik noch auf Generationen hin prägen sollte. „Die innere Haltlosigkeit der Familie ist zur typischen Zeiterscheinung geworden. Dahinter aber steckt Tieferes. Eine Familie, die sich aus eigenem seelischen Bestand nicht mehr erhalten kann, lebt und stirbt nicht sich allein, sie wirkt nicht neutral, sondern unbedingt gesellschaftszerstörend. Wir spüren die äußeren und inneren Feinde, die ihr Dasein untergraben. Es fehlt zunächst der äußere Lebensraum, es fehlen die menschenerhaltenden Kräfte des Lichtes, der Luft. [...] Jeder Mensch bedarf zu seinem körperlichen und seelischen Wachstum eines Stückes Boden für geruhige und nachdenkliche Stunden. In diesem dumpfen, überfüllten Wohnungen gibt es keine Einsamkeit, keine Stille, keine Scham und keine Scheu. Man wird laut, ruft die persönlichsten Angelegenheiten durch die Türen und Gänge, entfacht das Gerede, diesen Zwietracht stiftenden Pesthauch der Mietskaserne; Zank und Streit tragen ihren Zersetzungskeim in das Innere der Familie. Hässlichkeit und Öde treiben Mann und Kinder aus dem Haus.“1
Auch in Hamburg war während des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts der pessimistische Blick auf das Familienleben der Unterschichten vorherrschend. Kennzeichnend für die Art und Weise, mit der sich Hamburger Beobachter mit den familialen Sozialisationsbedingungen vor Ort auseinandersetzten, war die Entwicklung eines besonderen literarischen Genres: der „Slumreportage“.2 Anhand dreier Beispiele soll im Folgenden nicht nur veranschaulicht werden, auf welch lange Tradition diese Form der Erörterung der urbanen Lebensverhältnisse 1
Offenberg [1929], S. 34. Zwar lässt sich die Anwendung des englischen Begriffs „Slum“ in Bezug auf Hamburger Elendsquartiere zum ersten Mal für das Jahre 1915 nachweisen. (Vgl. hierzu: Classen [1915], S. 45.) Da kritische Beobachter des Familienlebens in der städtischen Unterschicht allerdings schon sehr viel früher vom „moralischen Sumpf“ und von „total versumpften Verhältnissen“ sprachen, scheint der Begriff auch den Sinngehalt der zeitgenössischen Redeweise durchaus zutreffend wiederzugeben. Zur gesellschaftlichen Funktion von Slum-Darstellungen mit Bezug auf Hamburg vgl.: Pielhoff [1999], S. 156-162. 2
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speziell in Hamburg zurückblicken konnte. Die drei zitierten Beiträge zeigen auch exemplarisch, wie eng sich beschreibende und fiktionale Momente in der Beobachtung des großstädtisch-proletarischen Familienlebens vermischten und welche Fokusverschiebungen sich dabei über die Zeit hinweg ergaben. Der früheste und wohl auch bekannteste Text stammte aus der Feder Johann Hinrich Wicherns und war bereits 1832/33 verfasst worden. Die unter dem Titel „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ erst posthum veröffentlichte Schrift, die aus einer losen Aneinanderreihung von Besuchsberichten bestand, die Wichern in seiner Eigenschaft als Hilfslehrer der St. Georger Sonntagsschule verfasst hatte, lieferte sozusagen den Prototyp für alle späteren Reportagen über die Familienverhältnisse und das Sozialmilieu in den Armenvierteln Hamburgs.1 Wicherns Schilderungen waren als eine Art Reisebericht in eine dem Bürgertum weitgehend unbekannte, städtische Unterwelt angelegt, die nicht nur durch entsetzliches Elend und gesundheitliches Siechtum, sondern vor allem durch grassierende Unmoral und Unsittlichkeit geprägt war. Kaum eine der Familien, die Wichern besuchte, war „vollständig“, viele Elternpaare lebten in „wilder Ehe“, manche sogar in „ehebrecherischen“ Verhältnissen. Gewalt, Trunksucht, Hochmut, Undankbarkeit und Spott gegenüber allem, was Wichern heilig war, beherrschten die Szene. Der religiösen Unterweisung der Kinder, die der Besucher den Eltern ans Herz legte, standen diese meist ebenso gleichgültig gegenüber, wie den Sakramenten von Taufe, Konfirmation und Eheschließung. Ein kleiner Auszug: „1. Die M.S. Kietzmann, Spuria. Sonntagsschülerin mit einer Fibel Kl. IV. Mehrere Weibspersonen waren in der Bude; zwei, die da wohnten hatten Kinder an der offenen Brust. Leben alle in wilder Ehe. Der Kerl sah aus wie ein Bordellwirt – alles voller Schmutz und Kot. Gemeinheit sprach aus allen hervor. Kietzmann ist im Sommer Roßkämmer. Hat bei sich dies Mädchen, welches als Krüppel in den Kirchen allein bettelt. Dasselbe nennt den K(ietzmann) ihren Stiefvater; sie ist die Tochter eines Harlequins auf dem Hamburger Berg. 2. Die Hühn (Mutter) in wilder Ehe mit einem Lumpenhändler (s. oben), bei ihr einlogierend ihr Sohn in wilder Ehe mit der Krüdener (s. oben). In der Bude scheinen noch mehrere solche Parteien zu wohnen.“2
Der anklagende Ton, den Wichern in seinen Berichten anschlug, war keineswegs bloß Ausdruck erlittener Zurückweisung oder persönlicher Kränkung. Vielmehr 1 Vgl.: Wichern [1932/33]. „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ wurde auszugsweise zuerst in den 1880er Jahren und vollständig sogar erst in den 1950er Jahren veröffentlicht (Scherpner [1979], S. 139, Anm. 31). Bei der mündlichen und schriftlichen Außendarstellung des „Rauhen Hauses“ hatte Wichern aber sehr regelmäßig ähnliches Anschauungsmaterial eingesetzt. 2 Wichern [1932/33], S. 43.
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war er typisch für die vormärzlichen Erörterungen des so genannten Pauperismusproblems und verrät den individualisierend-moralisierenden Standpunkt, den der Verfasser als Vertreter der protestantischen „Erweckungsbewegung“ zur Frage der Sozialreform einnahm. Sozialreform, das stand für Wichern und seine Mitstreiter fest, musste vor allem auf dem Weg der Sittenreform erreicht werden. Durch „tätige Nächstenliebe“ und „Innere Mission“ wollte er zumindest einzelne Mitglieder der „sittlich tief herabgesunkenen Familien“, die er besuchte, vor dem „Verderben“ retten.1 Rund dreißig Jahre nach Wicherns Armenbesuchen erschien in Hamburg unter dem Titel „Das Gängeviertel und die Möglichkeit, dasselbe zu durchbrechen“ eine kleine Broschüre, die das Motiv der „großstädtischen Unterwelt“ wieder aufgriff, nunmehr aber für sehr viel profanere Zwecke einspannte. Das Spekulantenpaar Gebrüder Wex benötigte zur Umsetzung seiner Pläne, Teile eines baufälligen Innenstadtviertels abzureißen und an ihrer Stelle zahlreiche Wohnungsneubauten zu errichten, staatliche Unterstützung, und der Verfasser der Broschüre, ein Notar namens Heinrich Asher, besorgte den Werbetext dazu.2 Wieder wurde der Leser auf einen Erkundungsgang in unbekanntes und gefährliches Terrain mitgenommen. Aber diesmal handelte es sich nicht um die Vorstadt St. Georg, sondern um den nördlichen Teil der Neustadt, dessen sozialer Mikrokosmos in den grellsten Farben ausgeleuchtet und zu einem Herd der Ansteckung und des Aufruhrs hochstilisiert wurde. „[W]ie gross die Schwierigkeiten sind, welche sich einem gedeihlichen Wirken [der staatlichen Behörden, J.R.] in diesem Labyrinthe von Häusern, Buden, Schmutz und Elend entgegenstellen, ist gar nicht zu sagen; aber die Folgen, welche aus dieser völligen Aufsichtslosigkeit entstehen, sind für das sittliche Wohl jener Gegend und mithin für die ganze Stadt sehr traurige. Zunächst hat das gedrängte Zusammenwohnen – es giebt Häuser, in denen 25 Familien, Sähle, auf welchen 10 Familien, immer nur durch eine dünne Bretterwand getrennt, beisammen wohnen, zur Folge, dass alles und jedes Schamgefühl schon von frühester Jugend an in den Menschen erstickt wird; Incest ist nichts Unerhörtes, und jedes Kind sieht es im Vorübergehen mit an, wie ehrlose Dirnen ihr Gewerbe an hellem Tage und auf offener Gasse betreiben. [...] - Eine fernere Folge dieser unsittlichen Verhältnisse sind die zahllosen wilden 1
Diese Position fand auch nach der Reichsgründung noch großen Widerhall und in der „Allgemeinen Konferenz der Deutschen Sittlichkeitsvereine“ eine schlagkräftige organisatorische Plattform. Vgl. hierzu: Lees [2002], S. 77 ff. 2 Asher [1865]. Der Rechtsanwalt Dr. Friedrich Hermann Wex und sein Bruder, der Architekt Ernst Wex, hatten bereits Anfang der 1860er Jahre die Gegend östlich des Großneumarkts/Neustadt aufgekauft. Ob und in welchem Umfang sie bei der Neubebauung und den dabei anfallenden Infrastrukturmaßnahmen tatsächlich auf staatliche Unterstützung zurückgreifen konnten, ist der durchgesehenen Sekundärliteratur nicht zu entnehmen. Noch heute zeugt ein Straßenname von der Bautätigkeit des Brüderpaares. Vgl.: Hanke [1997], S. 204 u. Beckershaus [1997], S. 382.
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Ehen, deren nachtheilige Folgen sich dann wieder nicht blos in sittlichen, sondern auch im bürgerlichen Leben zeigen. Die Kinder aus solchen Ehen werden häufig nicht getauft [...], entziehen sich dann um so leichter aller späteren Aufsicht durch die Schule und endlich auch ihren Verpflichtungen gegen den Staat.“1
Die Passage zeigt deutlich, dass sich am Urteil des Bürgertums über die sozialen und sittlichen Zuständen in den Unterschichtsvierteln der Stadt seit Wicherns Erkundigungen Anfang der 1830er Jahre nur wenig geändert hatte. Und dennoch bestand eine bemerkenswerte Differenz hinsichtlich der angedeuteten Wege, mit denen der Verfasser und seine Auftraggeber die identifizierte Unmoral in den Griff zu bekommen glaubten: Während Wichern noch auf eine Wiederbelebung der Religiosität durch intensive Missionsarbeit hoffte, setzten Asher und die Gebrüder Wex auf Maßnahmen zur Verbesserung der baulichen Infrastruktur und sahen vor allem den Staat in der Pflicht.2 Waren schon Wicherns und Ashers Schilderungen des Hamburger Unterschichtsmilieus durch ein stark narratives Element geprägt, so wurden die Grenzen zwischen Realität und Fiktion im Roman des Hamburger Anti-AlkoholAktivisten und Richters Hermann Popert „Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit“ nahezu vollständig verwischt. Als das Buch 1910 erschien, war Popert in der Hansestadt schon keine unbekannte Persönlichkeit mehr. Bereits mehrfach hatte er sich in der Bürgerschaft als radikaler Abstinenzler und Mitglied des Guttemplerordens zu erkennen gegeben.3 In zwei kleineren Schriften hatte er sich außerdem ausgiebig mit den strafrechtlichen Aspekten des „Alkoholproblems“ befasst.4 „Helmut Harringa“ war der Versuch Poperts, der Antialkoholbewegung durch die dramaturgische Ausschmückung seiner eigenen Biografie neue Unterstützer zuzuführen. Den Auftakt des Romans bildet die Beschreibung eines gewalttätigen Aufruhrs im Kneipenviertel der Hamburger Altstadt, der sich einige Jahre zuvor tatsächlich zugetragen und für reichsweites Aufsehen gesorgt hatte.5 In Poperts Nacherzählung wurden die Ausschreitungen allerdings jeglichen politischen Gehalts entkleidet und statt dessen zur Auseinandersetzung der stark polarisierenden moralpolitischen Vorstellungen des Autoren genutzt.6 Der Leser dringt in 1
Asher [1865], S 5 f. A.a.O., S. 13 f. 3 Vgl. etwa sein vehementes Eintreten für die Einführung eines Arbeitszwangs gegenüber Vätern, die ihre Unterhaltspflicht vernachlässigten, in: Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1907, 24. Sitzung, S. 633 ff. 4 Popert [1903] und ders. [1905]. 5 Evans [1997b]. 6 Hatte in der Realität die restriktive Neufassung des Wahlrechts den Anstoß für die Krawalle gegeben, die als „roter Mittwoch“ in die Geschichte eingingen, so reichte in Poperts Nacherzählung die nächtliche Verhaftung eines angetrunkenen Randalierers aus, um die gesammelte Wut der aus Ge2
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das alkoholdurchtränkte Hamburger Nachtleben aus der Perspektive zweier furchloser Streifenpolizisten sowie eines etwas naiven Werftarbeiters namens Claus Mertens vor, der seinerseits dem moralisch schon vollständig korrumpierten Arbeitskollegen Emil Malchow in die Kneipen und Amüsierlokale rund um die Altstädter Niedernstraße folgt. Poperts Sittengemälde war nicht um Differenziertheit bemüht. Es bediente vielmehr sämtliche Allgemeinplätze, die sich das Hamburger Bürgertum im Laufe der Jahre über das Nachtleben im subproletarischen Milieu gebildet hatte. Der Autor schürte gezielt die Ängste seiner Leserschaft, indem er den nächtlichen Amüsierbetrieb zu grotesk-morbiden Szenen verdichtete, denen er aber stets den Anschein des Dokumentarischen verlieh, indem er sie an authentische Schauplätze verlegte und mit realen Begebenheiten und Requisiten ausschmückte. „Zehn Schritt vor dem Ende der Gasse staute sich der Fluß, von der Niedernstraße her flutete ein zweiter ihm entgegen. Und alles drängte nun nach rechts, in einen tiefen Einschnitt der Häuserwand hinein. Die Bucht war hell erleuchtet und zeigte an ihrem Ende den niedern Eingang in ein Haus, in das berühmte Haus Mohlenhofstraße Nr. 9. ‚Zum Herzog von Holstein’ war es genannt. Dort feierten sie heute den großen Maskenball, den Maskenball der Verdammten von Hamburg. - Ein dichtes Halbrund von Menschen hielt die Eingangsbucht umschlossen. Halbwüchsige Knaben und Mädchen dreiviertel davon, die elende Brut der lichtlosen Gänge und giftschwangeren Hinterhäuser, die zusammenwuchsen zu der Hölle ringsum. Der doppelte Menschenfluß traf auf den gaffenden Halbkreis, wurde gehemmt und wirbelte rund in sich selbst. Dann spaltete er sich in schmale Rinnsale, die mühsam durch die lebende Mauer sickerten. Gierig starrten hundert Augen von vierzehn- und fünfzehnjährigen Knaben auf jede weibliche Maske, die sich durchdrängte; an jeder männlichen aber hingen saugende Blicke von fünfzig werdenden Dirnen.“1
Anders als Wichern und Asher verschafft Popert dem Leser keinen Zutritt zu den Wohnungen der Armen. Statt dessen wird die Auseinandersetzung mit den familiären Zuständen der Hamburger Unterschicht in „Helmut Harringa“ in ein inneres Zwiegespräch verlegt, das der Autor den Ehemann und Vater Mertens führen lässt. Während der nächtlichen Kneipentour wird dieser beständig von schweren Skrupeln befallen, sobald die Wirkung des Alkohols ein wenig nachlässt. Immer wieder kehrt Mertens in Gedanken in die eigene glückliche Kindheit zurück, die er vor den Toren der großen Stadt verleben durfte. Er muss auch an Frau und Sohn denken, die zuhause vergeblich auf ihn warteten und deren Hoffnungen auf ein kleines, bescheidenes Familienglück er durch seine nächtlichen Eskapaden wohnheitstrinkern, Zuchthäuslern und heimlichen Prostituierten bestehenden Hamburger Unterwelt zu entfesseln. Vgl. a.a.O. 1 Popert [1911], S. 61 f.
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zunichte machte. Die zerstörerische Wirkung des großstädtischen Nachtlebens auf das familiäre Glück tritt dem Protagonisten aber auch von außen in Gestalt der „braunen Kathrin“ entgegen, einer heimlichen Prostituierten, die ihm von Malchow als alte Bekannte vorgestellt wird und die inmitten des lärmenden Maskenballs ihrem ausgemergelten uneheliches Kind die Brust gibt. So unweigerlich, wie der Verlust der Jungfräulichkeit in Folge eines alkoholberauschten „Abenteuers“ junge Frauen der Prostitution zuführte, so stringent war nach Auffassung des Anti-Alkohol-Aktivisten Popert offenbar auch der Weg jener großstädtischen Arbeiter vorgezeichnet, die nicht genug Willenskraft besaßen, dem Konsum von Bier und Schnaps zu entsagen. Über kurz oder lang mussten sie im Zuchthaus enden, und genau dieses Schicksal ereilt auch Mertens, der in den Strudel der nächtlichen Ereignisse gerät und in seiner geistigen Umnachtung unversehens zum Polizistenmörder wird. Die drei vorangestellten Texte, Wicherns „Wahres und geheimes Volksleben“ von 1832/33, Ashers „Durchbrechung des Gängeviertels“ von 1865 und Poperts Auftaktszene zu „Helmut Harringa“ aus dem Jahre 1910, stehen für eine bemerkenswerte Kontinuität aber gleichzeitig auch für eine allmähliche Verschiebung und Ausdifferenzierung des bürgerlichen Diskurses über das Familienleben im städtischen Unterschichtsmilieu. Was zunächst die Kontinuitäten betrifft, so bestanden diese vor allem in der Art der Darstellung und der Wertung des Dargestellten. Allen Texten war gemein, dass sie die Herde des Elends und des Lasters relativ klar lokalisierten und ihre Bewohner als in sich geschlossene, mehr oder weniger homogene Gruppe vorstellten, deren hervorstechendstes Kennzeichen ihre sittliche Haltlosigkeit war. Die äußeren Zeichen des Verfalls waren dabei nur ein getreues Spiegelbild der heruntergekommenen moralischen Verhältnisse. Der Leser dringt in diese „geheime“ und fremde Welt aus der Perspektive des bürgerlichen Augenzeugen und Erkunders vor. Mit ihm durchlebt er die subjektiven Empfindungen des Ekels, des Abgestoßenseins und der Angst, die ganz allmählich zu einem gesellschaftlichen Bedrohungsszenario ausgebaut werden, dem man nicht mehr gleichgültig gegenüberstehen kann. Was sich hingegen veränderte, war zunächst einmal der lokale Fokus: Während das „geheime Volksleben“ im Vormärz noch in der Vorstadt St. Georg situiert worden war, hatte sich das Zentrum der Aufmerksamkeit in den 1860er Jahren in die Neustädter Gängeviertel verlagert und noch einmal 40 Jahre später galt schließlich die südliche Altstadt als Rückzugsort des „Abschaums der Gesellschaft“. Noch wichtiger aber war, dass sich mit der Zeit auch Art und Stoßrichtung der propagierten Gegenmaßnahmen gewandelt hatten. Der christlichen Missions- und Rettungsarbeit, für die Wichern noch eingetreten war, setzte Asher großflächige Sanierungsmaßnahmen in staatlicher Regie entgegen, während Po-
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pert mit seinem Roman für eine Verbindung aus hartem polizeilichen Durchgreifen und jugendbewegter Erneuerung der Lebensformen warb.1 Die Wirkung, die diese Texte unter Zeitgenossen hervorriefen, war durchaus ambivalent. Mit den erwähnten Verbesserungsvorschlägen vertraten alle drei Verfasser eine Minderheitenposition. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass es ihnen ja gerade darum ging, die vorherrschende Haltung der Indifferenz gegenüber den sozialen Auflösungserscheinungen und sittlichen Gefahrenherden zu überwinden und ihr Publikum aufzurütteln. Der Senat und die Mehrheit des tonangebenden Bürgertums der Hansestadt zeigten sich für die Aufgeregtheit eines Ashers oder Poperts allerdings wenig empfänglich. Sie passte nicht zur Kultur des politischen Understatements, die in Hamburg gepflegt wurde.2 Dennoch deutet Vieles darauf hin, dass die drei genannten Texte breit rezipiert wurden und auch einen bestimmenden Einfluss auf die allgemeine Wahrnehmung des Familienlebens in den Armenvierteln der Stadt erlangten. So provozierte beispielsweise Asher mit seinem Sittengemälde auf Seiten der Neustadtbewohner heftige Gegenreaktionen. Bald zirkulierte nicht nur eine Schrift, die zur Ehrenrettung der Quartiersbewohner anhob. Im Carl-Schultz-Theater wurde sogar eine Volksposse mit dem Titel „Im Gängeviertel“ aufgeführt, die gegen Ashers Angriffe Position bezog.3 Noch erheblich größer war die Resonanz im Falle Hermann Poperts. Wegen der wertenden Gegenüberstellung von ländlicher Idylle und städtischer Degeneration sowie des vom Titelhelden Harringa verkörperten Ideals von Abstinenz und Keuschheit avancierte sein Werk zum Kultbuch der 1 Ungleich stärker als bei den beiden Texten aus dem 19. Jahrhundert trat in Poperts Roman auch die auf Riehl zurückgehende Verbindung von Großstadtkritik und Klage über den familiärem Zerfall hervor. Der Gegensatz zwischen Land und Stadt, zwischen Natur und Zivilisation durchzieht als Leitmotiv den ganzen Roman. Allerdings fügte Popert dem Stadt-Land-Antagonismus noch einen bis dahin eher unvertrauten Aspekt hinzu: Er untermauerte ihn mit rassischen Kategorien und popularisierte zugleich eugenisches Gedankengut, indem er bevölkerungspolitische Maßnahmen zum Schutz der „Erbgesundheit“ entwarf. Vgl.: Wyrwa [1990], S. 224 ff. 2 Waren Wicherns Auffassungen im Vormärz auch durch Personen wie Martin Hieronymus Hudtwalker im Senat prominent vertreten gewesen, so kühlte das Verhältnis v.a. der Bürgerschaft zur „Erweckungsbewegung“ schnell ab und machte während des „Kulturkampfes“ einer skeptischen bis feindseligen Haltung Platz. Inwiefern Ashers Traktat erfolgreich war und eine staatliche Unterstützung für die privaten Bauvorhaben der Brüder Wex bewirken konnte, geht aus der Sekundärliteratur nicht hervor. Zu einer großflächigen Sanierung der Gängeviertel sah sich der Senat erst durch die Cholera-Epidemie beziehungsweise den Hafenarbeiterstreik von 1896/97 veranlasst und die nördliche Neustadt wurde sogar erst von den Nationalsozialisten durch Abriss „befriedet“ (Grüttner [1983]). Popert schließlich, dessen Vorschläge so erschreckend „zukunftsweisend“ waren, war 1906 für die Liberalen in die Bürgerschaft eingetreten und nutzte sein Mandat vorwiegend, um seinen Feldzug gegen den Alkohol fortzusetzen. Seine Anträge wurden aber allesamt abgekanzelt, weil die Mehrheit der Bürgerschaft aufgrund der zurückgehenden Bedeutung des Alkoholproblems keine Veranlassung sah, die staatlichen Repressalien gegen Trinker zu verstärken (Evans 1997b, S. 352 ff.). 3 Vgl. die anonyme Schrift: M. [1865] und Diederichsen [1984], S. 298.
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bündnischen Jugendbewegung.1 Das bürgerliche Hamburger Publikum aber las das Buch des Anti-Alkohol-Aktivisten vor allem wegen der wiedergegebenen Einstiegsszene, die es als Kommentar zu den Wahlrechtsunruhen von 1906 verstand.2 Dass die zeitgenössischen Leser dabei nicht aus den Augen verloren, dass die geschilderten Szenen zwischen Realität und Fiktion oszillierten, zeigte sich an der folkloristische Aneignung des Lesestoffs: Souvenirhändler verkauften Postkarten, auf denen der „Verbrecherkeller“ der Niedernstraße samt finster dreinblickendem Publikum abgebildet war, und manche Hamburger wurden durch die Lektüre sogar inspiriert, den Gang in die Unterwelt mit ihren Freunden als kitzliges Vergnügen nachzustellen.3 Solche Zeugnisse des spielerischdistanzierten Umgangs mit dem Lesestoff sprechen allerdings nicht gegen die wahrnehmungsprägende Kraft, die von den „Slumreportagen“ ausging. Denn der Erfolg der Schriften ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ihre Verfasser an eher diffuse Vorstellungen der Leser anknüpften, diese verstärkten und inhaltlich ausbauten, um sie anschließend aufs Neue zu prägen. Dabei bedienten sie geschickt die latent voyeuristischen Neigungen der Rezipienten: Mit einer Mischung aus Angst und Neugier, Aversion und Spannung konnten diese den Protagonisten in die moralischen Abgründe der Stadt folgen, ohne sich selbst irgend einer Gefahr auszusetzen. Bis heute ist dieser Reiz der Lektüre gut nachzuvollziehen. Entgegen der ursprünglichen Absicht, die beschriebenen Verhältnisse zu bessern bzw. zu beseitigen und den Leser zu tatkräftiger Unterstützung zu ani1 Vgl. hierzu: Evans [1997b], S. 352 f. und Speitkamp [1998], S. 145 f. Bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges waren schon 24 Auflagen des Romans erschienen und rund 120.000 Exemplare des Buches über die Ladentheke gewandert. 2 Evans [1997b], S. 352 f. 3 Vgl.: Wyrwa [1990], Abb. 20 und den Kommentar dazu. Der damals schon nicht mehr ganz junge Altonaer Baurat Werner Jakstein erinnerte sich rückblickend: „Das erste Mal begleitete mich fürsorglich ein Kriminalbeamter. Da ich ,Harringa’ gelesen hatte, wusste ich, was einem in der Niedernstraße passieren konnte. [...] Es waren Schlaf-Bier-Grog-Tanzkeller, in die uns der Weg führte. Oft mußte die Blendlaterne aufleuchten, damit wir den Fuß vorsichtig über eine Großmutter setzen konnte, die gerade vor der Tür am Boden lag und ihren Rausch ausschlief, während die Hauskapelle einen jämmerlichen Lärm dazu machte. - Endlos lang war solch ein Keller. Aber wir gingen nie sehr weit. Schon im zweiten Raum machte der Schutzmann halt; denn er hatte Frau und Kind zu Haus. Das Entree genügte mir aber durchaus. Es gefiel mir, es begeisterte mich bald so sehr, daß ich die nächsten Male nicht nur ohne Polizeischutz hinging, sondern selbst den Fremdenführer in jener Stadt der Unterwelt machte und sie pries, als wäre sie einer der herrlichsten Orte der Riviera. Natürlich begann jede Wanderung erst nachts. Natürlich gab es eine Blendlaterne und natürlich hatte ich einen Weg zur Niedernstraße gefunden, der durch mindestens drei dunkle, schmale, halb unterirdische Gänge, durch ebenso viele Höfe, über eine hölzerne Brücke, in einen tiefen Abgrund führte, dann wieder in einen Gang, der unter einem Hause einen Winkel machte, sodaß alle mir Folgenden sich daran stießen und erschreckt versuchten, sich mit den Händen an dem klebrigen Gemäuer wieder zurechtzufinden, bis ich die Lampe aufblitzen ließ. So kamen wir in die Niedernstraße, so gelangten wir in die Keller, so saßen wir dort endlich unter Gesindel schlimmer Art und bestellten einen Becher Bier.“ Zit. nach: Bake [2005], S. 96 f.
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mieren, verstärkten sie die Vorurteile des bürgerlichen Lesepublikums und beförderten dadurch indirekt die Prozesse der Segregation und der Marginalisierung, denen die genannten Viertel und ihre Bevölkerung ohnehin ausgesetzt waren.
2.2.2 Familie und generatives Verhalten im „sozialen Raum“: Die demografische Grundkonstellation Der einfachste Weg, Abstand zu den bisher behandelten, emotional hoch aufgeladenen zeitgenössischen Wahrnehmungsmustern zu gewinnen und die wertenden von den deskriptiven Elementen in den Aussagen der bürgerlichen Kommentatoren zu trennen, besteht darin, zunächst die nackten Zahlen sprechen zu lassen. Sie geben einen recht guten Überblick, wie sich die familiären Lebensverhältnisse der Hamburger Unterschichten insgesamt entwickelten, inwiefern diese mit der Lebenssituation in anderen Städten des Reichs übereinstimmten und vor allem, welche räumlichen und schichtspezifischen Brechungen sich im Zuge dieser Entwicklungen ergaben. Das wichtigste Darstellungsmittel, das in diesem Abschnitt zum Einsatz kommt, ist die Karte. In den folgenden Abschnitten wird die Brennweite des Blicks dann allerdings nach und nach wieder erhöht, indem exemplarisch und schlaglichtartig zunächst die Wohnverhältnisse zweier ausgesuchter Hamburger Arbeiterviertel genauer betrachtet und anschließend der Umgang der Angehörigen der Arbeiterschaft mit den spärlichen räumlichen und materiellen Ressourcen untersucht wird.
2.2.2.1 Proletarisches Heiratsverhalten und innerstädtische Mobilität Auch in der Hamburger Arbeiterschaft entwickelte sich – entgegen allen Befürchtungen - die Ehe im Untersuchungszeitraum zu einer bevorzugten und mehr und mehr auch realisierbaren Lebensform. Nachdem bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Ländern Deutschlands die rechtlichen Ehebeschränkungen aufgehoben worden waren1, eröffneten sich im Zuge der Industrialisierung durch die massenhafte Verbreitung dauerhafter, unselbständiger Lohnarbeit für breite Bevölkerungsschichten vollständig neue Möglichkeiten der Eheschließung und Familiengründung. In dieser Tatsache ist, wie Ritter/Tenfelde
1 Vgl. zur vergleichsweise früh einsetzenden hansestädtischen „Eheverhinderungspolitik“ und ihren Auswirkungen auf das Heiratsverhalten der Hamburger Unterschicht: Gröwer [1998], S. 2-8.
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betonen, „eine ganz zentrale Neuerung in der Familiengeschichte des 19. Jahrhunderts“1 zu sehen. Eingebunden war diese Entwicklung in einen alle gesellschaftlichen Schichten umfassenden säkularen Trend: der Ausbildung einer familienförmigen Gesellschaft.2 Für das Deutsche Reich und die spätere Weimarer Republik ist festgestellt worden, dass die Verehelichungsquoten in sämtlicher Berufsstellungen langsam aber kontinuierlich anstiegen.3 Die Hamburger Entwicklung fügte sich hier nahtlos in das allgemeine Bild ein. Bereits 1907 verfügten in der Hansestadt etwa 90 Prozent aller über 50-jährigen männlichen Erwerbstätigen in Industrie, Handel und Verkehr über Eheerfahrungen, und zwar ganz einerlei, ob es sich bei ihnen um Arbeiter, Angestellte oder Selbständige handelte.4 Allerdings springt ein Unterschied im Vergleich zum Reich sofort ins Auge: der in allen Berufsstellungen anzutreffende verhältnismäßig geringe Prozentsatz „jungverheirateter“ Hamburger. Im Reich waren 1907 von den unter 30-jährigen Selbständigen bereits 68 Prozent verheiratet - in Hamburg gerade einmal 46 Prozent.5 Ein Blick zurück auf das Jahr 1895 gibt nähere Aufschlüsse. Dabei zeigt sich einerseits, dass die Jungverheiratetenanteile sowohl bei Selbständigen als auch bei Arbeitern mit 56,5 Prozent resp. 21,4 Prozent zwölf Jahre zuvor noch erheblich höher gelegen hatten. Aber auch in den höheren Altersklassen und insbesondere bei den im sekundären Sektor tätigen Selbständigen und Arbeitern hatte der Anteil der Männer mit „Eheerfahrung“ zwischen 1895 und 1907 nicht etwa zu- sondern abgenommen.6 Wie sich am Hamburger Beispiel zeigt - und wie auch Ritter/Tenfelde einräumen - wirkte sich die urbane Lebensweise offen1
Ritter/Tenfelde [1992], S. 550. Tenfelde [1992], S. 183. 3 Vgl. die Angaben bei Ritter/Tenfelde [1992], S. 551. 4 Unter der Kategorie der „eheerfahrenen“ Erwerbstätigen wurden neben den verheirateten auch die verwitweten und geschiedenen Männer erfasst. In der Industrie betrugen die konkreten Prozentwerte: Selbständige: 89,5%; Angestellte: 91,4%; Arbeiter: 90,0%. In Handel und Verkehr: Selbständige: 92,1%; Angestellte: 88,0%; Arbeiter: 90,0%. In der Landwirtschaft, die in Hamburg nur eine marginale Rolle spielte, lagen die Werte bei den Angestellten und Arbeitern deutlich niedriger (vgl.: Stat. Mitteilungen 2.1913, S. 20-23). 5 Ähnliche, wenn auch weniger ausgeprägte Differenzen existierten auch bei den abhängig Beschäftigten. Sowohl bei den in Industrie und Handwerk als auch bei den in Handel und Verkehr tätigen Angestellten und Arbeitern lagen die Anteile der Jungverheirateten um fünf bis sechs Prozentpunkte unter denen des Reichs. Die Werte für das Reich betrugen in der Industrie 20,8 % (Angestellte) bzw. 20,5% (Arbeiter), in Handel und Verkehr 15,3% (Angestellte) bzw. 20,6 % (Arbeiter) (Ritter/Tenfelde [1992], S. 551). 6 Zwar hatte die Cholera-Epidemie von 1892 die Eheschließungsziffer - die die Zahl der Eheschließungen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung angibt - in den Folgejahren in die Höhe getrieben. Der Anteil der Wiederverheiratungen dürfte dabei allerdings beträchtlich gewesen sein, weshalb ein Einfluss der Seuche auf die hohe Verehelichungsquote unter der jüngeren Arbeiterschaft nahezu ausgeschlossen ist. 2
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bar nicht notwendigerweise „eheförderlich“ aus. Bestimmte Faktoren großstädtischen Daseins konnten sich u.U. genau in die entgegengesetzte Richtung auswirken. Der Vormarsch der Ehe als Lebensform breiter Bevölkerungskreise war in Hamburg zumindest zeitweilig ins Stocken geraten.1 Auf die möglichen Ursachen dieser Stagnation muss weiter unten noch einmal näher eingegangen werden. Abgesehen von den genannten zeitlichen Verzögerungen und Abweichungen gegenüber dem reichsweiten Trend existierten, was die Teilhabe an der Entwicklung einer „familienförmigen Gesellschaft“ anbetraf, auch innerhalb der Hamburger Arbeiterschaft noch beträchtliche Differenzen. Der Anteil der verheirateten Arbeiter differierte nicht nur zwischen den einzelnen Erwerbszweigen, sondern auch zwischen der Gruppe der Gelernten und Ungelernten. Wie im übrigen Reichsgebiet, so standen auch in Hamburg die Chancen und Neigungen der Arbeiter, sich zu verehelichen, in einem engen Zusammenhang mit der Art ihrer Beschäftigung. Tabelle 1 stellt die bestehenden Differenzen für die Vergleichsjahrgänge 1895 und 1907 dar. Sieht man von der durchaus typischen „Ehefreudigkeit“ der zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallenden Lohnarbeiterschaft der Hamburger Montan- und Hüttenindustrie einmal ab2, so fallen im Bereich der Industrie vor allem die hohen Verheiratetenquoten unter den Beschäftigten der ölverarbeitenden und chemischen Industrie auf. Daneben war es insbesondere das Baugewerbe sowie die mit diesem eng verflochtene Industrie der Steine und Erden, welche die höchsten Quoten aufwiesen. Im für Hamburg so überaus wichtigen tertiären Wirtschaftssektor traten vor allem das Versicherungsgewerbe und der Verkehr mit besonders hohen Werten hervor. Die weitere Aufschlüsselung der Verheiratetenanteile der einzelnen Erwerbszweige nach dem Geschlecht lässt außerdem einen engen Zusammenhang zwischen den Verehelichungsquoten und den Anteilen weiblicher Beschäftigter erkennen. Die Berufssparten mit den höchsten Verheiratetenanteilen waren zugleich auch diejenigen, in denen die wenigsten Frauen Beschäftigung fanden; umgekehrt waren typisch weibliche Erwerbszweige wie die „häuslichen Dienste“, das vorwiegend durch Heimarbeit geprägte Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe, 1
Auch die Entwicklung des Heiratsalters und der Eheschließungsziffer stützen diesen Befund: Das durchschnittliche Heiratsalter der Hamburger Männer blieb - im Unterschied zu demjenigen der Hamburgerinnen und abweichend vom allgemeinen Trend - zwischen 1890 und 1908 erstaunlich stabil und die Eheschließungsziffer hatte sich seit Mitte der 1890er Jahre bei Werten um 8,3 und 9,2 Promille weit unterhalb des Niveaus von Städten wie Berlin, Altona oder Frankfurt am Main eingependelt (vgl.: A.a.O., S. 4 f. und S. 10). 2 Vgl.: Ritter/Tenfelde [1992], S. 556 ff. Die Mehrheit dieser Arbeiter war in den Affinerien auf Steinwerder, dem Kleinen Grasbrook und der südlichen Neustadt beschäftigt. Vgl.: Stat. Hbg. Staats XVIII (Übersichtsband)/1900, S. 39 u.XVIII, VIII. Abt. 1897, S. VIII. 20,21.
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Tabelle 1: Anteil der Verheirateten und Verwitweten an den erwerbstätigen Hamburger Arbeiterinnen und Arbeitern nach Berufsgruppen, 1895 und 1907.
die Textilindustrie sowie die Gastronomie durch eine besonders niedrige Verheiratetenquote gekennzeichnet. Die geringen Anteile der Verheirateten in den frauendominierten Branchen erklärt sich aus dem Umstand, dass Frauen insbesondere dann einer Lohnarbeit nachgingen, wenn sie nicht verheiratet waren - oder anders ausgedrückt: wenn sie gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt ohne Unterstützung eines anderen Erwachsenen zu bestreiten. Aus dem gleichen
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Grund gingen hohe Frauenanteile gewöhnlich auch mit hohen Verwitwetenanteilen einher.1 Noch wichtiger als die Unterschiede der Verheiratetenanteile in den einzelnen Erwerbszweigen waren die Differenzen, die sich aus der beruflichen Qualifikation ergaben. Wie die folgende Tabelle zeigt, existierten zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Heiratsverhaltens, und diese treten umso deutlicher zutage, je stärker man das Alter der Verheirateten in die Betrachtung einbezieht. Tabelle 2: Anteile der Hamburger Arbeiter mit „Eheerfahrung“ in Industrie und Handel nach Alter und Qualifikation 1895 und 1907.
Sowohl 1895 als auch 1907 gab es ein ausgeprägtes Gefälle bei den Verheiratetenanteilen von Hilfs- und Facharbeitern. Erstere heirateten nicht nur bedeutend früher als Letztere, sondern wiesen in der Haupterwerbsphase zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr ebenfalls höhere Verheiratungsraten auf. Zwar gilt auch für Hamburg, dass - entgegen der pauschalisierenden Kritik des Bürgertums – die meisten Industriearbeiter deutlich später als Selbständige und auch nur unwesentlich früher als Angestellte heirateten. Geht man jedoch davon aus, dass die zeitgenössischen Klagen vom unbekümmerten Heiraten in der Unterschicht vor 1
Auch in den Berufsgruppen, die die größten Zuwächse bei den Beschäftigtenzahlen aufwiesen - wie die Maschinenindustrie, das Baugewerbe, die Baustoffbranche und der Verkehr - waren meist wenige Frauen beschäftigt, die Verheiratetenanteile dagegen hoch. Es gab allerdings auch Ausnahmen von dieser Regel. So verzeichnete z.B. das polygrafische Gewerbe im untersuchten Zeitraum bedeutende Personalzuwächse, jeder dritte Arbeiter war verheiratet und trotzdem hatte sich der Anteil weiblicher Beschäftigter zwischen 1895 und 1907 verdoppelt.
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allem auf die Hilfsarbeiter gemünzt waren, so kann man ihnen eine gewisse empirische Fundierung nicht absprechen. Verkürzt waren sie gleichwohl, denn die Höchstverdienstphase im Lebenszyklus der ungelernten Arbeiter setzte sehr früh ein. Durch bloßes Hinauszögern war eine solidere finanzielle Absicherung der Familiengründung also in den meisten Fällen gar nicht zu erreichen.1 Im Gegenteil: die Verehelichung diente selbst der materiellen Absicherung, da die Familie im Unterschichtsmilieu den Charakter einer Erwerbsgemeinschaft noch längst nicht eingebüßt hatte und die Frauen nicht nur wegen des unzureichenden Einkommens ihrer Männer, sondern vor allem auch wegen der Unsicherheit und Unbeständigkeit ihrer Arbeitsverhältnisse wie selbstverständlich mitverdienten. Ein weiterer Unterschied im Heiratsverhalten von gelernten und ungelernten Arbeitern tritt hervor, wenn man die für die Industriearbeiter angegebenen Werte der beiden Erhebungsjahrgänge miteinander vergleicht: Während die Anteile der verheirateten Facharbeiter erstaunlich stabil blieben oder sogar leicht zulegten, waren sie bei den Hilfsarbeitern in den beiden mittleren Altersstufen rückläufig. Die Zahlen vermitteln mithin den Eindruck, dass in der Arbeiterschaft vor allem die Ungelernten und hier wiederum in erster Linie die in Industrie und Handwerk beschäftigten ungelernten Arbeiter vom oben konstatierten Stocken in der Ausbildung einer familienförmigen Gesellschaft betroffen waren.2 Aufgrund der eingangs skizzierten sozialräumlichen Segregation lässt sich vermuten, dass sich die festgestellten Differenzen im Heiratsverhalten von Facharbeitern und Hilfsarbeitern auf der einen und von Selbständigen und Angestellten auf der anderen Seite auch in ungleichmäßigen lokalen Verteilungsmustern niederschlugen.3 Aussagekräftiger als die Eheschließungsziffer, die die Zahl der Eheschließungen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung angibt und damit vor allem die Altersstruktur der Bewohner der einzelnen Stadtteile widerspiegelt,4 ist auch hier wieder der Anteil der Verheirateten, der auf eine bestimmte Altersklasse
1 .
Vgl.: Ritter/Tenfelde [1992], S. 553. Hier müssen allerdings erhebliche Unsicherheiten bei der Zuordnung der Kategorien „ungelernt“ und „gelernt“ in Rechnung gestellt werden, auf die vermutlich auch die eklatanten Differenzen in den Verehelichungsquoten der im Handel beschäftigten Hilfs- und Facharbeiter in der Erhebung von 1895 zurückzuführen sind. Vgl. hierzu: Stat. Mitteilungen 1/1910, S. 246. 3 Leider beziehen sich die im Folgenden referierten Daten nicht auf „Sozialräume“ im eigentlichen Sinne, sondern auf politische Gebietseinheiten, von denen viele eine eher gemischte Sozialstruktur aufwiesen. Zur Problematik des „Sozialraums“ und seiner Darstellung in der historischen Forschung vgl. die Hinweise bei Fritzsche [1981], S. 95. 4 Da die angestammten Wohnviertel der Reichen am westlichen und östlichen Alsterufer kaum vom Zustrom arbeitssuchender junger Männer betroffen waren, ist es nicht weiter überraschend, dass die Werte hier z.T. nur halb so hoch lagen wie diejenigen, die für die Innenstadtviertel und die alten Vorstädte ermittelt werden konnten. Während die Eheschließungsziffer im Jahr 1900 in der Alt- und Neustadt durchweg über 10 lag und in St. Georg und St. Pauli nur knapp darunter, kamen in Hohen2
78 Karte 2:
Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Jungverheiratetenanteile nach Hamburger Stadtteilen 1900.
der Bewohner entfiel. In Karte 2 sind deshalb die bestehenden lokalen Unterschiede bezogen auf die männliche Bevölkerung im Alter von 20-25 Jahren wiedergegeben. Das sich hier abzeichnende Verteilungsmuster widerspricht der Erwartung, wonach gerade die von unqualifizierten, jungen Arbeitern bevölkerten hafennahen Innenstadtviertel besonders hohe Konzentrationen an „Jungverheirateten“ aufweisen müssten. Lässt man Steinwerder, Kleiner Grasbrook und Rotherbaum - drei Stadtteile, in denen Sonderbedingungen herrschten – einmal außen vor, so zählten fast alle angestammten Hamburger Wohnbezirke, ohne Unterschied, wie stark die Arbeiterschaft in der Bevölkerung jeweils vertreten war, zur Gruppe der
felde im gleichen Jahr nur 6,6, in Rotherbaum nur 6,3 und in Harvestude sogar nur 5,4 Eheschließungen auf 100 Personen der mittleren Bevölkerung (Stat. Hbg. Staats Herft XXII (1904), S. 45).
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Stadtteile mit der geringsten Jungverheiratetenquote.1 Die eigentlichen Spitzenreiter bei den Jungverheirateten bildeten hingegen die im Verlaufe des Urbanisierungsprozesses neu entstandenen Siedlungsgebiete in Stadtrandlage, die sich im Halbkreis um die alten Wohnviertel Hamburgs legten, wobei hier wiederum die Stadtteile Hamm und Barmbek mit besonders hohen Werten hervorstachen.2 Die räumliche Verteilung der Jungverheirateten lässt sich auf zweifache Weise erklären. Man kann sie einerseits als Folge innerstädtischer Mobilität werten und andererseits als Ausdruck der unterschiedlichen Herkunft der Bewohner der einzelnen Stadtteile. Wie Wischermann festgestellt hat, ging mit dem Zuzug aus dem ländlichen Umland eine Abwanderung der alteingesessenen Bevölkerung aus der Innenstadt in die neu entstehenden Vororte in Stadtrandlage einher.3 Die Motive, die hinter dem Umzug der Althamburger aus der Innenstadt in die neuen Vororte standen, differierten je nach sozialer Lage beträchtlich. Schon frühzeitig hatten die Auflösung der stadtbürgerlich-zünftigen Lebensformen, die gestiegenen Ansprüche bürgerlichen Wohnkomforts sowie die beispiellose bauliche Nachverdichtung der Innenstadt eine schleichende Abwanderung der begüterten Schichten aus der Innenstadt in Gang gesetzt. Dagegen erfolgte der Auszug der weniger betuchten Bevölkerungsteile Hamburgs offenbar häufig aus einer Notlage: Durch den Ausbau des Freihafens und die 1901 in Angriff genommene Sanierung des Gängeviertels der südlichen Neustadt war in der Innenstadt wiederholt im großen Stil billiger Wohnraum vernichtet worden, ohne dass man zuvor für entsprechenden Ersatz gesorgt hatte.4 Beide Umzugsmotive sind anscheinend familienzyklisch verstärkt worden: Für bürgerliche Ehepaare stellte sich spätestens mit der Geburt des ersten Kindes die Frage, ob sie in den hochverdichteten, zum Teil schon sehr heruntergekommenen Altbauvierteln noch länger wohnen bleiben wollten. Für die aus dem Freihafengebiet und später aus dem Sanierungsgebiet der südlichen Neustadt verdrängte Bevölkerung stellte sich die Situation ganz anders dar. Nur für die Bessergestellten unter ihnen kam 1 Eine Ausnahme bildete in dieser Hinsicht nur die südliche Neustadt, die zusammen mit dem erst verhältnismäßig spät besiedelten Hammerbrook (St. Georg-Süd) und den noch stark ländlich geprägten Stadtteilen Horn und Eilbek eine mittlere Position einnahm. 2 Uhlenhorst nahm wegen seiner Teilung in einen überwiegend von Arbeitern bewohnten Ostteil und einen bürgerlich-mondänen alsternahen Westteil eine Sonderstellung ein. Vgl. hierzu: Evans [1996], S. 90. 3 Wischermann [1983], S. 345. In Gang gesetzt und vorangetrieben wurde diese Dynamik durch das Zusammenspiel von anhaltender Bevölkerungsvermehrung und sukzessiver Erweiterung des Stadtgebiets im Zuge des 1888 erfolgten Zollanschlusses. Stadt und Bevölkerung expandierten seit den 1880er Jahren v.a. an den Rändern. Während die Bewohnerzahl der Innenstadt zwischen 1884 und 1904 nur noch sehr geringfügig zunahm, hatte sich die Bevölkerung der Vororte im gleichen Zeitraum nahezu verdoppelt (Matti [1983], S. 144). 4 Eine kenntnisreiche und relativ zeitnahe Schilderung des „großen Trecks aus St. Katharinen“ enthält: Schult [1967], S. 25 f.
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eventuell noch der Umzug in eine der freigewordenen Bürgerwohnungen der Alt- oder Neustadt in Frage. Billige, größere Wohnungen aber waren in den Gängevierteln – wie weiter unten noch ausführlicher dargestellt wird – Mangelware. Während junge ledige Männer und Frauen in diesen Quartieren noch recht einfach als „Aftermieter“ oder „Schlafgänger“ unterkommen konnten, war die Wohnungssuche für ein junges Ehepaar – oder gar eine Familie – hier mit kaum überwindbaren Schwierigkeiten verbunden. Es musste also wohl oder übel in anderen Stadtteilen nach Wohnraum suchen. Waren die Männer im Hafen beschäftigt, so kamen dabei eigentlich nur die angrenzenden, weiter elbaufwärts gelegenen Stadtteile (der Hammerbrook, die Veddel und der Billwerder Ausschlag) oder zur Not auch noch Hamm in Frage.1 Obwohl die innerstädtische Mobilität als Hauptgrund für das festgestellte topografische Verteilungsmuster anzusehen ist, dürfte auch die Zusammensetzung und vor allem die Herkunft der Bevölkerung einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Jungverheiratetenquote der einzelnen Stadtteile gehabt haben. So hebt z.B. Schult in seiner impressionistischen Schilderung des Hammerbrooks (St. Georg Süd) die ländliche Abstammung seiner Bewohner hervor.2 Bereits in den 1860er Jahren seien viele junge Männer aus Mecklenburg und dem Landkreis Harburg nach dem Hammerbrook gezogen, wo sie zunächst nur einer saisonalen Beschäftigung bei den umfangreichen Gleisbau- und Geländeerschließungsarbeiten nachgegangen seien. Die Konsolidierung der Einkommensverhältnisse hatte anscheinend aber schon bald zu einer Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes vom Heimatdorf in die Großstadt geführt. Begleitet und getragen wurde dieser Schritt von der Hoffnung, in Hamburg endlich einen eigenen Hausstand zu gründen und zu heiraten. Bemerkenswerterweise heirateten die meisten der vom Land zugezogenen jungen Männer aber keine Hamburgerinnen, sondern gaben den Frauen aus ihren Herkunftsorten den Vorzug. Mit dem Nachzug ihrer Bräute importierten die Arbeiter so nicht nur ein Stück ihres angestammten sozialen Netzes in die Großstadt, sondern auch das traditionelle generative Verhaltensmuster der Landbevölkerung. Dort, wo beide Effekte, die familienzyklisch verstärkte innerstädtische Mobilität und der Zustrom junger, heiratswilliger oder bereits verheirateter Männer vom Lande, zusammentrafen, scheint es somit zu einer Häufung jungverheirateter Paare gekommen zu sein. Trotz der konstatierten lokalen Differenzen darf allerdings nicht übersehen werden, dass der dominante langfristige Trend nicht etwa in einem immer stärkeren Auseinanderdriften des Heiratsverhaltens entlang
1 Vgl.: A.a.O., S. 27 und allgemein zur innerstädtischen Familienwanderung und ihren Motiven: Langewiesche [1977], S. 28 f. 2 Schult [1967], S. 27.
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sozialräumlicher Scheidelinien bestand, sondern in einer langsamen Angleichung der Verhältnisse in den unterschiedlichen Stadtteile.1
2.2.2.2 Familiengröße Wenn sich auch die selbstverständliche Kopplung von Eheschließung und Familiengründung aus ganz unterschiedlichen Gründen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu lockern begann, so übte das Heiratsalter doch einen starken Einfluss auf das generative Verhalten aus. In der Regel folgten Heirat und Geburt des ersten Kindes zeitlich dicht aufeinander, und wenn früh geheiratet wurde, lag die Zahl möglicher Geburten schon aus biologischen Gründen besonders hoch. Bereits 1912 ist für Preußen der Versuch unternommen worden, für den Zeitraum 1877-1906 die Entwicklung der Kinderzahlen bezogen auf die unterschiedlichen Berufsgruppen nachzuzeichnen.2 Dabei ließ sich ein allgemeiner Trend zur Verringerung der Kinderzahl ausmachen, von dem eigentlich nur diejenigen Männer ausgenommen waren, die in der Landwirtschaft, dem Bergbau und der Steine- und Erden-Industrie beschäftigt waren. Für die Zeit von 1905 bis 1924 liegen sogar Berechnungen zur Kinderzahl in den verschiedenen Berufsstellungen vor.3 Diese lassen auf einen tiefgreifenden, im Prinzip alle Schichten umfassenden Mentalitätswandel hinsichtlich des generativen Verhaltens schließen, der sich zwar schon vor der Jahrhundertwende ankündigte, aber erst in den nach 1905 geschlossenen Ehen voll auswirkte. Große Teile der Arbeiterschaft hatten sich offenbar zu diesem Zeitpunkt bereits die bürgerliche Auffassung von der notwendigen Begrenzung der Kinderzahl zu eigen gemacht. Im Zeitraum 1900 bis 1925 verringerte sich die durchschnittliche Kinderzahl in Arbeiterehen von 4,7 auf 2,4. Wie beim Heiratsverhalten zeigte sich auch hier eine langsame Angleichung der Verhaltensmuster in Bürgertum und Unterschicht, welche die zeitgenössische Rede von einem scharf abgegrenzten „proletarischen Familientypus“ problema1 Zehn Jahre zuvor waren die Differenzen noch deutlich ausgeprägter gewesen. Während 1890 in der Innenstadt und den alten Vororten von 100 Männern im Alter von 20-25 Jahren nur 5,6 verheiratet waren, so war der Wert bis zur Jahrhundertwende auf 6,1 angestiegen. Umgekehrt sank der Anteil der „Jungverheirateten“ in den „neuen Vororten“ – zu denen hier alle übrigen Hamburger Stadtteile außer Harvestehude, Rotherbaum und Hohenfelde gezählt wurden – im gleichen Zeitraum von 12,4 auf 11,0%. Man kann dies als Indiz dafür werten, dass sich einerseits die vom Lande zugezogenen Männer und Frauen in ihrem Heiratsverhalten langsam den Gewohnheiten ihrer neuen Umgebung anpassten – vgl. hierzu: Matti [1983], S. 148 – und andererseits die noch näher zu bestimmenden heiratshemmenden Faktoren der alten Wohnbezirke allmählich an Gewicht verloren. 2 Vgl.: Berger [1912]. 3 Vgl.: Ritter/Tenfelde [1992], S. 562 ff.
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tisch macht. Wenn überhaupt, so kann nach Ritter/Tenfelde nur in Bezug auf die ungelernten Arbeiter von einer genuin „proletarischen“ Familienformation gesprochen werden, denn diese heirateten nicht nur erheblich früher als ihre ausgebildeten Berufskollegen, sondern setzten allem Anschein nach auch deutlich mehr Kinder in die Welt als jene.1 Ob ein Arbeiterehepaar bereit und in der Lage war, die Anzahl seiner Kinder durch Geburtenkontrolle zu steuern, war nicht nur eine Frage der Herkunft und der Religionszugehörigkeit. Das generative Verhalten war auch maßgeblich davon abhängig, über welche schulische und berufliche Qualifikation die Männer und Frauen verfügten. Da die Berechnung der durchschnittlichen Kinderzahl der einzelnen Berufsgruppen und -stellungen methodisch sehr aufwändig ist, soll die Hamburger Situation hinsichtlich des generativen Verhaltens im Folgenden auf der Grundlage der Fruchtbarkeitsziffer dargestellt werden.2 Bezogen auf das gesamte Hamburger Staatsgebiet ist im Zeitraum 1880-1911 ein stetiger Rückgang der Fruchtbarkeitsziffer zu verzeichnen. Kamen Anfang der 1880er Jahre noch knapp 28 Geburten auf 100 Frauen benannten Alters, so sank der Wert bis 1910 auf unter 15 Geburten ab.3 Karte 3 stellt für das Jahr 1900 die bestehenden lokalen Unterschiede im Stadtgebiet dar. Wie nicht anders zu erwarten, rangierten am untersten Ende der Fruchtbarkeitsskala die Wohnviertel der Gutsituierten und Gebildeten (Hohenfelde, Rotherbaum und Harvestehude). Das Mittelfeld weiblicher „Fruchtbarkeit“ stellten die Innenstadt (mit Ausnahme der südlichen Neustadt), die alte Vorstadt St. Pauli sowie eine Reihe der neueren, in Stadtrandlage entstandenen Arbeitervororte wie Eimsbüttel, Winterhude, Eilbek und Borgfelde. Vergleicht man Karte 2 und 3, so fällt in Bezug auf die Innenstadt auf, dass der oben festgestellte verhältnismäßig geringe Anteil jungeverheirateter Paare in der Bevölkerung hier nicht dazu führte, dass die Frauen auch relativ wenig Kinder gebaren. Es wird gleich noch zu zeigen sein, wie sich diese Diskrepanz erklären lässt. Nur die in St. Georgs Norden und der südlichen Altstadt lebenden Frauen brachten vergleichsweise wenige Kinder zur Welt.4 Mit Abstand die meisten Kinder wurden von den im Hamburger Arbeiterstadtteil Billwerder Ausschlag lebenden Frauen zur Welt gebracht. Etwas niedriger, aber immer noch deutlich über dem städtischen Durchschnitt von 11,5, lagen die Werte im angrenzenden Horn sowie im südlichen St. Georg (Hammerbrook), 1
A.a.O., S. 564 ff. Anders als die Geburtenziffer, die das Verhältnis der Neugeborenen zur Gesamtbevölkerung angibt, drückt die Fruchtbarkeitsziffer aus, wie viele Neugeborene auf 100 Frauen im „gebärfähigen Alter“ kamen. Als „gebärfähig“ galten dabei Frauen im Alter von 15-45 Jahren. 3 Matti [1983], S. 152. 4 Im ersteren Fall ist dies auf die zweigeteilte Sozialstruktur St. Georgs zurückzuführen; im letzteren Fall dürfte die bereits weit vorangeschrittene „Citybildung“ ausschlaggebend gewesen sein. 2
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Karte 3:
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Fruchtbarkeitsziffer nach Hamburger Stadtteilen 1900.
der gegenüberliegenden Veddel, Barmbek und Uhlenhorst sowie der südlichen Neustadt.1 In all diesen Stadtteilen zeichnete sich eine mehr oder weniger deutliche Korrespondenz zwischen hohen Jungverheirateten-Anteilen einerseits und hoher weiblicher „Fruchtbarkeit“ andererseits ab, die als zusätzliches Indiz für eine dem Familienzyklus folgende innerstädtische Abwanderungsbewegung entlang der Elbe in östlicher Richtung gewertet werden kann. Für jungverheiratete Arbeiterehepaare, die auf die Beschäftigungsmöglichkeiten im Hafen angewiesen waren und gleichzeitig einen eigenen Hausstand und eine Familie gründen wollten, boten das südliche St. Georg (Hammerbrook) und der Billwerder Aus1 Walter Classen, „Volkserzieher“ im Hammerbrook, gab zur Familiengröße von 243 seiner jugendlichen Vereinsmitglieder an, 45 seien in Familien mit 1-2 Kindern, 153 in solchen mit 3-6 Kindern und 44 in Familien mit mehr als sechs Kindern aufgewachsen (Classen [1914], S. 24). Allerdings waren diese Werte kaum repräsentativ, da die Volksheime größtenteils von Kindern bessergestellter, politisch nichtorganisierter Hamburger Arbeiter aufgesucht wurden.
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schlag immer noch die besten Bedingungen, diese widersprüchlichen Anforderungen und Ansprüche unter einen Hut zu bringen.1 Die recht gravierenden Differenzen im „Kindersegen“ von Frauen, die in überwiegend von Arbeitern bewohnten Stadtteilen lebten und solchen, die in „bürgerlichen“ Wohnvierteln zuhause waren, müssen in zweierlei Hinsicht wieder etwas relativiert werden. Zum einen zeigt sich nämlich in der diachronen Betrachtung, dass die urbane Lebensweise auch hier die bestehenden Unterschiede ganz allmählich einebnete.2 Zum anderen ist die Fruchtbarkeitsziffer kein zuverlässiger Gradmesser für die tatsächliche Familiengröße, da sie sich auf alle lebend und tot Geborenen bezieht und nicht berücksichtigt, dass viele Kinder entweder bereits im Mutterleib oder kurz nach der Geburt wieder verstarben. Hohe „Fruchtbarkeit“ war in der Regel gepaart mit hoher Säuglingssterblichkeit. Zwar liegen für Hamburg erst für das Jahr 1909 differenzierte Angaben zur Säuglingssterblichkeit in den unterschiedlichen Stadtteilen vor. Diese aber zeigen, dass dort, wo die meisten Kinder geboren wurden, auch die lokalen Zentren der Säuglingssterblichkeit lagen.3 Am Billwerder Ausschlag, in Uhlenhorst und in Horn starb im ausgehenden Kaiserreich jedes fünfte bis sechste Kind innerhalb des ersten Lebensjahres. Von einer Abnahme des Sterberisikos konnte hier noch kaum die Rede sein. Manches deutet sogar darauf hin, dass die Sterblichkeit unter Säuglingen im Verlaufe des Untersuchungszeitraumes sowohl absolut als auch relativ gesehen noch zugenommen hatte.4 In der Innenstadt, wo die Sterblichkeit aufgrund der beengten Wohnverhältnisse und der schlechten sanitären Infrastruktur insgesamt auf einem sehr hohen Niveau lag, war es die südliche Neustadt, die durch besonders hohe Werte auffiel. Sozialräumlich bildete sich hier also ein enger Zusammenhang zwischen Einkommenssituation, Gebürtigkeit und Säuglingssterblichkeit ab. In Arbeiter1
Deutlich unabhängiger bei der Wohnortwahl dürften aufgrund der geregelten Arbeitszeiten und der besseren Verdienstmöglichkeiten die ungelernten Fabrikarbeiter aus Barmbek und Uhlenhorst gewesen sein. 2 Ein Zahlenvergleich zwischen 1900 und 1885 bestätigt diese Beobachtung: Der stärkste Rückgang der Fruchtbarkeitsziffer ist in den Stadtteilen Borgfelde, Horn, Billwerder Ausschlag und Eilbek zu verzeichnen, während die Abnahme in Harvestehude, Hohenfelde und Rotherbaum deutlich moderater verlief. Nur die in Uhlenhorst und Winterhude lebenden Frauen gebaren 1900 mehr Kinder als noch 15 Jahre zuvor. Winterhude rangierte zumindest Anfang der 1890er Jahre hinsichtlich seines Arbeiteranteils ganz dicht hinter dem Billwerder Ausschlag und noch deutlich vor Barmbek (Evans [1996], S. 93). Offenbar hatten sich in diesen beiden Stadtteilen um die Jahrhundertwende besonders viele junge Paare niedergelassen, die sich in ihrem generativen Verhalten nur zögerlich der großstädtischen Umgebung anpassten. Schon Anfang der 1880er Jahre hatte man festgestellt, dass die eheliche „Fruchtbarkeit“ in allen Hamburger Stadtteilen zurückgegangen war, am stärksten jedoch gerade dort, wo sie zunächst am höchsten gelegen hatte. Stat. Hbg. Staats Heft XII/1883, S. 31. 3 Stat. Hbg. Staats XXVII/1918, S. 79. 4 Vgl.: Evans [1996], S. 671 ff. und Ritter/Tenfelde [1992], S. 575.
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familien wurden im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert im Vergleich zu den Familien der Angestellten und Selbständigen nicht nur erheblich mehr Kinder zur Welt gebracht, sondern es verstarben auch deutlich mehr bereits innerhalb des ersten Lebensjahres. Unter den Arbeiterfamilien waren es wiederum die der Ungelernten, in denen das Sterblichkeitsrisiko besonders hoch lag.1 Hohe Säuglingssterblichkeit war vor allem Ausdruck einer von Armut geprägten Lebensweise. In großen Familien fiel es nicht nur schwerer, jedes einzelne Kind mit der gleichen Sorgfalt zu pflegen und zu versorgen; viele der von Armut betroffenen werdenden Mütter waren auch unterernährt und brachten aus diesem Grund besonders häufig Frühgeburten und untergewichtige Kinder zur Welt, deren Überlebenschancen konstitutionell bereits deutlich vermindert waren.2 Die häufigste Todesursache bei Säuglingen stellten gleichwohl Erkrankungen des Verdauungstraktes dar, was auf gravierende Probleme bei der Beschaffung, Zubereitung und Verabreichung von gesunder und geeigneter Säuglingsnahrung schließen lässt. Allerdings waren auch hier, wie Evans am Hamburger Beispiel zeigen kann, die Zusammenhänge komplizierter, als es die bürgerlichen Zeitgenossen gewöhnlich wahrhaben wollten.3 Auch Infektionserkrankungen der Atemwege, die zweitwichtigste Todesursache bei Säuglingen, ließen sich zumeist nicht auf individuelles Versagen der Mütter bzw. Eltern zurückführen, sondern waren eine Folge der schlechten Wohnverhältnisse, auf die gleich noch ausführlicher eingegangen werden soll.
2.2.2.3 „Unvollständige“ Familien Für zeitgenössische Beobachter, die den angeblichen „Niedergang des Familienlebens“ auch empirisch zu belegen versuchten, besaßen Daten, die Aufschluss über die quantitative Entwicklung „unvollständiger“ Familien gaben, aus naheliegenden Gründen einen besonderen Reiz. Bereits in den 1870er Jahren versuchte der Dorpater Universitätsprofessor und Theologe Alexander von Oettingen, der als Begründer der deutschen Moralstatistik gilt, seine These von der besonderen Sittenverderbtheit der Hamburger Bevölkerung durch Hinweise auf die 1
Vgl.: Ritter/Tenfelde [1992], S. 575. Evans [1996], S. 265. 3 Die in den 1880er Jahren erfolgte Einführung des industriell gefertigten Gummischnullers hatte zur Folge gehabt, dass viele Mütter aus dem Arbeitermilieu auf künstliche Ernährung umstellten. Die Ersetzung der Muttermilch durch Kuhmilch stellte allerdings an sich nicht das Hauptproblem dar. Neben der Reinigung der schmalen Flaschen erwies sich in einer Großstadt wie Hamburg v.a. die Beschaffung „unverfälschter“ Milch und – besonders in den Sommermonaten – deren Aufbewahrung als schwierig. Hinzu kam in Hamburg noch die bakterielle Verunreinigung des Leitungswassers. Vgl.: Evans [1996], S. 261 ff. 2
86 Karte 4:
Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Unehelichenquote nach Hamburger Stadtteilen 1900.
vergleichsweise hohe örtlichen Unehelichenquote zu beweisen.1 Eingehendere Auseinandersetzungen mit Zahlenmaterial dieser Art scheinen allerdings im Kaiserreich eine seltene Ausnahmeerscheinung gewesen zu sein, und das aus gutem Grund. Die Befunde, die man auf dieser Basis gewinnen konnte, waren viel zu widersprüchlich, um als Stütze für das vorgefasste Urteil über die desolaten Zustände des großstädtischen Familienlebens herhalten zu können, und eindeutige sozialreformerische oder politische Handlungsanweisungen ließen sich aus ihnen schon gar nicht ableiten.2 Dass dies auch auf Hamburg zutraf, zeigen die im Folgenden referierten Daten über die Entwicklung der unehelichen Geburten, die Zahl der Ehescheidungen sowie den Anteil der jung verwitweten Frauen. 1
Oettingen [1874], S. 170. Zu Person und Werk ausführlich: Lees [2002], S. 78 ff. Vgl. hierzu: Jackson [1981]. Aus diesem Grunde bereitete es auch dem Statistischen Büro des Hamburger Senats keine nennenswerten Schwierigkeiten, Oettingens These auf der Grundlage umfangreicheren Datenmaterials zu widerlegen (Stat. Hbg. Staats XII/1883, S. 28, Anm. 12). 2
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Die vorstehende Karte illustriert die „sittliche Topografie“ der Hansestadt um 1900 zunächst auf Grundlage der Unehelichenquote.1 Anhand der kartografischen Darstellung wird die hohe Konzentration unehelicher Geburten in den Innenstadtvierteln gut erkennbar. Hier kam an der Schwelle zum 20. Jahrhundert etwa jedes fünfte Kind außerhalb einer Ehe zur Welt. Während Hamburg insgesamt im Vergleich zu den übrigen deutschen Teilstaaten mit seiner „Illegitimitätsquote“ nicht eben schlecht abschnitt, war man solch hohe Konzentrationen sonst nur noch aus dem katholischen Bayern gewohnt.2 Die oben festgestellte Diskrepanz zwischen der relativ hohen „Fruchtbarkeit“ der in den Innenstadtvierteln lebenden Frauen und den geringen Jungverheiratetenanteilen dieser Quartiere lässt sich demnach hauptsächlich dadurch erklären, dass viele der hier geborenen Kinder unehelich waren. Mit zunehmender Distanz vom Stadtzentrum ging auch der Anteil „illegitimer Geburten“ zurück. Es zeigt sich also eine ähnliche konzentrische Verteilung, wie sie schon bei den Jungverheirateten festzustellen war, dieses Mal allerdings in umgekehrter Richtung. Nur an den äußersten Rändern des Stadtgebiets machte sich offenbar der Einfluss der überkommenen ländlichen Verhaltensmuster wieder geltend: Voreheliche Geburten waren bekanntlich auf dem Land keineswegs ungewöhnlich, zogen dann aber in den meisten Fällen relativ rasch die Heirat nach sich.3 Oberflächlich betrachtet entsprach die hohe innerstädtische Konzentration unehelicher Geburten dem Schreckensszenario, das Asher und Popert von den Gängevierteln als einem Ort des Lasters und des moralischen Verfalls zeichneten.4 Im krassen Gegensatz zum weitverbreiteten Klischee von der sittlichen Verdorbenheit der Arbeiterklasse stand jedoch, dass ausgerechnet die Arbeiterwohnviertel am Billwerder Ausschlag und auf der Veddel diejenigen Stadtteile waren, welche die geringsten Unehelichenquoten aufwiesen. Sogar die Wohngegenden der Reichen schnitten deutlich ungünstiger ab, was allerdings vor allem auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass die großbürgerlichen Haushalte dieser Stadtteile besonders viele Dienstmädchen beschäftigten.5 Grafik 1 gibt 1 Die „uneheliche Geburt“ führte zwar nicht zwangsläufig zu einer Unvollständigkeit der Familien. Eine nicht unbedeutende Zahl von Kindern wurde nachträglich legitimiert und es gab auch immer wieder Paare, die es wagten, ihre Kinder ohne Trauschein gemeinsam großzuziehen. Dennoch wuchs die Mehrheit der unehelich geborenen Kinder tatsächlich auch ohne Vater auf. 2 Evans [1996], S. 266. 3 Vgl.: Gestrich [1999], S. 31 f. Wie allerdings die relativ hohen Werte in Barmbek zu erklären sind, muss dahingestellt bleiben, denn Barmbek, das westlich an die preußische Industriestadt Wandsbek angrenzte, war zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend urbanisiert. 4 Vgl. oben, S. 55 ff. 5 Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen waren Dienstmädchen unter den unehelich Gebärenden deutlich überrepräsentiert. Vgl. die Aufstellung zum „Stand und Gewerbe außerehelicher Mütter“ in Hamburg in den Jahren 1880/81: Stat. Hbg. Staats XII, 2. Abteilung/1883, S. 32.
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Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Grafik 1:
Entwicklung der Unehelichenquote in Hamburg 1884-1913 nach Stadtteilgruppen.
auf 100 Geburten entfielen uneheliche Geburten
30,0
25,0
20,0
15,0
10,0
5,0
0,0 1884
1889
1894
1899
1904
1909
Stadt und Vorstadt
Rotherbaum, Harvestehude, Hohenfelde
Vororte (ohne Harvestehude, Rotherbaum und Hohenfelde)
gesamtes Stadtgebiet (mit Schiffen ohne Anstalten)
1914
die Entwicklung der Unehelichenquote geordnet nach Stadtteiltypen für den gesamten Untersuchungszeitraum wieder. Der steile Anstieg der Unehelichenquote in den Innenstadtvierteln und den alten Vorstädten St. Pauli und St. Georg – so lässt sich der Grafik entnehmen – setzte bereits in den frühen 1890er Jahren ein und wurde nur zweimal, direkt nach der Jahrhundertwende und noch einmal um 1908, kurzfristig unterbrochen. Sehr viel langsamer verlief demgegenüber die Steigerung in den „neuen“ Vororten. Sichtbar wird außerdem der dramatische Anstieg der Unehelichenquote in den Stadtteilen der Reichen seit Mitte der 1890er Jahre. Zwar machten die „illegitimen“ Geburten, die auf die Stadtteile Rotherbaum, Harvestehude und Hohenfelde entfielen, selten mehr als 5 Prozent aller unehelichen Geburten des Stadtgebiets aus. Aber die Kurve stieg hier ähnlich steil an wie in den Innenstadtvierteln und den „alten Vororten“. Anders als in den Armenvierteln in Stadtrandlage hat man die Situation in Rotherbaum, Harvestehude und Hohenfelde jedoch offensichtlich bereits vor Kriegsausbruch wieder „in den Griff“ bekommen. Den genauen Ursachen der konstatierten Sonderentwicklung in den Wohnvierteln der wohlhabenden Bevölkerungskreise kann hier nicht nachgegangen werden. Zwei denkbare Erklärungen seien hier jedoch kurz skizziert: Man kann den Anstieg entweder als Ausdruck nachlassender Sozialkontrolle der Herrschaf-
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ten über die weiblichen Dienstboten, ihr Freizeitverhalten und – in der Folge – auch ihre Partnerwahl werten.1 Eine zweites Erklärungsmodell besteht in der Annahme, dass sich in der Dekade nach 1900 die Heiratschancen von Dienstmädchen verschlechtert oder präziser formuliert: dass die mit sexuellen Kontakten in der Regel verbundenen, mehr oder weniger explizit formulierten Heiratsversprechen zunehmend an Verbindlichkeit eingebüßt hatten. In diesem Erklärungszusammenhang stehen die unehelichen Geburten der Dienstmädchen aus Harvestehude, Rotherbaum und Hohenfelde exemplarisch für die Schwierigkeiten, mit denen sich ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen ländlicher Herkunft beim Übergang in die Familiengründungsphase generell konfrontiert sahen. Zugleich illustrieren sie, dass Frauen dabei ein ungleich höheres Risiko eingingen als Männer, denn in der Regel waren sie es, die die unehelichen Kinder unter widrigsten sozialen und materiellen Umständen durchbringen mussten.2 Im Unterschied zur unehelichen Geburt handelte es sich bei der Ehescheidung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts noch um ein Phänomen von marginaler Bedeutung, das, bezogen auf die verheirateten Bevölkerungsteile, nur noch im Promillebereich lag. Die restriktive Gestaltung des Ehescheidungsrechts lässt vermuten, dass die Anteile dauerhaft getrennt lebender Ehepaare bedeutend höher lagen.3 Trotzdem sei hier auf die lokalen Differenzen hinsichtlich der Anteile geschiedener Ehen kurz eingegangen. Die in der grafischen Darstellung sichtbar werdenden lokalen Konzentrationen erinnern stark an diejenigen der Unehelichkeit. Die Scheidungsquote lag in den Hamburger Innenstadtvierteln am höchsten und fiel mit wachsender Entfernung vom Stadtkern langsam ab. Mit Abstand die meisten Geschiedenen lebten im nördlichen Teil der Neustadt. Auf 100 Verheiratete kamen hier immerhin fast drei geschiedene Männer bzw. Frauen. Am niedrigsten lagen die Werte wieder in den neuen Arbeitervororten wie Billwerder Ausschlag, Winterhude oder Hamm. Am geringsten fielen die sozialräumlichen Differenzen bei den Verwitwetenanteilen aus. Betrachtet man nur die Zahl der Witwen – denn bei der Verwitwung handelte es sich vorwiegend um ein weibliches Phänomen – und vergleicht sie mit der verheirateten Bevölkerungsgruppe gleichen Geschlechts, so zeigt sich, 1
Vgl. hierzu: Deutelmoser [1983], S. 321 u. 323 ff. Seit jeher sahen sie sich dabei gezwungen, vorübergehend oder dauerhaft die Unterstützung der privaten oder öffentlichen Fürsorge in Anspruch zu nehmen. Aber auch die staatlich-interventive Jugendfürsorge fokussierte nach der Logik präventiver Armuts- und Kriminalitätsbekämpfung ihre Anstrengungen mehr und mehr auf uneheliche Kinder und ihre Mütter. Die wichtigste Neuerfindung stellte in diesem Zusammenhang die Berufsvormundschaft dar (vgl. unten Abschnitt 3.3.2.2). Auch nach ihrer Einführung in Hamburg im Jahre 1908 konnte allerdings die Zahl der nachträglich legitimierten Kinder nicht wesentlich angehoben werden. Nur eines von fünf unehelichen Kindern wurde durch nachträgliche Ehe anerkannt (Stat. Hbg. Staats XXVII/1918, S. 42). 3 Zur Geschichte der Ehescheidung im 19. Jahrhundert vgl.: Blasius [1987]. 2
90 Karte 5:
Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Ehescheidungsquote nach Hamburger Stadtteilen 1900.
dass Spitzenwerte von mehr als 35 Prozent nur in bürgerlichen Wohngegenden wie Rotherbaum und Hohenfelde vorkamen, die durch eine ausgeglichene Altersstruktur und eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung gekennzeichnet waren.1 In der Innenstadt und den alten Vororten wiesen das nördliche St. Georg und die nördlichen Teile der Altstadt die höchsten Werte auf, was ebenfalls auf Überreste bürgerlicher Lebensformen hindeutet. Ein zusätzlicher Effekt mag von der geografischen Verteilung von Wohn- bzw. Witwenstiftungen ausgegangen sein.2 Aber selbst wenn man die altersbedingten Verzerrungen aus1
Stat. Hbg. Staats XXI/1902, S. 49 Zumindest im Falle St. Georgs, das bereits nach dem Hamburger Brand zum bevorzugten Planungsgebiet von Wohnstiftungen geworden war, und Hohenfelde, auf das sich die Bautätigkeit nach 1875 verlagert hatte, ist dieser Zusammenhang naheliegend. Vgl. zum Ausbau und zur räumlichen Verteilung der Hamburger Wohnstiftungen während der Untersuchungsperiode: Eissenhauer [1987], S. 26 f. Zur sozialen Zusammensetzung der Adressatengruppe der Wohnstiftungen vgl. Pielhoff [1999], S. 328 ff. 2
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zuklammern versucht, indem man nur die Anteile der bereits in jungem Alter verwitweten Frauen (und potenziellen Mütter) ermittelt, so bestätigt sich im Wesentlichen das soeben skizzierte soziale Verteilungsmuster. Im alten Stadtgebiet traf man junge Witwen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren ebenfalls vor allem in den der Alster zugewandten Teilen der Altstadt und St. Georgs an. Mit 3,6 Prozent lag der Anteil junger Witwen an den verheirateten Frauen gleichen Alters hier deutlich höher als im übrigen Kerngebiet der Stadt. Ähnlich verhielt es sich auch in den „neuen“ Vororten: Wiederum waren es die Stadtteile der Gutsituierten, Rotherbaum (3,4 Prozent), Harvestehude (2,8 Prozent) und Hohenfelde (2,6 Prozent), in denen besonders viele junge Witwen zuhause waren, während Arbeiterstadtteile wie Billwerder Ausschlag (1,4 Prozent) oder Veddel (1,2 Prozent) am unteren Ende der Skala rangierten. Allerdings lebten auch in der südlichen Neustadt, wo der Hauptteil der männlichen Bewohner im Hafen beschäftigt war, mit 4 Prozent extrem viele junge Witwen, was als ein Indiz für die hohen Unfallrisiken genommen werden kann, denen die Hafenarbeiter ausgesetzt waren.1 Verglichen mit der Unehelichkeit hat also die Verwitwung als Ursache für die Unvollständigkeit von Familien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in Hamburg eine deutlich nachgeordnete Rolle gespielt, und die diesbezüglich feststellbaren sozialräumlichen Differenzen fielen nicht nur bedeutend geringer aus als bei der unehelichen Geburt, sondern wiesen tendenziell sogar in die entgegengesetzte Richtung. Nimmt man die Ehescheidungs- und Unehelichenquote zusammen mit den Jungverheiratetenanteilen als Gradmesser für die mehr oder weniger starke „Familienorientierung“ der Hamburger Wohnbevölkerung, so verfestigt sich der Eindruck, dass zwischen den Bewohnern der Gängeviertel der Neu- und Altstadt und dem etwas weiter elbaufwärts gelegenen stadtteilübergreifenden Sozialraum Billwerder Ausschlag – Hamm Süd – Hammerbrook und Veddel ungeachtet der grundlegenden Übereinstimmungen in der Sozialstruktur erhebliche mentale Unterschiede bestanden. Während in den neuen Arbeiterquartieren im Südosten der Stadt die Ehe als Lebensform offenbar ein uneingeschränkt hohes Ansehen genoss, als unhintergehbare Voraussetzung für die Gründung einer Familie galt und in den meisten Fällen offenbar auch ein Leben lang hielt, hatte die Institution in der Innenstadt ihre sakrosankte Stellung anscheinend weitgehend eingebüßt. Dass solche „moralpolitischen Unterschiede“ weitgehende Auswirkungen für die Kontroll- und Interventionspraxis der Vormundschaftsbehörde haben mussten, dürfte unmittelbar einleuchten.2 Die weitere Untersuchung der Lebens- und 1 Vgl. zur Verteilung der Verwaisten auf die einzelnen Berufsabteilungen und -stellungen der Väter: Stat. Mitteilungen 2. 1913, S. 266 f. 2 Vgl. zu den „moralpolitischen“ Differenzen innerhalb der Arbeiterschaft: Nipperdey [1998a], S. 299.
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Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Wohnverhältnisse in den beiden Sozialräumen muss allerdings erst noch zeigen, ob der hier konstruierte Gegensatz überhaupt tragfähig ist und wie er sich plausibel erklären lässt.
2.2.3 Familienleben und Wohnsituation in Hamburg Eine der tiefgreifendsten Veränderungen im Familienleben unterbürgerlicher Schichten im Verlauf des 19. Jahrhunderts stellte die weitgehende Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte dar. Die Familie wandelte sich nach und nach von einer Produktions- zu einer Konsum- bzw. Schlafgemeinschaft. Diese Entwicklung kündigte sich in Hamburg bereits Ende des 18. Jahrhunderts an, aber erst mit der Errichtung der ersten Fabriken in Stadtrandlage Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die „Pluralität der Lebensräume“ zu einem Massenphänomen.1 Um 1890 schätzte ein zeitgenössischer Beobachter, dass in Hamburg jeden Morgen etwa 50.000 Arbeiter zu einem 1-1½-stündigen Fußmarsch aufbrachen, um die Wegstrecke zwischen ihrem Wohnort und den meist im Hafen gelegenen Arbeitsstellen zu bewältigen.2 Es ist in der historischen Sozialforschung kontrovers darüber debattiert worden, ob für die Herausbildung eines großstädtischen proletarischen Milieus, das den Nährboden für das sich allmählich ausbildendes „Klassenbewusstsein“ abgab, vor allem die geteilte Erfahrung am Arbeitsplatz oder doch eher das Wohnquartier ausschlaggebend gewesen sei.3 Für unseren Zusammenhang ist die Beantwortung dieser Frage aber eher sekundär, denn für die Gestaltung des Familienlebens und die Sozialisation der Kinder bis spätestens zum 14. Lebensjahr waren die Wohnbedingungen und das nähere Wohnumfeld unzweifelhaft von größerer Bedeutung als die Strukturen am Arbeitsplatz.
2.2.3.1 Übervölkerte Wohnungen und „offene Haushaltsstruktur“ Auch zur Wohnsituation der Hamburger Arbeiterschaft im Kaiserreich müssen vorab einige statistische Daten wiedergegeben werden, um einen besseren Überblick über die Gesamtlage zu erhalten. Wie in Deutschland überhaupt, so sind auch in Hamburg die 1870er Jahre als der eigentliche Höhepunkt der Wohnungsnot zu betrachten. Die anhaltende Land-Stadt-Migration hatte in Kombination mit einer steigenden Geburtenrate während der Gründerära in der Elbmetropole zu einem ständig wachsenden Bedarf an günstigem Wohnraum geführt, der 1
Wischermann [1983], S. 352. A.a.O., S. 353. 3 A.a.O., S. 356 u. Fritzsche [1981], S. 104 ff. 2
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erst nach und nach befriedigt werden konnte. Nimmt man die Wohnraumdichte, das heißt die Anzahl der Personen pro Wohnraum, zum Maßstab, so hat sich die Situation in den folgenden Jahrzehnten ganz erheblich verbessert. Entfielen Mitte der 1880er Jahre noch durchschnittlich 1,4 Personen auf einen Wohnraum, so näherte sich der Wert bis zum Ersten Weltkrieg ganz allmählich der Idealmarke von einer Person pro Wohnraum an. Der noch fast ausschließlich in privater Hand befindliche Wohnungsbau war also offenbar im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Großen und Ganzen gesehen erstaunlich gut in der Lage, die schlimmste Unterversorgung am Wohnungsmarkt zu beseitigen.1 Zur Beurteilung der Entwicklung des Wohnstandards der breiten Masse der Bevölkerung gibt es allerdings noch einen deutlich zuverlässigeren Indikator: der prozentuale Anteil der Klein- und Kleinstwohnungen am Gesamtwohnungsbestand. Auch hier deutet alles auf eine spürbare Verbesserung der Hamburger Verhältnisse zwischen 1875 und 1905 hin. Anders als in der Hauptstadt des Reiches war man in Hamburg schon in den 1880er Jahren vom Bau von 1-ZimmerWohnungen weitgehend abgekommen.2 Während 1875 noch annähernd 45 Prozent aller Wohnungen aus nur einem beheizbarem Zimmer bestanden hatten, fiel der Anteil dieses Wohnungstyps bis 1905 um mehr als die Hälfte auf etwa 20 Prozent ab. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Wohnungen mit zwei beheizbaren Zimmern von einem Viertel auf knapp ein Drittel des Gesamtwohnungsbestandes an. Ungeachtet dieser positiven Hamburger Gesamtentwicklung gab es jedoch auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ganz beträchtliche Unterschiede in den Wohnverhältnissen der einzelnen Stadtteile. Wie Karte 6 zeigt, lassen sich die fortbestehenden lokalen Differenzen besonders gut anhand der Bevölkerungsanteile veranschaulichen, die gezwungen waren, in „übervölkerten Wohnungen“ zu leben. Nach zeitgenössischem Verständnis galt eine Wohnung dann als „übervölkert“, wenn sich mehr als fünf Personen ein oder mehr als neun Personen zwei beheizbare Zimmer teilen mussten. Nimmt man Hamburg insgesamt in den Blick, so deutet auch bei Zugrundelegung dieses Maßstabes zunächst alles auf eine allmähliche Entspannung der Situation ab den frühen 1890er Jahren hin. In den Innenstadtvierteln und den ehemaligen Vorstädten St. Pauli und St. Georg, wo Ende der 1860er Jahre noch 16 Prozent der Einwohner in übervölkerten Wohnungen gelebt hatten3, war der Anteil jetzt auf etwa 11 Prozent gesunken. Aber zum einen war dieses Abklingen der akutesten Unterversorgung in der Innenstadt nur eine Folge der in den 1880er Jahren erfolgten Öffnung der Stadtentwicklung in die Vororte hinein gewesen, die 1
Wischermann [1983], S. 349. Wiek [1984], S. 249. 3 Wischermann [1983], S. 349. 2
94 Karte 6:
Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Anteil der Bewohner „übervölkerter Hamburger Stadtteilen 1900.
Wohnungen“
nach
nicht zu einer Beseitigung der Wohnungsnot, sondern zu ihrer Verlagerung nach Steinwerder, in den Billwerder Ausschlag und nach Horn geführt hatte.1 Zum anderen bestand auch im alten Stadtgebiet noch ein großes Gefälle zwischen den einzelnen Stadtvierteln. So war in der nördlichen Altstadt der Anteil der Bewohner übervölkerter Wohnungen mit 14,3 Prozent rund doppelt so hoch wie im Hamburger Durchschnitt. Noch deutlich prekärer war die Situation in der südlichen Neustadt. Dort lebte zur gleichen Zeit noch immer fast jeder sechste Bewohner in beengten Wohnverhältnissen. Betrachtet man die Situation in den neuen Vororten gesondert, so springt sofort die lokale Konzentration im Südosten des Stadtgebiets ins Auge. Obwohl in Horn der Anteil der Bewohner übervölkerter Wohnungen, der zeitweise bei fast 30 Prozent gelegen hatte, bis zur Jahrhundertwende wieder auf ein etwas erträglicheres Niveau gesunken war und 1
A.a.O., S. 349 f.
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Steinwerder und der Grasbrook im Zuge des Freihafenausbaus ihre Bedeutung als Siedlungsgebiete fast vollständig eingebüßt hatten, hatte sich die Ungleichheit der Wohnverhältnisse ganz offenkundig auch in der Hamburger Peripherie sozialräumlich verfestigt. Wie im alten Stadtgebiet, so waren es auch hier die elbnah gelegenen Stadtteile, in denen die bedrückendsten Wohnverhältnisse herrschten. Wie eingangs schon erwähnt, galten beengte Wohnverhältnisse den zeitgenössischen Beobachtern des Familienlebens als eine der Hauptquellen für die allgemeine „Entsittlichung“ der großstädtischen Unterschichtsbevölkerung. Ein Vergleich der geografischen Verbreitung der Unehelichkeit mit den Zentren der Wohnungsnot zeigt jedoch, dass die Zusammenhänge so einfach nicht waren.1 Höchstens in der nördlichen Altstadt, der südlichen Neustadt und vielleicht noch in Horn, wo hohe Unehelichenquoten mit einem hohen Anteil an Bewohnern überfüllter Wohnungen einhergingen, scheinen die Zahlen den behaupteten Konnex zu stützen. Viel auffälliger sind aber die Diskrepanzen: Die nördliche Neustadt war um 1900 ein Zentrum der Unehelichkeit, aber es lebten hier – relativ betrachtet – nicht besonders viele Einwohner in bedrückenden Wohnverhältnissen; umgekehrt massierten sich beengte Wohnverhältnisse außerhalb des Stadtkerns vor allem am Billwerder Ausschlag und auf der Veddel, während gerade hier unterdurchschnittlich wenige Kinder unehelich zur Welt kamen. Eine deutlich höhere Evidenz besaßen Erklärungsansätze, die die Haushaltsstruktur in ihre Überlegungen einbezogen. Wenn schon die Wohnraumdichte keine gesicherten Anhaltspunkte zur Erklärung der unterschiedlichen Grade „moralischer Entsittlichung“ lieferte, so gab es nach der Überzeugung vieler bürgerlicher Kritiker doch einen offenkundigen Zusammenhang zwischen hohen Unehelichenraten und der Verbreitung des Einlogierer- und Schlafgängerwesens. Die historische Forschung hat herausgearbeitet, dass die „halboffene Familienstruktur“ tatsächlich eines der wesentlichen Merkmale des Familienlebens der Arbeiterschaft in der Industrialisierungsepoche war.2 Den entsetzten Schilderungen der Zeitgenossen ist zu entnehmen, wie weit entfernt solche Strukturen vom bürgerlichen Ideal eines der öffentlichen Sphäre weitgehend entzogenen, auf die Kernfamilie reduzierten und auf Intimität bedachten Familienlebens waren.3 An dieser Stelle soll nicht näher auf die Gestaltung der Beziehung der Angehörigen von Arbeiterhaushalten untereinander eingegangen werden, auf die das zeitgenössische Erklärungsmodell anspielte. Auf diesen Gegenstand wird weiter unten zurückzukommen sein. An einer letzten Karte soll hier lediglich veranschaulicht 1 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Jackson [1981], der – auf Duisburg bezogen – zu dem gleichen Ergebnis gelangt. 2 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Gestrich [1999], S. 24. 3 Vgl. hierzu insbesondere: Asher [1865].
96 Karte 7:
Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
Prozentualer Anteil der Familienhaushalte mit Einlogierern oder Schläfern nach Hamburger Stadtteilen 1900.
werden, dass auch die monokausale Erklärung der Unehelichkeit aus dem „Schlafgängerunwesen“ empirisch kaum zu halten ist. Auf den ersten Blick zeigen Karte 4 und 7 noch gewisse Übereinstimmungen: wie die Unehelichkeit, so war auch die Untervermietung ein Phänomen, das schwerpunktmäßig in der nördlichen Innenstadt auftrat und von dort aus in die alsterzugewandten Teile St. Georgs und die südliche Neustadt ausstrahlte. Um diese Kerngebiete herum legten sich die neuen Vororte, in denen die Konzentrationen in Abhängigkeit von der Entfernung zum Zentrum langsam abnahmen. Aber abgesehen davon, dass der in Bezug auf die Unehelichkeit beobachtete Umkehreffekt bei der Verbreitung von Einlogierer- und Schlafgängerhaushalten fehlte, ist das konzentrische Verteilungsmuster im letzteren Falle viel uneindeutiger. Am auffälligsten ist die Diskrepanz zwischen Unehelichkeit und halboffener Familienstruktur auf der Veddel, deren Bevölkerung zwar zahlenmäßig kaum ins Gewicht fiel, die aber um 1900 herum bereits als Arbeiterstadtteil gelten
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kann.1 Jeder fünfte Haushalt bot hier einem Fremden Unterschlupf – trotzdem waren uneheliche Geburten offenbar eine seltene Ausnahmeerscheinung. Etwas weniger ausgeprägt, aber immer noch eindeutig war der Kontrast beider Phänomene in den benachbarten Stadtteilen Billwerder Ausschlag und St. Georg Süd (Hammerbrook). Das Beispiel St. Pauli zeigt schließlich, dass selbst im alten Stadtgebiet Einlogierer- bzw. Schlafgängeraufkommen und „Illegitimität“ nicht notwendigerweise miteinander korrespondierten. Die ehemalige Vorstadt bildete zusammen mit der nördlichen Alt- und Neustadt sowie St. Georg Süd das eigentliche Zentrum der „halboffenen Familienstruktur“, wies aber eine vergleichsweise moderate Unehelichenquote auf. Die eindimensionalen Erklärungsmodelle der Sozialreformer bildeten also die lokalen Verhältnisse und das komplexe Bedingungsgefüge der diskutierten sozialen Auflösungserscheinungen nur unzureichend ab. Zumindest im historischen Rückblick erscheint es naheliegender, beide Phänomene, sowohl die Unehelichkeit als auch die halboffene Familienstruktur, auf die prekäre Lage am Wohnungsmarkt und die spezifischen baulichen und infrastrukturellen Gegebenheiten der einzelnen Stadtteile zurückzuführen, anstatt eines monokausal aus dem anderen herzuleiten. Werner Matti hat in seiner Untersuchung zur Bevölkerungsentwicklung in Hamburg und Bremen im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass Engpässe in der Wohnraumversorgung einen negativen Effekt auf die Entwicklung der Gebürtigkeit hatten.2 Ähnlich kann vermutet werden, dass ein chronisches Unterangebot an geräumigen billigen Wohnungen Hausstandsgründungen erschwerte und im Sinne eines strukturellen Heiratshindernisses wirkte. Aus dieser Perspektive lässt sich die vermeintliche „Unsittlichkeit“ der Bevölkerung, für die die Unehelichenquote als Indikator herhalten musste, als Ausdruck einer Lebenslage deuten, in der sich tradierte und lange Zeit auch tolerierte lokale Verhaltensmuster („wilde Ehen“), gesamtgesellschaftliche Individualisierungsschübe und neue, durch die urbane Lebensweise und die industriellen Produktionsbedingungen erzeugte Restriktionen kumulativ verstärkten und der Ausbildung einer „familienförmigen Gesellschaft“ entgegenwirkten.
1
Möglicherweise lässt sich das beobachtete Auseinandertreten von Unehelichenquote und Einlogierer-Haushalten im Fall der Veddel auf die besondere Bebauungsweise der Flussinsel zurückführen. Zur politischen Befriedung der lohnabhängigen Bevölkerung hatte der Reeder Roman Miles Sloman in den Jahren 1878-1900 auf der Veddel etwa 300 für ihre Zeit relativ geräumige Arbeiterhäuser mit Vor- und Hintergärten errichten lassen. Holtmann/Skrentny [1986], S. 254. 2 Matti [1983], S. 139 f. und 152.
98
Unterschichtsfamilien und Sozialisationsbedingungen
2.2.3.2 Zwei lokale Armutszentren mit unterschiedlicher Baustruktur Im Folgenden sollen zunächst die besondere Baustruktur und die konkreten Wohnverhältnisse der Gängeviertel der Alt- und Neustadt sowie der neuen Arbeiterquartiere im Südosten Hamburgs (Hammerbrook, Billwerder Ausschlag) kontrastierend gegenübergestellt werden – jener Wohngebiete also, in denen die ärmsten Bevölkerungsschichten Hamburgs lebten, die sich aber hinsichtlich der „Familienorientierung“ ihrer Bevölkerung so grundlegend voneinander unterschieden.1
2.2.3.2.1 Die Gängeviertel der Alt- und Neustadt Als „Gängeviertel“ bezeichnete man in Hamburg die in ihrem Ursprung bereits auf das Mittelalter zurückgehenden, überwiegend aus Fachwerkbauten bestehenden und von schmalen Gassen – den „Gängen“ – durchzogenen Wohnviertel der Alt- und Neustadt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren diese Quartiere bereits einem fortgeschrittenen Verslumungsprozess ausgesetzt, der nicht nur dem oben erwähnten Zerfall stadtbürgerlicher Wohnformen und dem langsamen Wegzug der wohlhabenderen Bevölkerungsschichten zu verdanken war, sondern vor allem dem Umstand, dass die Nachfrage das Angebot an billigem Wohnraum bei weitem überstieg: Die Hauseigentümer hatten aufgrund dieser Marktlage offenbar kein nennenswertes Interesse daran, in kostspielige Instandhaltungs- und Baupflegemaßnahmen zu investieren.2 Bis in die frühen 1860er Jahre hinein, als mit der Aufhebung der „Torsperre“ das wichtigste Hindernis für die räumliche Ausdehnung der Stadt entfiel, hatte die Bevölkerungsvermehrung Hamburgs zu einer beispiellosen baulichen Verdichtung der innerstädtischen Wohnquartiere geführt.3 Die für Hamburg so typische, quer zu den Vorderhäusern verlaufende reihenhausartige und eingeschossige Hinterhofbebauung (die so genannten Buden) war von ihren Besitzern systematisch erweitert und häufig um ein zusätzliches Stockwerk, den so genannten Sahl, ergänzt worden.4 Von den Gängen aus waren diese Hinterhäuser durch einen Torweg zu erreichen, der in einen schmalen Hof überging, von dem aus man die zu beiden Seiten angeordneten Wohnungen betrat.5 Zwischen den Buden der einzelnen Höfe befand sich 1
Wischermann [1983], S. 349. Grüttner [1983], S. 359. 3 Wischermann [1983], S. 349. 4 Haspel [1984], S. 244. 5 Eine anschauliche grafische Darstellung der Baustruktur der Gängeviertel findet sich in: MedicinalCollegium [1901], S. 87 ff. 2
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bestenfalls ein schmaler Licht- und Luftschacht. Meist jedoch stießen die Rückwände der Häuserzeilen direkt aneinander, so dass die hinteren Zimmer fensterlos blieben. Es war absehbar, dass der bauliche Verdichtungsprozess bei anhaltendem Zuzug rasch an seine Grenzen stoßen würde. In der Folge rückten die Menschen immer enger zusammen. Das grassierende Wohnungselend, das sich Ende der 1860er Jahre in einer Übervölkerungsrate von 16 Prozent niederschlug, war nicht zuletzt eine Folge der beschränkten räumlichen Kapazitäten in der Innenstadt gewesen. Aber auch nach der Aufhebung der Torsperre konnte in den Innenstadtvierteln das Angebot die Nachfrage nach billigem Wohnraum nicht decken. Die anhaltende Attraktivität der zentralen Wohnlage gegenüber den am Stadtrand entstehenden Neubausiedlungen führt Wischermann neben der Einkommensentwicklung vor allem auf die lange Zeit nur unzureichende Verkehrsanbindung der neuen Vororte zurück.1 Die vergleichsweise niedrigen absoluten Mieten, welche die Unterschichtsbevölkerung in der Innenstadt zu zahlen hatte, waren für die angespannte Situation am Wohnungsmarkt der Gängeviertel offenbar nicht allein ausschlaggebend, denn tatsächlich lagen die Quadratmeterpreise hier rund doppelt so hoch wie in den neuen Vororten.2 Erst wenn man die beachtlichen Fahrtkosten für die öffentlichen Verkehrsmittel und vor allem die zu veranschlagenden Fahrzeiten in Rechnung stellt, wird das zähe Festhalten der ärmeren Bevölkerungsschichten an ihrer angestammten Wohnumgebung verständlich. Für im Hafen beschäftigte Arbeiter lohnte sich das Leben in den neuen Vororten finanziell offenbar nur dann, wenn sie den Weg zum Arbeitsort zu Fuß zurücklegen konnten. Aber wie schon angedeutet, stand diese Lösung nur denjenigen offen, die in relativ gesicherten Arbeitsverhältnissen mit geregelten Arbeitszeiten standen. Für Gelegenheitsarbeiter war es demgegenüber wichtig, die Arbeitsvermittlungsstellen am Hafen möglichst schnell und häufig frequentieren zu können, was von den neuen Vororten aus kaum möglich war.3 Wie weit der bauliche Verfallsprozess in den Gängevierteln Ende des 19. Jahrhunderts schon vorangeschritten und wie unzureichend und mangelhaft ihre sanitäre Erschließung war, trat in vollem Umfang erst ins öffentliche Bewusstsein, als Robert Koch und andere Abgesandte der Reichsregierung darangingen, die Ursachen der Cholera-Katastrophe vom Herbst 1892 zu erforschen.4 Es war nun kaum mehr möglich, den Bewohnern die alleinige Schuld an den hygieni1
Wischermann [1983], S. 352 ff. Vgl. zum Verhältnis von absolut billigen Wohnungsmieten und hohem Quadratmeterpreis auch die zeitgenössische Schilderung in: Saul/Flemming u. a. [1982], S. 153 f. 3 Grüttner [1983], S. 365. 4 Zu den berühmtesten Kommentaren über die Wohnverhältnisse der Gängeviertel wurde Robert Kochs anlässlich einer Ortsbesichtigung gemachte Äußerung: „Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin“ (zit. nach: Evans [1996], S. 398 u. 540). 2
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schen Missständen zu geben, wie dies 30 Jahre zuvor noch Asher versucht hatte.1 Die meisten der Wohnungen der Gängeviertel, in denen um 1890 etwa ein Zehntel aller Stadtbewohner lebten, verfügten weder über einen Wasserhahn noch über ein Klosett. Sowohl die zentrale Wasserentnahmestelle als auch der Ausguss und die gemeinschaftlich genutzten Latrinen befanden sich auf dem Hof. Letztere verfügten zwar in der überwiegenden Mehrzahl schon über eine Wasserspülung. Aber es gab noch eine Reihe von Höfen, die nicht an die Kanalisation angeschlossen waren.2 Im Vergleich zu früheren Zeiten, als man die Fäkalien bis zu ihrer Entsorgung durch die Bauern der Umgebung auf den Hausböden gesammelt hatte, stellte dies zwar schon eine bedeutende Verbesserung dar.3 Viele der Latrinen waren aber nur schlecht unterhalten und ständig verdreckt, so dass sie neben der Verseuchung des Leitungswassers zu einem der wichtigsten Übertragungsorte der Cholera wurden.4 Anlass zu Klagen gab auch der bauliche Zustand der Häuser und Straßen der Gängeviertel. Bemängelt wurde zum einen die unsolide und wenig umsichtige Bauweise. Immer wieder wurde auf zu dünnes Gemäuer und nicht belüftbare, dunkle und feuchte Zimmer bzw. Wohnkeller hingewiesen.5 Daneben ließ offenbar auch die Instandhaltung der Gebäude häufig sehr zu wünschen übrig: Berichtet wurde von schadhaften Kochstellen, nicht zu öffnenden Fenstern und unbe1 Zwar waren Stadtteile wie Barmbek, Hamm oder der Billwerder Ausschlag fast in gleichem oder sogar noch stärkerem Maße von der Seuche betroffen gewesen wie die Armenquartiere der Neu- und Altstadt. Aber der Umstand, dass sich die Straßen mit den meisten Opfern fast ausnahmslos in der Innenstadt befanden, sorgte in Verbindung mit der geografischen Nähe zu den Zentren bürgerlicher Macht und dem kollektiven Gedächtnis an frühere Seuchenausbrüche dafür, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit vorzugsweise auf die Armenquartiere des alten Stadtgebiets richtete. A.a.O., S. 525 f., 535 u. 541 f. 2 1890 waren in Hamburg bereits fast jedes Haus bzw. jeder Hof der Stadt an das Rohrleitungssystem angeschlossen. Nach dem „Hamburger Brand“ von 1842 hatte der Senat die Chance ergriffen, ein umfangreiches Sielsystem nach englischem Vorbild anzulegen. 1887 stellte man bei einer Überprüfung überrascht fest, dass in der Innenstadt und den beiden ehemaligen Vororten noch immer 5.000 Abritte nicht an das Kanalsystem angeschlossen waren. Bis 1898 war die Zahl der nichtangeschlossenen Gebäude und Toiletten zwar auf 900 resp. 2.000 gesunken. Hochgerechnet bedeutete dies jedoch, dass die Fäkalien von 20.000 Personen auf andere Weise als über das Sielsystem beseitigt werden mussten. Vgl.: A.a.O., S. 195 u. 186 f. 3 Vgl.: Medicinal-Collegium [1901], S. 58, Grüttner [1983], S. 359. 4 Evans [1996], S. 530 ff. 5 Vgl. zu den baulichen Mängeln: A.a.O., S. 540 u. S. 188 f.; Saul/Flemming u. a. [1982], S. 154 u. Medicinal-Collegium [1901], S. 59. Kellerwohnungen machten in Hamburg zur damaligen Zeit einen ganz erheblichen Teil des Gesamtwohnungsbestandes aus. Ähnlich wie in Berlin, Kiel und Breslau befand sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch in Hamburg und Altona etwa jede zwanzigste Wohnung im Souterrain (Ritter/Tenfelde [1992], S. 592 ff.). Kellerwohnungen waren noch kälter, dunkler und v.a. feuchter als die auf den Hinterhöfen gelegenen Buden und Sähle. Zwar waren sie für gewerbliche Zwecke sehr begehrt. Wer darin aber wohnte, gehörte in der Regel zu den Ärmsten der Armen.
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Abb. 1 u. 2:
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Links: Hof mit Buden und Sählen. Brauerknechtsgraben um 1904. rechts: „Die Brutstätten der Cholera in Hamburg“, Stich nach einer Fotografie von 1893.1
leuchteten Treppenaufgängen, in denen ein schmieriges Tau das Geländer ersetzen musste.2 Die ungenügende oder defekte Beleuchtung der Abortanlagen, von der immer wieder die Rede war, trug zur sorgsamen Nutzung dieser Gemeinschaftseinrichtung nicht eben bei. Anlass zur Klage gab schließlich auch die unzureichende Pflasterung der Gassen und der häufig miserable Zustand der Rinnsteine, die quer durch die Höfe und Gassen liefen.3 Vor dem Hintergrund der angespannten Lage am Wohnungsmarkt und der geschilderten widrigen baulichen und sanitären Verhältnisse lässt sich die in den vorangegangenen Abschnitten aufgeworfene Frage nach den Ursachen für die partielle Stagnation in der Ausbildung einer familienförmigen Gesellschaft und die vergleichsweise geringe „Familienorientierung“ der Bewohner der Gänge1 Deutlich zu erkennen ist der marode bauliche Zustand des Gebäudes und die charakteristische Dreitürgruppe. 2 Grüttner [1884a], S. 242. 3 Evans [1996], S. 176.
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viertel dahingehend beantworten, dass der Eingehung einer Ehe und der Gründung eines eigenen Hausstandes in den abbruchreifen Altbauvierteln Hamburgs gleich mehrere Faktoren entgegenstanden: Erstens gab es hier nur relativ wenige freie Wohnungen, um die nicht nur die Neuhamburger, sondern auch die Alteingesessenen in ihrem ständigen Bemühen konkurrierten, die Ausgaben zu minimieren. Um eine freie Wohnung zu ergattern, musste man demnach über gute soziale Kontakte verfügen, was unter Zuwanderern keine Selbstverständlichkeit war. Zweitens waren die Wohnungen für junge Paare oder Familien aus der ungelernten Arbeiterschaft nicht bzw. nur dann erschwinglich, wenn man einen Teil der Wohnung untervermietete. Das verringerte die ohnehin schon mangelhafte Wohnqualität noch weiter und konterkarierte selbst die bescheidensten Ansprüchen an ein Familienleben. Drittens gehörten viele der Männer im heiratsfähigen Alter jenem hochmobilen Personenkreis an, der sich nur provisorisch als Schlafgänger in den Gängevierteln niedergelassen hatte und auf konjunkturelle Einschnitte mit Abwanderungen innerhalb des Vierstädteraums HamburgAltona-Harburg-Wandsbek oder darüber hinaus reagierte.
2.2.3.2.2 Die neuen Arbeiterstadtteile im Südosten der Stadt Weitgehend außerhalb des durch den Choleraausbruch von 1892 ausgelösten öffentlichen Interesses standen die Wohnverhältnisse, die im südlichen St. Georg (Hammerbrook), dem angrenzenden Billhorner Ausschlag sowie Hamm Süd herrschten. Wie erwähnt, hatte auch hier die Cholera gewütet. Ungesunde Häuser, so hebt Evans hervor, mussten nicht unbedingt alt sein.1 Die seit den 1870er Jahren im Südosten der Stadt errichteteten Etagenhäuser waren meist schnell und billig hochgezogen worden.2 In der Regel wurden sie bezogen, noch bevor sie trocken waren. Die Straßen waren zum Teil nur unzureichend befestigt und an manchen Orten endeten die Abwasserrohre der Häuser noch im nächstgelegenen Straßengraben.3 Um die Wasserqualität der Bille, dem im Lauenburgischen entspringenden Flüsschen, das die Stadtteile durchzog, war es auch nicht besser bestellt als um die Fleete der Altstadt, denn sie transportierte den Urin von mehreren hundert Arbeitern einer flussaufwärts gelegenen Fabrik in die Elbe.4 Sielbrüche und -überschwemmungen scheinen am Billwerder Ausschlag an der Tages1
Evans [1996], S. 542. Vgl. hierzu: Hinrichsen [1983], S. 134. 3 Vgl.: Müller [1902], S. 21 u. den bei Evans [1996], S. 537 wiedergegebenen Bericht des Pastors Friedrich Werner über den Borstelmannsweg. 4 Seit der Jahrhundertwende trat an die Stelle der Verschmutzung durch organische Substanzen verstärkt die Verseuchung durch Chemikalien wie Arsen und Schwefelsäure A.a.O., S. 191 u. S. 667. 2
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Abbildung 3:
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Typische Hammerbrooker Schlitzbauten. Idastraße, um 1930.
ordnung gewesen zu sein. In den späten 1870er Jahren mussten die Bewohner der am Billhorner Röhrendamm gelegenen Kellerwohnungen gar um ihr Leben fürchten, weil Rohrbrüche regelmäßig ihrer Behausungen unter Wasser setzten. Offenbar waren nicht nur die Trinkwasserleitungen der benachbarten „Wasser kunst“ unzureichend geschützt, sondern auch die in den Damm eingelassenen Abwassersiele.1 Öffentliche Grünplätze waren in den neuen Vororten im Südosten Hamburgs rar, und anders als in der inneren Stadt sorgte die unmittelbare Nachbarschaft von Industrieanlagen und Bahnhöfen für Lärm und Gestank.2 All diese widrigen Bedingungen des näheren Wohnumfeldes dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wohnstandard am Hammerbrook und am Billwerder Ausschlag doch erheblich über dem der Gängeviertel lag.3 Sicher1
Müller [1902], S. 6 u. 24 A.a.O., S. 23 f. und Hinrichsen [1983], S. 136. 3 Wischermann [1983], S. 354 u. Grüttner [1983], S. 359. 2
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lich ließen die vom Senat erlassenen Baugesetzte in vielerlei Hinsicht noch zu wünschen übrig1, aber zumindest hatten sie bewirkt, dass die Wohnungen heller, luftiger und geräumiger wurden, mit fließend Wasser ausgestattet waren und in der Regel auch über eine eigene Toilette verfügten. In ihrer Anordnung und Anlage stellten die Etagenhäuser, die seit den 1880er Jahren in den neuen Vororten errichteten wurden, keineswegs ein Novum dar. Zum Leidwesen späterer Stadtplaner knüpfte man in Hamburg vielmehr an traditionelle Bauformen an und entwickelte diese zur so genannten Terrassenbauweise weiter.2 Die Vorderhäuser wurden üblicherweise als Schlitzbauten in T-Form konzipiert, mit geschlossener und in der Regel reich verzierter Vorderfront und glatt verputzter, mehr oder weniger tief eingeschnittener Hinterfassade.3 Durch die Schlitzbauweise konnten auch die zum Nachbargrundstück gelegenen hinteren Wohnräume mit Fenstern versehen werden, wie es die Hamburger Gesetzgebung forderte. Die Buden und Sähle Althamburgs waren durch mehrgeschossige, langgestreckte Hinterhäuser abgelöst worden, die im Unterschied zu jenen eine einheitliche, meist schmucklose Fassade besaßen, jedoch lange Zeit noch die charakteristische Dreitürordnung aufwiesen. An der rückwärtigen Seite waren sie durch einen relativ ausgedehnten Licht- und Lufthof vom Nachbargebäude getrennt.4 Ähnlich wie die Buden und Sähle der Gängeviertel waren auch die Hinterhäuser der neuen Vororte von der Straße aus durch einen Torweg zu erreichen. Die Höfe bezeichnete man jetzt als „Terrassen“. Auch sie verliefen häufig von der einen Seite des Häuserblocks bis zur nächsten Querstraße, waren aber nicht mehr durch die funktionale Durchmischung bestimmt, wie die Höfe der Gängeviertel, in denen sowohl gewohnt als auch gearbeitet wurde. Sie dienten jetzt ausschließlich der Reproduktion ihrer Bewohner.5 Auch in den neu errichteten Etagenhäusern mit ihren Terrassen scheint die tradierte Differenzierung der Bewohnerstruktur im Großen und Ganzen erhalten geblieben zu sein. Die Vorderhäuser waren den Besserverdienenden vorbehalten, 1 Nach dem Baupolizeigesetz vom 23. Juni 1882 musste jeder Wohnraum ein Fenster ins Freie haben, für die Ausdehnung von Lichtschächten und Höfen wurden erstmals Mindestmaße festgelegt und auch der Sielanschluss sowie die Anlage der Aborte wurde einer Neuregelung unterworfen. Mit der Baupolizeigesetznovelle vom 23. April 1893 wurde dann der Wohnstandard zum ersten Mal unter dem Gesichtspunkt der Gesundheitspflege umfassend neu geregelt. Vgl.: Medicinal-Collegium [1901], S. 59 u. Evans [1996], S. 648. 2 Haspel [1984], S. 245. 3 Wiek [1984], S. 248 4 Die Novelle des Baupolizeigesetz von 1893 bestimmte als Mindestbreite der Lichthöfe in den neuen Vororten vier Meter (Medicinal-Collegium [1901], S. 59). Nach dem 1882 erlassenen Gesetz waren auch Schlitzbauten mit deutlich schmaleren Lichthöfen erlaubt. Die um 1880 zwischen der Wendenund Sachsenstraße in Hammerbrook errichteten „Terassen“ standen in einem Abstand von nur eineinhalb Metern zueinander (Hinrichsen [1983], S. 136). 5 Vgl.: Haspel [1984], S. 246.
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waren geräumiger, heller und boten mehr Komfort (Badezimmer, Balkon). Dagegen lebten in den Terrassenwohnungen wie bisher die ärmeren Bevölkerungsschichten. Die Wohnungen waren hier nur mit einer Toilette ausgestattet und deutlich kleiner und dunkler als die Wohnungen des Haupthauses. Dennoch deutet vieles auf eine schrittweise Nivellierung der baulichen Unterschiede und eine allmähliche Homogenisierung der Bewohnerstruktur hin. Zumindest in den vor allem von Arbeitern bewohnten neuen Vororten zeichneten sich die verschiedenen Stockwerke des Vorderhauses kaum noch durch architektonische Besonderheiten aus. Eine „Belletage“ existierte hier nicht, und auch die Wohnungen eines Stockwerkes glichen sich hinsichtlich ihrer Größe und Ausstattung weitgehend.1 Es dominierte der Vierspännertyp mit 2-Zimmer-Wohnungen. Auch die Souterrain-Wohnungen der Vorderhäuser hatten durch die neuen baupolizeilichen Bestimmungen erheblich an Wohnqualität gewonnen. Sie wurden sukzessive höher gelegt und erhielten durch einen zwischen Straße und Souterrain angelegten Kellerkranz deutlich mehr Luft und Licht als bisher.2 Verglichen mit den Wohnungen des Vorderhauses waren die Terrassenwohnungen zwar kleiner, unkomfortabler und weniger repräsentativ. Aber auch hier hatte sich auf allen Etagen die Zweizimmerwohnung mit integrierter Toilette durchgesetzt. Vielleicht noch wichtiger als die Angleichung des baulichen und sanitären Standards der einzelnen Wohnungen innerhalb der Häuserblocks war die veränderte Gestaltung der Eingangsbereiche sowie der Wohnungsgrundrisse der Terrassenhäuser, weil sie konkrete Auswirkungen auf die Nutzung der Wohnfläche hatte. Die für die Hamburger Hinterhäuser charakteristischen separaten Eingänge für die im Parterre gelegenen Wohnungen wurden langsam aufgegeben. Statt dessen ging man auch hier zum Spännertyp über. Diese architektonische Veränderung hatte weitreichende Folgen. Im Unterschied zu früher, als die unterschiedlichen Hauseingänge vor allem der räumlichen und sozialen Abgrenzung zwischen Hausherren und Mietern gedient hatten, stand im Spännertyp die Trennung der Mieter untereinander im Vordergrund. Dieses Prinzip setzte sich auch innerhalb der Etagenwohnungen fort, denn hier war der zentrale Herdraum, der als Eingangsbereich fungiert hatte und von dem die einzelnen Zimmer abgingen, durch einen so genannten Vorplatz ersetzt worden.3 Damit aber konnte sich auch im Massenmietshaus ansatzweise eine Privatsphäre entwickeln.4 Die bisherigen Ausführungen zu den Bevölkerungs- und Wohnverhältnissen der Arbeiterviertel im Südosten Hamburgs lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Anders als in den Gängevierteln überwogen in Hammerbrook und 1
Wiek [1984], S. 250. A.a.O., S. 251 u. Medicinal-Collegium [1901], S. 61. 3 Haspel [1984], S. 246. 4 A.a.O. 2
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dem Billwerder Ausschlag in sich abgeschlossene Zweizimmerwohnungen, deren Miete zwar immer noch einen erheblichen Teil des Einkommens beanspruchte, deren Quadratmeterpreis aber deutlich niedriger lag als in der Innenstadt. Obwohl selbst Zeitgenossen an den Wohnverhältnissen noch manches auszusetzen hatten, verfügten die Wohnungen im Allgemeinen über deutlich bessere Sanitäranlagen, waren heller, luftiger und vor allem größer als ihre baulichen Vorgänger in der Innenstadt. Kritisiert wurde an den neuen Mietskasernen so auch weniger der Wohnstandard an sich, als vielmehr die ungewohnte hohe Auftürmung der Wohnungen und die Monotonie in der baulichen Gestaltung. Die größten Nachteile dieser Wohnviertel bestanden zweifellos in ihrer unzureichenden Verkehrsanbindung, der Zerschneidung durch Zufahrtsstraßen, Eisenbahnlinien und Kanäle, der unmittelbaren Nachbarschaft zu emissionsreichen Industrieansiedlungen und schließlich im fast vollständigen Fehlen öffentlicher Grünanlagen. Die konstatierte starke „Familienorientierung“ dieser Stadtteile ist neben der ländlichen Herkunft der Mehrheit ihrer Bewohner und dem Zuzug junger Paare und Familien aus den Innenstadtvierteln vor allem auf die Bausstruktur und die vergleichsweise günstige Lage am Wohnungsmarkt zurückzuführen. Zwar nahm der Billwerder Ausschlag zusammen mit dem benachbarten Horn und Hamm unter den neuen Vororten hinsichtlich der Übervölkerungsquote auch um die Jahrhundertwende noch eine Spitzenstellung ein. Aber zum einen lagen die Werte in den beiden erstgenannten Stadtteilen doch deutlich niedriger als in der nördlichen Altstadt bzw. dem elbseitigen Teil der Neustadt, und zum anderen darf ein hoher Anteil übervölkerter Wohnungen nicht automatisch mit einer Unterversorgung am Wohnungsmarkt gleichgesetzt werden. Das zeigte sich vor allem Mitte der 1890er Jahre, als sich infolge der Cholera das Bevölkerungswachstum Hamburgs vorübergehend verlangsamte: Während in der Innenstadt die Wohnungssituation angespannt blieb, stand zur gleichen Zeit am Billwerder Ausschlag und in Hamm fast jede zehnte Wohnung leer. Entsprechend hoch war die Umzugshäufigkeit der Bevölkerung. Am Billwerder Ausschlag und in St. Georg hatte 1895 mehr als ein Drittel aller Wohnungen eine Bezugsdauer von unter einem Jahr.1 Die sozialhistorische Forschung hat gezeigt, dass die meisten Umzüge von Arbeiterhaushalten Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb eines Quartiers stattfanden. Insbesondere junge Familien haben sich offenbar bei der Wohnungssuche am Stadtteil orientiert, wobei das fortgesetzte Bemühen, eine immer noch billigere Wohnung zu finden zwar eine zentrale, wahrscheinlich aber nicht die allein
1
Wischermann [1983], S. 354 f.
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ausschlaggebende Rolle spielte.1 Gerade dort, wo das Angebot an günstigem Wohnraum die Nachfrage überstieg, waren die Umzüge durch den wachsenden Raumbedarf der sich vergrößernden Familien und zum Teil wohl auch durch die gestiegenen Ansprüche an Wohnkomfort motiviert. Ganz abgesehen davon, dass viele der ungelernten Arbeiter ihre Bräute aus ihrem Herkunftsort nachholten und vermutlich auch die durch die Bevölkerung ausgeübte Sittenkontrolle eine ungleich stärkere war als in den Innenstadtviertel, entfiel in Hammerbrook und dem Billwerder Ausschlag der Wohnungsmangel als möglicher Grund für aufgegebene oder einseitig aufgekündigte Heiratspläne. Neben erheblichen mentalitätsbedingten Unterschieden, soviel sollte deutlich geworden sein, gab es ganz handfeste strukturelle Gründe für die festgestellten Differenzen in der Familienorientierung der beiden wichtigsten Wohnbezirke der ungelernten Arbeiterschaft Hamburgs. Natürlich beeinflussten bzw. verstärkten sich beide Faktoren wechselseitig: Die Bevölkerung passte sich in ihrem Verhalten den strukturellen Bedingungen des urbanen Lebensraumes genauso an, wie der privatwirtschaftlich finanzierte aber öffentlich gelenkte Wohnungsbau dem Bedarf und den Ansprüchen der Arbeiterbevölkerung mehr und mehr Rechnung trug. Aber in den hochverdichteten Innenstadtvierteln lief der Anpassungsprozess doch relativ einseitig. Das unzureichende Angebot an gesundem und vor allem erschwinglichem Wohnraum stellte hier ein wesentliches Hindernis für die Adaption kleinbürgerlicher Lebens- und Familienformen dar.
2.2.3.3 Proletarische Wohnkultur und Wohnraumnutzung Trotz der bedeutenden Differenzen, die hinsichtlich der Baustruktur und des Wohnraumangebotes zwischen den Gängevierteln und den weiter elbaufwärts gelegenen neuen Arbeitervororten existierten, dürfte sich die innere Ausgestaltung der Arbeiterwohnungen doch weitgehend geglichen haben, denn hier wie dort war der Platzmangel für die Nutzung des Wohnraumes bestimmend. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber bürgerlichen Wohnarrangements bildete die verhältnismäßig geringe funktionale Ausdifferenzierung der Wohnräume. Zwar machten die neuen 2-Zimmer-Etagenwohnungen, die am Hammerbrook und dem Billwerder Ausschlag entstanden waren, eine zweckdifferenzierte Nutzung zumindest in Ansätzen möglich; der wirtschaftliche Zwang zur Untervermietung und der Kinderreichtum der Familien schränkte solche Spielräume allerdings schnell wieder ein. Das Zentrum der „inneren Architektur“ der Arbeiterwohnung bildete die Wohnküche. Da sie gewöhnlich der einzige 1 Vgl. zu den Umzugsmotiven: Ritter/Tenfelde [1992], S. 614; Langewiesche [1977], S. 29 sowie das bei Wischermann [1983], S. 339 zitierte Beispiel der Familie Turek.
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dauerhaft beheizte Raum war, spielte sich in ihr das soziale Leben der Familie ab. Die Küche diente sowohl als Ess- und Geselligkeitsraum als auch als Arbeits-, Spiel- und Schlafstätte.1 Die eigentlichen Zimmer dienten vorzugsweise als Schlafräume. Nicht selten mussten sich zwei, manchmal sogar drei Bewohner ein Bett teilen. Dennoch legte man offenkundig sehr viel Wert darauf, Mädchen und Jungen, sobald sie in die Pubertät kamen, räumlich voneinander zu trennen und nicht mehr beieinander schlafen zu lassen.2 Während Schlafgänger in den alten Wohnvierteln nicht selten in einem Raum mit den Familienangehörigen unterkamen, war es im Hammerbrook und im Billwerder Ausschlag üblich, das größte und hellste Zimmer komplett unterzuvermieten, weil auf diese Weise die höchsten Einnahmen erzielt werden konnten.3 Waren die wirtschaftlichen Verhältnisse günstiger, so richtete man den besten Raum für Repräsentationszwecke als „gute Stube“ her und verzichtete auf seine alltägliche Nutzung. Diese Art von „Raumverschwendung“ wurde von bürgerlichen und sozialistischen Wohnungsreformern ebenso scharf verurteilt wie das gemeinsame Nächtigen mehrerer Personen und Geschlechter in einem Bett. Viele von ihnen stellten sogar einen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen her. So galt es unter zahlreichen bürgerlichen Reformern als ausgemachte Tatsache, dass die beengten, unhygienischen und sittengefährdenden Wohn- und Schlafverhältnisse ein hausgemachtes Problem seien. 1893 ließ die linksliberale Frauenrechtlerin Minna Wettstein-Adelt ihrer Meinung über diese „Unsitte“ freien Lauf, mit der sie während ihrer mehrmonatigen verdeckten Feldforschung über die Lebensverhältnisse von Berliner Arbeiterinnen Bekanntschaft gemacht hatte: „Es ist sehr zu bedauern, daß die ärmsten Arbeiterfamilien auf eine ‚gute Stube’ halten, daß sie lieber mit sechs bis acht Personen in einer Kammer schlafen, um die geräumige und luftige Stube nicht mit Betten zu verunstalten. So kommt es, daß das Missverhältnis zwischen der Enge des Raumes und der Anzahl seiner Bewohner ein himmelschreiendes ist, daß die Kinder in diesen Räumen verkommen müssen, daß die Erwachsenen keinen erquickenden Schlaf finden und Morgens elender und geschwächter aufstehen, denn sie sich Abends niedergelegt haben.“4
Zu den Unterschieden in Bezug auf die Raumnutzung kamen Differenzen in Bezug auf die Ausstattung und Ausschmückung der Behausungen. Nach Rit1
Ritter/Tenfelde [1992], S. 617. A.a.O., S. 590. Mädchen und Jungen im Säuglings- oder Kleinkindalter schliefen demgegenüber häufig bei den Eltern. Vgl. zu den Schlafarrangements auch die zeitgenössischen Schilderungen in: Saul/Flemming u. a. [1982], S. 154. 3 Schult [1967], S. 32. 4 Zit. nach: Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 163. 2
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ter/Tenfelde lassen sich die Arbeiterhaushalte des Kaiserreichs im Hinblick auf ihre Ausstattung grob in drei Kategorien unterteilen.1 In die erste Gruppe fielen all jene Haushalte, in denen weniger Stühle, Betten, Tische und/oder Küchengeräte vorhanden waren, als nach ihrer Mitgliederzahl vonnöten gewesen wären. Eine mittlere Kategorie umfasste Haushalte, in denen die erforderliche Grundausstattung an Mobiliar, Geschirr etc. vorhanden war.2 Schließlich gab es eine zahlenmäßig zunächst wohl eher dünne, aber allmählich zunehmende Schicht von Arbeitern, die sich eine „Luxusausstattung“ leisten konnten, das heißt Möbel und Zierrat, die über den Grundbedarf deutlich hinausgingen und für den alltäglichen Gebrauch kaum eine Bedeutung besaßen. Gerade die Arbeiterwohnungen mit der „luxuriösen Ausstattung“ waren häufig durch eine ausgesprochen kleinbürgerliche Ästhetik geprägt, welche die bürgerlichen Zeitgenossen und Wohnungsreformer mal missbilligend, mal wohlwollend zur Kenntnis nahmen. Wie das Urteil ausfiel, hing vor allem vom Geschmack und der weltanschaulichen Neigung der Kommentatoren ab. Wettstein Adelt zeigte keinerlei Verständnis für die „allerlei unnützen kleinen Dinge“3, die sie in den „guten Stuben“ der Berliner Arbeiterinnen vorfand. Weitaus versöhnlicher gab sich dagegen der Vertreter eines evangelischen Arbeitervereins, der 1891 die Wohnung einer besser situierten Arbeiterfamilie in einem der Hamburger Gängeviertel besucht hatte. Sein Bericht gibt Zeugnis davon, mit welchem Eifer Arbeiterehepaare teilweise bemüht waren, auch dürftigsten Wohnverhältnissen einen biederen Charme und eine gewisse Ansehnlichkeit abzutrotzen. „Der Vermieter liefert nur das nötige Material und der Arbeiter selbst bessert sich dann die Fehler aus, ohne dafür Vergütung zu erhalten. In der Regel findet man die Stuben tapeziert, Küche und Kammer geweißt. Die Bilder, welche die Stube zieren, sind entweder von einem Leseabonnement oder auf Abzahlung genommen; dann findet man einige Familienbilder, Bilder sozialdemokratischer Führer und in neuerer Zeit die gestickten Verse, eine Nachbildung unserer guten, christlichen Wandsprüche, jetzt aber mit sozialdemokratischem Inhalt versehen. An Mobiliar findet man Sofa, Tisch, gepolsterte Stühle, Kommode, Kleiderspind und meistenteils jetzt auch eine Nähmaschine (diese natürlich auf Abzahlung). Tritt man überhaupt in eine Wohnung ein, so weiß man auf den ersten Blick, mit wem man es zu tun hat, und
1
Ritter/Tenfelde [1992], S. 602. Vgl. auch die Angaben zum Schmuck und zur unterschiedlichen Innenausstattung von Arbeiterwohnungen im Hammerbrook bei Classen [1932], S. 64 f. 2 Zu dieser Kategorie, die zumindest in den neuen Hamburger Vororten vorherrschend gewesen sein dürfte, zählte auch die Wohnung, in welcher Wilhelm Kaisen, Jahrgang 1887, aufwuchs. Vgl.: Kaisen [1967], S. 11 f. 3 Zit. nach: Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 163.
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findet es sich bei christlichen Arbeitern auch nur ärmlich, so ist der christliche Sinn doch gleich zu sehen.“1
Die Dekoration von Arbeiterwohnungen mit unnützen, biederen „Staubfängern“ war übrigens auch den sozialistischen Wohnungsreformern ein Dorn im Auge. Sie galt nicht nur als unpraktisch, sondern wurden gleichsam als Ausdruck des verheerenden ästhetischen Einflusses des Bürgertums gewertet. Die Gegenkonzepte einer „proletarischen Wohnkultur“ fanden allerdings bei den einfachen Arbeitern nur wenig Anklang.2 Respektabilität konnten sich Arbeiterehepaare unter ihresgleichen offenbar immer noch am besten verschaffen, wenn sie zeigten, dass sie in der Lage waren, wie Kleinbürger zu leben. Die gestickten Verse mussten als Ausweisschilder der rechten Gesinnung genügen. Große Ordnung und Sauberkeit scheint hingegen kein alleiniges Merkmal von luxuriös ausgestatteten Arbeiterhaushalte gewesen zu sein. Auch in Wohnungen, die nur mit einer Standardausstattung versehen waren, herrschte in der Regel große Aufgeräumtheit und penible Reinlichkeit.
2.2.4 Arbeit, Einkommen und Haushalt Für das Familienleben und die Erziehung von Kindern hatten neben der Zusammensetzung der Familien und den Wohnverhältnissen vor allem die Arbeits- und Einkommensverhältnisse der Eltern eine herausragende Bedeutung: Einerseits bestimmten sie ganz konkret die Lebensbedingungen der Familie, das heißt zunächst einmal den Speisezettel und die Beschaffenheit der Wohnung, aber auch die Anzahl der zur Verfügung stehenden Betten und den mehr oder weniger akuten Zwang zum Mitverdienst der übrigen Familienangehörigen. Auf der anderen Seite hing von ihnen auch ab, wie viele Stunden am Tage die Eltern ihre Kinder zu Gesicht bekamen, welche Möglichkeiten sie besaßen, dieselben zu beaufsichtigen und zu erziehen, und nicht zuletzt, wie viel Energie den Müttern und Väter verblieb, sich ihnen persönlich zuzuwenden. Für die Entwicklung des Familienlebens im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft war die funktionale Ausdifferenzierung von Arbeit und Haushalt kennzeichnend. Auch in der großstädtischen Unterschicht war die Einheit von Wohnen und Arbeiten immer seltener anzutreffen. Der Haushalt verlor langsam aber sicher seine unmittelbar produktiven Funktionen. Die Familie wurde zur Konsumtions-, Wohn- und Schlafgemeinschaft. Immer deutlicher und schärfer zeichneten sich die geschlechtsspezifischen Disparitäten im Alltags- und 1 2
Saul/Flemming u. a. [1982], S. 149 Vgl. hierzu: Grau [1984].
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Arbeitsleben der Erwachsenen ab: Die Männer besorgten die Lohnarbeit und bewegten sich – zumindest tagsüber – außerhalb des Hauses, während die Frauen für den privaten, reproduktiven Bereich, den Haushalt, den Einkauf und die Kindeserziehung, zuständig wurden. Die funktionalistische Betrachtungsweise der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung abstrahiert allerdings zwangsläufig von der Komplexität und Vielgestaltigkeit der realen Verhältnisse. Nicht in allen Gesellschaftsschichten vollzog sich der Prozess der Entfunktionalisierung der Familie gleichzeitig und mit der gleichen Konsequenz. Es gab Verzögerungen, dann wieder Phasen beschleunigter Entwicklung und sogar gegenläufige Tendenzen. Gerade wenn man die Arbeitsverhältnisse und Einkommenssituation der ungelernten Arbeiterschaft betrachtet, verwischen die Konturen und die suggerierte Linearität der Ausdifferenzierung von Arbeit und Haushalt verliert an Überzeugungskraft. Im Folgenden soll schlaglichtartig an einigen Beispielen aufgezeigt werden, welche Auswirkungen die Arbeits- und Einkommensverhältnisse in einigen Haupterwerbszweigen der Unterschichtsbevölkerung auf das Familienleben hatten. Für junge, ungelernte männliche Arbeitskräfte – egal, ob sie gerade erst zugewandert waren oder schon lange in Hamburg lebten – bot der Hafen rein quantitativ gesehen die günstigsten Beschäftigungsmöglichkeiten.1 Vor allem die Einrichtung des Freihafens und der Bau der Speicherstadt hatten den Bedarf an unqualifizierten, jederzeit verfügbaren Arbeitskräften sprunghaft anwachsen lassen.2 Die Hafenarbeiterschaft war in sich stark differenziert. Nach Bieber zerfiel sie in wenigstens 15 verschiedene Berufsgruppen.3 Nur wenige Tätigkeiten, wie die der Ewerführer und Maschinisten, setzten eine berufliche Qualifizierung in Form einer Ausbildung bzw. des Absolvierens einer Prüfung voraus. Allen Tätigkeiten war indes gemein, dass sie außerordentlich hohe physische Anforderungen an die Arbeiter stellten und dem Takt des Ein- und Auslaufens der Schiffe, den Launen des Wetters und nicht zuletzt natürlich den konjunkturellen Schwankungen im Jahresverlauf unterlagen. Darin ähnelte die Hafenarbeit stark den Beschäftigungsverhältnissen, die man in der Berufsgruppe der „Steine und Erden“ antraf.4 Charakteristisch für die im Hafen beschäftigten ungelernten Arbeiter war die „Instabilität ihrer Existenzweise“5: Sie arbeiteten zumeist im Tagelohn, wa1 Zum Folgenden vgl.: Ullrich [1976], S. 40-44; Bieber [1983]; Grüttner [1984b] und Ritter/Tenfelde [1992], S. 331 f. 2 1895 waren im Hamburger Handelsgewerbe knapp 18.500 ungelernte Arbeiter tätig, das entsprach mehr als einem Drittel aller unqualifiziert beschäftigten männlichen Personen. Stat. Hbg. Staats, Heft XVIII 1900, II. Abt., Tabellen II 18 - II 33. 3 Bieber [1983], S. 229. 4 Ritter/Tenfelde [1992], S. 329. 5 Grüttner [1984b], S. 110.
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ren also, sobald ein Schiff gelöscht und wiederbeladen worden war, ohne Einkommen und mussten sich aufs Neue um Arbeit bemühen. Noch im Jahre 1913, als bereits ein Gutteil der im Hafen Beschäftigten über feste Arbeitsverträge verfügte, belief sich die durchschnittliche Beschäftigungsdauer der Hilfsarbeiter auf nur 17,7 statt möglicher 26 Tage im Monat. Übers Jahr verteilt entfielen durchschnittlich nicht weniger als 32 Arbeitsvermittlungen auf einen Hafenarbeiter.1 Sowohl im Verlauf der Wochen als auch im Verlauf des Jahres wechselten sich im Leben dieser Lohnarbeiter demnach Zeiten maximalen Arbeitseinsatzes und relativ guten Verdienstes mit solchen des Leerlaufs, der Erholung und der mehr oder weniger dringlichen Suche nach neuen Erwerbsmöglichkeiten ab. Dieser eigenartige Rhythmus der Lebensweise war keineswegs nur strukturell bedingt. Er hatte sich vielmehr tief in die Mentalität der Hamburger Hafenarbeiterschaft eingegraben. Gearbeitet wurde in der Regel nur so lange, wie es nötig war, um sich über die nächsten paar Tage zu retten. Ein optimales Einkommen zu erzielen, sich gar etwas auf die Seite zu legen, schien angesichts der allgemeinen Unsicherheit der Existenz ein ganz aussichtsloses Unterfangen zu sein. Entsprechend dieser im vorkapitalistischen Zeitalter weit verbreiteten Mentalität stießen auch die Versuche der Arbeitgeber, die Beschäftigungsverhältnisse zu verstetigen, unter den Hafenarbeiter anfänglich auf wenig Gegenliebe, was sie von bürgerlicher Seite sogleich dem Vorwurf der „Arbeitsscheu“ aussetzte.2 Die Prekarität der Existenzbedingungen der ungelernten Hafenarbeiter bezog sich nicht nur auf ihren eigenen Unterhalt und ihre eigene Lebenssituation. Sie wirkte sich notwendigerweise auch auf ihre Chancen zur Eheschließung und Hausstandsgründung sowie – falls sie bereits Frau und Kinder hatten – auch nachhaltig auf die Situation ihrer Familienangehörigen aus. Das betraf zunächst einmal die materielle Absicherung. 1896 konnte ein ungelernter Hafenarbeiter mit einem Tagelohn von zwei bis fünf Mark rechnen.3 Das war gemessen am Einkommen von Industriearbeitern eher viel, in Anbetracht der nachfragebedingten oder selbst zu verantwortenden Arbeitsausfälle im Verlauf eines Jahres aber sehr wenig. Mehr als 800-900 Mark Jahreseinkommen erzielte ein Hafenarbeiter Mitte der 1890er Jahre kaum.4 Da aber nach vorsichtigen Berechnungen schon für das Jahr 1888, das als Auftaktjahr einer langjährigen Preissteigerungswelle 1
Ebd. und Ullrich [1976], S. 42. Diese moralisierende Interpretation übersah, dass die Arbeit im Tagelohn, so unsicher und risikobehaftet sie auch sein mochte, für die Beschäftigten ein erhebliches Maß an Selbstbestimmung bedeutete – und v.a. auch die Möglichkeit zu kollektiven Protestformen bot. Wer nicht fest angestellt war, brauchte auch nicht seine Entlassung zu fürchten und konnte sich im Falle unzureichender Bezahlung getrost an Arbeitsniederlegungen beteiligen. 3 Ullrich [1976], S. 40. 4 Damit rangierte diese Berufsgruppe am untersten Rand der Einkommensskala der Hamburger Arbeiterschaft. Bieber [1983], S. 231. 2
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gilt, das Jahresmindesteinkommen einer fünfköpfigen Familie 1040,- Mark betrug1, ist klar, dass ein Hafenarbeiter, der seine Familie ohne Inanspruchnahme von Armenunterstützung durchbringen wollte, zwingend und in der Regel auch dauerhaft auf den Mitverdienst der Familienangehörigen oder andere Nebeneinkünfte angewiesen war.2 Konkretere Aufschlüsse über die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sich Hafenarbeiterfamilien zur damaligen Zeit befanden, liefern die Auflistungen einer Arbeiterfrau aus dem Sommer 1898.3 Ihr Ehemann arbeitete schon nicht mehr im Tagelohn, sondern hatte eine der Festanstellungen ergattert, mit der man nach dem großen Hafenarbeiterstreik von 1896/97 die Loyalität der streitfreudigen Kaiarbeiter und Schauerleute sicherzustellen hoffte. Mit einem regelmäßigen Wochenlohn von 24,- Mark gehörte auch er bereits zu den privilegierten Hafenarbeitern. Allerdings wurde dieser Lohnvorteil dadurch wieder aufgehoben, dass das Ehepaar acht Kinder zu ernähren hatte, was selbst unter Hilfsarbeitern zur damaligen Zeit außergewöhnlich war. Die Frau selbst arbeitete stundenweise in einem Kleiderladen, wofür sie statt Geld jedoch nur Unterwäsche und Kinderbekleidung erhielt. Die älteste, bereits 18-jährige Tochter bekam für eine Teilzeitbeschäftigung noch einmal eine Mark wöchentlich, die ebenfalls in die Familienkasse wanderte. Zusammen mit den Zuwendungen in Höhe von knapp zwei Mark, welche die Familie von wohlhabenden Gemeindemitgliedern erhielt, beliefen sich die wöchentlichen Einnahmen auf rund 26,50 Mark – aufs Jahr hochgerechnet also 1.378 Mark. Nimmt man die Gesamteinnahmen aus den 18 Wochen, die die Haushaltsrechnungen abdecken, zum Maßstab, so verteilten sich die Ausgaben wie folgt: Der Löwenanteil von 72,5 Prozent wurde für Essen ausgegeben, fast 18,8 Prozent verschlang die Miete für die vermutlich in unmittelbarer Hafennähe gelegene und dadurch recht teure Vierzimmerwohnung4, während 1
Evans [1996], S. 108. Diese außerordentlich prekäre Lage der ungelernten Hafenarbeiter hat sich bis 1914 anscheinend kaum gebessert. Zwar zog der Lohn etwas an: 1910 reichte die Einkommensspanne im Tagelohn von 3,40 bis 6 Mark, und eine Jahr vor dem Krieg belief sich der wöchentliche Minimallohn des Großteils der Schauerleute, Speicher- und Kaiarbeiter sogar auf 25 Mark. Aber zum einen hatte sich an ihrer relativen Stellung zu anderen Beschäftigtengruppen kaum etwas geändert und zum anderen entsprach dem Lohnanstieg eine mindestens ebenso starke Zunahme der Nahrungsmittel-, Bekleidungs- und Mietpreise. Nach Berechnungen des Transportarbeiterverbandes von 1910 hätte erst ein regelmäßiger Wochenlohn von 35 Mark dem Existenzminimum einer vierköpfigen Familie entsprochen (Ullrich [1976], S. 40 u. 32). Differenzierte Angaben zur Preissteigerung bei Mieten und Nahrungsmitteln finden sich bei: Evans [1996], S. 104 ff. 3 „Mitteilungen aus der Arbeit der Hamburger Stadtmission“, 20/1899, S. 77-85. 4 Der Prozentwert bezieht sich nur auf die tatsächlich gezahlte Miete. Da die Familie nach den 18 Wochen mit fast zehn Mark in Mietrückstand geriet, war die tatsächliche finanzielle Belastung durch die Miete noch um einiges höher, als der Prozentwert vermuten lässt. Aufschlussreich ist ein Vergleich mit den Mietaufwendungen einer ebenfalls zehnköpfigen Werftarbeiterfamilie aus der gleichen Zeit. Diese musste nur knapp 15% des regulären Lohnes für ihre Drei-Zimmer-Sahlwohnung 2
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Versicherungsbeiträge und Steuern zusammen 3,9 Prozent der Gesamteinnahmen ausmachten. Lediglich 2,1 Prozent – es war Sommer – wurden für Feuerung und Beleuchtung aufgewendet, und noch einmal 1,2 Prozent waren für den Ankauf von Seife, Wasch- und Putzmittel erforderlich. Der Rest musste für die Anschaffung und Reparatur von Schuhwerk und Bekleidung, für Kurzwaren und sonstige Utensilien des täglichen Bedarfs (8,3 Prozent) sowie für die Tilgung von Schulden und Zinsen aus verpfändeten Gegenständen ausreichen (5,2 Prozent).1 Schon dieser letzte Prozentwert, der für absolute 23 Mark steht, führt eindringlich vor Augen, wie eng das Haushaltsbudget der zehnköpfigen Familie bemessen war: Obwohl die Eltern nicht unbedeutende Zuwendungen von Dritten erhielten, sich keinerlei Vergnügungen erlaubten und wegen der günstigen Witterung auch bei Beheizung und Beleuchtung sparen konnten, mussten sie Schulden machen, um über die Runden zu kommen. Ohne „Anschreiben“ und Mietstundung, ohne Lohnvorschüsse und das Abrufen mildtätiger Nächstenliebe war das Bestreiten des Lebensunterhaltes unmöglich. Schon wenn außerordentliche Aufwendungen erforderlich wurden, der Mann ein paar neue Schuhe oder ein Kind eine Medizin benötigte, konnte sich die finanzielle Situation dramatisch zuspitzen. Obwohl sich die Zahlen wegen der unterschiedlichen Bezugsgrößen nicht wirklich vergleichen lassen, wird außerdem deutlich, dass die fixen Kosten wie Miete, Steuern und Versicherung bei einer Hafenarbeiterfamilie deutlich stärker zu Buche schlugen als bei den relativ gutsituierten Arbeitern, deren Einkommens- und Ausgabesituation in einer Erhebung des Statistischen Büros von 1907 erfasst worden war.2 War keine günstigere Wohnung zu finden, so konnte nur bei den flexiblen Kosten, also bei der Bekleidung, der Feuerung und Beleuchtung sowie natürlich aufwenden, sich aber auch mit einer Wohnfläche von nur 20,4 qm begnügen (Saul/Flemming u. a. [1982], S. 153 f.). 1 Dass sich die Prozentwerte auf insgesamt 112% summierten zeigt an, dass die Familie im Verlauf der dreieinhalb Monate erheblich mehr ausgab, als sie tatsächlich zur Verfügung hatte. 2 May [1915], S. 500. Befragt wurden 144 gelernte und 50 ungelernte Arbeiter. Von ihrem Lohn mussten sie 50,1% (52%), für Nahrungsmittel, 15,8% (16,7%) für Wohnungsmiete, 10,9% (11,1%) für Bekleidung sowie für Steuern und Versicherung 3% (3,5%) aufwenden. Ganze 4,5% (3%) des Lohnes wurden für „Unterhaltung und Vergnügen“ ausgegeben, während die restlichen 15% (13,8%) für die Begleichung von Heiz- und Beleuchtungskosten, Fahrgeld usw. ausreichen mussten. Wenngleich solche Zahlen belegen, dass es zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern gewisse Unterschiede in der Ausgabenverteilung und den sich dabei eröffnenden Entscheidungsspielräumen gab, so vermitteln sie doch kein angemessenes Bild von der Situation in der breiten Masse der Arbeiterhaushalte. Mit einem Jahreseinkommen von 2.170 bzw. 2.076 Mark gehörten die Befragten beider Gruppen schon zu den Spitzenverdienern der Arbeiterschaft, und auch die durchschnittliche Haushaltsgröße von 4,1 resp. 4,2 deutet darauf hin, dass die Stichprobe nicht ohne weiteres verallgemeinert werden kann.
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beim Essen gespart werden. Die Lebensmitteleinkäufe der Mutter lassen ihr Bemühen in diese Richtung erkennen. Der Speiseplan war zwar erstaunlich abwechslungsreich – was von der Kreativität der Mutter im Umgang mit den knappen Ressourcen zeugt. Vom Käse über Flieder- und Bickbeeren bis hin zu saisonalem Gemüse wie Bohnen und Steckrüben, verschiedenen Fischen und Fleisch kam alles auf den Teller. Dennoch überwogen Kartoffel- und Getreidezubereitungen jeglicher Art. Wenn einmal ein Stück Fleisch auf den Teller kam, dann stammte es vom Pferd oder Ochsen. In der Woche begnügte man sich zur Deckung des Eiweiß- und Fettbedarfs mit dem billigen Hering, mit ein paar Eiern, Grützwurst oder schlicht Knochen.1 Neben der materiellen Absicherung waren die Beschäftigungsverhältnisse des „Haupternährers“ aber noch in einer anderen Hinsicht von ausschlaggebender Bedeutung für das Familienleben: Die Arbeitszeiten gaben vor, wie viel Zeit den Männern potenziell zur Verfügung stand, um sich ihrer Familie über die mehr oder weniger festgeschriebene Ernährerrolle hinaus zu widmen. Bis 1912 betrug die Arbeitszeit der Hafenarbeiter zehn Stunden. Rechnet man eine angenommene Wegezeit von 1-1½ Stunden pro Tag hinzu, so lässt sich leicht ermessen, wie spärlich unter der Woche die Zeit bemessen war, in der die Frauen ihre Männer und die Kinder ihre Väter zu Gesicht bekamen. Wohnten die Arbeiter nahe am Arbeitsort, so konnten sie ggf. die Mittagsmahlzeit zuhause einnehmen. Das erhöhte allerdings wieder die Wegezeiten und Transportkosten und zog den Arbeitstag insgesamt in die Länge. Die Mehrzahl der Arbeiter scheint deshalb dem „Henkelmann“ den Vorzug gegeben oder in einer der zahllosen Kaffeeklappen gegessen zu haben. Selbst dieses Bild ist jedoch noch geschönt, denn Überstunden und Akkordarbeit waren im Hafen eher die Regel als die Ausnahme. Ullrich geht davon aus, dass Arbeitsschichten von 24 bis 35 Stunden keine Seltenheit waren, die Arbeiter ihre Familien also häufig tagelang nicht sahen.2 Die Hafenarbeiter stellten keineswegs die einzige Beschäftigtengruppe dar, die mit ihren Familien in derart prekären Verhältnissen lebten. Ganz ähnlich erging es auch den ungelernten Arbeitern im Schiffbau, der chemischen Industrie, der Farb- und Gerbstoffproduktion sowie der Mineralöl-, Fett- und Speiseölher-
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Der anonym gebliebene Geistliche, der die Rechnungen kommentierte, zeigte denn auch viel Verständnis für die schwierige Einkommenslage der Familie, enthielt sich aller moralisierenden Deutungen und lobte die umsichtige Ausgabepolitik der Ehefrau. Der einzige Ausgabeposten, der nach seiner Einschätzung noch Einsparpotenziale barg, waren die Aufwendungen für das relativ teure Brot und den täglich servierten Kaffee. 2 Ullrich [1976], S. 41. Auch bei der sukzessiven Verkürzung der Arbeitszeit bildeten die ungelernten Hafenarbeiter offenbar das Schlusslicht der Entwicklung. Erst ab 1912 war im Hafen für alle Branchen der Neunstundentag erstritten worden, während in der holzverarbeitenden Industrie und im Druckereigewerbe schon der Achteinhalbstundentag galt.
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stellung.1 Mit diesen teilten sie auch die gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Rein zahlenmäßig aber stellten die Hafenarbeiter die wichtigste und für Hamburg auch typischste Beschäftigtengruppe unter den ungelernten Arbeitern dar. Hinzu kommt, dass die im Hafen tätigen Hilfsarbeiter sich auch dadurch von vergleichbar schlecht entlohnten Arbeitergruppen unterschieden, dass sie einem überdurchschnittlich hohen Unfallrisiko ausgesetzt waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Arbeiter einer Schiffswerft verletzte oder sogar tödlich verunglückte, lag 1912 doppelt so hoch wie in allen anderen der Gewerbeaufsicht unterstellten Industriezweigen.2 Angesichts des schnell eintretenden physischen Verschleiß’ war die Lebensspanne, in denen ungelernten Arbeiter im Hafen einen einigermaßen auskömmlichen Verdienst erzielen konnten, ausgesprochen kurz. Die Notwendigkeit zum Mitverdienst von Frau und Kinder wurde dementsprechend früh akut. Was für ungelernte Männer der Hafen mit seinen Beschäftigungsmöglichkeiten war, das war für Frauen das Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe sowie Haushaltsdienstleistungen aller Art. Nach einer Berufszählung von 1907 waren gut 30 Prozent der 103.000 vollzeitbeschäftigten Hamburger Frauen als Näherinnen, Wasch- und Scheuerfrauen, Köchinnen usw. tätig.3 Ein fast ebenso großer Anteil arbeitete als Dienstmädchen, aber diese Art der Beschäftigung war mit Ehe und Familie ohnehin nicht zu vereinbaren, da von weiblichem Dienstpersonal in aller Regel verlangt wurde, im Haushalt der Dienstherrschaft zu leben. Obwohl die Frauenerwerbsarbeit in der Zeit zwischen 1884 und 1914 auch in Hamburg einem Diversifizierungsprozess unterlag, war es kein Zufall, dass Frauen vor allem in solchen Branchen und Berufssparten tätig waren, die als „hausbezogen“ gelten können. Bei der weiblichen Erwerbsarbeit handelte es sich im Prinzip um eine etwas modernisierte Variante dessen, was Frauen schon in der vorindustriellen Hauswirtschaft zur Bestreitung des Lebensunterhaltes beigetragen hatten: Bügeln, Nähen, Flicken, die Erledigung des Ein- und die Tätigung des Verkaufs von Nahrungsmitteln, die Zubereitung von Speisen usw.4 Allerdings hatten sich auch hier die Arbeits- und Produktionsverhältnisse bedeutend gewandelt. Arbeitsort, Arbeitszeit und Arbeitsrhythmus wurden einseitig vom Arbeitgeber bzw. der Auftragslage bestimmt. Die Arbeitsschritte wurden kleinteiliger und unter mehreren Personen aufgeteilt. Familienkontrakt und Familienentlohnung, wie sie vor der Industrialisierung vor allem in Norddeutschland üblich gewesen waren, waren durch individuelle Entlohnung und Einzelvertrag ab-
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A.a.O., S. 31. A.a.O., S. 38. 3 Dasey [1981], S. 229. 4 Vgl.: A.a.O., S. 230 u. Purpus [2000], S. 207. 2
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gelöst worden.1 Das räumliche wie zeitliche Auseinandertreten von entlohnten produktiven und familial-reproduktiven, unentgeltlichen Tätigkeiten wurde auch für den Arbeitsalltag der Frauen kennzeichnend. Im Unterschied zu den verheirateten Männern war es den Ehefrauen und Müttern unter den Arbeiterinnen jedoch aufgrund des vorherrschenden geschlechtsspezifischen Rollenmodells kaum möglich, eine klare Trennung zwischen Arbeits- und Familienleben zu vollziehen. Frauen, die mit ungelernten Arbeitern mit niedrigem Einkommen und einer hohen Anfälligkeit für konjunkturelle oder gesundheitsbedingte Arbeitslosigkeit verheiratet waren, sahen sich einem besonders hohen Druck ausgesetzt, nach Zuverdienstmöglichkeiten Ausschau zu halten. Insbesondere im saisonbedingten Arbeitsausfall, den die ungelernten Hafenarbeiter zu verkraften hatten, ist ein wichtiger hamburg-spezifischer Beweggrund für die zunehmende Frauenerwerbsarbeit zu sehen.2 Neben der Aufnahme und Beköstigung von Untermietern und Teilzeitbeschäftigungen als Putz-, Wasch- und Kochfrauen stellten für verheiratete Frauen offenbar Handarbeiten, die in Heimarbeit verrichtet wurden, die beste Möglichkeit dar, Hausarbeit und Lohnarbeit miteinander zu verbinden ohne dabei das Ansehen als Ehefrauen und Mütter zu riskieren.3 Daneben bot diese Form der Erwerbsarbeit auch eine willkommene Gelegenheit, die Kinder an die Arbeit zu gewöhnen und indirekt zum Mitverdienen anzuhalten. Zwar war in Hamburg auch die männliche Heimarbeit noch längst nicht ausgestorben;4 insgesamt betrachtet unterlag jedoch die Heimarbeit einem kontinuierlichen Feminisierungsprozess. Das galt insbesondere für die heimindustrielle Bekleidungsindustrie, einem Wirtschaftszweig, dem durch das Aufkommen der Konfektionsbekleidung in Hamburg wie überall sonst im Reich eine zunehmende Bedeutung zukam. 1907 war rund ein Siebtel aller vollzeitbeschäftigten Hamburgerinnen als Näherinnen oder Schneiderinnen mit der Verfertigung von Bekleidung beschäf1
Dasey [1981], S. 231 f. Purpus [2000], S. 218. Nach Hagemann [1984a], S. 258 u. Wischermann [1983], S. 347 konnten durch die Aufnahme von Einlogierern bis zu zehn Prozent des Gesamteinkommens erwirtschaftet werden. Dieser Befund wird auch durch die Erinnerungen des Hafenarbeitersohnes Neddermeyer gestützt (Neddermeyer [1980], S. 12). Folgt man Schult, so beliefen sich die Einnahmen aus der Untervermietung eines Raumes einer 3-Zimmer-Wohnung in Hammerbrook im günstigsten Fall sogar auf ein Fünftel des Einkommens einer ungelernten Arbeiterfamilie (Schult [1967], S. 32). Zur Vereinbarkeit von Haushalt und Heimarbeit: Hagemann [1984b], S. 117 f. und Dasey [1981], S. 232. 4 Die im Verlagssystem organisierte Tabakindustrie war beispielsweise noch bis in das frühe 20. Jahrhundert ein bedeutender Gewerbezweig, in dem auch viele Männer tätig waren, und der, wie die Lebenserinnerungen von Arbeiterkindern bezeugen, zu einem Kristallisationspunkt politischer Meinungsbildung und Agitation wurde. Vgl.: Turek [1975], S. 8 f. Zur Bedeutung der Zigarrenarbeiter für die politische Bewusstseinsbildung vgl. den Bericht des Altonaer Arbeitersohnes Julius Bruhns in: Seyfarth-Stubenrauch [1885], S. 138 ff. 2 3
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tigt, und kurz vor dem Weltkrieg ergab eine Erhebung des Hamburger Fabrikinspektors, dass drei Viertel der Personen, die Bekleidung in Heimproduktion herstellten, weiblichen Geschlechts waren.1 Die Arbeitsbedingungen der in Heimarbeit beschäftigten Näherinnen, die hier beispielhaft für die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen der Unterschicht behandelt werden sollen, waren äußerst problematisch. Zum einen unterlag die Nachfrage ähnlich starken saisonalen Schwankungen, wie sie für die ungelernte Tätigkeit im Hafen festgestellt wurden: Im Durchschnitt waren heimarbeitende Näherinnen drei Monate pro Jahr beschäftigungslos und konnten während weiterer sechs bis acht Monate mit nur sehr geringem Verdienst rechnen.2 Einen kalkulierbaren finanziellen Ausgleich zum schwankenden Einkommen der Ehemänner konnten die Frauen mit dieser Tätigkeit demnach nicht sicherstellen.3 Zum anderen war der im Stücklohn gezahlte Verdienst mehr als bescheiden. Lag schon der regelmäßig erzielte durchschnittliche Arbeitslohn von Fabrikarbeiterinnen 1913 mit 11 bis 21 Mark Mindestlohn in der Woche fast um die Hälfte niedriger als bei Männern, die vergleichbare Tätigkeiten ausübten4, so waren solche Einkünfte für die verheirateten Näherinnen allenfalls in den besten Zeiten des Jahres zu erzielen. Von den für das Hamburger Konfektionshaus Müller & Hager arbeitenden 16 Heimarbeiterinnen erhielten Anfang der 1890er Jahre vier einen Durchschnittslohn von 5 Mark, sieben von 5-7,50 Mark und vier von 7,5010 Mark die Woche. Nur eine einzige erzielte ein einigermaßen einträgliches Einkommen von 22 Mark.5 Zu den unregelmäßigen Arbeitszeiten und dem schlechtem Verdienst kam noch die drückende Enge des Arbeitsraumes und die Abwälzung zahlreicher Unkosten und Risiken auf die Näherinnen hinzu. Verheiratete Näherinnen verrichteten ihre Arbeit gewöhnlich in der Wohnküche ihres eigenen Haushalts, mussten für Beheizung und Beleuchtung selbst aufkommen und profitierten weder von den gesetzlichen Arbeitsschutz- noch von den Versicherungsbestimmungen. In aller Drastik zeigt sich die prekäre Lage, in der sich 1
Dasey [1981], S. 236. A.a.O., S. 243. Die Spitzenzeiten waren Februar-März für die Anfertigung der Frühjahr- und Sommergarderobe und Juli-August für die Herbst- und Winterbekleidung. Nur wenig Arbeit fiel im Januar, April, Juni und September an, während im Mai sowie zwischen Oktober und Dezember die Produktion nahezu zum Erliegen kam (A.a.O., S. 234). 3 In den Spitzenzeiten, die sich z.T. mit jenen im Handel und Baugewerbe deckten, mussten die Frauen so viel arbeiten, wie sie nur konnten, um die Zeiten der Beschäftigungslosigkeit auszugleichen. Arbeitstage von 14 und mehr Stunden waren dann offenbar keine Seltenheit. Wie wenig Zeit für die Erledigung des Haushalts und die Beaufsichtigung der Kinder übrig blieb, lässt sich unschwer erahnen. 4 Ullrich [1976], S. 31. 5 Besonders schlecht bezahlt wurde die Anfertigung von Unterwäsche und Öljacken. Dabei stand die Bezahlung in keinerlei Verhältnis zur Handfertigkeit der Frauen, von denen viele schon als Mädchen in speziellen Kursen im Nähen unterwiesen worden waren. Dasey [1981], S. 243. 2
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verheiratete Näherinnen befanden, an einem Hamburger Beispiel aus der Mitte der 1890er Jahre: Als Grund für ihre Tätigkeit als Näherin gab eine Frau Richter an, ihr Mann sei den Winter über ohne Beschäftigung und sie müsse dann ihre Familie am Leben erhalten. An einen Arbeitstag von 18 Stunden erzielte sie nach eigenen Angaben ein Tageseinkommen von gerade einmal 1,40 Mark, beteuerte aber froh zu sein, überhaupt Arbeit zu haben.1 Resümierend stellt Dasey in ihrer Untersuchung zur Vereinbarkeit von Familie und Lohnarbeit in Bezug auf die Hamburger und Berliner Näherinnen fest, dass die Konfektionshäuser und Zwischenmeister die doppelte Belastung der Frauen systematisch ausnutzten: “Zahlreiche zeitgenössische Berichte bezeugen die entsetzliche Armut und Herabwürdigung dieser weiblichen Bekleidungsarbeiterinnen, die extreme Überarbeitung, den chronisch schlechten Gesundheitszustand und die unzureichende Ernährung und Behausung, die ihr Leben kennzeichneten. Paradoxerweise war in Heimarbeit verrichtete Lohnarbeit, die es den Frauen eigentlich erlaubte, gleichzeitig ihren Haushalt zu erledigen und Geld zu verdienen, dem langfristigen Wohlergehen der Familien genauso abträglich oder sogar noch abträglicher als außerhäusige Erwerbsarbeit. [...] Arbeitgeber verwiesen ausdrücklich auf die Stellung der Frauen als Ehefrauen und Mütter, um ihre Anstellungspraktiken und niedrige Entlohnung zu rechtfertigen. Sie stellten in Abrede, dass die Näherinnen zum Teil nur vom eigenen Einkommen lebten. Stattdessen behaupteten sie, dass sowohl verheiratete als auch alleinstehende Frauen nur für ein Taschengeld arbeiteten und mit ihrem Einkommen ganz zufrieden seien. Die Einkommensverhältnisse wurden auch durch Anspielungen auf die persönliche Situation der Frauen gerechtfertigt: »Die Arbeit wird von Frauen verrichtet, deren Ehemänner entweder zu wenig verdienen oder ihren Lohn vertrinken ...«. Die logische Konsequenz dieser Sichtweise war, dass Näherinnen nicht als richtige Arbeiterinnen betrachtet wurden, obwohl die Bekleidungsindustrie vor allem auf der Arbeitskraft von Frauen basierte, die familiären Verpflichtungen nachkommen mussten.“ 2
Verheirateten Frauen, die als Wäscherinnen oder Scheuerfrauen den Unterhalt ihrer Familie zu sichern suchten, erging es da kaum besser. Weibliche Fabrikarbeit, die in Hamburg wegen des fast vollständigen Fehlens der Textilindustrie nur eine sehr marginale Bedeutung hatte, war allem Anschein nach auch in der Unterschichtsbevölkerung verpönt und kam nur als Übergangslösung für junge ledige Frauen oder allenfalls noch für Witwen in Frage.3 Die eigenwilligen lokalen Spitznamen wie „Wollmüs“, „Spritrattjes“, 1
A.a.O., S. 242. A.a.O., S. 247. Übersetzung: J.R. 3 Die Fabrikarbeit verheirateter Frauen stand nicht nur im Konflikt mit dem bürgerlichen Frauen- und Mütterbild jener Zeit, sie stellte auch ganz massiv die Fähigkeit der Ehemänner in Frage, ihrer Ernäh2
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„Miedjes“ oder „Kaffeemiedjes“, die der Hamburger Volksmund Frauen beilegte, die einer dauerhaften außerhäusigen Erwerbsarbeit nachgingen, dürfen über das negative Image der Fabrikarbeiterinnen nicht hinwegtäuschen.1
2.2.5 Die Binnenstruktur der Arbeiterfamilien: Paarbeziehung, Sexualität und Erziehung Naturgemäß hatten die Beschäftigungsverhältnisse der Eltern einen starken Einfluss auf die Binnenstruktur der Familien. Welches Elternteil wo und wie lange außer Haus beschäftigt war, wie viel Lohn er oder sie dabei erzielten, wie kontinuierlich und nicht zuletzt wie kräftezehrend die Arbeit war, bestimmte, welche Aufgaben die einzelnen Familienmitglieder im Haushalt wahrnehmen konnten, wie sie miteinander umgingen und wie sich die „Erziehung“ gestaltete. Auch die bereits behandelten Wohnverhältnisse und die Familiengröße und -konstellation bestimmten als strukturelle Faktoren das „innere“ Familienleben entscheidend mit. Entsprechend den sich daraus ergebenden Variationen differierten auch die Familienbeziehungen. Hinzu kommt, dass die Familienmitglieder je nach Herkunft, Bildung und lebensweltlicher Einbindung mit diesen strukturellen Gegebenheiten ganz unterschiedlich umgingen.2 Schließlich wurde der Umgang zwischen den Eheleuten und zwischen Eltern und Kindern in hohem Maße auch durch vor- und außerberufliche Erfahrungen, mit anderen Worten: durch die Lebensgeschichte der einzelnen Person geprägt.3 Die Beantwortung der Frage nach der Binnenstruktur des Familienlebens im Arbeitermilieu, nach dem Verhältnis von Mann und Frau und der Beziehung der Eltern zu ihren Kindern wirft erhebliche methodische Schwierigkeiten auf. Will man hier über die zumeist mit pejorativen Begrifflichkeiten durchsetzten „Außendarstellungen“ durch staatliche oder privatwohltätige Organe bzw. die normativen Programmatiken, welche die bürgerliche Frauenbewegung oder die Sorerrolle zu genügen. Rationalisiert wurde diese feindselige Einstellung zur weiblichen Fabrikarbeit in öffentlichen Debatten meist durch die These von der unerwünschten „Schmutzkonkurrenz“. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass auch und gerade Männer mit schmalem Einkommen die Fabrikarbeit als Möglichkeit des Zuverdienstes für ihre Frauen kategorisch ausschlossen. Vgl. hierzu etwa die Aussage Classens [1932], S. 73. 1 Bei den „Wollmüs“ handelte es sich um die weiblichen Beschäftigten der Wollkämmerei, als „Spritrattjes“ wurden die Arbeiterinnen der Spirituosenerzeugung tituliert, „Mietjes“ hießen jene Frauen, die in der Fischkonservenproduktion arbeiteten, und mit „Kaffeemietjes“ meinte man die Kaffeeverleserinnen, die auf den Lagerböden der Speicherstadt ihrer Erwerbsarbeit nachgingen (Schult [1967], S. 31). 2 Vgl. zur individuellen Verarbeitung von an sich identischen Arbeitssituationen: Rosenbaum [1992], S. 238 f. 3 A.a.O., S. 239.
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zialdemokratie zu diesem Punkt entwarfen, hinwegkommen, so bleibt nur der Weg über Selbstzeugnisse von Betroffenen. Diese aber unterliegen ihrerseits mehr oder weniger starken subjektiven Verengungen und Verformungen und sind zudem selten repräsentativ.1 Wenn im Folgenden dennoch vorsichtig verallgemeinernd einige Befunde der auf Selbstäußerungen und -zeugnissen basierenden historischen Forschung zur Gestaltung der Beziehung innerhalb von Arbeiterfamilien wiedergegeben werden, so geschieht dies nicht in der Absicht, der „objektiven“, durch statistische Daten vermittelten Rekonstruktion der demografischen Grundkonstellation eine lebensnähere „subjektive“ entgegenzusetzen. Vielmehr sollen die Übereinstimmungen und Modifikationen herausgearbeitet werden, die sich durch die Konfrontation der zeitgenössischen Fremdwahrnehmung mit den zumeist retrospektiv erfolgten Selbstdeutungen ergeben. Ein besonderes Interesse gilt im Kontext dieser Untersuchung der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, dem Erziehungsverhalten und dem Umgang mit der Sexualität innerhalb der Familie, da sich aus diesen Momenten im Wesentlichen die von den zeitgenössischen Beobachtern ausgemachten familialen Gefährdungslagen ergaben. Trotz der angedeuteten großen Spannbreite der Lebenslagen und Umgangsweisen lassen sich einige wesentliche Merkmale festhalten, die für das Familienleben der Arbeiterschaft im Kaiserreich kennzeichnend waren: eine klare Rollenverteilung, die den Mann als außerhalb des Hauses beschäftigten „Ernährer“ und die Frau als „Haushälterin“ auswies; die daraus abgeleitete, mehr oder weniger ausgeprägte Dominanz der Männer in der Ehe; die strikte Unterordnung der Kinder, die sich auch im Gebrauch häuslicher Züchtigungsmittel niederschlug und nicht zuletzt eine auffällige Nüchternheit im Umgang miteinander, die wenig Platz für die Mitteilung von Gefühlen und den Austausch von Zärtlichkeiten ließ. Schon die von Arbeiterliteraten angegebenen Heiratsmotive sind für die geschlechtsspezifische Rollenverteilung innerhalb der Ehe aufschlussreich. Für beide Seiten, sowohl für den Mann als auch die Frau, stellte das Eingehen einer Ehe eine eher pragmatische Entscheidung dar: Die Männer suchten vor allem eine „Wirtschafterin“, die all jene Aufgaben unentgeltlich übernahm, für die sie bisher hatten bezahlen müssen: die Zubereitung des Essens, das Sauberhalten der Wohnung, die Instandsetzung von Kleidern, zum Teil wohl auch die „käufliche Liebe“. Natürlich war nicht ausgeschlossen, dass sie auch die Behaglichkeit und 1 Vgl. zu diesem Problem u.a.: Seyfarth-Stubenrauch [1985], Lipp [1990). Ausführliche quellenkritische Reflexionen zum Einsatz der „oral history“ in Bezug auf die Erforschung des Familienlebens in der Arbeiterschaft finden sich bei Rosenbaum [1992]. Sowohl in Arbeiterbiografien als auch in wissenschaftlichen Studien, die auf „oral history“ basieren, sind unqualifizierte, parteiungebundene Arbeiter unterrepräsentiert.
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Ruhe eines eigenen Heims schätzten und ihre Braut aufrichtig liebten. Das aber stand nicht im Vordergrund. Umgekehrt sahen die Frauen in der Ehe eine Möglichkeit, ihre wirtschaftliche Basis abzusichern, dem Elternhaus und/oder demütigenden bzw. kräftezehrenden Arbeitsverhältnissen zu entkommen und durch die Gründung eines selbständigen Haushaltes und die Geburt eigener Kinder ein Stückchen – kleinbürgerlichen – Familienglücks zu verwirklichen.1 Für Männer sind die Erwartungen, die sie an die Heirat knüpften, anscheinend im Allgemeinen auch aufgegangen, wohingegen die Erfahrungen der Frauen deutlich ambivalenter ausfielen. Mit der Eheschließung handelten sie sich nicht nur eine Mehrfachbelastung in Form von Kindeserziehung, Haushalt und regelmäßig auch den Zwang zum – wenigstens sporadischen oder stundenweisen – Mitverdienst ein, sondern ebenso neue Abhängigkeiten gegenüber dem „Hauptverdiener“, seiner Verfügungsgewalt über das Einkommen, seinen Launen und Ansprüchen auf sexuellem Gebiet. Auch die räumlich-soziale Einengung ihres Wirkungsbereichs auf die Familie und das unmittelbare Wohnumfeld stellte nicht selten im Vergleich zur Zeit vor der Eheschließung einen Verlust an Selbstbestimmungsmöglichkeiten dar.2 Männer aus dem Arbeitermilieu besaßen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gegenüber ihren Frauen einen kulturell wie rechtlich gestützten „strukturellen Statusvorsprung“, den sie als selbstverständlich wahrnahmen und durch die Ausübung ihrer „Ernäherrolle“ legitimierten, ausbauten und verstetigten. Bessere Bildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten für Jungen und Männer taten ein Übriges, dass sich die Arbeiter ihren Ehefrauen geistig überlegen fühlten und ihre Familie in der Öffentlichkeit repräsentierten.3 Dass sich Ehemänner und Väter in dieser überlieferten und als „naturgegeben“ erachteten Rolle sicher fühlten, traf keineswegs nur auf die katholischen 1
Vgl. hierzu: Rosenbaum [1992], S. 132 f. und Lipp [1990], S. 249 f. Die auf mündliche Berichte von Arbeitertöchtern gestützte und in Abgrenzung zum bürgerlichen Eheleben zuweilen behauptete „matriachale“ Struktur der Unterschichtshaushalte bildet die in der Mehrheit der Arbeiterfamilien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts tatsächlich herrschenden Verhältnisse nicht angemessen ab. Nach Rosenbaum kann sich diese Behauptung weder auf die Verfügungsgewalt der Frauen über das Haushaltseinkommen noch auf die vergleichsweise häufig anzutreffende Berufstätigkeit von Arbeiterfrauen stützen (Rosenbaum, [1992], S. 219-227). Aber auch Familien, in denen Väter ihre Stellung zu gleichsam despotischer Unterwerfung und Erniedrigung von Frau und Kindern missbrauchten, sie unter Alkoholeinfluss misshandelten und ihnen selbst den spärlichsten Verdienst vorenthielten, gab es weit seltener, als zeitgenössische Kritiker gern glauben machen wollten (A.a.O., S. 210 f. u. Ritter/Tenfelde [1992], S. 637). 3 Gegenüber den übrigen Familienangehörigen leiteten sie daraus zahlreiche Privilegien ab, die bei der Essenszuteilung und der exklusiven Nutzung von Sitzmöbeln und Sofas begannen, sich über verschiedene kleinere Dienstfertigkeiten von Frau und Kindern erstreckten und beim Recht auf den Besuch von Versammlungen und Lokalen während der spärlich begrenzten „Freizeit“ bei gleichzeitiger Freistellung von sämtlichen alltäglichen Hausarbeiten endeten. Vgl. zur Rollenverteilung und patriachalen Struktur der Arbeiterfamilie auch: Nipperdey [1998a], S. 69 f. 2
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oder gerade erst vom Land in die Stadt gewanderten, noch nicht „politisierten“ Arbeiter zu. Auch die Wählerschaft und zum Teil wohl auch die lokalen Funktionsträger der Sozialdemokratie taten sich zu Anfang schwer mit den von der Parteiführung propagierten Vorstellungen eines gleichberechtigteren Umgangs in Ehe und Familie.1 Ein proletarischer Antifeminismus, der sich u.a. auf das Argument stützte, die Erwerbstätigkeit von (Ehe-)Frauen würde unter der gegebenen kapitalistischen Wirtschaftsordnung und angesichts der Unterwürfigkeit und Zaghaftigkeit des weiblichen Geschlechts zwangsläufig zur Verringerung der Löhne und zur Beibehaltung überlanger Arbeitszeiten führen, war auch unter den Hamburger Arbeitern weit verbreitet.2 Man war sich einig, dass die Lohnarbeit verheirateter Frauen nur eine Notlösung, kein Ideal darstellte, und dass das Bestreben dahin gehen müsse, die Frauen von dieser Bürde zu befreien, damit sie sich ganz dem Haushalt und den Kindern widmen könnten.3 Gerade qualifizierte und besserverdienende Arbeiter sahen sich tatsächlich immer häufiger in der Lage, ganz alleine für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Allerdings zeichnete sich nicht nur auf der Ebene des politischen Diskurses, sondern auch im alltäglichen Eheleben eines noch kleinen Segments der Arbeiterschaft bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Aufwertung der Frauen in ihrer Rolle als Mitverdienerinnen, Ehepartnerinnen und Mütter ab. Rosenbaum stieß in ihrer auf Interviews gestützten Untersuchung zur Gestaltung des Familienlebens in der Arbeiterschaft vor dem Ersten Weltkrieg auf eine zahlenmäßig nicht besonders große, aber doch nicht vernachlässigbare Gruppe von Arbeiterehen, die durch eine relativ ausgeglichene eheliche Machtbeziehung gekennzeichnet war. Die Ehepaare, die dieser Gruppe zuzuordnen waren, sahen ihre Hauptaufgabe nicht sosehr darin, die hierarchisch angeordneten Rollen von „Haupternäher“ und „Wirtschafterin“ auszufüllen, sondern unter schwierigen Existenzbedingungen gemeinsam und solida1 Classen [1932], S. 74 führt hierzu aus: „Höchst merkwürdig verlief einmal einer der Donnerstagsabende im Rothenburgsorter Volksheim. Wir hatten einen gründlichen Kenner einen Vortrag halten lassen über Bebels Buch »Die Frau«. Nach dem Vortrag erhob sich ein Arbeiter voller Entrüstung und sagte: Da sähe man es wieder einmal, was diese bürgerlichen Redner für hässliche Volksbetrüger seien. »als wenn unser großer August Bebel jemals etwas so Schändliches gesagt habe, daß die Familie aufgelöst werden solle.« Es folgten mehrere solcher Redner, Männer und Frauen. Es war an dem Abend nicht möglich, unsere Zuhörerschaft zu überzeugen, daß der Inhalt des Buches richtig wiedergegeben war.“ 2 Evans [1989], S. 158-162. 3 Vgl. hierzu: Classen [1932], S. 73. Wenn 1902 ein von der politischen Polizei beobachteter Kneipenbesucher äußerte, es wäre besser „wenn mehr darauf hingewirkt würde, daß die Frauen dem öffentlichen Leben ganz und gar entzogen und in häuslichen Arbeiten beschäftigt würden“, so stand er mit dieser Meinung nicht alleine da. Dass nur zehn Jahre zuvor ein offenbar nicht-organisierter Arbeiter, der mit ähnlichen Forderungen hervorgetreten war, noch lautstarken Protest erntete, lag vermutlich daran, dass er Arbeiterfrauen, die an öffentlichen Versammlungen teilnahmen, pauschal der Arbeitsunlust bezichtigte und ihnen implizit sogar eine Mitschuld am Grassieren der Cholera gab (Evans [1989], S. 162 u. 164).
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risch den Alltag zu bewältigen.1 Immer mehr Frauen reklamierten für sich, nicht mehr bloße Arbeitstiere zu sein, sondern Beförderinnen der politischen Sache oder, allgemeiner und bürgerlicher gesprochen, „Kulturträgerinnen“ der Nation – und augenscheinlich leuchtete das mehr und mehr auch den Ehemännern ein. Die Wege, auf denen solche Anschauungen in der Arbeiterschaft Fuß fassten, waren vielfältig. Zum einen gab es eine – nicht selten durch die frühere Tätigkeit der Ehefrauen als Dienstmädchen vermittelte – Übernahme bürgerlicher Verhaltensmuster.2 Diese Frauen traten oftmals mit gestärkten Selbstbewusstsein in die Ehe ein und imitierten in ihren eigenen vier Wänden das, was sie für nachahmenswert, nützlich und umsetzbar hielten. Die „Respektabilität“ einer Arbeiterfamilie wurde zunehmend an der Ordnung des Haushaltes festgemacht. Daneben scheint das weitverzweigte Netz sozialdemokratischer Vereine, die sich mit ihren Freizeit- und Bildungsangeboten mehr und mehr an sämtliche Familienmitglieder richteten, zu einem Überdenken der Rollenmuster und zu einer Anpassung an eine exemplarisch vorgelebte, an Disziplin, Zweckmäßigkeit und partnerschaftlichem Umgang orientierten „sozialdemokratischen“ Lebensweise geführt zu haben.3 Nicht zuletzt trug die Öffnung der Parteiarbeit für Frauen und die gleichzeitige Aufwertung der Themen Familie, Erziehung und Gesundheitsvorsorge in den parteiinternen Diskussionen zu einer Reflexion des Rollenverhältnisses in der Ehe bei.4
1 Rosenbaum [1992], S. 211 f. Auch einige der von der politischen Polizei observierten Hamburger Kneipenbesucher hatten zumindest gedanklich die Berechtigung der weiblichen Emanzipationsbestrebungen nachvollzogen. Vgl.: Evans [1989], S. 162. 2 Hier setzten auch die umfangreiche Ratgeberliteratur sowie die vom Bürgertum allerorts initiierten Hauswirtschaftskurse an, mit denen Arbeiterfrauen zu Sparsamkeit, Rationalität und Sauberkeit in der Haushaltsführung erzogen werden sollten. Wenn auch die moralischen Implikationen dieser Bemühungen von Sozialdemokratinnen entrüstet als „Bettelsuppenpolitik“ zurückgewiesen wurden (Hagemann [1984a], S. 260), so lässt sich der Einfluss des bürgerlichen Hausfrauenmodells auf die Arbeiterehen doch kaum von der Hand weisen (Ritter/Tenfelde [1992], S. 639 f.). 3 Ritter/Tenfelde [1992], S. 635. 4 Wie Evans zeigen kann, lief die Rekrutierung von Frauen für die SPD v.a. über ihre Rolle als Mütter und Hausfrauen und weniger über ihre Integration in den industriellen Fertigungsprozess. Die thematische Schwerpunktsetzung war nicht ausschließlich das Ergebnis einer Doppelung der geschlechtsspezifischen Aufgabenverteilung innerhalb der SPD, bei der die unverfänglichen und politisch weniger relevanten „Frauenthemen“ den weiblichen Genossinnen überlassen wurden. Die Thematisierung von Ehe und Familie in der SPD glich vielmehr einem Aushandlungsprozess, bei dem die Funktionsbestimmung der Familie innerhalb des Klassenkampfes sowohl in kritischer Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Familienmodell als auch im Rahmen einer mitunter kontrovers geführten Debatte zwischen den männlichen und weiblichen Parteimitgliedern erfolgte (Evans [1981], S. 267, 275). Dass sich die prekären Lebensverhältnisse, mit denen sich die Arbeiterschaft konfrontiert sah, bereits im kapitalistischen Zeitalter nicht nur durch Streiks und verbesserte Löhne, sondern auch durch gezielte Geburtenkontrolle und Kindeserziehung nachhaltig verbessern ließen, gehörte zu den wichtigsten Erkenntnissen – und Erfahrungen – jener Zeit.
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Damit sind zwei weitere Bereiche des proletarischen Familienlebens angeschnitten, die für die innerfamilialen Verkehrsformen bestimmend waren und die Arbeiterfamilie nach weitverbreiteter Auffassung zu einem Ort der sittlichen Gefährdung machten: der Umgang mit der Sexualität und die Gestaltung der Erziehung. Kritikern der proletarischen Lebensform galt es als ausgemachte Tatsache, dass in Arbeiterhaushalten mit Sexualität „freizügig“ oder, abwertend ausgedrückt, „schamlos“ umgegangen wurde. Hohe Unehelichenquoten und Kinderzahlen, beengte Wohnverhältnisse und die weitverbreitete Untervermietung von Zimmern und einzelnen Schlafplätzen an fremde junge, unverheiratete Leute – dies alles schien auf ein ungehemmtes und ungeniertes Ausleben des Geschlechtstriebes hinzudeuten. Auch manche Arbeiterautobiografien stützen solche Klischees über das Ausleben von Sexualität in der Arbeiterschaft.1 Die Mehrzahl der Schilderungen aus der Arbeiterschaft aber deutet eher darauf hin, dass auch in Unterschichtsfamilien das Thema Sexualität stark tabuisiert wurde und etwa Kinder ihre Eltern und Geschwister kaum jemals nackt zu Gesicht bekamen. Körperkontakte und auch die Miterleben sexueller Vorgänge ließen sich wegen der Mehrfachbelegung von Betten und der drückenden Enge der Wohnungen kaum vermeiden. Aber über solche Erlebnisse wurde gewöhnlich nur in Andeutungen gesprochen, und gerade deshalb waren sie in hohem Maße angstbesetzt. Eine formelle „Aufklärung“ fand selbst im Jugendalter nicht statt, weshalb sich die Arbeitersöhne und -töchter ihren eigenen Reim darauf machten, wie sexuelle Anziehung, Kindeszeugung und Geburt zusammenhingen. Erst wenn die Kinder ins Arbeitsleben eintraten und ihre älteren Kollegen und Kolleginnen Zoten reißen hörten, lüftete sich für viele der Schleier der Geheimnisse.2 Das Stillschweigen über die Sexualität hinderte die Eltern allerdings nicht daran, das Sexualverhalten ihrer Kinder und vor allem das der Mädchen spätestens ab dem zehnten Lebensjahr rigide zu kontrollieren. Nachts wurden Söhne von Töchtern und ältere Kinder von jüngeren getrennt. Nicht selten lösten Eltern das Problem der nächtlichen Überwachung offenbar dadurch, dass sie sich selbst zu den heranwachsenden Kinder legten.3 1 Vgl. etwa zur autobiografischen Verarbeitung früher sexueller Übergriffe bei Adelheid Popp: Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 553 ff. 2 Lipp [1990], S. 226; Rosenbaum [1992], S. 195 ff. 3 Zur hohen Angstbesetzung des Themas Sexualität in der Arbeiterschaft trug v.a. der Umstand bei, dass Männer sich gewöhnlich um Empfängnisverhütung nicht kümmerten und die Frauen nach jedem geschlechtlichen Verkehr bangen mussten, erneut schwanger zu werden, ohne für die damit verbundene finanzielle Mehrbelastung der Familie eine Lösung parat zu haben. Erst nach der Jahrhundertwende haben sich die Haltung und das Bewusstsein auf diesem Gebiet allmählich verändert. Obwohl billige und v.a. zuverlässige Verhütungsmittel immer noch rar waren, wich die Schicksalsergebenheit bezüglich des Kinderkriegens allmählich einem rationaleren, planerischen Umgang mit der Sexualität. In der Regel waren es die Frauen, die den Anstoß dazu gaben (Lipp [1990], S. 258; Rosenbaum [1992], S. 194).
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Auch was den intimen Kontakt mit Untermietern und Schlafgängern angeht, scheint die Verallgemeinerung einzelner Erzählungen von durch die Eltern geduldeten oder doch nicht verhinderten sexuellen Kontakten bzw. Übergriffen in die Irre zu führen. Tatsächlich gingen aus Untermietverhältnissen zahlreiche eheliche Verbindungen hervor.1 Aber auch die „halboffene Familienstruktur“ war nicht automatisch gleichbedeutend mit einem vertrauten oder sogar intimen Umgang mit den fremden Personen im Haushalt. Wenn nicht gemeinsame politische oder gewerkschaftliche Betätigungen eine Brücke zwischen Haupt- und Untermieter schlugen und ein Gefühl der Solidarität stifteten, war das Verhältnis eher distanziert. Es ist aus diesem Grunde wenig wahrscheinlich, dass die Haushaltsvorstände mit der Sexualität hier lässiger umgegangen sein sollten, als sie es in Bezug auf ihr Kinder taten.2 Dass man über Gefühle in Arbeiterhaushalten wenig sprach, galt übrigens nicht nur in Bezug auf die Sexualität. Die Umgangsformen in Arbeiterfamilien waren ganz allgemein durch eine geringe emotionale Expressivität gekennzeichnet – und das musste notwendigerweise auch auf die Kindeserziehung abfärben. Es galt das Praktische zu regeln, und wenn man über alles Übrige nur wenig Worte verlor, so hing das vermutlich auch damit zusammen, dass die Enge der Wohnverhältnisse das Bedürfnis nach Distanz im persönlichen Umgang vergrößerte.3 Wie schon in der Vormoderne fand auch die Kindeserziehung der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert noch vorwiegend „ganz nebenbei“ statt, vergleichsweise unreflektiert und planlos, gewissermaßen als „naturwüchsige Sozialisation“. Häufig ließen die langen Arbeitszeiten und die chronische Überanstrengung der Eltern auch nicht viel mehr zu als die Korrektur unerwünschten Verhaltens seitens der Kinder. Für positive Lenkung, waren nicht viel Raum und Zeit vorhanden. Rigide Formen der Verhaltensabsicherung bestimmten deshalb den Erziehungsalltag. Traten Konflikte auf, so wurden gewöhnlich Regeln gesetzt, anstatt kommunikative Aufarbeitung zu betreiben. Die Tatsache, dass sich Sittenkritiker und Fürsorgevertreter vorzugsweise mit Sozialisationsbedingungen in unvollständigen Familien befassten, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Kinder der Hamburger Arbeiterschaft mehrheitlich mit beiden Elternteilen aufwuchsen. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die jüngere historische Familien- und Sozialisationsforschung hat gezeigt, dass die verbreitete zeitgenössische Klage über die abwesenden, an 1
Lipp [1990], S. 230. Vgl. hierzu: Wischermann [1983], S. 347. Zumeist handelte es sich bei den untervermietenden Haushalten ohnehin nicht um vollständige Familien. Wenn sich aber ein eheähnliches Verhältnis etwa zwischen einer verwitweten Mutter und ihrem Untermieter ergab, so lag darin wohl auch in den Augen der meisten Unterschichtsangehörigen keine „Unsittlichkeit“, solange das Verhältnis rechtzeitig legitimiert wurde. 3 Lipp [1990], S. 227. 2
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der Erziehung unbeteiligten und desinteressierten Väter, die sich höchstens im unbeherrschten Gebrauch körperlicher Züchtigungsmittel hervortaten, die tatsächliche Situation nicht angemessen wiedergab.1 So konnte etwa Heidi Rosenbaum in ihrer auf Interviews gestützten Untersuchung der Erziehungsverhältnisse im Arbeiterquartier Hannover-Linden zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen, dass die Spannbreite des Umgangs von Vätern mit ihren Kindern sehr viel breiter war, als gemeinhin angenommen, und dass der gefühllose Vater, der entweder prügelte oder seine Familie im Stich ließ, eher ein Randphänomen darstellte. Sie unterscheidet drei Typen von Vätern, die sich hinsichtlich ihrer Herkunft, ihrer politischen Haltung und ihrer Einmischung ins Erziehungsgeschehen relativ deutlich voneinander abhoben:2
„Traditionelle Väter“. Die diesem Typus zugeordneten Väter waren überwiegend ländlich-bäuerlicher Herkunft und katholischer Konfession, verfügten häufig über keine spezielle berufliche Qualifikation und pflegten kaum Kontakte außerhalb der Familie. Die arbeitsfreie Zeit verbrachten sie zuhause, beteiligten sich aber kaum an der Kindererziehung, die sie für eine reine Frauenangelegenheit hielten. Ihren Söhnen und Töchtern blieben sie zumeist als distanzierte und autoritär auftretende Menschen in Erinnerung. „Sozialdemokratische Väter“. Diese stammten zumeist aus kleinstädtischhandwerklichem und protestantischem Milieu, von dem sie sich aber entfernt bzw. mit dem sie gebrochen hatten, indem sie sich der organisierten Arbeiterbewegung anschlossen. Sie nahmen gewöhnlich regen Anteil am gesellschaftlichen Leben und übten auf ganz unterschiedlichen Ebenen einen entscheidenden Einfluss auf die Erziehung und weltanschauliche Haltung ihrer Kinder aus. „Kleinbürgerliche Individualisten“. Auch die Väter dieses Typs rekrutierten sich mehrheitlich aus dem (ländlichen) Handwerker-Milieu. Im Unterschied zu den beiden anderen Kategorien verfügten sie aber durchweg über eine gute schulische und berufliche Ausbildung. Von politischen Aktivitä-
1 Zu den Arbeitervätern aus Hamburg-St.Pauli heißt es etwa bei Schultz [1912], S. 10 f. mit nicht zu überhörenden antisozialistischen Untertönen: „Es ist oft unbegreiflich, wie wenig die Eltern und zumal der Vater seine Kinder kennt, wie er sich auch nicht die geringste Mühe gibt, sich in seiner Kinder Seele hineinzudenken oder gar seinem Kinde nachzugehen. Er besucht seine Versammlungen, er arbeitet an den großen Weltverbesserungsideen, er strebt in fast kindlichem Glauben einem Himmel auf Erden nach und ‚sein Glück im Winkel’, sein Familienleben geht dabei verloren. Wie sieht sein Kind so bleich aus! was geht es den Vater an? er hat Wichtigeres zu tun. Wo bringt sein Kind die freien Nachmittagsstunden zu? wie kann der vielbeschäftigte Mann das wissen? Was hat sein Kind für Freunde? darüber hat er noch nie nachgedacht. Sein Beruf und seine Partei nehmen ihn ganz in Anspruch.“ 2 Rosenbaum [1992], S. 231 ff.
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ten hielten sie sich fern, auch wenn sie sonst durchaus gesellige Menschen waren. In die Erziehungsgeschäfte mischten sie sich insofern ein, als sie den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg ihre Kinder beförderten, wobei die Lebens- und Umgangsformen des Bürgertums als Vorbild dienten. Während die Väter des ersten, traditionellen Typs in ihrer passiven, weitgehend auf das „abendliche Strafgericht“ reduzierten Erzieherrolle noch am ehesten dem überkommenen Väterbild entsprachen, beteiligten sich sowohl „sozialdemokratische“ als auch „kleinbürgerliche“ Väter intensiv an der Erziehung ihrer Kinder, zeigten eine auffällige Zurückhaltung bei der Anwendung von Zuchtmitteln, waren interessiert an schulischen Angelegenheiten, unternahmen am Wochenende Familienausflüge und bezogen ihre Kinder in die verschiedensten Aktivitäten außerhalb der Arbeitszeit ein, wie Reparatur- und Gartenarbeiten, Zeitungsverteilen usw. Alle drei Väter-Typen engagierten sich stark bei der Berufswahl ihrer Söhne. Sie unterschieden sich aber darin, wie sie dies taten.1 Zwar hatten sich auch die „kleinbürgerlichen Individualisten“ wie die „sozialdemokratischen Väter“ von ihrem Herkunftsmilieu abgewandt, aber wie die „traditionellen Väter“ bewegten sie sich vorzugsweise im engeren Familienkreis und blieben, was Sinnstiftung und intellektuelle Anregung anging, in den Augen ihrer Kinder eher blasse Gestalten. Bemerkenswert ist schließlich, dass den Vatertypen bestimmte soziale Merkmale, Einstellungen und Verhaltensweisen auf Seiten der Ehefrauen entsprachen: Die Ehefrauen „traditioneller Väter“ stammten wie diese selbst meist vom Lande, trugen häufig als Putzfrauen zum Lebensunterhalt der Familien bei und wurden von ihren Kindern regelmäßig als ausgesprochen streng und disziplinierend beschrieben. Demgegenüber handelte es sich bei den Frauen der „kleinbürgerlichen Individualisten“ größtenteils um Städterinnen, die zumindest eine rudimentäre Berufsausbildung erhalten hatten, sich aber nach der Heirat ganz um den Haushalt und die zahlenmäßig nicht sehr große Familie kümmerten. Die Ehefrauen der „Sozialdemokraten“ glichen diesen in ihrer Herkunft, nahmen aber hinsichtlich ihrer Einbindung in das Erwerbsleben resp. ausschließlichen Rolle als Hausfrau eine Zwischenstellung zwischen den beiden anderen Typen ein. Ob und gegebenenfalls in welcher Gewichtung Rosenbaums Typologie auch auf die Väter der Hamburger Arbeiterschaft zutraf, lässt sich nicht mehr 1
„Traditionelle Väter“ bestimmten gewöhnlich einfach den Ausbildungsplatz ihrer Söhne, wobei sie sich auf überkommene ländliche Vorstellungen („goldener Boden des Handwerks“) und eigene Erfahrungen beriefen. Dass ihre Töchter auch einen Beruf erlernen könnten, kam ihnen offenbar gar nicht in den Sinn. Demgegenüber erörterten v.a. „sozialdemokratische Väter“ sowohl mit ihren Söhnen als auch mit ihren Töchtern ausführlich die Berufswahl und bezogen deren Wünsche und Neigungen in die Entscheidung mit ein. A.a.O.
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ermitteln. Schon in Bezug auf die Lindener Bevölkerung kann ihr Repräsentativitätswert angezweifelt werden. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der von Rosenbaum interviewten Personen erst deutlich nach der Jahrhundertwende geboren war. Kinder ungelernter Arbeiter waren in ihrem Sample so gut wie gar nicht vertreten. Man tut meines Erachtens deshalb gut daran, die herausgearbeiteten Typen als Zeugnisse eines allmählich einsetzenden Mentalitätswandels hinsichtlich des Rollenverständnisses von Frauen und Männern, Müttern und Vätern sowie einer zunehmenden Diversifizierung der Erziehungsstile im Arbeitermilieu zu betrachten. Welche Schichten und Teilpopulationen von diesen Vorgängen wann und in welchem Maße genau erfasst wurden, bleibt ungewiss. Es ist anzunehmen, dass die Wandlungsprozesse entsprechend der ungleichzeitigen Veränderung des generativen Verhaltens in der Stadt früher einsetzten als auf dem Land und in der gelernten Arbeiterschaft früher als unter Hilfsarbeitern. Mit Sicherheit aber ist das kaum zu sagen. Auch über die Frage, wie sich der Einstellungswandel genau durchsetzte, ist noch relativ wenig bekannt. Natürlich spielten auch hierbei die bürgerlichen Vorbilder, die Verbesserung der Wohnverhältnisse und die Verkleinerung der Familien eine ganz entscheidende Rolle. Inwiefern aber Maßnahmen der gezielten Beeinflussung des Erziehungsverhaltens, etwa durch Aufklärungsarbeit in Zeitschriften und Broschüren, wirksam waren, ist noch weitgehend ungeklärt.1 Nicht nur über die Art und Weise, wie diese Erzeugnisse gelesen wurden, sondern auch über ihre tatsächliche Wirkung ist bisher nur sehr wenig bekannt.2 Es war kein Zufall, dass sich die Erziehungsbeilagen nicht an die Väter, sondern in erster Linie an die Mütter wendeten. Trotz der von Rosenbaum u.a. vorgenommenen Korrekturen des zeitgenössischen Väterbildes waren sie es, die die Hauptlast der Kindeserziehung trugen: Sie mussten tagein, tagaus und neben der umfangreichen Hausarbeit die Kinder beaufsichtigen, sie pflegen, waschen und ernähren, ihre Mitarbeit im Haushalt durchsetzen, Streitereien schlichten, den Schulbesuch absichern usw. usf.. Zwei Faktoren wirkten sich dabei besonders nachhaltig auf die Mutter-Kind-Beziehung aus: der Grad der Involvierung 1 Otto Rühle, der durch seine weiter oben zitierten Schriften in besonderem Maße zur Verbreitung des Bildes vom abwesenden und brutalen Arbeitervater beigetragen hatte, war keinesfalls der erste und einzige sozialistische Schriftsteller, der über Zeitschriften versuchte, Einfluss auf das Erziehungsverhalten einfacher Arbeiter zu nehmen. Anfang der 1880er Jahre hatte bereits der „Deutsche Jugendschatz“, der immerhin von etwa 1.500 Abonnenten bezogen wurde, mit seiner Beilage „Gesundheitspflege und Jugenderziehung“ versucht, den religiösen, militaristischen und antisozialistischen Tendenzen der Volksschulbildung entgegenzuwirken (Lesanovsky [1996]). Ab 1905 war es dann die sozialistische Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“, redaktionell betreut von Clara Zetkin, die mit einer speziellen Beilage für Mütter und Kinder auf sich aufmerksam machte (Evans [1981], S. 265). 2 Vgl.: Stecklina [2003], S. 26.
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der Mütter ins Erwerbsleben und die Anzahl der Geschwister und Halbgeschwister. Eher selten hatten Arbeitermüttern nur ein oder zwei Kinder zu versorgen und waren zugleich auch noch vom Zwang zum Mitverdienst vollständig freigestellt. Es ist vor diesem Hintergrund verständlich, dass für die meisten Arbeiterkinder zwar die Mütter zu den wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen der frühen und mittleren Kinderjahre wurden, sie sich über sie in Interviews und Lebensberichten aber häufig in einer Mischung aus verständnisvoll-bilanzierender Verehrung und wiedererwachten Gefühlen der Entbehrung äußerten.1 Dieser ambivalente Grundton, der die Erinnerung an die Mutter kennzeichnete, ist durchaus charakteristisch für das kindliche Erleben des elterlichen Verhaltens und der allgemeinen Lebensumstände im proletarischen Milieu. SeyfarthStubbenrauch, der in seiner Untersuchung zu den unterbürgerlichen Sozialisationsbedingungen im Kaiserreich der Frage nachgeht, wie Kinder die schwierigen Lebensumstände, in denen sie aufwuchsen, emotional und kognitiv verarbeiteten, stellt die Erfahrung grundlegender Ambivalenzen als eines der hervorstechendsten Merkmale des Aufwachsens im Unterschichtsmilieu heraus. Emotionale Mutterbindung versus väterliches „Vorbild“, elterliche Zuneigung versus Hervorhebung des „Kostenfaktors“, Attraktion versus frühzeitige Abwendung – das waren nur einige der vielen widersprüchlichen Eindrücke und Erlebnisse, mit denen sich Kinder aus der Arbeiterschaft konfrontiert sahen. Gerade dadurch aber, so Seyfarth-Stubbenrauch, hätten sich ihnen auch besonders differenzierte Erfahrungsspielräume und ein breites Spektrum an Lernmöglichkeiten eröffnet. So lernten sie beispielsweise, dass sich elterliche Zuwendung und Sorge auch auf andere Weise als durch den Austausch von Zärtlichkeiten ausdrücken konnten, dass sich Eltern trotz widriger ökonomischer Umstände für ihre Schulbildung einsetzten, dass es Situationen gab, die in sich so widersprüchlich waren, dass sie sich nicht harmonisieren ließen, sondern schlicht „auszuhalten“ waren, dass die Nutzung ihrer Arbeitskraft im Sinne der Familienökonomie auch einen Autonomiegewinn darstellte und zu einer Quelle des Selbstbewusstseins werden konnte usw.2
1 Bezeichnend ist etwa die Schilderung, die der in Altona geborene Robert Neddermeyer von seiner Mutter gab: „Im allgemeinen war die Mutter im Umgang mit uns Kindern etwas rauh. Ich hatte mich allmählich daran gewöhnt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – fing ich jämmerlich an zu heulen, als sie mir einmal (das einzige Mal in meinem Leben) ganz zart über den Kopf strich. Diese ‚Schwäche’ dauerte aber bei uns beiden nicht lange. Nachmittags bezog ich schon wieder Prügel, die wir einigermaßen regelmäßig und kollektiv bekamen und die ziemlich gerecht auf uns fünf verteilt wurden.“ Neddermeyer [1980], S. 14 f. 2 Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 253. Aus diesem Grund sei es auch einseitig und abwegig, im Anschluss an die frühere Literatur in Bezug auf die Erziehung im proletarischen Milieu verallgemeinernd von einem Unterdrückungs- bzw. Terrorzusammenhang zu sprechen.
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In einer besonders schwierigen Lage befanden sich zweifellos alleinstehende, verwitwete und uneheliche Mütter. Ihre Lebenssituation wirkte sich dementsprechend auch außerordentlich nachhaltig auf die Beziehung zu ihren Kindern aus. Im Unterschied zu getrennt lebenden und verwitweten Müttern bekamen allerdings uneheliche Mütter nur vergleichsweise selten die Gelegenheit, überhaupt eine Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen, geschweige denn sie bei sich zu behalten und alleine großzuziehen. Das Alleinerziehenden-Dasein war in den allermeisten Fällen nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung der Frauen, sondern die Folge einer Aufkündigung des Eheversprechens bzw. des Negierens jeglicher über die Alimentierung hinausgehenden Verantwortung seitens der männlichen „Erzeuger“. Gelang es den Müttern nicht, durch nachträgliche Heirat ihre Kinder zu „legitimieren“, so überschattete der Status der „Unehelichkeit“ zumeist ihr ganzes weiteres Leben – und das der als „Bastarde“ verschrienen Kinder ebenso. Schon dieser Umstand sorgte dafür, dass nichtverheiratete Frauen der Geburt ihrer Kinder gewöhnlich mit sehr gemischten Gefühlen entgegensahen.1 Aber selbst wenn sie sich mit ihrer Situation abgefunden hatten, blieb die Fortgabe der Kinder kurz nach der Geburt für die meisten von ihnen doch eine unausweichliche Notwendigkeit.2 Für diesen Schritt waren ganz überwiegend finanzielle Beweggründe ausschlaggebend. Aber die Weggabe und Fremdversorgung unehelicher Kinder entsprach auch einer gesellschaftlichen Erwartung: Eine alleinstehende uneheliche Mutter, die ihr Kind bei sich behalten wollte, war angesichts der ungenügenden Armenunterstützung nicht nur kaum überlebensfähig, sie verstieß auch massiv gegen die Vorstellungen von Verwandten, der Nachbarschaft und der Vertreter der unterschiedlichen kommunalen Behörden, wonach uneheliche Mütter ihre „Schande“ möglichst zu verbergen und sich vor allem demütig und bußfertig zu verhalten hatten. Sowohl für die Kinder als auch für die Mütter war den vorliegenden Berichten zufolge die auf Dauer angelegte Weggabe eine sehr schmerzhafte Erfahrung, zumal die Qualität der Betreuung in den Pflegefamilien häufig zu wünschen übrig ließ und eine schleichende Entfremdung vorhersehbar war.3 Nur die fehlenden Alternativen und die Hoffnung, dass die Weggabe für die materielle Absicherung und Bildung der Kinder das Beste sei, rechtfertigte in den Augen vieler Mütter diesen folgenreichen Schritt.
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Hering [1998], S. 41. Nach Herings Angaben gaben etwa drei Viertel der unehelichen Mütter ihre Kinder kurz nach der Geburt anderweitig in Kost (Hering [1998], S. 9 f.). In großstädtischen Kontexten wurden die Kinder häufig durch die Armenfürsorgebehörden oder privat zu nichtverwandten Kosteltern gegeben. 3 Diesen Zusammenhang hebt Eva Ziss in ihrem Kommentar zu 14 lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen von v.a. weiblichen „Ziehkindern“ aus Österreich hervor, die sich auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehen (Ziss [1994], S. 316). 2
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2.3 Die außerfamilialen Sozialisationsinstanzen: Volksschule, Arbeitsplatz und „Straße“ Die bisherigen Betrachtungen galten der Entwicklung der allgemeinen Lebensumstände und der Sozialisationsbedingungen in Hamburger Arbeiterfamilien an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dabei zeichneten sich neben langfristigen demografischen Verschiebungen auch erhebliche sozialräumliche und milieuspezifische Verwerfungen ab. Die Familie war jedoch keineswegs die einzige Institution, die für das Aufwachsen von Arbeiterkindern bestimmend war. Neben ihr existierten noch eine Reihe anderer Sozialisationsinstanzen bzw. sozialisationsrelevanter Lebensbezüge. In der Auseinandersetzung mit den von Zeitgenossen ausgemachten Gefahren des Familienlebens wie dem Alkoholismus und der Prostitution wurde bereits deutlich, dass dem weiteren sozialen Lebensumfeld ein ganz entscheidender Einfluss auf die psychophysische Entwicklung der Heranwachsenden zufiel. Im Folgenden sollen deshalb noch einige der wichtigsten außerfamilialen Sozialisationsinstanzen in ihren lokalen Ausprägungen vorgestellt und analysiert werden. Für das Verhältnis der unterschiedlichen Sozialisationsbereiche war kennzeichnend, dass sie sich in ihren Wirkungen vielfältig überlappten, manchmal ergänzten und verstärkten, aber zum Teil auch in deutlicher Konkurrenz zueinander standen. Für die familiale Sozialisation etwa spielte die kindliche Erwerbsarbeit eine ganz zentrale Rolle. Die Lehrer waren darauf angewiesen, dass die Eltern bei ihren Kindern konformes Sozialverhalten durchsetzten, sie zum regelmäßigen Schulbesuch anhielten und sie vor allem in den frühen Morgenstunden von kräftezehrenden Arbeiten freistellten. Sowohl Eltern als auch Schule waren schließlich eifrig darum bemüht, negative Einflüsse der Gleichaltrigengruppe einzudämmen. Die Sozialisationsinstanzen unterschieden sich aber auch hinsichtlich ihres objektiven und subjektiven Stellenwertes, den sie im Leben der Kinder einnahmen. Objektiv gesehen war nicht zu übersehen, dass die außerfamilialen Sozialisationsinstanzen sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die „personellen Ressourcen“ der Familie den Rang abliefen. Kinder verbrachten viele Stunden des Tages in der Schule, und das mehrere Jahre lang. Sie erwarben dort nicht nur fachliches Wissen, sondern lernten sich vor allem in ein System strikter Unter- und Überordnung einzufügen. Vor allem im großstädtischen Kontext gewann jedoch auch die mit Freunden verbrachte unbeaufsichtigte Zeit eine immer größere Bedeutung. Subjektiv waren die Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche auf Jahrmärkten, Sportfesten, in Kinos und selbstorganisierten Lesezirkeln machten, vielleicht sogar noch bedeutsamer als die mehr oder weniger zufälligen Bildungserlebnisse, die sie im individuellen Umgang mit einzelnen Lehrern hatten.
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Die subjektive Bedeutsamkeit der Erlebnisse in der Gleichaltrigengruppe hatte schließlich etwas mit den unterschiedlichen Graden der pädagogischen und normativ-rechtlichen Durchdringung zu tun, die für die einzelnen Sozialisationsbereiche kennzeichnend waren. So sehr sich Pädagogen und Sozialreformer auch um eine erzieherische Beeinflussung und rechtliche Regelung der elterliche Erziehung bemühten, die familiale Sozialisation entzog sich unter den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen doch sehr weitgehend der Kontrolle. Nur die gravierendsten Missstände konnten einen Eingriff durch Behörden veranlassen. Ähnlich verhielt es sich mit der Arbeit. Vertrags- und Gewerbefreiheit ließ kaum eine direkte Einflussnahme auf Arbeitsverhältnisse und Ausbildungsstellen zu. Durch die Arbeitsschutzgesetzgebung versuchte man auch hier, die gröbsten Missstände bei der Kinderarbeit einzudämmen. Aber an einer wirksamen Überwachung der Bestimmungen mangelte es noch lange Zeit.1 Dagegen war der Schulalltag von Anfang an hoch verregelt und pädagogisch durchstrukturiert. Das besagte natürlich nichts darüber, wie wirksam und nachhaltig die formellen Bildungsbemühungen waren, aber die Spielräume der Mit- und Ausgestaltung durch die Kinder waren anfangs doch noch sehr gering. Der besondere Reiz, den die „Straße“, die Gleichaltrigengruppe und speziell die Konsumangebote der Medienindustrie auf Kinder und Jugendliche ausübten, bestand gerade darin, dass sich diese Sozialisationsbereiche nicht nur dem Einfluss der Eltern, sondern anfangs auch der allgemein Verregelung und Pädagogisierung durch die Erwachsenen entzogen. Die Minderjährigen hatten also gewissermaßen einen zeitlichen Vorsprung in der selbständigen Aneignung und Ausgestaltung dieser Lebensbezüge. Diese Wechselwirkungen und Relevanzstrukturen müssen im Kopf behalten werden, wenn im Folgenden die drei wichtigsten außerfamilialen Sozialisationsbereiche behandelt werden: die Schule, die Arbeitsstelle und die Straßensozialisation.
2.3.1 Die Volksschule Die bedeutendste Sozialisationsinstanz neben der Familie war Ende des 19. Jahrhunderts zweifellos die Schule. Im Verlauf des Urbanisierungsprozesses unterlag auch diese Institution wichtigen Veränderungen, die in der einschlägigen Forschung unter den Stichworten: Verweltlichung, Verstaatlichung und Verfachli-
1 Nur bei Halbwüchsigen, die der Vormundschaft des Waisenhauskollegiums unterstanden, wurden die Lehrstellen nach pädagogisch-jugendfürsorgerischen Gesichtspunkten ausgesucht und ihr berufliches Fortkommen genauer überwacht. Erst die Einrichtung von Fortbildungsschulen, die zunächst auf privater Basis organisiert wurden und sich mit ihrem Angebot v.a. an Mädchen richteten, änderten etwas an diesen Zuständen.
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chung zusammengefasst werden.1 Im Folgenden wird es darum gehen, einige Aspekte dieses Wandlungsprozesses sowie dessen besondere regionale Ausprägungen nachzuzeichnen. Daneben soll vor allem das Verhältnis zwischen Familie und Schule näher bestimmt werden. Angesichts des ausgesprochen ständischen Gepräges, das den Lehranstalten bis zum Ende des Kaiserreichs anhaftete, erscheint es gerechtfertigt, die Darstellung auf die Volksschule zu beschränken – jene Schulform also, die für die einfachen Bevölkerungskreise bestimmt war.2 Die Geschichte des modernen Hamburger Volksschulwesens setzt mit dem Inkrafttreten des Unterrichtsgesetzes von 1870 ein. Nachdem bereits Anfang der 1860er Jahre, im Anschluss an die Verabschiedung der neuen Verfassung, das gesamte Hamburger Schulwesen der staatlichen Oberaufsicht unterstellt und mit der Abschaffung des Scholarchats die letzten Reste kirchlicher Vormachtstellung auf diesem Gebiet beseitigt worden waren3, hatten sich Senat und Bürgerschaft nach langjährigen Verhandlungen endlich auf ein Gesetz geeinigt, das in umfassender Weise das gesamte „niedere Schulwesen“ regelte. Damit hatte auch die Hansestadt den Anschluss an die Reichsentwicklung gefunden und den wichtigsten Grundstein für den flächendeckenden Ausbau eines allgemeinbildenden Schulsystems gelegt.4 Das Unterrichtsgesetz von 1870 statuierte die Unterrichtspflicht aller Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren und löste die bisherigen Armenschulen, die einen integralen Bestandteil der Allgemeinen Armenanstalt gebildet hatten, durch eine siebenstufige Volksschule ab. Darüber hinaus verstaatlichte es die Lehrerausbildung und gab der Oberschulbehörde als Ausführungsorgan der Schulaufsicht ihre endgültige Gestalt.5 Hervorstechende Kennzeichen der neuen Organisation des Schulwesens waren neben dem verminderten Einfluss der Kirche die Stärkung der bürgerlichen Mitsprache und die sehr weitgehenden Mitwirkungsmöglichkeiten, die man der Lehrerschaft eingeräumt hatte. Beide hierfür vorgesehenen Organe, die Schulkommission genauso wie die Schulsynode, zeugten von der tiefverwurzelten Skepsis der Hanseaten gegenüber bürokratischen Orga1
Vgl. mit Bezug auf Hamburg: Lehberger [2006], S. 103. Als Selektionsmechanismus wirkte v.a. das Schulgeld, das im höheren Schulwesen rund 200 Mark jährlich betrug. Die ausgegebenen Stipendien änderten daran nur wenig, denn bezogen auf die Gesamtschülerzahl machten sie einen Anteil von nur 2,5 % aus (Lehberger [1992], S. 426). 3 Blinckmann [1930], S. 55. 4 In der Literatur wird immer wieder hervorgehoben, dass Hamburg in der Institutionalisierung des staatlichen Schulwesens ein „Schlusslicht“ gebildet habe und erst auf äußeren Druck zu entscheidenden Reformen auf diesem Gebiet bewegt werden konnte (Lehberger [1992], S. 417). Auch die behördliche Geschichtsschreibung hat früh eingeräumt, dass der Senat von den schweren Mängeln und Missständen im niederen Schulwesen bereits seit langer Zeit unterrichtet war, ohne dagegen entschieden vorzugehen (Blinckmann [1930], S. 57). 5 Lehberger [1992], S. 417 f. 2
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nisationsformen.1 Mitbedingt durch diese Strukturen gelang es der Volksschullehrerschaft in den folgenden Jahrzehnten auch erstaunlich gut, ihren Einfluss auf die konzeptionelle Weiterentwicklung und Ausgestaltung der Volksschule geltend zu machen. Schließlich wies das Hamburgische Gesetz auch einige bemerkenswerte Besonderheiten hinsichtlich der Unterrichtsinhalte auf. So war der Naturkundeunterricht in gleich drei Fächer – Physik, Naturgeschichte und Chemie – aufgegliedert worden, und für Jungen wurde Englisch als Pflichtfach und fakultativ sogar Französisch eingeführt.2 Auf der Grundlage des Unterrichtsgesetzes wurde das anfänglich aus nur 16 Schulen bestehende „niedere Schulwesen“ bis 1914 zu einem flächendeckenden, alle Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren erfassenden „modernen“ Schulsystem ausgebaut. Zuletzt wurden in 200 Volksschulen von 3.600 Lehrern 114.600 Schüler unterrichtet.3 Langsam aber sicher näherte sich die Anzahl der von der Stadt vorgehaltenen Gebäude dem tatsächlichen Bedarf, was insbesondere an der günstigen Entwicklung des Schüler-Schul-Verhältnisses sichtbar wird: Die Rekordmarke von 1890, als auf jede Schule im Schnitt 729 Schüler entfielen, war überwunden. Bis zur Jahrhundertwende konnte die durchschnittliche Schülerzahl auf 698, bis 1914 dann sogar auf 576 gesenkt werden.4 Ganz ähnlich verlief auch die Personalentwicklung. Die neu gegründeten Hamburger Lehrerseminare konnten den Bedarf an Lehrkräften bei weitem nicht decken und für Bewerber von außerhalb blieb der Dienst in der Elbmetropole der geringen Vergütung wegen bis 1878 unattraktiv. Mit der zu diesem Zeitpunkt erfolgten Aufstockung der Lehrergehälter und der gleichzeitigen Vereinfachung der Anstellungsmodalitäten änderte sich die Lage schlagartig. Gerade für die Aspiranten aus den benachbarten preußischen Provinzen wurde der Dienst in Hamburg finanziell interessant, und da es hier einen Lehrkräfteüberschuss gab, befand sich die Hamburger Schulbehörde bald in der günstigen Lage, sich die besten Kandidaten aussuchen zu können.5 Anfang/Mitte der 1890er Jahre war auch der Zenit des Lehrermangels in Hamburg bereits überwunden. Das LehrerSchüler-Verhältnis verbesserte sich von 1:45 (1890) über 1:36 (1900) auf 1:32 (1914).6 Diese Entwicklung wirkte sich naturgemäß auch auf die durchschnittli1
Blinckmann [1930], S. 73 f. Zu den wirtschaftlichen Hintergründen dieser Fächerausrichtung vgl.: Lehberger [1992], S. 420. 3 A.a.O., S. 419. 4 Lehberger [1992], S. 419. 5 Fiege [1970], S. 49 u. Blinckmann [1930], S. 141 f. Der 1860 in Neuhaus/Oste in der Provinz Hannover geborene Volksschullehrer Hermann Junge, der 1883 nach Hamburg zog, um hier zunächst als Lehrer der Rothenburgsorter Volksschule tätig zu werden, rechnet in seinen Lebenserinnerungen vor, dass in Hamburg schon das Anfangsgehalt der Volksschullehrer 200 Mark über dem Spitzengehalt der jungen preußischen Kollegen gelegen habe (Junge [1998], S. 98). 6 Errechnet nach: Lehberger [1992], S. 418. 2
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che Klassenstärke aus. Mit 45 Schülern Mitte der 1890er Jahre konnte sich diese nicht nur gegenüber den Dorfschulen des ländlichen Umlandes, sondern auch gegenüber den Volksschulklassen der Reichshauptstadt sehen lassen.1 Für das kindliche Erleben der Sozialisationsinstanz Schule war das Verhältnis der Eltern zu den staatlichen Bildungsbemühungen von ganz entscheidender Bedeutung. Zumindest zu Beginn war dieses Verhältnis nicht frei von Spannungen. In der Periode unmittelbar nach Inkrafttreten des Unterrichtsgesetzes wurde die Einstellung der Eltern zur Volksschule offenbar vor allem durch den noch unvertrauten Zwang zum Schulbesuch bestimmt. Das war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Familien der Unterschicht durch den obligatorischen Schulunterricht für weite Teile des Tages auf einen potenziellen Mithelfer und auch Mitverdiener verzichten mussten. Zwar war der Interessensgegensatz von Arbeit und Schulbesuch in einer Großstadt wie Hamburg längst nicht so ausgeprägt wie auf dem Lande. Aber dem Umfang der Schulversäumnisse in den ersten Jahren nach zu urteilen, scheint auch für viele Hamburger Eltern die Bildung ihrer Kinder keineswegs jene Priorität genossen zu haben, die ihr staatlicherseits zugedacht worden war. Wegen der akuten Raum- und Personalnot konnte von einer durchgängigen Beschulung und strikten Umsetzung der Unterrichtspflicht in den Anfangsjahren allerdings auch noch keine Rede sein.2 Dass die Vermittlung von Unterricht und Arbeit auch in späteren Jahren in den Augen der Eltern noch ein ernsthaftes Problem darstellte, lässt sich an ihren Reaktionen auf das „Nachsitzen“ ablesen: Kinder, die wegen schulischer Verfehlungen eine Stunde länger in der Schule bleiben mussten, wurden nach der Heimkehr von ihren Eltern offenbar regelmäßig ein zweites Mal bestraft, weil sie in dieser Zeit als Arbeitskräfte ausfielen. Aus diesem Grund hätten gerade Jungen, so berichtet Fiege, ihren Lehrern häufig vorgeschlagen, das „Nachsitzen“ durch eine körperliche Züchtigung zu ersetzen.3 Ganz allmählich scheint die anfängliche Skepsis, auf die das schulische Disziplinarsystem bei den Eltern stieß, jedoch einer stillschweigenden Duldung
1 In Berlin lag sich die durchschnittliche Klassengröße 1902 noch bei 48 Schülern (Nipperdey [1998a], S. 539). Schenkt man dem Bericht des 1887 geborenen Hafenarbeiters Robert Neddermeyer Glauben, so lag die Klassenstärke Mitte der 1890er Jahre im benachbarten preußischen Altona noch bei etwa 70 Kindern (Neddermeyer [1980], S. 22). Vgl. zu den Klassenfrequenzen auch: Kopitzsch [1984], S. 219. 2 Es scheint nicht selten vorgekommen zu sein, dass Eltern, die von den Schulvorständen ermahnt worden waren, ihre Kinder regelmäßiger zur Schule zu schicken, ihre Söhne oder Töchter abmeldeten, um sie in eine Einrichtung zu geben, die im Ruf stand, es mit der Unterrichtspflicht nicht so genau zu nehmen. Vgl.: Blinckmann [1930], S. 90. Zur anfänglichen Haltung der Eltern zum Schulzwang vgl. auch: A.a.O., S. 132. 3 Fiege [1970], S. 57.
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oder expliziten Zustimmung gewichen zu sein.1 Schon in den 1880er und 1890er Jahren ließen die elterlichen Klagen über unangemessene Behandlung spürbar nach, obwohl das zur Eindämmung gegen ungerechtes und zu hartes Strafen erlassene Regulativ offenbar kaum Wirkung zeigte.2 Einer besonderen Beliebtheit bei den Eltern erfreute sich Blickmanns Erinnerungen zufolge das damals noch gebräuchliche Versetzungssystem, bei dem jeder Schülerin und jeder Schüler vierteljährlich entsprechend der schulischen Leistung und dem Betragen der Sitzplatz zugewiesen wurde.3 Die zunehmende Akzeptanz der Volksschule bei den Eltern war vor allem eine Folge der allmählichen Annäherung von Lehrer- und Elternschaft gewesen. Zunächst hatten sich unter den Lehrern noch viele Männer befunden, die bereits in den städtischen Armenschulen unterrichtet hatten und im Allgemeinen über eine nur geringe fachliche Qualifikation verfügten. Mit der Anhebung der Gehälter änderte sich die Zusammensetzung und Vorbildung der Lehrer aber rasch, und schon bald galt die Hamburger Volksschullehrerschaft als ausgesprochen progressiv.4 Hinzu kam, dass sich auch die persönlichen Kontakte zwischen Eltern und Lehrern mehrten. Zwar offenbarte eine bald nach Inkrafttreten des Unterrichtsgesetzes von 1870 erlassene Instruktion zur inneren Organisation der Volksschulen in aller Deutlichkeit den autoritären Charakter der Hamburger Schulverfassung, indem sie den einfachen Lehrern jeglichen direkten Kontakt mit den Eltern untersagte.5 Aber es gab auch Schulleiter, die einen kollegialen Umgang mit den „Hilfslehrern“ pflegten, und die immer gebräuchlicher werdenden Schulfeiern brachten es mit sich, dass Lehrer und Eltern zunehmend Gelegenheit bekamen, sich ungezwungen auszutauschen.6 Dass Eltern und Lehrer a1
Dass sich Eltern und Kinder in der Ablehnung schulischer Strafmittel zunächst einig waren, mag v.a. daran gelegen haben, dass die wegen „Schulelaufens“ verhängten Sanktionen Eltern und Schüler gleichermaßen trafen. 2 Ende der 1870er Jahre mehrten sich die elterlichen Klagen über Exzesse bei der Anwendung körperlicher Züchtigungsmittel. In zahlreichen Sitzungen musste sich die Oberschulbehörde mit Vorfällen überzogener Bestrafung durch die Lehrer befassen und entsprechende Disziplinarmaßnahmen verhängen. Vgl.: Blinckmann [1930], S. 134 u. S. 151. 3 A.a.O., S. 135. 4 Von konservativer Seite wurden die Volksschullehrer auch der Sympathiebekundungen mit der Sozialdemokratie bezichtigt. Das diese Anschuldigungen nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, zeigte sich an den Kommentaren der Arbeiterpresse. So stellte das „Hamburger Echo“ in einem Artikel von 1897 befrieditgt fest, dass ihre im Bürgerschaftswahlkampfs aufgestellten Forderungen in Bezug auf das Volksschulwesen die nahezu ungeteilte Zustimmung der Lehrerschaft gefunden habe (STAH 331-3 S 2837-6 Bd. 4, unpaginierter Zeitungsausschnitt aus dem „Hamburger Echo“ vom 23.12.1897). Zur geistigen und persönlichen Nähe von Lehrerschaft und Sozialdemokratie vgl. außerdem: Lehberger [1992], S. 429. 5 Blinckmann [1930], S. 146 ff., S. 70 u. 98 f. 6 Blinckmann [1930], S. 149 u. 193; Fiege [1970], S. 53. Mit Bezug auf die genannte Regelung bemerkt Junge: „Zur Herbeischaffung von Mitteln wurde im Winter ein ‚Vergnügen des Wohltätigen
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ber überhaupt eine gemeinsame Sprache fanden, lag nicht zuletzt daran, dass die Versuche des Kaisers, die Schule nach Auslaufen der Sozialistengesetze zum neuen „Waffenträger gegen die Umsturzpartei“ zu machen, unter der Hamburger Volksschullehrerschaft auf große Skepsis stießen.1 Obwohl die Einstellung zur Schule ganz erheblich von der Haltung der Eltern beeinflusst wurde, unterschieden sich die Erfahrungen, die die Kinder mit der Institution Schule machten, doch zwangsläufig von denen ihrer Väter und Mütter. Vor allem der Umstand, dass die Kinder, die in den 1870er und 1880er Jahren in die Volksschule eintraten, zur ersten Generation gehörten, die überhaupt voll beschult wurden, musste zu starken Diskrepanzen in der elterlichen und kindlichen Wahrnehmung führen. Die Schule nahm schon vom Zeitaufwand her einen ganz zentralen Stellenwert im Leben der Kinder ein. Bis in die frühen 1890er Jahre hinein hatte in Hamburg noch die geteilte Schulzeit gegolten: Morgens wurden vier und nachmittags noch einmal zwei Zeitstunden unterrichtet, unterbrochen durch eine zweistündige Mittagspause. Mit dem Argument, diese Regelung würde den Kinder zu viel Gelegenheiten geben, unbeaufsichtigt in der Stadt umherzustreifen, setzte sich die Schulbehörde allerdings schon bald für die Einführung der ungeteilten Schulzeit ein. Unterstützt wurde sie dabei von großen Teilen der Elternschaft. In einer Umfrage von 1892 – die übrigens einen der wenigen Versuche der Schulverwaltung darstellte, bei anstehenden organisatorische Neuregelungen zuerst die Meinung der Eltern einzuholen – stimmten 15.754 Eltern für und 14.109 gegen die Einführung der ununterbrochenen Schulzeit. Immerhin fast 12.000 Eltern gaben in derselben Umfrage außerdem an, in der Mittagspause nicht gemeinsam mit ihren Kindern das Mittagessen einnehmen zu können, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass gerade sie es waren, die für eine Abschaffung der bisherigen Regelung stimmten.2 Wichtiger noch als der reine Zeitumfang, den der Unterricht in Anspruch nahm, war im Erleben vieler Schüler und Schülerinnen indes das strikte, fast schon militärische Reglement, das den Schulalltag bestimmte. Schilderungen über monotone Übungen in der Gruppe, die autoritäre Durchsetzung unbedingten Schulvereins’ abgehalten, auf dem die Kinder der Knaben- und Mädchenschule sangen und deklamierten. Nach der Vorführung wurden die Kinder nach Haus geschickt, und es wurde getanzt. Dieses ‚Vergnügen’ gab eine gute Gelegenheit zum Kennenlernen zwischen Lehrern und Eltern, die amtlich nicht möglich war, weil der amtliche Verkehr zwischen Eltern und Schule dem Hauptlehrer vorbehalten war.“ Junge [1998], S. 100 f. 1 Lehberger [1992], S. 436 ff. 2 Blinckmann [1930], S. 111 ff. Die Frage nach der gemeinschaftlichen Einnahme von Mahlzeiten war dadurch motiviert, dass in der kontroversen Bürgerschaftsdebatte zum Gegenstand die Gegner der geforderten Neuregelung die Befürchtung geäußert hatten, die ungeteilte Schulzeit würde den familiären Zusammenhalt untergraben, weil die Kinder nicht mehr in Gemeinschaft mit den Eltern die Mittagsmalzeit einnehmen könnten.
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Gehorsams und mehr oder weniger geglückte individuelle oder kollektive Akte der Auflehnung gegen diese Art von Dressur bilden ein stets wiederkehrendes Element in Arbeiterlebenserinnerungen, die aus jener Zeit erhalten geblieben sind.1 Noch in dem Zeitzeugenbericht eines 1902 geborenen Barmbeker Schülers hieß es hierzu rückblickend: „Ich erinnere mich noch, daß es eine Zeit gab, wo wir auf dem Schulhof als große Schüler zu dreien in der Reihe als Kolonne bedächtig unsere Bahnen zu ziehen hatten. An der Mauer des Schulhauses waren große römische Ziffern angebracht. Jede Schulklasse durfte sich nur bei ihrer Klassenziffer aufstellen. [...] In den Klassen gab es noch die mehrsitzigen Bänke mit einer durchgehenden Klappe. Also wurde immer geübt: Eins – Anfassen! Zwei – Hochheben! Drei –Niederlassen! Aber bitte alles ohne Geräusch – sonst wurde wieder geübt. [...] Bis zum Ausbruch des Krieges 1914 hatte wir einen jungen Klassenlehrer, Herrn von Deeßen. Er hatte gerade seine Militärzeit hinter sich gebracht. Einmal gab es das Aufsatzthema ‚Mein Lehrer’. Einer unserer Schüler schrieb unter anderem: Mein Lehrer ist ein Schinner. Die Folgen seiner Aufrichtigkeit, zu der er doch wohl aufgefordert wurde, waren einige Stripse vor den Augen seiner Kameraden. Aber daran hatten wir uns leider gewöhnen müssen.“2
Tatsächlich wurde vor 1914 die Notwendigkeit körperlichen Strafens zur Durchsetzung schulischer Disziplin noch von kaum einem Lehrer, wie progressiv er auch immer eingestellt sein mochte, grundsätzlich in Frage gestellt. Die große Mehrheit der Lehrerschaft bezweifelte zwar, dass die bürgerlichen Strafen als Vorbild für die Handhabung schulischer Zuchtmittel herhalten konnte und trat aus diesem Grund auch für eine Abschaffung der so genannten Strafschule ein, einem bis 1905 bestehenden „Schulgefängnis“ zur Maßregelung und Aussonderung von notorischen „Schuleläufern“ und „Unruhestiftern“. Dass den Lehrern aber ein Züchtigungsrecht zustand und dass dieses bei richtiger, sprich: pädagogisch-individualisierender Handhabung auch durchaus zweckdienlich sei, galt jedoch als unumstößlicher Grundsatz.3 1
Vgl. hierzu: Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 593-687. „Ein ehemaliger Schüler, Ernst Westphal, Jahrgang 1902 erinnert sich“ in: Radach [1999], S. 16 f. Eine solche Schülerwahrnehmung korrespondierte übrigens mit derjenigen von jungen Lehrern, die sich für eine Reform der Unterrichts- und Erziehungsmethoden einsetzten (Lehberger [1992], S. 431). 3 Vgl. zum allgemeinen Standpunkt der Hamburger Lehrerschaft zur Anwendung körperlicher Züchtigung: Blinckmann [1930], 149 ff. Zur Strafschule und der Diskussion um dieselbe: A.a.O., S. 135 ff. u. Osterloh [1981]. Osterloh geht in ihrer Untersuchung auch eingehend auf den Zusammenhang zwischen Zwangserziehung und Strafschule ein und hebt hervor, dass v.a. die Abhängigkeit der Einweisung in die Strafschule von der elterlichen Zustimmung einen zentralen Kritikpunkt an der Institution darstellte. Dass die Strafschule als gefängnisartige Einrichtung zur Durchsetzung der Schulzucht im Reichsgebiet einmalig war, ging aus einer Anfrage der Oberschulbehörde an sämtliche 2
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Die innere Einstellung, welche die Volksschüler vor allem in der Periode unmittelbar nach Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht zur Schule hatten, wird an einem von Blinckmann übermittelten Brauch deutlich: Viele Kinder zerrissen noch am Tage ihrer Schulentlassung sämtliche Bücher und Hefte und verstreuten sie in der Gegend, so dass sich den Passanten ein „wüster Anblick bot“.1 Die strenge Schulzucht und die darauf bezogenen mehr oder weniger stark ritualisierten Formen kollektiver Auflehnung dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schulzucht in ihrer Strenge nur wenig von den gebräuchlichen häuslichen Erziehungsmethoden abwich. Und so rigide und zuweilen brutal uns die Schulzucht der Kaiserzeit im Rückblick auch erscheinen mag, sie schloss wirkliche Bildungserlebnisse keineswegs vollständig aus.2 Ein Indiz hierfür ist die Differenziertheit und Hingabe, mit der in vielen Arbeiterlebenserinnerungen der einzelnen Lehrer mit ihren Schrullen und Eigenheiten gedacht wurde. Der eben zitierte Barmbeker Zeitzeuge etwa bemerkte zu einem seiner Lehrer geradezu schwärmerisch: „Er war für die damalige Zeit der Lehrer! Er hatte zu den Schülern ein sehr menschliches Verhältnis, wie kein anderer in der Schule. Im Geschichtsunterricht gab es im letzten Jahr kein ödes Auswendiglernen von Zahlen aus der Geschichte – nein – nur Einführung und Verständnis für die geschichtlichen Zusammenhänge.“3
Zwei Aspekte der Geschichte der Volksschule im Zeitraum 1884-1914 deuten darauf hin, dass solche Erfahrungen allmählich zunahmen: Zum einen ermöglichten die verbesserten Rahmenbedingungen ein langsames Abrücken von den auf strenge Disziplin und monotones Repetieren beschränkten Unterrichtsmethoden. Insbesondere die günstige Entwicklung der Lehrer-Schüler-Relation dürfte eine stärker individualisierende Umgangsweise befördert und zu einem ganz allmählichen – für die Schüler und Schülerinnen vermutlich kaum wahrnehmbaren – Wandel des „Lernklimas“ beigetragen haben. Zum anderen wuchs in den Volksschulen der Einfluss der in Hamburg besonders prominent vertretenen Kunsterziehungsbewegung. Neue Unterrichtsformen, wie Anschauungsunterricht, Ausflüge in die nähere Umgebung und künstlerische Darbietungen, zeichneten sich als Alternativen zu den traditionellen Schulbehörden der deutschen Teilstaaten aus dem Jahre 1905 hervor, die schließlich auch zur Auflösung der Einrichtung führte. 1 Blinckmann [1930], S. 133. Es sei außerdem vorgekommen, so berichtet Blinckmann an derselben Stelle, dass Volksschullehrer nach der Entlassung der Schulabgänger um Polizeischutz baten, weil ehemalige Schüler sie auf dem Nachhauseweg abzupassen versuchten, um sie gemeinschaftlich zu verspotten und zu verhöhnen. 2 Vgl. hierzu die Ausführungen bei: Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 662 ff. 3 Radach [1999], S. 16. Ähnlich positive Erinnerungen bewahrte auch Neddermeyer an einen liebevoll als „Papa Hennings“ titulierten Lehrer, und auch seinen sonst nicht so geliebten, weil wenig engagierten Klassenlehrer lernte er schätzen, als dieser ihn und zwei Klassenkameraden zu sich nach Hause einlud, um ihnen das Schnitzen beizubringen (Neddermeyer [1980], S. 22 ff.).
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Lernmethoden ab und wurden durch die Lehrerschaft immer bereitwilliger adaptiert. Gleichwohl blieb für die Mehrheit der Hamburger Volksschüler bis 1914 offenbar die ambivalente Erfahrung bestimmend, dass schulischer Wissenserwerb nur um den Preis strikter Unter- und Einordnung zu haben war und dass die Schuljahre besser zu ertragen waren, wenn man sich kollektive oder individuelle Strategien der Selbstbehauptung zu eigen machte, mit denen sich innere Distanz zum Schulsystem aufbauen ließ.1
2.3.2 Arbeit und Ausbildung Neben Familie und Schule war „Arbeit“ der dritte zentrale Sozialisationsbereich im Leben von Kindern der großstädtischen Unterschicht. Spätestens mit Schulentlassung und Konfirmation, die gewöhnlich in das 14. Lebensjahr fielen, begann für die Kinder der Unterschicht das Arbeitsleben. Der Großteil von ihnen hatte allerdings schon während der Schulzeit erste Erfahrungen mit bezahlter Arbeit sammeln können. Wie schon wiederholt erwähnt, stellte es für viele Familien eine bittere Notwendigkeit dar, dass die Kinder zum Lebensunterhalt der Familie beitrugen. Eine Quantifizierung dieser Tätigkeiten ist ausgesprochen schwierig und fördert widersprüchliche Ergebnisse zu Tage. Als die Hamburger Oberschulbehörde im November 1890 zum ersten Mal mit einer Umfrage den Anteil arbeitender Volksschüler und Volksschülerinnen zu erheben versuchte, stellte sie Werte von 12,9 Prozent für Jungen und 6,2 Prozent für Mädchen fest.2 Vierzehn Jahre später, 1904, wurden bei einer erneuten Erhebung schon Anteile von 31,8 Prozent und 72 Prozent ermittelt.3 Da ein solch dramatischer Anstieg der Kinderarbeit kaum der Wirklichkeit entsprochen haben dürfte, müssen die Gründe für die unterschiedlichen Ergebnisse im Erhebungsverfahren gesucht werden. Vermutlich hatte sich unter dem Einfluss der neuen Arbeitsschutzgesetzgebung vor allem der behördliche Blick für die Arbeitsbelastung von Kindern erheblich geschärft. Das 1903 erlassene und Anfang 1904 in Kraft getretene Kinderschutzgesetz des Reiches ging über die bisherigen Schutzregelungen der Gewerbeordnung weit hinaus.4 1 Seyfarth-Stubenrauch [1985], S. 621 u. S. 685 ff. Nach Lehberger [2006], S. 110 handelte es sich bei den durch die Kunsterziehungsbewegung bewirkten Reformanstößen bis 1918 noch um Einzelerscheinungen. Erst mit dem politischen Systemwechsel von 1918 sei die Reformbewegung von der Schulverwaltung unterstützt worden und habe eine größere Breitenwirkung an den Hamburger Volksschulen entfalten können. 2 Fiege [1970], S. 57. 3 Hagemann [1984c], S. 261. 4 A.a.O., S. 262. Sein Geltungsbereich erstreckte sich auf den gesamten sekundären Sektor, setzte als Altersgrenze für die Beschäftigung fremder Kinder das 12. Lebensjahr fest, verbot gänzlich die Arbeit in besonders gesundheitsgefährdenden Bereichen, vor Schulbeginn, während der Nachtstunden
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Die Schulbehörde zeigte sich durch die von ihr ermittelten Werte, die insbesondere die bisherigen Erkenntnisse über das Ausmaß von Mädchenarbeit gründlich revidierten, übrigens keineswegs beunruhigt. Solange der Schulbesuch selbst gewährleistet war, sah man die Kinderarbeit vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer erzieherischen Wirkung.1 Diese Einstellung war offenbar auch in der Arbeiterschaft weit verbreitet. Als sich im Februar 1903 eine Gruppe von Arbeitern in einer Hammerbrooker Kneipe über das Thema unterhielt und dabei von einem Spitzel der politischen Polizei belauscht wurde, war man sich zwar im Großen und Ganzen darüber einig, dass viele Kinder von ihren Arbeitgebern ausgebeutet wurden und die bestehenden Gesetze keinen wirksamen Schutz dagegen boten. Einer der Anwesenden wies aber ausdrücklich auf die finanzielle Notwendigkeit zum Mitverdienst in kinderreichen Familien hin und ein anderer pflichtete ihm bei, indem er die sittlich-moralische Bedeutung von Kinderarbeit hervorhob. „Eine mäßige Beschäftigung“, so hielt der Polizeiagent die Aussage dieses Arbeiters fest, „müssen Kinder haben, sonst verbummeln sie. Ein Sich-SelbstÜberlassen der Kinder ist in einer Großstadt ebenso gefährlich wie eine Überarbeitung. Die Statistiken beweisen, daß die Zahl der jugendlichen Verbrecher sich von Jahr zu Jahr steigert und daß speziell die Großstädte an der Spitze marschieren. Daß dieses aber nicht von zu anstrengender Arbeit herrührt, ist wohl selbstverständlich.“2 Die offizielle Linie der SPD zur Kinderarbeit sah anders aus. Die Parteispitze kritisierte das 1903 erlassene Kinderschutzgesetz wegen der Aussparung der Landwirtschaft, der folgenreichen Unterscheidung zwischen „fremden“ und „eigenen“ Kindern und vor allem wegen der unzureichenden Kontrolle der einzelnen Bestimmungen durch die Organe der Hamburger Gewerbepolizei. Die wenige Jahre später gegründete parteiinterne „Kinderschutzkommission“ entschloss sich deshalb, den Behörden vorzumachen, wie eine wirkungsvolle Kontrolle von Kinderarbeit aussah. Tatsächlich gelang es den Mitgliedern der Kommission an nur einem Morgen des Jahres 1910, in Hamburg, Altona und Wandsbek nicht weniger als 1.921 erwerbstätige Schulkinder aufzuspüren.3 Trotz dieses „Erfolges“ musste die Kommission resigniert eingestehen, dass nur die wenigsten Eltern Verständnis für die Aktion aufbrachten: „Leider haben wir [...] bisher ein zu geringes Verständnis für die schädigenden Folgen der Kinderarbeit und nicht genügendes Entgegenkommen gefunden. – Gewiß, und an den Feiertagen und sah schließlich als Kontrollinstrument die Einführung spezieller Arbeitskarten vor (Schröder [1966], S. 160). 1 Hagemann [1984c], S. 262. 2 Evans [1989], S. 157. 3 Die Beschäftigung der angetroffenen Kinder hatte v.a. im Austragen von Backwaren, Milch und Zeitungen für das „bürgerliche Publikum“ bestanden.
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nicht selten war es nur bittere Not, welche die Eltern veranlasste, ihre Kinder bereits auf Erwerb auszuschicken, doch gerade bei diesen Familien fanden wir verhältnismäßig mehr Verständnis für unser Bestreben, als bei jenen, wo Not nicht die Ursache der Kinderarbeit war. Das wenigste Entgegenkommen haben wir in der Regel gefunden bei jenen Geschäftsleuten, die ihre eigenen Kinder beschäftigen, besonders bei Brot- und Milchhändlern. [...] Nur Kurzsicht und falsch verstandenes materielles Interesse ist es in der Regel, was die Eltern bewegt, sich der Beseitigung der Kinderarbeit entgegenzustellen.“1
Mahnende Appelle halfen da wenig. An der ambivalenten Haltung der Arbeiterschaft gegenüber Kinderarbeit änderte sich bis in die Weimarer Zeit hinein kaum etwas. Es ist verhältnismäßig wenig darüber bekannt, wie Kinder der Unterschicht ihre ersten Arbeitserfahrungen erlebten. Im Erleben noch schulpflichtiger Kinder stand bei außerhalb des Hauses verrichteten Tätigkeiten anscheinend der Reiz des Neuen, der Zugewinn an Autonomie und vor allem die Aussicht, sich für einige Minuten oder Stunden den Kontrolle der Erwachsenen entziehen zu können, im Vordergrund. Vor allem dort, wo Kinder zuvor sehr stark in hauswirtschaftliche Tätigkeiten, die Betreuung kleinerer Geschwisterkinder oder die Verrichtung von Heimarbeit einbezogen worden waren, war diese Wahrnehmungsweise dominant.2 Sehr anschaulich wird dieser Aspekt von Anna Kordmann, Jahrgang 1887, geschildert, die vierjährig von Dresden nach Altona kam, wo sie zusammen mit ihren fünf Halbgeschwistern aufwuchs. Kordmann fing im Alter von 10 Jahren an, während der großen Schulpause – wir befinden uns im Preußischen Altona – Essen an Leute auszutragen, die ihre Arbeitsstelle nicht verlassen konnten. Dazu musste sie zum Teil sehr lange Fußwege zurücklegen. Nach der Schule erledigte sie dann den Großeinkauf für einen Mittagstisch und mühte sich mit großen Tüten ab, die Mehl, Zucker und andere Grundnahrungsmittel enthielten. Für diese Tätigkeit, die sie während der gesamten Schulzeit beibehielt und die sie neben der Beaufsichtigung und Begleitung ihrer jüngeren Geschwister erledigte, bekam sie eine Mark pro Woche, die direkt in die Haushaltkasse der Familie wanderte.3 Auffallend ist gleichwohl, dass Kordmann die Arbeit, die sie als Kind verrichtete, keineswegs nur negativ in Erinnerung behielt. Neben dem vollwertigen Essen, das sie auf der Arbeit bekam, schätzte sie vor allem die Freiheit, die ihr bei der Ausführung der Tätigkeit gelassen wurde. Das ihr entgegen1
STAH 611 20.13, Verein Kinderschutz und Jugendwohlfahrt 7, Bl. 18. Vgl. hier etwa den Bericht des 1898 im brandenburgischen Stendal geborenen und um 1905 mit seiner Familie nach Hamburg-Barmbek übergesiedelten Ludwig Turek. Turek musste seinem Stiefvater bereits siebenjährig beim Zigarrendrehen zur Hand gehen, was ihm angesichts der verlockenden Nähe des Hafens sichtbar schwer fiel (Turek [1975], S. 8-9). 3 Hagemann [1984c], S. 261. 2
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gebrachte Vertrauen erfüllte sie mit Stolz, man nahm sie ernst - eine Erfahrung, die sie bei der Verrichtung häuslicher Arbeiten, zu denen sie bisher herangezogen worden war, offenbar verwehrt geblieben war.1 Der Einstieg ins Berufsleben nach erfolgter Schulentlassung wurde demgegenüber offenbar von vielen Hamburger Unterschichtsjugendlichen als harter Einschnitt empfunden. Nicht selten war mit dem Eintritt ins Erwerbsleben der Auszug aus dem elterlichen Haushalt verbunden.2 Auch mit der Schulentlassung und dem Eintritt ins Erwerbsleben waren natürlich vielfältige Hoffnungen verbunden, aber diese wichen zumeist recht bald der Erfahrung von neuer Fremdbestimmung, dem Ausgeliefertsein an die unberechenbare Dynamik des Arbeitsmarktes und der Entbehrung materiellen und ideellen Schutzes durch die Familie. Die Ernüchterung begann häufig schon bei der Berufswahl.3 Neigung und Talent der Jugendlichen spielten hierbei eine eher untergeordnete Rolle. Die Väter entschieden gewöhnlich auf der Grundlage eigener beruflicher Erfahrungen und mehr oder weniger rigider gesellschaftlicher Anschauungen, ob und was aus ihren Söhnen und Töchtern einmal werden sollte.4 Auch materielle Erwägungen spielten bei der Berufswahl eine maßgebliche Rolle und schränkte Alternativen zum vornherein stark ein. Schenkt man den Angaben des Waisenhauskollegiums Glauben, so war vor allem unter unverheirateten Müttern die Neigung weit verbreitet, die Wahl der Lehr- bzw. Dienststelle allein an der Höhe des zu erwartenden Lohnes auszurichten.5 Daneben schränkte auch die Klassenstufe, welche die Jugendlichen am Ende ihrer Schullaufbahn erreichten, ihre Ausbildungs- und Arbeitschancen erheblich ein. Schon im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhunderts gab es unter den männlichen und weiblichen Jugendlichen außerdem ausgesprochene Neigungsberufe, die tendenziell überlaufen waren. Auch Berufswünsche, die sich unter den gegebenen persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen kaum realisieren ließen, waren offensichtlich weit verbreitet. So strömten nach Hamburg traditionell viele jugendliche männliche Arbeitssuchende, die 1 Zum Arbeitsstolz als zentralem Erfahrungsmoment in frühen Arbeiterlebenserinnerungen vgl.: Seyfarth-Stubenrauch [1984], S. 487 ff. Schon erheblich ambivalenter fielen die Arbeitserfahrungen aus, die der junge Robert Neddermeyer als Schulkind etwa zur gleichen Zeit sammelte (vgl.: Neddermeyer [1980], S. 30 ff., 11 ff. u. 17). 2 Ob dieser Schritt tatsächlich von Jungen im Allgemeinen früher als von Mädchen vollzogen wurde, lässt sich mit Bestimmtheit kaum noch feststellen. Zumindest bei Kindern ungelernter Arbeiter dürfte sich der Zeitpunkt der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und des Auszuges aus dem elterlichen Haushalt bei den Geschlechtern weitgehend geglichen haben. Darauf deutet einerseits der Umstand hin, dass es nur einem Bruchteil der Jungen möglich war, eine Lehre zu beginnen. Auf der anderen Seite war der Eintritt in ein Dienstverhältnis bei jungen Frauen zumeist gleichbedeutend mit der Aufnahme in den Haushalt der Dienstherrschaft. 3 Seyfahrt-Stubenrauch [1985], S. 433 ff. und 508 ff. 4 Rosenbaum [1992], 231 ff. 5 BlHWpfl. 7/1908, Heft 8, S. 39 ff.
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gern zur See fahren oder sogar auf einem Dampfer als Steward anheuern wollten, ohne ihre Erfolgschancen realistisch einschätzen zu können und ohne eine genau Vorstellung davon zu haben, was sie an Bord der Schiffe erwartete.1 Mädchen liebäugelten dagegen häufig mit einer der relativ gut bezahlten Beschäftigungen in den neu entstehenden städtischen Dienstleistungssparten.2 Gemeinsam war Jungen und Mädchen offenbar, dass sie solche Ausbildungsformen und Berufe bevorzugten, die ein gutes Einkommen versprachen, verhältnismäßig geringe körperliche und psychische Unannehmlichkeiten mit sich brachten, ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit verhießen und als ebenso zukunfts- wie prestigeträchtig galten.3 So genannte Nachtstellen, also gewöhnlich recht kleine Ausbildungs- bzw. Arbeitstellen, in denen ein Teil der Entlohnung in Form von Unterbringung und Beköstigung entrichtet wurde und in denen die Jugendlichen auch einer Überwachung ihrer begrenzten Freizeit unterlagen, wurden dagegen nach Möglichkeit gemieden. Gerade diese ungeliebten Nachtstellen dominierten aber noch lange Zeit das weibliche Arbeitsangebot in Hamburger und vielen Eltern wünschten es ausdrücklich, dass die Freizeit ihrer Töchter eingeschränkt und kontrolliert wurde. Über eine subjektive Erfahrung des Berufseinstiegs in einem für die Hamburger Wirtschaft typischen Erwerbszweig sind wir durch die biografischen Schilderungen Robert Neddermeyers unterrichtet. Wie Kordmann hatte auch Neddermeyer, der im selben Jahr wie diese als uneheliches Kind einer Altonaer Krankenwärterin zur Welt kam, bereits als elfjähriges Schulkind erste, durchaus ambivalente Arbeitserfahrungen als Laufbursche sammeln können. An seine dreijährige Lehrzeit als Ewerführer behielt Neddermeyer keine guten Erinnerungen. Neben dem frühen Aufstehen und der langen Arbeitsdauer – ein Werktag umfasste elf Arbeitsstunden – blieben ihm aus dieser Zeit vor allem die fehlende Anleitung, die körperliche Überforderung sowie die vielfältigen Gefahren, die seine Tätigkeit mit sich brachte, im Gedächtnis. „Mir wurde eine ‚Bulle’, eine kleine Schute von etwa fünf Meter Länge, anvertraut. Alle Handgriffe zeigte man mir einmal, dann mußte ich selbst sehen, wie ich weiter1 Vgl. hierzu etwa: Müller [1913b], S. 727 f. Offenbar handelte es sich dabei allerdings zumeist um Handwerkersöhne. Kindern ungelernten Arbeiter bescheinigten zeitgenössische Beobachtern demgegenüber einen ausgesprochenen Realitätssinn und eine ebenso stark hervortretende Anpassungsgabe bei der Bestreitung ihres Lebensunterhaltes. Für Schwärmereien zeigten sie sich nur wenig empfänglich (Schultz [1912], S. 28). 2 Petersen [1907a], S. 85 nannte als bevorzugte Berufssparten v.a. den Post- und Telegraphendienst sowie Beschäftigungen im Kontor, Büro und Einzelhandel. 3 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Aufstellung des Hamburger Waisenhausdirektors Petersen aus dem Jahre 1905, in welcher dieser die abgeschlossenen Lehrverträge entlassener Waisenhauszöglinge den angezeigten offenen Lehrstellen gegenüberstellte. Besonders stach hier das Überangebot an Lehrstellen im Bäcker- und Schmiedehandwerk hervor (a.a.O., S. 130 f.).
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kam. Tagelang stakte ich mit den großen Stangen herum wie eine Heuschrecke mit ihren langen Beinen. Es gab aber auch einige ältere Schiffer, die sich meiner annahmen. ‚Junge, dat is en Wiberknoten [...], keen Schipperknoten, dat geit nich wedder op’, bekam ich oft zu hören. So lernte ich Schifferknoten und alles andere was zu einem Ewerführer gehört. – Schon am zweiten Tag meiner Lehre mußte ich mit meinem ‚Bullen’ 15 Sack Graupen von Hedrichs Dampfmühle übernehmen und sie in Hamburg an einen Überseedampfer löschen. Die Zweizentnersäcke waren für mich viel zu schwer. Das Ergebnis war, daß ich mit 16 Jahren krumm ging. – Als ich mir einmal beim Einhaken des Schlepphakens den halben Finger aufriß und wie ein Stier brüllte, hatte ich zugleich die Hoffnung, daß diese Lehrzeit nun für mich vorbei sei. Sie ging aber weiter.“1
Ganz anders, aber zumeist nicht weniger schwierig, gestalteten sich die Arbeitsverhältnisse, mit denen sich schulentlassene Volksschülerinnen konfrontiert sahen. Beim Dienstmädchenberuf handelte es sich nicht um einen hamburgspezifischen Beschäftigungszweig. Dennoch kann er im Hamburg des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts was die Zugangsvoraussetzungen und den Verbreitungsgrad angeht, als weibliches Pendant zu den angelernten Tätigkeiten im Hafen gelten.2 Im Jahre 1910 traten in Hamburg fast drei Viertel aller Volksschulabgängerinnen einen häuslichen Dienst an.3 Die Masse der Dienstmädchen war nicht etwa in den großbürgerlichen Haushalten in Alsternähe tätig, sondern arbeitete als so genannte Alleinmädchen in einem klein- oder mittelbürgerlichen Haushalt irgendwo sonst in der Stadt.4 Kennzeichnend für den Arbeitsalltag junger weiblicher Dienstboten waren die diffusen und mit einer hohen persönlichen Erwartungshaltung gepaarten Anforderungen an das „Auftreten“ und die Qualität der zu erbringenden Arbeitsleistung, die ausgesprochen langen und wenig abgegrenzten Arbeitszeiten sowie das Ineinanderfallen von Wohn- und Arbeitsort. Persönliche Rückzugsmöglichkeiten gab es kaum, die Schlafkämmerchen der Dienstmädchen waren zumeist sehr klein, in der Regel nur sehr spärlich möbliert und überdies meist mangelhaft beheizt und beleuchtet. In biografischen Zeugnissen von Dienstmädchen bilden außerdem Klagen über unzureichende, verdorbene und ungerecht zugeteilte Kost ein stets wiederkehrendes Element. Die Kon1
A.a.O., S. 39. Vgl. zum Folgenden: Deutelmoser [1983] u. Purpus [2000]. Die Berufsbezeichnung „Dienstmädchen“ besagte nichts über das Alter der so Benannten, sondern war Ausdruck einer Infantilisierung, die für das gesamte Arbeitsverhältnis charakteristisch war. 3 Purpus [2000], S. 38. Zwanzig Jahre zuvor waren es sogar noch 85,4% gewesen. 4 Von daher kann auch die zeitnah veröffentliche autobiografische Darstellung des Hamburger Dienstmädchens Doris Viersbeck (Viersbeck [1910]), so anschaulich und reflektiert sie auch die Arbeitsverhältnisse von weiblichen Dienstboten schildert, kaum als repräsentativ gelten, weil sie ausschließlich in großbürgerlichen Haushalten beschäftigt war. 2
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takte zur Außenwelt und zu anderen Dienstmädchen beschränkten sich auf das Einkaufen und kleinere Botengänge sowie die außerordentlich knapp bemessenen Ausgehzeiten an den Wochenenden, die durch die Dienstbotenordnung vorgeschrieben waren. Die Anleitung zur Arbeit war Sache der Dienstherrin, die sich dieser Aufgabe zumeist in einer Mischung aus mütterlichem Erziehungseifer und dem Bemühen um persönliche Distanz widmete. Für die Dienstmädchen ergab sich daraus die doppelte Schwierigkeit, einerseits tiefe Einblicke in das Privatleben der Dienstherrschaft zu erhalten, sich als Person aber völlig zurücknehmen zu müssen – und andererseits den widersprüchlichen Erwartungen und Anforderungen bis ins Detail gerecht werden zu sollen, ohne im eigentlichen Sinne „in Erscheinung treten“ zu dürfen. Für kaum eine der Hamburger Volksschülerinnen, die nach der Schulentlassung in den häuslichen Dienst traten, stellte das Dienstmädchendasein eine langfristige Berufsperspektive dar. Die Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten waren zu gering und die Arbeitsverhältnisse zu belastend, um sie dauerhaft an diese Tätigkeit zu binden. Die Heirat brachte gewöhnlich das ungeduldig erwartete Ende der Dienstmädchenjahre. Allerdings gehörten auch vor der endgültigen Aufgabe der Tätigkeit der Stellenwechsel zum Berufsbild der Dienstmädchen. Nur durch einen solchen konnten die Mädchen hoffen, in der beschränkten Karriereleiter der häuslichen Dienste vom „Klein- und Alleinmädchen“ zum „Hausmädchen“ oder sogar zur „Köchin“ aufzusteigen. Noch häufiger aber waren die Stellenwechsel durch die als unzumutbar empfundenen Arbeits- und Lebensverhältnisse motiviert. Die kurzfristige und mehr oder weniger spontane Aufgabe von Lehr- und Arbeitsverhältnissen durch Jugendliche war übrigens kein Spezifikum des Dienstbotenstandes. Auch männliche Jugendliche versuchten auf diese Weise aus Arbeitszusammenhängen auszubrechen, die sie als demütigendend erlebten. Am grundsätzlichen Charakter der Lehr- und Dienstverhältnisse änderte das allerdings nur wenig, denn kaum einer der Dienstgeber sah sich durch Aufkündigung der Arbeitsbeziehung veranlasst, das eigene Verhalten zu überdenken oder offenkundigen Missständen abzuhelfen. Durch den Verweis auf angeblich umsichgreifende Arbeitsunlust und mangelnde Stetigkeit unter Jugendlichen ließ sich bequem rationalisieren, was auch als berechtigte Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hätte aufgefasst werden können. P.G. Müller etwa, der langjährige Vorsitzende des Hamburger „Vereins für Kinderschutz und Jugendwohlfahrt“, kommentierte die Gründe, die ihm Jugendliche Anfang der 1910er für ihren Stellenwechsel nannten, wie folgt: „Es mag sein, daß die Arbeitsburschen und die [...] ins Auge gefassten Lehrlinge auch in Arbeits- und Lehrstellen gewesen sind, deren Aufgaben sie körperlich oder
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geistig tatsächlich nicht gewachsen waren, daß die geforderte Arbeit für sie also wirklich ‚zu schwer’ war, daß sie in Arbeitsstellen eintraten, wo Gerüche, Temperatur u.a. herrschten, die gerade diese Jugendlichen auf Dauer nicht ertragen konnten; es mag auch sein, daß die Jugendlichen geringere Löhne bezogen, als ihre Arbeitskollegen; dabei darf man aber doch nicht aus dem Auge lassen, daß diese Jugendlichen immer nur ihren Lohn, nie auch ihre Leistungen u.a. Umstände [...] mit dem der Arbeitskollegen verglichen; vielfach aber waren ihr mangelnder Trieb zu eifriger Tätigkeit, ihre Gleichgültigkeit, ihre Langsamkeit, ihre Saumseligkeit, ihre Ungeschicklichkeit, ihre Vergeßlichkeit die unmittelbaren Anlässe zum Stellenwechsel. Jugendliche mit derartigen Eigenschaften werden gewiß auch häufiger von Arbeitgebern und Lehrmeistern schlechter behandelt als tüchtige, und die Jugendlichen bezeichnen dann Arbeits- und Lehrstellen als schlecht, in denen tüchtige Jugendliche gut vorwärts kommen.“1
Im günstigsten Fall ließ sich durch den Wechsel des Dienstverhältnisses eine geringe Verbesserung der Arbeits- und Lebensumstände erzielen. In der Regel aber stellte sich dieser Schritt als ein Gang vom „Regen in die Traufe“ dar.2 In einigen, zahlenmäßig offenbar nicht zu vernachlässigenden Fällen war der wiederholte Stellenwechsel sogar der Anfang einer beruflichen Abwärtskarriere, die zu einer Verengung beruflicher Möglichkeiten führte und in Armut sowie fürsorgerischer Abhängigkeit endete.3
2.3.3 Sozialisationsraum „Straße“: Gleichaltrigengruppe, neue Medienerfahrungen und organisierte Freizeit Für die Sozialisation von Arbeiterkindern im Zeitraum 1884-1914 waren neben dem Familienleben, der Schule und der Arbeit vor allem die Erfahrungen hoch bedeutsam, die sie außerhalb der Schulzeit und außerhalb der Wohnung vorrangig unter Gleichaltrigen sammelten. Vieles deutet sogar darauf hin, dass zumindest im fortgeschrittenen Kindesalter dieser Erfahrungsraum die anderen „naturwüchsigen“ oder institutionalisierten Lernorte sogar an Bedeutung übertraf. Wenn dafür im Folgenden als Sammelbezeichnung der Begriff „Straße“ verwendet wird, so darf dabei nicht übersehen werden, dass dieser nicht nur eine topografische Verortung, sondern bereits eine wertenden Konnotation enthielt: „Straße“ fungierte in der sozialreformerischen Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als eine „Chiffre für alles gesellschaftlich Un-Geordnete, UnKontrollierte, Nicht-Integrierte“, und entsprechend negativ war auch die zeitge1
Müller [1913b], S. 729. Vgl. hierzu auch Viersbeck [1910]. 3 Müller [1913b], S. 731 ff. 2
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nössische Bezeichnung „Straßenjunge“ konnotiert.1 Die bereits im 18. Jahrhundert einsetzende Identifikation von „Straßenkindheit“ als defizitäres Sozialphänomen lässt sich nicht losgelöst von der Etablierung des zunächst im Großbürgertum aufkommenden Ideals einer weitgehend „verhäuslichten Kindheit“ begreifen.2 Es ist deshalb rückblickend ausgesprochen schwierig zu sagen, welche Gründe für die wachsende Thematisierung der Straßenkindheit im sozialreformerisch-pädagogischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts überwogen: die reale Zunahme unkontrollierter, unter Gleichaltrigen im Freien verbrachter kindlicher „Freizeit“ oder doch eher die Steigerung bzw. Veränderung der pädagogischen Ansprüche und sozialen Anforderungen, an denen das unbeaufsichtigte Aufwachsen gemessen wurde.3 Außer Frage steht demgegenüber, dass die Konfrontation mit der großstädtischen Umwelt nicht nur für die gerade erst vom Lande zugezogenen Menschen eine massive Irritation überkommener Erfahrungsmuster bedeutete.4 Auch die angestammte Bevölkerung beobachtete den beschleunigten Wandel des städtischen Lebens – vorsichtig formuliert – mit „gemischten Gefühlen“.5 Das bezog sich neben der bereits behandelten umfangreichen Bau- und Sanierungstätigkeit auch auf die soziale Ordnung und die politische wie ökonomische Codierung des öffentlichen Raumes insgesamt: Auf der „Straße“ warteten die Arbeitssuchenden und Bedürftigen, fanden Streiks und Maikundgebungen statt, Geschäfte umwarben unter Einbezug neuer Medien immer offensiver eine zunehmend breiter wer1
Zinnecker [1979], S. 727 u. 733. A.a.O., S. 729 u. Schlumbohm [1979], S. 707 ff. 3 Zinnecker etwa bezeichnet die Zeit um 1900 als die eigentliche „Hochphase der „Straßenkindheit“, als Epoche, in welcher der Modus der „vor-verhäuslichten Kindheit zahlenmäßig seine größte Verbreitung, in qualitativer Hinsicht seine stärkste Wirksamkeit“ entfaltet habe. Demgegenüber betont Maase im Anschluss an Christa Bergs Konzept der „Kinderkindheit“ v.a. die kompensatorische Funktion der Straßensozialisation, die er aus den gewachsenen Disziplinierungsbemühungen der Volksschule und der fortdauernden Bedeutung der Kinderarbeit ableitet (Zinnecker [1990], S. 151 u. Maase [1996]) 4 Vermutlich stand der Einstellungswandel zur Straßensozialisation, wie ihn der Rothenburgsorter Volksschullehrer Hermann Junge durchmachte, stellvertretend für die Anschauung vieler anderer, vom Lande zugezogener Erwachsener: „Ich hielt einmal einen Vortrag über ‚Kinderhorte’, die damals in einigen Stadtteilen eingerichtet wurden. Ich erklärte mich gegen die Kinderhorte, weil ich es für falsch hielt, die Kinder vor den schlimmen Einflüssen der Straße zu hüten, vielmehr glaubte, die beste Vorbereitung für’s spätere Leben sei die Bewährung der Kinder in den Gefahren der Straße. Diese Verneinung der Wirkung der Gewöhnung und des Beispiels auf die Erziehung zeigt zwar meine Selbständigkeit der Stellungnahme und den Mut, die abweichende Meinung zu vertreten, aber auch meine Unreife und Unklarheit. Vielleicht hat mir bei meiner Stellungnahme die Gefahr einer übertriebenen Bewahrung vor dem Leben der Straße vorgeschwebt.“ Junge [1998], S. 106. 5 Wie Lees zeigen kann, stellte der in der bisherigen wissenschaftlichen Literatur hervorgehobene kulturpessimistische Antiurbanismus allerdings keineswegs die einzige Reaktionsform auf das Anwachsen und den Strukturwandel der Städte dar. Vielmehr erfüllten die zu beobachtenden Veränderungen viele Stadtbewohner mit „bürgerlichem Stolz“ (Lees [2002], S. 23-71). 2
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dende Kundschaft, die alltägliche Mobilität nahm gewaltig zu und beschleunigte den „Rhythmus“ der Stadt, das Freizeitangebot wurde reicher und bunter ... Das städtische Leben modernisierte sich und das hieß auch, dass es sich in gewissem Ausmaß „demokratisierte“. Aus diesem Grund nahmen die Auseinandersetzung, die um die Politisierung des öffentlichen Raumes geführt wurden, regelmäßig die Gestalt eines „Kampfes um die Jugend“ an. Ludwig Turek, 1898 in Stendal/Altmark geboren, vermittelt durch seine rückblickenden Schilderungen einen Eindruck davon, was „Straßensozialisation“ für einen Jungen aus dem Arbeitermilieu um 1900 bedeutete – und wie stark die Beurteilung solcher Erfahrungen durch die Betroffenen mitunter von derjenigen des besorgten Bürgertums abwich. „Mein Vater und meine Mutter gingen nun beide außer Haus arbeiten. Das war für mich eine herrliche Zeit; an einem Bindfaden hing um meinen Hals der Wohnungsschlüssel, und nach der Schule stob ich ins Freie. Fast jeden Tag führte mein Weg zum Hafen. Unwiderstehlich zog es mich dorthin, das Schuhwerk ging dabei zum Teufel, denn von Wandsbek hin und zurück sind es etliche Kilometer; aber es lohnte sich doch, denn nicht selten gab es irgendwo irgendwas zu erwischen. Natürlich steckten es einem die guten Hamburger nicht selbst in die Taschen, man mußte auch etwas dazu tun. Ich lernte von anderen ungeheuer viel dazu. An den verbotenen Stellen war das meiste zu holen. Dieses Prinzip trug uns (wir arbeiteten selten allein in dieser Branche) den Neid aller möglichen Beamten zu.“ 1
Als typisch an der zitierten Passage können neben dem familiären Hintergrund, der den Jungen „auf die Straße trieb“, auch die Abenteuerlust und die Freude gelten, die Turek angesichts seiner neu erworbenen Freiheit empfand. Die unbeaufsichtigt mit Gleichaltrigen auf den Straßen verlebte Zeit wurde allem Anschein nach als eine Art Ausgleich zu den Anforderungen erfahren, die Schule und Elternhauses an die Heranwachsenden stellten. Mit der bürgerlichen Problematisierung der Straßensozialisation stimmte die Schilderung insoweit überein, als Turek nicht etwa mit einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe, sondern ausschließlich mit männlichen Altersgenossen losgezogen war und sich dabei durch Mundraub und kleinere Diebstähle über Wasser hielt. Die Beteiligung am Straßenleben war nicht nur schichts- sondern auch geschlechtsspezifisch vorstrukturiert. Mädchen unterlagen tendenziell einer strengeren elterlichen Aufsicht und wurden stärker in häusliche Tätigkeiten eingebunden als Jungen, und sie haben sich den öffentlichen Raum auch anders angeeignet als ihre männlichen Altersgenossen.2 Das Gruppenverhalten von Minderjährigen auf der Straße war betont 1
Turek [1975], S. 9. Auf der Straße begegnete man ihnen gewöhnlich bei der Ausführung elterlicher Aufträge, der Erledigung von Einkäufen und Botengängen, der Kinderbetreuung usw. Zinnecker [1979], S. 733. 2
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„männlich“: Rauchen und Trinken, das Spielenlassen der Muskeln und die Kämpfe mit den Jungs aus der Nachbarstraße haben seit jeher die Straßenszene im Arbeiterquartier bestimmt.1 Trauben gleichaltriger Jungen, die ohne elterliche Aufsicht durch die Straßen zogen und sich in provokantem Verhalten und Gesetzesübertretungen übten – das war das Schreckensszenario nicht nur bürgerlicher Zeitgenossen. Nach dem Klassifikationsschema von Clemens Schultz, des bereits erwähnten Pastors von St. Pauli, dem eine besondere Vertrautheit mit dem proletarischen Milieu nicht abgesprochen werden kann2, handelte es sich beim jungen Turek um einen tyischen „Butje“. „Butje“, das war für Schultz in Anlehnung an den lokalen Sprachgebrauch ein Vertreter des ersten Stadiums einer entwicklungspsychologischen Stufenleiter, die beim „Halbstarken“, dem „Feind jeder Ordnung“ endete. Gemeint war damit ein Volksschüler, der den Erwachsenen notorisch den Gehorsam verweigerte, in Banden in der Stadt herumstreifte, sich gerne in der Umgebung des Hafens aufhielt und mit Freuden allerlei „Kindersünden“ bis hin zum kollektiven Diebstahl beging.3 Wie vor ihm schon viele andere Theologen, so trieb auch Schultz die Sorge um, die unbeaufsichtigten „Butjes“, „Briten“ und „Halbstarken“, welche die Hamburger Straßen bevölkerten, könnten mit ihrem ungehemmten Hass auf jegliche Konventionen und Autoritäten, dem Sozialismus in die Hände fallen.4 Und ganz aus der Luft gegriffen waren solche Befürchtungen nicht, wenn man etwa an die spontanen Fraternisierungsaktionen von Halbwüchsigen mit organisierten Arbeitern im Zuge von Straßenprotesten denkt.5 Aber so stark die Straße in der Perspektive des Bürgertums auch mit gesellschaftlicher Unordnung und gesellschaftliche Unordnung mit Sozialismus assoziiert wurde – allein mit der Sozialistenfurcht lassen sich die
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Schlumbohm [1979], S. 709; Lindner [1984], S. 373. Auf die ethnologischen Qualitäten der Schriften von Walter Classen und Clemens Schultzes weist v.a. Dudek [1990] hin. 3 Schultz [1912], S. 28. Die negative Typisierung des „Butjes“ hinderte Schultz nicht daran, auch auf dessen charakterliche Stärken wie schnelle Auffassungsgabe, Schlauheit, ausgeprägter Realitätssinn und organisatorisches Talent hinzuweisen. Walter Classen, der die dreiteilige Typologie von „Butje“,„Brit“ und „Halbstarkem“ von Schultz übernahm, schildert in seiner „Großstadtheimat“ sehr eindringlich und kritisch die Maßnahmenkarrieren, die der personifizierte „Hein Budje“ im Hamburg des beginnenden 20. Jahrhunderts gewöhnlich durchlief (Classen [1915], S. 15 f.). 4 Vgl.: Schultz [1912], S. 34 f. 5 Wenn Robert Neddermeyer in seiner Lebenserinnerung beschreibt, wie er als knapp Zehnähriger anlässlich des Hamburger Hafenarbeiterstreikes von 1896/97 mit einer Gruppe von Gleichaltrigen die aus England angeforderten Streikbrecher sowie die zu ihrem Schutz abbestellten Polizisten vom Elbhang aus mit Steinen bewarf (Neddermeyer [1980], S. 16), so schien dies ganz der Sorge des Pastors von St. Pauli zu entsprechen. 2
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massiven Ängste, die aus den zeitgenössischen Beschreibungen zum Phänomen Straßenkindheit sprechen, nicht erklären.1 Soweit sich das öffentliche Auftreten der Arbeiterkinder in Straßenspielen, Revierkämpfen und - bei den bereits schulentlassenen Heranwachsenden - in der Nachahmung des Erwachsenenverhaltens erschöpfte, sprengte dies nicht den Rahmen bisheriger Erfahrungsmuster. Aber zum einen gewann das bürgerliche Moratoriumskonzept, das den schulentlassenen Minderjährigen eine vollwertige Partizipation an der Erwachsenenwelt verwehrte, unter dem Einfluss der wissenschaftlichen Pädagogik am Ausgang des 19. Jahrhunderts zunehmend an Verbindlichkeit, so dass sich von dieser Seite her die Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Ideal und überkommenen Sozialisationsmustern innerhalb der Arbeiterschaft vergrößerte. Und zum anderen beschritten Arbeiterkinder und jugendliche auch zunehmend eigene Wege der Aneignung der sich immer rasanter entwickelnden großstädtischen Umwelt. Für die „Entdeckung des Jugendalters“ als einer distinkten Lebensphase war es von besonderer Bedeutung, dass immer mehr (männliche) Arbeiterjugendliche nach dem Schulabgang direkt ins Arbeitsleben eintraten und somit nicht nur der in früheren Zeiten durch den Lehrherren ausgeübten sozialen Kontrolle entgingen, sondern auch über größere finanzielle Mittel verfügten, um die kommerziellen und kulturellen Angebote auch wahrzunehmen, die ihnen die städtische Umwelt zur Verfügung stellte.2 Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu sehen, dass der Generationenkonflikt, der in der historischen Familienforschung vor allem als ein Kennzeichen des Bürgertums gilt, sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert tendenziell auch auf die großstädtische Arbeiterschaft ausweitete. Denn nicht nur das Bürgertum, sondern auch die proletarischen Eltern selbst reagierten, wie Kaspar Maase aufzeigt, vielfach mit Entrüstung und drakonischen Strafen auf die kollektiven und öffentlich zur Schau gestellten Praktiken, mit denen Minderjährige um die neu aufkommenden Massenmedien herum „Räume schufen, in denen sie sich praktisch und symbolisch von Bedrückung und Kontrolle des erwachsenendominierten Alltags freimachten“.3 1 Auch der Sozialist Otto Rühle hatte 1911 in seiner Schrift „Das proletarische Kind“ seine Leser eindringlich vor den Gefahren der „Straße“ gewarnt, welche die „Augen und Ohren der Straßenkinder zu Pforten der Roheit und Gemeinheit, Niedrigkeit und Verworfenheit“ mache (Rühle [1911], S. 176 f.). In seinen ein Jahr später erschienenen „Grundfragen der Erziehung“ hieß es allerdings schon bedeutend versöhnlicher: „Die Kinder der Mitbewohner im Hause, die Gespielen auf den Treppen und Höfen, der Umgang und das Treiben auf der Straße, die Schaufenster und Kinos, die Zirkusse und Schaubuden, die Mitschüler und Spielkameraden – sie alle werden zu geheimen Miterziehern und üben einen bald heilsamen, bald nachteiligen Einfluß aus.“ Rühle [1912], S. 52. 2 Zur „Entdeckung der Jugend“ in den Jahren 1884-1900 vgl.: Peukert [1986], S. 54 ff. und in vergleichender Perspektive Deutschland-England auch: Gillis [1994], S. 132 ff. 3 Maase [1996], S. 94. Wie stark selbst die großstädtischen Straßen der Kontrolle amtlicher und selbsternannter „Ordnungshüter“ unterlagen, die sich zu Recht oder Unrecht auch eine unmittelbare
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Bis in die 1890er Jahre hinein hatte die Hauptsorge der Volkserzieher und Theologen noch dem jugendlichen Treiben auf den zunehmend kommerzialisierten Volks- und Sportfesten gegolten.1 Aber schon bald traten in den Klagen an die Stelle von Regatten und Jahrmarktsdarbietungen Grammophone, Groschenhefte und nicht zuletzt das Kino. Diese neuen, auch für den kleinen Geldbeutel erschwinglichen und jederzeit verfügbaren Medien lockten die Jugendlichen nicht nur mit dem Versprechen nach gemeinsam verlebten Stunden unbeschwerten Genusses. Sie waren auch als Requisite bzw. Bühne eines Spiels geeignet, bei dem es darauf ankam, die Erwachsenen zu überraschen, zu schockieren und ihnen deutlich zu machen: „Das hier versteht ihr nicht, nur wir kennen die geheimen Spielregeln.“ Und die Erwachsenen bedienten die ihnen zugedachte Rolle offenbar bereitwillig, indem sie mit Konsternierung, Zensur, Verboten und Strafen reagierten. Selbstorganisierte Leseringe, in denen „Nick-Carter“-Hefte zirkulierten, wilde Clubs2, die ohne viel Zögern die von kommerzieller Seite angebotenen „Rollenspiele“ nachstellten, Kinos, in denen kollektiv gejohlt, genascht und geraucht wurde3, brachten Pastoren, Lehrer und Eltern gleichermaßen in Rage. Befremdend musste für sie vor allem wirken, dass diese modernen Abgrenzungsspiele der Kinder und Jugendlichen kaum noch etwas mit der stark ritualisierten, zum großen Teil am Erwachsenenverhalten orientierten Jugendkultur vergangener Zeiten gemein hatten, die sie selbst aus ihrer Lehrlings- und Gesellenzeit kannten. Eine besondere Provokation lag aber auch in der besonderen Fluidität und der Überbrückung von Standes- und Geschlechtergrenzen, die für die Aneignung der neuen Massenmedien durch Minderjährige kennzeichnend war. In der jugendlichen Massenkultur war alles vereinigt, was im Schulalltag so gut wie möglich auseinandergehalten wurde: die Groschenhefte wurden sowohl Strafgewalt anmaßten, zeigen mit Bezug auf das sehr viel beschaulichere Wiesbaden Behnken/Zinnecker [1992]. 1 Der Stadtmissionar Heinrich Irwahn etwa echauffierte sich 1892: „Es wird mit jedem Jahr schlimmer, eine Gauklerbande löst die andere ab. Die jungen Leute stürzen von einem Ort der Lust an den andern. Sie sehen die Alster Regatta, eilen dann auf das Heiligengeistfeld, wo sich Indianer sehen lassen, von da in den Cirkus oder in ein Konzert, in welchem niedrige Komiker ihr Wesen treiben. Die an einem Nachmittage 4-5 M. ausgeben sind die solidesten. Was können wir mit unserer ernsten, stillen, schlichten Arbeit ausrichten gegenüber den sonntäglichen Völkerwanderungen! Auch die Vereine wetteifern, das Volk in einem Festtaumel zu verderben. Turnfeste, Kegeltage, Ruderklubs und alle Arten Sport sind nur verschiedene Formen für die Jagd nach dem Vergnügen.“ „Fliegende Blätter“ 1892, S. 444. 2 Zum Phänomen der wilden Clubs mit Bezug auf Hamburg vgl. auch: Classen [1915], S. 62 f. 3 1910 berichtete in der „Hamburger Hausfrau“ eine Dame entrüstet über den Besuch einer nachmittäglichen Kinovorstellung, in der Filme mit so vielsagenden Titeln wie „Gestörter Flirt“ oder „Die ‚Jagd’ eines Ehemannes“ gespielt wurden: „Und dann wurden Schnadahüpfl gesungen, von denen eines lautete: ‚Kaum hatte der Adam die Eva geseh’n, da wollt’ er mit ihr auf den Heuboden geh’n.’ Neben mir saß ein Knirps von 10 Jahren, der wiederholte diesen Vers mit Behagen und knüpfte daran eine Bemerkung, die ich nicht wiedergeben kann.“ Zit. nach: Maase [1996], S. 112, Anm. 74.
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von Volksschülern als auch von Gymnasiasten „verschmökert“, neben informellen Jungen-Clubs wurden bald schon die ersten Mädchen-Bünde gesichtet und im Kinosaal saßen Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft bunt durcheinandergewürfelt zusammen.1 All diese Umstände ließen den Ruf der Erwachsenen nach harten Sanktionen immer lauter werden. In Hamburg setzte die als „Schundkampf“ bekannt gewordene Agitation gegen das Angebot trivialer Heftchen und Filmstreifen nicht nur besonders frühzeitig ein, sondern wurde auch mit besonderer Verve geführt.2 Eine exponierte Position nahm dabei der Hamburger Lehrerverein „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“ ein, der neben restriktiven Maßnahmen auch auf positive Anreize setzte, um das Konsumverhalten der Volksschüler umzulenken und sie langsam an „wertvollere“ Lesestoffe und Kinofilme heranzuführen. 1908 ließ der Verein unter der Überschrift „Eltern schützt Eure Kinder!“ ein Flugblatt in einer Auflagenstärke von 250.000 Stück drucken, in dem er eindringlich vor den bunten Einschlagbänden der Groschenhefte warnte, welche die Phantasie der „leichtgläubigen Jugend“ so sehr reizten, dass diese die Unsinnigkeit und Verrücktheit des Dargestellten gar nicht mehr erkennen könnten.3 Aber in solchen Aktionen erschöpfte sich die Tätigkeit des vereinsinternen Jugendschriftenausschusses bei Weitem nicht. Bereits deutlich vor der Jahrhundertwende hatte Heinrich Wolgast, einer der renommiertesten Vertreter des Vereins, damit begonnen, Verzeichnisse besonders empfehlenswerter – und das hieß für ihn damals vor allem von kirchlichen, nationalistischen und kommerziellen Einflüssen und Strömungen freie – Bücher zusammenzustellen und gab sie den Lehrern als Orientierungshilfe an die Hand. 1909 stiftete der Verein das Startkapital zur Gründung der „Deutschen Jugendbücherei“. In dieser Reihe, die vom Hamburger Senat finanziell großzügig unterstützt wurde, erschienen in loser Folge zu sehr erschwinglichen Preisen Werke anerkannter bürgerlicher Autoren, die als „jugendgerecht“ eingestuft worden waren.4 Zwei Jahre zuvor hatte die „Gesellschaft“ außerdem eine Kommission gegründet, die sich mit den schädlichen Einflüssen des Kinos befasste. Ihre Mitglieder begutachteten in den Folgejahren in ihrer Freizeit nicht nur Tausende von Filmstreifen, um anschließend diejenigen zu indizieren, die sie für „nicht1 Vgl.: A.a.O., S. 103. Dass die Hamburger Kinos v.a. in den Wintermonaten auch von zahlreichen Arbeitslosen als eine Art „bespielte Wärmehalle“ genutzt wurde, geht aus den Lebenserinnerungen Robert Neddermeyers hervor (Neddermeyer [1980], S. 45). 2 Zumeist wurde der „Schundkampf“ agitatorisch und terminologisch mit dem Kampf gegen sexuellfreizügiges Text- und Bildmaterial, den so genannten Schmutz, zusammengefasst. Vgl. zum Hamburger „Schmutz- und Schundkampf“: Schröder [1966], S. 162-168. 3 A.a.O., S. 106. 4 Fiege [1970], S. 70 u. Schröder [1966], S. 164 f.
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jugendtauglich“ hielten. Sie setzten sich gleichzeitig auch den Bedingungen aus, die Nachmittags in den Kinosälen der Stadt herrschten und lernten auf diese Weise den Umgang der Halbwüchsigen mit dem neuen Medium aus erster Hand kennen. Die Gesamteinschätzung fiel dabei durchaus ambivalent aus. Offenbar nicht ganz zu unrecht bemängelten die Lehrer einerseits die schlechte Belüftung der Säle, das Flackern des Bildes sowie die Albernheit, Sentimentalität und Rohheit vieler Streifen.1 Auf der anderen Seite aber hoben einflussreiche Kommissionsmitglieder den didaktischen Wert des neuen Mediums hervor, das aufgrund der komplexen Sinneseindrücke, die es vermittelte, ganz neue ästhetische, emotionale und geistigintellektuelle Zugangsmöglichkeiten im Umgang mit Schülern bot, die mit traditionellen Lehrmethoden kaum zu erreichen waren.2 Entsprechend dieser zwiespältigen Einschätzung waren auch die Richtlinien einer 1908 erlassenen Polizeiverordnung gefasst: Der unbegleitete Kinobesuch von Minderjährigen wurde prinzipiell untersagt. Ausgenommen von dem Verbot waren allerdings besondere Kindervorstellungen, die der Verein in Kooperation mit den Kinobetreibern durchführte und in denen ausschließlich „pädagogisch wertvolle“ Filme gezeigt wurden. Einen ähnlich kolonialisierenden Zugriff wie die Vertreter des „Schundkampfes“ wählten auch die Hamburger Pioniere auf dem Gebiet der Jugendpflege, die das Problem der „Straßensozialisation“ jedoch ganzheitlich-pädagogisch anzugehen versuchten.3 Allerdings wird in der jüngeren Forschung in Bezug auf diese frühen sozialpädagogischen Arbeitsansätze auch hervorgehoben, dass sie durch einhohes Maß an Pragmatismus geprägt gewesen seien und sowohl die großstädtische Umwelt als auch die jugendliche Subkultur in ihre Arbeit einbezogen hätten.4 In konzeptioneller Weiterentwicklung der traditionellen Lehrlings- und Gesellenvereine sowie einer eigenwilligen Adaption der englischen „Settlements“ entwickelten Walter Classen und Clemens Schutz ein auf Geselligkeit, Bildung und sportlicher Betätigung basierendes freizeitpädagogisches Programm, mit dem sie die schulentlassenen männlichen – und später auch weiblichen5 – Jugendlichen „von der Straße“ holen wollten. Die bald über die ganze Stadt verteilten „Volksheime“ sollten gewissermaßen ein Substitut für die Kontrolle darstellen, die in frü1 Einigen Kinder wurde während der Vorstellungen wegen des zittrigen Bildes schlecht, so dass sie sich übergeben mussten, und es kursierten Filme, die die Exekution eines Elefanten mittels Starkstrom oder das Abhäuten von Schlangen bei lebendigem Leibe zeigten (Müller [2000], S. 121 f.). 2 A.a.O., S. 124. 3 Zum Folgenden vgl.: Dudek [1990] u. Lindner [1984]. 4 Uhlendorff [2001] spricht mit Bezug auf Hamburg sogar zugespitzt von einer Kolonialisierung der Jugendpflegeeinrichtungen durch die Heranwachsenden. Zu den zeitgenössischen Versuchen von Pädagogen wie Johannes Tews, die Jugendkultur von innen heraus zu beschreiben und „Großstadt“ nicht mehr ausschließlich als Chiffre für sozialen Verfall und Degeneration zu lesen vgl.: Henseler [2005]. 5 Zum rapiden, von der Leitung der Volksheime zunächst kaum beachteten Bedeutungszuwachs der Mädchenarbeit vgl.: Uhlendorff [2001].
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heren Zeiten durch Nachbarschaft und Elternhaus ausgeübt worden war. Als Grundlage der jugendpflegerischen Tätigkeiten dienten dabei eingehende Milieustudien und mehr oder weniger fundiertes psychologisches Fachwissen. Neue Wege beschritten Classen und Schultz mit ihrer „Jugendarbeit“ insofern, als sie auf jede direkte religiöse und antisozialistische Beeinflussung verzichteten, die ethische Bildung mit der von der kirchlichen Jugendarbeit bisher geschmähten körperlichen Ertüchtigung verbanden und in der Organisation ihrer Arbeit bewusst an die im Entstehen begriffene jugendliche Subkultur anknüpften.1 Das Ziel war, die wilden Horden der „Briten“ und „Halbstarken“ durch gezielte pädagogische Einflussnahme und Lenkung in zivilisierte Jugendbünde zu verwandeln. Weder die Versuche, das Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf Musik, Literatur und Kino zu beeinflussen, noch die jugendpflegerischen Bemühungen zur Eindämmung der negativen Gesamtfolgen der „Straßensozialisation“ waren in ihren unmittelbaren Wirkungen besonders erfolgreich. So stellte sich beispielsweise heraus, dass Schüler die kostenlos an sie abgegebenen Heftchen der Reihe „Deutsche Jugendbücherei“ beim Trödler kurzerhand gegen neue Schundheftchen eintauschten,2 und 1912, nach mittlerweile fünfjähriger intensiver Tätigkeit, musste der Filmausschuss der „Gesellschaft“ ernüchtert feststellen, dass von 300 in Hamburger Kinos gezeigten Filmen nicht einmal die Hälfte von ihm zugelassen worden waren.3 Ähnlich eingeschränkt war auch der Erfolg der neuen Hamburger Lehrlings - und Gesellenvereine. Weder Schultz noch Classen war es gelungen, die als „Butjes“, „Briten“ und „Halbstarke“ typisierten Straßenjugendlichen dauerhaft in ihre Arbeit einzubinden.4 Schon erfolgreicher war anscheinend die Arbeit mit den Mädchen. Aber auch hierbei handelte 1
So durfte etwa in den Lehrlingsvereinen geraucht und in Maßen sogar getrunken werden (Dudek [1990], S. 32 u. Uhlendorff [2003], S. 236). Der Pastor von St. Pauli relativierte außerdem in seinen Schriften wiederholt den schädigenden Einfluss, der angeblich von Kino und „Schundliteratur“ ausgehe, und plädierte stattdessen für ein komplexeres psychologisches Erklärungsmodell abweichenden Jugendverhaltens (Schultz [1912], S. 13). 2 Das Wechselverhältnis war dabei vielsagend: für zwei „gute“ Hefte gab es ein „schlechtes“ (Maase [1996], S. 107). 3 Ebd. 4 Vgl.: Schultz [1912], S. 24 f. Classen [1915], S. 14 führte hierzu aus: „Aber je intensiver der Leiter eines Lehrlingsvereins seinen Stadtteil durchforscht und bearbeitet, um so deutlicher merkt er, wie er zwischen lauter unklaren und unfertigen Situationen lebt. Er hat sich lange darein gefunden, daß er jedes Jahr den zehnten Teil und mehr seiner Jungen verliert. [...] Aber viele, viele sieht der Leiter mit Kummer schwinden – und doch mit dem Seufzer der Befriedigung – Jungen, die von den schönsten Geschichten und Vorträgen nichts hören wollen, die in keinem Spiel und keiner Riege unter ein Kommando zu bringen sind und stets im geheimen revoltieren. Sie können in einer Gemeinschaft nicht sein, die sich selber ihre Ordnungen schafft und in der offenherzige Freundschaft die stärkste Kraft ist, um Gesetz und Ordnung zu erhalten. – Vergeblich sinnen Helfer und Leiter, wie sie jene wirklich proletarische, sittlich faule Unterschicht fassen, wie sie wenigstens ihre rohe, freche Herrschaft unter der Jugend mancher Straßen brechen sollen.“
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es sich offenbar hauptsächlich um Heranwachsende mit ausgeprägten beruflichen Ambitionen und relativ gefestigtem familiären Hintergrund – und selbst diese funktionierten die Angebote, welche die Erwachsenen ihnen unterbreiteten, kurzerhand für ihre eigenen Zwecke um. So wurde der von einem Mädchenverein organisierte Ausflug in ländliche Idylle von den großstädtischen Teilnehmerinnen vor allem zur Selbstinszenierung und zur Erprobung ihrer neuen Fotoapparate genutzt.1 Ähnlich wie in Berlin, wo unter der Ägide Friedrich Siegmund-Schultzes seit 1911 eine vergleichsweise liberale, stärker am englischen Settlement-Modell orientierte Variante offener Jugendarbeit betrieben wurde, zeichnete sich auch in Hamburg ein dreigeteiltes Nutzungsmuster unter den Jugendlichen ab: Insbesondere Jugendliche, die zuhause sowieso schon einer stärkeren Kontrolle unterlagen, beruflich ambitioniert waren und wie ihre Eltern Wert darauf legten, nicht das zu tun, was die „anderen“ in ihrer Freizeit taten, besuchten die Jugendgruppen der „Volksheime“. 1911 waren das immerhin schon 1.600 Jugendliche, von denen mehr als die Hälfte weiblichen Geschlechts waren. Kinder parteilich oder gewerkschaftlich organisierter Arbeiter besuchten demgegenüber eher eine der seit 1904 aufgebauten sozialistischen Jugendgruppen. Diese unterstanden ebenfalls der Aufsicht und Anleitung von Erwachsenen und zählten Anfang der 1910er Jahre etwa gleich viele Mitglieder wie die Jugendgruppen der Volksheime.2 Schließlich zog eine unbestimmte Zahl von Arbeiterjugendlichen, welche die der organisierten Jugendlichen erheblich übertroffen haben dürfte, die „Straße“ dem „Spielplatz“, den „Hamburger Dom“ dem „Volksfest“ und die kommerziellen Kino- und Leseangebot den inhaltlich vorselektierten Bibliotheken, Vorträgen und Filmnachmittagen der Erwachsenen vor.3
1 Eine Teilnehmerin fasste die Ausfahrt wie folgt zusammen: „Wenn Engel ausgehen, scheint die Sonne. Wir gingen langsam durch den Wald. Als wir eine zum Frühstück gut geeignete Stelle fanden, lagerten wir. Dann wurden wir photographiert. Dann wurden noch einzelne recht schön gelegene Landschaften abgeknippst, dann gingen wir weiter, dabei wurden einige recht schöne Lieder gesungen.“ Zit. nach: Uhlendorff [2001], S. 44. 2 Wie stark die vermeintlich neutralen freizeitpädagogischen Angebote des Volksheimes von entsprechenden Veranstaltungen der sozialdemokratischen Partei bekämpft wurden, geht aus den kritischen Kommentaren des „Hamburger Echos“ zur Idee des „sozialen Rittertums“ hervor (Pielhoff [1999], S. 346). 3 Lindner [1984], S. 371.
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2.4 Zusammenfassung: Individualisierungsschübe und strukturelle Überforderung traditioneller Sozialisationsinstanzen Die bisher geleistete Rekonstruktion der allgemeinen Lebensumstände, denen das Familienleben und das Aufwachsen der Kinder in den Hamburger Unterschichten im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert unterlagen, hat zu einer Reihe von mehr oder weniger gravierenden Korrekturen an der zeitgenössischen Vorstellung vom desolaten Zustand des Familienlebens in der Arbeiterschaft geführt. Damit werden zugleich fundamentale Gewissheiten in Frage gestellt, auf denen die Fürsorgewissenschaft und die frühe, geisteswissenschaftlich orientierte Sozialpädagogik basierten. Die Richtigstellungen und Relativierungen gehen dabei in zwei Richtungen: zum einen betreffen sie die Zeitdiagnose des zerfallenden Familienlebens an sich, zum anderen die gängigen Erklärungsmuster, die unter den Zeitgenossen über die Prozesse sozialer Desintegration und Demoralisierung im Umlauf waren. Die wichtigsten Korrekturen seien hier resümierend noch einmal benannt. Entgegen der Behauptung vom Niedergang der Familie und der auf sie bezogenen Werte genossen Ehe und Familie auch unter der Hamburger Arbeiterschaft ein ungebrochen hohes Ansehen. Für weite Teile der in die Stadt strömenden Landbevölkerung ergab sich historisch gesehen überhaupt zum ersten Mal die Gelegenheit zur Heirat, und für die meisten Hamburger Arbeiter wurde die Ehe in den letzten zwei bis drei Dekaden des 19. Jahrhunderts zu einem ebenso erwartbaren wie dauerhaften Bestandteil ihres Lebens. Die Entwicklung hin zu einer „familienförmigen Gesellschaft“ hatte unzweifelhaft auch die untersten Gesellschaftsschichten erfasst. Dabei kann nicht behauptet werden, dass der durchschnittliche Arbeiter besonders leichtfertig eine Ehe eingegangen wäre und schon gar nicht, dass er diese unbekümmert wieder aufgelöst hätte. Frühverheiratete Paare stellten eher die Ausnahme denn die Regel dar und bei der Ehescheidung handelte es sich in der Arbeiterschaft angesichts der restriktiven Ausgestaltung des Ehescheidungsrechts im Untersuchungszeitraum um ein Phänomen von marginaler Bedeutung. Die zunehmende „Familienförmigkeit“ der Existenz musste über kurz oder lang auch Auswirkungen auf den Umgang der Familienangehörigen untereinander haben. Gerade in der organisierten Arbeiterschaft kam eine Tendenz zu einem stärker partnerschaftlich geprägten Umgang der Eheleute miteinander zum Tragen, und aufgrund des allmählichen Rückgangs der durchschnittlichen Kinderzahl konnte sich nach und nach auch eine andere Einstellung zu den Kindern und zur Kindeserziehung einstellen. Auch die so weit verbreitete zeitgenössische Klage über die Ausdehnung außerhäusiger Frauenerwerbsarbeit und ihre verheerenden Einflüsse auf das Familienleben waren – zumindest bezogen auf Hamburg – stark übertrieben. Zwar
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nahm der Anteil erwerbstätiger Frauen im Untersuchungszeitraum zu, was nicht zuletzt daran lag, dass die Frauen langsam aber sicher die Männer aus der in Heimarbeit verrichteten Bekleidungsindustrie „verdrängten“. Die außerhäusige Vollzeitbeschäftigung blieb aber ein randständiges und passageres Phänomen. Die weibliche Fabrikarbeit im eigentlichen Sinne war in der Arbeiterschaft genauso verpönt wie im Bürgertum und stellte keinesfalls ein favorisiertes Modell zur Sicherung des Lebensunterhalts dar. Bei den meisten Frauen, die vollzeiterwerbstätig waren, handelte es sich um Witwen oder uneheliche Mütter, das heißt um solche Frauen, denen gar keine andere Wahl blieb, als ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Gerade bei Letzteren gab es zudem eine gesellschaftliche Erwartungshaltung, ihre Kinder in Kostpflege zu geben, weshalb von einer „Zerstörung“ des Familienlebens durch außerhäusige Erwerbsarbeit hier kaum die Rede sein konnte. Als ähnlich problematisch stellten sich die zeitgenössischen Urteile über die Wohnungsmisere heraus. Die Zeit der drückendsten Wohnungsnot gehörte in Hamburg Ende des 19. Jahrhunderts bereits der Vergangenheit an. Der Anteil der Kleinstwohnungen am Mietwohnungsbestand ging kontinuierlich zurück und – korrespondierend damit – die Zahl „überfüllter Wohnungen“. Auch der durchschnittliche Wohnstandard besserte sich allmählich. Der Anschluss an die Frischwasserver- und Abwasserentsorgung wurde zum Regelfall. Insgesamt betrachtet wurden die Wohnungen heller, luftiger und „gesünder“. Stark relativiert werden müssen überdies die Klagen über die kulturelle „Entwurzelung“ der Unterschichtsbevölkerung, ihre extreme Mobilität sowie die daraus abgeleitete angebliche Unverbindlichkeit der Sozialkontakte. Viele Neuhamburger hielten noch über Jahre hinweg die sozialen Kontakte zu ihrem Herkunftsort aufrecht, versorgten sich von dort mit Nahrungsmitteln, ließen ihre Bräute nachkommen oder gaben ihre Kinder bei ihren ländlichen Angehörigen in Pflege. Außerdem suchten viele Neuankömmlinge Hilfe und Unterstützung bei Verwandten und Bekannten, die sich in Hamburg schon ein wenig eingelebt hatten. Ein Teil der sozialen Netzwerke wurde auf diese Weise vom Land in die Stadt übertragen. Schließlich waren auch die häufigen Wohnungswechsel, die vor allem junge Familien vornahmen, kein zuverlässiger Gradmesser für die räumliche Ungebundenheit der ärmeren Bevölkerungsschichten. Wenn Arbeiterfamilien ihre Wohnungen verließen, so geschah dies gewöhnlich nicht zum Vergnügen. Vielmehr mussten sie beständig darauf bedacht sein, ihre Wohnsituation den stark schwankenden Einkommensverhältnissen anzupassen und jede sich ihnen darbietende Gelegenheit zu nutzen, um die Mietkosten zu reduzieren. Dabei hielt man sich gewöhnlich an die Hinweise aus der Nachbarschaft und blieb dem Stadtteil aus praktischen Gründen verbunden. In den einzelnen Vierteln bildeten sich relativ homogene Sozialmilieus, von denen eine nicht zu unterschätzende
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Sozialkontrolle ausging. Übertriebener Alkoholkonsum und deviantes Sexualverhalten wurden dabei genauso geächtet wie ein stark normabweichender Umgang mit den Kindern. Der Einfluss der Kirche in ihrer angestammten Rolle als Sittenwächterin war tatsächlich stark zurückgegangen. Aber vor allem in Bezug auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen hatte die Sozialkontrolle vor Ort eher zu- als abgenommen. Neben den ehrenamtlichen Organen der Armenanstalt, die noch immer ein wachsames Auge auf das sittliche Wohlverhalten der unterstützten Armen hielten, fühlten sich seit den 1870er Jahren auch die im Viertel lebenden Volksschullehrer und seit der Jahrhundertwende 1900 verstärkt auch die Vertreter der Waisen- und Jugendpflege dazu berufen, das Sozialverhalten von Unterschichtsangehörigen zu überwachen. Nicht zuletzt war in den einzelnen Stadtteilen auch die Polizeipräsenz erheblich ausgebaut worden. Neben der Verfallsdiagnose selbst entbehrten auch viele der Deutungsmuster, mit denen zeitgenössische Beobachter die vermeintlichen Auflösungserscheinungen zu erklären versuchten, einer empirischen Fundierung. Eine lokale Häufung unehelicher Geburten war z.B. weder eine direkte Folge gedrängten Zusammenlebens noch der Dominanz halboffener Familienstrukturen. Hohe lokale Konzentrationen an Schlafgängerhaushalten und „überfüllten“ Wohnungen korrespondierten nicht direkt mit hohen Quoten illegitimer Paarverbindungen. Die für Arbeiterhaushalte typische Enge führte vielmehr häufig zu einer besonders durchdachten Nutzung des beschränkten Raumangebots, während man die erzwungene körperliche Nähe durch emotionale Distanziertheit, Tabuisierung sexueller Vorgänge und rigide Schlafarrangements zu kompensieren versuchte. Auch die räumliche Verteilung von „wilden Ehen“ und Scheidungen stimmte nicht mit den lokalen Verteilungsmustern überein, die bezüglich des Anteils von Untermieterhaushalten und stark überfüllten Wohnungen feststellbar waren. Die meisten dieser Befunde sind keineswegs neu, sondern bestätigen für Hamburg im Wesentlichen nur das, was die jüngere sozialhistorische Arbeiterund Familienforschung herausgearbeitet hat. Allerdings tut die unzureichende empirische Fundierung der zeitgenössischen Bilder und Erklärungen zum proletarischen Familienleben der historischen Wirkmächtigkeit solcher Deutungen keinen Abbruch. Viele der nachgezeichneten Entwicklungen mussten den Zeitgenossen schon deshalb verborgen bleiben, weil sie sich auf sehr lange Zeiträume erstreckten und nur auf der Grundlage einer detaillierten Auswertung statistischer Massendaten erkennbar wurden. Dennoch erscheint es notwendig, diese Korrekturen zu reflektieren und am Hamburger Beispiel zu konkretisieren, weil die Ergebnisse der Familiengeschichtsschreibung in der historischen Sozialpädagogik nur unzureichend rezipiert wurden und fürsorgegeschichtliche Untersuchungen, die sich mit der Bearbeitung sozialer „Problemfälle“ beschäftigen, auch immer dazu neigen, das zeitgenössische Zerrbild zu reproduzieren.
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Es steht indes ganz außer Zweifel, dass das Familieleben und das Aufwachsen in der Unterschicht während der Industrialisierungsepoche sehr vielfältigen und zum Teil auch ganz neuen Belastungsproben ausgesetzt war. Neben die Probleme, die seit jeher das Aufwachsen in der Unterschicht begleitet hatten, traten Schwierigkeiten, die direkt oder indirekt mit dem beschleunigten gesellschaftlichen Wandel zusammenhingen. Mit Hilfe der bisher geleisteten Auswertung der Berufs-, Wohn- und Bevölkerungsstatistik sowie der Sekundäranalyse der vorliegenden lokalhistorischen Untersuchungen zu Einzelaspekten des Gegenstandes lassen sich Belastungen recht eindeutig identifizieren und unter Zuhilfenahme soziologischer Begrifflichkeiten auch vergleichsweise wertneutral (re-)formulieren. Im Folgenden soll deshalb abschließend eine Typologie jener Problembereiche und Problemkonstellationen umrissen werden, die für die Sozialisation der Unterschicht im Kaiserreich bestimmend waren und die jugendfürsorgerische und vormundschaftsgerichtliche Interventionspraxis mit bestimmten. a) Neue strukturelle Zwänge und gesellschaftliche Anforderungen: Zahlreiche Schwierigkeiten, die das Familienleben und das Erziehungsgeschehen im Unterschichtsmilieu betrafen, hingen mit gravierenden Veränderungen der Sozialstruktur sowie mit der Entstehung neuer systembedingter und normativer Anforderungen zusammen. Eine abschließende Aufzählung aller damit verbundenen Belastungen ist kaum möglich. Es sollen deshalb nur einige typische Problemformationen skizziert werden.
Einen ersten Problemtypus kann man als Passungsproblem bezeichnen. Gemeint ist damit die häufig selbst strukturell bedingte und zumeist lebensweltlich verankerte „Schwierigkeit“, die es manchen Unterschichtsangehörigen bereitete, den vom urbanen Lebensraum und der neuen industriellen Produktionsweise, aber auch vom bürgerlichen Wertekanon diktierten Verhaltensanforderungen zu genügen. Mit Problemen dieser Art hatten nicht nur Zuwanderer zu kämpfen. In Hamburg waren offenbar vor allem die im Hafen tätigen und in den heruntergekommenen Gängevierteln der Innenstadt lebenden Gelegenheitsarbeiter einem besonderen Anpassungsdruck ausgesetzt. Die charakteristische Kombination von körperlicher Schwerstarbeit und unregelmäßigem Arbeitsrhythmus, die sich ihrer Existenzweise eingeschrieben hatte, geriet in einen zunehmenden Widerspruch zu den Arbeitsanforderungen, die die neuen industriellen Produktionsabläufe diktierten. Aber auch das Festhalten am „instrumentellen“ Trinkverhalten1 und den traditionellen Heiratsgewohnheiten deutet auf entsprechende
1 Gemeint ist damit die von vielen Arbeitern, die im Freien und unter Einsatz ihrer Körperkraft tätig waren, geteilte Überzeugung, wonach von hochprozentigem Alkohol eine wärmende, desinfizierende
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Anpassungsschwierigkeiten hin. Was allerdings von „außen“ als deviante Lebensführung wahrgenommen wurde, das muss an dieser Stelle betont werden, stellte bezogen auf die nähere Wohnumgehung unter Umstaänden durchaus angepasstes Sozialverhalten dar. Eine zweite Problemkonstellation entstand durch die tendenzielle Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Anforderungen an das Familienleben der Arbeiterschaft. Eine solche strukturell bedingte Unvereinbarkeit war etwa der ökonomische Zwang zum Mitverdienst aller erwachsenen Familienangehörigen bei gleichzeitiger Notwendigkeit, die Pflege und Beaufsichtigung von Kleinkindern sicherzustellen. Noch komplexer und widersprüchlicher war die Situation, mit denen sich in Hamburg wiederum die ungelernten Hafenarbeiter konfrontiert sahen, wenn sie in die Familiengründungsphase eintraten und es galt, den gestiegenen Wohnraumbedarf, die schmale Einkommenslage und die Notwendigkeit einer schnellen und billigen Verbindung zum Arbeitsplatz miteinander zu vereinbaren. Als letzte Konstellation sei die sozialräumliche, lebenszyklische oder schichtenbezogene Häufung struktureller Probleme und Umweltanforderungen benannt. In Hamburg konzentrierten sich die Schwierigkeiten, ein „normales“ Familienleben zu führen, vor allem in den hochverdichteten und baufälligen Gängevierteln der Neu- und Altstadt. Kumulative Bevölkerungsverjüngung, soziale Entmischung, niedriges Durchschnittseinkommen und strukturelle Arbeitslosigkeit gingen hier einher mit beengten Wohnverhältnissen und mangelhafter sanitärer Infrastruktur. Ähnliche Segregationserscheinungen zeigten sich auch in Rothenburgsort und Hammerbrook. Familienzyklische Belastungskonzentrationen sind vor allem für die Familiengründungsphase feststellbar, die oftmals mit Einkommenseinschnitten, der verstärkten Abhängigkeit von sozialen Netzwerken, Wohnproblemen und erhöhten Gesundheitsrisiken einherging. Daneben war es vor allem der zweite Abschnitt der Haupterwerbsphase, in dem sich Schwierigkeiten mehrten. Schließlich konzentrierten sich die Probleme auch in mehr oder weniger klar umgrenzten sozialen Untergruppen innerhalb der Arbeiterschaft. Die schulische und berufliche Qualifikation spielte hierbei eine herausragende Rolle. Das Familienleben der ungelernten Arbeiter folgte in vielerlei Hinsicht einer anderen Logik als das ihrer ausgebildeten Kollegen. Der Zwang zum Mitverdienst der Frauen, hohe Kinderzahlen, nachlassende
und allgemein stärkende Wirkung ausgehe. Besonders fatale Folgen hatte diese Einstellung während der Cholera-Epidemie von 1892. Hochprozentiger Alkohol wurde vielfach als billiges „Abwehrmittel“ gegen eine drohende Ansteckung getrunken, hatte aber tatsächlich eine Verminderung der körperlichen Abwehrkräft zur Folge und begünstigte dadurch eine Infektion (Evans (1996], S. 445 f. u. Wyrwa [1990], S. ).
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Heiratschancen und erhöhte wirtschaftliche Krisenanfälligkeit schnitten die Hilfsarbeiterfamilien vom Verbürgerlichungsprozess der Arbeiterschaft weitgehend ab. b) „Riskante Freiheiten“1: Von Problemkonstellationen, die mit dem sozialen Strukturwandel zusammenhingen, lassen sich solche Schwierigkeiten und Konfliktzonen systematisch unterscheiden, die sich auf die Emanzipation und Freisetzung aus angestammten Bindungen und gesellschaftlichen Zwängen zurückführen lassen. Die neuen Freiheiten, welche die Angehörigen der Unterschicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts genossen, gingen zum größten Teil auf die liberale Gesetzgebung Preußens und des Norddeutschen Bundes aus den 1850er und -60er Jahren zurück, mit der das Zusammenwachsen der deutschen Länder zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum flankiert werden sollte. Gewerbefreiheit, freies Niederlassungsrecht, Unterstützungswohnsitzgesetz, Beseitigung der rechtlichen Ehebeschränkungen – dies alles waren Reformwerke, die zur raschen gesellschaftlichen Modernisierung beitrugen und die rechtlichen Voraussetzungen für eine bisher unbekannte geografische Mobilität schufen. Vor allem für die Angehörigen der ländlichen Unterschichten waren damit erhebliche Vorteile und erweiterte Perspektiven verbunden. Mit den neu erworbenen Freiheiten gingen allerdings auch zahlreiche neue Risiken einher, und zwar nicht nur solche, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt betrafen, sondern auch solche, die ganz konkret das Fortkommen, das Familienleben und in letzter Instanz die gewonnene Autonomie des Einzelnen wieder in Frage stellten. Ein gutes Beispiel für diesen Problemtypus stellt die uneheliche Geburt dar. In dem auch für Hamburg festzustellenden Anstieg der Unehelichenquoten dokumentierte sich zum einen die subjektiv meist positiv erlebte Freisetzung aus der von Arbeitgebern und sozialem Umfeld ausgeübten Sozialkontrolle. Gleichzeitig aber zeugte er von der zunehmenden Unverbindlichkeit des mit dem vorehelichen Geschlechtsverkehr in der Regel verbundenen Eheversprechens, die ihrerseits – nicht nur, aber auch – auf die anwachsende Mobilität und die nachlassende horizontale Sozialkontrolle zurückverweist. Die Folgen für Mutter und Kind waren schwerwiegend und begleiteten beide oft ein Leben lang. Ähnlich ambivalent waren auch die Auswirkungen, welche die Aufnahme einer ungelernten Tätigkeit direkt nach Schulentlassung mit sich brachte. Als Alternative zum Ausbildungsberuf versprach die ungelernte Tätigkeit zunächst einmal den Vorteil vergleichsweise früh einsetzender ökonomischer Unabhängigkeit. Außerdem stärkte das relativ hohe Einkommen, das Ungelernte erzielten, die Machtstellung der Jugendlichen innerhalb ihrer Herkunftsfamilien. Besonders provokant wirkte diese 1 Der Begriff ist dem gleichnamigen, 1994 erschienen Sammelband mit Beiträgen zu einer soziologischen Individualisierungstheorie entnommen (Beck/Beck-Gernsheim [1994]).
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Lebensform auf das bürgerliche Publikum, wenn sie mit solch ostentativem Selbstbewusstsein zur Schau getragen wurde wie im Falle der Hamburger „Halbstarken“. Doch die besondere Beachtung, welche die staatliche Jugendfürsorge diesen Jugendlichen zukommen ließ, wurzelte keineswegs nur in solchen Angriffen auf die überkommene Generationenordnung. Die Ungelernten waren tatsächlich auch in einem viel größeren Maße als die Gelernten dem Risiko ausgesetzt, aus konjunkturellen oder gesundheitlichen Gründen ihre Arbeit wieder zu verlieren. Das prägte nicht nur ihre eigene Lebenssituation, sondern engte auch ihre Perspektiven auf Eheschließung sowie Familien- und Hausstandsgründung enorm ein. Im schlimmsten Fall führte es in die Abhängigkeit von der kommunalen Armenfürsorge. Was aber bedeuteten die mit solchen Individualisierungsschüben gepaarten Veränderungen der Sozialstruktur für die Sozialisation der Kinder? Für ihr Aufwachsen war die Trias von Familie/Milieu, Arbeit und Schule bestimmend. Die Schule hatte als Sozialisationsinstanz mit Einführung der Unterrichtspflicht ganz erheblich an Gewicht gewonnen. Für die Anfang der 1870er Jahre geborenen Kinder wurde die verbindliche achtjährige Schulzeit zu einer prägenden und völlig neuen generationalen Erfahrung. Dabei war die Unterrichtspflicht ganz ausdrücklich als eine staatliche Gegenmaßnahme zur schwindenden Bedeutung der Familie als Bildungsinstitution gedacht. Aber die Volksschule trat gleichsam auch als Konkurrent der häuslichen Erziehung auf den Plan und legte neue Maßstäbe an dieselbe an, die von den Vorstellungen der Eltern zum Teil erheblich abwichen. Gerade wenn es um Mitarbeit und Mitverdienst der Kinder ging, wurde diese Spannung sichtbar. Insgesamt betrachtet aber scheint die Volksschule in der Hamburger Arbeiterschaft schon bald auf recht breite Akzeptanz gestoßen zu sein. Wenn es um die Erziehung der Kinder ging zogen Eltern und Lehrer häufig an einem Strang. Für die Kinder selbst stellte sich die Situation etwas anders dar. Die sich langsam herausbildenden proletarisch-kindlichen Subkulturen, die sich vor allem am eigensinnigen Umgang mit den neuen Massenmedien festmachen lassen, stellten auch eine Reaktion auf die zunehmende Verregelung ihres Alltags dar. Die unbefangene Aneignung des Stadtraumes mit seinen kostenlosen Vergnügungen und kommerziellen Verlockungen bedeutete aber nicht nur einen Zugewinn an Freiheit. Die ersten Artikulationen einer eigenständigen großstädtischen Kinderkultur fungierten gleichsam auch als Medium einer symbolisch-kulturellen Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt. Genau dieses komplexe Zusammenwirken von neuen strukturellen Anforderungen an die Institution Familie, erfahrungssprengenden und risikobehafteten Individualisierungsschüben sowie kindlichem Eigensinn in der Aneignung des Stadtraumes ließ die Sozialisation von Arbeiterkindern am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert bisweilen zu einer hoch prekären und in ihrem Er-
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gebnis recht ungewissen Angelegenheit werden. Und gerade hier wurzelte auch ein großer Anteil jener Konflikte, die den Anlass für die vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe gaben, die im vierten Teil dieser Studie näher betrachtet und analysiert werden.
3 Vom „Rettungshaus“ zur „überwachten Freiheit“
Die wachsende Besorgnis, mit der das Familienleben der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert beobachtet wurde, gab Anlass zu immer neuen und immer vielfältigeren Maßnahmen und Einrichtungen zur Überwachung, Absicherung und vorübergehenden Substituierung familialer Sozialisationsleistungen. Die Jugendfürsorge war nur ein – allerdings ein ganz zentraler – Baustein dieser gesellschaftlichen und staatlichen Bemühungen. Die Jugendfürsorgelandschaft war vielgestaltig. Sie unterschied sich hinsichtlich ihres privatwohltätigen oder öffentlichen Charakters. Neben kirchlich-konfessionellen Initiativen und Einrichtungen existierten solche, die eher einen weltlichen Zuschnitt hatten, es gab „geschlossene“ und „offene“ Formen der Fürsorgetätigkeit und damit korrespondierend eine Differenzierung nach Altersgruppen und Erziehungszwecken. Diese internen Differenzen blieben über den ganzen hier ins Auge gefassten Zeitraum bestimmend. Gleichwohl gab es auch mehr oder weniger deutliche Entwicklungstrends. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Innovationskraft in der Jugendfürsorge noch eindeutig von den privatwohltätigen Einrichtungen ausging, so verlagerte sich der Schwerpunkt ab Mitte der 1880er Jahre mehr und mehr auf die staatlichen Einrichtungen. Damit einher ging eine Veränderung der Finanzierungsformen. An die Stelle der Spendenfinanzierung trat immer häufiger die Steuerfinanzierung. Außerdem lässt sich eine mal schwächer, mal stärker ausgeprägte Tendenz zur Zentralisierung von Organisationsstrukturen ausmachen. Die mehr oder weniger lose koordinierten, zum Teil auch konkurrierenden und sich überschneidenden Angebote der „freien Träger“ wurden im Laufe der Zeit durch ein System staatlicher Lenkung ersetzt, das Ressourcen zu bündeln und Aufgaben aufeinander abzustimmen versuchte. Schließlich war mit der staatlichen Lenkung und öffentlichen Finanzierung bzw. Förderung der Einrichtungen und Maßnahmen auch ein Zurückdrängen des religiöskonfessionellen Einflusses auf die inhaltliche Gestaltung der Jugendfürsorge verbunden gewesen. Nachdem die Volksschule dem bestimmenden Einfluss der Kirche schon fast vollständig entzogen worden war, hielt jetzt verstärkt auch in die außerschulische Erziehungstätigkeit pädagogisch-wissenschaftlicher Sachverstand Einzug. Die Entwicklung der Hamburger Jugendfürsorge war kein isoliertes Geschehen. Vielmehr orientierte sich die örtliche Fürsorgeverwaltung in zunehJ. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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mendem Maße an dem, was andere große deutsche Kommunen auf diesem Gebiet leisteten. Auch die Vertreter der Hamburger Jugendfürsorge waren verstärkt in einen fachlichen Austausch eingebunden, adaptierten das eine oder andere „erfolgreiche“ Konzept aus anderen Städten und verfolgten mit wachsender Aufmerksamkeit die Entwicklungen, die sich in anderen europäischen Ländern, vor allen Dingen in den USA vollzogen. Nicht zuletzt ging auch vom Reichsrecht ein starker Vereinheitlichungsdruck auf die kommunale Fürsorgetätigkeit aus. Die gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit, das Anwachsen der Städte, der stark gestiegene Verkehr von Waren und Personen und die vielfältigen Umbrüche, die im Bereich der Wirtschaft vor sich gingen, forderten eine Anpassung der Verwaltungsstrukturen. Das Ergebnis dieser vielfältigen Einflüsse und historischen Entwicklungstrends war die Herausbildung der „modernen Jugendfürsorge“. Diese unterschied sich von früheren kirchlichen und kommunalen Arrangements zur Unterstützung, Verpflegung und Erziehung Minderjähriger vor allem dadurch, dass sie nicht mehr nur mit den schlimmsten Auswüchsen der Armut oder den durch Krankheit und Tod bewirkten Totalausfällen der primären Sozialisationsinstanzen befasst war, sondern auf der Annahme einer generell nachlassenden Leistung elterlicher Erziehungstätigkeit basierte und die familiale Sozialisation auf den Prüfstand stellte. Statt Waisenkindern standen zunächst die „verwahrlosten“ Kinder und später dann die so genannten Sozialwaisen samt ihrer „pflichtvergessenen“ Eltern im Zentrum der jugendfürsorgerischen Bestrebungen. Die „moderne Jugendfürsorge“ war zunächst und vor allem ein bürgerliches Projekt. Sie war eingebunden in die sozialreformerische Bewegung der Zeit, die ihrerseits als Reaktion auf Probleme der „inneren Reichsgründung“1, der Urbanisierung und der Industrialisierung verstanden werden kann. Die „bürgerliche Sozialrefom“ zielte darauf ab, die dramatischsten sozialen Auswirkungen des wirtschaftlichen Liberalismus abzumildern und die sozialen und kulturellen Risse, die quer durch die Gesellschaft liefen, durch Bildung, erzieherische Beeinflussung und infrastrukturelle Reformmaßnahmen zu kitten. Auf diese Weise hoffte man, die Nation einigen, den Sozialisten das Wasser abgraben und nicht zuletzt die gestiegene geografische und soziale Mobilität durch die Errichtung neuer gesellschaftlicher und räumlicher Ordnungen einhegen bzw. in systemkonforme Bahnen lenken zu können.2 Auch in der Entwicklung der modernen Jugendfürsorge spiegelten sich somit die vielfältigen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen wider, die für das ausgehende 19. Jahrhundert bestimmend waren. Ohne Urbanisierung und Reichsgründung, ohne Ausbildung der „Klassengesellschaft“ lässt sich ihre Entstehung kaum angemessen begreifen. 1 2
Vgl. unten S. 330. Vgl.: vom Bruch [1985].
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Die Jugendfürsorge trug nicht nur das Signum gesellschaftlicher „Modernisierung“ und kultureller Hegemonie des Bürgertums, sie war auch eine kommunale Angelegenheit und deshalb stark von den Traditionen und Mentalitäten abhängig, die sich vor Ort in Bezug auf das Tätigkeitsfeld herausgebildet hatten. Das Reichsrecht gab nur den groben Rahmen der Entwicklung vor und setzte Impulse, die auf eine Vereinheitlichung hindrängten. Die lokale Entwicklung aber blieb „pfadabhängig“, das heißt sie suchte nach Wegen und Lösungen, die an die örtlichen Traditionslinien anschlussfähig waren und gleichzeitig den von „außen“ gesetzten Anforderungen und Impulsen genügten. Auf diese Weise bildeten sich eigenwillige und für die einzelnen Orte und Städte charakteristische „Jugendfürsorgenetzwerke“ heraus, die durch je besondere Organisationsstrukturen, Kooperationsformen und Fürsorgestile geprägt waren.1 Für die Hamburger Entwicklung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war, wie jüngst Uhlendorff hervorgehoben hat, eine frühzeitige behördliche Zentralisierung aller öffentlichen Jugendfürsorgeangelegenheiten kennzeichnend gewesen.2 Dieser Umstand trug dem Hamburger „Waisenhauskollegium“ und seinem Rechtsnachfolger, der 1910 gebildeten „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“, schon unter Zeitgenossen viel Lob und Anerkennung ein. Im Unterschied zu vielen anderen deutschen Großstädten wie Leipzig, Berlin oder Frankfurt konnte Hamburg keine wirklichen Innovationen auf dem Gebiet der Jugendfürsorge vorweisen. Was die Hamburger Fachbehörde zum Vorbild und Muster für die reichsweite Entwicklung machte, war vielmehr die Organisation als solche: Hier zeichnete sich zum ersten Mal konkret ab, wie ein zukünftiges „Jugendamt“ aussehen könnte. Für die organisatorische Ausdifferenzierung der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge als separatem, kommunalem Verwaltungszweig waren einerseits systemimmanente Faktoren ausschlaggebend. Zu denken ist hier vor allem an die alterspezifische Ausdifferenzierung der strafrechtlichen Reaktionsformen sowie die mit Einführung des Schulzwanges entstandenen Probleme im Umgang mit „nicht beschulbaren“ Kindern und Jugendlichen.3 Die Pionierrolle Hamburgs 1 Uhlendorff [2003], S. 269 ff. und Steinacker [2003], S. 62. Für die Hamburger Jugendfürsorge und ihre Entwicklung im behandelten Zeitraum waren v.a. drei Traditionslinien bestimmend: a) Die starke Verankerung einer „patriotischen Fürsorgekonzeption“, die ihren Ausdruck in altehrwürdigen Bürgerstiftungen wie dem Waisenhaus, aber auch in vergleichsweise jungen Institutionen wie der Allgemeinen Armenanstalt von 1788 fand; b) Der nachhaltige Einfluss, den erweckungsbewegte Kreise während der liberalen Ära auf die inhaltliche Ausgestaltung der Jugendfürsorge ausübten und schließlich c) die starke Stellung des Ehrenamtes, die neben der patriotischen Fürsorgekonzeption in den eigenwilligen Verwaltungstraditionen der Hansestadt wurzelte. 2 Uhlendorff [2003]. 3 Weder für die Bestrebungen, jugendliche Gesetzesbrecher einer erzieherischen Behandlung zuzuführen, noch für das mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht entstandene Problem der „Unbeschulbarkeit“ ließen sich innerhalb der organisatorischen Kontexte, in denen sie entstanden waren,
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lässt sich allerdings mit solchen Hinweisen nicht befriedigend erklären. Die behörden- bzw. fachinterne Geschichtsschreibung hat wiederholt versucht, die Sonderentwicklung Hamburgs durch die hervorragenden Leistungen einzelner Persönlichkeiten sowie den besonderen Pragmatismus der in den gesetzgebenden Körperschaften versammelten Kaufleute zu erklären. In den folgenden Kapiteln wird diese Fragestellung erneut aufgerollt und nach alternativen, komplexeren Erklärungsmodellen für die Vorreiterrolle Hamburgs auf dem Gebiet der Jugendfürsorge gesucht. Dabei wird sich herausstellen, dass Hamburg bei der Ausgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge wiederholt davon profitierte, Reformmaßnahmen erst relativ spät angegangen zu sein, sich dann aber die neuesten Errungenschaften und Erkenntnisse zunutze machte, um sich gleichsam an die Spitze der Entwicklung zu setzen. Dass diese Strategie Erfolg hatte, hing jedoch vor allem mit den besonderen konstitutionellen und territorialen Verhältnissen des Stadtstaates zusammen, die die Umsetzung von einmal als richtig anerkannten Gestaltungsprinzipien erheblich erleichterten.
befriedigende Lösungen finden. Noch wichtiger war allerdings, dass die aufgeworfenen Fragen auch den Rahmen der zunehmend mit Aufgaben überhäuften kommunalen Armenfürsorge sprengten. Vor diesem Hintergrund erschien es immer dringlicher, ein eigenständiges System zur Bearbeitung der entstandenen Problemestellungen zu etablieren.
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3.1 Privatwohltätige und öffentliche Angebote der Jugendfürsorge bis Mitte der 1880er Jahre Für die Einrichtungen und Maßnahmen zur Unterstützung verarmter und/oder devianter Jugendlicher, die in Hamburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert existierten, ist charakteristisch, dass die Scheidelinie zwischen privatwohltätigen und öffentlichen Angeboten noch wenig ausgeprägt war. Es gab mehrere große und angesehene Bürgerstiftungen, die sich dem Gesamtwohl der Stadt verpflichtet sahen. Gerade das beginnende 19. Jahrhundert aber kannte eine ganze Reihe von Privatgründungen für „sittlich verwahrloste“ bzw. „gefährdete“ Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts, die sie durch einen Akt christlicher Nächstenliebe oder patriotischer Philanthropie vor dem „Untergang“ zu „retten“ bzw. zu „bewahren“ suchten. In der liberalen Ära galt das Primat der „freien Liebestätigkeit“. Die meisten Anregungen und Impulse in der Jugendfürsorge kamen von Privatpersonen und kleineren geistigen Zirkeln wie der Erweckungsbewegung oder dem Freimaurertum. Insofern erscheint es gerechtfertigt, zunächst auf die privatwohltätigen Bemühungen im Feld der Jugendfürsorge einzugehen und erst anschließend die öffentlichen Angebote zu behandeln. Ein besonderes Gewicht muss dabei auf die Finanzierung gelegt werden, denn sie war Gradmesser sowohl der gesellschaftlichen Akzeptanz und Einbindung der einzelnen Einrichtungen als auch der Unabhängigkeit von staatlicher Lenkung und Beaufsichtigung.
3.1.1 Privatwohltätige Initiativen und Einrichtungen zur „Rettung“ und „Bewahrung“ Minderjähriger Gerade in einer Großstadt wie Hamburg schien man sich zu Anfang des 19. Jahrhundert eine „rettende“ bzw. „bewahrende“ Tätigkeit noch fast ausschließlich in Form von Anstaltserziehung vorstellen zu können.1 Zwar hoben die Gründer privatwohltätiger Jugendfürsorgeeinrichtungen mehr oder weniger einhellig hervor, dass die Aufnahme der Kinder und Jugendlichen auf freiwilliger Basis erfolge und das familiäre Band durch den Eintritt nicht zerschnitten, sondern im Gegenteil wieder gefestigt werden solle. In der Praxis aber setzte sich schon bald die Überzeugung durch, dass das Rettungswerk nur dann gelingen könne, wenn man die Minderjährigen möglichst umfassend von ihrem städtischen Lebensraum abschirme. Insofern blieb auch die Privatwohltätigkeit des beginnenden 19. 1 Anders im süddeutschen Raum, wo etwa zeitgleich zahlreiche Erziehungsvereine entstanden, die sich der Unterbringung und verbesserten Aufsicht verwahrloster Kinder verschrieben hatten. Vgl.: Scherpner [1979], S. 130 ff.
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Jahrhunderts noch stark den frühneuzeitlichen Vorstellungen geschlossener Armenfürsorge verpflichtet. Neu hingegen war die konstitutive Bedeutung, die dem Stadt-Land-Gegensatz bei der Legitimierung und Situierung der privatwohltätigen Jugendfürsorgeangebote zukam. In den Publikationen der Stiftungsvorstände wurden die vor den Stadttoren in ländlicher Idylle gelegenen Einrichtungen wieder und wieder gegen das zum „locus horribilis“ hochstilisierte städtische Milieu der Kinder ausgespielt.1 Mit der häufig bemühten Metapher der „Pflanzschule“ wurde diese Vorstellung auf den Punkt gebracht: Die Kinder sollten der Stadt und ihren ungünstigen Einflüssen entrissen und in einen neuen, gesünderen Boden „verpflanzt“ werden, wo ihre sittliche und körperliche Konstitution durch erzieherisch-missionarische Einflussnahme und ausdauernde körperliche Arbeit im Freien gekräftigt werden sollte. Abgesehen von dieser ideellen Klammer, in der sich der Zeitgeist der Romantik widerspiegelte, wichen die neuen Einrichtungen auch in ihrer Zielsetzung und inneren Ausgestaltung zum Teil ganz erheblich von der geschlossenen Anstaltsfürsorge ab, wie sie von den Kommunen im 17. und 18. Jahrhundert betrieben worden war. Bei näherer Betrachtung werden außerdem auch die Differenzen sichtbar, die zwischen den einzelnen „Rettungsanstalten“ der liberalen Epoche bestanden. Die bedeutendste privatwohltätige Neugründung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die das gesamte Kaiserreich überdauerte und bis heute fortbesteht, war zweifellos das 1833 von Johann Hinrich Wichern mit finanzieller Unterstützung des Hamburger Großbürgertums vor den Stadttoren in gegründete „Rauhe Haus“. Wicherns Anstaltsgründung lag insofern in der Fluchtlinie der aufgeklärten Kritik an den Zucht- und Arbeitshäusern des 18. Jahrhunderts, als sie die altersspezifische Separation der Insassen durchsetzte: In die Anstalt wurden ausschließlich Minderjährige aufgenommen.2 Vom Waisenhaus frühneuzeitlicher Prägung unterschied sich die Einrichtung hingegen dadurch, dass sie nicht auf die Versorgung elternloser Kinder abzielte, sondern auf die ersatzweise Erziehung solcher Jungen und Mädchen, die bereits Anzeichen „sittlicher Verwahrlosung“ zeigten oder deren Eltern als „moralisch verkommen“ galten. Das „Rauhe Haus“ war nicht die erste Einrichtung ihrer Art, genoss aber in philanthropischen Kreisen schon bald ein Renommee, das seinesgleichen suchte. 1
Vgl.: Pielhoff [1999], S. 156 ff. u. 294 f.; Göhring [1994], S. 50 u. 122; Hatje [1997], S. 26. Am schärfsten war die Kritik an den absolutistischen Sammelanstalten Ende des 18. Jahrhunderts von dem Engländer J. W. Howard vorgetragen worden (Mahrzahn/Ritz [1984], S. 31). Besonderen Anstoß hatte er in seinen Reiseberichten an der gemeinschaftlichen Unterbringung von jugendlichen und erwachsenen Delinquenten genommen. Auf deutschem Boden folgte J. B. Wagnitz, Zucht- und Arbeitshauspfarrers aus Halle, Howards Vorbild (Brietzke [2000], S. 161). Eine direkte Verbindung zum jungen Wichern lässt sich allerdings nur für den preußischen Gefängnisreformer und Arzt Nicolaus Heirnich Julius nachweisen, der ebenfalls eine Bestandaufnahme des Deutschen Gefängniswesens machte (Scherpner [1979], S. 138). 2
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Selbst im europäischen Ausland orientierte man sich bei der Konzipierung ähnlicher Anstalten an Wicherns Hamburger Mustereinrichtung.1 Großen Eindruck machten auf die Zeitgenossen vor allem das pädagogische Konzept des Anstaltsgründers sowie die bauliche Anlage der Einrichtung.2 Mit Absicht sollten die dezentral und scheinbar willkürlich auf dem Gelände verstreuten kleinen Häuser, die weder vergittert noch umfriedet waren, eher an ein kleines Dorf als an ein Gefängnis erinnern. Äußerlich sollte nichts darauf hindeuten, dass hier, in der ländlichen Umgebung Hamburgs, junge Menschen festgehalten und gegen ihren Willen erzogen wurden. Noch wichtiger und umwälzender war das so genannte Familienprinzip, das heißt die Aufgliederung der Kinder in kleine, altersgemischte Gruppen, die jeweils von einem „Bruder“ oder einer „Schwester“ an Stelle der leiblichen Eltern geleitet wurden. Obwohl dieser Organisation ein traditionell-patriarchales Familienverständnis zugrunde lag, stand Wichern der Anwendung körperlicher Züchtigung skeptisch gegenüber. Stattdessen setzte er sich in der erzieherischen Praxis und der auf sie bezogenen theoretischtheologischen Reflexion für eine sanftere, aber gleichsam tiefer in die Seele der Kinder vordringende Verhaltensdisziplinierung ein: An die Stelle von Fremdzwängen sollte der Selbstzwang durch Gewissensprüfung treten.3 Als Medium sollte dabei das Evangelium dienen und als Instrument ein umfangreiches internes Berichterstattungswesen, das den Austausch zwischen den einzelnen Erzie-
1 Die ersten Rettungshäuser waren bereits wenige Jahre nach dem Abzug der napoleonischen Truppen am Nieder- und Oberrhein gegründet worden. Vgl. zur Frühgeschichte der Rettungshausbewegung und ihren geistigen Wurzeln immer noch instruktiv: Scherpner [1979], S. 122 ff.. Im Verlaufe des „Vormärz“ waren in Deutschland insgesamt 64 evangelische Rettungsanstalten entstanden. Entsprechend dem lokalen Schwerpunkt der pietistischen „Erweckungsbewegung“, die als geistiger Impulsgeber des jugendfürsorgerischen Engagements gelten kann, gab es zunächst eine lokale Konzentration im schwäbisch-allemannischen Raum. Im übrigen Deutschland existierten zum gleichen Zeitpunkt kaum mehr als zehn Einrichtungen dieser Art. Erst der mit der 1848er Revolution ausgelöste Gründungsboom veränderte das Bild entscheidend. Im Zeitraum 1848-1867 kamen 194 Anstalten, vorwiegend im nord- und westdeutschen Raum, hinzu. Drei Jahre vor der Reichsgründung existierten auf deutschem Boden nicht weniger als 355 evangelische Rettungsanstalten und noch einmal rund 150 entsprechende Einrichtungen katholischer Glaubensgemeinschaften. Detailliertes Zahlenmaterialen auf der Basis von Wicherns zeitgenössischen Erhebungen findet sich bei: Dickinson [1996], S. 13 f. u. Oberwittler [2000], S. 123. Zur europäischen Strahlkraft des „Rauhen Hauses“ als Prototyp des „deutschen“ Rettungshauses vgl. u.a.: Richter [2006]. 2 Sein Erziehungskonzept skizzierte Wichern bereits auf der Gründungsveranstaltung des „Rauhen Hauses“ im Auktionssaal der Hamburger Börsenhalle im Herbst 1833 (Thorun [1988], S. 20). Seine Rede ist gekürzt wiedergegeben in: Wichern [1833]. 3 Die Untersuchung dieses „neuen“ Machtmechanismus’ ist der zentrale Gegenstand von Anhorns Arbeit über die Erziehungskonzeption des „Rauhen Hauses“ (Anhorn [1992], S. 6). Eine besonders anschauliche Darstellung der pädagogischen Herangehensweise liefert: Grolle [1998], S. 21 ff.
174 Abbildung 4:
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Das „Rauhe Haus“ in Hamburg-Horn um 1845. Die Abbildung betont den beschaulichen dörflichen Charakter der Anstalt.
hern regelte.1 Die so gestaltete „Rettung“ der Kinder war insofern nur eine Facette des sehr viel umfassenderen Projektes der „Inneren Mission“, als Wichern hoffte, über die Kinder auch die Eltern zu erreichen und sie für die christliche Glaubensgemeinschaft zurückzugewinnen. Das „Rauhe Haus“ hatte zunächst recht beschauliche Ausmaße und dementsprechend gering war anfänglich auch die Zahl der aufgenommenen Kinder. Im zweiten Jahr seines Bestehens waren lediglich 14 Knaben in der Anstalt untergebracht. Schon bald aber waren mit dem Bau neuer Familienhäuser erweiterte Kapazitäten geschaffen worden, so dass sich Anfang der 1840er Jahre bereits durchschnittlich 60 Kinder und Jugendliche gleichzeitig in der Einrichtung aufhielten. Viele von ihnen hatten bereits bei ihrem Eintritt in die Anstalt das 14. Lebensjahr überschritten, und bei einem knappen Drittel handelte es sich um Mädchen.2 Noch einmal fünf Jahre später war mit rund 100 aufgenommenen 1 Um seine Art erzieherischer Einflussnahme zu charakterisieren verwandte Wichern scheinbar paradoxe Formulierungen wie die vom „Freiwilligen Gehorsam der Liebe“ oder der „schweren Kette der Liebe“. Durch unbeirrtes Vertrauen und ständige Vergebung sollten die Kinder zur inneren Umkehr bewegt werden. – Zum internen Berichterstattungswesen vgl.: Scherpner [1979], S. 142 f. 2 Lindmeier [1998], S. 269 u. S. 20.
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Minderjährigen die vorläufig maximale Auslastung der Anstalt erreicht.1 Als der Rechtsanwalt und spätere Bürgermeister Werner von Melle 1883 die Entwicklung des Hamburger öffentlichen Armenwesens skizzierte und dabei auch auf das „Rauhe Haus“ zu sprechen kam, umfasste die Horner Anstalt im Ganzen 26 kleinere und größere Gebäude, welche die Knabenanstalt, eine Lehrlingsanstalt, ein Pensionat für Angehörige der gehobenen Stände, eine Schule nebst Turnhalle, zahlreiche Dienstwohnungen, eine Bäckerei und eine Druckerei sowie verschiedene andere hauswirtschaftliche Einrichtungen beherbergten.2 Für die Begründung und den Erhalt einer privatwohltätigen Anstalt war die staatsunabhängige Finanzierung von ausschlaggebender Bedeutung: Wollten sich die Stifter bei der Festlegung der Aufnahmekriterien nicht das Heft aus den Händen nehmen und ihre „Rettungsarbeit“ für ordnungspolitische Zwecke einspannen lassen, so mussten sie auf die Wahrung finanzieller Autonomie bedacht sein. Die Notwendigkeit zur Pflege von Kontakten zu ehemaligen Spendern und die fortgesetzte Suche nach neuen Geldquellen war im Falle des „Rauhen Hauses“ auch deshalb besonders ausgeprägt, weil schon im Sendungsbewusstsein Wicherns und seiner „erweckungsbewegten“ Freunde die beständige Ausdehnung der Anstalt angelegt war. 1860 mussten für die Kinderanstalt mit ihren 103 Zöglingen knapp 19.000 Mark Courant (MCrt.) aufgebracht werden, die neben den Erträgen aus dem Stiftungskapital durch fortlaufende Privatspenden zu decken waren.3 Das Finanzierungskonzept des „Rauhen Hauses“ beruhte auf einem wohldurchdachten Spendenmix, bei dem gut kalkulierbare, vom Umfang her aber eher bescheidene regelmäßige Einkünfte aus Subskriptionen und Pensionen mit publikumswirksamen und deshalb auch meist einträglicheren Einmalaktionen in Form von Wohltätigkeitsbasaren und -konzerten kombiniert wurden.4 Die „Öffentlichkeitsarbeit“ zur Erwirtschaftung der laufenden Kosten 1 Im Jahresbericht für 1859 wurde die durchschnittliche Belegungszahl mit 103, in dem für das Jahr 1870 mit 99 angegeben (Jahresbericht Kinderanstalt RH 26.1859, S. 1 u. 35.-38.1868-1871, S. 2). Allerdings waren 1879 mit der Auslagerung der Mädchenabteilung nach Billstedt und später nach Eppendorf (St. Anschar-Höhe) die räumlichen Kapazitäten der Anstalt entscheidend erweitert worden. Wichern selbst hatte als maximale Größe eines Rettungshauses die Zahl von 100 bis 130 Zöglingen angegeben (Lindmeier [1998], S. 178). 2 Klapproth [1957], S. 67. 3 Jahresbericht Kinderanstalt RH 26.1859, S. 9. 4 Im Frühjahr 1846 erbrachte ein sechstägiger Wohltätigkeitsbasar zugunsten des „Rauhen Hauses“ in einem repräsentativen Hotelneubau in der Innenstadt stattliche 18.732 MCrt. – ein Erlös, der die regelmäßigen Jahreseinnahmen aus Subskriptionen und Pensionen von damals etwa 15.000 MCrt. deutlich übertraf. Die Basare waren, sowohl was das Publikum als auch was die Organisation anbetraf, eine weibliche Domäne. So war zur Erledigung der Vorbereitungsarbeiten des Basars von 1846 eigens ein „Damenkomitee“ gebildet worden, dessen Vertreterinnen all jene Familien repräsentierten, die in Hamburg Rang und Namen besaßen. Verkauft wurden nicht etwa nur Produkte aus der Anstalt. Vielmehr waren zuvor in einem öffentlichen Aufruf die Frauen des Bürgertums aufgefordert worden, selbstgefertigte Handarbeiten zum Verkauf einzureichen. Die Resonanz auf diesen Aufruf war über-
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erforderte einen hohen Zeitaufwand und sehr viel Erfindungsreichtum. Was die regelmäßigen Einnahmen anbetraf, so erwies sich der Vorschlag des Vorstandsmitglieds Karl Sieveking, Spenden-Patenschaften für einzelne Kinder einzurichten, als besonders innovativ.1 Mit Hilfe dieser Patenschaften ließ sich nicht nur das persönliche Interesse der Wohltäter über einen längeren Zeitraum wach halten, sondern auch der verlorengegangene persönliche Kontakt zwischen „Arm“ und „Reich“ wiederherstellen. Vor allem die Übertragung des Patenschaftsmodells auf die so genannte Brüderanstalt, in der bereits seit den späten 1830er Jahren Handwerkersöhne zu Erziehungs-„Gehülfen“, Stadtmissionaren und Diakone ausgebildet wurden, erwies sich über eine Reihe von Jahren als äußerst einträgliche Finanzierungsquelle. Gleichzeitig leitete sie jedoch eine Krise der patrizischpatriotischen Spendenmotivation ein, weil sich nur noch schwer vermitteln ließ, welchen Nutzen die in alle Welt entsandten „Brüder“ für die Hansestadt selbst hatten.2 Die Folge war, dass mehr und mehr auch andernorts nach Geldquellen für die Anstalt gesucht werden musste und sich ihre Spendenbasis ganz allmählich auf das ganze Reichsgebiet erweiterte.3 Eine weitere bedeutende Neuschöpfung privatwohltätiger Jugendfürsorge aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus erhalten blieb, war das „Pestalozzi-Stift“. Es stellte sozusagen das weltliche Pendant zum „Rauhen Haus“ dar. Mit seiner Gründung im Jahre 1846 wollte die erst einige Jahre zuvor gegründete Hamburger Freimaurerloge „Zur Brudertreue an der Elbe“ dem bekannten Schweizer Pädagogen ein Denkmal setzten und in Hamburg eine Erziehungseinrichtung etablieren, die in seinem Geiste wirken sollte.4 Betrachtet man den Anstaltsalltag im historischen Rückwältigend: In wenigen Wochen wurden knapp 4.000 Arbeiten eingeschickt, etwa 150 davon stammten von englischen Bürgerdamen. Vgl. hierzu: Pielhoff [1999], S. 299 ff. 1 Karl Sieveking (1787-1847), Senatssyndikus und Vetter Amalie Sievekings, gehörte seit seiner Schenkung des Horner Anstaltsgeländes dem Vorstand des „Rauhen Hauses“ an. 2 Neben diesem Umstand dürfte auch die Tatsache, dass das im Jahr 1850 für die gehobeneren Stände eingerichtete Pensionat des „Rauhen Hauses“ nur sehr wenige Hamburger, dafür aber umso mehr „Jünglinge“ aus den übrigen deutschen Teilstaaten und dem europäischen Ausland aufnahm, dazu beigetragen haben, dass das „Rauhe Haus“ nicht mehr als „Hamburger Anstalt“ wahrgenommen wurde. Nach einer aus den 1880er Jahren stammenden statistischen Aufstellung zur Herkunft der „Pensionäre“ des „Rauhen Hauses“ kamen von 138 eingetretenen Kindern und Jugendlichen 55% aus den preußischen Provinzen (v.a. Brandenburg und Hannover), 26% aus den anderen deutschen Bundesstaaten und die restlichen 19% aus dem europäischen und überseeischen Ausland (aus Süd- und Nordamerika kamen drei Minderjährige, aus Petersburg und Moskau ebenfalls drei usw.) Aus Hamburg wurden zur selben Zeit nur sechs Kinder und Jugendliche aufgenommen, was einem Anteil von etwas über 4% entsprach (Wichern [1886], S. 38). 3 Pielhof [1999], S. 308. 4 Zur damaligen Zeit galt Hamburg als das Zentrum des deutschen Logenwesens. Wohl wegen der engen Handelsbeziehungen, die Hamburger Kaufleute zu England, dem Ursprungsland der „freemasonry“ pflegten, kam es bereits 1739 zur Gründung der Großloge „Societé des acceptés maçons libres
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blick, so springen vor allem die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen „Rauhem Haus“ und „Pestalozzi-Stift“ ins Auge: Hier wie dort war das Leben der Kinder durch einen bis ins Detail geregelten Tagesablauf bestimmt, in dem Andachten und die Vermittlung von Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen mit handwerklichen, land- bzw. hauswirtschaftlichen Arbeiten abwechselten.1 Unterbrochen wurde dieser eintönige Rhythmus nur durch kurze Pausen des Spiels und hin und wieder durch Festlichkeiten, die allerdings zumeist einen ausgesprochen repräsentativen Charakter hatten.2 Die innere Ausstattung der Unterkünfte wurde absichtlich bescheiden gehalten. Auf Sauberkeit, Gesundheit und ausreichende Ernährung wurde viel Wert gelegt. Als noch wichtiger aber sah man an, dass in den Kindern keine falschen Begehrlichkeiten nach einem wirtschaftlich gut abgesicherten Leben geweckt wurden. Die Überzeugung von der Unumstößlichkeit und Notwendigkeit ständischer Grenzen lag beiden Einrichtungskonzepten zugrunde.3 Schließlich wurde das „Pestalozzi-Stift“, wie zwei Jahrzehnte zuvor schon das „Rauhe Haus“, in der „idyllischen“ Abgeschiedenheit der Hamburger Landherrschaften errichtet und war verbunden mit einem kleineren landwirtschaftlichen Betrieb, der die weitgehende Selbstversorgung der Einrichtung sicherstellen sollte.4 Gleichwohl markierte die Gründung des „Pestalozzi-Stiftes“ auch eine inhaltliche Abkehr von den Bestrebungen, die seinerzeit zur Gründung des „Rauhen Hauses“ geführt hatten, und was noch wichtiger war: Sie stand auch für eine allmähliche Ausdifferenzierung des privatwohltätigen Angebots auf dem Gebiet der Jugendfürsorge. Das „Pestalozzi-Stift“ verstand sich nicht mehr als Rettungshaus im klassischen Sinne, in das ohne Unterschiede sowohl „gefährdete“ als auch bereits „verwahrloste“ und sogar vorbestrafte Minderjährige aufgenommen wurden, sondern als „Bewahranstalt“ für „sittlich gefährdete aber noch de la ville de Hambourg. Auf die in der Literatur bislang kaum beachtete Bedeutung der „Freimaurerei“ für die Frühgeschichte der Sozialpädagogik hat jüngst Volker Gedrath hingewiesen (Gedrath [2002] und [2003]). Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf die Magisterarbeit zur Geschichte des Pestalozzi-Stifts von Madeleine Göhring (Göhring [1994]). 1 A.a.O., S. 75 u. 91; Lindmeier [1998], S. 162 ff. 2 Die repräsentative Funktion der Feste wird daran ersichtlich, dass v.a. die privatwohltätigen Unterstützer der Anstalt als Gäste geladen waren (Lindmeier [1998], S. 239 u. Göhring, [1994], S. 80). 3 A.a.O., S. 78 u. Pielhoff [1999], S. 296. Volker Gedraths These, wonach die sozialpädagogischen Projekte der Freimaurer, insbesondere die im „Vormärz“ auf preußischem Boden gegründeten gewerblichen Sonntagsschulen, als „Bausteine zur Demokratisierung der Gesellschaft“ begriffen werden könnten, kann für das Hamburger Pestalozzi-Stift nicht bestätigt werden und dürfte so allgemein formuliert auch zu optimistisch sein (Vgl.: Gedrath (2003), S. 104, Anm. 4). 4 Ob die hier untergebrachten Stadtkinder die vermeintlichen Vorzüge der dörflichen Isolation genauso schätzten wie die Vorstandsmitglieder, scheint angesichts der zahlreichen Fluchten und massiven Disziplinierungsprobleme, mit denen beide Anstalten zu kämpfen hatten, allerdings mehr als zweifelhaft (Göhring [1994], S. 94 f. und Pielhoff [1999], S. 315 ff.).
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nicht verderbte Kinder“.1 Diese konzeptionelle Hinwendung zu den jüngeren, noch nicht „verwahrlosten“ Kindern, die sich auch andernorts in Deutschland während der Restaurationsperiode abzuzeichnen begann, war nicht zwangsläufig, aber doch sehr häufig mit einer grundlegenden Kritik an Konzeption und Erziehungsmethoden der konfessionellen Rettungsanstalten verbunden.2 Im Falle des Hamburger „Pestalozzi-Stiftes“ war das Distanzierungsbedürfnis gegenüber den „Frömmlern“ vom „Rauhen Haus“ unverkennbar. Schon die Wahl des Namenspatrons deutete darauf hin, dass man der Vernunft in der Erziehung ein größeres Gewicht beimessen wollte als dem Glauben.3 Es ging hier weniger darum, die Kinder für die Gemeinschaft der Christen wiederzugewinnen, als sie zu „nützlichen, thätigen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft“ heranzubilden.4 Die Unterschiede in der Erziehungsauffassung beider Einrichtungen machte sich besonders in ihrer Personalpolitik bemerkbar. Bereits im ersten Jahresbericht der „Pestalozzi-Stiftung“ hieß es in Bezug auf die Anstellung des Anstaltsdirektors, man habe eine Persönlichkeit gesucht, die „eine von schwärmerischer Überspannung freie echt evangelische Glaubensrichtung und vor allem jene Liebe zur Kinderwelt vereinigte, die nicht um des Vortheils, sondern der Sache Willen mit Ernst und Milde ihre Aufgabe erfüllte.“ Und ein paar Jahre später wurde sogar in den Stiftungsstatuten festgeschrieben, dass es sich beim Direktor um einen „wissenschaftlich gebildeten Mann“ handeln solle.5 Wer mit der Geisteshaltung und dem Erziehungsalltag des „Rauhen Hauses“ einigermaßen vertraut war, der konnte auch die zahlreichen kleinen Seitenhiebe nicht missverstehen, mit denen sich der Vorstand des „Pestalozzi-Stiftes“ gegenüber dem Horner Rettungshaus abzugrenzen versuchte.6 Das hieß nicht, dass Religion im Alltag des Stiftes 1
„Fünfter Jahresbericht“ des Vorstandes des Pestalozzi-Stiftes von 1852, zit. nach: Göhring [1994], S. 7. 2 Pastor Heinrich Sengelmann z.B., der Gründer des wenige Jahre nach Eröffnung des „PestalozziStiftes“ in Hamburg-Moorfleet entstandenen „Nicolai-Stiftes“, hob ebenfalls ausdrücklich hervor, dass es sich bei seiner Einrichtung nicht um ein „Rettungshaus“, sondern um eine „Bewahranstalt“ handele. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, sie als „Schwester-Anstalt“ des „Rauhen Hauses“ zu bezeichnen und sich ideologisch scharf gegenüber dem „Pestalozzi-Stift“ abzugrenzen (Sengelmann [1856], S. 6 u. 11). 3 Zu den unterschiedlichen Erziehungsverständnissen Pestalozzis und der Freimaurer auf der einen und den Protagonisten der „Erweckungsbewegung“ auf der anderen Seite vgl.: Scherpner [1979], S. 124 f. u. Gedrath [2002], S. 559 u. ders. [2003], S. 103 f. 4 Aus einem Spendenaufruf des „Pestalozzi-Stifts“ von 1851, zit. nach: Göhring [1994], S. 86. 5 Göhring [1994], S. 88 u. 66. 6 So stellte Alexander Detmer, promovierter Theologe, Schulleiter und „Meister vom Stuhl“ der Loge „Zur Brudertreue an der Elbe“, auf dessen Initiative die Gründung des Stiftes im Wesentlichen zurückgegangen war, in einer 1847 gehaltenen Rede klar, dass die Zöglinge des Pestalozzi-Stiftes von jeder Frömmelei und äußerer Religiosität fernzuhalten seien und auf „einzulernende religiöse Formen wenig gegeben“ werde (Göhring [1994], S. 76). Noch expliziter hieß es in der 1851 erlassenen Satzung, der Geist der Anstalt solle derjenige einer „echt evangelischen Frömmigkeit“ sein, „jede
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keine Rolle spielte. Aber sie trat doch deutlich hinter die Allgemeinbildung zurück. Die Entwicklung des „religiösen Gefühls“ im erzieherischen Miteinander hielt man für wichtig. Religiöse Einflussnahme in Form von Katechese lehnte der Vorstand dagegen strikt ab. Das „Pestalozzi-Stift“ war erheblich kleiner als das „Rauhe Haus“. Gemäß der Zielsetzung der Einrichtung wurden die Kinder im Durchschnitt deutlich früher aufgenommen als in Horn. Gewöhnlich traten sie bereits zwischen dem sechsten und zehnten Lebensjahr in die Anstalt ein.1 Das erste Haus in Billwerder, das für maximal 50 Kinder ausgelegt war, stieß Mitte der 1860er Jahre an seine Auslastungsgrenzen.2 Auch mit dem 1866 erfolgten Umzug in einen Neubau in Barmbek stieg die Zahl der Zöglinge nicht sogleich an, weil zunächst die Bau- und Unterhaltskosten der neuen Einrichtung sichergestellt werden mussten. Ab 1871 lebten gut 70 Kinder zugleich im Stift, ab Mitte der 1880er Jahre waren es dann um die 80 oder ein wenig mehr. Wie beim „Rauhen Haus“, so war auch im „Pestalozzi-Stift“ etwa jeder dritte Zögling weiblichen Geschlechts.3 Da die Anstalt nur etwa halb so groß war wie die Einrichtung in Horn, fielen auch die erforderlichen Finanzmittel entsprechend geringer aus: 1867, als das „Rauhe Haus“ das Jahresbudget der „Kinderanstalt“ mit 22.923 MCrt. bezifferte – was bei 102 anwesenden Kindern einer Pro-Kopf-Aufwendung von 224 MCrt. entsprach – gab das „Pestalozzi-Stift“ für seine 50 Zöglinge 12.627 MCrt. an Verpflegung und Unterhalt aus – mithin also rund 253 MCrt. pro Jahr und Kind.4 Auch der Vorstand des Pestalozzi-Stiftes versuchte durch die Kombination möglichst vielfältiger Spendenquellen eine solide Gegenfinanzierung für die entstehenden Instandhaltungs-, Personal- und Verpflegungskosten des Heimes sicherzustellen. Bemerkenswerterweise bereitete es ihm bis in die 1870er Jahre hinein anscheinend keine größeren Mühen, einen relativ großen Kreis von Subskribenten zu rekrutieren. Noch 1875 machten deren Jahrebeiträge einen Anteil von 47 Prozent des Gesamthaushalt von mittlerweile 28.549 RM aus. Ein dem „Rauhen Haus“ vergleichbares Identifikationsproblem bestand im Falle der Barmbeker Anstalt offenbar nicht.5 Als die regelmäßigen Einnahmen in der Folpietistische Färbung aber von ihr ferngehalten werden“ (Ebd, S. 65). Und im Jahresbericht von 1856 wurde endlich die allgemeine Popularität, der sich die Anstalt erfreute, auf den Umstand zurückgeführt, dass sie dem allgemeinen Besten diene und „keinen Parteienzweck“ verfolge. (A.a.O., S. 97). 1 Göhring [1994], S. 99. 2 A.a.O., 96 f. 3 A.a.O., S. 190 u. 192 f., Diagramm 1 u. Tab. 1. 4 Jahresbericht Kinderanstalt RH 34.1867, S. 39 u. Göhring, [1994], S. 192. Nimmt man diese Zahlen als Vergleichswerte und zieht man in Betracht, dass das „Pestalozzi-Stift“ erst kurz zuvor in den Barmbeker Neubau umgezogen war, so dürfte sich der Lebensstandard in beiden Einrichtungen nicht nennenswert unterschieden haben. 5 Es würde ein lohnendes Unterfangen sein, die Verschiebung der Spendenflüsse vergleichend zu untersuchen, um auf diesem Wege eventuelle Veränderungen in der Außenwahrnehmung der Anstal-
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gezeit langsam zurückgingen, konnte diese Entwicklung durch eine kluge Anlage des Stiftungskapitals wieder ausgeglichen werden. Die Zinseinkünfte aus den von der Stiftung ausgegebenen Aktien stiegen kontinuierlich an. Aber nicht nur auf der Einkommens-, sondern auch auf der Ausgabenseite gab es erhebliche Unterschiede zwischen „Pestalozzi-Stift“ und „Rauhem Haus“. Anders als die Vertreter der „Inneren Mission“ bauten die Logenbrüder ihre Anstalt nur ganz allmählich aus und ließen auch räumliche Kapazitäten ungenutzt, solange die Aufnahme weiterer Kinder finanziell nicht ausreichend gesichert schien. Die Differenzen zwischen den beiden Anstalten hinsichtlich des Finanzgebarens sind umso bemerkenswerter, als sich die Vorstände in ihrer sozialen Zusammensetzung kaum unterschieden. Inhaltlich gaben in beiden Fällen Theologen den Ton an, unterstützt von ein bis zwei Senatoren oder Syndici, die mit ihrem Namen für die Seriosität und Unterstützungswürdigkeit des Projektes bürgten und zudem einen unkomplizierten Austausch mit dem Senat als oberster staatlicher Verwaltungsbehörde sicherstellen sollten. Beide Stiftungen waren außerdem bemüht, das Kapital an sich zu binden, indem sie ein oder besser gleich mehrere Großkaufleute in den Vorstand wählten. Die Einbeziehung einflussreicher Persönlichkeiten in die Stiftungsverwaltung darf man sich allerdings nicht als Ergebnis mühsamer strategischer Operationen vorstellen. Sie entsprach vielmehr dem Selbstverständnis des Hamburger Honoratiorensystems und war für fast alle privatwohltätigen Unternehmungen jener Zeit kennzeichnend. Eine strikte Trennung oder gar ein offener Antagonismus zwischen „öffentlicher“ und „privater“ Wohltätigkeit, so zeigt sich auch im Fall des „Pestalozzi-Stiftes“, hat es in dieser Periode nicht gegeben.1 Dennoch gab es einige wesentliche Unterschiede zwischen den Vorständen der beiden Anstalten. Der Vorstand des „Pestalozzi-Stiftes“ war entsprechend den Grundsätzen der Loge weniger exklusiv besetzt als der des „Rauhen Hauses“. Es fanden sich auch Handwerker in seinen Reihen. Noch wichtiger war allerdings, dass ihm auch zahlreiche Frauen angehörten. Seit Ende der 1840er Jahre sollten 13 Sitze des 30-köpfigen Gremiums Frauen vorbehalten bleiben, die mit vollem Stimmrecht an den Vorstandssitzungen teilnahmen – ein Bestimmung, die damals keinesfalls eine Selbstverständlichkeit darstellte.2 ten der privaten Jugendfürsorge und der Haltung des wohltätigen Publikums zum Themenkomplex „Jugendverwahrlosung“ und „Kinderschutz“ feststellen zu können. Pielhoff geht der Frage der Konkurrenz der privatwohltätigen und konfessionellen Einrichtungen leider nur in Bezug auf das frühe 20. Jahrhundert nach (Pielhoff 1999, S. 489). 1 Vgl. Pielhoff [1999], S. 298. 2 Göhring [1994], S. 59 u. 67. Diese Öffnung gegenüber den Frauen hatte vermutlich v.a. damit zu tun, dass auch die Loge „Zur Brudertreue an der Elbe“ der Teilhabe von Frauen am öffentlichen Leben offen gegenüberstand. Nach Göhrings Einschätzung zählte die Loge damit zu den besonders fortschrittlichen Kongregationen (Göhring [1994], S. 49). Andererseits dürfte aber auch der Umstand
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Die dritte bedeutende Neugründung im Hamburg der Vormärzzeit, die man im weitesten Sinne der privatwohltätigen Jugendfürsorge zurechnen kann, war das „Magdalenen-Stift“. Chronologisch gesehen stand diese Stiftung sogar an erster Stelle, denn sie war bereits 1822, also gut zehn Jahre vor dem „Rauhen Haus“, gegründet worden. Dennoch nahm sie eine gewisse Sonderstellung ein, die eine getrennte Behandlung erforderlich macht. Im Unterschied zu den beiden bisher untersuchten Einrichtungen war das „Magdalenen-Stift“ eine Anstalt, in die nur ältere weibliche Minderjährige aufgenommen wurden. Präventiv war diese Arbeit zunächst nicht angelegt, vielmehr setzte die Aufnahme voraus, das die Mädchen schon „gefallen“ waren, das heißt als Prostituierte in einem Hamburger Bordell gearbeitet oder wenigstens der Polizei wegen ihres „schlechten Lebenswandels“ aufgefallen waren.1 Der ordnungspolitische Charakter der Einrichtung war auch daran abzulesen, dass die Anregung zu ihrer Gründung von Amandus Augustus Abendroth, dem damaligen Hamburger Polizeiherrn, ausgegangen war.2 Schon vor seiner Ernennung zum Senator hatte sich dieser für die Reglementierung des „Meretricenwesens“ eingesetzt. Das „Magdalenen-Stift“ sollte das staatlich konzessionierte Bordellwesen als eine Art „Ausstiegshilfe“ flankieren. Der Konnex mit den repressiven staatlichen Einrichtungen war hier also deutlich ausgeprägter als im Falle des „Rauhen Hauses“ oder des „PestalozziStifts“.3 Benannt nach der neu-testamentlichen Gestalt der Maria Magdalena, die durch Jesus Christus von ihren Sünden befreit worden war, stellte das Hamburger Stift eine frühe deutsche Adaption eines englischen Vorbildes dar: In London war schon Mitte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit verschiedenen gesundheitspolizeilichen Maßnahmen zur Eindämmung von Geschlechtskrankhei-
eine Rolle gespielt haben, dass die ins Stift aufgenommenen Kinder meist noch sehr jung waren, denn die Erziehung von Jungen und Mädchen im vorpubertären Alter wurde ganz allgemein als Frauenangelegenheit betrachtet. Bezeichnend ist zumindest, dass die Jahresberichte v.a. das Engagement der weiblichen Mitglieder bei der Organisation von Wohltätigkeitsbasaren und der regelmäßigen Inspektion der Anstalt lobend hervorhoben. Obwohl die Frauen in allen vier Sektionen des Vorstandes – der Aufnahme- und Revisionssektion ebenso wie der Schul- und Verpflegungssektion – gleichmäßig vertreten waren, deuteten solche Äußerungen auf eine ausgeprägte geschlechtsspezifische Aufgabenverteilung innerhalb der Verwaltung hin. 1 Zu den unterschiedlichen Zugangswegen vgl. Hatje [1997], S. 21 f. 2 Vgl. zu Abendroths Person und seinem politischen Wirken auch Tilgner [2005]. Zu den Hintergründen der Anstaltsgründung: A.a.O., S. 114 f. 3 Zum Weiteren vgl.: Hatje [1997]. Eine ähnliche Ergänzung polizeilicher Tätigkeiten durch privatwohltätige Angebote schwebte zwar auch Abendroths Nachfolger Hieronymus Hudtwalcker in Bezug auf die Strafklasse des Werk- und Armenhauses und das „Rauhe Haus“ vor. Eine Verbindung dieser beiden Einrichtungen öffentlich einzugestehen schien allerdings aus Gründen der Spendenmotivierung nicht ratsam zu sein. Entsprechende Hinweise lassen sich deshalb auch nur der Privatkorrespondenz zwischen Hudtwalcker und Wichern entnehmen (Pielhoff [1999], S. 297 f.).
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ten ein „Magdalen-Hospital“ eröffnet worden.1 Im Unterschied zu den Jugendlichen, die Wichern in seiner Anstalt aufgenommen hatte und mehr noch den Kindern, die im „Pestalozzi-Stift“ „bewahrt“ und erzogen wurden, eigneten sich ehemalige Prostituierte im „Vormärz“ kaum als Sympathieträgerinnen bürgerlicher Privatwohltätigkeit. Eine öffentliche Auseinandersetzung über die sozialen Folgekosten der staatlichen Reglementierungspolitik galt als anstößig und unschicklich, was sich als eine schwere Hypothek für die Spendenwerbung der Einrichtung erweisen sollte.2 Gleichwohl trifft auch für Hamburg zu, was Heike Schmidt in Bezug auf die geschlechtsspezifischen Schwerpunkte privatwohltätiger Jugendfürsorge im 19. Jahrhundert festgestellt hat: „Die Magdalenien verschafften der Zwangserziehung für heranwachsende Mädchen einen bedeutenden Vorsprung im Kaiserreich: Es gab eine bessere Infrastruktur, eine größere Akzeptanz in der Öffentlichkeit und besser ausgebildetes Personal als in den Anstalten für männliche Altersgenossen. Die Hilfsbedürftigkeit und der Erziehungsbedarf von devianten weiblichen Jugendlichen war längst akzeptiert, als die Fürsorge für die Annahme der Erziehungsfähigkeit von devianten heranwachsenden Jungen noch schwer kämpfen musste.“3
Das erste, in der damals noch locker bebauten Hamburger Vorstadt St. Georg gelegene „Magdalenen-Stift“ bot Platz für nicht mehr als zwölf Mädchen bzw. junge Frauen. Wie alt diese im Durchschnitt waren, lässt sich nicht mehr genau bestimmen. Das 14. Lebensjahr dürften aber sämtliche „Stiftsgenossinnen“ bei ihrer Aufnahme bereits überschritten haben. Da ein erheblicher Anteil von ihnen zuvor tatsächlich in einem Bordell gearbeitet hatte, lässt sich vermuten, dass der Altersdurchschnitt deutlich höher lag.4 1865, etwa zur gleichen Zeit, als auch das Waisenhaus und das Werk- und Armenhaus aus der Innenstadt an den Stadtrand verlegt wurden, zog das Stift in ein neues Haus in Hamm um. Neben der immer 1 Als Vermittler des englischen Vorbildes fungierte offenbar Joachim Heinrich Campe fungiert, der die Einrichtung in einem seiner Reiseberichte ausführlich beschrieben hatte (Hatje [1997], S. 15). Bereits im Mittelalter hatten sich verschiedene religiöse Frauenorden unter Berufung auf Maria Magdalena „armer Sünderinnen“ angenommen. Mit der Sekularisierung der Klöster im Zuge der Reformation war jedoch diese Traditionslinie weitgehend abgebrochen. Nachdem 1822 das Hamburger Stift gegründet worden war, wurde die Arbeit mit „gefallenen“ Mädchen und jungen Frauen innerhalb der protestantischen Kirche v.a. durch den Pastoren Theodor Fliedner angeregt, der in Kaiserwerth 1833 ein „Magdalenen-Stift“ für strafentlassene Frauen gründete. Ende der 1860er Jahre existierten in Preußen 13 Magdalenien für etwa 400 Frauen und Mädchen, um 1900 im Reich bereits 44 entsprechende Einrichtungen mit rund 1.500 Plätzen. Die katholische Kirche besaß mit ihren „Klöstern zum Guten Hirten“ allerdings immer noch einen deutlichen Vorsprung gegenüber dem Engagement von evangelischer Seite (Schmidt, H. [2002], S. 39 u. 49). 2 Vgl.: A.a.O., S. 39 f. 3 Vgl.: A.a.O., S. 49 f. 4 Bei Hatje [1997] finden sich leider keinerlei Altersangaben.
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dichteren Bebauung St. Georgs, die eine klostergleiche Abgeschiedenheit nicht mehr zuließ, weist Hatje auch auf einen sehr viel profaneren Grund für den Umzug hin: Die Grundstückspreise in Zentrumslage waren seit den 1820er Jahren rapide gestiegen und der chronisch unterfinanzierten Stiftung bot sich durch eine Standortverlagerung die Möglichkeit, ihren Haushalt auf einen Schlag zu sanieren.1 Mit dem Umzug ging eine Ausdehnung der räumlichen Kapazitäten einher. Ende der 1860er Jahre waren 20 bis 30 Mädchen im Stift untergebracht. Die entscheidende Ausweitung der Arbeit der Einrichtung aber erfolgte erst 1874, als sie sich räumlich und organisatorisch mit dem zuvor ebenfalls in der Innenstadt ansässigen „Weiblichen Asyl“ des „Magdalenen Hilfsvereins“ vereinigte. In den sechs darauffolgenden Jahren wurden nicht weniger als 100 Mädchen in die Hammer Anstalt aufgenommen – eine recht erhebliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die Verweildauer zwischen ein und zwei Jahren betrug. Das Leben im Hamburger „Magdalenen-Stift“ scheint anfänglich dem eines Klosters sehr ähnlich gewesen zu sein. Absolute Isolation von der Außenwelt, Katechese, Gebet und Arbeit bestimmten das erzieherische Programm der Einrichtung. Weltlicher Unterricht spielte demgegenüber so gut wie keine Rolle.Die religiöse Unterweisung und Seelsorge wurde durch mehrere Geistliche im Nebenberuf ausgeübt. Die Leitung der Einrichtung selbst aber vertraute man wie selbstverständlich einer Frau an – schließlich galt es, den Mädchen vor allem hauswirtschaftliche Fertigkeiten zu vermitteln und wer sollte dazu geeigneter sein als eine erfahrene Bürgersfrau. Ob die Anleitung durch die Leiterin wirklich die Bezeichnung „Ausbildung“ verdiente, ist zweifelhaft. Fest steht allerdings, dass es bei der Arbeit um mehr ging als nur um Gewöhnung, Disziplinierung und wirtschaftliche Ausbeutung, wie sie zur selben Zeit in der Korrektionsabteilung des Werk- und Armenhauses betrieben wurde. Durch gezielte Vorbereitung auf den Dienstmädchenberuf sollte den Frauen der Weg zurück ins bürgerliche Leben geebnet werden.2 Unter dem Einfluss erweckungsbewegter Kreise machte die pragmatische Nüchternheit, die den Alltag der ersten Jahre bestimmte, jedoch offenbar schon bald einer gefühlsbetonten Frömmigkeit Platz, der es unter Verwendung von Begriffen wie „Reue“, „Buße“ und „Umkehr“ mehr um die Herausbildung einer neuen Lebenseinstellung der Mädchen als um ihre berufliche Qualifizierung ging. Den Höhepunkt erreichte diese in den Jahreberichten auch theoretisch erörterte Entwicklung, als die Leitung in den Jahren 1857 bis 1873 an einen im „Rauhen Haus“ ausgebildeten Stadtmissionar und dessen Frau über1
Vgl.: A.a.O., S. 24. Vgl.: A.a.O., S. 25 f. Gerade in diesem pragmatischen Ansatz zeigte sich die Handschrift Abendroths, der einem aufgeklärten Vernunftglauben anhing und den „erweckungsbewegten“ Initiativen im Bereich der Jugendfürsorge nicht viel abgewinnen konnte. Zu Abendroths Verhältnis zur „Erweckungsbewegung“ vgl.: Tilgner [2005], S. 120. 2
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ging. Individualisierung im erzieherischen Umgang und bei der Ursachenzuschreibung sexueller Devianz, Betonung der Freiwilligkeit, strengstes Stillschweigen über das Vorleben und Orientierung am Familienprinzip waren nur die wichtigsten Stützpfeiler, welche den Einfluss der Wichernschen Pädagogik erkennen ließen.1 Die konzeptionelle Neuausrichtung war auch für die Finanzierung der Einrichtung von ausschlaggebender Bedeutung. Bereits wenige Jahre nach der Gründung des Stiftes hatte der Vorstand eine Abkühlung des Spendeninteresses konstatieren müssen. Der „Reiz der Neuheit“, der für die Spendenbereitschaft des privatwohltätigen Publikums von außerordentlicher Bedeutung war, war im Falle des „Magdalenen-Stiftes“ schneller verflogen als bei anderen caritativen Unternehmungen.2 1838 standen Einkünften aus Jahresbeiträgen in Höhe von 675 MCrt. Ausgaben von 4.088 MCrt. gegenüber. Vor diesem Hintergrund hatte sich der Vorstand – dem übrigens von Anfang an auch eine Reihe von Frauen angehörten – genötigt gesehen, den Senat um die Bewilligung eines Staatszuschusses zu ersuchen. Diesem Ersuchen war zunächst auch ohne Weiteres stattgegeben worden. Aus der „Meretricenkasse“ wurde ein jährlicher Zuschuss in Höhe von 2.000 MCrt. bewilligt.3 Als Mitte der 1855 erneut ein Loch in der Kasse klaffte, gerieten die Verhandlungen um eine Erhöhung des Zuschusses in den Strudel religionspolitischer Auseinandersetzungen. Aus dem Umkreis der „Inneren Mission“ wurde massive Kritik an der staatlichen Duldung der „gewerbsmäßigen Unzucht“ geübt und argumentiert, dass die öffentliche Förderung der Prostitution nur dann zu rechtfertigen sei, wenn der Staat auch Maßnahmen treffe, die den „eingezeichneten Mädchen“ einen Ausstieg aus ihrem „Gewerbe“ ermöglichen. Demgegenüber stieß der wachsende Einfluss der „Frömmler“ in Verwaltung und Leitung des Stiftes in der Bevölkerung auf zunehmende Skepsis. Selbst der amtierende Polizeiherr Dr. Blumenthal, der um eine Stellungnahme zur Erhöhung der staatlichen Zuwendungen an die Einrichtung ersucht worden war, zweifelte am öffentlichen Nutzen der Einrichtung. Der Streit um den Staatszuschuss belegt eindrucksvoll, wie weit der Einfluss der „Inneren Mission“ im Bereich der geschlossenen Jugendfürsorge Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich reichte: Als 1857 der Stadt1
Vgl.: A.a.O., S. 33 f. Vermutlich war auch diese Wendung der pädagogischen Ausrichtung dem Nachfolger Abendroths im Amt des Polizeiherrn, Hieronymus Hudtwalcker, zu verdanken. 2 Trotz der Hervorhebung der Freiwilligkeit des Eintritts war die Einbindung der Rettungsarbeit in das staatliche Kontrollsystem zur Regulierung der Prostitution nur allzu offenkundig. Es hätte vermutlich der allergrößten publizistischen Anstrengungen bedurft, um das negative Image, das auf den „eingezeichneten Mädchen“ lastete, abzuschütteln. 3 Aus der „Meretricenkasse“ wurden ansonsten die gesundheitlichen Untersuchungen der „eingezeichneten Mädchen“ bestritten. Gespeißt wurde sie zum größten Teil aus den Konzessionsgebühren der Bordellwirte.
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missionar J.N. Spitzer die Leitung des „Magdalenen-Stiftes“ übernahm, war nicht nur die Spitze der letzten bedeutenderen privatwohltätigen Anstalt im Bereich der Jugendfürsorge „professionalisiert“ worden.1 Mit Ausnahme des „Pestalozzi-Stiftes“ befanden sich nach öffentlicher Meinung nunmehr auch alle Anstalten im festen Griff einer bestimmten Fraktion innerhalb der evangelischlutherischen Kirche. Dieser gewachsene konfessionelle Einfluss wurde offenbar von vielen politisch engagierten Zeitgenossen als Anachronismus erlebt. Letztlich unterlagen die Bedenkenträger im Senat dennoch und das Stift erhielt die beantragte finanzielle Unterstützung. 1867, als die Kinderanstalt des „Rauhen Hauses“ 22.923 MCrt. und das Pestalozzi-Stift 12.627 MCrt. für die Versorgung und Unterbringung seiner „Zöglinge“ ausgab, beliefen sich die Kosten des „Magdalenen-Stiftes“ auf 9.864 MCrt. bei 29 „Pfleglingen“ – etwa ein Drittel dieser Aufwendungen wurde aus der Staatskasse gedeckt.2 Mit der Inanspruchnahme staatlicher Zuschüsse hatte der Stiftungsvorstand offiziell eingestanden, dass die Einrichtung für ordnungspolitische Zwecke eingespannt wurde und als eine Art sittenpolizeiliche Maßregel diente. Gleichwohl bemühten sich die Vorsteher und Vorsteherinnen mit dem Prinzip der „Freiwilligkeit“, das bisher kaum mehr als eine rhetorische Formel dargestellt hatte, endlich ernst zu machen und auf diese Weise das Ansehen der Einrichtung bei potenziellen Spendern zu verbessern.3 Gekoppelt daran war eine langsame Abwendung von der „rettenden“, kurativen zur „bewahrenden“, präventiven Tätigkeit, die ihren markantesten Ausdruck in der schon erwähnten Vereinigung mit dem „Weiblichen Asyl“ fand. Es ist anzunehmen, dass Letztere zu einer deutlichen Absenkung des durchschnittlichen Alters der „Pfleglinge“ führte. Mit der Hinwendung zu den „Gefährdeten“, die einem reichsweiten Trend in der „Magdalenenarbeit“ entsprach, hatte der Vorstand nun endlich auch den richtigen Hebel 1
Allerdings währte die Periode der professionellen männlichen Leitung im Fall des „MagdalenenStiftes“ nicht lange. Als Spitzer 1873 verstarb, ging die Leitung wieder in weibliche Hände über. 2 Hatje [1997], S. 23 f. 3 Vor allem wenn die Aufnahme der Mädchen und Frauen von der Polizei „vermittelt“ worden war, was relativ häufig geschah, konnte von „Freiwilligkeit“ kaum die Rede sein. Schon eher konnte man von „Freiwilligkeit“ sprechen, wenn Eltern oder Vormünder ohne vorherige polizeiliche Intervention die Aufnahme veranlasst hatten. Aber dann bezog sich die „Freiwilligkeit“ eben auf die Eltern und nicht auf die Minderjährigen selbst. Selbst in den seltenen Fällen, in denen die Mädchen und Frauen von sich aus an das Stift herantraten, ist es abwegig, von einem spontanen, „freien“ Entschluss auszugehen, denn ausstiegswilligen Prostituierten drohte andernfalls die Abschiebung oder gar die Einweisung in die Korrektionsabteilung des Werk- und Armenhauses. Nimmt man die Zahl der Fluchten zum Gradmesser der „Freiwilligkeit“, so scheint der Aufenthalt im Stift während des gesamten 19. Jahrhunderts von den Frauen eher als Zwangsmaßnahme denn als Wohltat erlebt worden zu sein: Im Zeitraum 1840-1850 waren von den 61 aufgenommenen Mädchen sieben „heimlich entwichen“, und im Zeitraum 1875 bis 1880 hatten sogar 34 von 100 „Zöglingen“ die Anstalt unautorisiert verlassen. (Schmidt, H. [2002], S. 42 u. Hatje [1997], S. 30, 38.)
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gefunden, um einen größeren Spendenkreis anzusprechen: Sentimentalisierung und Infantilisierung der „Klientel“ wurden zu den hervorstechendsten Zügen in der Außendarstellung der Magdalenenarbeit jener Zeit.1 Neben den „Rettungs-“ und „Bewahranstalten“, die der Erziehung und Disziplinierung von solchen Kindern und Jugendlichen dienten, die in sittlicher Hinsicht bereits als „verwahrlost“ oder zumindest als „gefährdet“ galten, gab es noch ein zweites privatwohltätiges Aufgabengebiet, das im weitesten Sinne dem Bereich der Jugendfürsorge zuzurechnen war und im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark expandierte: die Warteschulen, Kindergärten und Mädchen- oder Knabenhorte. Bereits im „Vormärz“ war auf Anregung des „Vereins mehrerer Armenfreunde“, dem auch der inzwischen zum Bürgermeister ernannte Amandus Augustus Abendroth angehörte, die erste „Warteschule“ gegründet worden.2 Die Einrichtung sollte die Betreuung und Beaufsichtigung von noch nicht schulpflichtigen Kinder gewährleisten, deren Mütter außerhalb des Hauses arbeiten mussten. Allerdings besaß sie über diese als „Notbehelf“ gedachte Funktion hinaus auch noch eine fürsorgerisch-bewahrende Zielsetzung.3 Das Armenkollegium etwa unterstützte die Eröffnung weiterer „Warteschulen“ mit dem Argument, diese Art von Einrichtungen sei „sehr nützlich, [...] weil viele Kinder dadurch vor schädlichen Einflüssen geistig und körperlich bewahrt würden“.4 Einige Jahre später schlossen sich die sieben innerstädtischen Warteschulen zum „Verband der alten Hamburgischen Warteschulen“ zusammen. Eine zweite Gründungswelle erlebte die privatwohltätige Kleinkinderziehung in den 1860er und -70er Jahren. Obwohl die Trägerschaft der Einrichtungen vielfältig war, fällt doch der hohe Anteil der lokal operierenden „Bürgervereine“ bei der Etablierung des jetzt stärker stadtteilorientierten Angebotes auf. Mitte der 1880er Jahre verfügte so gut wie jeder Hamburger Stadtteil über seine eigene „Warteschule“, und 1890 kam es zu einer erneuten Verbandsgründung, die alle jüngeren Einrichtungen vereinigte.5 Konzeptionelle und inhaltliche Impulse bekam die anfangs zumeist von Bürgerfrauen ehrenamtlich geleistete Betreuung von Kleinkindern vor allem durch die Fröbelbewegung. In den 1850er Jahren war es auch in Hamburg zur Gründung mehrerer „Kindergärten“ gekommen, die sich weniger als „Notbehel1
Schmidt, H. [2002], S. 45 f. Pastor John, Anstaltsgeistlicher und Vorsteher des „MagdalenenStiftes“ zu jener Zeit, äußerte sich Mitte der 1850er Jahre über den Werdegang der aufgenommenen Mädchen in einer Weise, die deutlich macht, dass die Vertreter der „Magdalenen-Arbeit“ gleichwohl nicht vollständig blind für das gesellschaftliche Bedingungsgefüge sexueller Devianz waren. Vgl. hierzu Hatje [1997], S. 32. 2 Vgl. zu Abendroths Rolle bei der Warteschulgründung: Tilgner [2005], S. 119. 3 Vgl. zur Legitimation der Einrichtungen als „Notbehelf“ auch: Reyer [1983], S. 206. 4 Zit. nach: Klapproth [1957], S. 59 5 Vgl.: Pielhoff [1999], S. 453 f.
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fe“ oder „Bewahranstalten“, sondern vielmehr als nach den pädagogischen Grundsätzen Friedrich Fröbels arbeitende Bildungseinrichtungen verstanden und prinzipiell allen Bevölkerungsschichten offen standen.1 Auf die Fröbelbewegung gingen auch die ersten Ansätze einer Professionalisierung der Kleinkindbetreuung in Hamburg zurück: Parallel zur Einrichtung der Bürgerkindergärten war nämlich in Hamburg eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen geschaffen worden, die von der zweiten Ehefrau Fröbels, Louise Levin, geleitet wurde. Anders als die Hamburger „Warteschulen“ stellten „Knaben- und Mädchenhorte“ ein schulergänzendes Betreuungsangebot dar, das in der Regel auch die Räumlichkeiten der Volksschulen nutzte. Ihre Gründung erfolgte erst deutlich später als die der „Warteschulen“ und „Kindergärten“, und sie erreichten nie eine ähnliche Verbreitung. Die Oberlehrer und Lehrer der Volksschulen – Letztere übernahmen einen Teil der Aufsicht – übten einen erheblichen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Hortarbeit aus. Das Arbeits- und Freizeitprogramm folgte rollenspezifischen Sozialisationsmustern: Nach Erledigung der Schularbeiten sollten die Jungen ihre handwerkliche Geschicklichkeit erproben oder durch Turnübungen ihre Körperkräfte ausbilden. Mädchen hingegen wurden mit der Ausbesserung ihrer Kleider beschäftigt und zur Körperpflege angehalten, indem man sie in die öffentlichen Wasch- und Badeanstalten ausführte.2 „Warteschulen“ und „Horte“ ähnelten sich in Bezug auf ihre Finanzierung stark. Im Unterschied zu den oben dargestellten „geschlossenen“ Fürsorgeanstalten mussten die Eltern regulär einen finanziellen Beitrag für die Betreuung und Verpflegung ihrer Kinder leisten. Freistellen waren zwar vorgesehen, blieben aber die Ausnahme. Rund ein Drittel der anfallenden Kosten konnte über diesen Weg gedeckt werden. Der Rest musste über Privatspenden bzw. über Staatszuschüsse erbracht werden. Während die Horte jedoch ihre Kinder über die Schule vermittelt bekamen und vom Staat kaum mehr als eine Anschubfinanzierung zu erwarten hatten, konnten die Warteschulen mit festen Zuschüssen seitens der Armenanstalt rechnen. Im Gegenzug erhielt die Armenbehörde das Recht, den Warteschulen Kinder zuzuweisen.3 Insgesamt betrachtet konnte die privatwohltätige Jugendfürsorge in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts also mit einem recht breiten Spektrum an Einrichtungen und Erziehungsangeboten aufwarten. Von den aufsichtslosen Kleinkin1
Vgl.: Klapproth [1957], S. 65 f. Fröbel wollte im Anschluss an Pestalozzi die Entwicklung der schöpferischen Kräfte des Kindes befördern und entwickelte zu diesem Zweck besonderes Spiel- und Beschäftigungsmaterial, für das er bis heute bekannt ist (Scherpner [1979], S. 154). 2 Pielhoff [1999], S. 459. 3 In den 1890er Jahren ging die Armenanstalt gemäß dem Individualisierungsprinzip dazu über, anstelle eines festen Betrages Pflegesätze zu bezahlen. A.a.O., S. 456
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dern, über die „gefährdeten Schulkinder“ bis hin zu den „verwahrlosten“ Jugendlichen und „gefallenen Mädchen“ deckte sie eigentlich alle Altersstufen und alle Schweregrade familialer Sozialisationsdefizite ab. Auch die weltanschauliche Ausrichtung der Erziehungsarbeit war vielfältig. Allerdings dominierte vor allem bei den höheren Altersstufen die maßgeblich von Wichern geprägte pietistische Erziehungskonzeption, während für die Arbeit mit aufsichtslosen und „gefährdeten“ Klein- bzw. Schulkindern eine eher pragmatisch-weltliche Herangehensweise bestimmend war. Oder anders gewendet: Die Pietisten vom „Rauhen Haus“ gaben selbst den schlimmsten „Sünder“ und die schlimmste „Sünderin“ nicht auf, während Logenbrüder und Bürgervereine vor allem auf Prävention setzten. Der mehr oder weniger starke Rückhalt, den diese unterschiedlichen Glaubens- und Arbeitsansätze in der Bevölkerung hatten, lässt sich neben der finanziellen Unterstützung, welche die Einrichtungen erhielten, auch am Umfang der elterlichen Inanspruchnahme der Einrichtungen ablesen. Die Pietisten legten auf eine staatsunabhängige Finanzierung besonders großen Wert, verloren aber allem Anschein nach sowohl beim spendenwilligen Hamburger Großbürgertum als auch bei den städtischen Verwaltungsbeamten und nicht zuletzt in den unteren Bevölkerungsschichten, denen die „Zöglinge“ der von ihnen geleiteten Anstalten entstammten, mehr und mehr an Sympathie. Die weltlicher ausgerichteten, vorbeugenden Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen wie das „Pestalozzi-Stift“ oder die Warteschulen kannten offenbar keine vergleichbar schweren Finanzierungs- und Imageprobleme. Entweder fanden sie in der Hamburger Bevölkerung genügend Subskribenten und Anteilseigner, die mit ihren regelmäßigen finanziellen Beiträgen die Einrichtungen absicherten, oder sie griffen auf staatliche Hilfe zurück und räumten im Gegenzug den Behörden eine Mitsprache bei der Aufnahme ihrer Schützlinge sowie der erzieherischen Gestaltung der Arbeit ein. Der Inanspruchnahme durch die Elternschaft nach zu urteilen waren das „Pestalozzi-Stift“ und die Warteschulen in der Bevölkerung auch bedeutend populärer als die Anstalten der „Frömmler“, die ihre „Zöglinge“ mehr und mehr von außerhalb Hamburgs „bezogen“. Was stand nun den unterschiedlichen privatwohltätigen Einrichtungen und Initiativen auf dem Gebiet der Jugendfürsorge an öffentlichen Unterstützungsangeboten und Erziehungsanstalten gegenüber?
3.1.2 Die halbstaatlichen Einrichtungen der Jugendfürsorge bis in die 1880er Jahre Für die öffentlichen Bemühungen um arme, verwaiste und „verwahrloste“ Kinder und Jugendliche war in Hamburg bis Mitte/Ende der 1880er Jahre eine orga-
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nisatorische Dreiteilung kennzeichnend: Für die Unterbringung armenrechtlich hilfsbedürftiger Kinder waren die drei Armenanstalten der Stadt und der beiden Vororte St. Georg und St. Pauli zuständig; ein- oder beidseitig verwaiste Bürgerkinder christlicher Konfession wurden im Waisenhaus untergebracht; und „vernachlässigte“ bzw. „verwahrloste“ Minderjährige sowie weibliche Jugendliche, die wegen ihres Sexualverhaltens auffällig geworden waren, internierte man in gesonderten Abteilungen des Werk- und Armenhauses. Die Armenanstalten waren von ihrer Entstehung her die jüngsten Einrichtungen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Kinder. Sie waren Ende des 18. Jahrhunderts als Projekte der Spätaufklärung entstanden, hatten – insbesondere wegen ihrer präventiven Ausrichtung – bis weit über die Stadtgrenzen hinaus Beachtung gefunden und waren ursprünglich ganz am Ideal des „industriösen Menschen“ orientiert gewesen. Einen besonderen Ausdruck fand dieses Ideal in den so genannten Industrieschulen, in denen Kinder zu tüchtigen ManufakturArbeitern herangezogen werden sollten.1 Von alledem war Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch etwas erhalten. Die Französische Besatzung, wiederholte gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisen, vor allem aber ein Umschwung im Denken hatten dazu geführt, dass die kostenintensiveren vorbeugenden Maßnahmen, die sich nicht sogleich rechneten, eingestellt wurden.2 Dennoch leisteten die drei Armenanstalten auch um die Jahrhundertmitte noch einen bedeutenden Beitrag zur Unterstützung bedürftiger und – nach damaligem Verständnis – in ihrer Erziehung „vernachlässigter“ Kinder: Sie gewährten Unterstützung in Form der Fremdversorgung von Kindern in Pflegefamilien, die für diese Leistung ein Kostgeld in festgesetzter Höhe erhielten.3 Zu diesem Zweck hatten die Armenanstalten besondere Unterabteilungen, die so genannten Kostkinderinstitute gebildet und unterhielten ein weitverzweigtes Netz an Pflegestellen, das sie mit Hilfe ihrer ehrenamtlichen Organe sowie einiger festangestellter Inspektoren mehr schlecht als recht beaufsichtigten. 4 In den 1850er Jahren versorgte allein das
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Scherpner [1927], S. 46. Klapproth [1957], S. 35 ff. 3 1848 machte der Anteil der von der Allgemeinen Armenanstalt gezahlten Kostgelder an den Gesamtausgaben zwar nur knapp 6% aus. Immerhin aber wurde schon der stattliche Betrag von 25.593 MCrt. für die Kostkinderpflege ausgegeben (a.a.O., S. 80). 4 Das „Kostkinderinstitut“ der Hamburger Armenanstalt war 1830 gegründet worden. Es wurde von zwei Mitgliedern des Armenkollegiums und mehreren Verwaltern geleitet und beschäftigte einen Buchhalter, einen Boten, eine Kinderfrau und einen Reiseinspektor, den so genannten „Agenten jenseits der Elbe“ (a.a.O., S. 49). Die Koststellen der Hamburger Armenanstalt befanden sich v.a. in der ländlichen Umgebung der Stadt, im Niedersächsischen und Holsteinischen, diejenigen der VorortsAnstalten hauptsächlich in der Stadt selbst. Bei den aufgenommenen Kindern handelte es sich v.a. um uneheliche Kinder, deren Väter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkamen. Außerdem wurden von den Armenanstalten auch viele Kinder in Kostkinderpflege gegeben, wenn ihre Eltern einer Barun2
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Kostkinderinstitut der Allgemeinen Armenanstalt auf diese Weise im Jahresdurchschnitt etwas mehr als 900 Kinder.1 Sowohl beim Waisenhaus als auch beim Werk- und Armenhaus handelte es sich demgegenüber um altehrwürdige Einrichtungen, die bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden waren und lange Zeit den ganzen Stolz des Hamburger Bürgertums verkörpert hatten.2 Das Waisenhaus hatte im Laufe seiner Geschichte viele Male seinen Sitz gewechselt. Nachdem ein Ende des 18. Jahrhundert eingeweihter Repräsentationsbau in der Altstädter Admiralitätsstraße nach der Brandkatastrophe von 1842 seiner neuen Nutzung als Rathaus zugeführt worden war, zog das Waisenhaus an den Stadtrand um – zunächst in ein Provisorium in Eppendorf, ab 1858 dann in einen großen Neubau östlich der Alster, im damals noch ländlich geprägten Stadtteil Uhlenhorst.3 Die Waisenpflege war in Hamburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts fast ausnahmslos in Form der Anstaltsunterbringung organisiert. Zwar hatte es im Zuge des „Waisenhausstreits“ Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder Diskussionen gegeben, ob sie nicht verstärkt auf die Unterbringung in Pflegefamilien setzen sollte – und tatsächlich standen im Jahre 1850 295 im Waisenhaus untergebrachten „Zöglingen“ beiderlei Geschlechts immerhin 153 bei Familien außerhalb Hamburgs einquartierte Kinder gegenüber.4 Das hing aber weniger mit einer konzeptionellen Neuorientierung zusammen, sondern war Ausdruck einer vorübergehenden Raumnot.5 Sowohl das Waisenhauskollegium (WHK) als auch der Senat waren nach eingehender Erörterung der Vor- und Nachteile beider Unterbringungsformen immer wieder zu dem Ergebnis gelangt, dass in einer Großstadt wie Hamburg der Schwerpunkt auf der Anstaltsfürsorge liegen müsse. Entgegen einem allgemeinen Trend in Deutschland ging der Anteil der in Familienpflege befindlichen Kinder seit Mitte des Jahrhunderts immer weiter zurück, und nach der Eröffnung des neuen, für rund 600 „Zöglinge“ ausgelegten Gebäudekomterstützung für unwürdig befunden worden waren und man die häusliche Umgebung als sittlich gefährdend einstufte (Schröder [1966], S. 70 u. 5). 1 Uhlendorff [2003], S. 169 f. 1890, unmittelbar vor der Eingliederung der Kostkinderpflege in die allgemeine Waisenpflege, versorgte die Anstalt bereits 1.903 Kinder in Pflegestellen diese Art. Vgl.: Schröder [1966], S. 70. 2 Das Waisenhaus war von den Stiftern ausdrücklich als „Denkmal der Wohltätigkeit“ konzipiert worden. Einen gerafften Überblick zur Geschichte des Hamburger Waisenhauses bietet Grolle [1991]. Zur frühneuzeitlichen Entstehungsgeschichte des Hamburger Zuchthauses vgl.: Brietzke [2000]. 3 Klapproth [1957], S. 81. 4 Zu der durch ein Preisausschreiben der Hamburger „Patriotischen Gesellschaft“ angestoßenen Auseinandersetzung Ende des 18. Jahrhunderts vgl. ausführlich: Commichau [1961], S. 131 ff. 5 In Pflegefamilien untergebracht wurden ursprünglich nur Kinder unter vier Jahren. Später erhöhte man das Eintrittsalter der Waisenzöglinge ins Waisenhaus auf sechs Jahre (Klapproth [1957], S. 29 u. 31).
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Abbildung 5:
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Das Hamburger Waisenhaus von 1858 in der Averhoffstraße, Uhlenhorst (um 1910).
plexes in Uhlenhorst war schließlich nur noch jedes sechste „Waisenkind“ außerhalb der Anstalt untergebracht.1 Die Aufnahmepraxis des Waisenhauses war im Vergleich zu derjenigen der Armenanstalten ausgesprochen restriktiv: Nach der Fundationsakte aus dem Jahr 1604 sollten neben Findlingen nur verwaiste eheliche Kinder unter zehn Jahren aufgenommen werden, wobei die Nachkommen Hamburger Bürger den Vorzug genossen. Halbwaisen und uneheliche Kinder desselben Alters konnten nur dann der Waisenpflege überwiesen werden, wenn sie sich mit einer Summe von 1.000,- MCrt. einkauften.2 Ausnahmen von dieser Regel waren ausdrücklich erlaubt. Immer dann jedoch, wenn sich in Hamburg die wirtschaftliche Situation zuspitzte, scheint sich das WHK auf den Wortlaut der Fundationsakte berufen zu haben. Nur sehr zögerlich wurden ab 1852 die Aufnahmebedingungen etwas gelockert.3 1
Zahlenmaterial findet sich bei Petersen [1904], S. 10. Klapproth [1957], S. 28 u. Grolle [1991], S. 9. 3 Klapproth [1957], S. 28 u. 32 f. Durchaus zutreffend brachte der Lehrer Dr. Dränert, Wortführer der Fraktion der Linken in der Hamburger Bürgerschaft, im März 1890 die Geschichte des Waisenhauses auf den Punkt, indem er ausführte, diese bestehe zum größten Teil, „in der Wiedergabe der Verhandlungen mit dem Gotteskasten, dem Werk- und Zuchthause und der Allgemeinen Armen-Anstalt über 2
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Der Tagesablauf im Waisenhaus entsprach dem von anderen Großanstalten jener Zeit. Er war bis ins Detail geregelt und von strenger Disziplin bestimmt.1 Das Waisenhaus war eine am Kasernensystem orientierte „totale Institution“: Das gesamte Leben, Arbeit, Unterricht, Wohnen und „Freizeit“, vollzog sich unter einem Dach, und die Kontakte zur Außenwelt waren auf ein Minimum reduziert. Die Anstalt entsprach darüber hinaus den Vorstellungen einer Arbeitsschule. Bei der Beschäftigung stand nicht sosehr der wirtschaftliche Gewinn im Vordergrund, als vielmehr die handwerkliche Ausbildung der „Zöglinge“. Außerdem nahm vor allem bei den Jungen der weltliche Unterricht einen immer größeren Stellenwert im Anstaltsalltag ein - gerahmt von den Andachten und Gebeten in der einrichtungseigenen Kapelle am Anfang und Ende des Tages. In der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Kinder offenbar in altersgemischten „Capitainschaften“ unterrichtet worden. Mitte des Jahrhunderts war diese Art der Gruppierung aber zugunsten einer altersgestuften Unterbringung in „Abteilungen“ wieder aufgegeben worden.2 Nach ihrer Entlassung mit erfolgter Konfirmation wurden die Waisenhauszöglinge noch mehrere Jahre von Mitgliedern des WHK in ihren Lehr- und Dienststellen beaufsichtigt und betreut.3 Ähnlich wie beim Waisenhaus lässt sich auch an der Geschichte des Werkund Armenhauses belegen, dass das Zeitalter der „großen Einsperrung“ in Hamburg noch weit ins 19. Jahrhundert hineinreichte.4 Das Hamburger Werk- und Zuchthaus, aus dem das Werk- und Armenhaus Anfang des 19. Jahrhunderts hervorgegangen war, war 1618 am östlichen Ufer der Binnenalster errichtet wordie Erweiterung der Voraussetzungen für die Aufnahme von Kindern in das Waisenhaus, in Mittheilungen über das Zurückgehen dieser Anstalt auf die ursprünglichen Bestimmungen der GründungsAkte und über neue Versuche, den Kreis der Aufzunehmenden zu erweitern.“ Prot. u. Ausschussb. 1890, Nr. 14, S. 3. 1 Schröder [1966], S. 86 u. Grolle [1991], S. 23. 2 Klapproth [1957], S. 30 u. Schröder [1966], S. 237. Die Angaben zum Erziehungssystem des Waisenhauses im 19. Jahrhundert gehen in der Literatur auseinander. Nach Thorun [1988], S. 26, war es der erste Waisenhausdirektor Stalmann, der 1889 die Unterbringung der „Zöglinge“ in kleinen Erziehungsgruppen nach dem Vorbild des „Rauhen Hauses“ einführte. Demgegenüber betont Schröder [1966], S. 237, dass Stalmann die räumliche Zusammenfassung der Kinder in gestaffelten Altersgruppen durchgesetzt habe. In jedem Fall, so deutet zumindest Klapproth [1957], S. 30 an, hat die Idee einer konstanten, familienähnlichen Gruppierung als Orientierung gedient. Detailliertere Aufschlüsse über die Bedeutung der räumlichen Separierung und Differenzierung für das Erziehungssystem könnte eine genauere Untersuchung der inneren Architektur der unterschiedlichen Häuser liefern. Das „neue“ Waisenhaus in Uhlenhorst beherbergte im „Mädchenflügel“ fünf und im „Knabenflügel“ sechs Gruppen bzw. „Abteilungen“. Jede Gruppe umfasste zwischen 40 und 50 Kinder gleichen Alters, die während ihres gesamten Aufenthalts in der Einrichtung zusammenbleiben, von einem Aufseher bzw. einer Aufseherin beaufsichtigt und von ein und demselben Lehrer unterrichtet werden sollten (Schröder [1966], S. 236 ff.). 3 Petersen [1911], S. 8. 4 Zur frühneuzeitlichen Entstehungsgeschichte der Institution vgl.: Brietzke [2000]. Zur Epoche der „großen Einsperrrung“ vgl.: Foucault [2002].
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den und hatte im Zeitalter des Absolutismus – wie vergleichbare Einrichtungen im übrigen Europa auch – als Sammelanstalt für alle möglichen Personengruppen beiderlei Geschlechts gedient. „Starke“ Bettler wurden genauso in ihm untergebracht, wie „liederliche Weibspersonen“, „versoffene Trunkenbolde“, Sieche und Irre und – infolge der langsamen Ablösung der Leibes- durch Freiheitsstrafen - zunehmend auch Gesetzesbrecher.1 Auch Minderjährige hatten sich in erheblicher Zahl unter den Insassen der Einrichtung befunden, entweder, weil sie selbst normabweichendes Verhalten gezeigt hatten, oder weil sie zusammen mit ihren Eltern interniert worden waren. Erst unter dem Einfluss der französischen Besatzung in den Jahren 1812-1814 war es zu einer räumlichen Trennung von geschlossener Armenfürsorge (jetzt „Werk- und Armenhaus“) und Strafanstalt (jetzt „Zuchthaus“) und innerhalb Letzterer zur Separierung der Jugendlichen unter 16 Jahren von den übrigen Insassen gekommen. 1828 wurde in abgetrennten, aber im gleichen Gebäudekomplex wie das Zuchthaus befindlichen Räumlichkeiten zur „Beaufsichtigung und Unterweisung verbrecherischer oder verwilderter Kinder und junger Leute“2 die „Strafklasse des Werk- und Armenhauses“ eingerichtet. Zumal in den turbulenten Jahren des „Vormärz“ war diese Abteilung mit durchschnittlich 50 männlichen und weiblichen „Züchtlingen“ im Alter von acht bis 20 Jahren gut ausgelastet.3 Als infolge des Hamburger Brandes - und damit fast zeitgleich mit dem Waisenhaus - das Werk- und Armenhaus aus dem Stadtzentrum an die Hamburger Peripherie verlegt wurde, integrierte man auch die „Strafklasse“ unter der neuen Bezeichnung „Schule des Werk- und Armenhauses“ in die Korrektionsabteilung des 1854 fertiggestellten Gebäudes in Hamburg-Barmbek. Diese „Schule“ war für etwa 100 Kinder ausgelegt und damit bereits doppelt so groß wie die alte „Strafklasse“.4 Zur Korrektionsabteilung des Werk- und Armenhauses gehörte auch noch ein gesonderter Trakt, in den Mädchen über 14 Jahren zur „Besserung“ – und nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches 1871 zur so genannten Korrektionsnachhaft – eingewiesen wurden, die als „sittlich verwahrlost“ galten oder bereits der „gewerbsmäßigen Unzucht“ überführt worden waren.5 „Gebessert“ wurden sie in der Anstalt, indem sie zu ausdauernder, 1 Zu den unterschiedlichen Insassenkategorien und ihrer quantitativen Bedeutung für die Hamburger Anstalt vgl.: Brietzke [2000], S. 244 ff. 2 Martin Hieronymus Hudtwalcker in den „Vaterstädtischen Blättern“ von 1833, zit. nach: Döbler [1992], S. 7. 3 Zahlenmaterial a.a.O., S. 171 ff. Zum Anlass der Einrichtung vgl. Klapproth [1957], S. 75 u. weiter unten S. 320. Zur Konkurrenzstellung zum Rauhen Haus und zur hohen Sterblichkeit von 13,3 bzw. 12,2% vgl.: Pielhoff [1999], S. 297 ff. 4 Föhring [1883], S. 78. 5 Nach diesen Bestimmungen des RStGB von 1871 konnten die Gerichte bei „gewerbsmäßiger Unzucht“ neben Haft zugleich auch eine Überweisung der Verurteilten an die Landespolizeibehörde
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schlecht entlohnter und harter körperlicher Arbeit gezwungen wurden. Schließlich war bis zur Eröffnung des neuen Hauses in Barmbek noch eine dritte Gruppe von Minderjährigen auf Staatskosten im Werk- und Armenhaus untergebracht worden: die so genannten Polizeikinder. Anders als bei den Kindern der Strafklasse und den Mädchen und jungen Frauen der Korrektionsabteilung war für ihre Aufnahme nicht vordringlich ihr abweichendes Verhalten, sondern ihre allgemeine Bedürftigkeit ausschlaggebend. In der Mehrzahl handelte es sich um uneheliche und zumeist noch sehr kleine Kinder, die von der Polizeibehörde zu ihrem eigenen Schutz und ohne nähere Bedarfsprüfung in die Anstalt eingewiesen wurden.1 Für alle drei Gruppen von Minderjährigen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert im Werk- und Armenhaus interniert wurden, war kennzeichnend, dass sie in der Regel ohne gerichtlichen Beschluss, das heißt nur auf Anordnung der Polizei oder auf Veranlassung ihrer Eltern oder Vormünder in die Einrichtung aufgenommen wurden.2 Als Relikt aus dem 17. und 18. Jahrhundert hatte hier eine Praxis überlebt, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien nur schwer zu vereinbaren war. Während die „gefängliche Einsperrung“ auf Antrag der Eltern oder Anordnung der Polizei in Bezug auf männliche Erwachsene der Vergangenheit angehörte, wurde sie gegenüber jungen Frauen und Minderjährigen offenbar nach wie vor ohne größere Bedenken angewandt.3 Bei allen drei Einrichtungen, der Allgemeinen Armenanstalt, dem Waisenhaus und dem Werk- und Armenhaus, handelte es sich dem Ursprung nach um so genannte milde Stiftungen, die von einem ehrenamtlichen, sich selbst rekrutierenden Gremium geleitet wurden und sich aus Spenden, Deputaten, Legaten usw. finanzierten. Allerdings unterstanden sie von jeher der Oberaufsicht des nach Haftverbüßung verfügen. Über die Anzahl der aus diesem Grunde Mitte des 19. Jahrhunderts in der Anstalt festgehaltenen weiblichen Jugendlichen gibt die Sekundärliteratur keine Auskunft. Offenbar sind die Kapazitäten mit der Ausgliederung der „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ nach Ohlsdorf im Jahre 1884 jedoch erheblich ausgebaut worden, denn im Verlauf der 1890er Jahre stieg die Zahl der internierten Mädchen von 34 (1891) auf 66 (1900) an. Unmittelbar vor Eröffnung der Besserungsanstalt für Mädchen in der Feuerbergstraße im Jahre 1911 wurden sogar 125 Frauen in der Sonderabteilung des Werk- und Armenhaus festgehalten (Schröder [1966], S. 52 u. 226). Vgl. hierzu auch Schmidt, H. [1999], S. 196 ff. 1 Klapproth [1957], S. 39 ff. 2 Schröder [1966], S. 49 ff. u. Petersen [1911], S. 29. 3 Vgl. zur Gebräuchlichkeit und Rechtmäßigkeit der „gefänglichen Einsperrung“ volljähriger Kinder: Stölzel [1875]. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regeln: Als im Jahre 1910 ein gutsituierter Hamburger Vater händeringend nach einer passenden Unterbringung für seinen wegen Verschwendung entmündigten und wiederholt gerichtlich bestraften 19-jährigen Sohnes suchte, faste der Vormund seine diesbezüglichen Bemühungen zusammen, indem er erklärte, dass „im ganzen Deutschen Reiche keine private Anstalt existiert, die W(...) unterbringen kann. Nur das Werk- und Armenhaus ist dazu in der Lage“. Nach mehreren Anläufen und auch dann noch eher widerstrebend nahm die Anstalt den jungen Mann schließlich auf Rechnung des Vaters auf (STAH 232-1, D 167, Bl. 76 u. 84 ff.),
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Senats als höchster staatlicher Verwaltungsbehörde. Im Falle des Waisenhauses wurde diese staatliche Oberaufsicht sinnfällig im „Patronat“, der in der Stiftungsurkunde verfügten Beiordnung mehrerer Ratsmitglieder als Ehrenvorsitzende des Kollegiums. Entsprechende Regelungen galten auch für das Werkund Armenhaus sowie die Allgemeine Armenanstalt. Es ist ausgesprochen schwierig, den Zeitpunkt exakt zu bestimmen, an dem die drei Einrichtungen ihren privatrechtlichen Charakter definitiv verloren hatten. Die Einschätzungen der Zeitgenossen zu dieser Frage gingen zum Teil weit auseinander und variierten mit dem Interesse, das die Kommentatoren gemäß ihrer amtlichen Stellung an der Hervorhebung der traditionellen Selbständigkeit der Anstalten bzw. der Notwendigkeit einer stärkeren staatlichen Lenkung im Bereich der Jugendfürsorge hatten.1 Unstrittig ist hingegen, dass alle drei Stiftungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in immer größere finanzielle Abhängigkeit vom Staat gerieten – und je höher die öffentlichen Zuwendungen ausfielen, umso massiver wurden auch die Versuche von Senat und Bürgerschaft, Einfluss auf die Aufnahmepolitik und die innere Verwaltung der Einrichtungen zu gewinnen. Insofern ließ sich bereits Mitte des Jahrhunderts der halböffentliche Charakter der Anstalten kaum noch leugnen. Dieser Entwicklung trugen das Verwaltungsgesetz von 1863 sowie die generelle Zusage zur Fehlbedarfsfinanzierung Rechnung, die der Senat zwei Jahre nach Erlass dieses Gesetzes der Allgemeinen Armenanstalt, dem Waisenhaus, dem Werk- und Armenhaus sowie dem Allgemeinen Krankenhaus gab.2 Die zwei Daten markieren denn auch nach allgemeiner Auffassung den entscheidenden Schritt zu einer Verstaatlichung der Armen- und Waisenfürsorge und den Beginn der „staatlichen Wohlfahrtsökonomie“ in Hamburg.3 Das Verwaltungsgesetz von 1863 regelte die gesamte Staatsverwaltung neu, bildete mehrere, größere „Verwaltungsabteilungen“, denen die unzähligen Deputationen und eben auch die ehrenamtlichen Kollegien der „milden Stiftungen“ zugeordnet wurden. Zusammen mit dem Krankenhauskollegium unterstellte man das Waisenhaus- und das Armenkollegium der Abteilung VIII für „öffentliche Wohlthätigkeit“, während das Gefängniskollegium, das unter anderem auch das Werk- und Armenhaus verwaltete, der Abteilung für „Polizei und andere innere Angelegenheiten“ zugeschlagen wurde. An die Stelle der „Patrone“ traten nun – wie in den sonstigen Deputationen auch – zwei Senatsmitglieder, denen als Verwaltungsvorstände die Gesamtverantwortung zufiel und die die Kollegien auch
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Vgl. zu den unterschiedlichen Standpunkten: Schröder [1966], S. 24. „Gesetz über die Organisation der Verwaltung“ vom 15. Juni 1863 in: Lappenberg 1863, S. 223 ff. 3 Uhlendorff [2003], S. 172. 2
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Verwaltungsaufbau des Stadtstaats Verwaltungsgesetz von 1863.1
Hamburg
nach
dem
nach außen hin repräsentieren sollten. Außerdem wurde jedem Kollegium ein bürgerliches Mitglied der Finanzdeputation zur Seite gestellt, um den Kämmerern einen Einfluss auf die Ein- und Ausgabepolitik zu sichern.2 Die Mehrheit in den Kollegien wurde jedoch nach wie vor von den bürgerlichen Vorstehern oder „Provisoren“ gestellt, die ihr Amt für eine bestimmte Anzahl von Jahren ehrenamtlich versahen und nach einem festgesetzten Turnus auch mit den internen Verwaltungsgeschäften betraut wurden. Was die Finanzierung anging, so hatte sich vor allem in Bezug auf die Allgemeine Armenanstalt bereits seit den 1830er Jahren eine „Krise der patriotischen Finanzierungskonzeption“3 abzuzeichnen begonnen. Das Spendenvolumen war sowohl absolut als auch relativ gesehen immer weiter zurückgegangen: Während im Zeitraum 1818-1830 das Verhältnis von Staatszuschüssen und privatwohltätigen Spenden noch bei 2:1 gelegen hatte, pendelte es sich Anfang der 1 OSB = Oberschulbehörde, Gef. = Gefängnisdeputation, WHK = Waisenhauskollegium, KHK = Krankenhauskollegium, AK = Armenkollegium. 2 Klapproth [1957], S. 89 u. § 30 des „Gesetzes über die Organisation der Verwaltung“. 3 Pielhoff [1999], S. 95 ff.
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1860er Jahre bereits bei etwa 4:1 ein.1 Es entbrannte ein lebhafter Disput über die Frage, wie die notwendige öffentliche Mitfinanzierung so gestaltet werden könne, dass sie die erlahmende Spendenbereitschaft des wohltätigen Publikums nicht vollends zum Erliegen bringe.2 Als der Senat 1865 mit den Kollegien seine Finanzierungsvereinbarung traf, sprach aus der Höhe der Zuschüsse nicht nur der Grad der jeweiligen Abhängigkeit der Anstalten. In ihnen spiegelte sich auch ihre relative Popularität beim spendenwilligen Publikum wider: Das Werk- und Armenhaus erhielt mit 242.600 MCrt. anteilsmäßig den größten Zuschuss, denn die Summe deckte fast 98 Prozent des Jahresbedarfs der Einrichtung ab. Mit großem Abstand folgte die Allgemeine Armenanstalt, welcher der Senat knapp 80 Prozent ihres Finanzvolumens bzw. eine Summe von 381.000 MCrt. erstattete. Das Waisenhaus schließlich bekam relativ bescheidene 23.600 MCrt. zuerkannt, womit es etwa 22 Prozent seines Bedarfs decken konnte. Den stattlichen Restbetrag von 84.300 MCrt. brachte die Verwaltung durch Spendensammlungen, Schenkungen und letztwillige Verfügungen auf.3 Damit schien die Verstaatlichung der „milden Stiftungen“ besiegelt, die Trennung zwischen privater und öffentlicher Fürsorge vollzogen und das Zeitalter moderner kommunaler Sozialverwaltung in Hamburg eröffnet zu sein. Dass diese Zäsur allerdings alles andere als eindeutig war, zeigte sich vor allem an der Sonderentwicklung, welche die Waisenhausverwaltung durchlief. Die vergleichsweise günstige finanzielle Situation des Waisenhauses führte nämlich dazu, dass sich das verwaltende Kollegium auch nach der Wegmarke von 1863/65 noch ein hohes Maß an Selbständigkeit bewahren konnte, und dementsprechend ausgeprägt war auch sein Selbstbewusstsein. Das zeigte sich auf gleich mehreren Ebenen:
Mit der Finanzierungsregelung von 1865 waren auch die so genannten Stadtsammlungen zugunsten der milden Stiftungen als letztes Überbleibsel frühneuzeitlicher Spendenbeibringung abgeschafft worden. Dem Waisenhauskollegium (WHK) war es jedoch mit Unterstützung des Senats, aber
1 Von den Gesamtausgaben in Höhe von rund 450.000 MCrt. bestritt der Staat etwa 360.000 MCrt., während die übrigen 90.000 MCrt. durch Büchsensammlung (13.000 MCrt.), Subscriptionssammlungen (25.000 MCrt.), Kapitalerträge und Geschenke (42.000 MCrt.) sowie Bräutigamsgaben und Kirchenkollekten (10.000 MCrt.) zusammenkamen (a.a.O., S. 133). 2 Es konkurrierten hier v.a. zwei Vorschläge: das „Maximalfixum“, ein über mehrere Jahre feststehender Staatsbeitrag, mit dem man die fortgesetzte Bedeutung der privaten Spenden betonen wollte, und das „Separationsmodell“, bei dem die Staatszuschüsse nur in die unbeliebten staatlichpolizeilichen Aufgabenbereiche der Armenfürsorge fließen sollten und die Privatspender sicher sein konnten, dass ihre Gaben nur den unverschuldet in Armut geratenen Bedürftigen zugute kamen (a.a.O., S. 95 ff.). 3 Schröder [1966], S. 28.
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gegen den Widerstand der Bürgerschaft gelungen, an seinem traditionellen „Waisengrün“ festzuhalten, einem alljährlich wiederkehrenden, in der Hamburger Bevölkerung äußerst beliebten Spendenumzug der Waisenkinder durch die Stadt. Erst in zähen Verhandlungen über einen Ersatz aus den daraus erwirtschafteten Finanzmitteln kam es 1876 zur endgültigen Abschaffung der letzten öffentlichen Sammlung zugunsten einer „milden Stiftung“.1 Hinzu kam, dass auch die formelle Stärkung des staatlichen Einflusses, welche die Reform von 1863 mit sich gebracht hatte, im Falle des WHKs nur geringe praktische Wirkung zeigte. Die bürgerlichen Mitglieder des Kollegiums waren anscheinend von der Anwesenheit des Präses und des Mitglieds der Finanzdeputation während der Sitzungen nicht sonderlich beeindruckt.2 Aber nicht nur was die Entscheidungskonventionen und den Umgang der Mitglieder miteinander anging, hat das Verwaltungsgesetz von 1863 offenbar keine große Veränderung gebracht. Die konservative Einstellung des Gremiums schlug sich auch in seiner Verweigerungshaltung gegenüber allen einschneidenderen Reformmaßnahmen nieder – wie der Adaption des so genannten gemischten Systems, das heißt der Erweiterung der Anstalts- durch die Familienpflege oder der Übertragung der laufenden internen Verwaltungstätigkeiten an einen festangestellten leitenden Direktor. Dass die Provisoren für entsprechende Forderungen aus der Bürgerschaft wenig empfänglich waren und stattdessen lieber am Altbewährten festhielten, hatte neben der guten Ausstattung mit Spenden vor allem mit der Art der Rekrutierung der Kollegiumsmitglieder zu tun. Anders als bei den Deputationen galt für das WHK – wie übrigens für sämtliche anderen Kollegien auch – nach wie vor das Kooptationsprinzip.3 Die Bürgerschaft besaß also keinerlei Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Gremiums und die Selbstergänzung sorgte dafür, dass nur solche Personen als Provisoren ernannt wurden, die ähnliche fürsorgepolitische Positionen vertraten wie die übrigen Mitglieder. Vieles deutet darauf hin, dass der Einfluss der Kir-
A.a.O., S. 28 ff. u. Uhlendorff [2003], S. 278. Leicht resigniert stellte der Vertreter der Finanzverwaltung im Kollegium 1875 fest: „Im Waisenhaus ist der Zustand noch der folgende: Die Herren Provisoren hängen noch immer an der Tradition, daß sie das eigentliche Kollegium sind und daß den Herren Senatsmitgliedern ‚als Patronen’ gewisse Ehrenrechte gebühren und dem Mitgliede der Finanzdeputation das unbeschadete Recht zusteht, sich überflüssig zu fühlen.“ Zit. nach: Klapproth [1966], S. 96. 3 Sowohl Petersen [1911], S. 8 als später auch Thorun [1988], S. 23, und zuletzt Uhlendorff [2003], S. 172, gehen irrtümlicherweise davon aus, dass die Vorsteher des Waisenhauses nach 1863 durch die Bürgerschaft gewählt wurden, was nachweislich nicht der Fall war. 2
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chenvertreter auf die Gestaltung der Waisenpflege immer noch bedeutend, wenn nicht sogar bestimmend war.1 Im Fall der Waisenpflege bedurfte es erst einer handfesten Krise, bevor man sich klarmachte, dass mit Verwaltungsstrukturen aus dem 17. und 18. Jahrhundert auf die sozialen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr angemessen reagiert werden konnte.2 Was weder die Verwaltungsreform von 1863 noch die Umstellung auf Staatsfinanzierung gut zehn Jahre später zu bewirken vermochten, sollte die „Waisenhausaffäre“ von 1885/86 zu Wege bringen: Das WHK und der Senat gaben ihre dilatorische Haltung auf und nahmen die längst überfälligen Reformmaßnahmen in Angriff. Die bürgerlichen Mitglieder wurden fortan entsprechend den Deputationen von der Bürgerschaft bestimmt; an die Spitze der internen Verwaltung trat ein hauptberuflich tätiger, akademisch vorgebildeter Direktor; und einige Jahre später wurde mit der organisatorischen Vereinigung von geschlossener Waisenpflege und Kostkinderwesen auch das „gemischte System“ eingeführt. All diese Maßnahmen waren bereits sehr viel früher angedacht und in diversen kommissarischen Verhandlungen zwischen WHK, Bürgerschaft und Senat auch wiederholt ausführlich erörtert worden. Zum eigentlichen Durchbruch gelangte die Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform und organisatorischen Neugestaltung öffentlicher Jugendfürsorgetätigkeit aber erst durch die Aufdeckung und politische Aufarbeitung zweier durch das Personal des Waisenhauses verübter Straftaten. Die entscheidende historische Wegmarke, welche die Ära „moderner“ Jugendfürsorge in Hamburg einleitete, ist also weder im Verwaltungsgesetz von 1863, noch in der Abschaffung des „Waisengrüns“ 1876 zu sehen, sondern in der „Waisenhausaffäre“ von 1885/1886.3 1 So erinnerte sich der spätere Anstaltsgeistliche, dass die Anstellung eines Direktors zuletzt 1873 an den vom Kulturkampf geprägten Meinungsverschiedenheiten zwischen Kollegium und Bürgerschaft gescheitert war (STAH 111-1, Cl. VII Lit. Qc Nr. 3 Vol. 54, Bericht Pastor Blühmers vom Januar 1888). 2 Auf die Schrittmacherfunktion des Choleraausbruchs von 1892 für die Verwaltungsmodernisierung und den Ausbau der Gesundheitsfürsorge sowie der Wohnungspflege hat v.a. Evans hingewiesen. Als die Bürgerschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik wieder einmal zu einer umfassenden Verwaltungsreform ansetzte, die mit der Tradition der Laienverwaltung brechen sollte, kommentierte ein DDP-Ratsmitglied den entsprechenden Gesetzentwurf mit den Worten: „Wenn wir in die hamburgische Geschichte und speziell in die Verwaltungsgeschichte zurücksehen, dann sehen wir, daß es immer großer Katastrophen bedurft hat, um einen Fortschritt im Verwaltungsleben des Staates zu vollziehen.“ Zit. nach: Schambach [2002], S. 30 f. 3 Der zentrale Stellenwert des Skandals für die Entwicklung der Hamburger Jugendfürsorge ist in der bisherigen Literatur nur unzureichend berücksichtigt worden. Zwar geht sowohl Klapproth [1957], S. 75 als auch Schröder [1966] 231 ff. auf die Vorkommnisse von 1885/86 ein. Die politische Tragweite der Vorgänge und die Konsequenzen, die sie für das Ansehen der Einrichtung hatten, werden allerdings nicht herausgearbeitet.
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3.2 Der Waisenhausskandal von 1885/1886 als Katalysator einer umfassenden Modernisierung der Hamburger Jugendfürsorge Im Frühjahr 1885 verurteilte das Landgericht Hamburg den Hausvorsteher des Waisenhauses Wilhelm Schulz wegen über 200-fachen Sittenverbrechens, begangen an weiblichen „Zöglingen“ der Einrichtung, zu zehn Jahren Zuchthaus und Ehrverlust. Der Tathergang lässt sich aus den Berichten der Bürgerschaft wie folgt rekonstruieren:1 Der 52-jährige gelernte Stellenmacher Schulz war vor seiner Anstellung als „Waisenvater“ 1878 in verschiedenen Erziehungs- und Besserungsanstalten als Gehilfe tätig gewesen und war anschließend im „Rauhen Haus“ zum Stadtmissionar ausgebildet worden. In dieser Funktion hatte er offenbar erfolgreich elf Jahre lang gewirkt. Bald nach Antritt seiner Stelle in der Hamburger Großanstalt hatte er sich unter den Zöglingen jedoch den Ruf eines groben, zu körperlicher Züchtigung jederzeit bereiten Menschen erworben. Schon im Sommer des Jahres 1878 ließ er sich zudem erste „Unsittlichkeiten“ gegenüber weiblichen Zöglingen zu Schulden kommen. Im Laufe der Jahre nahm seine Machtstellung immer „dämonischere“ Ausmaße an. Nacht für Nacht wandelte er durch die Schlafsäle des Mädchenflügels und nahm an den weiblichen Zöglingen „Untersuchungen“ an Geschlechtsteilen und Brüsten vor, ohne dass die zur Bewachung abgestellten Wärterinnen ihn daran hinderten. Er betrat die Badestube der halbwüchsigen Mädchen und weidete sich an ihrem Anblick. Selbst in der Kirche beging er seine Unsittlichkeiten. Die Taten des Waisenvaters gehörten zum Alltag der Anstalt. Alle Zöglinge und niederen Bediensteten wussten davon. Schulz’ Handlungen bildeten das beherrschende Gesprächsthema der Waisenmädchen. Sie entwickelten sogar spezielle Ausdrücke, um das nächtliche Treiben des „Waisenvaters“ zu bezeichnen. Beschwerten sich die Mädchen bei den Wärterinnen über das Verhalten Schulzes, so bekamen sie zur Antwort, der „Waisenvater“ habe die Handlungen doch nur „aus Liebe“ vorgenommen. Das untere Dienstpersonal war offenbar selbst paralysiert von der unumschränkten Macht des Hausvorstehers, zum Teil aber wohl auch korrumpiert, denn manche der Wärterinnen waren beim „Waisenvater“ zuvor als Dienstmädchen in Stellung gewesen. Auch von seiner Frau, die mit seiner Anstellung automatisch die Position der „Hausmutter“ übernommen hatte, wurde er anscheinend gedeckt. Schulz verbreitete soviel Angst und Schrecken, dass sich die weiblichen „Zöglinge“ nicht getrauten, sein Verhalten den höheren Bediensteten der Anstalt oder den hin und wieder die Einrichtung aufsuchenden Kollegiumsmitgliedern anzuzeigen. Nur mehr oder weniger zufällig ge-
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Prot. u. Ausschussb. 1887, Nr. 33 u. 1888, Nr. 2.
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langten die sexuellen Zudringlichkeiten und Missbrauchshandlungen des „Waisenvaters“ ans Tageslicht.1 Trotz der amtlichen Stellung des Beschuldigten und des Ausmaßes der aufgedeckten Vorgänge gab es zunächst keine größere öffentliche Resonanz auf das gegen Schulz ergangene Strafurteil. Der Prozess hatte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden und die staatstreue Presse gab wenig mehr bekannt als das Delikt sowie das Strafmaß. Der „Hamburgische Correspondent“ bemerkte in einer knappen Notiz: „die Sache ist derart, daß darüber gar nicht berichtet werden kann“.2 Die einzige Zeitung, die eindringliche Fragen stellte, war das vielgelesene Massenblatt „Reform“, aber das reichte offenbar nicht aus, Senat und Bürgerschaft zu weiterer Aufklärung zu bewegen. Das WHK gab sich mit der Anzeige gegen Schulz und einer Reihe kleinerer personeller Maßnahmen zufrieden und erklärte das lange Stillschweigen der Mädchen über die Vorgänge zum „psychologischen Rätsel“. Damit hatte sich auch für den Senat als oberste Verwaltungsbehörde die Sache erst einmal erledigt.3 Erst als sich im Jahr darauf mit der 22-jährigen Krankenwärterin Louise Alms eine weitere Bedienstete des Waisenhauses vor dem Strafrichter verantworten musste, setzte eine breite öffentliche Diskussion über die unhaltbaren Zustände in der geschlossenen Waisenfürsorge ein, die schließlich in die oben bereits erwähnten umfangreichen Reformmaßnahmen mündete.4 Alms, die schon ein bewegtes Leben hinter sich hatte, war im Frühjahr desselben Jahres im Waisenhaus als Krankenwärterin im Tagelohn angenommen worden, wo sie zur Beaufsichtigung und Pflege von keuchhustenkranken Kindern in eine Isolierstation abbestellt wurde.5 Jeder Kontrolle durch Verwaltung und „Waisenvater“ (des 1
Ein bereits entlassenes, aber noch der vormundschaftlichen Aufsicht des Waisenhauses unterstelltes Mädchen war von dem mit der Nachsorge betrauten Pastor der Anstalt aufgefordert worden, die Versammlung der entlassenen Waisenhauszöglinge gewissenhafter zu besuchen. Das Mädchen gelobte zwar Besserung, offenbarte sich aber später ihren Angehörigen, indem sie ihre Weigerungshaltung mit den vom Waisenvater verübten „Unsittlichkeiten“ erklärte. Ihr Bruder brachte daraufhin die Sache dem WHK zur Anzeige, das seinerseits Anzeige bei der Polizeibehörde erstattete. 2 „Hamburgischer Correspondent“ vom 6.5.1885. 3 Die Waisenmutter und sämtliche in Tagelohn stehende Wärterinnen des Mädchenflügels waren bereits kurz nach der Verhaftung Schulzes auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft aus dem Waisenhaus entfernt worden. Um besseres „Material“ für diese Arbeiten zu gewinnen, hatte das Kollegium außerdem den Tagelohn der Wärterinnen erhöht. Bei der Auswahl des neuen Waisenvaters achtete es zudem auf eine ausreichende Qualifikation und stellte einen Lehrer an. Die einzige organisatorische Maßnahme zur Verhinderung weiterer „Verheimlichungen“ war die Anstellung einer Oberaufseherin im Mädchenflügel (Prot. u. Ausschussb. 1887, Nr. 33, S. 7 u. STAH 121-3 I ,C 875, Bl. 20 ff.). 4 Das Urteil ist überliefert in: Ebd. 5 Sie war früh verheiratet gewesen, hatte sich von ihrem Mann aber schon bald nach der Verehelichung wieder getrennt. Bereits mehrfach vorbestraft, war sie anschließend nach Amerika ausgewandert, wo sie eine kurzfristige Anstellung als Krankenwärterin fand, bevor sie Mitte der 1880er Jahre wieder nach Deutschland zurückkehrte.
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Nachfolgers von Schulz) enthoben, tyrannisierte und misshandelte sie dort ein Vierteljahr lang die ihr anvertrauten Kinder. Anna Goldbeck, ein siebenjähriges, in der geistigen Entwicklung offenbar etwas zurückgebliebenes Mädchen, traf es am schlimmsten. Die Krankenwärterin schlug und strangulierte Anna, zwang das Kind, seine eigenen Ausscheidungen zu essen und versuchte es durch Nadelstiche zum Stricken anzuhalten. Ähnlich wie die älteren Mädchen, die von Schulz belästigt und missbraucht worden waren, getrauten sich auch die Opfer der Louise Alms nicht, andere Menschen über die Vorfälle zu unterrichten. Ein zufällig aufgeschnapptes Gespräch zwischen einem auf der Isolierstation tätigen „Haubenmädchen“ mit einem anderen Waisenkind führte schließlich zur Verhaftung und Aburteilung der Krankenwärterin.1 Am 4. Oktober 1886 erging das Urteil des Landgerichts, das auf ein Jahr Gefängnishaft erkannte. Dieser neuerliche Urteilsspruch löste einen wahren Sturm der Entrüstung aus. Nicht nur in den einfacheren Bevölkerungskreisen, denen auch die meisten Zöglinge des Waisenhauses entstammten, war die Empörung über die aufgedeckten Vorfälle groß. Auch das WHK legte jetzt eine unerwartet große Betriebsamkeit an den Tag, um auf eigene Faust Korrekturen an der bisherigen Erziehungs- und Verwaltungspraxis der Großanstalt vorzunehmen. Schließlich gelangte das Thema auch auf einen der obersten Plätze der politischen Tagesordnung und führte zu heftigen Auseinandersetzungen in und zwischen den regierenden Körperschaften. Für die Skandalisierung der Vorgänge in der Öffentlichkeit zeichnete wiederum vor allem das Massenblatt „Reform“ verantwortlich. Schon wenige Tage nach der Urteilsverkündung veröffentlichte die Zeitung einen kritischen Kommentar zu den Vorfällen, den jedes Hamburger Kind verstehen konnte. Wie üblich zierte das Deckblatt der Zeitung eine Karikatur, auf der in diesem Fall zwei Waisenkinder zu sehen waren, die – in Anspielung auf den abgeschafften „Waisengrün“-Umzug – bei Hammonia um eine „bessere Verwaltung“ bettelten. Dass diese Form der Skandalisierung ihre Wirkung bei der Leserschaft der Zeitung, zu der offenbar auch zahlreiche Angehörigen von Waisenkindern zählten, nicht verfehlte, bekamen die mit der Unterrichtung und Erziehung befassten höheren Beamten des Waisenhauses am direktesten zu spüren. In mehreren Stellungnahmen an den Senat beklagten sie sich bitter über die nachlassende Disziplin unter den Waisenhauszöglingen und die offene Feindseeligkeit, die ihnen von Seiten der Verwandten entgegenschlage. Sie führten beides auf die ihrer Ansicht nach undifferenzierte und ungerechte Presseberichterstattung zurück. Der neue „Waisenvater“, Oerter, erklärte beispielsweise: 1 Bei den „Haubenmädchen“ handelte sich um ehemalige „Zöglinge“, die nach ihrer offiziellen Entlassung aus der Einrichtung in der Hauswirtschaft des Waisenhaus weiterbeschäftigt wurden.
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„Sehr erschwerend und hemmend hat die Art der Behandlung der Vorkommnisse im Waisenhaus gewirkt. – Das fortdauernde Geschrei der Presse, die dem Volke die Ereignisse mit so schwarzer Farbe zeichnet, daß dasselbe gegen das Waisenhaus eingenommen werden muß, konnten für das Haus nicht ohne bittere Folgen bleiben. Fast alle, Angehörigen der Kinder wie Fremde, treten seit dieser Zeit mit auffallender Sicherheit, oft Dreistigkeit im Waisenhause auf und mit einer Miene, die deutlich sagt: Euch wollen wir wohl kriegen!“1
Aber nicht nur am Verhalten der „Zöglinge“ und ihrer Angehörigen ließen sich die Auswirkungen der öffentlichen Diskussion ablesen. Auch die Mitglieder des WHK reagierte nunmehr vergleichsweise sensibel auf die Erörterung des Themas. Den Berichten des festangestellten Führungspersonals des Waisenhauses zufolge waren sie unter dem Druck der öffentlichen Debatte verstärkt wieder dazu übergegangen, die Erziehungsgeschäfte selbst in die Hand zu nehmen und diese nach liberalen Grundsätzen umzugestalten. Unter der Parole „nur nicht den Mund verbieten“, „nichts vom Rauhen Haus hereinbringen“ habe das Kollegium den Kindern jede nur erdenkliche Freiheit zugestanden. Gerade diese Eingriffe waren nach Meinung des „Hausvaters“ jedoch die Ursache, dass immer mehr „Zöglinge“ den Gehorsam verweigerten. Jeden Tag seien die Kinder zum Spiel nach draußen geführt worden und selbst bei ihrer Rückkehr in die Schlafsäle hätten sie noch lauthals Lieder gesungen. Den Kindern, so Oerter, sei die plötzliche Freiheit, die man ihnen gewährte, zu Kopfe gestiegen und infolgedessen hätten sie auch maßlos über die Stränge geschlagen. Tatsächlich waren die Amtshandlungen der Kollegiumsmitglieder und auch der verantwortlichen Beamten in jener Zeit durch einem gewissen Aktionismus bestimmt. Alle Vertreter der Waisenhausverwaltung wussten, dass man dieses Mal mehr von ihnen erwartete, als nur ein „schwarzes Schaf“ zu präsentieren. Alle hatten auch eine Vorstellung davon, woran das alte System krankte und in welche Richtung die Veränderungen zu gehen hatten. Nur wer die Neuregelungen koordinieren sollte und wem in Zukunft welche Rolle in einer neu gestalteten Verwaltung zufallen würde, darüber herrschte große Uneinigkeit. Die harschen Vorwürfe, die der „Waisenvater“ dem Kollegium machte, waren mithin durchaus typisch für die Stimmung und den Umgangston unter den verantwortlichen Beamten und Kollegiumsmitglieder jener Tage.2
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STAH 111-1, Cl. VII Lit. Qc Nr. 3 Vol. 54, Bl. 39. Seine Frau, so berichtete der Hausvorsteher weiter, habe selbst mit angehört, wie eine Mutter ihr Kind am Besuchstag aufgefordert habe: „Wenn dich jemand anrührt, so schrei, daß es die Leute auf der Straße hören.“ Und tatsächlich hätten drei Knaben, die er habe züchtigen müssen, schon beim ersten Schlag lauthals zu schreien angefangen. 2 Vgl.: A.a.O., Bl. 39 ff. Gerade die leitenden Bediensteten des Waisenhauses – der Anstaltsgeistliche, der Hausvater und der Oberlehrer – waren untereinander hoffnungslos zerstritten. Neben Kom-
204 Abbildung 6:
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„Hamburger Waisenkinder-Sprüchlein – modernen Verhältnissen angepasst.“ Karikatur zur Waisenhausaffäre 1885/86.1
Während in der Verwaltung des Waisenhauses Konzeptionslosigkeit herrschte und die leitenden Beamten und Kollegiumsmitglieder sich gegenseitig fachliche Inkompetenz und unlautere Motive vorwarfen, ging man in der Hamburger Bürgerschaft an die eigentliche Erforschung und Aufarbeitung der Ursachen der Affäre. Direkt nach Bekanntwerden der Straftaten der Krankenwärterin Alms waren auch in der Bürgerschaft Zweifel an der Zufälligkeit der beiden dicht aufeinander folgenden Ereignisse im Waisenhaus laut geworden. Aus diesem Grund setzte man einen Ausschuss ein, der sich eingehender mit der Verwaltungstätigkeit des WHK befassen sollte. Der Auftrag, der diesem Ausschuss erteilt wurde, war jepetenzstreitigkeiten und wechselnden Schuldzuweisungen in Bezug auf die mangelnde Anstaltsdisziplin ging es dabei v.a. um die unsicher gewordene berufliche Zukunft dieser Bediensteten. 1 Bildunterschrift: „Misshandelte Waisen, zur Frau Hammonia: Beleben Se de Arm’n te bedenken Und en betere Verwaltung to schenken – Gott’s Lohn wegen de Arm’n!“
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doch nicht ganz klar formuliert. Ein Teil der Bürgerschaftsmitglieder maß dem Gremium die Funktion eines Untersuchungsausschusses bei, der die bisher noch weitgehend ungeklärte Rolle des Kollegiums an den Vorgängen im Waisenhaus notfalls auch gegen den Widerstand des Senats untersuchen sollte. Man erwartete eine entsprechend kritische öffentliche Stellungnahme als Ergebnis der Untersuchungstätigkeit. Andere wollten sich nach Abklingen der ersten Empörungswelle auf ein Kräftemessen mit der Regierung nicht mehr einlassen und sahen die Aufgabe des Ausschusses vor allem darin, der Bürgerschaft konkrete Reformvorschläge zu unterbreiten. Als Vertreter des ersten, radikaleren Lagers taten sich vor allem zwei Männer hervor: der Schulleiter und Führer der Fraktion der Linken in der Bürgerschaft Oskar Dränert und der Rechtsanwalt Salomon Belmonte, Mitglied der Fraktion der Rechten. Beiden war gemein, dass sie vor dem Aufwerfen unliebsamer Fragen in der Öffentlichkeit nicht zurückschreckten und es im Notfall auch auf eine Konfrontation mit dem Senat ankommen lassen wollten. Aber das war nicht das Einzige, was sie verband. Einer Meinung waren sie auch darüber, dass die Ausgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge eine zu wichtige Angelegenheit sei, als dass man sie in die Randzonen des öffentlichen Bewusstseins abdrängen durfte. Die öffentliche Waisenpflege musste ihrer Auffassung nach in einer so großen Stadt wie Hamburg den neuesten pädagogischen Erkenntnissen und den entsprechenden administrativen Anforderungen genügen. Das eigentliche Hindernis einer durchgreifenden Neugestaltung der Verwaltung sahen sie im vermeintlich oder tatsächlich noch immer starken Einfluss der „Mucker und Frömmler“ auf Personalpolitik und Erziehungspraxis des Waisenhauses. Insbesondere Belmonte verstieß mit seiner Art, die Sache anzugehen, gegen zahlreiche politische Konventionen. Er hatte keinerlei Scheu davor, die Presse als Mittel der politischen Auseinandersetzung einzusetzen. Als Chefredakteur der „Reform“ hatte er dazu auch reichlich Gelegenheit: Die beiden zitierten Kommentare des Blattes trugen seine Handschrift.1 Noch mehr exponierte er sich allerdings, als er Ende Januar 1888 seine Funktion als Berichterstatter des zweiten Bürgerschaftsausschusses dazu nutzte, zu einer ebenso scharfsinnigen wie schonungslosen Anklage gegen die Verwaltung des Waisenhauses auszuholen.2 Der Ausschuss1
Biografische Angaben zu Salomon Abendana Belmonte finden sich in: Institut für die Geschichte der deutschen Juden [2006], S. 33. Belmonte war nicht nur Chefredakteur der „Reform“ sondern auch Herausgeber des „Tribunals“, einer 1885-1888 erschienenen Zeitschrift für praktische Strafrechtsreform. Nur wenige Jahre nach seinem engagierten Eintreten für die Hamburger öffentliche Jugendfürsorge kam der Hamburger Jurist und Publizist bei einem Duell in Alter von nur 45 Jahren ums Leben. 2 Der erste Ausschuss musste kleinlaut einräumen, dass er wegen der unkooperativen Haltung des Präses des Waisenhauskollegiums keines der Mandate erledigen konnte, die ihm erteilt worden waren.
206 Abbildung 7:
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Salomon Abendana Belmonte (1843-1888), Berichtererstatter des Bürgerschaftsausschusses zur „Waisenhausaffäre“ von 1888.
bericht schloss mit dem Antrag, das WHK wegen vernachlässigter Fürsorgepflicht öffentlich zu tadeln.1 Wie nicht anders zu erwarten war, stieß ein solch scharf formulierter Antrag in der Bürgerschaft nicht nur auf Zustimmung, sondern löste eine lebhafte Kontroverse aus, die sich über mehrere Bürgerschaftssitzungen hinzog. Das Kräfteverhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern des Antrags war dabei zunächst nahezu ausgeglichen. Regierungsloyale Bürgerschaftsvertreter wie der „Königs1 Der genau Wortlaut des Antrags lautete: „Die Bürgerschaft wolle beschließen und unter Ueberreichung der beiden in dieser Angelegenheit erstatteten Ausschuß-Berichte dem Senat mittheilen, sie habe aus den in diesen Berichten referierten, durch das Strafverfahren gegen den früheren Waisenvater Schulz und gegen die frühere Krankenwärterin Alms festgestellten Thatsachen die Ueberzeugung gewonnen, daß das Waisenhaus-Kollegium die ihm obliegende Pflicht der umfassendsten Fürsorge für die dem Waisenhause anvertrauten Kinder nicht erfüllt habe.“ Prot. u. Ausschussb. 1888, Nr. 2.
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macher“ Albert Wolffson oder der damalige Bürgerschaftspräsident Otto Mönckeberg mussten all ihre Macht aufbieten, um die Sache schließlich doch noch in ihrem Sinne zu entscheiden. Sie warnten vor den unvorhersehbaren (außen)politischen Konsequenzen, welche die Annahme eines solchen „Misstrauensvotums“ gegen die eigene Verwaltung haben würde, und sahen sich durch auswärtige Pressemeldungen in dieser Auffassung bestätigt. In einem Artikel der „Nördlinger Tageszeitung“ vom Februar 1888 war etwa zu lesen: „Es ist eine wahre ‚Kloake’, die hier aufgedeckt wird. [...] Kenner der Hamburger Zustände sind nicht entfernt überrascht von dem, was hier aufgedeckt ist, wohl aber kommt man immer mehr zu der Ueberzeugung, daß diese kleinen Handelsrepubliken, wie Hamburg u.s.w., auch in sittlicher Beziehung den Ansprüchen des modernen Staates nicht mehr zu genügen vermögen“.1
Es gab in Hamburg sogar Stimmen, die sich angesichts der Reibereien mit dem Senat an „französische Zustände“ erinnert fühlten. Das war selbstverständlich maßlos übertrieben, aber die Mobilisierung solcher Ängste und die gleichzeitige Beschwörung von Lokalpatriotismus und Pragmatismus dürften doch eine entscheidende Rolle für den Ausgang der Debatte gespielt haben. Mit der eingängigen Formel „Fassen wir Institutionen an, nicht die Personen“ gelang es Mönckeberg schließlich, die Zögerer und Skeptiker auf seine Seite zu ziehen: Der Antrag des Bürgerschaftsausschusses wurde mit 70 zu 59 Stimmen abgelehnt und durch eine sehr viel moderatere Erklärung ersetzt.2 Damit war die Phase der Schuldsuche, in der die Emotionen auf allen Seiten hochgekocht und gegenseitige Bezichtigungen an der Tagesordnung gewesen waren, definitiv zu Ende. Der Sieg des moderaten Flügels und die Rückkehr zum Tagesgeschäft bedeuteten allerdings nicht, dass Bürgerschaft und Senat den Status quo einfach fortschreiben wollten. Schon die Mandate des ersten Bürgerschaftsausschusses zur Untersuchung der Zustände in der Waisenhausverwaltung waren von der Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuordnung bestimmt gewesen. Entsprechend der von Mönckeberg ausgegebenen Losung, statt Menschen Institutionen anzufassen, wandte man sich nun den positiven Reformmaßnahmen zu.
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STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Qc Nr. 3 Vol. 54, Bl. 33. Vgl.: „Hamburger Echo“ vom 3. Februar 1888: „Die Bürgerschaft theilt dem Senat mit, sie habe aus den durch das Strafverfahren gegen den früheren Waisenvater Schulz und gegen die frühere Krankenwärterin Alms festgestellten Thatsachen die Ueberzeugung gewonnen, daß die bisherige Organisation der Verwaltung des Waisenhauses keine Gewähr dafür bietet, daß die Interessen der der Anstalt anvertrauten Kinder ausreichend geschützt werden; sie erwarte demgemäß, daß der Senat ihr unverzüglich Vorschläge wegen anderer Organisation des Waisenhauses unterbreitet.“
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Ein Selbstgänger war die Abschaffung des Kooptationsprinzips. Gegen seine Aufrechterhaltung sprach nicht nur die Behauptung Belmontes und Dränerts, es habe die Günstlingswirtschaft befördert und die Einflussnahme der „Mucker“ und „Frömmler“ auf die Personalpolitik des WHK begünstigt. Da die Mitglieder aller anderen städtischen Verwaltungsdeputationen von der Bürgerschaft bestimmt wurden, wurde das Selbstergänzungsprinzip der Kollegien mehr und mehr auch als eine Systemwidrigkeit betrachtet. Im Zuge der Beschäftigung mit den Verbrechen und ihren Hintergründen hatten sich jedoch zwei Fragestellungen herausgeschält, die einer eingehenderen inhaltlichen Erörterung bedurften: 1. Welche organisatorischen und personellen Maßnahmen sind erforderlich, um ein einheitliches Erziehungskonzept innerhalb des Waisenhauses umzusetzen, bei dem sich Erziehung – durch das Hauspersonal – und Bildung – durch die Schullehrer – nicht im Wege stehen, sondern wechselseitig ergänzen? Und 2.: Wie lässt sich eine Öffnung der stationären Waisenerziehung zur Außenwelt hin bewerkstelligen? Beide Fragen waren inhaltlich eng miteinander verbunden. So gab es anfänglich Stimmen, die dafür eintraten, die Schule ganz aus dem Waisenhaus auszugliedern.1 Mehrheitlich aber setzte sich schnell die Auffassung durch, dass schulische Bildung und häusliche Erziehung eher wieder stärker zusammengeführt und aufeinander abgestimmt als noch weiter voneinander getrennt werden müssten. Man griff hier die bereits früher diskutierte Idee der Anstellung eines leitenden Oberbeamten wieder auf und verband sie mit der Forderung nach einer Stärkung des schulpädagogischen Sachverstandes innerhalb des Kollegiums. Die Frage der Öffnung der Waisenpflege gegenüber der Außenwelt war damit aber noch nicht erledigt. Die Gründe, die für eine Öffnung sprachen, waren vielfältig. Ein wichtiger, unmittelbar von der „Waisenhausaffäre“ ausgehender Impuls war die Absicht, mehr Transparenz in die Waisenpflege zu bringen, um der Möglichkeit einer Wiederholung der Ereignisse vorzubeugen und gleichzeitig das verloren gegangene Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Eine weitere Überlegung bezog sich auf die negativen Auswirkungen der räumlichen Abschottung auf das Verhalten der Kinder selbst. Oerter, der Nachfolger Schulz’ im Amt des „Waisenvaters“, wusste, wovon er sprach, wenn er klagte, „daß die Waisenkinder, wenn sie mit der Welt in Berührung kämen, durch ihr auffällig schüchternes und verstocktes Wesen von sich reden machten“.2 Zöglinge, Angehörige und Dienstherrschaften sprachen in Bezug auf die Entlassung aus der Anstalt 1 Die „Zöglinge“ der Einrichtung hätten nach diesem Modell gemeinsam mit den übrigen Hamburger Schulkindern Volksschulen außerhalb der Anstalt besucht, wodurch sowohl das Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen den beiden pädagogischen Domänen gelöst als auch die gesellschaftliche Isolation der Waisenkinder aufgehoben worden wäre. 2 A.a.O.
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nicht ohne Grund von einer „Befreiung aus dem Vogelbauer“. Nicht zuletzt lebte in solchen und ähnlichen Erfahrungen die alte Meinungsverschiedenheit des „Waisenhausstreits“ vom ausgehenden 18. Jahrhundert wieder auf. Eine Großanstalt hatte zwar den Vorzug, dass sie einheitlich gelenkt werden konnte und ebenso effizient wie rationell arbeitete. Ob sie allerdings einen wirklichen Ersatz für die familiale Erziehung bilden konnte, schien mehr als zweifelhaft. Daneben und darüber hinaus stellte sich die Frage, ob eine geschlossene Unterbringung die Kinder nicht notgedrungen von den realen Lebensverhältnissen entfremden und zu einer Schwächung ihrer psychischen und physischen Konstitution führen musste. Trotz der ideologischen Fallstricke, welche die aufgeworfenen Fragen in sich bargen, verliefen die weiteren Verhandlungen zwischen Bürgerschaft und Senat überraschend zügig und ergebnisorientiert. Lediglich hinsichtlich der formellen Qualifikation, die der neu einzustellende Direktor mitbringen sollte, gab es zwischen Bürgerschaft und Senat noch nennenswerte Unstimmigkeiten.1 Insgesamt aber waren die Verhandlungen von dem unausgesprochenen Konsens getragen, „mit der Zeit gehen“ zu wollen. Konkret bedeutete dies, dass man das Direktorenamt einem akademisch gebildeten Pädagogen übertragen und endlich das so genannte gemischte System einführen wollte. Die Besetzung der Oberleitung des Waisenhauses hatte oberste Priorität, weil man dem mit diesem Posten betrauten Beamten auch die innere Neugestaltung der Anstaltserziehung überlassen wollte. Mit einem am 27. Mai 1889 erlassenen Gesetz wurde die neue Stelle geschaffen und im November desselben Jahres mit dem ehemaligen Bergedorfer Schuldirektor – und späteren Inspektor der Hamburger Landschulen – Karl Stalmann besetzt.2 Die Zusammenführung von stationärer Waisenfürsorge und Kostkinderpflege war demgegenüber deutlich voraussetzungsreicher und bedurfte zu ihrer Umsetzung noch mehrerer Jahre. Sie wurde schließlich mit der Verabschiedung des „Gesetzes, betreffend die öffentliche Waisenpflege im Hamburgischen Staate“ vom Juli 1892 vollzogen. Damit waren die entscheidenden Weichen für die organisatorische und konzeptionelle Neuausrichtung der öffentlichen Hamburger Jugendfürsorge gestellt. Beide Schritte, die Akademisierung und Professionalisierung der Leitung genauso wie die Vereinigung von Waisenfürsorge und Kostkinderpflege, waren zwar schon seit längerem angedacht, aber doch erst durch die öffentlichen Reaktionen 1
Während die Bürgerschaft die Ablegung des Oberlehrerexamens als Anstellungsvoraussetzung verlangte, hielt der Senat praktische Vorerfahrungen für wichtiger und wollte sich mit dem Examen eines Mittelschullehrers zufriedengeben. 2 Vgl.: Gesetzsammlung FHH 1889, I. Abt., No. 40, S. 114 u. STAH 111-1, Cl. VII Lit. Qc No. 3 Vol. 55 Fasc. 1. Zu Person und beruflichem Wirken Stalmanns außerdem: Schröder [1966], S. 247 ff. und Huvalé [1980], S. 39.
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auf die Ereignisse von 1885/86 in Gang gesetzt worden. Der Vorsprung, den Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der Zentralisierung der öffentlichen Jugendfürsorgeaufgaben gegenüber anderen Großstädten des Deutschen Reiches besaß, war mithin das Ergebnis eines über Jahrzehnte hingeschleppten Reformstaus, der erst unter dem Druck einer öffentlichen Skandalisierung im Anschluss an die Verurteilungen des Waisenvaters Schulz und der Krankenwärterin Alms in den Jahren 1885/86 überwunden werden konnte. Zwar wurden etwa zeitgleich auch in der Armenverwaltung Reformmaßnahmen in Angriff genommen, die darauf abzielten, die Arbeit der Armenanstalt zu rationalisieren, Kosten einzusparen und sich auf das eigentliche „Kerngeschäft“ zu konzentrieren, zu dem erzieherische und pädagogische Maßnahmen zweifellos nicht gehörten. Die Ausgliederung des Kostkinderwesens aus der Armenanstalt hatte aber nicht hier, sondern in den internen Problemen der Waisenhausverwaltung seine Wurzel.1 Trotz der Entschiedenheit, mit der die Bürgerschaft die Reform der Waisenfürsorge in Angriff nahm, blieb die Zentralisierung der Jugendfürsorgemaßnahmen unter einer Fachbehörde bis auf Weiteres noch unvollständig, denn ein ganz zentraler Bereich, die öffentliche Erziehung „verwahrloster“ Kinder und Jugendlicher, blieb außerhalb ihres Einflussbereichs. Ja mehr noch: Unter dem Druck, die Bestimmungen des novellierten Reichsstrafgesetzes umsetzen zu müssen, war zeitgleich mit der Aufarbeitung des Waisenhausskandals in Form der „Zwangserziehungsbehörde“ ein völlig neuer, eigenständiger Verwaltungszweig entstanden. Aus der bisherigen Dreigliederung der Jugendfürsorge war mithin eine Zweiteilung geworden, die erst viele Jahre später aufgehoben werden sollte. Es lässt sich nachträglich nicht mehr feststellen, warum man nicht bereits Ende der 1880er Jahre die Chance ergriff und ausnahmslos alle Jugendfürsorgeaufgaben in einer Fachbehörde vereinigte. Im Zuge der Beratungen zum Hamburger Zwangserziehungsgesetz Mitte der 1880er Jahre – die im Teil 3 dieser Arbeit näher behandelt wird – war zwar die Frage einer organisatorischen Angliederung des Zwangserziehungswesens bei schon bestehenden Behörden ausführlich erörtert worden. Es dem WHK zu unterstellen, scheint allerdings weder den kommissarischen Unterhändlern der Fachbehörden noch der Bürgerschaft in den Sinn gekommen zu sein. Vermutlich waren hierfür die Erinnerungen an die Ereignisse der Jahre 1885/86 noch zu frisch. Nach dem, was vorgefallen war, traute man der Verwaltung des Waisenhauses die Übernahme einer solch verantwortungsvollen 1
Weder dem Bericht der Kommission des Armenkollegiums zur Prüfung der Einführung des Elberfelder Systems von 1889 noch den später veröffentlichten Darstellungen zur Reorganisation des Hamburger Armenwesens (vgl. etwa Armenkollegium [1903]) lassen sich Hinweise entnehmen, die für die Annahme sprechen, die Ausgliederung des Kostkinderwesens sei auf Betreiben der Armenanstalten erfolgt. Vgl.: „Commissions-Bericht betreffend die Reorganisation des Armenwesens vom 11 Dezember 1889“ in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1891, S. 838.
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Tätigkeit schlicht nicht zu oder hielt die Lösung der internen Probleme schlicht für dringlicher.1
1 Im Bericht des 1900 zur Prüfung einer Anpassung des ZEG an die neue Rechtssituation eingesetzten Bürgerschaftsausschusses hieß es ganz in diesem Sinne: „Es ist wohl kaum möglich, daran zu zweifeln, daß, wenn erst nach 1892 das Institut der Zwangserziehung in Hamburg eingeführt wäre, Niemand auch nur daran gedacht haben würde, die Ausführung des Zwangserziehungsgesetzes – für welche man 1885 unter den vorhandenen Behörden nach einer geeigneten Behörde suchte – eine anderen Behörde als dem Waisenhauskollegium zu übertragen.“ Prot. u. Ausschussb. 1901, Nr. 44, S. 5.
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3.3 Zentralisierung, Ausbau und Ausdifferenzierung: Die Entwicklung öffentlicher Jugendfürsorge bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Für die Entwicklung der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert war neben einem sich schubweise vollziehenden Ausbau der personellen und organisatorischen Strukturen eine sukzessive Erweiterung der Aufgaben des WHK kennzeichnend gewesen. In den Jahren von 1892-1907 waren das Kollegium und sein Direktor vorwiegend damit beschäftigt, eine tragfähige organisatorische und personelle Grundlage zu schaffen, mit der die anwachsenden Aufgaben der Jugendfürsorge bewältigt und die „Qualität“ der Arbeit gesteigert werden konnten. Ehrenamtliche Mitarbeiter mussten gewonnen, ausgewählt und für ihr Amt vorbereitet werden. Es galt die Wege der Kommunikation und Berichterstattung zwischen den verschiedenen Personalebenen zu bestimmen und Kompetenzen gegeneinander klarer gegeneinander abzugrenzen ... 1907 war die Phase des organisatorischen Aus- und Umbaus abgeschlossen und das WHK konnte sich verstärkt neuen Aufgaben und Maßnahmen zuwenden. Gemäß dieser Schwerpunktverlagerung in der Arbeit des „Kollegiums“ bzw. der „Behörde“ soll im Folgenden zunächst auf die Organisations- und Personalentwicklung eingegangen werden und anschließend auf die Erweiterung und inhaltliche Ausgestaltung der Aufgaben und Maßnahmen der öffentlichen Jugendfürsorge. Zum Schluss muss noch einmal auf das schwierige Verhältnis zwischen öffentlicher und privater Fürsorgetätigkeit in Hamburg eingegangen werden.
3.3.1 Organisatorische und personelle Entwicklung Seit der 1892 erfolgen Vereinigung der Waisenpflege mit der Kostkinderfürsorge ließen sich drei Personalebenen in der Organisation der öffentlichen Jugendfürsorge mehr oder weniger eindeutig unterscheiden: Die Spitze, das „Kollegium“ bzw. später die „Behörde“ war weiterhin ehrenamtlich organisiert und entsprach in ihrer Auswahl, Zusammensetzung sowie in ihren Arbeitsstrukturen ganz den übrigen Hamburger Verwaltungsbehörden. Ihr blieben die verwaltungspolitischen Richtungsentscheidungen sowie die kommissarischen Verhandlungen mit Vertretern anderer Deputationen vorbehalten.1 Durch die sukzessive Delegierung 1 Das bis 1910 bestehende WHK setzte sich bis zum Inkrafttreten des Fürsorgegesetzes von 1908 aus zwei Senatoren und acht von der Bürgerschaft gewählten Mitgliedern zusammen, von denen zwei als Deputierte der Schulbehörde ihr Amt versahen. Im selben Jahr wurden die bürgerlichen Mitglieder des Kollegiums auf neun erhöht. Bei dieser Zusammensetzung blieb es auch nach der Umbenennung des Gremiums in „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ im Jahr 1910. Zur Leitung und Erledi-
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der laufenden Verwaltungsgeschäfte an festangestellte Beamten- und Angestellte bildete sich allmählich eine zweite Personalebene heraus, die dem „Direktor“ unterstand. Dieser hatte in Personalunion auch die Oberleitung des Waisenhauses inne.1 Die dritte Ebene und eigentliche Basis, auf der die öffentliche Jugendfürsorge Hamburgs ruhte, bestand aus mehreren hundert wiederum ausschließlich ehrenamtlich tätigen „Waisenpflegern“ und „Vertrauensleuten“, die die Aufsichts- und zunehmend auch die ambulante Erziehungstätigkeit im Stadtgebiet sowie im ländlichen Umland Hamburgs wahrnahmen. Der regionalen Aufgliederung in Bezirke und Kreise bzw. „Kolonien“ (für die außerhalb Hamburgs untergebrachten Zöglinge) entsprachen hier wiederum interne Hierarchieebenen.2 Das Spezifikum der Organisation der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge während des Kaiserreichs bestand somit in der Kombination aus einer voll professionalisierten, bürokratisch strukturierten und dirigistisch agierenden Zentralverwaltung einerseits und einem im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten, auf Ehrenamtlichkeit basierenden dezentral und kollegial verfassten Aufsichtssystem andererseits. Diese eigenwillige Mischung war Ausdruck der historischen Übergangssituation, in der sich die kommunale Fürsorge damals befand: Man lavierte zwischen einem modernen pragmatisch-managerialen Kurs, der vor allem durch die Anstellung der „Direktoren“ und Räte versinnbildlicht wurde, und der Beibehaltung und Pflege traditioneller, vorwiegend auf persönlichen gung der laufenden Verwaltungsgeschäfte war in der Behörde 1889 ein „Direktor“, ab 1910 dann zusätzlich ein juristischer „Rat“ eingestellt worden. Die Sitzungen der Behörde fanden einmal monatlich statt. Der aus zwei bürgerlichen Mitgliedern, dem „Direktor“ und „Rat“ sowie dem Geistlichen des Waisenhauses gebildete Verwaltungsausschuss, der neben den laufenden administrativen Arbeiten ab 1908 auch das Vorverfahren im Zwangserziehungsverfahren leitete, fand sich demgegenüber wöchentlich zur Beratung zusammen. Vgl. zu Zusammensetzung und Kompetenzen der Behörde nach 1910: Petersen [1911], S. 66 f. 1 Intern unterteilen lässt sich dieses bezahlte und vollzeitbeschäftigte Personal noch einmal in „Innen“ und „Außendienstler“. Zu Ersteren zählten sämtliche Mitarbeiter des zunächst im Waisenhaus untergebrachten Behördenbüros, das 1900 zusammen mit der Beobachtungsabteilung in einen repräsentativen Verwaltungsneubau in unmittelbarer Nähe umzog. (Zum Büro der Behörde, seinem Personal und seiner internen Differenzierung in Abteilungen: A.a.O., S. 67 ff.) Den Kern des festangestellten „Außendienstes“ bildeten demgegenüber mehrere Erziehungsinspektoren, Ermittlungsbeamte und seit 1905 auch eine Reihe von Kinderpflegerinnen. Außerdem gehörte das Erziehungs-, Pflege- und Aufsichtspersonal des Waisenhauses, seit Ende der 1900er Jahre dann auch der Erziehungs- und Besserungsanstalten in Ohlsdorf und Alsterdorf dem Kreis der Festangestellten an. 2 Zuoberst standen die Kreisvorsitzenden, die mit den bürgerlichen Mitgliedern der Behörde identisch waren, dann folgten die Bezirksvorsteher, welche die ehrenamtliche Arbeit im Bezirk koordinierten und offensichtlich nur noch in beschränktem Umfang selbst Fälle übernahmen, zuunterst befanden sich die einfachen „Waisenpfleger“, welche die Arbeit vor Ort verrichteten. Diese Abstufung nach Verantwortung war jedoch nicht mit einem formalen Vorgesetzten-Untergebenenverhältnis identisch, auch wenn die Pfleger den Dienstanweisungen der Behörde Folge leisten mussten. Die Arbeitsbeziehungen waren vielmehr kollegial organisiert. Man beriet sich gegenseitig, anstatt formale Direktiven von oben nach unten durchzureichen.
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Kontakten beruhender Formen der Unterstützungstätigkeit, wie sie im Laufe der vorangegangenen eineinhalb Jahrhunderte entwickelt worden waren. Ein abrupter Bruch mit der gewachsenen Fürsorgementalität kam nicht nur deshalb nicht in Frage, weil das WHK damit die Männer, die seit Generationen in dem einen oder anderen sozialen Ehrenamt der „guten Sache“ gedient hatten, vor den Kopf gestoßen hätte. Es standen auch nicht genügend öffentliche Mittel zur Verfügung, um einen solchen zu vollziehen. Die Kombination von zentralistischen und dezentralen Elementen, von freiwilliger ehrenamtlicher und professioneller bezahlter Arbeit, war aber keineswegs nur eine Verlegenheitslösung. Schon frühzeitig zeichnete sich nämlich ein Dilemma ab, das für die moderne Sozialverwaltung bis in die Gegenwart bestimmend bleiben sollte: Wie lässt sich die Effizienz und Rationalität der Verwaltung steigern, ohne die fachliche Anforderung der Individualisierung in der Fallbearbeitung preiszugeben? Die Befürchtung, die staatliche Hilfe für Kinder und Jugendliche könnte im Zuge der Verberuflichung und Bürokratisierung der Verwaltung in „schablonenhaftes“ Vorgehen verfallen, bildete seit dem späten 19. Jahrhundert ein wirksames Korrektiv in der organisatorischen Weiterentwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge. Beides sollte sich konstruktiv ergänzen, wechselseitig stützen und helfen, die jeweiligen Schwächen des traditionellen bzw. „modernen“ Systems auszugleichen.1 Der personelle Ausbau des hauptberuflichen Verwaltungsapparats der öffentlichen Jugendfürsorge vollzog sich recht kontinuierlich und folgte dabei dem Aufgabenzuwachs, den das WHK und später die „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ zu verzeichnen hatten. 1892 standen dem Waisenhausdirektor gerade einmal acht Mitarbeiter für die Erledigung der administrativen Aufgaben zur Verfügung. Offenbar infolge der Übernahme des Kostkinderwesens wurde ihre Anzahl in den folgenden zwei Jahren auf 20 erhöht. Eine neuerliche Verdoppelung auf nunmehr 44 ständige Mitarbeiter war 1900 erreicht.2 Und 1911 bezifferte Johannes Petersen die Zahl der im Büro der Behörde für öffentliche
1 Vgl.: Petersen [1910], S. 7. Die Zusammenarbeit zwischen Behördenzentrale und ehrenamtlicher Waisenpflege verglich Petersen in seinen 1912 erschienenen „Gedanken über die Organisation der Jugendfürsorge“ mit der Aufgabenverteilung beim Militär: „Neben einer Zentralstelle bedarf die organisierte Jugendfürsorge, einerlei, ob amtliche, ob freiwillige, eines Stabes von Mitarbeitern. Zunächst müssen beide Organisationen freiwillige, ehrenamtliche Mitarbeiter haben. Im Kampf gegen die mancherlei Gefahren, die den Jugendlichen drohen, ist für eine gute Organisation des Heeres derjenigen, die in der Wohlfahrtspflege und Wohltätigkeit arbeiten, zu sorgen. Die Zentralstelle, die Behörde, ist der Generalstab, der die Direktiven gibt. Aber das Heer bedarf auch der Vorposten und Patrouillen, die in unmittelbarer Fühlung mit dem Feinde stehen. Ein je engeres Netz von ehrenamtlich tätigen Jugendpflegern zur Verfügung steht, um so wirksamer wird der Jugendschutz.“ Petersen [1912b], S. 40 f. 2 Petersen [1904], S. 23.
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Jugendfürsorge tätigen Personen endlich mit 82.1 Bereits 1904 wies die inzwischen im separaten Verwaltungsgebäude untergebrachte Zentralverwaltung eine beachtliche interne Differenzierung auf. Es existierten fünf Abteilungen: In Abteilung I, der „Personalregistratur“, wurden die Generalakten sowie die Personalakten der Bediensteten und Zöglinge geführt. Abteilung II., die so genannte Kasse, war für die Führung der Wirtschaftsbücher zuständig, berechnete und wies die Kostgelder an und verwaltete überdies die Spareinlagen bevormundeter Minderjähriger. Abteilung III. war die „statistische Abteilung“, die das Datenmaterial für die Jahresberichte zusammenstellte und die Stellungnahmen über die in Familienpflege befindlichen Zöglinge entgegennahm. In Abteilung IV. schließlich, der „Expedition“, wurden die Konzeptschreiben ins Reine geschrieben und versandt. Die einzige Fachabteilung, die Abteilung V. „Gemeindewaisenrat“, die auch für die Angelegenheiten der Privatkostkinder zuständig war, war offenbar als letzte gebildet und deshalb in der Nummerierung hintangestellt worden.2 Nach dem Staatshandbuch von 1904 waren ein „Bürovorsteher“ und ein „Bürobeamter“ sowie vier „Büroassistenten“ und acht „Kanzlisten“ mit der tagtäglichen Verwaltungsarbeit befasst.3 Sehr viel spektakulärer verlief der Auf- und Ausbau des ehrenamtlichen Personalapparates, weil hier nicht nur erhebliche Anstrengungen zur Rekrutierung und vor allem auch zur Motivierung geeigneter Helfer unternommen werden mussten, sondern sich durch praktische Erfahrungen überhaupt erst einmal ein spezifisches personelles Anforderungsprofil sowie eine dazu passende Organisationsform herausbilden musste. Außerdem setzte schon bald eine Diskussion darüber ein, inwieweit man das Amt des Waisenpflegers auch für Frauen öffnen sollte, die ein besonderes Interesse am Arbeitsfeld der Jugendfürsorge bekundeten. Die Personal- und Organisationsentwicklung innerhalb der Hamburger Waisen- bzw. Jugendfürsorge zwischen 1892 bis 1914 lässt sich grob in drei Etappen unterteilen: Unter dem Direktorat Stalmann wurde für die bisher selbständig arbeitenden Fürsorgezweige der geschlossenen Waisenfürsorge und Kostkinderpflege ein integriertes Gesamtkonzept entwickelt und - analog dem Elberfelder System - ein flächendeckendes Netzwerk ehrenamtlich tätiger Waisenpfleger ge1 Petersen [1911], S. 69. Petersens Zahlenangaben weichen allerdings nicht unbeträchtlich von denen des Hamburger Staatshandbuchs ab. Offenbar wurden in Letzterem subalterne Angestellte wie die Kostkinderpflegerinnen erst gar nicht erwähnt. 2 Petersen [1904], S. 23. 3 Mit den ebenfalls aufgelisteten „Ökonomen“ und „Ökonomiegehilfen“, waren nicht etwa Buchhalter, sondern das leitende Hauswirtschaftspersonal des Waisenhauses gemeint. Als weitere Berufsgruppen des ständigen, bezahlten Personals des Waisenhauskollegiums lassen sich außerdem unterscheiden: die leitenden Beamten (das waren die für die Überwachung des Kostkinderwesens und die Anstalten zuständigen Inspektoren, der Pastor, Arzt und Lehrer des Waisenhauses), der Ermittlungsbeamte sowie ein Bote oder „Kastelan“. Hbg. StaHB 1904, S. 138 f.
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schaffen. Ab 1900 nahm dann Johannes Petersen als neuer Direktor des Waisenhauskollegiums (WHK) entscheidende Korrekturen an der Organisation der ehrenamtlichen Waisenpflege vor, die durch die neue Einrichtung des Gemeindewaisenrats (GWR) und die Übertragung seiner Geschäfte an das Kollegium notwendig geworden waren. Bis etwa 1902/1903 waren die Grundzüge dieser Neuordnung festgelegt. Im Zuge der Beratung des 1907 verabschiedeten Fürsorgegesetzes entbrannte dann eine kontroverse Debatte über die ehrenamtliche Mitarbeit von Frauen, die auch in der Öffentlichkeit ein breites Echo fand.
3.3.1.1 Die organisatorischen und personellen Veränderungen unter dem Direktorat Stalmann Schon unmittelbar nachdem das WHK 1892 das Kostkinderwesen von der Armenanstalt übernommen hatte, war die Notwendigkeit einer flächendeckenden Beaufsichtigung der im Stadtgebiet auf Staatskosten in Pflegefamilien untergebrachten Kinder deutlich geworden. Auch hierbei hatte eine Katastrophe als Beschleuniger gewirkt, die allerdings ganz andere Ausmaße hatte als die Waisenhausaffäre von 1885/86: Durch die Cholera-Epidemie vom Spätsommer 1892 waren quasi über Nacht fast 5.000 Kinder zu Voll- oder Halbwaisen geworden, und für etwa 700 von ihnen musste die öffentliche Waisenfürsorge dauerhaft einspringen.1 Allerdings wäre der Aufbau eines flächendeckenden Aufsichtssystems auch ohne die verheerenden Folgen der Seuche erforderlich geworden, denn gemessen an den etwa 3.000 Kostkindern, die das WHK von den Instituten der Armenanstalten übernommen hatte, fielen die 700 Cholera-Waisen nicht so sehr ins Gewicht.2 Der Entschluss, die Armenfürsorge organisatorisch strikt von der Waisenpflege zu trennen, verbot es, den ehrenamtlichen Apparat der Armenpflege auch weiterhin für die Beaufsichtigung der Kostkinder einzuspannen, wie dies in anderen deutschen Städten noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblich war.3 Da man aber mit der ehrenamtlichen, kollegialen Organisation der Armen1
Schröder [1966], S. 87 f. Schröders Einschätzung des Stellenwerts der Cholera für die Entwicklung der öffentlichen Waisenfürsorge ist in diesem Punkt uneindeutig. Einerseits relativiert er mit seinem Zahlenmaterial die langfristige Bedeutung der Epidemie für die Reorganisation der Waisenpflege, suggeriert aber gleichzeitig, dass erst die unerwarteten Folgen der Seuche dazu geführt hätten, dauerhafte und flächendeckende Lösungen für die Unterbringung und Beaufsichtigung noch relativ junger Kinder zu entwickeln (a.a.O., S. 88). 3 Anfangs hatte man die bisher als Vertrauensmänner, Kostkindervorsteher und -pfleger der Armenanstalten tätigen Männer vielfach als Waisenpfleger übernommen (a.a.O., S. 89). Auch eine Personalunion von Armen- und Waisenpflegern war nicht vollständig ausgeschlossen, kam aber wegen der vielfältigen Verpflichtungen und der unterschiedlichen Anforderungsprofile der beiden Ämter in der Praxis eher selten vor. 2
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pflege in Hamburg gute Erfahrungen gesammelt hatte, lag es nahe, das alte System kurzerhand auf die neue Aufgabe zu übertragen: Das Stadtgebiet wurde in Anlehnung an das Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte „Elberfelder Modell“ in gut 100 etwa gleichgroße „Distrikte“ unterteilt, die zu sechs „Kreisen“ zusammengefasst wurden.1 Die Distrikte entsprachen in etwa der Anzahl an Männern, die man für das neue Amt des Waisenpflegers gewinnen konnte, und wurden mit der Zeit allmählich vermehrt. Dennoch mussten die Waisenpfleger sämtliche Fälle übernehmen, die in ihren Distrikt fielen, ungeachtet der Tatsache, dass diese sich in bestimmten, bevölkerungsreichen Gebieten der Stadt häuften, während ihr Aufkommen in anderen Wohnvierteln nur sehr marginal war.2 Als Arbeitsgrundsätze der Pflegekinderüberwachung durch die ehrenamtlichen Waisenpfleger schälten sich mit den Jahren folgende Prinzipien heraus3: Bei der Auswahl der Pflegestellen sollte vor allem darauf geachtet werden, dass beide Eltern am Leben waren und dass ein „gesundes Familienleben [...], religiöser Sinn und gute Sitte herrscht“.4 Die Religionsbekenntnisse von Pflegeeltern und Pflegekind sollten übereinstimmen. Eine wichtige Voraussetzung für die Aufnahme eines Pflegekindes auf Kosten des Staates stellten außerdem geordnete wirtschaftliche Verhältnisse dar. Wer Armenunterstützung erhielt, durfte kein Kostkind bei sich aufnehmen. Ebenso musste für das Pflegekind ein eigenes Bett zur Verfügung gestellt werden. Einer „sittlichen Gefährdung“ sollte dadurch vorgebeugt werden, dass die Schlafräume noch junger Kinder von denen älterer Familienangehöriger strikt zu trennen waren. Ebenso sollten schon etwas ältere Jungen nicht mit gleichaltrigen Mädchen im selben Zimmer schlafen. Um eine wirksame Überwachung der Erziehung zu gewährleisten, sollten die Waisenpfleger sich durch regelmäßige Besuche, Ratschläge und tatkräftige Unterstützung das Vertrauen der Pflegekinder und Pflegeeltern erwerben. Eine Begrenzung der Anzahl der zu Beaufsichtigen Kinder gab hierfür den Rahmen ab. Darüber hinaus sollten die Waisenpfleger auf die Einhaltung der Tischgemeinschaft drängen, eine übertriebene Ausnutzung der Arbeitskräfte des Kindes verhindern, auf die Reinlichkeit von Körper und Haushalt achten sowie darüber wachen, dass die 1 Zur Unterscheidung von „Hamburger“, „Elberfelder“ und „Straßburger System“ in der öffentlichen Armenfürsorge vgl.: Hering/Münchmeier [2000], S. 30 ff. Im Hamburger Staatshandbuch von 1893 sind 113 städtische und 127 auswärtige Distrikte aufgelistet. Nach Schröder [1966], S. 89, waren zu Beginn der Neuordnung hingegen nur 106 ehrenamtlichen Waisenpfleger tätig. 2 Vgl.: Ebd, S. 113. 3 Die Arbeitsgrundsätze des Hamburger Systems der Familienpflege waren von Stalmann schon auf der DVAW-Jahrestagung 1899 in Breslau einer Fachöffentlichkeit vorgestellt worden und waren dort auf allgemeine Zustimmung gestoßen (Münsterberg [1905], S. 124 f. und ders. [1900], S. 6 f.). Rechtlich verankert waren die dargestellten Arbeitsprinzipien in den §§ 4 u. 18-38 der „GeschäftsOrdnung für die Waisenpfleger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg“ von 1900. 4 A.a.O., § 20.
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Schulanmeldung rechtzeitig erfolgte. Außerdem sollten sie dafür Sorge tragen, dass die Angehörigen zwar den Kontakt zu den Kindern aufrechterhalten konnten, die Besuche aber nicht zur „schlechten“ Beeinflussung derselben missbraucht würden. Analoges galt für die Überwachung derjenigen Jugendlichen, die nach ihrer Entlassung aus der Waisenpflege unter der gesetzlichen Vormundschaft des WHK verblieben und von diesem in ein Lehr- bzw. Dienstverhältnis vermittelt worden waren.1 Zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Jahr 1900 wurden die Aufgaben und – rudimentär und vorläufig – auch die Organisation der Hamburger Waisenpflege durch eine eigens erlassene Geschäftsordnung verbindlich geregelt.2 Notwendig geworden war diese Ordnung zum einen, weil die ehrenamtliche Waisenpflege bereits 1897 einen neuerlichen Aufgabenzuwachs zu verzeichnen hatte, indem ihr per Landesgesetz die laufende Überwachung der Privatkostkinder übertragen wurde, und zum anderen, weil die reichsweite Einführung des Gemeindewaisenrats (GWR) durch das BGB und FGG einer Regelung auf lokaler Ebene bedurfte.3 Die als Organ der Gerichtshilfe konzipierte Institution des GWR sollte drei zentrale Aufgaben wahrnehmen: die Benennung von Einzelvormündern (§ 1849 BGB), die fortlaufende Überwachung ihrer Tätigkeit im Bereich der Personensorge (§ 1850 BGB) sowie die Ausübung des allgemeinen Schutzauftrages gegenüber unmündigen, bei ihren Eltern lebenden Kindern (§ 1675 BGB). Senat und Bürgerschaft waren sich schnell einig geworden, dass zur Ausübung dieser Aufgaben in Hamburg nur eine Behörde in Frage kam: das WHK mit seinem weitverzweigten Netz an ehrenamtlichen Pflegern und Helfern.4
1 Die Unterstützung der Lehr- und Dienstherren in ihrer Ausbildungs- und Erziehungstätigkeit sollte auch hier durch den Schutz der Heranwachsenden vor Ausnutzung und schlechter Behandlung ergänzt werden. Die Minderjährigen sollten angehalten werden, ihren Lohn in die Sparkasse des Waisenhauses einzuzahlen. Durch in Aussicht gestellte Geschenke und Stipendien versuchte man die Jugendlichen außerdem zu Wohlverhalten und zielstrebigem Arbeiten anzuspornen. Über ihre Tätigkeit und ihre Beobachtungen hatten die Waisenpfleger in regelmäßigen Abständen – gewöhnlich im Halbjahresturnus – dem WHK schriftlich zu berichten. 2 „Geschäftsordnung für die Waisenpfleger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg“ von 1900. 3 Anders als die Kostkinder, die auf Staatskosten in Familienpflege untergebracht wurden, weil sie armenrechtlich hilfsbedürftig waren, wurden die „Privatkostkinder“ von ihren Eltern freiwillig und auf eigene Kosten in fremde Pflege gegeben. Zumeist handelte es sich um uneheliche Kinder, deren alleinstehende Mütter gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt außer Haus zu verdienen. Die Aufnahme von „Privatkostkindern“ galt bis Anfang der 1880er Jahre als gewöhnliches Gewerbe und war durch das Prinzip der Gewerbefreiheit vor jeglichem staatlichen Zugriff geschützt. Erst ein Reichsgesetz aus dem Jahre 1879 nahm die Verpflegung und Erziehung gegen Entgeld von der „Gewerbefreiheit“ aus. Die Ausübung dieser Tätigkeit wurde fortan von einer Konzessionierung abhängig gemacht, für die i.d.R. die kommunalen Polizeibehörden zuständig wurden (Schröder [1966], S. 91 ff.). 4 STAH 354-5 I, 24, Bl. 20 u. 22.
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Die 1899 erlassene Geschäftsordnung begnügte sich im Wesentlichen damit, die gesetzlichen Bestimmungen zur „dreifachen Obliegenheit“ der Waisenpflege – Beaufsichtigung der armenrechtlich unterstützten Familienpfleglinge, Überwachung der Privatkostkinder und Wahrnehmung der gemeindewaisenrätlichen Aufgaben – in allgemein verständliche Worte zu fassen und dadurch den Waisenpflegern und ihren Helferinnen einen systematischen Überblick über ihr Aufgabengebiet an die Hand zu geben. Allerdings enthielt sie auch einige Bestimmungen zur Organisation und zum Geschäftsverkehr der ehrenamtlichen Waisenpflege.1 Als einzige organisatorische Ebene der ehrenamtlichen Arbeit wurden in dem Regelwerke die „Kreise“ benannt.2 Ihre Zahl war gegenüber 1892 auf 12 verdoppelt worden. Parallel dazu hatte man die Kreise in ihrer Ausdehnung verkleinert. Jeweils ein bürgerliches Behördenmitglied fungierte jetzt als Vorsteher zweier „Kreise“. Alle Waisenpfleger, die in einem Kreis tätig waren, bildeten die „Kreisversammlung“. Für die auf vier Jahre gewählten männlichen Waisenpfleger war die Teilnahme an diesen viermal jährlich stattfindenden Sitzungen verpflichtend. Der Direktor des Waisenhauses nahm zwar ebenfalls teil, besaß aber nur ein beratendes Stimmrecht. Auf den „Kreisversammlungen“ sollten sowohl Einzelfragen in Bezug auf die praktische Tätigkeit als auch Fragen von allgemeinem Belang besprochen werden. Außerdem dienten sie der Verteilung der neu eingegangenen Fälle an die einzelnen Waisenpfleger, die ihrerseits die Gelegenheit bekamen, geeignete Personen für das Amt des „Vormundes“ und „Pflegers“ namhaft zu machen. Schließlich sollten – und hier trat der allgemeine Schutzauftrag hervor, den der Gesetzgeber im BGB dem GWR zugedacht hatte – auch Maßnahmen zum Schutz von Mündeln, Pfleglingen oder unter elterlicher Gewalt stehenden Minderjährigen erörtert und gegebenenfalls entsprechende Interventionen beim WHK angeregt werden. Es war vorgesehen, dass das WHK nach Besprechung der Sache die Anträge an die Vormundschaftsbehörde weiterleitete. In allen übrigen Fällen sollte der Verkehr zwischen dem Waisenrat und der Vormundschaftsbehörde sowie zwischen den Kreisvorstehern und den Waisenpflegern über den Direktor des Waisenhauses abgewickelt werden. Wenn in dringenden Fällen sofortige Schutzmaßnahmen erforderlich wurden, so mussten diese vom Präses der Behörde angeordnet werden. Die Regelung der Formen und Wege der Kommunikation zwischen den einzelnen Ebenen der öffentlichen Waisenfürsorge nahm nicht nur hier, sondern 1
Zusätzliche Aufschlüsse zur Kompetenzenverteilung und zum Aufbau der Waisenpflege zur damaligen Zeit liefert außerdem eine „Bekanntmachung betreffend Wahrnehmung der Geschäfte des Gemeindewaisenrats vom 2. Dezember 1899“ a.a.O., S. 37 u. STAH 354-5 I, 24, Bl. 13. 2 Die „Bekanntmachung ...“ nannte zwar auch schon die „Bezirke“ als neue Organisationseinheit. Aber dieser verfeinerten Gebietseinteilung entsprach kein eigenes Gremium. Es handelte sich dabei wie bei den „Distrikten“ nur um die den einzelnen Waisenpflegern zugewiesenen Arbeitsgebiete.
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insgesamt einen ganz zentralen Stellenwert in Stalmanns Bemühen ein, durch gezielte Strukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen die mit Inkrafttreten des BGB zu erwartende Ausdehnung „ambulanter“ Aufgaben in den Griff zu bekommen. Die Geschäftsordnung von 1900 wies in ihrem Anhang nicht weniger als 37 „gebräuchliche Geschäftsformulare“ aus – ein eindrücklicher Beleg dafür, wie sehr man sich auch in diesem Verwaltungszweig darum bemühte, administrative Abläufe zu rationalisieren und nachvollziehbar zu gestalten. In Vorbereitung auf das BGB waren schließlich auch die Bemühungen zur Rekrutierung neuer Waisenpfleger noch einmal intensiviert worden - mit durchaus beachtlichem Erfolg: Während Anfang 1900 gerade einmal 161 Waisenpfleger ihr Amt versahen, gelang es dem Direktor des WHK im Verlauf des Jahres, ihre Zahl auf 597 fast zu vervierfachen.1
3.3.1.2 Die organisatorische Weiterentwicklung der ehrenamtlichen Waisenpflege unter dem Direktorat Petersen Trotz all dieser Vorsorge- und Vorbereitungsmaßnahmen, die noch unter dem Direktorat Stalmann getroffen worden waren, um die Organisation der ehrenamtlichen Waisenpflege den neuen Anforderungen anzupassen, stellte sich in der Praxis schon bald heraus, dass es mit der Vermehrung und Verkleinerung der Kreise und der raschen Rekrutierung weiterer ehrenamtlicher Kräfte allein nicht getan war. Die Waisenpflege bedurfte vielmehr einer viel grundlegenderen Strukturreform, um den neuen Aufgaben gerecht zu werden. Dass diese Notwendigkeit zur umfassenden Strukturreform auch tatsächlich erkannt und ebenso zügig wie entschlossen in Angriff genommen wurde, hing vor allem mit einem Personalwechsel an der Spitze der öffentlichen Jugendfürsorge zusammen: 1900 hatte sich Stalmann wegen aufgedeckter Unregelmäßigkeiten in der amtlichen Buchführung das Leben genommen.2 Zum neuen Direktor wurde der promovierte Pädagoge, Bezirksvorsteher der Armenanstalt und ehemalige Leiter des Realgymnasiums Johanneum, Johannes Petersen, ernannt, der sich sowohl bei Senat und Bürgerschaft als auch in Fachkreisen schon nach kurzer Amtszeit ein einmaliges Renommee als ebenso kompetenter wie zielstrebiger Reformer auf dem 1 Vgl.: Verw.Ber. 1899 (XXXII, S. 12) u. 1900. Etwas abweichende Zahlenangaben finden sich bei Petersen [1911], S. 99 u. STAH 354-5 I, Jugendbehörde I, 27, Bl. 33 f. 2 In einem Abschiedsbrief hatte Stalmann als Motiv für seinen Freitod angegeben, dass er durch die Buchprüfer der unordentlichen und schlampigen Buchführung überführt worden sei und dadurch sein Leben verwirkt habe. Im Nachhinein wurder diese Selbstbezichtigung von offizieller Seite stark relativiert (Huvalé [1980], S. 39). Über die tatsächlichen Hintergründe der Tat lässt sich deshalb nur spekulieren („Hamburgische Correspondent“ vom 29.08.1900 u. STAH 111-1, Cl. VII Lit. Qc No. 3 Vol. 55 Fasc. 1).
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Gebiet der kommunalen Jugendfürsorge erwarb. Anders als viele seiner Fachkollegen, welche die preußische Institution des GWR schon nach kurzer Probezeit zur „Totgeburt“ erklärten, sah Petersen in ihr die eigentliche organisatorische Basis für alles weitere Streben.1 Anstatt die Institution durch öffentliche Kritik noch weiter in Misskredit zu bringen, versuchte Petersen sie zu nutzen, um dem Amt des Waisenpflegers mehr Autorität zu verleihen. Durch gezielte Stärkung selbstverantwortlichen Arbeitens und die langsame Erweiterung der Kompetenzen der Waisenpfleger hoffte er darüberhinaus, auch fachlich interessierte und motiviertere Männer für die Mitarbeit in der ambulanten Jugendfürsorge gewinnen zu können. Zu diesem Zweck schlug der neue Direktor im Sommer 1901 dem WHK in einem umfangreichen Bericht die konsequente Dezentralisierung der ehrenamtlichen Waisenpflege durch die Ablösung des bisher gültigen Distrikt- durch ein Bezirkssystem vor.2 Der größte Teil der Arbeiten, die bisher mehr schlecht als recht in den „Kreisversammlungen“ erledigt worden waren, sollte nach den von Petersen zu Papier gebrachten Vorstellungen auf die „Bezirke“ übertragen werden, die zukünftig als unterste Verwaltungsebene vorgesehen waren. Statt der rund 50 Pfleger, die bisher nur einmal im Vierteljahr unter dem Vorsitz der „Kreisvorsteher“ zu ihren Besprechungen zusammengekommen waren, sollten zukünftig acht bis zehn zu einem „Bezirk“ zusammengefasste Pfleger in monatlich stattfindenden Sitzungen über die ihrer Kontrolle unterstellten Kinder berichten, die eingehenden neuen „Fälle“ untereinander aufteilen sowie eventuelle Maßnahmen zum Schutz „gefährdeter“ Kinder erörtern.3 Die durch diese Form des Austausches bewirkte Individualisierung der Fallbearbeitung sollte durch ein neues Dokumentationsverfahren ergänzt werden. Für jedes betreute Kind sollte ein Personalbuch oder „Conduite“ angelegt werden, aus der das Betragen des jeweiligen Kindes, die Termine der stattgefundenen Besuche, etwaige Gefährdungsmomente usw. hervorgingen. Neben der Sicherstellung einer individuellen Fallbearbeitung versprach sich Petersen von einer solchen Arbeitsorganisation auch einen wechselseitigen Lerneffekt unter den Waisenpflegern. Er betonte, wie wichtig es sei, dass in jedem Bezirk mindestens 3-4 Lehrer vertreten seien. Wenig motivierte bzw. untätige Pfleger glaubte der Direktor auf diese Weise für die Arbeit interessieren oder – falls dies nicht fruchtete – „unschädlich“ machen zu können.4 1
Petersen [1909c]. STAH 354-5 I, 27, Bl. 30 ff. Anders als bei den „Distrikten“, die nur die Funktion hatten, die örtliche Zuständigkeit der Pfleger zu regeln, handelte es sich bei den „Bezirken“ um echte Verwaltungseinheiten, denen mit den „Bezirksversammlungen“ kollegial verfasste und selbständig arbeitende Verwaltungskörperschaften entsprachen. 3 Schröder [1966], S. 113. 4 STAH 354-5 I, 27, Bl. 30 ff. 2
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Es ist offensichtlich, dass sich Petersen bei seinen Vorschlägen von den Reformmaßnahmen leiten ließ, die zehn Jahre zuvor in der Armenpflege in Angriff genommen worden waren, und deren praktische Wirkung er selbst als ArmenBezirksvorsteher kennen gelernt hatte. Angesichts der dramatischen Veränderung der sozialen Umwelt, die von den beiden großen gesellschaftlichen Prozessen der Industrialisierung und Urbanisierung bewirkt worden waren, hatte man sich schon Anfang der 1890er Jahre im Hamburger Armenwesen mit ähnlichen Organisations- und Motivationsproblemen konfrontiert gesehen. Der reichsweit anerkannte Fürsorgeexperte Emil Münsterberg, den man eigens zur Lösung dieser Probleme in die Hansestadt geholt hatte, hatte daraufhin das „Elberfelder System“ mit seiner relativ starren Distrikteinteilung an die großstädtischen Verhältnisse anzupassen versucht, indem er eine dezentrale, den jeweiligen sozialen Verhältnissen angepasste Bezirksgliederung schuf.1 Je größer die sozialen Probleme in einem Quartier waren, desto kleinteiliger musste nach seiner Überzeugung auch die räumliche Aufteilung sein. Nur so war es möglich, dem auch in der Armenpflege an Einfluss gewinnenden Individualisierungsprinzip gerecht zu werden.2 Mit einer Novellierung der Geschäftsordnung aus dem Jahre 1902 wurden nahezu alle Reformvorschläge Petersens in die Tat umgesetzt und damit eine Organisationsstruktur geschaffen, die bis zum ersten Weltkrieg Bestand haben sollte.3 Die Stadt war jetzt in 73 Bezirke aufgeteilt. Hinzu kamen fünf katholische Bezirke, die den katholischen Kirchspielkreisen entsprachen, sowie ein jüdischer Bezirk.4 Im ganzen Stadtgebiet waren nunmehr (1903) 849 Waisenpfleger tätig, 1 Die Grundsätze der Neuorganisation waren allerdings bereits Ende der 1880er Jahre durch eine Kommission des Armenkollegiums umrissen worden, nachdem die 1885 auf Initiative des Bundesrates erstmals erhobene Reichsarmenstatistik die hohe Armenlast Hamburgs festgestellt hatte. Vgl.: „Commissions-Bericht betreffend Reorganisation des Armenwesens vom 11. Dezember 1889“ in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1891, S. 831-843. 2 Vgl. zu den Hintergründen der Armenreform der frühen 1890er Jahre und den von Münsterberg verfolgten Prinzipien ausführlich: Pielhoff [1999], S. 352 ff. Etwas undifferenziert dagegen Evans [1996], S. 140 u. 394. Zur Weiterentwicklung und Anpassung des „Elberfelder Modells“ an die großstädtischen Bedingungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts siehe auch: Hering/Münchmeier [2000], S. 30 ff. Der Armenbezirk 60, der die Stadtteile Rotherbaum und Harvestehude umfasste, war in seiner Ausdehnung fast hundertmal so groß wie die Armenbezirke der schlechteren Wohngegenden in Hafennähe (Pielhoff [1999], S. 353, Anm. 16). Ebenso wie Petersen hatte auch Münsterberg in der Stärkung der Entscheidungskompetenzen der Armenpfleger vor Ort bei gleichzeitiger Entlastung der untersten Organisationsebene von zeitaufwendigen Verwaltungsaufgaben durch den Aufbau einer professionellen Zentralverwaltung den wichtigsten Hebel für eine Wiederbelebung der ehrenamtlichen Tätigkeit gesehen, und selbst bei der Qualifizierung und fachlichen Anleitung seiner ehrenamtlichen Helfer konnte sich der Pädagoge Petersen an Münsterbergs Vorbild orientieren. 3 Vgl.: „Geschäftsordnung für die Waisenpfleger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg“, Hamburg 1902. 4 Hbg. StaHB 1904, S. 136 ff.
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das heißt durchschnittlich etwa elf pro Bezirk. Die Kreiseinteilung war auf Wunsch des WHK beibehalten worden, aber die Zahl der Bezirke, die von den jeweiligen Kreisen umschlossen wurden, variierte jetzt nach der Bevölkerungsdichte und trug somit dem beschleunigten sozialen Segregationsprozess Rechnung, dem das städtische Leben unterlag.1 Der Kreis 4 etwa, der St. Georg und die nördlich gelegenen Teile des Hammerbrooks umschloss, zerfiel in ebenso viele Bezirke wie der Kreis 11, der flächenmäßig den Stadtteilen Rotherbaum, Eppendorf und Winterhude entsprach und damit fast sechsmal so groß war wie ersterer. In Harvestehude, dem Nobelviertel an der Alster, hatte man erst gar keinen Bezirk eingerichtet, weil das Aufkommen an Kindern und potenziellen Fürsorgefällen hier offenbar zu gering war. Man kann den Zusammenhang zwischen Bezirksgröße und Fallaufkommen allerdings auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten: Mit der Kleinteiligkeit der Zuständigkeitsgebiete stieg auch die durch die ehrenamtliche Waisenpflege ausgeübte Kontrolldichte an, und diese war ihrerseits ein Hauptgrund für die Produktion immer neuer Fälle.2 Im Verlauf der folgenden fünf Jahre hatte sich die Bezirksorganisation offenbar so bewährt, dass man die Zeit für ihre gesetzliche Grundlegung für gekommen hielt. Das 1908 in Kraft getretene „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige“ übernahm fast sämtliche Bestimmungen der Geschäftsordnung von 1902, und wie zur Unterstreichung des erstarkten Selbstbewusstseins der Zentralverwaltung und ihres dichten Netzes an ehrenamtlichen Helfern wurde noch eine wichtige Regelung hinzugefügt: Nach § 14 drohten allen (Kost)Eltern empfindliche Geld- oder sogar Haftstrafen, wenn sie der Kontroll- und Ermittlungstätigkeit der Waisenpfleger Widerstand entgegensetzten oder den Zutritt zu ihren Wohnung verweigerten.3
3.3.1.3 Soziale Zusammensetzung und defensive Feminisierung der ehrenamtlichen Waisenpflege 1900-1914 Angesichts der großen Verbreitung des Ehrenamtes des Waisenpflegers, der hohen fachlichen Anforderungen, die an die Inhaber gestellt wurden und der zentralen Rolle, die ihm bei der Wahrnehmung des waisenrätlichen Schutzauftrages zugedacht war, ist es interessant, einen Blick auf die Entwicklung der berufs1
A.a.O., S. 100. Auf den Zusammenhang von Kontrollintensität und der geografischen Verteilung abweichenden Jugend- und Erziehungsverhaltens wird weiter unten, S. 486 in Teil 4, noch einmal zurückzukommen sein. 3 Vgl. §§ 10-14 des „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige vom 11. September 1907“ in: Gesetzsammlung FHH, 44/1907, S. 231-234. 2
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und geschlechtsspezifischen Zusammensetzung der ehrenamtlichen Waisenpflege in den Jahren 1892 bis 1914 zu werfen. Über die soziale Herkunft der ehrenamtlichen Mitarbeiter der Waisenpflege der ersten Jahre ist kaum etwas bekannt. Allerdings kann als sicher gelten, dass sie fast durchgehend der unteren Mittelschicht angehörten. Zieht man den Hamburgischen Staatskalender von 1893 zu Rate, in dem die damals noch als „Vertrauensmänner“ bezeichneten Pfleger mit Namen und zum Teil auch mit ihrem Beruf verzeichnet wurden, so stellte anfänglich die Lehrerschaft die weitaus meisten Waisenpfleger.1 Bei 48 von 113 Vertrauensleuten wurde als Berufsbezeichnung „Haupt-“ bzw. „Oberlehrer“ oder einfach nur „Lehrer“ angegeben. Auch Pastoren waren fast in jedem der sechs Kreise vertreten, stellten allerdings im Vergleich zu den Pädagogen eher eine Randgruppe dar. Bei den übrigen dürfte es sich hauptsächlich um Geschäftsinhaber und sonstige kleinere Gewerbetreibende, Beamte sowie Vertreter der freien Berufe gehandelt haben. Grafik 3:
Berufl. Zusammensetzung der Hamburger Waisenpfleger, 1899. Berufliche Zusammensetzung der ehrenamtl. Hamburger Waisenpflege, 1899 (n=597)
Lehrer und Beamte 23%
Kaufleute u. Gewerbetreibende 70%
Geistliche/ Stadtmissionare 7%
Schon etwas detailliertere Angaben liegen über die hauptberufliche Stellung derjenigen Waisenpfleger vor, die im Verlauf des Jahres 1899 für das Amt gewonnen werden konnten. Wie Grafik 3 zeigt, stellten Kaufleute und Gewerbetreibende den weitaus größten Teil der 597 Waisenpfleger, die Ende des Jahres am1
Hbg. StaHB 1893, S. 135 ff.
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Die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg
tierten. Die Rekrutierungsoffensive von 1899 war also ganz offensichtlich zu Lasten der Lehrer gegangen, die nach Stalmanns Überzeugung eigentlich die besten Voraussetzungen für die Ausübung des Amtes mitgebracht hätten. Zusammen mit anderen Beamten und Geistlichen machten sie nicht einmal mehr ein Drittel aller ehrenamtlichen Kräfte aus. Zehn Jahre später hatte sich das Bild allerdings noch einmal deutlich gewandelt (vgl. Grafik 4). Offensichtlich waren Petersens Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen, vor allem Angehörige solcher Berufsgruppen für die Arbeit zu gewinnen, die eine besondere Vorbildung im erzieherischen Bereich – wie im Falle der Lehrer – bzw. ein spezifisches Dienstethos und eine gewisse Vertrautheit mit verwaltungstechnischen Abläufen und Verfahrensweisen – wie im Falle der Beamten – mitbrachten. Zumindest war der Anteil der Kaufleute und Gewerbetreibenden trotz erheblicher Steigerung der absoluten Mitarbeiterzahlen im Vergleich zu 1899 um mehr als 10 Prozent zurückgegangen, während die GrupGrafik 4:
Berufl. Zusammensetzung der Hamburger Waisenpfleger, 1911. Berufliche Zusammensetzung der ehrenamtl. Hamburger Waisenpflege, 1911 (n=1077)
Kaufleute u. Gewerbetreibende 58% Lehrer 19%
Beamte 17% Geistliche/ Stadtmissionare 3% Anwälte/Richter 1% freie Berufe 2%
pe der Lehrer und Beamten fast um den gleichen Prozentwert zulegte. Die „Lücken“ füllten die freien Berufe sowie die Richterschaft aus, deren Beteiligung an der Waisenpflege allerdings marginal blieb. Bemerkenswert ist schließlich, dass der Anteil der Pastoren und Stadtmissionare im genannten Zehnjahres-Zeitraum noch einmal deutlich zurückgegangen
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war. Ob dies allerdings Folge einer bewussten Personalpolitik oder vielmehr dem Umstand geschuldet war, dass die Zahl der Geistlichen insgesamt beschränkt war und sich deshalb auch ihre Einbeziehung in die ehrenamtliche Tätigkeit der Jugendfürsorge nicht beliebig steigern ließ, lässt sich nicht mehr feststellen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war und blieb sowohl die hauptberufliche, bezahlte als auch die ehrenamtliche Tätigkeit in der Waisenpflege eine männliche Domäne. Der personelle Ausbau des Arbeitsfeldes wurde allerdings begleitet von einem Prozess defensiver Feminisierung, der insbesondere im Bereich der ehrenamtlichen Beschäftigung von einer intensiven Diskussion über die Vorzüge und Nachteile einer stärkeren Einbeziehung des „weiblichen Elements“ in die Fürsorgearbeit begleitet wurde. Das festangestellte Behördenpersonal war, wie die oben angeführten Dienstränge und -bezeichnungen bereits andeuteten, durchgehend männlich. Zwar war im Waisenhaus in Uhlenhorst schon seit langem weibliches Hauswirtschafts-, Pflege- und Aufsichtspersonal beschäftigt worden. Verant wortungsvollere Tätigkeiten, zumal solche, die in der Öffentlichkeit ausgeübt wurden und dadurch einen gewissen Repräsentationswert hatten, waren aber immer noch den Männern vorbehalten geblieben. An diesem Zustand sollte sich bis 1914 auch nichts Grundlegendes ändern. Gleichwohl gab es Anfang des 20. Jahrhunderts eine eher versteckte, aber deshalb nicht minder folgenreiche Zäsur, die als erster Schub einer beginnende Feminisierung der beruflichen Hilfstätigkeit im „öffentlichen Dienst“ gelten kann: 1904 wurden für die Überwachung der Pflege junger Kostkinder sechs Kinderschwestern angestellt. Zu dem Entschluss, weibliches Pflegepersonal zu beschäftigen, war das WHK nicht aus freien Stücken gelangt. Wieder einmal hatte ein kleiner Skandal als Auslöser von Professionalisierungsmaßnahmen gewirkt. Im Jahr zuvor hatte nämlich der „Fall Wiese“ eine öffentliche Diskussion über die Leistungsfähigkeit der behördlichen Überwachung des Kostkinderwesens ausgelöst. Ungeachtet der Beaufsichtigung durch das WHK war es einer Pflegemutter gleichen Namens gelungen, ohne behördliche Erlaubnis aber gegen Bezahlung gleich mehrere Kinder bei sich aufzunehmen. Fünf von ihnen wurden wenig später tot aufgefunden.1 Die Anstellung der Kinderschwestern war das offizielle Eingeständnis, dass die bisher fast ausschließlich von Männern im Ehrenamt ausgeübte Beaufsichtigung des Kost- und Haltekinderwesens nicht (mehr) ausreichte, um Missständen wirksam vorzubeugen. Gleichzeitig war sie Ausdruck der Überzeugung, dass sich mit speziell ausgebildetem, bezahltem weiblichen Hilfspersonal hier bessere Ergebnisse erzielen ließen. Die teilweise Professionalisierung der Kostkinderüberwachung des Hamburger WHK stellte einen ersten Schritt zur Adaption des 1
Schröder [1966], S. 111 u. BlHWpfl. 3/1904, S. 48 f.
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so genannten Leipziger bzw. Taubeschen Systems dar.1 Die 1824 gegründete Leipziger Ziehkinderanstalt hatte schon Ende der 1850er Jahre neben einem Arzt eine besoldete Pflegerin zur Beaufsichtigung unehelicher Halte- bzw. Kostkinder beschäftigt.2 Unter dem Mediziner Max Taube, der 1883 die Leitung der Anstalt übernahm, war die Überwachung der unehelichen Kinder systematisch ausgebaut und parallel dazu die Zahl der Pflegerinnen immer weiter erhöht worden. 1913 waren nicht weniger als 36 „Aufsichtspflegerinnen“ für die Leipziger Ziehkinderanstalt tätig.3 Obwohl der einflussreiche DVAW bereits seit 1900 unter seinen Mitgliedern für eine Nachahmung des „Leipziger Systems“ warb, hatte Petersen noch zwei Jahre vor Bekanntwerden der tragischen Ereignisse im „Fall Wiese“ geglaubt, auf den „kostspieligen Apparat besoldeter Pflegerinnen“, den sich die sächsische Großstadt leistete, verzichten zu können.4 Statt dessen wollte er das ehrenamtliche Engagement von Frauen in der Hamburger öffentlichen Waisenpflege stärken. Aber wie sich herausstellte, war auch die Förderung der ehrenamtlichen Tätigkeit von Frauen in Hamburg ein Politikum, das ein hohes Maß an taktischem Gespür gegenüber den Befindlichkeiten der männlichen Hilfsorgane erforderte. Als „Helferinnen“ waren Frauen in der ambulanten Waisenpflege bereits ab 1897 stillschweigend zugelassen worden. Begründet wurde diese Duldung der subalternen Mitarbeit von Frauen damit, dass nach Inkrafttreten des Privatkostkindergesetzes immer mehr die Notwendigkeit zu Tage getreten sei, „zur Beaufsichtigung von kleineren Kindern und Mädchen auch weibliche Hülfskräfte heranzuziehen“.5 Die Öffnung hatte also mit der veränderten Zusammensetzung der zu beaufsichtigenden Kinder, vor allem der Herabsetzung ihres Alters zu tun gehabt.6 Dass man Frauen in der Erziehung und Pflege kleiner Kinder mehr 1
Studders [1919]. Die zeitgenössischen Begriffe „Zieh-“, „Halte-“ und „Kostkinder“ hatten weitgehend synonyme Bedeutung. Während man in Preußen und im norddeutschen Raum von „Kostkindern“ sprach, wenn es um die bezahlte, gewerbsmäßig ausgeübte Verpflegung und Betreuung von Kindern im Haushalt fremder Personen ging, war in Mittel- und Süddeutschland der Begriff „Ziehkinder“ gebräuchlich. Über den familienrechtlichen Status der betreuten Kleinkinder sagten beide Bezeichnungen im Grunde genommen nichts aus. Bei einem Großteil der Zieh- und Haltekinder handelte es sich allerdings um uneheliche Jungen und Mädchen. 3 Studders [1919], S. 49. Neben den fortlaufenden Kontrollbesuchen bestand ihre wichtigste Aufgabe in der Assistenz bei den einmal wöchentlich abgehaltenen zentralen Sprechstunden, in denen alle neu aufgenommen Ziehkinder angemeldet und zur Überprüfung ihres Gesundheitszustandes vorgestellt werden mussten. 4 STAH 354-5 I, 27, Bl. 30. 5 STAH 354-5 I, 24, Bl. 24. 6 Fast zeitgleich hatte sich die Hamburger Ortsgruppe des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ der Polizei für die ehrenamtliche Mitarbeit bei der Überprüfung der Pflegestellen angedient, die dieses Angebot offenbar dankbar über mehrere Jahre hinweg in Anspruch nahm (Pielhoff [1999], S. 501). 2
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Sachverstand und Augenmaß zutraute als Männern, entsprach dabei ganz der gängigen Aufgabenverteilung innerhalb der bürgerlichen Familienerziehung. Bei den „Helferinnen“ handelte es sich offenbar auch fast ausschließlich um die Ehefrauen der Waisenpfleger, die diesen die „leichteren“ Fälle abnahmen.1 In der Geschäftsordnung von 1900 wurden die Dienste der Frauen zum ersten Mal auch offiziell gewürdigt, indem man die Amtsbezeichnung „Helferin der Waisenpflege“ einführte und ihre Hinzuziehung in all jenen Fällen empfahl, „für welche das Auge und Verständniß einer Mutter erforderlich oder erwünscht ist“.2 Am Ende des des Jahres 1900 waren bereits 198 Frauen in entsprechender Stellung für die Waisenpflege tätig, das heißt sie machten gut ein Viertel aller ehrenamtlichen Kräfte aus.3 Vermutlich gerade wegen dieses starken Vordringens der Frauen wollten weder das Kollegium noch die männlichen Kollegen selbst etwas von einer vollständigen Gleichstellung der Geschlechter in der Jugendfürsorge wissen. Man hielt es für selbstverständlich, dass die „Helferinnen“ nur so lange und in einem solchen Umfange tätig waren, wie die (Ehe-)Männer dies ausdrücklich wünschten. Außerdem sollten sie sich strikt an deren Anweisungen halten, weil ansonsten zu befürchten stand, „daß sie, wie jetzt theilweise, allzu intensiv in alle möglichen Verhältnisse, die ihrer Beurtheilung besser nicht unterstellt werden, eingreifen“.4 Auch Petersen, der den Nutzen und die besondere Eignung von Frauen für die Waisenpflege schon früh erkannt hatte, teilte diese Auffassung. Er versuchte die weiblichen Emanzipationsbestrebungen abzubremsen und nach seinen Vorstellungen umzulenken. 1903 hieß es in den „Blättern“ hierzu: „Die Natur des Weibes weist sie auf die Kinderfürsorge hin. Nicht nur erscheint sie berufen, dem äußeren Wohlergehen der Kinder ihre Aufmerksamkeit zu widmen, auf Körperpflege, Gesundheit, Reinlichkeit zu achten, sondern ganz besonders auch, die Vertraute der Kinder zu sein, eine Trösterin bei kleinen und großen Leiden, eine Beraterin und Helferin in allen Lebenslagen. Namentlich kann die Frau gegenüber den heranwachsenden Mädchen eine segensreiche Tätigkeit entfalten. Gewiß wird es oftmals einer Frau leichter, das Vertrauen der erwachsenen Mädchen zu erringen, als dem Manne. – Wir wissen, daß manche unserer Herren Vertrauensmänner sich der Hülfe ihrer Gattinnen in ihrer Arbeit an den Waisenhauszöglingen bedienen. Wir danken ihnen ganz besonders dafür und haben den Wunsch, daß recht vielfach dieses Beispiel nachgeahmt werde. In einem Fall ist es zu unserer Kenntnis gekommen, daß unser Vertrauensmann der Gemeindeschwester die Fürsorge für unsere Mäd1
Ebd. § 3 der „Geschäfts-Ordnung für die Waisenplfeger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg“, Hamburg 1900. 3 Vgl.: Petersen [1911], S. 100. 4 STAH 354-5 I, 27, Bl. 30. 2
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chen besonders ans Herz gelegt hat. Auch diese Art der Unterstützung kann uns nur Willkommen sein. – Selbstverständliche Voraussetzung bleibt in allen diesen Fällen, daß diejenigen Damen, welche für uns arbeiten wollen, dieses nur im Auftrage und in dauerndem Einverständnis mit unserem Vertrauensmann tun, dem Vertrauensmann muß es auch vorbehalten bleiben, den regelmäßigen Verkehr mit dem Waisenhause zu suchen."1
Wenn diese Haltung auch mehr oder weniger bewusst an die von der bürgerlichen Frauenbewegung entwickelte Konzeption der „geistigen Mütterlichkeit“ anknüpfte, mit der die Ungleichheit der Geschlechter empathisch betont und die besondere Kulturmission der Frauen im sozialen und erzieherischen Bereich hervorgehoben wurde, so war die Verweigerung der formellen Gleichstellung doch weder für den radikalen noch für den gemäßigten Flügel innerhalb der Frauenbewegung akzeptabel, denn sie verstieß in eklatanter Weise gegen die geforderte Gleichbewertung des männlichen und weiblichen Prinzips.2 Ohne sichtbaren Erfolg hatten bereits 1900, als die zukünftige Organisation des GWR zur Beratung stand, die Hamburger Ortsgruppe des „Allgemeinen Deutschen Frauenvereins“ – in der die gemäßigten Frauen organisiert waren – und die im „Hamburger Zweigverein der britischen, kontinentalen und allgemeinen Föderation“ organisierten radikaleren Abolitionistinnen um Lida Gustava Heymann in einem gemeinsamen Gesuch die angemessene Vertretung des „weiblichen Elements“ in der Waisenpflege gefordert.3 Vier Jahre später richtete der „Verein Frauenwohl“, der zur Speerspitze der radikalen Feministinnen gehörte und sich erklärtermaßen nicht mit der Anerkennung der Frauen im Bereich der sozialen und pädagogischen Arbeit zufriedengeben wollte, eine entsprechende Petition an den Bürgerschaftsausschuss, der mit der Beratung des „Gesetzentwurfes über die öffentliche Fürsorge Minderjähriger“ befasst war.4 Unter Bezugnahme auf eine im gleichen Jahr durchgeführte Erhebung des „Verbandes 1
BlHWPfl., 2/1903, Heft 5. Vgl. zum Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ und seiner Diskussion in der bürgerlichen Frauenbewegung des Kaiserreichs: Sachße [1986], S. 110 ff. 3 STAH 241-1 I, I Cd 2 Vol. 8 a. Zu den unterschiedlichen Lagern der Frauenbewegung in Hamburg während des Kaiserreichs vgl.: Deutelmoser/Ebert [1981]. Schon 1897 hatte sich Heymann in einem Brief an den Nachfolger Münsterbergs im Amt des Direktors der Armenanstalt Buehl gewandt, der den Frauen eine ähnlich subalterne Stellung in der Armenfürsorge angeboten hatte: „Kaum hielt ich es für möglich, daß man am Ende des 19. Jahrhunderts einer Frau anbietet, Handlangerin des Mannes zu werden, und zu tanzen wenn dieser pfeift [...]. Die Stellungen, welche man den ‚Hamburger Damen’ anbietet, sind eine Schmach, ich hege nun den einen Wunsch, daß Hamburgs Frauen auf dem Posten sind, die so etwas vereiteln.“ Zit. nach: Pielhoff [1999], S. 489. In der Resolution der Jahresversammlung des DVAW von 1900 war die Hinzuziehung von Frauen zur öffentlichen Waisenpflege ebenfalls bereits als „dringendes Bedürfnis“ bezeichnet worden (Münsterberg [1905], S. 122). 4 Vgl.: STAH 121-3 I, C 893, Heft 5. 2
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fortschrittlicher Frauenvereine“, welche die Fortschritte, aber auch die gesetzlichen und mentalen Barrieren auf dem Weg zu einer vollwertigen Eingliederung der Frauen in die öffentliche Armen- und Waisenpflege in den größten deutschen Kommunen dokumentierte, wandte sich der Verein dezidiert gegen die Absicht von Senat und Bürgerschaft, die gleichberechtigte Zulassung von Frauen zum Amt des Waisenpflegers von der Zustimmung einer Dreiviertel-Mehrheit in den Bezirksversammlungen abhängig zu machen.1 Erhalte eine solche Regelung Gesetzeskraft, so argumentierten die Verfasserinnen, würde die Aufnahme von Frauen nicht von deren Eignung und Arbeitsleistung, sondern von den mehr oder weniger willkürlichen Stellungnahmen und Voreingenommenheiten der männlichen Pfleger abhängig gemacht. Bemerkenswerterweise verwiesen sie außerdem auf die im selben Jahr erfolgte Anstellung der besoldeten Kinderpflegerinnen, die doch der Ausdruck der Erkenntnis sei, „daß die weiblichen Eigenschaften und Fähigkeiten den psychischen und körperlichen Bedürfnissen der Waisenkinder nutzbar gemacht werden müssen“. Die praktische Bewährung der Frauen in gleichberechtigten Positionen, davon waren die Vertreterinnen des „Verein Frauenwohl“ überzeugt, würde die Vorurteile der Männer schnell zum Schmelzen bringen. Auch dieser zweite Anlauf zur Gleichstellung der Frauen in der ehrenamtlichen Waisenpflege Hamburgs, der in der Bürgerschaft nur von den Vertretern der Sozialdemokratie und der Fraktion der Linken unterstützt wurde, führte nicht zum gewünschten Erfolg.2 Hartnäckiger noch als in der Armenpflege, in welcher 1907 zumindest eine beschränkte Anzahl von Frauen mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die Männer zum Pflegeamt zugelassen wurde, hielt sich in der Waisenpflege der Widerstand gegen die vollwertige Einbeziehung von weiblichen Hilfskräften. In seinen offiziellen Verlautbarungen rechtfertigte Petersen die verweigerte Gleichstellung mit der Rücksichtsnahme gegenüber den Befindlichkeiten der männlichen Pfleger. Das Kollegium, so erklärte er in den „Blättern“, müsse darauf bedacht sein, dass die Arbeit auf dem Gebiet der Waisenpflege nicht durch Widerstände gegen einschneidende Neuerungen gefährdet werde. Weil aber die gleichberechtigte Mitarbeit der Frauen „nicht überall mit ungeteiltem Beifall von den Männern aufgenommen worden“ sei, habe er sich 1
Welczeck [1904]. Hamburg hatte offenbar auf die Anfrage nicht geantwortet. Zumindest war in der Aufstellung eine Antwort der Hamburger Behörden nicht mit aufgeführt, woraus man indirekt auf die relative Rückständigkeit der Hansestadt in der Gesamtentwicklung schließen kann. Vgl.: hierzu auch: „Rundfrage und Petition des Verbandes Fortschrittlicher Frauenvereine an die Magistrate Deutscher Städte, Anstellung von Armen- und Waisenpflegerinnen betreffend“ in: Die Jugendfürsorge 6/1904, S. 367 f. 2 Vgl. hierzu: STAH 121-3 I, C 893, 3. Sitzung des Bürgerschaftsausschusses zur Prüfung der Entwürfe der Gesetze über die Zwangserziehung Minderjähriger, über die öffentliche Fürsorge derselben und über das Armenwesen vom 21. März 1905.
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für gesetzliche Kautele stark machen müssen, um die Kontinuität der Arbeit sicherzustellen.1 Wiederholt und offenbar nicht ganz zu unrecht machte Petersen überdies geltend, dass die Mehrheit der „Helferinnen“ selbst nicht an einer vollen rechtlichen Gleichstellung interessiert sei, die neben Rechten eben auch zahlreiche unliebsame Pflichten mit sich brächte. Vor allem sei fraglich, ob sich „allgemein die Frauen, welche zwar gern den Kindern oder den Pflegeeltern beratend und helfend zur Seite stehen, der den Waisenpflegern obliegenden Pflicht des Besuchs der Bezirksversammlungen ohne Widerstreben folgen und so aus der Stille der Pflegetätigkeit in die mehr öffentliche Arbeit der vorwiegend von Männern besuchten Versammlungen treten würden".2 Die taktischen Rücksichten auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Befindlichkeiten und Wünsche der Waisenpfleger und ihrer weiblichen Handlangerinnen waren aber nur die eine Seite der Medaille. In internen Stellungnahmen und Veröffentlichungen vertrat Petersen nach wie vor die Auffassung, dass auch inhaltliche Gründe einer weiterführenden Einbeziehung der Frauen in die Waisenpflege entgegenstanden. Sein Standpunkt in dieser Angelegenheit fand auch Eingang in die Motive zum Jugendfürsorgegesetz, in denen es in Abgrenzung zur Tätigkeit des Armenpflegers unter anderem hieß: „Der Waisenpfleger begegnet manchmal einem gewissen Widerstande, zu dessen Überwindung die Aufbietung der ihm beiwohnenden amtlichen Autorität erforderlich ist. Die Tätigkeit der Frauen auf dem Gebiete der Waisenpflege wird deshalb, wenn man die Frauen nicht unter Umständen unliebsamen Kollisionen aussetzen 1 BlHWpfl. 7/1908, Heft 2. Im zur Prüfung des Gesetzes eingesetzten Bürgerschaftsausschuss sprach er sich noch deutlicher aus: „Wenn von der Unbefriedigung der Frauen gesprochen werde, so bestehe dieselbe s. Erachtens nur bei den Frauen, die den Frauen-Vereinen nahe ständen. [...] Die Abneigungen der männlichen Pflegeorgane gegen die gleichberechtigte Teilnahme der Frauen sei so groß, daß bei Durchführung der Gleichberechtigung vielleicht die ganze ehrenamtliche Arbeit zusammenbrechen könne.“ Vgl.: STAH 121-3 I, C 893, 8. Sitzung des Bürgerschaftsausschusses zur Prüfung der Entwürfe der Gesetze über die Zwangserziehung Minderjähriger, über die öffentliche Fürsorge derselben und über das Armenwesen vom 20. Oktober 1905. 2 Tatsächlich gab es recht konkrete Hinweise darauf, dass den Frauen der Besuch der Bezirksversammlungen unangenehm war. Aber dies lag nur z.T. an ihrem öffentlichen Charakter und an der Überzahl der Männer an sich. Vielmehr hatten die Versammlungen neben dem amtlichen auch einen ausgesprochen geselligen Charakter, und gerade hier wurde die Anwesenheit von Frauen offenbar als störend empfunden. Aus dem (katholischen) Bezirk 76, der schon vor 1907 Erfahrungen mit der Beteiligung von Frauen an den Bezirksversammlungen gesammelt hatte, wurde beispielsweise berichtet: „Die Damen erscheinen pünktlich, geben, wenn an sie die Reihe kommen, bescheiden ihre Berichte ab und verlassen alsbald die Versammlung, während die Herren noch gemütlich verweilen.“ Zit. nach: Pielhoff [1999], S. 499. Verstärkt wurde dieses beiderseits empfundene Gefühl der Deplaziertheit offenbar noch durch den Umstand, dass es sich bei den „Helferinnen“ nach wie vor mehrheitlich um Ehefrauen von Waisenpflegern handelte. Die selbstbewusste Teilnahme an den öffentlichen Sitzungen setzte somit eine zweifache Emanzipation voraus: die Befreiung aus dem klassischen Rollenmodell der Ehe und die Behauptung in einer Öffentlichkeit, die von Männern dominiert wurde.
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will, im wesentlichen in einer Unterstützung der männlichen Waisenpfleger auf denjenigen Gebieten bestehen müssen, auf welchen diese auf weiblichen Rat und weibliche Hülfe angewiesen sind“.1
Was hier als fürsorglicher Schutz der Frauen formuliert wurde, war im Grunde genommen nur die Kehrseite der Idee der „geistigen Mütterlichkeit“. Wenn das dominierende Kennzeichen der weiblichen Natur in Vertraulichkeit, Emotionalität und Nachgiebigkeit bestand, so waren Frauen für die vorherrschenden kontrollierend-konfrontativen Aufgaben der Waisenpflege kaum zu gebrauchen. Die ablehnende Haltung der um ihre Privilegien fürchtenden Männer, die gesetzlichen Kautelen gegen ein Überhandnehmen weiblichen Engagements und nicht zuletzt die enttäuschten Erwartungen der Frauen selbst führten dazu, dass auch nach Inkrafttreten des Fürsorgegesetzes von 1907 Frauen unter den ehrenamtlichen Waisenpflegekräften nur eine verschwindend geringe Minderheit ausmachten. Zwar war ihr Anteil mit 4 Prozent im Jahre 1910 im Vergleich zur Armenpflege noch günstig, was man als Indiz für das besondere Interesse der Frauen an der Fürsorge für Minderjährige werten kann. Aus der Sicht der Frauenrechtlerinnen, welche die Hamburger Situation mit derjenigen anderer deutscher Großstädte verglichen, war das Ergebnis ihrer langjährigen Bemühungen gleichwohl niederschmetternd.2 Von den Hoffnungen und Erwartungen, die Emil Münsterberg Anfang der 1890er Jahre als Direktor der Allgemeinen Armenanstalt mit seiner Forderung nach einer vollwertigen Einbeziehung der Frauen in die ehrenamtlich organisierte offene Fürsorgetätigkeit geweckt hatte, war kaum noch etwas übrig geblieben. Erst der Krieg, der nicht nur Lücken in die Reihen der männlichen Waisenpfleger schlug, sondern auch die jugendfürsorgerischen „Notlagen“ entscheidend vermehrte, sollte eine grundlegende Veränderung der Situation mit sich bringen.
3.3.2 Neue Tätigkeitsfelder der öffentlichen Jugendfürsorge Mit der gesetzlichen Verankerung des Bezirkssystems in der Waisenfürsorge 1907 und der zeitgleich erfolgten Absegnung der restriktiven Regelung zur weib1
STAH 241-1 I, I Cd 2 Vol. 7, Bl. 39. Die Bewertung der Stellung von Frauen in der Hamburger Waisenpflege im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten fiel uneinheitlich aus. Während die Vertreter der Allgemeinen Armenanstalt betonten, dass Hamburg mit der vorsichtigen Öffnung der Waisenpflege für die Frauen durchaus keinen Einzelfall darstelle, erweckten die Frauenvereine in ihren Petitionen den Eindruck, Hamburg sei das Schlusslicht einer allgemeinen Entwicklung. Vgl. hierzu: STAH 121-3 I, C 893, 8. Sitzung des Bürgerschaftsausschusses zur Prüfung der Entwürfe der Gesetze über die Zwangserziehung Minderjähriger, über die öffentliche Fürsorge derselben und über das Armenwesen vom 20. Oktober 1905. 2
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lichen Mitarbeit durch die Bürgerschaft stand im Prinzip das organisatorische Gerüst der Hamburger öffentlichen Waisenpflege. In den folgenden Jahren konnte sich die Zentralverwaltung deshalb verstärkt der inhaltlichen Arbeit zuwenden. Die flächendeckende Einrichtung der ehrenamtlichen Waisenpflege bot eine solide Grundlage für eine sukzessive Erweiterung der Kompetenzen des WHK und – in späteren Jahren – der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“. Gemäß der Absicht Petersens, die Attraktivität des Amts des Waisenpflegers durch die Übertragung immer weiterer und fachlich interessanterer Tätigkeiten zu steigern, wurde die ehrenamtliche Waisenpflege systematisch für die Wahrnehmung fast sämtlicher neu übernommenen Aufgaben eingespannt. Es lassen sich zwei Wege unterscheiden, auf denen das WHK im Laufe der Jahre zu neuen Aufgaben gelangte. Zum einen übernahm es unter fachlichen und/oder Effizienzgesichtspunkten Tätigkeitsfelder von anderen Behörden. Hier handelte es sich also im eigentlichen Sinn um eine „Zentralisierung“ von Aufgaben und Funktionen, die allerdings in der Regel auch mit einer Neudefinition und fachlichen Aufwertung der übernommenen Tätigkeiten verbunden war. Die Angliederung des Kostkinderwesens an das WHK oder die Übertragung der vormals in den Kompetenzbereich der Polizei fallenden Prüfung und Konzessionierung der Privatkoststellen sind typische Beispiele für diese Art der Aufgabenerweiterung. Zum anderen erweiterte das Kollegium seine Kompetenzen, indem es in Anlehnung an auswärtige Vorbilder in Hamburg bisher unbekannte fürsorgerische Maßnahmen und Einrichtungen einführte, adaptierte oder neu kreierte. Mit der Professionalisierung der gesundheitlichen Überwachung der Koststellen nach Leipziger Vorbild wurde auch ein Beispiel für diese Form der Aufgabenerweiterung bereits erläutert. Bei den Maßnahmen und Einrichtungen, die das WHK und später die „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ seit 1908 neu hinzu gewannen, handelte es sich fast ausnahmslos um solche, die in der Hansestadt bisher unbekannt waren. Die Übernahme des Zwangserziehungswesens im Jahre 1908 war die letzte bedeutende Aufgabenerweiterung durch „Zentralisierung“. Was folgte, kann vor allem als inhaltlicher „Ausbau“ verstanden werden. Im Folgenden werden die wichtigsten vier neuen Aufgabengebiete, die das WHK nach 1907 dazugewann, in chronologischer Folge vorgestellt. Dabei wird sowohl auf die auswärtigen Vorläufer der Einrichtungen als auch auf die spezifischen Umsetzungsprobleme eingegangen.
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3.3.2.1 Die Erziehung „verwahrloster“ und straffälliger Jugendlicher – „Zwangserziehungswesen“ (1908) Die erste und auch fundamentalste Aufgabenerweiterung des Hamburger WHK zu Beginn des 20. Jahrhundert stellte die Integration des Zwangserziehungswesens in die „Waisenpflege“ dar. Sie führte zur Aufhebung der organisatorischen Doppelstruktur, die bis dahin die staatlichen Ersatzerziehung gekennzeichnet hatte. Vollzogen wurde die organisatorische Vereinigung von Waisenpflege und Zwangserziehungswesen durch das im September 1907 erlassene und zu Beginn des Folgejahres in Kraft getretene „Gesetz über die Zwangserziehung Minderjähriger“ (ZEG).1 Sieht man von den im Werk- und Armenhaus größtenteils wegen sexueller Devianz untergebrachten jungen Frauen und der Konzessionierung der Privatkoststellen durch die Polizei einmal ab, so war mit diesem Gesetz der Prozess der Zentralisierung der außerschulischen staatlichen Erziehung unter einer Behörde zum Abschluss gelangt. Obwohl das WHK noch eine Weile lang seine alte, längst überholte Bezeichnung beibehielt, war seine Position als Fachbehörde für die öffentliche Fürsorge Minderjähriger in der Hansestadt jetzt unanfechtbar geworden. Auf die langwierigen Erörterungen und Auseinandersetzungen, die der Verabschiedung des Gesetzes vorausgegangen waren und die eine Schlüsselstellung in der Diskussion um den Umgang mit den „guten Kindern schlechter Eltern“ in Hamburg einnahmen, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Ebenso wenig interessieren uns hier die konkreten Voraussetzungen für den Eintritt der Zwangserziehung oder das Verfahren, das zur Anordnung der Maßnahme führte. Beides wird im Teil 3 der Arbeit ausführlich dargestellt.2 Das Augenmerk der nachfolgenden Betrachtungen liegt vielmehr auf der praktischen Ausgestaltung der Erziehungstätigkeit in den Hamburger Erziehungs- und Besserungsanstalten sowie den organisatorischen Auswirkungen, welche die Einbindung des Zwangserziehungswesen in die „Waisenpflege“ mit sich brachten. Mit der Auflösung der Zwangserziehungsbehörde ging auch die Leitung der „Erziehungs- und Besserungsanstalt Ohlsdorf“ an das WHK über und mit dieser die Verantwortung für die 132 männlichen und 42 weiblichen „Zöglinge“, die Ende 1907 dort untergebracht waren.3 Seit ihrer Eröffnung 1883 war die Anstalt mehrfach baulich erweitert worden und bestand zum damaligen Zeitpunkt aus einem in Vorder- und Hinterhaus gegliederten Hauptgebäude, das die so genannte Knabenanstalt beherbergte, einer Reihe auf dem gesamten Gelände verteilter 1
Gesetzsammlung FHH 1907/I, S. 209 ff. Vgl. unten Abschnitte 4.2.4 und 5.3. 3 Die Zahlen sind dem Verwaltungsbericht der Zwangserziehungsbehörde in: Verw.Ber. 1907, S. 2 entnommen. 2
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kleinerer und größerer Wirtschaftsgebäude sowie einem über eine Turnhalle mit dem Haupthaus verbundenen größeren Seitenflügel, in dem die schulpflichtigen Mädchen untergebracht waren.1 Im Winter 1907/08 war allerdings die vollständige Ausgliederung der Mädchenabteilung in eine separate Anstalt bereits beschlossene Sache, und die Planungen zu ihrer Verlegung liefen auf Hochtouren.2 Das Baugelände befand sich nur etwa 500 Meter von der „Ohlsdorfer Anstalt“ entfernt, lag aber bereits auf Alsterdorfer Gebiet, weshalb die Einrichtung später auch als „Erziehungsanstalt Alsterdorf“ bezeichnet werden sollte. Anders als die „Knabenanstalt“, entsprach die Architektur der projektierten „Mädchenanstalt“ den neuesten Grundsätzen der Fürsorgeerziehung und war maßgeblich durch Petersens theoretische Überlegungen zur Ausgestaltung der Anstaltserziehung beeinflusst.3 Die bauliche Anlage war hier Programm. Sie suchte die „Vorzüge des Kasernen- mit jenen des Pavillionsystems zu verbinden“.4 Konkret hieß dies, dass die in den preußischen Anstalten des 19. Jahrhunderts vielfach erprobte, serielle, an langen Korridoren ausgerichtete Anordnung der Räume, die nicht nur ein kostengünstiges Bauen, sondern auch eine leichte Überwachung der „Zöglinge“ ermöglichte, mit in sich geschlossenen, verschiedene Lebensfunktionen umfassenden Wohneinheiten kombiniert werden sollte. Das neue Haus war für 120 „Zöglinge“ ausgelegt, die auf drei Etagen in sieben Gruppen untergebracht werden sollten. Die Grundrisse der Wohngruppen, die in zwei durch einen Haupttrakt verbundenen Seitenflügeln untergebracht waren, waren nicht einheitlich. Sie folgten vielmehr der Logik einer nach Alter und „Verwahrlosungsgrad“ gestuften Separierung: Für die „leichteren Fälle“ waren vier Wohneinheiten im Erdgeschoss vorgesehen, die 1
Von einem „Pavillionsystem“ konnte dabei allerdings kaum die Rede sein, denn mit der auf dem Reißbrett entworfenen dezentralen Bauweise der zeitgenössischen Krankenhausanlagen, die gleich einem Tableau die Separierung unterschiedlicher Patienten- oder eben Zöglingsgruppen ermöglichte, hatte diese durch Raumnot erzwungene, sukzessive bauliche Erweiterung der „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ kaum etwas zu tun (vgl.: Uhlendorff [2003], S. 216). Der 1893, also ziemlich exakt zehn Jahre nach der Errichtung der Anstalt bezogene Neubau, der die „Mädchenabteilung“ beherbergte, war seinerzeit nicht nur wegen ansteigender Zöglingszahlen infolge des 1887 verabschiedeten ZEG errichtet worden. Der mit dem Inkrafttreten des Gesetzes verbundene Altersanstieg der Knaben hatte auch zu „großen Unzuträglichkeiten“ im benachbarten Zusammenwohnen von Jungen und Mädchen geführt. Offenbar reichte die ausgeklügelte architektonische Trennung der Geschlechter nicht mehr aus, um Kontakte zwischen den beiden Geschlechtern zu unterbinden (Verh. Senat/Bürgerschaft 1892, Nr. 116, S. 339 ff.). Vgl. zur ursprüngliche Nutzung des Hauptgebäudes: Verh. Senat/Bürgerschaft 1883, Nr. 85, S. 293 ff. 2 Das ergibt sich aus einer Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom Mai 1908, in der bereits die komplette Innenarchitektur des Gebäudes beschrieben wurde (Verh. Senat/Bürgerschaft 1908, Nr. 97, S. 248 ff. u. Petersen [1911], S. 86 f.). 3 Zur baulichen Gestaltung der „Erziehungs- und Besserungsanstalt für schulentlassene Mädchen“ in Hamburg-Alsterdorf vgl. auch: Schmidt, H. [2002], S. 176 ff. und Uhlendorff [2003], S. 218 ff. 4 BlHWpfl., 10/1911, Heft 6.
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über getrennte Schlafsäle, aber räumlich miteinander verbundene Wohnsäle verfügten. Für die älteren Mädchen standen hingegen im zweiten Stock nicht weniger als 44 winzige Schlafzellen bereit. Je 22 der dort unterzubringenden weiblichen „Zöglinge“ sollten sich einen Wohnraum teilen, tagsüber aber die im Mittelgeschoss befindlichen gemeinschaftlichen Arbeits- und Unterrichtsräume nutzen. Für die in „besonders hohem Grade verwahrlosten Mädchen“ war schließlich sowohl eine Isolierung voneinander während der Nachtstunden als auch eine strikte Trennung von den übrigen Zöglingen am Tage vorgesehen.1 Die in einem gesonderten Bau befindliche Krankenabteilung mit 24 Betten bot zudem die Möglichkeit, geschlechtskranke von sonstigen kranken „Zöglingen“ zu separieren. Zumindest in der Außendarstellung war Petersen stets bemüht, Assoziationen mit einem Gefängnis zu zerstreuen. So hob er in einem kurz nach der 1911 erfolgten Einweihung der Anstalt in den „Blättern“ veröffentlichten Artikel die Bemalung von Wänden und Türen mit hellen Farben lobend hervor, durch die „der Anstalt ein sehr freundlicher, einladender Charakter gegeben wurde“.2 An anderer Stelle sprach er statt von „Zellen“, wie auf den mitveröffentlichten Grundrissen angegeben, lieber beschönigend von „Einzelschlafzimmerchen“, die dazu gedacht seien, das Schamgefühl der Zöglinge zu schützen.3 Tatsächlich hatte das Gebäude keine vergitterten Fenster und auch die für geschlossene Erziehungsanstalten sonst typische hohe Einfriedung fehlte der Anlage. Allenfalls die erhöhten Oberlichte des Erdgeschosses, die ein unautorisiertes Verlassen des Gebäudes verhindern sollten, hätten einem aufmerksamen Beobachter von außen auffallen können. Im Verbunde mit dem Architekten der Baudeputation hatte Petersen allerdings für ein ebenso unauffälliges wie umfassendes System räumlicher Überwachung gesorgt. Vom Ideal des Benthamschen Panoptikons, nach dem der Aufseher alles sehen, selbst aber nicht gesehen werden sollte, war man zwar noch weit entfernt. Aber immerhin waren die zentralen Ausgänge, die Dienstwohnungen und Aufseherzimmerchen so angeordnet, dass unerlaubte
1 Damit wurde in einer etwas „modernisierten“ Form die schon im Werk- und Armenhaus erprobte „Käfighaltung“ fortgeschrieben. In einem von einem „ehrenwerten Hamburger Bürger“ 1907 kolportierten Augenzeugenbericht hieß es dazu: „Jedes ‚Bett’ (wenn man diese Bezeichnung gebrauchen will) ist nach jeder Richtung hin durch eine Art von Lattenverschlag für sich abgeteilt und wird für sich von dem Aufsichtspersonal abgeschlossen. Außerdem ist jede Schlafstelle noch extra mit Draht Gitter umgeben, sodaß die Insassen in richtigen Käfigen schlafen. Zu Häupten ist das Drahtgitter so niedrig, daß man nicht in dem ‚Käfig’“ stehen kann. Außerdem wird die Schlafsaalthür noch extra abgeschlossen.“ STAH 121-3 I, C 893. Die Separierung diente offenbar nicht allein der Fluchtvermeidung, sondern ebenso sehr der Unterbindung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte. 2 BlHWpfl. 10/1911, Heft 6. 3 Petersen [1911], S. 86.
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Kontakte zwischen den Mädchen sofort unterbunden werden konnten und ein Entweichen kaum möglich war.1 Der Architektur der geplanten neuen Mädchenanstalt entsprach eine Vorstellung von staatlicher Anstaltserziehung, die sich bewusst von der traditionellen Wichernschen Erziehungskonzeption abgrenzte. Statt dem Familienprinzip redete Petersen dem „Staatsprinzip“ das Wort: „Je größer die Anstalt, um so intensiver legt sich dem Einzelnen das Gefühl auf, nur ein ganz kleines dienendes Glied im Ganzen zu sein, umso mehr fühlt das Individuum die Notwendigkeit der Unter- und Einordnung in das Ganze. [...] Man kann die größere Anstalt mit einer Art Staatswesen vergleichen.“2
Die Nachahmung der Familie stellte nach Petersens Auffassung nicht nur deshalb ein untaugliches Gestaltungsprinzip für die Anstaltserziehung dar, weil sie in der Regel nur sehr oberflächlich erfolgte. Die „Zöglinge“ legten die in kleineren Anstalten herrschende patriachale Gewalt des „Hausvaters“ auch schnell als Willkür aus.3 Nicht die persönliche Leitung durch einen mal gestrengen, mal gütigen „Bruder“ bzw. „Hausvater“ versprach nach Petersens Überzeugung die besten Erziehungserfolge, sondern die konsequente Durchsetzung eines einheitlichen, abstrakten Regelwerks zur Aufrechterhaltung des Massenbetriebs. An die Stelle von individualisierender christlicher Seelenrettung und forcierter Gewissensbildung im persönlichen Bezug sollte der anonyme Verhaltenszwang durch die streng reglementierte Großgruppe treten.4 Auch in den Ansichten zur Berufsausbildung der Zöglinge offenbarte sich der säkularisierte, zukunftsgerichtete und an den Anforderungen des Staats- und Wirtschaftsleben orientierte Charakter von Petersens Erziehungskonzeption. Der Anleitung zu landwirtschaftlichen Tätigkeiten, mit der die traditionelle städtische Anstaltserziehung neben den Zi1
Uhlendorff [2003], S. 222. Petersen zit. nach: Uhlendorff [2003], S. 223. 3 Petersen [1907a], S. 71 u. Petersen zit. nach: Uhlendorff [2003], S. 223. Gleich ablehnend positionierte sich Petersen gegenüber der Forderung, eine „Hausmutter“ einzustellen, da „es doch sehr fraglich [ist], ob ein 18jähriger, verwahrloster Bursche, der gegen seinen Willen in die Anstalt aufgenommen wird, jemals seiner Hausmutter gegenüber Sohnesgefühle bekommt“. Petersen [1907a], S. 72. 4 Die autoritäre Sozialethik, die Petersen vertrat, basierte nicht nur auf fachlicher Überzeugung und inhaltlicher Kritik an der privatwohltätigen Anstaltserziehung, sondern war auch strukturell begründet. Die finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen die öffentliche Jugendfürsorge operieren musste, zwangen ihn gleichsam zum Abrücken von der alten liberal-privatwohltätigen Konzeption der „Rettungsarbeit“. Petersen betonte regelmäßig, dass die staatlichen Anstalten im Unterschied zu den Privateinrichtungen schwierige Kinder nicht einfach wegschicken könnten und bei einem Betreuerschlüssel von 1 zu 15-16 – bei den Mädchen war er offenbar etwas günstiger – , war eine ausschließlich auf persönlicher Interaktion basierende Erziehungsarbeit sowieso kaum vorstellbar (Schröder [1966], S. 259). 2
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vilisationsschäden der Urbanisierung zugleich auch die „Leutenot“ auf dem Land zu beheben gedachte, konnte er nicht viel abgewinnen.1 Nüchtern erkannte er an, dass die meisten Zöglinge nach ihrer Entlassung ohnehin wieder in ihre bisherigen, großstädtischen Lebenszusammenhänge zurückkehren würden. Ziel der in den Erziehungsanstalten praktizierten Ausbildungsmaßnahmen konnte unter diesen Umständen nur sein, die „Zöglinge“ auf eine qualifizierte Tätigkeit als Handwerker oder Industriearbeiter vorzubereiten, das heißt aus ungelernten Arbeitsburschen, die über relativ viel Geld und „Freizeit“, aber über nur geringe berufliche Aussichten verfügten, gelernte Arbeiter in sozial wie wirtschaftlich abgesicherten Verhältnissen zu machen. Die nach moralischen Gesichtspunkten strukturierte polare Wahrnehmung der Arbeiterbevölkerung, wie sie prägnant in der zeitgenössischen Kommentierung der Hamburger Wahlrechtsunruhen von 1906 zum Ausdruck gelangte, lag auch der Konzeption der geschlossenen Jugendfürsorge jener Zeit zugrunde.2 Nicht zuletzt zeigten sich auch an dem hohen Stellenwert, der der körperlichen „Ertüchtigung“ beigemessen wurde, bedeutende Unterschiede zu den tendenziell körperfeindlichen Erziehungsmethoden konfessioneller Anstalten. In Verkehrung des Wichernschen Ansatzes setzte Petersen an der äußeren Form, also der Beherrschung der Bewegungen und physischen Kräfte an, um von hier aus die psychische Verfassung der Zöglinge, ihre Willensbeherrschung und Gedankentätigkeit zu beeinflussen.3 „Arbeitserziehung“ – in Anlehnung an Kerschensteiner –, „Charakterbildung“ und „Pflege des Gemütslebens“ sollten nach seinen Vorstellungen den abgestuften Dreiklang der Erziehung „verwahrloster“ Jugendlicher bilden.4 Der isolierte Blick auf die „Erziehungsphilosophie" und die bauliche Gestaltung der Anstalten in Ohlsdorf und Alsterdorf ist gleichwohl wenig geeignet, die ganze Tragweite der Veränderungen zu erfassen, die mit der Übernahme des Zwangserziehungswesens durch das WHK verbunden waren. Zum eigentlichen Herzstück der Zwangserziehung nach 1908 wurde nämlich eine neue, in das Verwaltungsgebäude des WHK integrierte, zentrale Einrichtung: die so genannte Beobachtungsstation. Die Beobachtungsstation polte das System der öffentlichen Ersatzerziehung nach völlig neuen Kriterien um und gewann – vermittelt über die Auswahl der „Zöglinge“, die nach Ohlsdorf und Alsterdorf überwiesen wurden – auch auf den Erziehungsalltag der genannten Anstalten in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten einen bestimmenden Einfluss. Seit 1908 wurden alle 1
Petersen [1907a], S. 79 f. In dieser Frage gab es offensichtlich auch einen Dissens zwischen Petersen und dem langjährigen Leiter und Oberlehrer der Ohlsdorfer Anstalt, Ludwig Blunk. Vgl.: STAH 354-2, A 12 Bl. 4. 2 Vgl.: Evans [1997b], S. 330 f. 3 Vgl.: Uhlendorff [2003], S. 225. 4 Vgl.: Uhlendorff [1998].
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der Waisenpflege und der Zwangserziehung überwiesenen Minderjährigen zunächst für einige Wochen in dieser Einrichtung untergebracht. Obwohl sie lediglich als Durchgangsstation gedacht war, handelte es sich bei der „Beobachtungsstation“ doch um eine eigenständige, große Anstalt mit nicht weniger als 250 Betten. Begleitet und beaufsichtigt wurden die aufgenommenen Kinder und Jugendlichen von erfahrenen Erziehern und Erzieherinnen, die am Ende des Aufenthaltes ein fundiertes Urteil über das „Wesen und Betragen“ jedes einzelnen Kindes sowie eine Empfehlung für die zukünftige Form der Unterbringung abgeben sollten.1 Der Direktor des Waisenhauses – im Falle der Unterbringung in Ohlsdorf oder Alsterdorf das gesamte WHK – entschied auf dieser Grundlage dann, ob der oder die betreffende Minderjährige entweder in Familienpflege, ins Waisenhaus oder in eine der beiden „Erziehungs- und Besserungsanstalten“ überwiesen wurde. Mit diesem Verfahren wurde das alte, an rein rechtliche Kriterien geknüpfte Zuweisungssystem abgelöst. Nicht der Akteninhalt, sondern eine eingehende pädagogische Beobachtung sollte zukünftig die Basis für die Entscheidung über die Art der Unterbringung bilden.2 „Zwangserziehung“ war nun nicht mehr gleichbedeutend mit Anstaltserziehung, und umgekehrt konnten auch „Waisenpfleglinge“, vorausgesetzt die Eltern stimmten dem zu, ohne größere Umwege vom Waisenhaus in die Erziehungs- und Besserungsanstalt „verschoben“ werden. Zugleich stellte die Einrichtung, die eine der ersten ihrer Art in Deutschland war, eine ganz wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines eigenständigen jugendfürsorgerischen Beobachtungs- und Diagnoseverfahrens dar. Sie wurde damit zum operativen Ausgangspunkt einer Systematisierung anwendungsbezogenen Fachwissens, das seinen sinnfälligsten Ausdruck in der Typisierung verschiedener Verwahrlosungsfälle fand. Bemerkenswerterweise fungierte die Medizin zunächst nur als Bezugswissenschaft.3 Ein Psychiater wurde nur hinzugezogen, wenn sich im Verlaufe der pädagogischen Beobachtung Hinweise auf das Vorliegen einer geistigen Abnormität ergaben. Petersen hatte
1 Zum Folgenden: Petersen [1909b], S. 106 u. ders. [1911], S. 70 f. sowie Schmidt, H. [2002], S. 169 f. Allgemeine Ausführungen zur Notwendigkeit und inneren Ausgestaltung von Beobachtungsstationen in der Jugendfürsorge finden sich in: Petersen [1909a]. 2 „Wir leben in einem Zeitalter des Papiers. Wenn uns die Fürsorge für ein Kind anvertraut wird, dann bekommen wir regelmäßig dicke Akten der Armenbehörde, der Polizei, des Gerichts usw. Ich will das Material, welches sie enthalten, nicht unterschätzen. [...] Gewiß sind solche Akten, wie gesagt, wertvoll und unentbehrlich, aber sie geben selten ein zuverlässiges, erschöpfendes Bild von dem Kinde. Wie so oft erlebt man nicht die wunderbarsten Überraschungen, wenn man z.B. erst eine Akte studiert, und dann das zugehörige Kind kennen lernt!“. Petersen [1909a], S. 7. 3 Zwar erfolgte die Aufnahme in die Beobachtungsabteilung erst nach eingehender oberärztlicher Untersuchung. Aber diese diente v.a. der Feststellung ansteckender Krankheiten, parasitären Befalls sowie des allgemeinen körperlichen Zustandes der neu eintretenden „Zöglinge“.
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sich mit der Station also für eine pädagogische und gegen eine psychiatrische Beobachtung entschieden.1 Das neue Aufnahmeverfahren bot auch für die Kinder und Jugendlichen unzweifelhaft eine ganze Reihe konkreter Vorteile. Eine eingehende Diagnostik half nicht nur, das unnötige Hin- und Herschieben der Zöglinge zwischen den einzelnen Anstalten und Pflegestellen zu vermeiden, es sollte auch die vielen Kinder und Jugendlichen, die man nur als „gefährdet“ einstufte, vor dem Stigma der Unterbringung in der „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ bewahren. Gerade die Umlenkung der „leichteren“ Fälle in die Waisen- und Familienpflege hatte aber auch eine entscheidende Kehrseite, denn nach Ohlsdorf und später auch nach Alsterdorf wurden jetzt meist nur noch diejenigen Fälle überwiesen, die als besonders „schwierig“ galten.2 Zusätzlich verstärkt wurde dieser Effekt noch dadurch, dass mit dem Erlass des neuen ZEG 1907 auch die bisher gültige Altersobergrenze von 16 Jahren fortgefallen war. Unter den Ohlsdorfer Zöglingen stieg der Anteil der über 15-jährigen „Burschen“ daraufhin sprunghaft an: Während sich 1908 noch 94 Jungen unter und nur 38 über 15 Jahren in der Anstalt befanden, so hatte sich das Zahlenverhältnis drei Jahre später nahezu umgekehrt: jetzt standen 40 „Knaben“ unter 15 Jahren 101 älteren „Burschen“ gegenüber.3 Die Erhöhung des Alters der „Zöglinge“, die Konzentration der als „schwer verwahrlost“ typisierten Fälle und die vergleichsweise starke Belegung der Anstalt – bisher hatte der „durchschnittliche Bestand“ bei ungefähr 165 „Zöglingen“ im Jahr gelegen, in den Jahren 1909 und 1910 war er dagegen auf 190 bzw. 185 geklettert4 – schlugen sich in massiven Disziplinierungsproblemen nieder. Mehr oder weniger offene Formen des kollektiven Protestes ließen nicht lange auf sich warten. 1908 kam es zu einer ersten Arbeitsniederlegung in der anstaltseigenen Bürstenbinderei, 1910 dann zu wiederholten „komplottmäßigen groben Ausschreitungen“. Und als im Jahr darauf ein „Zögling“ nach Meinung seiner 1 Schmidt, H. [2002], S. 169 f. Von den routinemäßigen Untersuchungen neu eingewiesener Zwangserziehungszöglinge durch Irrenärzte der Anstalt Friedrichsberg Anfang der 1890er Jahre war man schnell wieder abgekommen, weil dem Oberlehrer der Ohlsdorfer Anstalt genügend Sachverstand zugetraut wurde, verdächtige Fälle frühzeitig zu erkennen und je nach Bedarf sich der Expertise eines Psychiaters zu bedienen. 2 Als „schwere Fälle“ wurden offenbar v.a. solche Kinder und Jugendliche typisiert, die sich auf der Suche nach Lösungen für schwierige Familien- und/oder Arbeitsverhältnisse bereits riskante Selbstbehauptungsstrategien angeeignet hatten. A.a.O., S. 249. 3 Petersen [1911], S. 85. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die tatsächliche Geschwindigkeit des Altersanstiegs mit diesen Zahlen nicht einmal angemessen wiedergegeben wird. In einer Sitzung des Waisenhauskollegiums vom Oktober 1909 gab der Oberlehrer der Anstalt Blunk z.B. die Zahl der schulentlassenen Zöglinge mit 120 an. Vgl.: STAH 354-2, A 12, unpaginierter Protokollauszug aus der Sitzung des WHK vom 9. Oktober 1909. 4 Die maximale Auslastungsgrenze der Anstalt, die Petersen auf 250 Zöglinge bezifferte, war damit allerdings noch lange nicht erreicht.
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Mitinsassen ohne ersichtlichen Grund mit Arrest belegt worden war, kam es zu einem mehrere Tage andauernden Aufruhr, der auch an die Öffentlichkeit drang.1 Hausleitung und Kollegium sahen sich daraufhin gezwungen, einschneidende Maßregeln zur Wiederherstellung von Ordnung und Disziplin zu erwegen.2 Der altgediente Oberlehrer der Einrichtung Blunk sprach sich gegenüber der Behörde vor allem für eine Vermehrung des Aufsichtspersonals, eine massive Verschärfung der Disziplinarstrafen sowie eine Aussonderung der „unerziehbaren Zöglinge“ durch räumliche Isolation oder systematischen Verzicht auf ihr Wiederaufgreifen nach erfolgter Flucht aus.3 Petersen zeigte sich gegenüber all diesen Vorschläge äußerst skeptisch. Gegen die Einführung immer neuer Repressalien wandte er ein, dass sie zwangsläufig auch auf den Umgang zwischen Aufsehern und jüngeren Zöglingen abfärben und der Anstaltserziehung den letzten Rest an Freiheit nehmen würden. Einer Aussonderung von besonders renitenten Zöglingen stand er dagegen prinzipiell positiv gegenüber, hielt aber die von Blunk in Anregung gebrachte räumliche Absonderung auf dem Anstaltsgelände für undurchführbar und den Ausweg über die „geduldete Flucht“ im öffentlichen Interesse und mehr noch wegen der davon ausgehenden Signalwirkung auf die übrigen „Zöglinge“ für unstatthaft. Mit einem Verkennen der Ernsthaftigkeit der Lage oder einer Ignoranz gegenüber den praktischen Erfordernissen der Situation 1 Zu den Ausschreitungen vgl.: Uhlendorff [1998], S. 521 u. Schmidt, H. [2002], S. 265 f. Zu den öffentlichen Reaktionen darauf v.a.: Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1911, 18. Sitzung S. 498. Bezeichnenderweise sind „komplottmäßige Ausschreitungen“ von weiblichen Zöglingen in Hamburg nur für die im Werk- und Armenhaus untergebrachten, ebenfalls schon älteren Mädchen bezeugt. 1905 hatte sich die Hälfte der dortigen Insassinnen zusammengetan, um das Mobiliar des Aufenthaltszimmers der Einrichtung zu zerstören und den Aufseherinnen Gewalt anzudrohen. (Uhlendorff [1998], S. 521). Zu den Lebensbedingungen der Insassinnen des Werk- und Armenhauses vergleiche auch den in einem Anschreiben an den Bürgerschaftsausschuss zur Erarbeitung eines neuen Zwangserziehungsgesetzes kolportierten Augenzeugenbericht (STAH 121-3 I, C 893). Für die Mädchenabteilung von Ohlsdorf ist für dasselbe Jahr die kollektive Flucht von fünf sich selbstbewusst als „Luftschwestern“ bezeichnenden Mädchen durch Abseilen aus den oberen Fenstern der Einrichtung belegt (Schmidt, H. [2002], S. 268 f.). 2 Noch Anfang 1909, bei der Abfassung des Verwaltungsberichts für 1908, hatten Anstaltsleitung und Direktion den Eindruck zu vermitteln versucht, alles sei in bester Ordnung. Es wurde hervorgehoben, dass das Zusammenleben der älteren und der jüngeren Zöglinge „ihre Erziehung und Führung in keiner Weise nachteilig beeinflusst“ habe. Nur die Zunahme von Entweichungen gab man zu und erklärte sie mit der vermehrten Neigung der Zöglinge zum „Vagabundieren“. Den älteren, schulentlassenen „Zöglingen“ hätten sich die Lehrer verstärkt angenommen, und nicht mit Strenge, sondern durch besondere Berücksichtigung ihres Entwicklungsstandes und ihres Charakter sei es ihnen gelungen, diese Zöglinge zu „gutem Betragen“ anzuhalten (VerwBer. 1908 XXIX, S. 17). 3 Bisher waren Verstöße gegen die Anstaltsordnung bei den schulpflichtigen Jungen mit „leichter körperlicher Züchtigung“, Essensentzug oder einfachem Arrest bis zu vierzehn Tagen, bei älteren Jugendlichen zusätzlich mit einmonatigem Arrest und schwerer körperlicher Züchtigung geahndet worden. 1910 kamen als Sanktionen die Entziehung von Kost und Bettlager bis zu fünf Tagen und der Dunkelarrest hinzu (Schröder [1966], S. 262).
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hatte diese Skepsis des Direktors allerdings wenig zu tun. Gerade Petersen hatte die Disziplinierungsprobleme, die mit der Heraufsetzung der Altersgrenze verbunden waren, schon frühzeitig vorausgesehen und sich bereits deutlich vor Verabschiedung des ZEG offensiv für die Einrichtung je einer Anstalt für schulentlassene weibliche und männliche „Zöglinge“ eingesetzt. Es war ihm schließlich auch gelungen, den Senat von diesem Vorhaben zu überzeugen. Der Errichtung einer getrennten Anstalt für ältere männliche Zöglinge verweigerte jedoch die Finanzdeputation ihre Zustimmung.1 Auch 1910/1911, als sich die Lage in Ohlsdorf dramatisch zuspitzte, hielt Petersen die Aussonderung der „unerziehbaren Zöglinge“ in einer besonderen Anstalt für einen der wenigen gangbaren Wege, um der aufgetretenen Disziplinierungsprobleme Herr zu werden. In diesem Zusammenhang wurden sowohl mit dem Werk- und Armenhaus als auch mit der Korrektionsabteilung des benachbarten Gefängnisses Fuhlsbüttel Verhandlungen über die Einrichtung einer „Aufbewahranstalt“ für ältere, „renitente“ Zwangserziehungszöglinge geführt, die allerdings wiederum alle im Sande verliefen.2 Die sich hier sehr früh abzeichnenden Absonderungsbemühungen gegenüber „unerziehbaren“ Zwangserziehungszöglingen stützen die These Peukerts, wonach die moderne Jugendfürsorge von Anfang an in einem selbsterzeugten Dilemma gefangen war: Sie unterstellte implizit oder ausdrücklich, dass der pädagogische Zugriff selbst bei Jugendlichen, die schon kurz vor ihrer Volljährigkeit standen, zu dem gewünschten, sozial angepassten Verhalten führen könne, und musste in der Praxis doch immer wieder resigniert eingestehen, dass ihre diesbezüglichen Bemühungen erfolglos blieben.3 Die Aussonderungsidee wies in dieser frühen Phase allerdings noch nicht die eliminatorischen Tendenzen auf, die sie in der späten Weimarer Republik und dann vor allem während des Nationalsozialismus’ entfalten sollte. So meinte Petersen: „Wenn ein Jugendlicher – es handelt sich wesentlich um männliche – bis zu seinem 21. Lebensjahr in einer Arbeitsanstalt war und dann 2 Jahre beim Militär dient, ist er während der kriminell am stärksten belasteten Zeit unter Zucht und Aufsicht. Keine Altersklassen sind relativ so stark kriminell, wie die Altersklassen vom 18. bis zum
1 Bewilligt worden war schließlich nur ein kleinerer Anbau an die „Knabenanstalt“ (ebd.). Im internen Schriftverkehr hatte Direktor Petersen daraufhin seiner Verärgerung freien Lauf gelassen und betont, dass der Staat, wenn er ältere Zöglinge erfolgreich an Arbeit und geordnete Verhältnisse gewöhnen wolle, auch entsprechende Aufwendungen machen müsse. Eine übertriebene Sparsamkeit, davon zeigte er sich überzeugt, war auf dem Gebiet der Jugendfürsorge gleichbedeutend mit Verschwendung (a.a.O., S. 256). 2 STAH 354-2, A 12, Behördenprotokollauszug vom 2. April 1910. 3 Uhlendorff [2003], S. 226.
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23. Lebensjahre. Über diese gefährliche Periode können die Minderjährigen hinweggebracht werden, wenn sie einem Arbeitshaus überwiesen werden.“1
Zwar schreckte Petersen nicht davor zurück, im Dienste der Sicherheit Maßnahmen zu fordern, die auch über die erreichte Volljährigkeit hinaus in die elementarsten Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingriffen. Aber es ging ihm um eine zeitlich beschränktes Aussondern von Jugendlichen, das er ausdrücklich mit dem passageren Charakter von Jugenddelinquenz begründete. Im Übrigen war die Aussonderung nicht die einzige Strategie, um mit den Widersetzlichkeiten der älteren „Zöglinge“ fertig zu werden. In Ohlsdorf griff man auch frühzeitig die fachlichen Anregungen des „Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages“ (AFET) und die praktischen Erfahrungen der örtlichen Jugendvereinsarbeit auf und versuchte Elemente der Selbstverwaltung und Selbstregulierung in den Erziehungsalltag zu integrieren. Die „Zöglinge“ sollten fortan ihre eigenen Vertreter in die aus Lehrern und Erziehern zusammengesetzten Gruppenvorstände entsenden und hier selbständig oder in Zusammenarbeit mit der Direktion der Einrichtung Lösungen für die sich im Anstaltsalltag stellenden Probleme entwickeln. Außerdem wurden in Analogie zu den Veranstaltungen der Hamburger Lehrlingsvereine verschiedene Freizeitgruppen gegründet, die jeweils von einem Lehrer betreut werden sollten.2 Dass gerade angesichts der fortgesetzten Weigerung der Gefängnisverwaltung und des Werk- und Armenhauses, die „unerziehbaren“ Zwangserziehungszöglinge zu übernehmen, mit solchen Zugeständnissen an den Eigensinn und die Selbstverantwortlichkeit der Jugendlichen nicht viel gewonnen war, kann kaum überraschen. Eine dritte Strategie im Umgang mit den aufgetretenen Disziplinierungsproblemen schob sich deshalb immer stärker in den Vordergrund: die interne Psychiatrisierung der „Unerziehbaren“ in einer besonderen Beobachtungsabteilung für „geistig minderwertige Zöglinge“. Schon als sich im Umgang mit den älteren Zöglingen zum ersten Mal die Beschränktheit des pädagogischen Ansatzes abzuzeichnen begann, war die Neigung stark gewesen, das Scheitern der Erziehungsbemühungen unter Verwendung psychiatrischer Termini zu erklären. In seiner 1907 erschienenen Schrift „Die öffentliche Fürsorge für sittlich gefährdete und die gewerblich tätige Jugend“ etwa schloss sich Petersen dem Urteil des Berliner Psychiaters Mönckemöller an, indem er „eine relativ hohe Zahl der Fürsorgeerziehungszöglinge 1 Ebd. Ähnlich argumentierte in Bezug auf die weiblichen „Zöglinge“ die Oberin der Alsterdorfer Anstalt, wenn sie davor warnte, rückfällige Entlassene leichtfertig als „unverbesserliche Prostituierte” abzustempeln. Erst nach manchem „tollen Jugendstreich“, so war sie überzeugt, würde sich die Frucht der Erziehungsarbeit zeigen (BlHWpfl. 12/1913, Heft 8). 2 Uhlendorff [2003], S. 233 u. [1998].
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[für] geistig und moralisch abnorm“ erklärte.1 Auch in den Auseinandersetzungen der Behördenspitze mit den Ohlsdorfer Ausschreitungen wurde wie selbstverständlich angenommen, dass es sich bei den aufmüpfigen und randalierenden Jugendlichen, um „geistig abnorme“ Zöglinge handeln müsse. In den Äußerungen Petersens zeigte sich dennoch bis zuletzt eine gewisse Reserve gegenüber einer übereilten Pathologisierung der Zöglinge. So lehnte er Blunks Vorschlag, die „Unerziehbaren“ schon durch die Einführung einer psychiatrischen Regeluntersuchung in der Beobachtungsstation der Zentralverwaltung auszusondern, mit dem Hinweis ab, dass dieses Verfahren kaum in der Lage sei, die sich zumeist erst später einstellende „Unerziehbarkeit“ zuverlässig zu diagnostizieren.2 Die Mediziner selbst waren, was die Zuverlässigkeit ihrer Diagnosen anging, sehr viel optimistischer. In einem 1911 vom Gerichtsmediziner Dr. Friedrich Schulze im Auftrag des Medizinalkollegiums verfassten Gutachten zur Einrichtung eines selbständigen bzw. in die Ohlsdorfer Anstalt integrierten „psychiatrischen Pädagogiums“, wurde nicht nur das Krankheitsbild des ins Auge gefassten Personenkreises genauer umrissen, sondern sogleich auch der Anspruch auf die medizinische Deutungs- und Behandlungshoheit erhoben: „Eine gemeinschaftliche Gruppe von in der Bildungsfähigkeit sehr verschiedenen Jugendlichen bereitete erfahrungsgemäß den üblichen Erziehungsmethoden sehr erhebliche und oft unüberwindliche Schwierigkeiten; gar nicht selten werden sogar ihr zugehörende Persönlichkeiten durch die Erziehungsversuche geschädigt. Es sind, um eine praktisch brauchbare Bezeichnung zu wählen, die Träger einer reizbaren Schwäche. Klinisch setzt sich diese Gruppe vorwiegend zusammen aus angeboren Schwachsinnigen, welche ihre beträchtlichste Zahl bilden, nicht schwachsinnigen Epileptikern, gewissen hysterischen und anderen Entarteten. In den Anstalten sind sie als missmutig, boshaft, widerspenstig und gewalttätig bekannt und berüchtigt. Sie gefährden häufig durch ihr Betragen und ihr schlechtes Beispiel die Erziehung der an sich besseren, aber immerhin in ungünstigen Sinne leicht beeinflussbaren Elemente. Natürlich liefern sie das dürftigste Erziehungsergebnis. – Ein großer Teil von ihnen findet früher oder später dauernden Aufenthalt in der Irrenanstalt. – Solche Jugendlichen sollten ausschließlich nach irrenärztlichen Gesichtspunkten behan1 Petersen [1907a], S. 94. Die Erkenntnisse Mönckemöllers basierten auf einer psychiatrischen Langzeitbeobachtung an 200 Zöglingen der Berliner Erziehungs- und Besserungsanstalt Lichtenberg, an der er als Mediziner beschäftigt war. 2 Vgl.: STAH 354-2, A 12, Behördenprotokollauszug vom 2. April 1910. Die Skepsis gegenüber einer einseitig psychiatrischen Betrachtungsweise der „Unerziehbarkeit“ geht auch aus den durch die Ausschreitungen in Ohlsdorf ausgelösten Diskussionen in der Bürgerschaft hervor. Das geistliche Mitglied des WHK führte hierzu aus: „Wir denken [...] nicht daran, dasjenige, was den Ärzten zu überlassen ist, für unsere Pädagogen in Anspruch zu nehmen, aber oftmals ist die Grenze, wenn diese Knaben und Jünglinge bei uns angemeldet werden, sehr schwer festzustellen und zunächst ist man in der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge verpflichtet, sich aller dieser Elemente anzunehmen.“ Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1911, 1. Sitzung, S. 9.
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delt werden. [...] Ihm [dem Irrenarzt, J.R.] stehen als schonende Beeinflussungsmittel vorübergehende Bettbehandlung unter sorgfältiger Aufsicht und Abtrennung der Erregten in Einzelzimmern zu Gebote neben Beschäftigung im Freien und Unterricht zu geeigneten Zeiten.“1
Die Stellungnahme Dr. Schultzes deutete die Richtung schon an, in der sich die Behandlung „verwahrloster Jugendlicher“ in den folgenden Jahrzehnten entwickeln sollte. Dass die Vorschläge des Mediziners allerdings kurzfristig in die Tat umgesetzt worden wären, dafür fehlen nach der einschlägigen Sekundärliteratur die historischen Belege. Als gesichert kann nur gelten, dass in Ohlsdorf spätestens mit dem Auszug der Mädchen in das neu errichtete Gebäude in Alsterdorf 1911 eine besondere Abteilung für „schwer erziehbare und geistig minderwertige Zöglinge“ eingerichtet wurde. Nebenberuflich betreut wurde diese vom Psychiater des Fuhlsbütteler Gefängnisses. Wie groß die Abteilung genau war, welche besonderen baulichen Vorkehrungen man getroffen hatte und ob ihr auch ein „Lazarett“, wie von Schultze empfohlen, angegliedert worden war, ist indes unklar. Bereits im März 1911 hatte die „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ in einer Sitzung die Leitsätze für den Umgang mit den „Unerziehbaren“ festgelegt:
In die interne „Beobachtungsabteilung“ sollten Zöglinge überwiesen werden, bei denen aus dem gesamten Verhalten, insbesondere aus „fortgesetzter oder schwerer Renitenz gegen die Erzieher“, der Verdacht auf das Vorliegen einer „psychischen Abnormität“ bestand. Ihr Verbleib in der Abteilung sollte so lange andauern, bis ihr Verhalten zeigte, dass die Voraussetzungen der Überweisung fortgefallen waren. Beabsichtigt war, die Erziehung, Beaufsichtigung und Anleitung in die Hände eines Lehrers und zweier erfahrener Aufseher zu legen. Die Abteilung sollte unter „besonderer ärztlicher Beobachtung“ stehen. Vorgesehen war, dass der Anstaltsarzt an allen Werktagen die Einrichtung aufsuchte und den Erziehern Ratschläge für die Behandlung der „Zöglinge“ erteilte. Die Erziehung sollte auf Anordnung des Direktors der Ohlsdorfer Anstalt entweder in Gemeinschafts- oder in Einzelräumen erfolgen. Beschäftigen wollte man die Insassen der Abteilung mit Schneider-, Buchbinder- und Bürstenarbeiten. Die Abteilung sollte täglich entweder eine halbe Stunde auf dem Hof oder eine Stunde bei geöffnetem Fenster in einem größeren Raum „spazieren ge-
1 STAH 354-2, A 12, unpaginiertes Gutachten des Physikus Dr. Schulze an den Medizinalrat Prof. Dr. Nocht. Hervorhebungen im Original.
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führt“ werden. Auch die körperliche Arbeit wollte man ab und zu durch gymnastische Übungen unterbrechen. Alle wichtigen Vorkommnisse sollten vom Lehrer bzw. den Aufsehern in einem dafür vorgesehenen Buch festgehalten werden, das täglich dem Dirktor und dem Arzt vorzulegen war.
Der Katalog zeigt deutlich, dass der Einfluss der Mediziner zugenommen hatte. Dennoch hatten die Pädagogen sich das Heft nicht ganz aus den Händen nehmen lassen und ihr Deutungsmonopol noch einmal erfolgreich verteidigt.1 Im Ergebnis, so lässt sich im Hinblick auf die Entwicklung der öffentlichen Erziehung „verwahrloster“ bzw. straffälliger Kinder und Jugendlicher in den ersten anderthalb Dekaden des 20. Jahrhunderts festhalten, war aus der bisher fast ausschließlich den schulpflichtigen Kindern vorbehaltenen Unterbringung in der Ohlsdorfer Anstalt ein Instrument zur Disziplinierung vor allem älterer Jugendlicher geworden. Diese Tendenz bezog sich auf beide Geschlechter, war aber bei den Mädchen besonders ausgeprägt, weil seit der Eröffnung der Anstalt in Alsterdorf keine öffentliche Einrichtung für noch schulpflichtige, verhaltensabweichende Mädchen mehr existierte, die räumlichen Kapazitäten der Mädchenanstalt aber in etwa denjenigen der Ohlsdorfer „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ entsprachen.2 Die nachhaltige Erhöhung des Altersschwerpunktes war zum einen Folge einer gezielten Verschiebung bzw. Erweiterung des Problemfokus’ von der kindlichen zur jugendlichen Devianz gewesen. Zugespitzt könnte man sagen, dass es nicht mehr um die Maßregelung und Erziehung unbotmäßiger und schuleschwänzender „Budjes“ ging, als vielmehr um die Disziplinierung und Unschädlichmachung der bereits aus der Schule entlassenen „Briten“ und „Halbstarken“.3 Zum anderen jedoch ergab sich die Alterserhöhung auch als unbeabsichtigte Nebenfolge der vermehrten Unterbringung „leichterer Fälle“ im Waisenhaus sowie der fehlgeschlagenen Bemühungen um eine altersmäßige Ausdifferenzierung der Anstaltserziehung. Mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit 1 Inwiefern sich die psychiatrische Betrachtungsweise der „Unerziehbarkeit“ in Bezug auf die Geschlechter unterschied, ist am Hamburger Beispielsfall nicht klar entscheidbar. Folgt man Schmidt, so setzte die Erfordernis, sich mit dem hartnäckigen Widerstand von Zöglingen auseinanderzusetzten, zwei unterschiedliche Entwicklungen in der Anstaltserziehung in Gang: Während man „schwererziehbare“ Jungen mit mehr Repression zu kurieren versuchte, habe man bei den „psychopathischen“ Mädchen auf die verstärkte Zusammenarbeit mit der Psychiatrie und Heilpädagogik gesetzt (Schmidt, H. [2002], S. 184). 2 In der Ohlsdorfer Anstalt konnten nach 1911 bis zu 230 Jungen untergebracht werden, in Alsterdorf noch einmal 144 weibliche „Zöglinge“. In der „Knabenanstalt“ hatte man aus den Erfahrungen der unruhigen Jahre zwischen 1909 und 1911 allerdings gelernt und blieb in den Folgejahren deutlich unter der Belegungsobergrenze. In der Anstalt waren regelmäßig nur noch 130-140 Jugendliche untergebracht. Dagegen war die Mädchenanstalt mit regelmäßig 160 Insassen chronisch überfüllt. 3 Vgl. zur Schultzschen Typologie oben S. 148.
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von den schulelaufenden Kindern zu den „halbstarken“ Jugendlichen war jedenfalls nicht nur eine deutliche Erhöhung der räumlichen Kapazitäten und Einweisungszahlen verbunden gewesen, sondern auch ein erneutes Hervortreten des Sicherheitsaspektes und vor allem des Strafcharakters der öffentlichen Ersatzerziehung. Petersen hatte das Ziel verfolgt, der Zwangserziehung das „Odium der Strafe“ zu nehmen, indem er dezidiert mit der Vorstellung brach, wonach es sich bei ihr um eine besonders strenge Form der Anstaltserziehung handele. Auch in Ohlsdorf sollte nach Ansicht des Direktors die pädagogisch-individualisierende Herangehensweise im Vordergrund stehen und die bisherigen, rein restriktiven Erziehungsmethoden allmählich ablösen. Gerade aus diesem Grund hatte er sich so vehement für die Aussonderung der „unerziehbaren“ Zöglinge in eine neu zu schaffende Bewahranstalt eingesetzt. Tatsächlich hatte Petersen erreicht, dass nach 1908 „Zwangserziehung“ nicht mehr gleichbedeutend mit der Unterbringung in der Ohlsdorfer Anstalt war. Der Strafcharakter der Einrichtung war aber aufgrund der oben dargestellten Problematik noch stärker als bisher hervorgetreten und zahlreichen Äußerungen Petersens ist zu entnehmen, dass er wegen dieser Entwicklung keineswegs in Verlegenheit geriet. Vielmehr setzte er den Abschreckungscharakter der Anstaltserziehung gezielt ein, um die vorbeugenden Erziehungsmaßnahmen auszubauen und sie gegen den Widerstand der betroffenen Eltern durchzusetzen. Einmal mehr zeigte sich an dieser Stelle in Petersen der machtbewusste Pragmatiker, der es verstand, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, auch wenn sie seinen Vorstellungen nicht genau entsprachen. Sein Ziel, ein möglichst flächendeckendes, auf amtliche Autorität gestütztes Jugendhilfesystem zu schaffen, verlor er nie aus den Augen. Geklärt werden muss abschließend noch die Frage, wie sich die öffentliche Anstaltserziehung devianter Mädchen und Jungen in Hamburg in die historische Gesamtentwicklung einfügte. Was unterschied und worin glich ihre Entwicklung den Verhältnissen, die andernorts in diesem Fürsorgezweig herrschten? Der bedeutendste Unterschied zur preußischen Fürsorgeerziehung bestand in der konsequenten Verstaatlichung der Zwangserziehung. In Hamburg wurde die öffentlich-rechtlich begründete Ersatzerziehung seit 1887 ausnahmslos in Staatsanstalten vollzogen. Die lokalen privatwohltätigen Rettungsanstalten wie das „Rauhe Haus“, das „Pestalozzi-Stift“ und das später noch zu behandelnde „Emilienstift“ wurden zwar von den preußischen, nicht aber von den Hamburger Behörden zur Durchführung der Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung in Anspruch genommen. Der konfessionelle Einfluss auf die praktische Ausgestaltung der Zwangserziehung war somit in Hamburg vergleichsweise gering, und das sollte bedeutende Konsequenzen für die Außenwahrnehmung der Institutionen haben. Noch relativ lange und umfangreich wurde – wie weiter unten noch zu zeigen sein wird – die
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Ohlsdorfer Anstalt von Eltern in Anspruch genommen, um ihre „ungehorsamen“ Kinder zu maßregeln. Wegen der geringen Bedeutung der Kirche bot die Praxis der Hamburger Zwangserziehung auch nicht die gleiche ideologische Angriffsfläche wie in den deutschen Flächenstaaten. Während der Anstaltsunruhen von 1909-1911 rügten die Sozialdemokraten in der Bürgerschaft zwar die Anwendung körperlicher Gewalt in Ohlsdorf.1 Aber diese Kritik blieb ohne größere öffentliche Resonanz, weil die Züchtigungen eben nicht wie andernorts von einem Geistlichen vorgenommen worden waren und es somit keinen Anlass gab, zu einer grundsätzlichen Kritik an der christlichen Heilslehre und der Scheinheiligkeit praktizierter Nächstenliebe auszuholen. Die im Fehlen des konfessionellen Moments zum Ausdruck gelangende „Fortschrittlichkeit“ der Hamburger Anstaltserziehung hatte allerdings auch ihre Kehrseiten. Früher als andernorts traten im Hamburger Zwangserziehungswesen die inhärenten Widersprüche der modernen Jugendfürsorge in Erscheinung. Die Verschärfung der Disziplinierungsprobleme in der Ohlsdorfer Anstalt infolge der massiven Ausweitung der Zwangserziehung seit 1908 hatte deutlich gemacht, dass auch den fortschrittlichsten pädagogischen Konzepten enge Grenzen gesetzt waren. Die Aussonderung der „Unerziehbaren“, die für konfessionelle Anstalten lange Zeit nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus ethischen Gründen nicht in Frage kam, wurde in der Elbmetropole schon sehr frühzeitig als mögliche Antwort auf das Scheitern der fürsorgerischen Bemühungen in Betracht gezogen. Allerdings bleibt die Beurteilung auch hier ambivalent. „Bewahranstalten“ und interne Psychiatrisierung blieben nicht die einzigen Antworten auf die in Erscheinung getretenen Disziplinierungsprobleme. Es wuchs auch der Druck, sich auf die Suche nach alternativen Formen öffentlicher Erziehung zu begeben. Das galt umso mehr, als die internen Verhältnisse und Zuständigkeiten in den öffentlichen Einrichtungen viel transparenter und damit einer kritischen Überprüfung zugänglicher waren, als in Privatanstalten. Zumindest in finanzieller Hinsicht waren außerdem die Möglichkeiten, bei der Suche nach Alternativen auch zu tragfähigen und akzeptablen Lösungen zu gelangen, noch sehr viel größer, als dies Ende der 1920er Jahre beim Aufkommen der reichsweiten Debatte über die „Unerziehbarkeit“ der Fall sein sollte. Von einer „blockierten Reform“ kann somit in Bezug auf die Hamburger Anstaltserziehung des späten Kaiserreichs nur bedingt die Rede sein.2
1 2
Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1911, 18. Sitzung S. 498. Vgl. hierzu: Gräser [1995].
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3.3.2.2 Berufsvormundschaft über uneheliche Kinder (1908/1910) Fast zeitgleich mit der Übernahme des Zwangserziehungswesens durch das WHK wurde in Hamburg - zunächst auf dem Verwaltungswege - mit der Berufsvormundschaft auch das zweite Element des „Leipziger Systems“ zur Überwachung und ökonomischen Absicherung unehelicher Kinder implementiert. Bis dahin hatten in der Hansestadt nur die aus armenrechtlichen Gründen der Waisenpflege überwiesenen Kinder der Vormundschaft bzw. Pflegschaft des WHK unterstanden. Mit der Professionalisierung der gesundheitlichen Überwachung der Privatkostkinder 1904 hatte man jedoch – wie weiter oben dargestellt – bereits die eine Hälfte des sächsischen Vorbildes adaptiert, und angesichts der ausufernden Fachdebatte über die Verbesserung des Unehelichenschutzes war seine Ergänzung durch die Berufsvormundschaft über sämtliche unehelichen Kinder eigentlich nur eine Frage der Zeit. Das Grundprinzip der Berufsvormundschaft war denkbar einfach: Statt wie bisher für die mehreren hundert unehelichen Kinder, die jedes Jahr geboren wurden, mühsam nach Privatpersonen zu suchen, die zur Übernahme der Vormundschaft bereit und in der Lage waren, und doch immer wieder feststellen zu müssen, dass ohne ständige Erinnerungen und Ermahnungen dieselben ihrer Pflichten nicht nachkamen, sollten sämtliche Vormundschaften dieser Art einem bezahlten Beamten übertragen werden. Gestützt auf seine amtliche Stellung und rechtliche Vorbildung sollte dieser dafür Sorge tragen, dass die natürlichen Väter der Kinder rasch ermittelt und zur Bestreitung des Unterhaltes herangezogen werden konnten. Das war der Kerngedanke, dem das Institut folgte. Allerdings wurde von Vertretern der Jugendfürsorge von Anfang an auch der erzieherische Nutzen der Berufsvormundschaft hervorgehoben. Die Sicherstellung des Unterhaltes bzw. des Kostgeldes war das eine, die fortlaufende Beaufsichtigung der erzieherischen Verhältnisse, in denen uneheliche Minderjährigen aufwuchsen, das andere. Aus diesem Grund plädierten anerkannte Fachleute wie Christian Jaspar Klumker oder Johannes Petersen für eine möglichst lange Ausdehnung der Vormundschaft, um letzten Endes auch auf die Berufswahl der Mündel Einfluss nehmen zu können.1 Neben der praktischen Arbeit Taubes waren es vor allem die theoretischen Beiträge Othmar Spanns gewesen, die den privatrechtlichen Unehelichenschutz ins Zentrum der fachpolitischen Auseinandersetzung gerückt hatten.2 Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der von Christian Jaspar Klumker geleiteten Frankfurter „Centrale für private Fürsorge“ hatte dieser schon früh eine Art Begleitfor1 Vgl. die Äußerung Klumkers bei Spann [1904], S. 42 u. Petersen in: BlHWpfl. 7/1908, Heft 7, S. 37 f. 2 Zum Wirken Taubes vgl. oben, S. 227.
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schung zur Berufsvormundschaft betrieben, mit dem Ziel, „die Forderungen einer solchen beruflichen Vormundschaft ebenso sicher und unanfechtbar zu begründen, wie die Forderungen der ärztlichen Kontrolle und der beruflichen Pflegerinnen beim Kostkinderwesen“.1 Die Bedeutung seiner Untersuchung zur körperlichen und geistigen Verfassung der unehelichen Bevölkerung Frankfurts lag nicht sosehr in einer erneuten, diesmal empirisch fundierten Feststellung der gravierenden Schlechterstellung dieser Gruppe von Kindern.2 Das Novum in Spanns Untersuchung bestand vielmehr darin, dass er erstmals die sehr unterschiedlich gelagerten familiären Situationen, in denen uneheliche Kinder aufwuchsen, ins Auge fasste und deren positive wie negative Einflüsse auf die gesundheitliche und geistige Entwicklung der Minderjährigen genauer zu bestimmen versuchte.3 Damit aber lieferte er Ansatzpunkte für gezielte Verbesserungsvorschläge für die bisher befolgte obervormundschaftliche Kontrollpraxis. Da sich sowohl Spann als auch Klumker als Sozialwissenschaftler verstanden, war es naheliegend, dass sie vor allem die gesellschaftlichen Faktoren hervorhoben, welche die konstatierte „Degeneration“ der Unehelichen bedingten. Behauptungen, wonach die Unehelichen erblich „minderwertig“ seien, wiesen sie genauso entschlossen zurück wie die pauschalierende moralische Aburteilung der Kinder.4 Das hinderte sie jedoch nicht daran, die Praxis der Vormundschafts-
1
So Klumker in seinem Nachwort zu Spann [1904], S. 39. Spanns Untersuchung stützte sich hauptsächlich auf eine quantitative Auswertung der Frankfurter Militärstammrollen aus den Jahren 1870-1881. Nur die Daten der rund 600 in Frankfurt selbst geborenen unehelichen Kinder, ein Bruchteil der Gesamtzahl der „unehelichen“ Militärpflichtigen, fanden Eingang in die Untersuchung. Als Maßstab für die festgestellte „Degeneration“ mussten die Militärtauglichkeit, also das militärärztliche Attest zum Gesundheitszustand der Gemusterten, sowie die berufliche Stellung derselben im zivilen Leben herhalten (Spann [1905], S. 15 ff., 123 ff. u. 160 f.). 3 So glaubte Spann z.B. belegen zu können, dass uneheliche Kinder, die in Stiefvaterfamilien aufwuchsen, hinsichtlich ihrer physischen und geistigen Entwicklung kaum schlechter gestellt seien als eheliche Kinder und dass die Stiefvaterfamilie mithin „kein Erscheinung funktioneller Unehelichkeit“ darstelle. Dagegen konstatierte er bei den „eigentlichen Unehelichen“, also denjenigen, die bei ihren unverheirateten Müttern großwurden, bezogen auf ihre Militärtauglichkeit und berufliche Stellung ein „beträchtliches Maß an Degeneration“. Eine Mittelstellung nahmen schließlich die verwaisten Unehelichen ein, was Spann zu der zynisch klingenden Bemerkung veranlasste, „dass es für die unehelichen Kinder besser ist, ihre Mutter stirbt, als sie bleibt unverehelicht am Leben“. Spann [1905], S. 117 f. 4 So ließ sich etwa Klumker in seiner Kommentierung der ersten Ergebnisse aus Spanns Untersuchung vernehmen: „Dagegen trifft man oft die Ansicht, daß die Unehelichen doch geistig und körperlich minderwertiger seien als die Ehelichen. [...] Die Erfolge der Stiefvaterfamilie für die Unehelichen zeigen wieder, welch gutes Material da vorhanden ist. Wir lassen körperlich und geistig normale Kinder zugrunde gehen, wir sehen zu, daß sie Gefängnisse und Irrenanstalten in starkem Maße bevölkern, während all das bei ihnen nicht in höherem Maße einzutreten brauchte wie bei ehelichen Kindern. Wir lassen sie unter rohen Vorurteilen leiden und suchen Zustände für Naturverhängnis 2
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gerichte, die unter dem Beifall liberaler Sozialreformer und Frauenrechtlerinnen vielerorts in Deutschland dazu übergegangen waren, die Mütter selbst zu Vormündern ihrer unehelichen Kinder zu machen, scharf zu verurteilen und eine strengere staatliche Aufsicht sämtlicher alleinerziehender Mütter zu fordern.1 Aber die Zielsetzung, die sie mit der Berufsvormundschaft verfolgten, war noch weitaus ambitionierter. Nach ihrer Vorstellung sollte die Einrichtung zu nichts Geringerem als dem „Zentralorgan der gesamten, auf Erziehung und Familie gerichteten Sozialpolitik“ ausgebaut werden.2 In Hamburg hatte bemerkenswerterweise schon 1901 die Vormundschaftsbehörde im behördeninternen Schriftverkehr die Einrichtung einer Generalvormundschaft über alle unehelichen Kinder nach Leipziger Vorbild in Anregung gebracht.3 Dass die Initiative zunächst von der Vormundschaftsbehörde ausging, war nicht weiter verwunderlich, weil sich diese seit vielen Jahren mit den praktischen Problemen herumschlug, die mit der Durchsetzung der vermögensrechtlichen Ansprüche unehelicher Kinder gegenüber ihren „Erzeugern“ verbunden waren.4 Sowohl das WHK als auch die Allgemeine Armenanstalt standen seinerzeit der Anregung der Vormundschaftsbehörde ablehnend gegenüber und machten für ihren Standpunkt in erster Linie rechtliche Bedenken geltend. Daneben aber verwiesen sie auch auf das Fehlen entsprechender personeller Ressourcen, was im Falle des WHK angesichts des immensen Arbeitszuwachses, der mit der Übernahme der waisenrätlichen Geschäfte verbunden war, nur allzu verständlich war. Drei Jahre später wurde ein neuerlicher Vorstoß zur Einrichtung einer Berufsvormundschaft über alle unehelichen Kinder unternommen. Diesmal aber war es der Direktor des Armenwesens Buehl, der auf entsprechende Schritte drängte. Er verwies auf die „positiven Erfahrungen“ die nach Leipzig auch auszugeben, die einfach durch die Schuld unserer Gesellschaft geschaffen und erhalten werden.“ (Spann [1904], S. 41) 1 Spann [1905], S. 153. 2 Spann [1912], S. 558. „Das ist die große Mission der Berufsvormundschaft: neben der bisher fast allein betriebenen Arbeiterwohlfahrtspolitik eine auf Erziehung und Familie gerichtete Sozialpolitik auszubilden.“ A.a.O., S. 559. 3 Möglich geworden war eine solche Abweichung vom Prinzip der Einzelvormundschaft, wie e durch das BGB festgelegt worden war, durch einen ins Einführungsgesetz aufgenommenen Ländervorbehalt. Bei der Rechtsbestimmung handelte es sich um den EG BGB Art. 136 in Verbindung mit § 75 Hamburger AG BGB. Vgl. zu den frühen Diskussionen um die Einführung der Berufsvormundschaft in Hamburg detailliert: Huvalé [1980], S. 45 ff. sowie Schröder [1966], S. 141 ff. 4 Vom Umfang der obervormundschaftlichen Vermögenskontrolle im Falle unehelicher Kinder kann man sich leicht durch einen flüchtigen Blick in eines der zahlreichen „Vormünderprotokolle“ überzeugen, die im Bestand 232-1 Vormundschaftsbehörde, des Hamburger Staatsarchiv lagern. Die Sicherung der Alimentationsansprüche unehelicher Kinder war zumindest bis 1900 einer der am häufigsten genannten Gründe für die Einrichtung von (Spezial-)Vormundschaften.
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andere deutsche Großstädten wie Dortmund und Straßburg mit dem Institut gesammelt hatten. Gemeint waren damit natürlich in erster Linie die nicht unbeträchtlichen Einsparpotenziale, die mit der Einrichtung verbunden waren, denn in all jenen Fällen, in denen es den Einzelvormündern nicht gelang, die „Erzeuger“ der Kinder ausfindig zu machen und zur Erfüllung ihrer materiellen Verpflichtungen heranzuziehen, musste notgedrungen die Armenbehörde für den Unterhalt der Minderjährigen aufkommen. Auch Petersen hatte sich inzwischen von den Vorteilen der Berufsvormundschaft überzeugen lassen, warb aber unter den Mitgliedern des WHK zunächst vergeblich für seinen Plan, die vormundschaftlichen Befugnisse und Verpflichtungen einem speziellen Beamten zu übertragen.1 Wieder wurde alles für mehrere Jahre auf Eis gelegt. Erst ein Anstoß von außen brachte schließlich im April 1908 eine überraschend schnelle Lösung der bis dahin dilatorisch entschiedenen Frage: Der Präses der Verwaltungsabteilung für das Justizwesen wies die Vormundschaftsbehörde an, zukünftig all jene Vormundschaften über uneheliche Kinder dem Direktor des Waisenhauses zu übertragen, in denen der Großvater mütterlicherseits bereits verstorben oder nicht in der Lage war, das Amt zu bekleiden, und der GWR Schwierigkeit hatte, andere geeignete Vormünder zu finden.2 In Form einer bestellten Sammelvormundschaft wurde damit zum 1. Juli 1908 in Hamburg die Berufsvormundschaft eingeführt und dem Oberbeamten des Waisenhauses übertragen.3 Mit der Einrichtung der Berufsvormundschaft hatte Petersen seinen eigenen Einfluss und den des WHK in gleich mehrfacher Hinsicht ausbauen können: Zunächst einmal hatte er den Kreis der Minderjährigen, die vom WHK und seinen ehrenamtlichen Organen beaufsichtigt wurden, erheblich ausgedehnt. Neben den armenrechtlich hilfsbedürftigen Kindern erstreckte sich die Vormundschaft jetzt auch auf all jene Minderjährigen unehelicher Geburt, deren Großväter bereits verstorben, nicht zu ermitteln oder aus sonstigen Gründen an der Ausübung der ihnen nach dem BGB zustehenden Rechte und Pflichten verhindert waren. Eng damit verbunden war eine tiefgreifende Veränderung der den Waisenpflegern und ihren „Helferinnen“ zufallenden Aufgaben. Mussten sie sich als Hilfsorgane 1 In der Vormundschaftsbehörde wiederum war man inzwischen zu der Auffassung gelangt, dass es am besten sei, für die Ausübung der Personensorge wie bisher auf Einzelvormünder zurückzugreifen und nur die Unterhaltsprozesse von speziell beauftragten Anwälten führen zu lassen. 2 Huvalé [1980], S. 49 f. 3 Im Oktober desselben Jahres wurden dem WHK und seinen Organen durch Erlass eines speziellen Gesetzes auch einige Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit übertragen. So konnte das Kollegium fortan eidesstattliche Versicherungen der Mütter über die Person des Vater sowie die Annerkennung der Vaterschaft durch den Erzeuger von seinen eigenen Beamten aufnehmen lassen (BlHWpfl. 7/1908, Heft 7, S. 37). Das Gesetz wurde richtungsweisend für Entwicklung der Jugendwohlfahrt in Gesamtdeutschland. Der § 50 RJWG hat hier seine Wurzeln. Beamte des WHK wurden auch befugt, eidesstattliche Versicherungen des Kindesvaters entgegenzunehmen, ohne Umweg über einen Notar oder ein Gericht (Huvalé [1980], S. 54).
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des GWR zunächst mit der wenig attraktiven Rolle zufrieden geben, die Einzelvormünder hinsichtlich der Ausübung ihrer Personen- und – mit Einschränkungen – auch ihrer Vermögenssorge zu überwachen, so übten sie gegenüber den unehelichen Kindern jetzt selbst vormundschaftliche Funktionen aus.1 Sie fungierten dabei als Stellvertreter des Direktors des Waisenhauses in seiner Eigenschaft als Berufsvormund. Aus den Kontrolleuren der Kontrolleure waren somit eigenständige Aufsichtspersonen mit gesetzlich gestärkter Autorität geworden, die nur dem Direktor selbst Rechenschaft schuldig waren. Schließlich hatte Petersen dafür gesorgt, dass die Organisation der Berufsvormundschaft in Form einer Vereinsvormundschaft in Hamburg kaum noch Chancen hatte. Während die Vormundschaftsgerichte in Großstädten wie Berlin und Frankfurt a.M. vor allem privatwohltätige Vereine zur Beaufsichtigung der Erziehungs- und Vermögensverhältnisse unehelicher Kinder heranzogen, so hatte sich in Hamburg unter dem Einfluss des Direktors des Waisenhauses einmal mehr die staatliche Lösung behaupten können.2 Schon in den ersten eineinhalb Jahren ihres Bestehens konnte die Hamburger Berufsvormundschaft bedeutende Erfolge für sich verbuchen.3 Bis Ende Dezember 1909 waren nicht weniger als 3.466 uneheliche, nicht armenrechtlich unterstützte Kinder der Vormundschaft des Waisenhausdirektors unterstellt worden. In einem Fünftel dieser Fälle war es den Beamten des Kollegiums bereits gelungen, die „Erzeuger“ zur regelmäßigen Zahlung des Unterhalts zu verpflichten. Die Mehrheit von ihnen musste 25 Mark pro Monat an die Mütter bezahlen, eine Summe, die deutlich über dem bisher gültigen Alimentierungssatz lag. Fast 1.000 Mal war gerichtlich gegen die natürlichen Väter der Kinder vorgegangen worden, weil sich diese nicht freiwillig zur Zahlung des Unterhalts bewegen ließen. Ein Drittel dieser Klagen war bis zum Jahresende 1909 bereits erfolgreich gewesen. Der Rest schwebte noch, wurde in der zweiten Instanz verhandelt oder war wegen „begründeter Einrede“ (§ 1717 BGB), das heißt dem durch den vermeintlichen Kindesvater geführten „Nachweis“, dass die Mutter in der Konzeptionszeit noch mit anderen Männern geschlechtlich verkehrt hatte, abgewiesen worden. Insgesamt wurden mehr als 130.000 Mark Alimente durch das WHK 1 Vgl.: § 16 der „Geschäftsordnung für die Waisenpfleger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg“, Hamburg 1900. 2 Zahlenmäßig fassbar wird diese Dominanz an den Jahresberichten der Hamburger Kinderschutzvereine. Während der Jahresbericht des Vereins „Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“ im Jahre 1910 noch 20 durch den Verein geführte Vormundschaften anführte, war die entsprechende Rubrik aus den nachfolgenden Berichten vollständig verschwunden. Vgl. die von P.G. Müller herausgegebenen „Jahrbücher des Vereins Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“, Müller [1911] ff. 3 Zur Tätigkeit der Berufsvormundschaft des Hamburger Waisenhauskollegiums in den Anfangsjahren ihres Bestehens vgl.: BlHWpfl. 9/1910, Heft 7 u. 10/1911, Heft 3, S. 14 f.; die Jahresberichte des Waisenhauskollegiums aus den Jahren 1908-1910 in: VerwBer. 1908-1910 sowie Crasemann [1912].
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und seine Beamten eingezogen und immerhin 15.000 Mark an Unterhaltskosten konnten der Allgemeinen Armenanstalt für bereits bezahlte Pflegegelder erstattet werden.1 So imposant dieses Zahlenmaterial aber auch war, es verdeckte die Schwierigkeit, einen konkreten Nachweis für die allgemeine Wirksamkeit der Berufsvormundschaft als Instrument des Unehelichenschutzes zu erbringen.2 Die Veröffentlichung der ersten Zahlen dürfte denn auch in erster Linie darauf abgezielt haben, die anderen involvierten Behörden vom Erfolg der Einrichtung zu überzeugen. Der Rechtfertigungsdruck, der auf der neuen Einrichtung lastete, vergrößerte sich noch einmal beträchtlich, als die bestellte Berufsvormundschaft im Winter 1910 in eine gesetzliche Amtsvormundschaft umgewandelt wurde. An dem bisherigen Zustand änderte sich dadurch dreierlei: Bis dahin hatte die Vormundschaftsbehörde erst umfangreiche Recherchen anstellen müssen, um festzustellen, ob die mütterlichen Großväter die Vormundschaft über ihre Enkel übernehmen konnten. Erst wenn diese Nachforschungen negativ ausfielen, konnte der Direktor des Waisenhauses in einem stark formalisierten Verfahren zum Vormund bestellt werden. Er musste also die Vormundschaften wortwörtlich „sammeln“. Dieses für zu kompliziert und langwierig erachtete Prozedere entfiel von diesem Zeitpunkt an. Jede uneheliche Geburt führte nun automatisch zum Eintritt der Berufsvormundschaft.3 Des Weiteren war die Berufsvormundschaft nun nicht mehr an die Person des Direktors gebunden, sondern an dessen Amt. Mit den Worten von Petersen hörte die Vormundschaft damit auf, „private Funktion des Direktors zu sein, [der] Staat nimmt selbst die Handhabung der vormundschaftlichen Pflichten an sich“.4 Das wurde mit dem Begriff der Amtsvormundschaft angedeutet. Und schließlich war mit dem Wechsel zur gesetzlichen Amts1 Fast 90.000 der 130.000 M. entfielen auf regelmäßige Unterhaltszahlungen. Die 20 auf Betreiben des Berufsvormundes geschlossenen Abfindungsverträge machten noch einmal gut 40.000 M. aus. 2 Das hatte v.a. zwei Ursachen. Zum einen waren bisher keine differenzierten Daten über die obervormundschaftliche Kontrolle der durch Einzelvormünder ausgeübten Vermögenssorge erhoben worden, die zu einem Vergleich hätten herangezogen werden können. Zum anderen ließen sich die allgemeinen Anzeichen für eine Verbesserung der Lebenssituation unehelicher Kleinkinder, wie sie mit dem Rückgang der Säuglingssterblichkeit gegeben waren, nicht ohne Weiteres auf die Einführung der Berufsvormundschaft zurückführen. In einem 1909 in den „Blättern“ veröffentlichten Kommentar über die Entwicklung der Hamburger Säuglingssterblichkeit zeigte sich Petersen zwar überzeugt, dass deren Rückläufigkeit als Erfolg des Ausbaus der Jugendfürsorge zu werten sei. Gleichzeitig aber räumte er ein, dass es nicht möglich sei, den Anteil der einzelnen fürsorgerischen Maßnahmen an der festgestellten Abnahme zu bestimmen und dass alle Versuche zur Besserung der Situation umso weniger greifbare Resultate lieferten, je günstiger die Mortalität ohnehin schon ausfalle (BlHWpfl. 8/1909, Heft 3, S. 13). 3 Ausgenommen waren von dieser gesetzlichen Regelung nur die Kinder, die in den städtischen Entbindungsanstalten zur Welt gekommen waren (Huvalé [1980], S. 57). 4 Petersen [1911], S. 48.
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vormundschaft auch eine neuerliche Ausdehnung des Personenkreises und der Altersgrenze der Mündel verbunden. Die Vormundschaft wurde jetzt auf ausnahmslos alle unehelichen Kinder ausgedehnt, auch auf solche, die sich bei den leiblichen Müttern aufhielten – was bisher nur bei einer sehr großzügigen Auslegung geltenden Rechts möglich war –, und sie erstreckte sich fortan im Regelfall bis zur erreichten Volljährigkeit.1 Mit der Einführung der gesetzlichen Amtsvormundschaft war neben einer neuerlichen Steigerung der Verantwortung und Machtfülle des Direktors des WHK auch ein grundlegender Bruch mit der privatrechtlichen Ausdeutung, die das Institut der Vormundschaft im 19. Jahrhundert erhalten hatte, verbunden gewesen. Entsprechend groß war die Skepsis, mit der man der Einrichtung anfänglich begegnete. Es waren vor allem zwei Bedenken, die gegen die Amtsvormundschaft vorgetragen wurden. Der erste Kritikpunkt bezog sich auf die übergroße Anzahl von Vormundschaften, die auf nur eine Person entfielen. Man befürchtete, dass eine solche Häufung zwangsläufig zu einer berufsmäßigbürokratischen Ausübung des Amtes führen müsse, unter welcher letztlich die bevormundeten Kinder zu leiden hätten. Dass ein rechtskundiger Beamter in der Lage war, die Unterhaltsansprüche unehelicher Mündel schneller und effektiver durchzusetzen als ein unerfahrener Einzelvormund, leuchtete den meisten Kommentatoren noch ein. Wie aber stand es um die Personensorge, auf welche die Verfechter der Amtsvormundschaft ja einen besonderen Nachdruck legten? Konnte hier das so vehement eingeklagte Individualisierungsprinzip überhaupt noch realisiert werden, oder mussten sich nicht angesichts von mehreren tausend Mündeln, die auf eine Person entfielen, zwangsläufig schablonenhaftes Vorgehen und amtliche Routine einstellen? Petersen war sich augenscheinlich des Gewichts, das solchen Bedenken gerade in Hamburg mit seiner weitverbreiteten Skepsis gegenüber bürokratischen Verwaltungspraktiken zukam, durchaus bewusst.2 In seinen öffentlichen Stellungnahmen zur Berufsvormundschaft setzte er sich ausführlich mit dem Vorwurf des „Schematismus“ auseinander und versuchte die Kritiker zu beschwichtigen, indem er einerseits darauf hinwies, dass im Regelfall die Amtsvormund1 Schröder [1966], S. 145. Bisher war dies nur bei unehelichen Vollwaisen, unehelichen Kindern der Fall, deren Müttern das Personensorgerecht entzogen worden war, sowie – nach entsprechendem Beschluss des Armenkollegiums – bei Minderjährigen mit körperlichen und geistigen Gebrechen, die nicht in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten (Huvalé [1980], S. 56). 2 Bedenken gegen die unbegrenzte Häufung von Vormundschaften auf eine Person bzw. ein Amt wurden in Hamburg v.a. von den Vertretern der Sozialdemokratie erhoben, die mit ähnlichen Argumenten bereits Ende der 1890er Jahre für eine Abschaffung der Anstaltsvormundschaften eingetreten waren. Vgl. zum Aktionsprogramm der Hamburger Sozialdemokratie im Bürgerschaftswahlkampf 1898: „Hamburger Echo“ vom 24.11.1897, STAH 331-3 S 2837-6 Bd. 4 u. Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1907, S. 628.
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schaft mit der Durchsetzung der Alimentationsansprüche beendigt werde und er sich in allen übrigen Fällen zur Ausübung der Personensorge seiner Waisenpfleger als Stellvertreter bedienen werde.1 Gerade dieser Hinweis auf die Übertragung der Personensorge an die ehrenamtlichen Waisenpfleger ließ allerdings einen zweiten Einwand gegen die Berufsvormundschaft laut werden. War eine so umfassende und dauerhafte Delegation vormundschaftlicher Aufgaben und Verpflichtungen an einen Waisenpfleger rechtlich überhaupt zulässig? Mussten es sich die unehelichen Mütter wirklich gefallen lassen, bald diesen, bald jenen Vertreter des Generalvormundes in ihre Wohnung einzulassen? Mit dergleichen Fragen mussten sich nicht nur die Verwaltungsbeamten, sondern immer häufiger auch die Gerichte befassen. Im September 1909 erging in dieser Sache ein Grundsatzurteil des Preußischen Kammergerichts, dass die Vertretungspraxis grundsätzlich billigte und mit den besonderen sozialen Bedingungen des Großstadtlebens rechtfertigte. Das Gericht führte in seinem Urteil dazu aus: "Bei dem heutigen Stande der sozialen Verhältnisse, insbesondere in den stark bevölkerten Großstädten, hat sich in weiten Kreisen die Überzeugung Bahn gebrochen, daß die gewöhnliche Art der Vormundschaftsführung häufig unzureichend ist, um das Gedeihen hilfsbedürftiger Kinder zu sichern. Das hat zur Gründung von Vereinen geführt, die sich die Fürsorge für mittellose verwaiste und uneheliche Kinder zur besonderen Aufgabe gemacht haben. Ihre Tätigkeit üben diese Vereine in der Regel so aus, daß einer ihrer Angestellten sich nach und nach zum Vormunde für die sämtlichen in Betracht kommenden Kinder eines bestimmten Bezirks bestellen läßt und ihm zur Beaufsichtigung der Mündel und zur Sorge für ihr Wohlbefinden geeignete Helfer – meist Damen besserer Stände, die sich in wohltätiger Absicht der guten Sache widmen – zur Seite gestellt werden. Wenn der Vormund nun sich der Mitwirkung dieser Helfer bei der Führung seines Amtes bedient, so überträgt er ihnen zwar für den konkreten Fall die Wahrnehmung einer Tätigkeit, die zu dem Geschäftskreise seines Amtes gehört. Dies ist aber unbedenklich, solange der Vormund für das Verhalten der Helfer dem Vormundschaftsgericht gegenüber persönlich die Verantwortung trägt und durch die Mitwirkung der Helfer lediglich das Wohl der Mündel gefördert wird.“2
Die Diskussion um die Generalvormundschaft zeigt exemplarisch, dass der Ausbau der öffentlichen Jugendfürsorge und die flächendeckende Beaufsichtigung des Erziehungsverhaltens unverheirateter Mütter von Anfang an von einer lebhaften Bürokratiekritik begleitet wurde, und dass diese Kritik im Sinne eines Korrektivs gegen eine allzu unbedarfte Übernahme behördlicher Routinen wirkte. Obwohl die Einführung der Amtsvormundschaft und die Übertragung der 1 2
Vgl.: Petersen [1907b], S. 26 f. u. BlHWpfl. 9. Jg./1910, Heft 2, S. 6. ZBfVJF, Nr. 20, 1910.
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Personensorge auf ehrenamtliche Kräfte höchstrichterlich ausdrücklich gebilligt worden waren, war in einer Großstadt wie Hamburg die ambitionierte Absicht, die Amtsvormundschaft zu einem „Zentralorgan der familiären Sozialpolitik“ auszubauen, sowohl aus personellen als auch aus legitimatorsichen Gründen zum Scheitern verurteilt. Die Geschäfte der Hamburger Amtsvormundschaft beschränkten sich im Wesentlichen auf die Wahrnehmung der Vermögensverwaltung oder genauer: auf die Durchsetzung der Alimentationsansprüche der unehelichen Kinder. Dennoch hatte die Behörde durch ihre vormundschaftliche Stellung bei den unverheirateten Müttern und ihren Kindern gewissermaßen schon einmal den „Fuß in der Tür“ und konnte bei den ersten Anzeichen erzieherischen Fehlverhaltens oder kindlicher Devianz ohne größere Umschweife strengere behördliche Maßnahmen einleiten. Uneheliche Mütter waren also in der Ausübung ihrer Erziehungspflichten einer ungleich stärkeren Kontrolle als ihre verheirateten Geschlechtsgenossinnen ausgesetzt, und schon allein aus diesem Umstand gerieten sie und ihre Kinder weit häufiger in Kontakt mit der öffentlichen Jugendfürsorge als Letztere.
3.3.2.3 Erziehungsaufsicht und Jugendgerichtshilfe (1909) Neben der Erweiterung und internen Ausdifferenzierung der Anstaltserziehung „verwahrloster“ Jugendlicher und der Einführung der gesetzlichen Amtsvormundschaft stellte die „Erziehungsaufsicht“ die dritte zentrale jugendfürsorgerische Maßnahme dar, die in Hamburg noch vor dem Ersten Weltkrieg flächendeckend umgesetzt wurde.1 Auch sie zielte auf die Erziehung und Verhaltenskontrolle schulpflichtiger bzw. bereits aus der Schule entlassener Kinder und Jugendlicher ab. Im Gegensatz zur öffentlichen Ersatzerziehung „verwahrloster“ Minderjähriger, die schon auf eine recht lange Tradition zurückblicken konnte, stellte die ambulante Maßnahme der „Erziehungsaufsicht“ aber eine echte Innovation dar.2 Gemessen an ihrem Neuigkeitswert und den vielfältigen konzeptionellen Anstößen, die von ihr ausgingen, hat die „Erziehungsaufsicht“ in der bisherigen historischen Forschung gleichwohl nur eine höchst unzureichende Beachtung gefunden. Das dürfte einerseits darauf zurückzuführen sein, dass sie 1 Synonym für „Erziehungsaufsicht“ wurde nicht selten auch der ältere Begriff der „Schutzaufsicht“ verwandt, der jedoch ausschließlich auf Kontrolle und Legalbewährung abstellte. Petersen zog die Bezeichnung „Erziehungsaufsicht“ vor, weil es „sich bei dieser Maßnahme nicht nur um eine prohibitive Maßregel handeln [soll], um einen Schutz vor Rückfall in Straftaten, sondern um eine positive Förderung des Jugendlichen, eine Aufsicht über die Erziehung, die ihm zuteil wird seitens der Erziehungsberechtigten, und eine Aufsicht, die erziehlich wirkt.“ Petersen [1912], Anm. 15, S. 34. 2 Vorläufer können allenfalls in den Experimenten der Vormundschaftsgerichte mit den sogenannten Erziehungsbeistandschaften Ende des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Vgl. unten S. 466 ff.
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weniger greifbar war und ist als die Zwangserziehung: Weder anhand von Gesetzen und Verordnungen noch von baulichen Vorrichtungen lässt sich genauer bestimmen, was die Maßnahme ausmachte und worauf sie abzielte. Eng damit zusammen hängt, dass sich die „Erziehungsaufsicht“ nicht in demselben Maße politisieren ließ wie die Anstaltserziehung. Eine vergleichbar schwere und breit diskutierte „Krise“, wie sie der Fürsorgeerziehung Ende der 1920er Jahre bevorstand, hat sie nie durchgemacht. Damit aber scheint sie sowohl als Demonstrationsobjekt der These von den „Widersprüchlichkeiten der Moderne“ (Peukert) als auch der konkurrierenden Deutung einer „Blockade des Wohlfahrtsstaates“ (Gräser) auszuscheiden. Die Einführung der „Erziehungsaufsicht“ in der Hamburger Jugendfürsorge erfolgte im Kontext der Auseinandersetzung und Rezeption des amerikanischen Jugendgerichtssystems. Das viel bewunderte „probation system“ – „probation“ lässt sich wohl am besten mit „bedingter Aufschub der Verurteilung“ übersetzen – stellte vor allem eine erzieherische Fortentwicklung des strafrechtlichen Umgangs mit Minderjährigen dar.1 Gleichzeitig aber handelte es sich bei der „Erziehungsaufsicht“ auch um eine Erweiterung und – bezogen auf den Einzelfall – zuweilen auch um einen Ersatz für die in geschlossenen Anstalten vollzogene „Zwangserziehung“.2 Nicht zufällig fiel die Ausdehnung der Maßnahme in Hamburg zeitlich mit dem sprunghaften Anstieg des Zöglingsalters und den damit einhergehenden Disziplinierungsproblemen in Ohlsdorf zusammen. Insofern markierte die Einführung der „Erziehungsaufsicht“ auch den Beginn eines allmählichen Umdenk- und Lernprozesses in der öffentlichen Jugendfürsorge. Die Ausdehnung der ambulanten Erziehungsmaßnahmen hatte zwar für die Jugendlichen und ihre Lebenswelt nicht minder zweifelhafte Folgen als die Expansion der Anstaltserziehung. Sie zeigt aber auch, dass die Jugendfürsorge des Kaiserreichs zumindest in Teilen Deutschlands keineswegs nur durch Stagnation oder aggressive Steigerung, sondern ebenso durch die Suche nach zeitgemäßeren – und das hieß immer auch: breiter akzeptierten – Alternativen zur autoritärrepressiven Anstaltserziehung gekennzeichnet war. 1 Baernreither [1905], S. 124. Eine der frühesten systematischen Darstellungen der amerikanischen Jugendstrafrechtspflege, die auch dem „probation system“ breite Aufmerksamkeit widmete, stammte von dem österreichischen Industriellensohn und Parlamentarier Joseph Maria Baernreither, der sich in seiner Arbeit dem Ziel verschrieben hatte, Österreich aus der Ära des Manchesterliberalismus herauszuführen und nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich an der organisatorischen Neuordnung und Etablierung der staatlichen Jugendfürsorge im Alpenstaat beteiligt war (Baernreither [1905] und [1908]). Schon 1892 hatte P.F. Aschrott das US-amerikanische „probation system“ zur Nachahmung empfohlen, ohne jedoch auf seine fürsorgerische-erzieherische Ausgestaltung näher einzugehen (Aschrott [1892], S. 31 f.). 2 Vgl.: „Das ‚Probationsystem als Bestandteil des Zwangserziehungsverfahrens“ in: BlHWpfl. 7/1908, Heft 4, S. 22.
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Ähnlich wie die englische und amerikanische „probation“ war auch die „Erziehungsaufsicht“ ein „Surrogat von Verurteilung und Strafe“.1 Man machte sich die spezialpräventive Wirkung der drohenden Verurteilung bzw. der nicht minder als Strafe empfundenen Einweisung in eine „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ zunutze, um die betreffenden Kinder und Jugendlichen in „Freiheit“ zu überwachen und zu erziehen. Von der Führung der Minderjährigen sollte es abhängen, ob sie formell bestraft wurden oder nicht. Es handelte sich somit nicht um eine prozessuale Raffinesse, sondern um ein neues „sozialpädagogisches“ Instrument. Der Straf- bzw. Vormundschaftsrichter behielt zwar die Fäden in der Hand, die eigentliche Überwachung und Begleitung sollte aber durch ehrenamtliche oder bezahlte Aufsichtskräfte erfolgen. Der amerikanische „probation-officer“ trat sowohl als Kontrolleur als auch als sozialpädagogischer Helfer auf. DasVerhalten des Jugendlichen wurde von ihm durch persönliche Einbestellung im Falle nonkonformen Verhaltens sowie das Abhalten so genannter Kontrollversammlungen überwacht. In Zusammenarbeit mit der Familie sollte er aber darüber hinaus auch bei der Arbeitssuche, der Beschaffung von Wohnraum sowie gegebenenfalls bei der Überbrückung kleinerer finanzieller Engpässe behilflich sein. Gegenüber der stationären Ersatzerziehung hatte die „Erziehungsaufsicht“ eine ganze Reihe bedeutender Vorteile. Sie war erheblich kostengünstiger. Zähe Verhandlungen in Bürgerschaft und Senat um die Finanzierung der Maßnahme entfielen somit und einer flächendeckenden Anwendung stand nichts im Wege. Außerdem riss die „Erziehungsaufsicht“ die Jugendlichen nicht aus ihren lebensweltlichen Bezügen, ihren Ausbildungs- und Berufsverhältnissen heraus. Eine mühsame berufliche Reintegration, die an eine Unterbringung in Ohlsdorf oder Alsterdorf notwendigerweise geknüpft war, war also nicht erforderlich. Und gerade aufgrund dieser Tatsache konnten die Fürsorgebehörden mit einer viel größeren Akzeptanz der Maßnahme in der Bevölkerung rechnen. Die Vorzüge der „Erziehungsaufsicht“ gegenüber der Zwangserziehung strich Petersen in einem 1908 in den „Blättern“ erschienenen Artikel heraus: „Wie vor der Berührung mit dem Gefängnis, wird man auch tunlichst lange den Jugendlichen vor der Aufnahme in Zwangserziehung bewahren. Die Zwangserziehung stellt einen außerordentlich schweren Eingriff in die elterlichen Rechte dar. Der Familienzusammenhang wird zerrissen; wenn es sich um heranwachsende schulentlassene Jugendliche handelt, wird oft auch die wirtschaftliche Lage der Familie ernstlich gefährdet, nämlich dann, wenn der Arbeitsverdienst des Jugendlichen einen wesentlichen Anteil an dem Einkommen der Familie bildet. Wenn man nun auch in solchen Fällen, wo die Eltern nichts taugen und etwa selbst durch ehrloses und un1
Baernreither [1905], S. 124.
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sittliches Betragen ein unmittelbar schlechtes Beispiel geben, nicht vor dem rücksichtslosen Eingriff in die Familie zurückschrecken wird, sondern im Gegenteil mit aller Energie die Auflösung einer solchen Familie betreiben wird, gibt es doch auch Fälle, in denen die Eltern an der drohenden Verwahrlosung schuldlos sind. Entweder sind sie zu schwach, oder sie sind aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, ihren Kindern Aufsicht und Anhalt zu geben. – In Fällen der letzteren Art kann nun durch die Anwendung des probation system – die erziehliche Überwachung und Unterstützung der Eltern – vielfach geholfen werden.“1
Zur Durchführung der „Erziehungsaufsicht“ kam aus Sicht Waisenhausdirektors in Hamburg eigentlich nur eine Organisation in Frage: die ehrenamtliche öffentliche Waisenpflege. Das war nicht etwa ein Ausdruck von Petersens hoher Meinung über die fachliche und persönliche Qualifikation seiner ehrenamtlichen Kräfte. Im Gegenteil ließ diese seiner Auffassung nach noch sehr zu wünschen übrig. Wie Petersen aber zu Recht hervorhob, verfügten die ehrenamtlichen Organe der Waisenpflege im Unterschied zu den Mitgliedern von Privatvereinen wenigstens über ein gewisses Maß an amtlicher Autorität, und diese stellte eine wichtige Vorraussetzung dar, um in der geschilderten Weise überhaupt tätig werden zu können.2 Eine auf völlig freiwilliger Basis und ohne Zwang organisierte „Erziehungsaufsicht“ musste in seinen Augen ihren eigentlichen Zweck verfehlen. Die gesetzliche Grundlage der Ausübung der „Erziehungsaufsicht“ durch die Organe der öffentlichen Waisenpflege war vor dem Ersten Weltkrieg noch sehr wackelig.3 Ein ganz allgemeiner Auftrag zur Beaufsichtigung von Minderjährigen ergab sich aus der Anzeigepflicht, die das BGB dem WHK in all jenen Fällen auferlegte, „in denen das Vormundschaftsgericht zum Einschreiten berufen ist“ (§ 1675 BGB). Es ließ sich aus diesem Schutzauftrag allerdings für die Waisenpfleger nicht das Recht ableiten, sich in Fällen vermuteter „Kindeswohlgefährdung“ gegen den Willen der Eltern Zutritt zu deren Wohnung zu verschaffen. Viel größer war dagegen der Druck zu kooperieren, wenn bereits ein Zwangserziehungsverfahren eingeleitet worden war. Das entsprechende Landesgesetz hatte die Ermittlungstätigkeit in solchen Verfahren ausdrücklich dem WHK übertragen, ohne die Art und Dauer dieser Aufgabe genauer zu bestimmen. Da die im Auftrage des Kollegiums ermittelnden Pfleger aber die materielle Voraussetzung des Scheiterns der elterlichen Erziehungsbemühungen zu prüfen hatten, konnten sie sich nahezu ungehindert und beliebig oft in die Wohnung der betroffenen Familien begeben. Aus der Ermittlungstätigkeit konnte so unter der 1 „Das ‚Probationsystem als Bestandteil des Zwangserziehungsverfahrens“ in: BlHWpfl. 7/1908, Heft 4, S. 22. 2 Petersen [1909c], S. 28. 3 Zu den rechtlichen Voraussetzungen vgl.: BlHWpfl. 7/1908, Heft 8.
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Hand eine langandauernde „Erziehungsaufsicht“ werden, weil – wie Petersen ohne Umschweife eingestand – „Verweigerung derselben seitens der Eltern eine Verschlechterung ihrer Lage im Zwangserziehungsverfahren bedeutet“ hätte.1 Erst mit der Einrichtung des Hamburger Jugendgerichts Anfang 1909 und der darauffolgenden Übertragung aller Gerichtshilfetätigkeiten an das WHK begann allerdings der eigentliche Aufschwung der „Erziehungsaufsicht“ als jugendfürsorgerischer Maßnahme. Wurden 1908 erst 212 Jugendliche durch die ehrenamtlichen Organe des WHK beaufsichtigt, so stieg ihre Zahl im Folgejahr auf 718 und 1910 sogar auf 1.068 an.2 Die Anzahl der neu unter Erziehungsaufsicht gestellten Jugendlichen hatte sich also durch die systematische Einbindung des WHK in das Jugendstrafverfahren etwa verfünffacht. Es gab je nach Stand des Gerichtsverfahrens drei Möglichkeiten, eine „Erziehungsaufsicht“ als strafrechtliche Maßnahme gegenüber Jugendlichen durchzusetzen:
1
Die Nutzung des Auskunftsersuchens der Staatsanwaltschaft bzw. des Jugendgerichts zur Einleitung eines selbständigen Zwangserziehungsverfahrens; die „bedingte Strafaussetzung“ auf Empfehlung des WHK unter der Voraussetzung, sich eine Beaufsichtigung durch ehrenamtliche Kräfte gefallen zu lassen („Bewährungsaufsicht“), und schließlich die Beaufsichtigung als eine Art „Nachbetreuung“, wenn das Verfahren wegen mangelnder Beweise oder fehlender Einsichtsfähigkeit eingestellt werden musste.
A.a.O. Noch ungehinderter konnten die Waisenpfleger agieren, wenn die Zwangserziehung von der Vormundschaftsbehörde bereits angeordnet worden war, das WHK aber von einer Überweisung nach „Ohlsdorf“ bzw. ins Waisenhaus abgesehen hatte und die Zwangserziehung in der eigenen Familie erfolgte. Der Umfang der so begründeten Aufsichtstätigkeit dürfte allerdings eher marginal gewesen sein. 2 VerwBer. 1910 XXX, S. 14. Die Zahlen geben den Stand am Ende des jeweiligen Jahres an. Für den Zeitraum 1908-1910 weichen die Zahlenangaben in den gedruckten Quellen leicht voneinander ab. Nach Petersen [1911], S. 42, betrug die Zahl der neuangeordneten Erziehungsaufsichten 1908 bis 1910: 227, 525 u. 497. Die Gesamtzahl der 1910 geführten Aufsichten gibt auch er mit 1.068 an. Nach Schröder [1966], S. 140, der sich auf Generalakten der Jugendbehörde bezieht, stieg die Zahl der Aufsichten im Verlauf des Jahres 1910 von anfänglich 768 auf 1.068 an. Abgesehen von diesen geringfügigen Differenzen ist die Tendenz in der Entwicklung jedoch eindeutig: 1909 stieg die Zahl der Schutzaufsichten besonders stark an. In den nächsten zwei Jahren schwächten sich dieser Trend jedoch wieder deutlich ab, um sich 1912 dann erneut zu verstärken. Ende 1914 befanden sich nach Angaben des entsprechenden Verwaltungsberichts 2.357 Jugendliche unter der Erziehungsaufsicht des WHK.
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Die eigentliche Gerichtshilfetätigkeit, die das WHK ausübte, bestand in der Ermittlung der persönlichen Verhältnisse der betroffenen Minderjährigen auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft oder des Jugendrichters selbst.1 Nachdem die Staatsanwaltschaft anfänglich noch in vielen Fällen auf die Polizeikräfte und der Jugendrichter in seiner selbständig betriebenen Ermittlungstätigkeit auf die Hilfe des örtlichen Kinderschutzvereins zurückgegriffen hatten, war bereits im Sommer 1909 vom Hamburger Oberstaatsanwalt auf dem Verwaltungswege die alleinige Inanspruchnahme des WHK für diese Zwecke durchgesetzt worden.2 Im Verlauf des Jahres 1910 wurde die Behörde in knapp 1.000 Fällen um entsprechende Recherchen ersucht.3 Anders als beim Zwangserziehungsverfahren, ließ sich der vom WHK gewöhnlich über die Bezirksvorsitzenden an die ehrenamtlichen Waisenpfleger vor Ort weitergereichte Ermittlungsauftrag im Strafverfahren nicht ohne Weiteres zu einer regulären Beaufsichtigung der betreffenden Jugendlichen und ihrer Familien ausbauen. Die rechtliche Möglichkeit, schon die Strafverfolgung unter der Bedingung der Inanspruchnahme bzw. Akzeptanz pädagogisch-fürsorgerischer Maßnahmen auszusetzen, existierte in Hamburg wie im übrigen Deutschen Reich damals nicht. Außerdem war der Zweck und der Umfang der Ermittlungen relativ klar umrissen. Sie sollten vor allem über drei Punkte Auskunft geben: Wie stand es um die Einsichtsfähigkeit der Minderjährigen, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelte? War „bedingte Begnadigung“ bzw. Strafaussetzung zu empfehlen? Welche vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen waren zusätzlich oder parallel noch erforderlich?4 Dennoch haben das WHK und sein Direktor offenbar in zahlreichen Fällen versucht, schon während der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eine reguläre Erziehungsaufsicht zu installieren, indem sie durch einen entsprechenden Antrag bei der Vormundschaftsbehörde das Zwangserziehungsverfahren in Gang setzten.5 Vom pragma1 Die Mitwirkung ihrer Vertreter an der Hauptverhandlung hielt sich dagegen bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges in engen Grenzen. Mangels eines speziellen, festangestellten Beamten, der diese Aufgabe hätte wahrnehmen können, waren anfänglich offenbar regelmäßig die ermittelnden Waisenpfleger zur Hauptverhandlung geladen worden. Viele von ihnen empfanden diese Aufgabe jedoch als eine zu große zeitliche Belastung, woraufhin man dazu überging, sie nur noch in den Fällen zu laden, wo ihr Urteil über die persönlichen Verhältnisse und die Einsichtsfähigkeit des betreffenden Jugendlichen stark vom Eindruck des Staatsanwaltes bzw. Richters abwich oder sie selbst um ihre Ladung ausdrücklich gebeten hatten (Ramcke [1959], S. 141 u. BlHWpfl. 9/1910, Heft 2, unter Nr. 5). 2 Vgl. hierzu ausführlich: Ramcke [1959], S. 116 ff. 3 Petersen [1911], S. 44. 4 Der in diesen ersten Jahren als Jugendrichter tätige Wilhelm Hertz fügte seinen Auskunftsersuchen an das WHK routinemäßig schriftliche Instruktionen bei, die neben dem allgemeinen Zweck der Ermittlungen auch die im Einzelnen zu erhebenden Daten und die Vorgehensweise stichwortartig festzuhalten suchten (BlHWpfl. 8/1909, Heft 3 u. Ramcke [1959], S. 119). 5 Petersen [1911], S. 44. Auf diese Weise konnte das als schwerfällig empfundene strafrechtliche Verfahren durch das Eintretern der Jugendfürsorge gewissermaßen „überholt“ werden, indem man vollendete Tatsachen schuf und den oder die Jugendliche bereits in Ohlsdorf oder Alsterdorf unterge-
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tischen Standpunkt aus gesehen hätte schon die im ZEG von 1907 festgeschriebene Pflicht des Staatsanwalts, dem WHK all jene Fälle zu melden, in denen unter Umständen die Zwangserziehung angezeigt war, genügt, um eine Unteraufsichtsstellung der Kinder und Jugendlichen zu bewirken. Sehr viel klarer war die gesetzliche Grundlage der strafrechtlichen „Erziehungsaufsicht“, wenn sie nach der Verurteilung, also als „Bewährungsaufsicht“ und gegebenenfalls als Ersatz für den Vollzug der Freiheitsstrafe installiert wurde. Das Rechtsinstitut der „bedingten Begnadigung“, die rechtskräftig Verurteilten einen Erlass der Freiheitsstrafe in Aussicht stellte, wenn sie sich binnen einer Frist von drei Jahren keine neuen Straftaten zu Schulden kommen ließen, war in Hamburg durch Senatbeschluss 1896 eingeführt worden und fand sowohl auf Jugendliche als auch auf Erwachsene Anwendung.1 Dass bereits vor Einrichtung des Jugendgerichts die Begnadigung durch den Senat neben dem Stand des Strafregisters und der Legalbewährung der Jugendlichen auch vom Verlauf der erzieherischen Beaufsichtigung durch das WHK abhängig gemacht worden war, lässt sich einem Beitrag in den „Blättern“ vom Frühjahr 1908 entnehmen. Dort hieß es: „Um Minderjährige vor der Bekanntschaft mit dem Gefängnis zu bewahren, macht der Senat häufig von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch, indem die Verbüßung der vom Gericht ausgesprochenen Strafe um einige Jahre hinausgeschoben wird und dem Jugendlichen für den Fall der tadellosen Führung die Begnadigung in Aussicht gestellt wird. Wenn der Jugendliche in der Zeit der Bewährungsfrist sich irgend etwas zuschulden kommen läßt, kann er zu sofortiger Verbüßung der Strafe eingezogen werden. – Diese Maßregel hat sich sowohl in Hamburg als auch in anderen Bundesstaaten vorzüglich bewährt, indem ein hoher Prozentsatz der Verurteilten endgültig begnadigt werden konnte. Es liegt auf der Hand, daß die Erfolge dieses bedingten Strafaufschubes noch besser werden, wenn der Jugendliche während der Bewährungsfrist unter Beobachtung und erzieherischer Anleitung steht. Deshalb wird neuerdings in Hamburg an die Gewährung des bedingten Strafaufschubes die Bedingung geknüpft, daß der Jugendliche sich unter Aufsicht des Waisenpflegers
bracht hatte. Dass zumindest vor 1909 die Durchführung solcher Maßnahmen erst einmal abgewartet wurde und man je nach dem Erfolg erst danach an den Vollzug einer eventuell fälligen Haftstrafe dachte, geht aus einer Stellungnahme des Oberlehrers der Ohlsdorfer Anstalt Blunk von 1904 hervor (Vgl.: STAH 354-2, A 12, Bl. 15). 1 Ramcke [1959], S. 149 f. Für die Einführung der “bedingten Begnadigung” im Verfahren gegen jugendliche Straftäter hatten sich bereits seit Beginn der 1890er Jahre Wirth, von Liszt und Aschrott starkgemacht und damit eine ausufernde Debatte über die zukünftige Gestaltung des Strafrechts ausgelöst. Vgl. hierzu u.a.: Aschrott [1892], S. 33. 1903 war der “bedingte Strafaufschub” für Jugendliche auf Veranlassung des Reichsjustizamtes in den meisten Bundesstaaten Deutschlands eingeführt worden (Ramcke [1959], S. 150).
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stellt, und daß auch die Angehörigen sich die Kontrolle gefallen lassen. Im Falle des Widerstandes kann die Verhängung der angedrohten Strafe angeordnet werden."1
Schließlich wurden Jugendliche auch dann unter „Erziehungsaufsicht“ gestellt, wenn das Strafverfahren bereits beendet oder mangels Beweisen und/oder Einsichtsfähigkeit der Beschuldigten eingestellt worden war. Das WHK bekam in solchen Fällen automatisch die Strafakte zugesandt und konnte noch einmal in Erwägung ziehen, ob es geeignete Erziehungsmaßnahmen einleiten wollte. Es gibt manche Anzeichen dafür, dass zumindest dann, wenn das Verfahren eingestellt worden war oder mit Freispruch endete, die Kooperationsbereitschaft der Jugendlichen und ihrer Eltern nur sehr gering ausfiel, weil sie den Ausgang als Beweis dafür ansahen, dass – wie Petersen es formulierte – „alles in schöner Ordnung“ sei.2 Schloss sich die Beaufsichtigung jedoch an eine Verurteilung bzw. den Vollzug der Haftstrafe an, so konnte sie auch für Jugendliche von erheblichem Nutzen sein, weil sich ihre meist ohnehin schon geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch die Vorstrafe noch weiter verschlechtert hatten und sie bei der Suche nach einer Arbeits- oder Lehrstelle dringend auf Unterstützung angewiesen waren. Einerlei, ob sie nun im Rahmen des Zwangserziehungs- oder des Strafverfahrens installiert worden war – über die praktische Ausgestaltung der „Erziehungsaufsicht“ und ihre Erfolge ist bisher nur wenig bekannt. Der Sekundärliteratur und den gedruckten Quellen lässt sich nur entnehmen, wie die Erziehungsaufsicht ausgeübt werden sollte, aber nicht, wie sie tatsächlich ausgeübt wurde. Den Verwaltungsberichten, die sonst eine wertvolle Quelle für die Untersuchung der fürsorgerischen Praxis abgeben, sind selbst Angaben zum Alter und Geschlecht der unter Erziehungsaufsicht gestellten Minderjährigen nicht zu entnehmen. Nur sehr mühsam und unter Vorbehalt lassen sich aus den Berichten von Waisenpflegern einige Anhaltspunkte zur tatsächlich praktizierten Aufsichtstätigkeit entnehmen. Wie die amerikanischen Erfinder der „probation“ legte auch Petersen besonderen Wert darauf zu betonen, dass sich die „Erziehungs-“ und „Bewährungsaufsicht“ nicht in bloßer Überwachung erschöpfte: „Der mit der Überwachung betraute Waisenpfleger besucht möglichst oft die Familie des Jugendlichen, unterhält fortan Beziehungen mit seinem Arbeitgeber, läßt den Jugendlichen zu sich kommen, die Zeugnisse aus der Schule vorlegen, verkehrt mit den Rektoren und Lehrern, kurz, er sucht sich einerseits ein getreues Bild von dem 1
BlHWpfl. 7/1908, Heft 4. BlHWpfl. 7/1908, Heft 8. Auch bei der im Rahmen des Stafprozesses gewährten „bedingten Begnadigung“ haben anscheinend viele Eltern und Jugendliche anfänglich den Strafaufschub mit Straferlass verwechselt (Ramcke [1958], S. 157). 2
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Verhalten des Jugendlichen zu machen, andererseits nimmt er sich diesen selbst, wenn einmal Unebenheiten vorzukommen drohen, vor, er hilft ihm bei der Beschaffung von Arbeit u. dergl.“1
Dass man sehr bemüht war, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen und sich als Unterstützer ihrer erzieherischen Anstrengungen zu präsentieren, ist auch den Berichten der Waisenpfleger zu entnehmen, die Petersen als mustergültig in den „Blättern“ abdrucken ließ. Von praktischer Unterstützung, wie Hilfestellungen bei der Arbeitssuche und dergleichen mehr, ist im Gegensatz dazu nur sehr selten etwas zu lesen. Stattdessen wurden die Jugendlichen „scharf im Auge behalten“, wobei die Waisenpfleger, genau wie Petersen dies empfohlen hatte, ihre amtliche Autorität zumeist dadurch unterstrichen, dass sie auf die drohende Strafvollstreckung bzw. Unterbringung in Ohlsdorf hinwiesen. Die Intensität der Kontrolle drückte sich vor allem in der Häufigkeit der Besuche aus. Zur Frequenz seiner Besuche gab ein Waisenpfleger 1909 an, er habe das ihm zur Aufsicht unterstellte Schulmädchen A. in der Zeit vom 23. März bis 15. Juni zwölfmal aufgesucht „und zwar sechsmal in der Wohnung, dreimal in der Schule und dreimal in ihrer Nachmittagsstelle“.2 Das entsprach etwa einem Kontakt pro Woche, dürfte allerdings eher ein ideales Einzelbeispiel als die Norm gewesen sein. Was die Mittel der erzieherischen Beeinflussung anbetraf, so berichteten die Pfleger relativ monoton, die betreffenden Burschen und Mädchen „stets wieder ermahnt“, sie „ernstlich zur Rede gestellt“, „gehörig vorgenommen“ oder ihnen „scharf ins Gewissen geredet“ zu haben.3 Zuviel Verständnis und Umsicht, davon war auch Petersens überzeugt, war weder gegenüber den Jugendlichen noch den Eltern angebracht. Nicht nur Eltern, welche die Kinder durch schuldhaftes Verhalten selbst gefährdeten, sondern auch solche, die nicht in ausreichendem Maße kooperierten, sollten von der „Wohltat“ der Erziehungsaufsicht zum vornherein ausgeschlossen werden. Mit dem von Petersen beschworenen Wandel von der lediglich beobachtenden, überwachenden zur positiv helfenden, beratenden und fördernden Tätigkeit war es in der Praxis also dem Anschein nach nicht besonders weit her.4 Vor allem Müttern wurde regelmäßig der Vorwurf gemacht, zu viel Nachsicht in der Erziehung walten zu lassen und sich dadurch zur geheimen Komplizin ihrer Söhne und Töchter zu machen. Gestützt auf die Berichte der ehrenamt1 BlHWpfl. 7/1908, Heft 4. Vgl. auch: Petersen [1911], S. 43. "Die Auswahl zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Hilfeleistung, Besuch der Familie, Beratung der Eltern oder Pflegeeltern, Ermahnung der Jugendlichen, Unterstützung in der Erziehung, Arbeitsbeschaffung und Unterbringung, muß durch den Pfleger von Fall zu Fall getroffen werden." Petersen [1912a], S. 45. 2 BlHWpfl. 7/1908, Heft 4. 3 Ebd. und BlHWpfl. 8/1909, Heft 8. 4 Petersen [1912a], S. 47.
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lichen Waisenpfleger betrachtete es Petersen als einen Erfahrungswert, dass die Väter devianter Jugendlicher regelmäßig ordentliche und ehrenwerte Männer seien, ihre Mütter dagegen brav, aber schwach.1 Sie würden die Untaten ihrer Kinder vor den Vätern vertuschen und dadurch jede Autorität über sie verlieren. Weil aber auch die Waisenpfleger ihren Aussagen nicht trauen könnten, sollte in solchen Fällen von einem Aufschub der Strafvollstreckung Abstand genommen werden. Ein Sonderfall lag nach Ansicht Petersens in Stieffamilien vor. Er widersprach dem Klischee von der notorisch schlechten Behandlung durch Stiefeltern. Im Gegenteil würden gerade uneheliche Stiefkinder eher zu gut als zu schlecht behandelt werden, weil die Mütter die Stiefväter häufig an der gerechtfertigten Züchtigung ihrer nichtleiblichen Kinder hinderten.2 Obwohl es über das Alter der unter „Erziehungsaufsicht“ gestellten Minderjährigen keine amtlichen Angaben gibt, deutete vieles darauf hin, dass die Maßnahme vor allem gegenüber älteren, männlichen Jugendlichen zur Anwendung gelangte. In der Mehrzahl der von Petersen zitierten Berichte ist von 17- oder 18jährigen Jugendlichen die Rede, und auch die Hervorhebung von väterlicher Zucht und drohendem Verdienstausfall deutet auf die Überrepräsentanz von „Burschen“ hin. Außerdem waren unter den straffälligen Minderjährigen die männlichen Jugendlichen eindeutig in der Mehrheit, während die Neigung, Mädchen bei hervortretender sexueller Devianz ohne Umschweife wegzusperren, anscheinend noch immer ausgesprochen groß war. Bereits 1903 hatte einer der entschiedensten Verfechter des US-amerikanischen Jugendgerichtssystems, Amtsrichter Landsberg aus dem preußischen Lennep, jene Familienkonstellation einprägsam beschrieben, die seiner Meinung nach den Ausbau ambulanter Maßnahmen erforderlich machte: 1 Besonders deutlich trat diese polare Charakterisierung der Geschlechter in einem in BlHWpfl. 8/1909, Heft 8 abgedruckten Pflegebericht hervor, in dem es hieß: "Namentlich halte ich seinen Vater für einen respektablen, strebsamen Mann, der für seine zahlreiche Familie nach Kräften sorgt. Ich habe auf P. eingeredet, alles daran zu setzen, seinen Sohn zum Guten anzuhalten. P. ist mir in rührender Weise in jeder Hinsicht entgegengekommen, und ich vertraue, daß er sein Versprechen halten wird, und daß auch seine Bemühungen Erfolg haben werden. Die Mutter des P. macht einen weniger günstigen Eindruck, sie scheint mir einen etwas verschlagenen Charakter zu haben." 2 In einem kurz vor seinem Tod veröffentlichten Artikel Petersens hieß es: „Stiefkinder verwahrlosen, weil der Stiefvater nicht den Mut gehabt hat, das voreheliche Kind seiner Frau anzufassen. Auf die Frage, warum der Stiefvater denn nicht Unehrlichkeiten, Herumtreibereien u. dgl. im Keime, in den ersten Anfängen erstickt habe und nicht schon rechtzeitig z.B. dem regelmäßig herumstrolchenden Burschen mal eine gehörige Tracht Prügel gegeben habe, hört man immer wieder die Antwort: "Ich wollte mich nicht an fremden Fleisch und Blut vergreifen.“ BlHWpfl. 12/1913, Heft 6. Die Passage zeigt exemplarisch, dass der Direktor der Hamburger Jugendbehörde ein autoritäres Erziehungskonzept vertrat und dass sein Misstrauen gegenüber der „Weichheit“ der Frauen in Erziehungsangelegenheiten allgemein war und sich nicht etwa nur auf die Mitwirkung von Frauen als ehrenamtliche Waisenpflegerinnen bezog.
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„Ein Fall, der uns Vormundschaftsrichtern häufig begegnet, ist der: Der Sohn, 16 bis 17 Jahre alt, verdient soviel Geld, daß die Familien wirtschaftlich von seinem Arbeitswillen abhängt. Er muß deshalb bei Stimmung gehalten werden. Und so wird ihm alles erlaubt, wonach er irgend Begehr tragen könnte. Von irgend welchem Gehorsam gegenüber den Elterlichen Weisungen ist keine Rede mehr. Der Jugendliche fühlt seine Macht, gebraucht sie, missbraucht sie. [...] Gleich der Familie denken Richter, Antragsbehörde und Landeshauptmann bei Prüfung der Frage, ob F(ürsorge)E(rziehung) ‚notwendig’, ‚erforderlich’, nur an die Notwendigkeit der Verbringung in eine Anstalt oder eine fremde Familie, bei diesem Alter sogar nur an eine Anstalt. Wird das Anstaltsbedürfnis verneint, so entfällt für die so denkenden natürlich auch das FE.-Bedürfnis. Dächten sie aber an die FE., vollstreckt in der eigenen Familie, würden sie ebenso einstimmig das FE.- Bedürfnis bejahen. Denn diese FE. Kann die Wirkung einer sehr machtvollen, vom Vormundschaftsgerichte unabhängigen Schutzaufsicht erlangen.“1
Die „Erfolge“ der Erziehungsaufsicht ließen sich begreiflicherweise noch schwerer erfassen als ihre erzieherische Ausgestaltung und das Alter der betroffenen Minderjährigen. Auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft bei Aufsichten, die im Anschluss an das Strafverfahren angeordnet wurden, wurde bereits hingewiesen. Etwas konkretere Aussagen lassen sich hinsichtlich der „Bewährungsaufsicht“ treffen. Misst man den Erfolg der im Rahmen eines bedingten Strafaufschubes installierten „Erziehungsaufsichten“ an der Quote endgültig begnadigter jugendlicher Straftäter, so waren die erzielten Ergebnisse sowohl für das Jugendgericht als auch das WHK durchaus ermutigend. "Wir können den Segen des Strafaufschubes und der Erziehungsaufsicht gar nicht hoch genug veranschlagen“, freute sich Johannes Petersen 1912 und wies darauf hin, dass die Mehrzahl jener Jugendlichen, die bedingten Strafaufschub erhalten hatten, nach Verlauf der Bewährungsfrist zur endgültigen Begnadigung vorgeschlagen werden konnten.2 Fünf Jahre später wurde die Erfolgsquote der „bedingten Begnadigung“ sogar mit 80 Prozent angegeben.3 Die „Erziehungsaufsicht“, so kann in Bezug auf die Hamburger Praxis zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgehalten werden, hatte durchaus das Potenzial, die repressive Institution der geschlossenen Anstaltserziehung schrittweise durch weniger einschneidende, ambulante Formen der Erziehung und Beaufsichtigung zu ersetzen oder doch erheblich einzuschränken. In der Umsetzung blieb von diesem Ideal allerdings nicht viel übrig. Zum einen stand nämlich die Erziehungsaufsicht in einem engen systematischen Zusammenhang mit den „härteren“ Maßnahmen der Jugendstrafe und Zwangserziehung, und dieser Konnex wurden 1
Landsberg [1903], S. 159 f. Hervorhebungen im Original. Petersen [1912a], S. 36. 3 Rahmke [1959], S. 162. 2
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gezielt dazu genutzt, die Eltern und Jugendlichen zur freiwilligen Zusammenarbeit in der „überwachten Freiheit“ zu zwingen. Die Folge war, dass die Vermehrung der „Erziehungsaufsichten“ nicht etwa zu einer Verminderung der einschneidenderen Sanktionsformen und Erziehungsmaßnahmen führte. Vielmehr stellten sie eine Erweiterung und Ergänzung der repressiven Jugendfürsorge dar.1 Zum anderen war die Art und Weise, wie die „Erziehungsaufsichten“ in der Praxis durchgesetzt wurden, unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten höchst bedenklich, denn zumindest im Rahmen eines laufenden Zwangserziehungsverfahrens konnte die Maßnahme nur durch eine sehr extensive Rechtsauslegung begründet werden. Auch eine genauere Prüfung der Erforderlichkeit der Maßnahme, bei der den Betroffenen Gelegenheit gegeben worden wäre, zu ihrer familiären Situation Stellung zu nehmen, fand nicht statt. Schließlich blieb die „Erziehungsaufsicht“, wie sie von den ehrenamtlichen Waisenpflegern ausgeübt und ausgestaltet wurde, auch von dem amerikanischen Modell des „probation officers“ noch weit entfernt. Im Vordergrund der Aufsichtstätigkeit stand weiterhin die Kontrolle. Positive Formen der Unterstützung wie Hilfestellungen bei der Arbeits- oder Wohnungssuche, Beratungen in Rechtsfragen und bei der Berufswahl, Beschaffung von Papieren und Arbeitsausrüstung etc. spielten nur eine nachgeordnete Rolle. Einer sozialpädagogischen Ausgestaltung der „Erziehungsaufsicht“ standen nicht nur die begrenzten zeitlichen Ressourcen der ehrenamtlichen Kräfte im Wege, sie scheiterte auch an der mangelhaften Qualifikation der Waisenpfleger sowie an den mentalen und kulturellen Gräben, die sich zwischen den kleinbürgerlichen Waisenpflegern und den beaufsichtigten Jugendlichen auftaten.
3.3.2.4 Fürsorge für Säuglinge und Kleinkinder: Säuglingsschutz und Kostkinderwesen (1910) Wie schon im Zusammenhang mit der gesetzlichen Amtsvormundschaft deutlich wurde, war Anfang des 20. Jahrhunderts neben den bereits schulentlassenen Jugendlichen noch eine zweite Altersgruppe von Minderjährigen in den Fokus der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge gerückt: die (unehelichen) Kinder im Säuglings- und Kleinkindalter. Bei den Maßnahmen, die auf diese Kategorie von Kindern abzielten, war allerdings vor allem pflegerischer und medizinischer 1
Entscheidend war dabei, dass die Restriktionen, die dem uneingeschränkten Ausbau der öffentlichen Anstaltserziehung in finanzieller Hinsicht entgegenstanden, auf diesem Wege fast vollständig außer Kraft gesetzt wurden. Dies zeigte sich v.a. im Verlauf des Ersten Weltkriegs, als die Zahl der angeordneten Erziehungsaufsichten noch einmal erheblich anstieg. Die kriegsbedingten Notlagen, der Wegfall „väterlicher Zucht“ sowie die Unmöglichkeit, alle „verwahrlosten“ Jugendlichen geschlossen unterzubringen, dürften hierfür den Ausschlag gegeben haben.
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Sachverstand gefragt. Wenn überhaupt, dann bezogen sich die Bemühungen, gezielte Verhaltensveränderungen herbeizuführen, hier auf die jungen Mütter bzw. die meist ebenfalls weiblichen Pflegepersonen der Kinder. Insofern kann der öffentliche Säuglingspflege auch deutlich knapper abgehandelt werden als Zwangserziehungswesen und Erziehungsaufsicht. Der Säuglingsschutz war kurz nach der Jahrhundertwende im Deutschen Reich zu einem sozial- und bevölkerungspolitischen Thema ersten Ranges geworden. Wieder war es der DVAW, der wesentliche Impulse für die Gestaltung entsprechender gesetzgeberischer und fürsorgerischer Maßnahmen lieferte. Auf seiner Mannheimer Jahreskonferenz im Jahre 1905 stand der Säuglingsschutz ganz oben auf der Tagesordnung, und in einer entsprechenden Resolution wurde eine ganze Palette von gesundheits- und sozialfürsorgerischen Maßnahmen zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensverhältnisse von werdenden Müttern und Kindern im ersten Lebensjahr gefordert. Sie reichten von der Propagierung der Brusternährung als "vornehmste Pflicht jeder Mutter" und der Bereitstellung geeigneter und billiger Säuglingsmilch über die gesetzliche Verbesserung des Wöchnerinnenschutzes bis hin zur Einrichtung von Säuglingsheimen und hospitälern sowie der verbesserten staatlichen Beaufsichtigung der unehelichen und fremdplatzierten Säuglinge.1 Nach Meinung der Fürsorgevertreter lag es auf der Hand, dass die Anstrengungen zur Verminderung der Säuglingssterblichkeit nicht allein der öffentlichen Waisenpflege überlassen werden konnten. Da es um die Reduzierung der Säuglingssterblichkeit in den unteren Bevölkerungsschichten ganz allgemein ging, legte man Wert darauf, den Säuglingsschutz institutionell von der stigmatisierenden Armenfürsorge loszulösen und ihn vorwiegend auf dem Weg privatwohltätiger Initiative zu stärken. Ebenso selbstverständlich war es jedoch, dass die kommunalen Bemühungen gegenüber denjenigen Kindern noch einmal intensiviert werden sollten, die als besondere „Risikogruppe“ galten und sich größtenteils schon unter staatlicher Aufsicht befanden: die unehelich geborenen Kinder. In Hamburg war, wie weiter oben bereits ausgeführt, mit der Anstellung der ersten Kinderpflegerinnen schon 1904 die medizinisch-pflegerische Überwachung der unehelichen, fremdplatzierten Säuglinge und Kleinkinder nach Leipziger Vorbild intensiviert und professionalisiert worden. Die Konzessionierung und Vermittlung von Koststellen verblieb aber nach wie vor im Kompetenzbereich der Gewerbepolizei. Erst im Frühjahr 1910 gingen auch diese Aufgaben in die Zuständigkeit der neu gegründeten „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ über. Die Übertragung der Zuständigkeiten hatte nicht nur fachlich1
Vgl. hierzu: BlHWpfl. 4/1905, Heft 7, S. 29 f.
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organisatorische Gründe. Dadurch, dass der Direktor der Behörde nach dem EG BGB nur dann als gesetzlicher Amtsvormund eingesetzt werden konnte, wenn seine Mündel auch in einer „von ihm ausgewählten“ Familie verpflegt wurden, er nach Landesrecht aber gar keinen Einfluss auf die Auswahl der Pflegestellen nehmen konnte, war eine rechtliche Unvereinbarkeit entstanden, die dringend behoben werden musste.1 Zugleich mit der Konzessionierung ging auch der bisher ebenfalls von der Polizeibehörde betriebene „Koststellennachweis“ an die Behörde über. Beim „Koststellennachweis“ handelte es sich um einen Vermittlungsdienst, bei dem sich amtlich geprüfte Kosteltern, die noch weitere Kinder aufnehmen wollten, registrieren lassen konnten und Eltern, die auf der Suche nach einer dauerhaften Unterbringungsmöglichkeit für ihre Kinder waren, auf entsprechende offene Pflegestellen aufmerksam gemacht wurden. Petersen sah im Koststellennachweis indes vor allem ein Instrument, um Eltern, die ihre Kinder mit dem Argument bei ungeeigneten Pflegeeltern beließen, sie könnten keine besseren Koststellen finden, diesen „Vorwand“ zu nehmen.2 Die für die Konzessionierung erforderliche Prüfung der persönlichen und häuslichen Verhältnisse der Pflegeeltern fiel in den Aufgabenbereich der hauptberuflichen Kinderpflegerinnen und gestaltete sich in der Praxis wie folgt: Die Personen, die ein Kind entgeltlich in Kost und Pflege nehmen wollten, mussten entweder im Verwaltungsgebäude der Behörde, beim zuständigen Bezirksvorsteher oder bei einer der Kinderpflegerinnen selbst vorstellig werden, sich ausweisen und einen formlosen Antrag auf Erteilung einer Koststellenerlaubnis stellen. Daraufhin erfolgte die eingehende Prüfung der Wohnung durch die Kinderpflegerinnen oder – bei älteren Kindern – durch die Waisenpfleger des Bezirks. Gegebenenfalls sollte ein Amtsarzt zur Prüfung der Wohnhygiene hinzugezogen werden. Parallel dazu wurde durch die Behördenzentrale eine Überprüfung der persönliche Situation der Pflegeeltern durch Akteneinzug bei der Polizeibehörde veranlasst. Entsprachen sowohl Wohn- als auch persönliche Verhältnisse den von der Behörde aufgestellten Grundsätzen, so wurde die Bewilligung bis auf Widerruf erteilt.3 Als Minimalstandards für die Erlaubniserteilung, bei der ansonsten streng individualisierend vorgegangen werden sollte, galten folgende Kriterien: Die Wohnungen mussten hell, trocken und geräumig sein. Schwere Mängel der Wohnhygiene sollten zur Verweigerung der Erlaubniserteilung führen. Genauso sollte mit Antragstellern verfahren werden, die über eine für die Familie an sich ausreichende Wohnung verfügten, sich aber durch Überbelegung der Schlafzimmer eine "gute Stube" freihielten. Als in der Person liegende Verweigerungsgründe wurden angesehen: schwere, ansteckende Erkrankungen oder 1
BlHWpfl. 9/1910, Heft 1, S. 3. Petersen [1911], S. 56. 3 A.a.O., S. 55 f. und 105. 2
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allgemeine Gebrechlichkeit; eine übergroße Anzahl eigener, noch pflege- bzw. erziehungsbedürftiger Kinder; sowie besonders desolate wirtschaftliche Verhältnisse, die eine ausreichende Ernährung der Kinder zweifelhaft erscheinen ließen. Als sittlich unbefähigt galten außerdem Frauen, die unter sittenpolizeilicher Kontrolle standen, „Trinker“ und all jene Personen, die in unmittelbarer Vergangenheit eines Deliktes überführt worden waren, das ihre Eignung als Erziehungsperson in Frage stellte.1 Im Falle der Konzessionierung von Koststellen bedeutete eine streng individualisierende Vorgehensweise, dass ehemalige Prostituierte und Straftäter, mit ansteckenden Krankheiten Behaftete und Empfänger von Armenunterstützung keineswegs prinzipiell von der Haltung von Kostkindern ausgeschlossen wurden. Lag die Straftat oder die Ausübung der „gewerbsmäßigen Unzucht“ schon längere Zeit zurück und führten die Antragsteller aktuell einen soliden Lebenswandel, so konnte auch ihnen die entsprechende Erlaubnis erteilt werden. Selbst Syphilitikerinnen wurden unter Umständen als geeignete Kostmütter angesehen, nämlich dann, wenn Kinder unterzubringen waren, die selbst an einer erblichen Syphilis litten. Im Vergleich zu den Kriterien, die Stalmann seinerzeit für die Beaufsichtigung der öffentlich geförderten Koststellen aufgestellt hatte, war die Konzessionierungspraxis also sehr viel stärker an räumlichen Gegebenheiten und hygienischen Standards sowie an den individuellen Besonderheiten und Bedürfnissen von Pflegekindern und Pflegeeltern orientiert.2 Nicht mehr die Einhaltung unumstößlicher moralischer Grundsätze, sondern pragmatische Entscheidungen von Fall zu Fall waren nach 1910 gefragt. Zur Veranschaulichung der Dimensionen, die dieses neue Tätigkeitsfeld der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ annahm, seien auch hier einige Zahlen angeführt. Im Verlaufe des Jahres 1910 waren etwas mehr als 3.400 Konzessionsanträge von der Behörde und ihren Mitarbeitern bearbeitet wor-den. Die große Masse wurde positiv beschieden. Nur in 137 Fällen wurde die Erlaubnis verweigert, und zwar hauptsächlich aus Gründen, die in der Person der Antragsteller lagen.3 Nicht nur die der Konzessionierung vorausgehende Prüfung der häuslichen Verhältnisse, sondern auch die laufende Überwachung der einmal bewilligten Pflegestellen war Aufgabe der hauptamtlichen Kinderpflegerinnen. Sie hatten die unter Aufsicht der Behörde stehenden, in Familienpflege untergebrachten Kleinkinder bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr in der Regel alle 14 Tage aufzu1 BlHWpfl. 10/1911, Heft 6. Karl Stalmann hatte sich schon auf der Jahresversammlung des DVAW in Breslau 1899 ausführlich zu den Auswahlkriterien der Pflegestellen geäußert. Um einen vernünftigen Ausgleich zwischen Stadt- und Landbevölkerung zu erreichen, hatte er damals noch der Landpflege den Vorzug gegeben, daneben aber die Bedeutung eines ausreichenden Pflegegeldes hervorgehoben (Münsterberg [1905], S. 124 f.). 2 Vgl. hierzu auch oben S. 217, Anm. 3. 3 VerwBer. 1910, XXX, S. 11.
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suchen, sollten die Pflegemütter zur sachgemäßen Ernährung und gesundheitlichen Versorgung anleiten und ihre Befunde schriftlich dem leitenden Arzt der Behörde mitteilen.1 Bei festgestellten schweren hygienischen oder gesundheitlichen Mängeln sollte eine entsprechende Meldung an die Behördenzentrale erfolgen. Ähnlich sollte im Falle des unangemeldeten Umzuges der Kost- und Pflegeeltern verfahren werden. Neben der erstmaligen Prüfung der Wohnverhältnisse von Kosteltern im Rahmen des Genehmigungsverfahrens und der fortlaufenden Beaufsichtigung der Pflegestellen vor Ort kam als dritter Aufgabenschwerpunkt der Kinderpflegerinnen die Mitwirkung bei den ärztlichen Reihenuntersuchungen in den fünf über die Stadt verteilten Untersuchungsstationen hinzu.2 Diese zweimal monatlich stattfindenden obligatorischen Sprechstunden sollten neben einer eingehenden ärztlichen Begutachtung des Gesundheitszustandes jeden Kindes als eine Art klinische Fortbildungsveranstaltung für die Kinderpflegerinnen dienen. Ganz nebenbei wurde durch die ärztlichen Instruktionen jedoch auch den Ratschlägen, die die Pflegerinnen den Kosteltern erteilten, mehr Nachdruck verliehen.3 Da durch die Einrichtung der Berufsvormundschaft des WHK der Kreis der gesundheitlich zu überwachenden Kleinkinder stark ausgedehnt worden war, war auch der Arbeitsanfall bei den Sprechstunden mit der Zeit ganz erheblich angewachsen: 1909 wurden an 58 Tagen insgesamt fast 5.700 Kleinkinder vorgestellt, an einem Tag mithin fast 100.4 Es lässt sich angesichts solcher Zahlen leicht ermessen, wie hoch die Arbeitsbelastung der Kinderpflegerinnen zumindest in den Anfangsjahren gewesen sein muss. Allein die zu Fuß zu bewältigenden Besuche der etwa 170 Koststellen, für die die ersten zwei Pflegerinnen zuständig waren, nahmen sieben bis acht Stunden ihrer täglichen Arbeitszeit in Anspruch. Weitere eineinhalb Stunden erforderte die Erledigung der umfangreichen amtlichen Dokumentationspflichten. Die vergleichsweise geringe Entlohnung – die Kinderpflegerinnen erhielten eine Vergütung von jährlich 1.000 Mark – stand in einem krassen Missverhältnis zu 1 Der Oberarzt der Behörde, Dr. Carl Manchot, umriss die Aufgabe der Kinderpflegerinnen in einem 1910 im Rothenburgsorter Volksheim gehaltenen Vortrag dahingehend, dass diese bei ihren Hausbesuchen darauf achten sollten, dass "die allgemeinen Gebote der Wohnungspflege, Luft, Licht und Reinlichkeit, erfüllt werden, daß die Pflege und die Ernährung der Kinder verständig und sachgemäß gehandhabt wird. Für alle diese Aufgaben sind die Kinderpflegerinnen in einem besonderen Unterrichtskurse im Waisenhause vorgebildet." BlHWpfl. 10/1911, Heft 1. 2 Solche Stationen existierten in Uhlenhorst (Waisenhaus), in Hamm/Borgfelde, St. Pauli, Eimsbüttel und in Rothenburgsort. Im Jahre 1904 waren noch alle 0-2-jährigen Waisenpfleglinge und Privatkostkinder zur ärztlichen Reihenuntersuchung in die Säuglingsabteilung des Waisenhauses einbestellt worden. Da die Pflegeeltern mit ihren Kindern aber z.T. von sehr weit her anreisen mussten und es auch keine Warteräume gab, entschied man sich, dezentrale Untersuchungsstellen einzurichten. 3 Petersen [1911], S. 123. 4 VerwBer. 1909, XXX, S. 23.
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dieser zeitaufwendigen, anstrengenden und vor allem verantwortungsvollen Tätigkeit.1 Allerdings hat sich die Arbeitsbelastung der Pflegerinnen bis zum Ersten Weltkrieg vermutlich doch allmählich verringert, denn Bürgerschaft und Senat hatten die Anzahl der Stellen alle zwei Jahre erhöht, so dass Anfang 1910 bereits zwölf Kinderpflegerinnen für das WHK tätig waren. Die gesundheitliche Überwachung der in Pflegestellen untergebrachten Mündel, Kost- und Waisenkinder war der zentrale Stützpfeiler der modernen staatlichen Kleinkinder- und Säuglingsfürsorge. Seit Jahren aber existierte noch eine zweite, stationäre Form der Fürsorge für die jüngsten unter den öffentlich versorgten Kindern. Im Zuge der Reorganisation der Waisenpflege war bereits 1892 im Waisenhaus eine spezielle Säuglingsstation eingerichtet worden.2 Beide Fürsorgemaßnahmen, stationäre Behandlung und Überwachung der Familienpflege, sollten dergestalt ineinander greifen, dass Kinder, die im Säuglingsalter der Waisenpflege anheimfielen, weil sie ausgesetzt, verlassen oder durch ihre Eltern „vernachlässigt“ oder „sittlich gefährdet“ worden waren, zur Beobachtung und Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes zunächst einmal ins Waisenhaus gebracht wurden, von wo aus sie nach einigen Wochen in geeignete Pflegestellen vermittelt werden sollten. Umgekehrt sollten Säuglinge und Kleinkinder, die bei ihren Pflegeeltern gesundheitlich gefährdet erschienen, sofort wieder in die Säuglingsstation zurückverlegt werden.3 Damit das System erfolgreich arbeiten konnte, mussten die anfänglich noch recht bescheidenen Kapazitäten der Säuglingsstation allerdings erst einmal stark ausgebaut werden: Zeitgleich mit der Anstellung der ersten Kinderpflegerinnen war die Abteilung räumlich erweitert und personell aufgestockt worden, so dass zur Aufnahme und Pflege schwächlicher oder kranker Säuglinge ab 1905 drei Säle mit 90 Betten und etwa 20 Schwestern bzw. Schwesternschülerinnen zur Verfügung standen.4 1 Verh. Senat/Bürgerschaft 1904, S. 393 u. 750. Das war etwa so viel, wie ein ungelernter Gelegenheitsarbeiter zu jener Zeit verdiente. Zum Vergleich: Der zweite Arzt des Waisenhauses, der die Säuglingsstation sowie die ärztliche Überwachung der in Familienpflege befindlichen Kleinkinder übernehmen sollte, erhielt 2.500 Mark jährlich – wohlgemerkt für eine Nebentätigkeit, denn es wurde im diesbezüglichen Antrag des Senates hervorgehoben, dass der Arzt seine Privatpraxis weiterführen solle. Zur Tätigkeit und Arbeitsbelastung vgl. ausführlich auch: Pielhoff [1999], S. 503 Anm. 37. 2 Petersen [1911], S. 15. Nach dem Jahresbericht des WHK von 1893 hatten sich zu Beginn des Jahres acht Säuglinge auf der Station befunden. Im Laufe des Jahres wurden 230 neue Säuglinge aufgenommen, was knapp 20% der Gesamtzahl der neuaufgenommenen Kinder (1.204) entsprach (Verw.Ber. 1893, VII 2, S. 8 u. 12). 3 Da Privatkostkinder nicht im armenrechtlichen Sinne hilfsbedürftig waren, konnten sie auch nicht ohne Weiteres in die Säuglingsstation aufgenommen werden. Der Ausbau privatwohltätiger Einrichtungen, die hier alternativ genutzt werden konnten, war denn auch eine dringliche Forderung des Oberarztes Manchot (BlHWpfl. 10/1911, Heft 1). 4 Für Ammendienste und gröbere Arbeiten wurden ehemalige Waisenhauszöglinge eingespannt. Als zusätzliche Ernährung stand die Milch einer Kuh aus dem Stall des Werk- und Armenhauses zur Verfügung.
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Der rückgängigen Mortalität nach zu urteilen, hat dieses duale System des öffentlichen Säuglingsschutzes recht gut funktioniert. Während 1893 noch fast 50 Prozent der Waisenpfleglinge im Säuglingsalter entweder bereits im Waisenhaus oder kurz darauf in ihren Pflegestellen verstarben, so gelang es bis Anfang der 1900er Jahre, ihre Mortalität auf 26,6 Prozent zu reduzieren und bis 1910 noch einmal zu halbieren.1 1912 gab es unter den Familienpfleglingen im Säuglingsalter keinen einzigen Sterbefall mehr.2 Vor allem wenn man bedenkt, dass es sich bei den meisten Säuglingen um uneheliche Kinder handelte, die gewöhnlich schon mit schwacher Konstitution zur Welt kamen, war das ein immenser Erfolg. Sichtlich stolz wies auch Petersen darauf hin, dass die geschlossene Säuglingsfürsorge trotz immer noch unzureichenden baulichen Bedingungen einen Vergleich mit anderen deutschen Städten nicht zu scheuen brauche. Das Problem, das Ende des 18. Jahrhunderts den Anlass zum so genannten Waisenhausstreit gegeben hatte, konnte damit gut hundert Jahre später auch in Hamburg als praktisch gelöst gelten. Die geschlossene Fürsorge hinterließ wohl noch schwerwiegende psychische Blessuren, tödlich verlief sie hingegen nur noch äußerst selten – und was noch wichtiger war: Familienpflege und Anstaltspflege standen sich nicht mehr als unvereinbare Alternativen gegenüber, sie ergänzten nunmehr einander in einem leistungsfähigen integrierten System. Genauso wie bei den bisher behandelten drei Fürsorgemaßnahmen kann auch beim Säuglingsschutz und bei der Kostkinderüberwachung die Erfolgsbilanz nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Pflege- und Kostmütter die engmaschigen Überwachung durch den Staates keineswegs nur als Wohltat empfanden. Schließlich brachte das System zahlreiche Unannehmlichkeiten mit sich, ohne diese durch entsprechende Anreize, etwa in Form eines erhöhten Pflegesatzes, zu kompensieren. Sosehr die Vertreter der öffentlichen Jugendfürsorge auch darum bemüht waren, das gegenseitige Vertrauen als Fundament der „Zusammenarbeit“ hinzustellen – letztlich basierte der Pflege- und Kostkinderschutz doch vor allem auf der Ausübung einer lückenlosen Kontrolle und der Auferlegung zusätzlicher Pflichten an die Pflegepersonen. Eine Äußerung des Oberarztes vom Herbst 1910 verdeutlicht diesen Zusammenhang: "Viele unserer Hamburger Pflegemütter, denen wir überhaupt im allgemeinen das Zeugnis der liebevollen Pflichttreue und der Zuverlässigkeit ausstellen können, erkennen diese Hilfe dankbar und mit Vertrauen an. Aber auch diejenigen, welche die Überwachung noch als lästige, sozusagen nach Polizei schmeckende Maßregel ansehen, sollten einsehen, daß wir ihnen mit Rat und Tat bei ihrer Aufgabe helfen wollen, zum Besten der ihnen anvertrauten Kinder und zu ihrem eigenen Vorteil. Denn 1 2
Ebd. und VerwBer. 1904, XXVIII, S. 3 sowie Petersen [1911], S. 123. BlHWpfl. 12/1913, Heft 4.
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wir wollen nicht nur die Kostkinder vor Schaden in der Familienpflege bewahren, sondern wir wollen auch die Pflegemütter und ihre Familien vor Gefahren behüten, die ihnen von den Pflegekindern ins Haus gebracht werden können (Syphilis u. dergl.). Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt gegenseitiges Vertrauen voraus.”1
3.3.3 Die „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ entsteht 1910 war der Prozess des organisatorischen Ausbaus und der Aufgabenerweiterung innerhalb der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge zu einem vorläufigen Abschluss gelangt. Mit der Übernahme des Zwangserziehungswesens, dem massiven Ausbau der „ambulanten Maßnahmen“ sowie der Ausweitung der Einrichtungen zum Schutz unehelicher und fremdbetreuter Kleinkinder waren bereits Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts alle bedeutenden öffentlichen Jugendfürsorgemaßnahmen beim „Waisenhauskollegium“ vereinigt worden. Die Umbenennung des Kollegiums in „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ zum 1. März 1910 markierte sinnfällig das Ende dieser Phase des beschleunigten Ausbaus staatlicher Jugendfürsorge in der Hansestadt.2 Die Hamburger Fachbehörde war zu diesem Zeitpunkt für insgesamt sieben mehr oder weniger scharf abgegrenzte und unterschiedlich große Gruppen von Minderjährigen zuständig: (1) die armenrechtlich hilfsbedürftigen Kinder, (2) die Zwangserziehungszöglinge, (3) die Privatkostkinder, (4) die vom Gemeindewaisenrat beaufsichtigten Mündel, (5) die unter gesetzlicher Berufsvormundschaft stehenden unehelichen Kinder, (6) die Rechtsbrecher im jugendlichen Alter und (7) – als eine Art Schutzgewalt – die gesamte Jugend der Stadt.3 All diese Kategorien von Minderjährigen waren zwar noch rechtlich gefasst, aber die konditional programmierte Verwaltungslogik war für die administrativen Abläufe innerhalb der Jugendfürsorge schon nicht mehr bestimmend. Nur für die Aufnahme der Kinder und Jugendlichen in die öffentliche Fürsorge waren gesetzlich klar umrissene Voraussetzungen maßgeblich. Über die Art, Ausgestaltung und Dauer der Unterbringung entschied die Behörde hingegen allein. Das Ablaufschema der staatlichen Interventionen wurde nunmehr ausschließlich nach erzieherischen 1
Vgl.: BlHWpfl. 10/1911, Heft 1. Die Namenskorrektur war überfällig geworden, denn die alte Bezeichnung „Waisenhauskollegium“ hatte angesichts des inzwischen weit über die ursprüngliche Zielgruppe der verwaisten Hamburger Bürgerkinder hinausgehenden Aufgabenkreises der Behörde in der Bevölkerung für zunehmende Verwirrung gesorgt. In das neu geschaffene Amt des Behördendirektors wurde Petersen gewählt, der dieses noch bis zu seinem Tod im Spätsommer 1913 bekleidete. Zugleich wurde Petersen aller seiner früheren Verpflichtungen als Leiter des Waisenhauses entledigt. Das Waisenhaus erhielt zum 1.3.1910 einen selbständigen Direktor. 3 Petersen [1910], S. 3. 2
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Kriterien und vom Zweck her bestimmt, den die einzelnen Maßnahmen verfolgten.1 Zahlenmäßig erstreckte sich Ende 1910 die Fürsorgetätigkeit der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ auf nicht weniger als 30.000 Minderjährige, was ungefähr 10 Prozent der Hamburger Bevölkerung unter 18 Jahren entsprach. Etwa vier Fünfteln von ihnen wurde die Unterstützung in Form von „ergänzender Fürsorge“, also als Erziehungsaufsicht, Berufsvormundschaft oder als Überwachung durch den GWR zuteil. Immerhin 5.768 Kinder und Jugendliche befanden sich jedoch in „vollständiger Fürsorge“, das heißt sie waren entweder in einer der vier großen staatlichen Einrichtungen oder in einer der unzähligen öffentlich bezuschussten Familienpflegestellen inner- und außerhalb Hamburgs untergebracht. An Personal standen dem gegenüber: 1.077 ehrenamtliche Waisenpfleger und Bezirksvorsteher, 45 Waisenpflegerinnen und 325 „Helferinnen“, etwa 80 vollberuflich im Büro der Behörde beschäftigte Personen sowie noch einmal gut 100 Personen an Anstaltspersonal (Lehrer, Lehrerinnen, Aufseher, Erziehungshelferinnen, Krankenwärterinnen usw.). Hinzu kamen zwei festangestellte Ermittlungsbeamte, die all jene Recherchen im Straf- und Zwangserziehungsverfahren übernahmen, welche die Autorität oder die fachlichen Kompetenzen der ehrenamtlichen Waisenpfleger überstiegen, sowie die für die Überwachung der Kostkinderstellen eingestellten zwölf Kinderpflegerinnen. Die Behördenzentrale war mittlerweile in sieben Abteilungen gegliedert.2 Entsprechend der neu übernommenen Aufgaben waren seit 1904 neu hinzugekommen: die „Juristische Abteilung – Berufsvormundschaft“ (Abt. VI.) und die „Abteilung für das Vorverfahren in der Zwangserziehung“ (Abt. VII.). Für die Jugendgerichtshilfe und den Säuglingsschutz waren keine eigenständigen Ressorts gebildet worden. Stattdessen hatte man beide Aufgabengebiete der Abteilung V. „Gemeindewaisenrat“ übertragen. Kaum irgendwo sonst im Reich war der Prozess der Zentralisation öffentlicher Jugendfürsorgeaufgaben zu diesem Zeitpunkt so weit fortgeschritten wie in Hamburg. Dass die Jugendfürsorge gerade in großstädtischen Ballungsgebieten der organisatorischen Vereinheitlichung und Zentralisierung unter staatlicher Ägide bedurfte, war ein unter höheren Fürsorgebeamten allgemein anerkannter Grundsatz. Die Vorzüge, die man sich von der Konzentration der Aufgaben in öffentlicher Hand versprach, ließen die zentrale Organisationsstruktur als mehr oder weniger alternativlos erscheinen.3 Anders stand es um die Frage, wie diese
1
Vgl.: Uhlendorff [2003], S. 191. Petersen [1910], S. 2, Petersen [1911], S. 67 f. 3 Als wichtigste Vorteile nannte Petersen die Vermeidung von Mehrfachbetreuung, die gleichmäßigere und gerechtere Verteilung der Mittel, die Schonung ehrenamtlicher Kräfte sowie die Ermöglichung 2
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Zentralisation auch ohne grundlegende Gesetzesreform verwirklicht werden könne und wie dabei die Trennlinien zwischen Armen- und Jugendfürsorge sowie öffentlicher und privater Wohltätigkeit gezogen werden sollten. Hierzu waren verschiedene miteinander konkurrierende Modelle im Umlauf. Klumker und Spann z.B. sahen im Institut der gesetzlichen Berufsvormundschaft die tragende Säule der öffentlichen Jugendfürsorgetätigkeit, und nach der Vorstellung mancher Vertreter der Jugendgerichtsbewegung sollte das Jugendgericht den Mittelpunkt der Gesamtorganisation kommunaler Jugendfürsorge bilden. Der von Petersen verfolgte Ansatz, den gesetzlichen Schutz- und Überwachungsauftrag des GWR zu nutzen, um ein flächendeckendes System im öffentlichen Auftrag tätiger Waisenpfleger zu etablieren und dieses durch eine Zentralstelle sukzessive mit immer neue Kompetenzen zu versehen, stellte zwar eines der frühesten Jugendamtskonzepte dar, wurde aber von vielen als rechtlich problematisch und nicht allgemein anwendbar erachtet.1 Nicht nur Münsterberg, sondern auch der Mainzer Oberbürgermeister Schmidt ließen im fachlichen Austausch durchblicken, dass sie das von Petersen weiterverfolgte Cunosche Modell für „zu großzügig“ und rechtlich unzulässig hielten.2 Auch in Bezug auf die Frage, wie weit die Abkoppelung der Jugendfürsorge von der Armenpflege gehen sollte, zirkulierten ganz unterschiedliche Vorstellungen. Aus theoretischen Erwägungen heraus trat Petersen, auch hier Cuno folgend, für eine möglichst vollständige organisatorische Trennung von Armenund Jugendfürsorge ein.3 Für ihn waren die beiden Fürsorgezweige ihrem Wesen nach grundverschieden. Während die Armenverwaltung ihre Arbeit vor allem an der Frage ausrichte, wie sie Armenkosten sparen könne und grundsätzlich erst dann tätig werde, wenn ein Bedürftiger mit seinem Unterstützungsgesuch an sie herantrete, sei für das Aufgabengebiet der Jugendfürsorge die „aufsuchende“ Arbeit und die erzieherische Unterstützung auch gegen den Willen der Betroffenen kennzeichnend. Aufgrund dieser systematischen Widersprüche in der Zielsetzung beider Fürsorgezweige und den daraus abgeleiteten unterschiedlichen Anforderungs- und Qualifikationsprofilen für die ehrenamtlichen Kräfte mussten eines frühzeitigen Eingreifens durch Beseitigung von Kompetenzstreitigkeiten und eine systematische Erfassung der Bedarfslagen. Petersen [1910], S. 2 ff. und [1912b], S. 38 ff. 1 Münsterberg [1905], S. 120 ff. 2 Schon als 1900 zum ersten Mal auf einer DVAW-Jahrestagung organisatorische Fragen der Jugendfürsorge auf der Tagesordnung standen, hatte der Hagener Bürgermeister Willi Cuno einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet, indem er den Ausbau des GWR zu einer Art Zentralstelle für den gesamten Kinder- und Jugendschutz zum organisatorischen Fernziel erklärte. In seinem Bericht, der sich auf eine langjährige berufliche Erfahrung mit dem Institut berufen konnte, hatte er dafür plädiert, die Waisenpflege unabhängig von der Gemeindegröße von der Armenverwaltung abzutrennen und die Aufgaben des GWR allmählich über seine ursprüngliche Funktion als Hilfsorgan des Vormundschaftsgerichts hinaus auszudehnen (Münsterberg [1905], S. 120 ff. und Petersen [1912b], S. 41). 3 Münsterberg [1905], S. 122
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Petersens Auffassung nach wenigstens die „Außendienste“ der beiden Fürsorgezweige strikt voneinander getrennt werden.1 Petersens an den Hamburger Verhältnissen orientierte theoretische Erörterung der Abgrenzungsfrage blendete allerdings sowohl die gesetzlichen Rahmenbedingungen als auch die besonderen Verwaltungsstrukturen und fiskalpolitischen Interessensgegensätze aus, die in deutschen Flächenstaaten wie Preußen herrschten. Das sollte sich, wie im dritten Teil dieser Arbeit noch eingehender untersucht werden muss, vor allem an der lebhaften Debatte um die Finanzierung der vorbeugenden Fürsorgeerziehung in Preußen zeigen. Im Verlauf dieser Debatte hatten Polligkeit und Klumker bezugnehmend auf die höchstrichterliche Rechtsprechung gefordert, die Erziehung „gefährdeter Kinder“ endlich als armenrechtliche Pflichtleistung anzuerkennen und den kleineren Ortsarmenverbänden unter Wahrung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts durch überregionale Zusammenschlüsse zu mehr Durchschlagkraft gerade im Bereich der „vollständigen Fürsorge“ zu verhelfen.2 Schließlich waren auch zur Verhältnisbestimmung von öffentlicher und privater Jugendfürsorge mehrere Modelle im Umlauf, die sich auf lokaler Ebene in ganz unterschiedlichen Kooperationsformen niederschlugen. Die klare Vorrangstellung, die der staatlichen Jugendfürsorge in Hamburg eingeräumt wurde, und die ausgeprägte Schwäche der privatwohltätigen Jugendfürsorge, die daraus resultierte, waren weder ein zwangsläufiges Ergebnis des gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesses noch Ausdruck spezifischer lokaler Traditionsbezüge. Beide Phänomene waren vielmehr die Folge einer tiefgreifenden Legitimationskrise der traditionellen, konfessionellen „Rettungsarbeit“, der besonders günstigen lokalen Verhältnisse, die sich für Reformmaßnahmen auf dem Verwaltungswege im Stadtstaat ergaben, sowie einer – mit Rücksicht auf die weitverbreitete antiklerikal-rationalistische Haltung der Hamburger Bevölkerung – zielstrebig vorangetriebenen Verstaatlichungspolitik.
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Während im Falle der Armenfürsorge wirtschaftlicher Sachverstand und kühl-kalkulierende Abwägung gefragt seien, so müsse für die Waisenpflege v.a. ein „warmes Herz“, Taktgefühl und große Gewissenhaftigkeit mitgebracht werden. Aber selbst die Leitungsspitzen seien der Gefahr ausgesetzt, „zwei Herren“ gleichzeitig dienen zu müssen, weshalb auch die Trennung der inneren Verwaltung notwendig sei (Petersen [1912b], und [1909c], S. 3 ff.). 2 Verh. AFET 1908, S. 126 ff. und unten S. 401.
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3.4 Innovation im Schatten – Neue privatwohltätige Initiativen und Einrichtungen in ihrem Verhältnis zur öffentlichen Jugendfürsorge Der nachgezeichnete massive Aufgabenzuwachs und die beispiellose Zentralisierung der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge konnten nicht ohne gravierende Folgen für das Verhältnis zwischen staatlicher und privatwohltätiger Jugendfürsorge bleiben. Die ausgedehnte Organisation der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ und die einmalige Machtposition ihres Direktors führten dazu, dass in Hamburg Privatorganisationen weitaus weniger von den gesetzlichen Möglichkeiten des BGB oder anderen, auf dem Verwaltungswege herbeigeführten Neuerungen profitierten als andernorts. Während in zahlreichen deutschen Städten Vereine die waisenrätliche Gerichtshilfe übernahmen, professionalisierte Sammelvormundschaften für uneheliche Kinder einrichteten und von den neu entstandenen Jugendgerichten wie selbstverständlich zu Ermittlungs- und Beaufsichtigungszwecken herangezogen wurden, waren solche neuen Arbeitsfelder in der Hansestadt zumeist sehr schnell von der Jugendbehörde „besetzt“ worden. Besonders frühzeitig hatten die traditionsreichen Hamburger Privateinrichtungen zur „Bewahrung“ bzw. „Rettung“ „gefährdeter“ und „verwahrloster“ Minderjähriger den durch Ausdehnung und Modernisierung der öffentlichen Ersatzerziehung hervorgerufenen Konkurrenzdruck zu spüren bekommen. Unter Petersens Direktorat waren Machtzuwachs und Organisationsvorsprung der staatlichen Jugendfürsorge dann dermaßen beschleunigt worden, dass sie für jüngere privatwohltätige Initiativen geradezu existenzbedrohende Ausmaße annehmen konnten. Insbesondere die Strategie, die ehrenamtlichen Pfleger des WHK mit immer neuen Aufgaben zu betrauen, um ihr Amt anspruchsvoller und interessanter zu gestalten, wirkte sich auf manches privatwohltätige Engagement verheerend aus. Ob es sich nun um den Frauenverein handelte, der Mitte der 1890er Jahre von der Polizeibehörde zur Untersuchung der Privatkoststellen herangezogen worden war, oder um die „Zentrale für private Jugendfürsorge“, die vom Jugendrichter Wilhelm Hertz wegen ihrer kompetenten und umfassenden Begutachtung der häuslichen Verhältnisse und psychischen Verfassung jugendlicher Angeklagter geschätzt wurde – in keinem der Fälle war die Heranziehung von Privatorganisationen von Dauer und wurde schon bald wieder durch eine Beauftragung öffentlicher Organe abgelöst.1 In Hamburg wurde die Grenzziehung zwischen privaten und öffentlichen Aufgaben weniger als prinzipiengeleitete Angelegenheit denn als praktische Herausforderung betrachtet. Allerdings konnte von einer Einvernehmlichkeit bei der Aufgabenverteilung kaum die Rede sein. Petersens Machtposition war unan1 Zur Tätigkeit des Frauenvereins vgl.: Petersen [1911], S. 53. Zur Inanspruchnahme der „Zentralen für private Jugendfürsorge“ durch das Jugendgericht: Rahmcke [1959], S. 95 ff.
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fechtbar geworden und seine Ansichten über den Gegenstand hatte er in mehreren Fachbeiträgen deutlich dargelegt: Als zentrales Unterscheidungskriterium von öffentlichen und privaten Aufgaben auf dem Gebiet der Jugendfürsorge galt ihm die Verfügbarkeit von „Mitteln“, wobei er unter Mitteln sowohl „Finanzmittel“ als auch „Zwangsmittel“ verstanden wissen wollte. Bei allen Aufgaben, die einen hohen und kontinuierlichen Kostenaufwand verursachten und/oder sich nur mit der Ausübung von Zwang durchführen ließen, handelte es sich seiner Definition nach um öffentliche Aufgaben. Von hier aus bestimmte sich dann negativ das Arbeitsfeld, das bedenkenlos privatwohltätigen Initiativen überlassen werden konnte.1 In seinen 1912 veröffentlichten „Gedanken über die Organisation der Jugendfürsorge“ wies der Direktor der Jugendbehörde der freiwilligen Fürsorge folgende Aufgaben zu, die ziemlich genau dem tatsächlichem Tätigkeitsprofil der Hamburger Privatwohltätigkeit entsprachen: „1. Fürsorge für minderbemittelte Jugendliche durch Kleidung, Speisung, Ausbildung u.ä. 2. Fürsorge für pflegebedürftige Kinder durch Ferienkolonien, Heilstätten. 3. Fürsorge für aufsichtslose Kinder durch Krippen, Warteschulen, Horte. 4. Fürsorge für die schulentlassene Jugend in Jugendvereinen, Berufswahlberatung und Stellenvermittlung. 5. Fürsorge für sittlich Gefährdete und schwach Verwahrloste im Einverständnis der Eltern (Erziehungsvereine, Rettungsanstalten u. dgl.). 6. Fürsorge für ehelich geborene Säuglinge. 7. Ergänzende Fürsorge verschiedener Art, wenn und solange amtliche Fürsorge fehlt.“2
Das war zwar immer noch eine ansehnliche Liste von Aufgaben. Gerade die Formulierung des letzten Punktes machte aber deutlich, dass die Scheidelinie für Petersen keineswegs ein für alle Mal feststand. Um es überspitzt zu formulieren: Was heute noch in den Bereich der Privatwohltätigkeit fiel, konnte nach seinem Verständnis morgen schon Staatsaufgabe sein. Das Subsidiaritätsprinzip, das bis Ende des 19. Jahrhunderts noch der Trennung von öffentlichen und privatwohltätigen Aufgaben zugrunde gelegen hatte, war dadurch nachgerade umgekehrt worden: Nur dort, wo dem Staat gesetzlich (noch) keine Geld- und/oder Machtmittel zur Verfügung standen, sollte die private Jugendfürsorge eintreten. Das Abgrenzungskriterium der Verfügbarkeit der Mittel führte so nicht nur zu einer tendenziell zirkulären Definition der Staatsaufgaben – in den Bereich der öffentlichen Jugendfürsorge fällt, was der Staat als öffentliche Aufgabe deklariert und
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Petersen [1912b], S. 9 ff. und Uhlendorff [2003], S. 275. A.a.O., S. 283.
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mit entsprechenden Ressourcen ausstattet –, sondern öffnete auch einem unverhohlenem Expansionismus Tür und Tor. Es gab gleichwohl eine Reihe von Aufgaben, die in Hamburg im ausgehenden Kaiserreich noch mehr oder weniger unbestritten in den Bereich der Privatinitiative fielen. Hierzu zählten weite Teile der Säuglingspflege, die gesamte vorschulische und schulbegleitende Erziehung „aufsichtsloser Kinder“ in Krippen, Warteschulen und Horten, die ergänzende Schulfürsorge (Erholungsfürsorge und Schulspeisung), die Berufsfürsorge für Schulabgänger und nicht zuletzt die sich eben erst formierende Jugendpflege.1 All diesen Arbeitsfeldern war außer ihres „freiwilligen“, das heißt auf staatliche „Zwangsmittel“ verzichtenden Charakters gemein, dass sie eher allgemeine Bedarfslagen abdeckten und sich an fast alle Minderjährigen einer Altersklasse richteten. Die Reibungsflächen mit der öffentlichen Jugendfürsorge waren in diesen Bereichen vermutlich auch deshalb relativ klein, weil es sich mit Ausnahme der Vorschulerziehung und der Jugendpflege nicht im eigentlichen Sinne um erzieherische Tätigkeiten, sondern um die Bereitstellung gesundheitsfürsorgerischer Dienstleistungen oder materieller Hilfen handelte.
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Neben dem einst von Amalie Sieveking begründeten Kinderhospital, das kurz vor Kriegsausbruch etwa 1.000 arme, kranke Kinder jährlich verpflegte, sind hier zu den privatwohltätigem Initiativen im Bereich der Säuglingspflege v.a. die „Milchküchen“ sowie die über das ganze Stadtgebiet verstreuten „Säuglings- und Kleinkinderfürsorgestellen“ zu erwähnen, die insbesondere den von der Behörde nicht mitbetreuten jungen ehelichen Müttern unentgeltlich Gesundheits-, Ernährungs- und Pflegeratschläge erteilten (Schröder [1966], S. 170). Auch die Ausdehnung der privatwohltätigen Einrichtungen, die man heute der „frühkindlichen Bildung“ zurechnen würde, war beachtlich: Um 1900 wurden bereits etwa 2.350 Kinder täglich in einer von 26 Warteschulen bzw. Fröbelschen Kindergärten betreut. In elf Knaben- und Mädchenhorten standen noch einmal 2.000 Plätze für die nachmittägliche Betreuung von Schulkindern zur Verfügung. Das Angebot an Krippenplätzen war demgegenüber noch sehr bescheiden. 1900 existierten insgesamt 14 Krippen, die zusammen 280 Kinder aufnehmen konnten (Pielhoff [1999], S. 452). Was die Schulfürsorge betrifft, so wurde diese fast in Gänze vom „Wohltätigen Schulverein“ von 1875 bestritten, der in den Verhandlungen mit dem Senat ein ausgeprägtes „semistaatliches Selbstbewusstsein“ (Pielhoff [1999], S. 477) an den Tag legte. Während sich die auf die Wintermonate beschränkte Schulspeisung im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten eher bescheiden ausnahm – 1909 wurden 250.000 Portionen ausgegeben, nicht einmal halb so viele wie zur selben Zeit in München, tat sich das Hamburger privatwohltätige Publikum v.a. bei der Förderung der Erholungsfürsorge hervor. 1914 betrieb der Schulverein sieben Ferienkolonien für erholungsbedürftige Stadtkinder mit insgesamt 2.475 Plätzen. Zusammen mit dem „Zentralausschuß für Ferienkolonien e.V.“ wurden 1912 7.600 Hamburger Kinder den Sommer über „verschickt“, was einem Anteil von 6,9 % aller Volksschüler entsprach. Das war mehr als irgendwo sonst im Reich (Schröder [1966], S. 174). Der Berufs- und Lehrstellenvermittlung schließlich widmete sich die 1905 aus der „Patriotischen Gesellschaft“ hervorgegangene „Vereinigung zur Förderung der schulentlassenen männlichen Jugend“. Im ersten Jahr ihres Bestehens wurden zu Ostern 102 Knaben vermittelt. 1913 wurde auch eine Lehrstellenvermittlung für Mädchen eingerichtet (a.a.O., S. 161). Zur Entwicklung der Jugendpflege vgl. die Ausführungen in Abschnitt 2.3.3.
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Auch für die privatwohltätige Jugendfürsorge war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein starkes Streben nach Zentralisierung kennzeichnend. Bereits im 19. Jahrhundert war es bei den Warteschulen zu ersten Verbandsgründungen gekommen. 1906 wurde der „Zentralausschuss für Ferienkolonien“ ins Leben gerufen, drei Jahre später die „Landeszentrale für Säuglingsschutz“ und 1912, unter dem Einfluss des preußischen Jugendpflegeerlasses aus demselben Jahr, der „Landesverband für Jugendpflege“. 1913 schließlich schlossen sich auch die Kleinkinderbewahranstalten zum „Verband Hamburger Krippen“ zusammen.1 Die Verbandsbildung diente neben der Koordinierung von Aufgaben und der Rationalisierung der Verwaltung vor allem der besseren Außenpräsentation gegenüber Staat und Gesellschaft. Verbände hatten eine weitaus größere Chance, regelmäßige staatliche Zuschüsse zu erhalten, als kleine Vereine und Stiftungen. 1914 erhielt die privatwohltätige Jugendfürsorge Subventionen in Höhe von insgesamt 318.500 Mark – das war gemessen an den Gesamtaufwendungen von 12,95 Millionen Mark, die der Hamburger Staat im selben Jahr für die Jugendfürsorge aufbrachte, nicht viel. Eine verlässliche zusätzliche Einnahme stellten die Zuschüsse gleichwohl dar, und in vielen Fällen dürften sie auch entscheidend zum Fortbestand der Organisationen und ihrer Tätigkeiten beigetragen haben.2 Mit der finanziellen Bezuschussung anerkannten Senat und Bürgerschaft einerseits das öffentliche Interesse an der geleisteten Arbeit, gleichzeitig aber stellte die Unterstützung auch eine Art Belohnung für die Rationalisierungsbemühungen der Vereinigungen dar. Der Korporatismus der Privatwohltätigkeit entsprang nicht nur einer inneren Notwendigkeit, er wurde auch gezielt eingefordert. Für Petersen stand außer Frage, dass eine Zentralisation der Organisationsstrukturen sowohl in der öffentlichen als auch in der privatwohltätigen Fürsorge erforderlich war.3 Stärkere inhaltliche Berührungspunkte zwischen öffentlicher und privater Jugendfürsorge als bei den meisten anderen bisher genannten Arbeitsbereichen existierten bei der Jugendpflege, oder genauer gesagt: bei der offenen Jugendarbeit, wie sie von Clemens Schultz und Walter Classen betrieben wurde.4 Das lag 1 Vgl. zur Verbandsgründung allgemein: Uhlendorff [2003], S. 209. Zu den lokalen Vereinigungen im Bereich der Vorschulerziehung vgl.: Pielhoff [1999], S. 452. 2 Uhlendorff [2003], S. 212 f. Fünfzig Jahre zuvor hatten die im Budgetentwurf vorgesehenen Zuschüsse für die großen wohltätigen Stiftungen (die Allgemeine Armenanstalt, das Allgemeine Krankenhaus, das Werk- und Armenhaus und das Waisenhaus) zusammen gerade einmal 1,12 Mill. MCrt. betragen. (Schröder [1966], S. 28). Auch wenn beide Werte wegen der Währungsumstellung und des schleichenden Geldwertverlustes nicht wirklich verglichen werden können, wird anhand solcher Zahlen doch deutlich, wie massiv das staatliche Engagement auf dem Gebiet der Jugendfürsorge im Verlauf des bezeichneten halben Jahrhunderts gesteigert worden war. 3 Petersen [1912b], S. 40. 4 Vgl. oben S. 156 ff. Die Jugendpflege war auch in Hamburg bereits vor dem Kriege recht vielgestaltig geworden, hatte sich von der ursprünglich fürsorgerischen Stoßrichtung langsam gelöst und
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in erster Linie an der gemeinsamen Zielgruppe. Der in der christlichen Jünglingsvereinsarbeit entwickelte Typus des unangepassten, ungelernten und nichtorganisierten „Halbstarken“ deckte sich weitgehend mit jenen älteren, erzieherisch nur schwer zugänglichen Jugendlichen, die ab 1908 die Ohlsdorfer Anstalt bevölkerten. Die Stoßrichtungen der öffentlichen und privatwohltätigen Maßnahmen liefen in der Absicht zusammen, diesen Personenkreis möglichst frühzeitig zu identifizieren, durch präventive Arbeit zu erreichen und gesellschaftlich zu „neutralisieren“.1 Die Vereinsaktivitäten von Classen und Schultz und die „ambulanten“ Zwangsmaßnahmen der Jugendbehörde bewegten sich gewissermaßen von zwei entgegengesetzten Polen auf die gleiche Klientel zu: Erstere versuchten sie mit offenen, der Jugendkultur nachempfundenen Angeboten in lose Gruppenzusammenhänge zu integrieren und ihnen soziale Verantwortung beizubringen, während Letztere sie im Rahmen von „Erziehungsaufsichten“ durch erzieherischen Beistand und Kontrolle am Einstieg in kriminelle Karrieren zu hindern versuchten. Eine weitere inhaltliche Überschneidung ergab sich dadurch, dass sowohl die älteren kulturkonservativen Leiter der Jugendvereinsarbeit als auch der Direktor der Jugendbehörde an einem von Kerschensteiner inspirierten Konzept staatsbürgerlicher Erziehung und gesellschaftlicher Ertüchtigung festhielten, welches bewusst auf eine klare parteipolitische Positionierung verzichtete und Elemente der Selbstverwaltung mit solchen der verdeckten Lenkung und Führung durch die Erwachsenen zu verbinden versuchte.2 Nicht zuletzt diesem Konzept war es zu verdanken, dass die Jugendarbeit von Schultz und Classen als „Hamburger Modell“ weit über die Staatsgrenzen hinaus bekannt und zur Nachahmung empfohlen wurde.3 Auf organisatorischer Ebene schließlich wurden der enge Austausch und die wechselseitige Beeinflussung von öffentlicher Jugendfürsorge und privatwohltätiger Jugendpflege vor allem durch die Arbeit der „Vereinigung zur Förderung der schulentlassenen männlichen Jugend“ erkennbar, der neben Clemens war mehr und mehr in den Strudel der parteipolitischen Bestrebungen und Auseinandersetzungen geraten. Das Spektrum reichte von der sozialistischen Jugendarbeit, in der die Kinder der klassenbewussten Arbeiter organisiert waren, über die „unpolitischen“ bürgerlichen Jugendbünde, die nach einer sittlich-spirituellen Erneuerung in selbstorganisierten Ausflugs- und Wandergemeinschaften strebten, bis hin zur „vaterländischen Jugendpflege“, die sich v.a. als nationalen Widerpart zur sozialistischen Jugendpflege verstand und vornehmlich im Bereich der Wehrertüchtigung engagierte. 1914 waren nicht weniger als 24.000 Jugendliche im bürgerlich-nationalen „Hamburger Landesverband für Jugendpflege“ organisiert. Die sozialistischen Jugendbünde und die Vereine der „Volksheime“, die aus weltanschaulichen Gründen den Beitritt zum Landesverband verweigert hatten, stellten jeder für sich noch einmal rund 2.000 Mitglieder (Schröder [1966], S. 183). 1 Vgl. zur übereinstimmenden Zielsetzung auch: Uhlendorff [2003], S. 251. 2 Vgl.: A.a.O., S. 241 f. u. 252. 3 A.a.O., S. 235 u. Saul [1971], S. 101 u. 114.
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Schultz, Walter Classen und Ernst Jaques auch Johannes Petersen in verantwortlicher Stellung angehörte.1 Die “Vereinigung“ war noch kein wirklicher Dachverband der örtlichen Jugendvereine. Vielmehr hatte sie sich zum Ziel gesetzt, die Jugendvereinsarbeit dadurch flankierend zu unterstützen und zu begleiten, dass sie die publizistische Außendarstellung übernahm, Weiterbildungsveranstaltungen und Vorträge für die ehrenamtlichen Gruppenleiter organisierte und das Jugendwandern durch Bereitstellung billiger Beförderungsmittel und Unterkünfte zu fördern versuchte. Als der rechtskonservative, antisozialistische „Jungdeutschlandbund“ nach Verabschiedung des Jugendpflegeerlasses von 1911 Anstalten traf, in Hamburg einen eigenen Landesverband zu gründen, opponierten Petersen, Classen und die übrigen Vertreter der dem Volksheim angeschlossenen Vereine mit vereinten Kräften und auch nicht ganz erfolglos gegen diese Bestrebungen.2 Während das Verhältnis zwischen öffentlicher Jugendfürsorge und privatwohltätiger Jugendpflege vor allem durch wechselseitige konzeptuelle Anregung, persönliche Sympathie und Anerkennung geprägt war, waren die Beziehung zwischen staatlicher und privatwohltätiger „Gefährdetenfürsorge“, also jener Bemühungen, die auf bereits „verwahrloste“ oder doch akut von „Verwahrlosung bedrohte“ Minderjährige abzielten, vor allem durch Konkurrenz, fachliche Abgrenzung und Skepsis bestimmt. Das galt sowohl für die traditionelle Rettungshausarbeit philanthropisch-erweckungsbewegten Zuschnitts als auch für die neueren Initiativen und Arbeitsansätze, die zum Schutz von sittlich gefährdeten Kindern und Jugendlichen erdacht worden waren. Bereits Mitte der 1880er Jahre war in Hamburg die Konkurrenzstellung zwischen neuer öffentlicher und traditioneller privatwohltätiger Anstaltsfürsorge offenkundig geworden.3 Nachdem sich schon in den 1860er und 1870er Jahren 1
Vgl.: Uhlendorff [2003], S. 210. Im Ergebnis war zwar ein „Landesverband für Jugendpflege“ ins Leben gerufen worden, der staatliche Zuschüsse in fünfstelliger Höhe erhielt, im ersten Geschäftsjahr 24.000 Mitglieder zählte und unter der Leitung eines Oberst eindeutig nationalistische Ziele verfolgte. Die Versuche, den Verband zu einer geschlossenen Organisation der Wehrertüchtigung auszubauen und ihn auch für unverhohlen antisozialistische Vereinigungen zu öffnen, schlugen allerdings fehl. Viele der Vereine, die dem Landesverband beigetreten waren, hatten dies außerdem offenbar nur wegen der damit verbundenen Vergünstigungen getan. Zu den Auseinandersetzungen und ihrem Ergebnis vgl. im Einzelnen: A.a.O., S. 256 u. Schröder [1966], S. 182. 3 Ein spürbarer Rückgang in der „Frequentierung“ der Knabenanstalt des „Rauhen Hauses“ war bereits einige Jahre zuvor zu verzeichnen gewesen. Während der Jahresbericht von 1881 noch 81 Knaben für die Knabenanstalt meldete, belief sich ihre Zahl 1885 nur noch auf 51. Doch für diesen Einbruch waren anscheinend weniger Veränderungen vor Ort ausschlaggebend , als vielmehr die Diskussionen um die einschlägigen Bestimmungen zum Umgang mit jugendlichen Straftätern des RStGB. Vor allem in den östlichen Provinzen Preußens war es zur besagten Zeit auch zu massiven Rückgängen der Aufnahme- und Insassenzahlen gekommen, was für eine Reihe von Anstalten zu existenzbedrohenden Finanzierungsengpässen führte. Vgl. zur Diskussion des Zöglings-Notstandes 2
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beim lokalen Spenderpublikum ein Prozess nachlassender Identifikation mit dem Erziehungswerk Wicherns abgezeichnet hatte, kehrten jetzt offenbar auch die Hamburger Eltern und die Armenverwaltung dem „Rauhen Haus“ den Rücken. Von den 36 Jungen, die 1885 in die Anstalt aufgenommen wurden, stammten nur noch elf aus Hamburg. Johannes Wichern, Johann Hinrich Wicherns Sohn und Nachfolger im Amt des Vorstehers des „Rauhen Hauses“, hatte guten Grund, diese Erscheinung mit der Eröffnung der staatlichen Erziehungsanstalt in Ohlsdorf in Verbindung zu bringen, denn zum einen konnten Eltern, die ihre Kinder durch Heimerziehung zu disziplinieren oder einfach loszuwerden versuchten, jetzt auf die kostenlose staatliche Alternative zurückgreifen, und zum anderen gab es für die Armenverwaltung nun auch keinen triftigen Grund mehr, sich an den Unterbringungskosten im „Rauhen Haus“ zu beteiligen.1 Es deutet manches darauf hin, dass nicht nur finanzielle Gesichtspunkte für das zurückgehende Interesse von Bevölkerung und Armenverwaltung am „Rauhen Haus“ ausschlaggebend waren. Dem „Pestalozzi-Stift“ z.B. sind offenbar durch die Eröffnung der Staatsanstalt in Ohlsdorf keine vergleichbar großen Nachteile erwachsen. Ganz im Gegenteil, die Verwaltung der Einrichtung zog sogar einen Nutzen aus der staatlichen Zwangserziehungsanstalt, indem sie „schwierigere Fälle“ nach Ohlsdorf abschob.2 Angesichts der bewahrend-präventiven Zielsetzung des „Pestalozzi-Stiftes“ war eine solche Form der Kooperation natürlich naheliegend. Aber für die unterschiedlichen Auswirkungen der Formierung der staatlichen Jugendfürsorge auf die traditionsreichen privatwohltätigen Fürsorgeanstalten waren offensichtlich auch weltanschauliche Gründe ausschlaggebend. In der Hamburger Bevölkerung machte sich eine wachsende Skepsis gegenüber der streng religiösen Erziehungskonzeption des „Rauhen Hauses“ breit, und der Waisenhausskandal von 1885/86, in dessen Verlauf den „Muckern und Frömmlern“ vom „Rauhen Haus“ von einigen Kommentatoren eine Mitschuld an den vom Personal verübten Verbrechen zugeschrieben worden war, trug nicht gerade dazu bei, diese Skepsis zu zerstreuen.3 Ungeachtet der unübersehbaren Krisensymptome, welche die konfessionelle Anstaltserziehung Mitte der 1880er Jahre in Hamburg zeigte, kam es etwa zur selben Zeit unter dem Einfluss Carl Nincks, eines aus dem Hessischen stammenden Pastors, Schriftenmissionars und erklärten Gegners der rationalistischen Glaubensauffassung, in der Hansestadt noch einmal zu einer unerwarteten zweiin den evangelischen Rettungshäusern und darauf bezogener Gegenmaßnahmen: „Fliegende Blätter“ 1892, S. 83 ff. 1 Jahresbericht Kinderanstalt RH 1886, S. 7 f. Dass tatsächlich viele Eltern von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre Kinder auf eigenen Antrag in Ohlsdorf unterzubringen, geht aus den Verwaltungsberichten der Anstalt hervor. Vgl. weiter unten S. 564, Grafik 5. 2 Göhring [1994], S. 75 u. 116. 3 Vgl. oben, S. 204 ff.
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ten Welle christlich inspirierter Rettungsarbeit. Im damals noch preußischen Lokstedt, das direkt an Eppendorf angrenzte, entstand in den Jahren 1885 und 1886 mit der „Anscharhöhe“ ein ausschließlich für Mädchen und Frauen bestimmter diakonischer Anstaltskomplex.1 Neben einem Erholungsheim für Diakonissinnen und einem Siechenhaus für ältere Gemeindemitglieder umfasste er zwei Erziehungsanstalten für sittlich gefährdete Mädchen: den „Kastanienhof“ für Mädchen im schulpflichtigen Alter und das „Emilienstift“, das bereits schulentlassenen „gefährdeten“, aber noch nicht „gefallenen“ weiblichen Jugendlichen vorbehalten bleiben sollte. Ähnlich wie Wichern war auch Ninck ein äußerst umtriebiger Organisator diakonischer Arbeit, der es verstand, bei Adligen und Großbürgertum das nötige Gründungskapital für seine zahlreichen wohltätigen Projekte aufzutreiben.2 Der Erziehungsarbeit des „Emilienstiftes“ und des „Kastanienhofes“ verlieh Ninck hingegen keine wesentlich neuen Impulse. Beide Anstalten übernahmen die Grundzüge des Wichernschen Erziehungskonzepts. Im Falle des „Kastanienhofes“ war das eine Selbstverständlichkeit, denn es handelte sich dabei um die bereits in den späten 1870er Jahren ausgelagerte Mädchenabteilung des „Rauhen Hauses“. Aber auch das neue „Emilienstift“ war am Familiensystem orientiert, kombinierte Arbeitserziehung mit religiösen Ansprachen und Andachten und unterstand einer Diakonissin, deren berufliche Qualifikation allein in ihrer hauswirtschaftlichen Erfahrung sowie in ihrer unbeirrbaren Frömmigkeit bestand.3 Bereits kurz nach Eröffnung der Erziehungsanstalten auf der „Anscharhöhe“ wurden erste Klagen über ihre mangelhafte Auslastung laut. Vor allem das „Emilienstift“ scheint chronisch unterbelegt gewesen zu sein. Geradezu trotzig bemerkte der Anstaltsvorsteher hierzu im Gemeindeblatt: „Nachdem letzte Ostern 6 Konfirmanden uns verließen, wäre unsere Schar sehr klein geworden, wenn nicht dieses Jahr uns bisher 9 Kinder zugeführt hätte, so daß wir gegenwärtig 26 Zöglinge haben. Die Lage der Anstalt ist dadurch allerdings pekuniär nicht nur nicht gebessert, sondern noch bedenklicher geworden, weil für die neu aufgenommenen Kinder das erforderliche Kostgeld nur zum ganz geringen Teil beschafft werden konnte. Wir hoffen aber sehr, daß der, welcher gesagt hat: ‚Ich will dich nicht verlassen’, dieses auch bezüglich unseres Kastanienhofes gelten lassen werde [...] Nach wie vor kann ich nicht glauben, daß durch die vermehrte Fürsorge 1
Vgl. hierzu: Jenner [1986]. Im Falle der Anschar-Höhe handelte es sich bei der Gönnerin um Emilie Jenisch, der ledig gebliebenen Tochter einer bekannten Hamburger Kaufmanns- und Senatorenfamilie. Das Stift für die älteren Mädchen war nach ihr benannt. 3 In einem Nachruf wurde rühmend über sie hervorgehoben, dass sie wohl „niemals ein Buch über Erziehungskunst gelesen“, sondern sich immer ganz vom Geiste Jesu Christi habe leiten lassen (Jenner [1986], S. 54). 2
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des Staates für die erziehungsbedürftigen Kinder unsere Arbeit überflüssig geworden ist.“1
Die Verwaltung mutmaßte, dass der Grund für die geringe Inanspruchnahme der Einrichtung vor allem in der Favorisierung der Familienpflege durch das Hamburger WHK liege. Viel naheliegender ist allerdings auch hier, die Ursache der Unterbelegung in der Konkurrenz durch die Ohlsdorfer Anstalt zu suchen, die ebenfalls „gefährdete“ Mädchen auf Antrag der Eltern aufnahm, viel weniger konfessionell orientiert war und zudem kein Kostgeld erhob. Bemerkenswerterweise begannen sich die pekuniären Verhältnisse beider Einrichtungen erst zu verbessern, als sie nach Inkrafttreten des preußischen Fürsorgeerziehungsgesetzes (pr. FEG) 1900 regelmäßig mit Fürsorgezöglingen aus Schleswig-Holstein „versorgt“ wurden. 1914 befanden sich im Emilienstift und seinen Zweigstellen 150 Mädchen. Bei 135 von ihnen handelte es sich um Fürsorgezöglinge. Das zeigt nicht nur, dass vom traditionellen Prinzip der „Freiwilligkeit“ hier kaum noch die Rede sein konnte, sondern dass die Anstalt zumindest in Bezug auf ihr Einzugsgebiet auch nicht mehr als Hamburger Anstalt gelten konnte.2 Wesentlich innovativer und stärker auf die lokalen, großstädtischen Verhältnisse zugeschnitten waren zwei weitere Einrichtungen der „Gefährdetenfürsorge“, die ebenfalls von Ninck ins Leben gerufen worden waren: das „Luisenstift“ und die so genannte „Zufluchtsstätte“, die 1887 bzw. 1897 in Eppendorf eröffnet wurden. Beim „Luisenstift“ handelte es sich um eine Entbindungsanstalt für „erstmals gefallene“ Mädchen und junge Frauen, bei der „Zufluchtsstätte“ um eine betreute Unterkunft für obdach- und stellenlose Neuhamburgerinnen. Beide Einrichtungen verstanden sich als Anstalten der „Inneren Mission“ und blieben ganz dem Gedanken der „rettenden Liebe“ verpflichtet. Erklärtes Ziel war es, die aufgenommenen Frauen vor „tieferem Falle“ zu bewahren und dementsprechend wurde bei der Aufnahme aufrichtige Reue über den bisherigen Lebenswandel vorausgesetzt. Ähnlich waren die Einrichtungen den beiden Heimen auf der Anscharhöhe auch darin, dass sie die Mädchen und Frauen gezielt auf den Dienstleistungsberuf vorbereiten wollten.3 Das Neuartige dieser Anstalten bestand hingegen darin, dass sie stadtnah waren, vom traditionellen Konzept der geschlossener Fürsorge abrückten und vor allem Lösungen für Probleme boten, die sich den Frauen und werdenden Müttern tatsächlich stellten: Im ersten Fall die Bereitstellung einer verlässlichen und billigen Bleibe vor und nach der Ent1
„Anscharbote“ Jg. 2 1897, S. 155 zit. nach: Jenner [1986], S. 59. A.a.O., S. 61 ff. Von der Unfreiwilligkeit des Aufenthaltes zeugen, wie in allen anderen konfessionellen und staatlichen Erziehungsanstalten der Zeit, die zahlreichen Fluchten gerade älterer Mädchen. A.a.O., S. 74. 3 Vgl.: A.a.O., S. 18 u. Armenkollegium [1909], S. 223 ff. 2
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bindung sowie eine kostengünstige Unterbringung und Versorgung der Säuglinge, im zweiten Falle ein erstes provisorisches Obdach in Hamburg und Hilfestellung bei der Stellensuche. Bemerkenswerterweise hatte ein erheblicher Teil der Mädchen und jungen Frauen, die sich in den Einrichtungen aufhielten, diese aus eigenem Antrieb aufgesucht, und die meisten von ihnen stammten offensichtlich auch aus dem großstädtischen Kontext. Von den jungen Frauen, die 1908 in der „Zufluchtstätte“ lebten, hatte ein knappes Drittel selbst um Aufnahme gebeten, und ein etwa genauso hoher Anteil befand sich nach Angaben des Vorstandes bereits zum wiederholten Male in der Einrichtung. Ein nicht unerheblicher Anteil der jungen Frauen war außerdem durch die „aufsuchende Arbeit“ der ehrenamtlich tätigen Damen der „Bahnhofsmission“ auf die Einrichtung aufmerksam gemacht worden.1 Sowohl die „Zufluchtsstätte“ als auch das „Luisenstift“ waren Ausdruck des anhaltend starken Interesses und des besonderen Engagements der Privatwohltätigkeit in Bezug auf weibliche Heranwachsende, die als „sittlich gefährdet“ eingestuft wurden. Die privatwohltätigen Initiativen und Maßnahmen, die sich an Mädchen und junge Frauen wandten, waren in jener Zeit sehr viel zahlreicher und vor allem vielfältiger als diejenigen, die für die männliche Jugend konzipiert worden waren.2 Pointiert kann man sagen, dass die Trennlinie zwischen staatlicher und privater Jugendfürsorge im Bereich der „Gefährdetenfürsorge“ auch eine solche zwischen den Geschlechtern war. Es gab ein stillschweigendes Übereinkommen, wonach der Staat schwerpunktmäßig für die männlichen Kinder und Jugendlichen zuständig sein sollte, während die Mädchen und jungen Frauen der Privatinitiative überlassen werden konnten.3 Aus diesem Grund waren auch die 1
Die „Hamburger Bahnhofsmission“ war im Herbst 1895 aus einer Kooperation des Hamburger Ortsvereins der „Freundinnen junger Mädchen“ und dem „Hamburger Verein für innere Mission“ hervorgegangen. Die ehrenamtlichen weiblichen Helferinnen führten auch anderen „Heimstätten“ und besonderen Fremdenherbergen ortsfremde „gefährdete“ Mädchen und junge Frauen zu (www.bahnhofsmission-hamburg.de sowie Armenkollegium [1909], Nr. 300, 329 u. 528). Natürlich mussten sich die Frauen, die im „Luisenhof“ entbanden, neben der religiösen Einwirkung noch eine Reihe weiterer Einschränkungen und Bedingungen gefallen lassen – wie die Verpflichtung zum siebenmonatigen Verbleib, die Belassung der Kinder im angegliederten Kinderheim bis zum dritten Lebensjahr und das Verbot, sich als Amme den Unterhalt zu verdienen. Dennoch dürften für viele der Frauen die Vorteile die mit dem Aufenthalt verbundenen Restriktionen deutlich überwogen haben. 2 Der Oberinspektor des Waisenhauses Oerter listete in einem Vortrag über die weibliche schulentlassene Jugend von 1904 nicht weniger als 13 Hamburger Fürsorgeinstitutionen auf, die sich an gefährdete und „verwahrloste“ Mädchen und Frauen richteten (BlHWPfl, 3/1904, Heft 4). 3 Mindestens vier Faktoren waren für diese Art von Arbeitsteilung ausschlaggebend: a) Zum einen stand bei den Fürsorgebemühungen des Staates noch lange Zeit der Sicherheitsaspekt im Vordergrund und männliche Devianz tangierte diesen weit mehr als weibliche. b) Hinzu kam, dass Mädchen spätestens seit Einsetzen der aufgeregten Debatte über die Zunahme der heimlichen Prostitution als besonders schützenswürdig galten. Nach allgemeiner Auffassung konnte auf dem Gebiet der weiblichen Gefährdetenfürsorge gar nicht genug getan werden. c) Außerdem konnte das elterliche Einver-
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Reibungsflächen, die zwischen Hamburger Privatinitiativen wie dem „Luisenstift“ bzw. der „Zufluchtsstätte“ auf der einen und der staatlichen Jugendfürsorge auf der anderen Seite bestanden, relativ klein. Ganz anders verhielt es sich mit Vereinigungen und Organisationen, die sich den Hamburger Behörden und Gerichten als Ermittlungsorgane und Träger staatlich angeordneter Fürsorgemaßnahmen andienten und dabei auf Terrain vorstießen, das zumindest gedanklich bereits von der öffentlichen Jugendfürsorge abgesteckt worden war. Das zeigte sich insbesondere an den Auseinandersetzungen zwischen Direktor Petersen und dem „Verein Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“. Der „Verein Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“ war 1910 aus einer Fusion zweier schon bestehender Vereinigungen hervorgegangen, die eine gemeinsame Zielsetzung verfolgten: dem Hamburg-Altonaer „Verein zum Schutze der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlung“ von 1902 und der 1907 gegründeten „Hamburgischen Zentrale für private Jugendfürsorge“.1 Beide Vereine waren Ausdruck des in den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende rapide angewachsenen öffentlichen Interesses am Thema Kinder- und Jugendschutz. Sie griffen eine breite gesellschaftliche Strömung auf, die in Minderjährigen mit abweichendem Sozialverhalten vor allem Opfer der häuslichen Verhältnisse sah und ihren Schutz nicht sosehr als staatliche, sondern als zivilgesellschaftliche Aufgabe begriff. Sowohl der „Verein zum Schutz der Kinder vor Misshandlung und Ausbeutung“ als auch die „Hamburgische Zentrale“ verstanden sich als Initiativen der präventiven Jugendfürsorge. Statt neue Angebote zu schaffen ging es ihnen darum, die schutz- und hilfsbedürftigen Kinder systematisch aufzuspüren und sie bzw. ihre Eltern an die jeweils geeigneten wohltätigen Organisationen weiter zu vermitteln. Zu diesem Zweck wollte man in Hamburg und Altona eine große Zahl von ehrenamtlichen Helfern gewinnen, die in ihren als „Meldestellen“ gekennzeichneten Wohnungen Hinweise auf vernachlässigte und misshandelte Kinder aus der Bevölkerung entgegennehmen und entsprechende Erkundigungen in deren Lebensumfeld einholen sollten. Trotz dieser weitgehenden Übereinstimmungen in der praktischen Ausrichtung orientierten sich die Vereine allerdings an ganz unterschiedlichen Vorbildern und dementsprechend unterschieden war auch ihr selbstgestecktes Aufgabenprofil. Während sich der vom ständnis zu privatwohltätigen Schutzmaßnahmen im Falle von Mädchen offenbar viel einfacher erwirkt werden als bei Jungen. Vor allem sexuelle weibliche Devianz bedrohte die Familienehre, und viele Väter und Mütter waren offenbar noch immer der Ansicht, dass diese „Schmach“ möglichst frühzeitig und stillschweigend beseitigt werden müsse. d) Schließlich war auch die Spendenbereitschaft gegenüber sittlich gefährdeten Mädchen und jungen Frauen besonders groß. „Briten“ und „Halbstarke“ taugten zu einer Sentimentalisierung nicht, weshalb die Kosten, die ihre Fürsorge bereitete, auf anderem Wege eingetrieben werden mussten. 1 Zu den beiden Vereinen, ihrer ursprünglichen Zielsetzung und den Hintergründen der Fusion vgl.: Weber [2000] u. STAH 611-20/13 1 u. 2.
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Rothenburgsorter Gemeindepastor Otto Bahnson geleitete „Verein gegen Misshandlung und Ausbeutung“ an gleichnamigen Organisationen aus den USA orientierte, kopierte die vom Regierungsrat der Armenanstalt Ernst Jaques initiierte „Zentrale“ die bereits gut etablierten Frankfurter und Berliner Koordinationsstellen für privatwohltätige Jugendfürsorgearbeit.1 Hier stand die tätige Arbeit, die Hilfe für die kindlichen Opfer von häuslicher Gewalt und physischer Ausnutzung im Vordergrund; dort das Bemühen um Koordination, finanzielle Absicherung, Qualifizierung und geschlossene Außendarstellung der schon bestehenden privatwohltätigen Initiativen. Die genauen Hintergründe, die zum Zusammenschluss der beiden Vereinigungen führten, lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Vermutlich waren neben der inhaltlichen Nähe der Aufgaben in erster Linie die mangelnde öffentliche Resonanz auf die Initiative von Jaques sowie finanzielle Engpässe ausschlaggebend. Tatsächlich stand der neugegründete Verein „Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“ sowohl was die Finanzierung als auch was das Aufgabengebiet anbetraf auf deutlich solideren Füßen als seine Vorgänger. Die ambulanten Erziehungsaufsichten entwickelten sich rasch zu einem der wichtigsten Arbeitsschwerpunkte der Vereinigung, und offenbar waren auch immer mehr Männer und vor allem Frauen bereit, durch persönlichen Einsatz die Ziele des Vereins zu unterstützen. Ganz überwunden waren die finanziellen Probleme aber immer noch nicht, und als der Verein Ende 1912, Anfang 1913 daranging, in Hamm eine ehemalige Schule als Übergangsheim für die von ihm ermittelten schutzbedürftigen Kinder einzurichten und den Senat um eine kostenlose Überlassung der Immobilie bat, trat der Konflikt zwischen staatlicher und privatwohltätiger Jugendfürsorge ganz offen zu Tage.2 In den kommissarischen Verhandlungen, die zur Entscheidung dieses Gesuchs anberaumt worden waren, übten Johannes Petersen und der ebenfalls hinzugezogene Direktor der Armenanstalt Lohse eine geradezu vernichtende Kritik an der bisherigen Arbeit des Vereins und zeigten seinen Vertretern deutlich die Grenzen auf, die ihrer Tätigkeit durch den gesetzlichen Auftrag der staatlichen Jugendfürsorge gesteckt waren. Sie wiesen nicht nur darauf hin, dass der Schutz von „misshandelten Kindern“ eindeutig eine Staatsangelegenheit sei und nur seine Organe befugt und in der Lage waren, Eltern ihre Kinder auf Dauer wegzu1 Ernst Jaques zählte – wie oben bereits erwähnt – neben Schultz und Classen zu den wichtigsten aktiven Unterstützern und Initiatoren der unter dem Dach der „Hamburger Volksheime“ entstandenen Lehrlings- und Gesellenvereine. Er gehörte allerdings dezidiert dem kulturkonservativen Flügel an, der am bürgerlich-autoritären Konzept staatsbürgerlicher Erziehung festhielt und es gegen die Angriffe der jüngeren, eine methodische Öffnung einfordernden Jugendleiter zu verteidigen versuchte (Uhlendorff [2003], S. 242). Auch seine amtliche Stellung als Regierungsrat beim Armenkollegium nutzte Jaques, um auf eine Verbesserung der örtlichen Jugendfürsorgetätigkeit hinzuwirken. 2 STAH 611-20/13 7.
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nehmen. Sie hielten es auch für äußerst bedenklich, dass sich der Verein der Bevölkerung als eine Art mildere Alternative oder sogar „Beschwerdeinstanz“ zur staatlichen Jugendfürsorge andiente. Darüber hinaus kritisierten sie in scharfen Worten die praktische Arbeit des Vereins. Die Vereinsaktiven würden, so die beiden Direktoren, häufig viel zu unbedarft ans Werk gehen und bei den geringsten sich dabei ergebenden Schwierigkeiten die Fälle doch wieder an die eigentlich zuständigen Behörden abgeben. Diesen sei es dann aber nicht mehr möglich, die zugrundeliegenden Sachverhalte ordnungsgemäß zu überprüfen. Die Wandererfürsorge, die Fürsorge für Witwenkinder und die Erledigungen von „leichteren“ Gefährdungsfällen wollte Petersen gern dem „Kinderschutzverein“ überlassen, ansonsten aber sollte die Organisation seiner Auffassung nach nur diejenigen Fälle bearbeiten, die ihr von den Behörden ausdrücklich zugewiesen wurden. Nur unter diesen Voraussetzungen gaben Petersen und Lohse schließlich die Zustimmung zur staatlichen Unterstützung des geplanten Übergangsheims des Vereins. Geradezu exemplarisch kam an der nachgezeichneten Auseinandersetzung zwischen Behördenvertretern und dem Verein „Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“ das von Petersen vertretene Verständnis einer an den Finanz- und Machtmitteln orientierten Trennung von privater und staatlicher Jugendfürsorge zum Tragen.1 Obwohl der Antrag des Vereins schließlich bewilligt wurde, war im Zuge der Verhandlungen deutlich geworden, dass diese Grenzlinie ganz einseitig gezogen wurde. Petersens nominelle Vereinsmitgliedschaft hinderte ihn keineswegs daran, harsche inhaltliche Kritik an der Tätigkeit des Vereins zu üben und dessen Vorstand in die Schranken zu weisen. Die personelle Verflechtung, die zwischen öffentlicher und privatwohltätiger Jugendfürsorge existierte, darf ebenso wenig wie die öffentlichen Verlautbarungen, die wieder und wieder die gute Zusammenarbeit zwischen den beiden Segmenten beschworen, darüber hinwegtäuschen, dass hinter den Kulissen oft mit harten Bandagen um finanzielle Ressourcen und Einflussbereiche gekämpft wurde. Wenn Petersen in die Vorstände privater Wohltätigkeitsorganisationen gewählt wurde, so zeugte das eher von seiner unanfechtbaren amtlichen und fachlichen Autorität – ohne ihn ließ sich auf dem Gebiet der Jugendfürsorge in Hamburg eben gar nichts mehr bewegen –, als von einer gedeihlichen Kooperation zwischen den beiden Organisationsbereichen. Die privatwohltätige Jugendfürsorge war zwar in Hamburg auch 1914 keineswegs bedeutungslos geworden. Aber spätestens seit 1900 hatten sich ihre Chancen auf freie Entfaltung durch die uneingeschränkte Machtstellung des 1 Wer mit den lokalen Verhältnissen einigermaßen vertraut war, dem konnte auch nicht verborgen geblieben sein, dass Petersen in seinen 1912 erschienenen „Gedanken über die Organisation der Jugendfürsorge“ auf die Auseinandersetzung mit dem „Verein Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.“ anspielte, um seinen Standpunkt in der Frage zu verdeutlichen (Petersen [1912b], S. 13).
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WHK und später der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ massiv verschlechtert. Alle neu entstehenden gesetzlichen Aufgaben wurden fast umgehend von der Behörde okkupiert. Die private Jugendfürsorge stand ganz im Schatten der übermächtigen Behörde.
3.5 Die Hamburger Sonderentwicklung – ein Ergebnis von Reformstau, äußerem Anpassungsdruck und sozialmanagerialer Durchgestaltung Die Entwicklung der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich zusammenfassend in vier Etappen mit drei Zäsuren unterteilen.1 Die Epoche der traditionellen Jugendfürsorge erstreckte sich in Hamburg bis Mitte der 1880er Jahre. Zumindest was die Fürsorge für „gefährdete“ und „verwahrloste“ Kinder und Jugendliche anging, galt das Primat der Privatwohltätigkeit. In der „Vormärz“- und Revolutionsperiode sowie im unmittelbaren Anschluss an den Hamburger Brand war die Fürsorge für diesen Personenkreis durch zahlreiche Anstaltsneugründungen wie das „Magdalenen-Stift“, das „Rauhe Haus“ und das „Pestalozzi-Stift“ inhaltlich und konzeptionell angeregt worden. Aber diese innovativen Impulse ebbten im Verlauf der folgenden drei Jahrzehnte allmählich ab. In der Reichsgründungsepoche war die Entwicklung sowohl der privaten als auch der öffentlichen Jugendfürsorge Hamburgs durch chronische Unterfinanzierung, Stagnation und schwindende patriotische Identifikationskraft geprägt. Der Umzug der Erziehungsanstalten an den Stadtrand war nicht nur dem allgemeinen Stadtwachstum oder der Ideologie des heilenden Einflusses ländlicher Abgeschiedenheit geschuldet. Die Einrichtungen verloren nach und nach auch ihre Repräsentationsfunktion für das bürgerliche Selbstverständnis und gerieten damit tendenziell aus dem Blickfeld des öffentlichen Bewusstseins. Man saß zwar noch in den Verwaltungsgremien und kümmerte sich um das finanzielle Überleben der Einrichtungen. Was ansonsten noch in den Anstalten vor sich ging, erschien aber nicht mehr von Belang und wurde mit zunehmender Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen. Die Umstellung auf die Steuerfinanzierung der drei großen traditionsreichen wohltätigen Stiftungen war das Signum dieses Prozesses. Sie wurde eher als Kapitulation der bisherigen Fürsorge- und Finanzierungskonzeptionen erlebt, denn als ein Triumph des neu erweckten staatlichen Engagements im Bereich der Jugendfürsorge. Die neue poli1 Die von Uhlendorff vorgeschlagene Periodisierung weicht von der hier vertretenen zeitlichen Einteilung etwas ab. Dieser spricht in Bezug auf die Zeit vor 1910 von der „Konstituierungsphase“und in Bezug auf den Zeitraum 1910 bis ca. 1927 von einer Phase „konzeptioneller Neuorientierung“, während er die Zeit danach als Periode des „sozialen Ausbaus“ versteht (Uhlendorff [2001b], S. 48 ff.).
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tische und wirtschaftliche Situation lähmte und paralysierte gleichsam das bis dahin so rührige soziale Engagement des Hamburger Bürgertums. Alle Versuche einer tiefgreifenden Reform von Verwaltung und Erziehungspraxis führten zu dilatorischen Lösungen oder scheiterten an den Spätfolgen des „Kulturkampfes“. In dieser durch Reformstau und Stagnation geprägten Situation wirkte die Waisenhausaffäre von 1885/86 wie ein Paukenschlag. Was lange Zeit nicht möglich erschien – die Professionalisierung der Verwaltungsspitze, die konsequente Verweltlichung der Waisenhauserziehung und ihre Öffnung zum „normalen Leben“ hin, die organisatorische Zusammenlegung von Waisenpflege und Kostkinderwesen –, all das wurde angesichts der aufgeheizten Debatte im Anschluss an die Vergehen des Waisenvaters Schulz und der Krankenwärterin Alms als notwendige und längst überfällige Maßnahmen erkannt. Durch die Übernahme des Kostkinderwesens und die Etablierung des „gemischten Systems“ fand die Hamburger öffentliche Jugendfürsorge erneut Anschluss an die Entwicklung im Reich. Die Adaption des „Elberfelder Systems“ für die Überwachung der Kostkinder war dafür nur eines der markantesten Beispiele. Die Cholerakrise und ihre verheerenden sozialen Folgen wirkten in dieser Situation als zusätzliche Beschleuniger der Entwicklung. Gleichwohl blieb die Zentralisierung der staatlichen Jugendfürsorge noch unvollkommen. Während man in der Waisenpflege mit Schadensbegrenzung und konzeptioneller Neuorientierung beschäftigt war, war mit der Einrichtung der Zwangserziehungsbehörde (ZEB) ein neuer, organisatorisch selbständiger Verwaltungszweig entstanden, und dies sollte weitreichende Folgen für die Entwicklung der kommenden Jahrzehnte haben. Der durch die Reichsgesetzgebung forcierte Neubau in Ohlsdorf, die Diskreditierung der konfessionellen „Rettungsarbeit“ und die Möglichkeit der freiwilligen Unterbringung gaben der Zwangserziehung in Hamburg zunächst den Anstrich der Modernität und Fortschrittlichkeit. Mit den Jahren aber beharrte die ZEB ebenso starr auf dem Prinzip der geschlossenen Unterbringung und dem Erhalt ihrer organisatorischen Eigenständigkeit wie zuvor das WHK. Die Kluft zwischen ehrenhaften Bürgerkindern, welche die Hauptklientel der Waisenpflege bildeten, und undisziplinierten, „verwahrlosten“ Volksschülern, die in einer gefängnisartigen Anstalt über Jahre hinweg gebessert werden sollten, erschien zu groß, als dass man sie in einer einzigen Maßnahme und unter einer einzigen Organisation hätte zusammenfassen können.1 Der Zeitabschnitt von 1885/86 bis 1900 ist deshalb als Phase der staatlichen Offensive im Bereich der Jugendfürsorge zu werten, die mit der organisatorischen Zusammenführung der öffentlichen Fürsorgetätigkeit gegenüber unehelichen, verarmten und verwaisten Minderjährigen beim WHK und dem Aufbau eines von der Armenpflege getrennten ehrenamtlichen 1
Vgl. unten Abschnitt 4.2.4.
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Überwachungsapparates zwei der wichtigsten Voraussetzungen für die Entstehung eines einheitlichen, nach pädagogischen Gesichtspunkten gestalteten Systems von ineinandergreifenden ambulanten und stationären, familienergänzenden und familienersetzenden Maßnahmen hervorbrachte. Gleichzeitig wurde mit Gründung der ZEB eine administrative Doppelstruktur festgeschrieben, welche die alte Zweigleisigkeit im Umgang mit „hilfsbedürftigen“ und „verwahrlosten“ Minderjährigen noch eine ganze Reihe von Jahren aufrecht erhielt. Das Jahr 1900 leitete schließlich die Phase des beschleunigten Ausbaus der öffentlichen Jugendfürsorge ein. Die Jahrhundertwende brachte einerseits einen wichtigen Personalwechsel an der Behördenspitze: An die Stelle des zuletzt mit seinen Aufgaben stark überforderten Karl Stalmann war der dynamische und durchsetzungsstarke Johannes Petersen getreten. Die Jahreszahl stand aber auch für die Einführung der neuen Institution des Gemeindewaisenrats (GWR), die vom neuen Direktor geschickt genutzt wurde, um die ehrenamtliche Waisenpflege personell zu verstärken, inhaltlich auszubauen und organisatorisch umzugestalten. In den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende konzentrierte sich die Tätigkeit des Kollegiums und seines Direktors vor allen Dingen auf die Etablierung des so genannten Bezirkssystems sowie die Erprobung eines neuen Modells der „Personalführung“, das bürokratisch-zentralistische Lenkung mit erweiterten Entscheidungsspielräumen auf der untersten, ehrenamtlichen Organisationsebene und gezielte Qualifizierungsanstrengungen mit Formen kollegialer Unterstützung verband. Parallel dazu wurde ein Abwehrkampf gegen das Vordringen weiblicher ehrenamtlicher Kräfte geführt. Mit Abschluss der organisatorischpersonellen Reformmaßnahmen trat dann die Übernahme neuer Maßnahmen in den Vordergrund der Behördentätigkeit. Die wichtigste und strukturell folgenreichste Aufgabenerweiterung brachte die 1908 erfolgte Übertragung des Zwangserziehungswesens an das WHK. Sie löste die bis dahin bestehende organisatorische Doppelstruktur in der öffentlichen Jugendfürsorge ab und ebnete den Weg für die seit langem geforderte Umstellung von einer konditionalen zu einer an den erzieherischen Zwecken orientierten Gestaltung von Verwaltungsabläufen. Die „Beobachtungsabteilung“ wurde zum eigentlichen Herzstück einer an den erzieherischen Bedarfen orientierten individualisierten Unterbringungspraxis. In Bezug auf Jugendliche wurde die Umstellung nicht zuletzt an der Erweiterung und Ergänzung der Anstaltsunterbringung durch Maßnahmen ambulanter Überwachung und erzieherischer Leitung in Form der „Erziehungsaufsicht“ sichtbar. Durch die breite personelle Basis der Waisenpflege und den rapiden Kompetenzenzuwachs ab 1908 war die Position des WHK als Fachbehörde für die öffentliche Fürsorge Minderjähriger in der Hansestadt unanfechtbar geworden. Nicht nur im Austausch der Behörden untereinander, sondern auch in der privatwohltätigen Jugendfürsorge kam man am Kollegium nicht mehr vorbei.
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Zumindest im Bereich der „Gefährdetenfürsorge“ hatte sich der Spielraum für das freie Engagement erheblich verengt. Mit der 1910 erfolgten Umbenennung des WHK in „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ trat die Entwicklung der Hamburger Jugendfürsorge in eine letzte Phase ein, die allerdings auf der Grundlage der vorliegenden Untersuchung nur sehr umrisshaft bestimmt werden kann. Am angemessensten kann sie wohl als kurze Phase der Konsolidierung des bisher erreichten Zustandes beschrieben werden, die mit dem Beginn des ersten Weltkrieges und der damit einhergehenden Verknappung personeller Ressourcen sowie der Ausweitung jugendfürsorgerischer Problemlagen beendet wurde. Allerdings zeichneten sich bereits vor dieser neuerlichen Zäsur die ersten strukturellen Schwierigkeiten und inneren Widersprüche ab, die mit der zentralisierten, alle Altersstufen umfassenden und nach einheitlichen pädagogischen Kriterien gestalteten staatlichen Jugendfürsorge verbunden waren. Das selbstgeschaffene Problem der „Unerziehbarkeit“ setzte sowohl restriktive Programme als auch ernstzunehmende Lernprozesse in Gang. Vor dem Hintergrund der eben skizzierten Entwicklung muss abschließend erneut auf die Frage nach den Ursachen und Gründen für die Vorrangstellung der Hamburger Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgekommen werden. Unzweifelhaft ist, dass der soziale Problemdruck in einer Großstadt wie Hamburg bedeutend höher war als in den kleineren Städten und Industriezentren des Deutschen Reichs. Auf diese Situation allein läßt sich die außergewöhnliche Dynamik, die für die Hamburger Entwicklung während des Kaiserreichs bestimmend war, allerdings nicht zurückführen. Vielmehr war eine Kombination ganz unterschiedlicher Faktoren für das frühzeitig einsetzende Engagement des Staates im Bereich der Jugendfürsorge maßgeblich: Zunächst einmal gab es einen starken Druck zur Intensivierung der Staatstätigkeit von außen. Die Stadt war – ob sie nun wollte oder nicht – in einen Wettbewerb um den Ausbau der kommunalen Daseinsvorsorge eingetreten. Insbesondere durch die Reichsgründung hatte sich der Anpassungsdruck, der auf der Hansestadt lastete, ganz erheblich vergrößert. Reichsgesetze wie das UWG, das RStGB und später das BGB mussten umgesetzt werden, und um dies zu ermöglichen, mussten die entsprechenden organisatorischen und baulichen Vorkehrungen getroffen werden. Der Stadtstaat reagierte hier mehr, als dass er eine Entwicklung anführte oder gar initiierte. Ob es sich nun um die Gestaltung der Anstaltserziehung, die Organisation des Armenwesens, die Ausrichtung der Polizeiarbeit oder so spezielle Maßnahmen wie den Arbeitszwang gegenüber unterhaltssäumigen Vätern handelte, in all diesen Fällen waren die Impulse und An-
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stöße zu einer organisatorischen Umgestaltung nicht aus der Verwaltung vor Ort, sondern von außerhalb gekommen. Nicht minder stark war der Veränderungsdruck, der durch die empörten Reaktionen der Hamburger Bevölkerung auf die in der traditionellen Jugendfürsorge zu Tage tretenden Missstände hervorgerufen wurde.1 Eine kritische Öffentlichkeit wurde dabei vor allem durch die Tagespresse erzeugt und beschränkte sich – wie sich an der Waisenhausaffäre von 1885/86 exemplarisch zeigen ließ – keineswegs auf die exklusive Öffentlichkeit der Bürgerschaft. Reformdruck wurde nicht nur in der bürgerlichen „Volksvertretung“ aufgebaut, sondern kam gleichsam von unten, das heißt aus jenen Bevölkerungsschichten, die zu den potenziellen Adressaten der Jugendfürsorge gehörten. Diesem doppelten Druck von außen war es zu verdanken, dass der Reformstau, der in der öffentlichen Jugendfürsorge in den 1860er und -70er Jahren bestand, überwunden, das Kostkinderwesen aus der Armenpflege ausgegliedert und mit der Waisenpflege zum „gemischten System“ vereinigt wurde. Neben dem mehr oder weniger nachhaltigen Druck, der vom Reich, den miteinander wetteifernden großstädtischen Kommunen sowie vom Hamburger „Publikum“ ausging, traten die besonderen territorialen und konstitutionellen Verhältnisse des Stadtstaates als begünstigende Faktoren hinzu. Dass in Hamburg relativ früh eine einheitliche zentralistische Organisation geschaffen werden konnte, lag auch daran, dass Stadt- und Staatsgrenzen zusammenfielen und ein politisches und steuerrechtliches Mehrebenensystem, wie es etwa in Preußen mit der Dreigliederung von Staat – Provinz – und Kommune bestand, in Hamburg nicht existierte. Ein städtisches Fürsorgeamt hatte damit fast zwangsläufig den Rang eines „Ministeriums“. Noch wichtiger war indes, dass Kompetenzstreitigkeiten zwischen den unterschiedlichen Verwaltungsebenen und zeitaufwendige Debatten über die Verteilung der Finanzlasten entfielen. Eine Arbeitsteilung, bei der den Kommunen die Maßnahmen zur materiellen und physischen Sicherung des Überlebens derjenigen zufiel, die sich selbst nicht unterhalten konnten, dem Provinzialverband hingegen alle Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, das heißt auch für die Erziehung „verwahrloster Jugendlicher“, war in
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Diese Tatsache wurde auch von Petersen erkannt. In seinem Vorbericht für den AFET 1912 bemerkte er: „Über die Kinderfürsorge städtischer Armenpflege sind Klagen in der Literatur nicht bekannt geworden. Man kann annehmen, daß sie tatsächlich im allgemeinen zweckmäßig ist. Schon die meist größere finanzielle Leistungsfähigkeit der Städte und das im allgemeinen vorhanden fortgeschrittene sozialpolitische Verständnis bewirken vollkommenere Leistungen. Dazu kommt in den Städten die lebhafte öffentliche Kritik. In einer Stadt werden sich immer und überall, wenn einmal bekannt werden sollte, daß eine Armenverwaltung Kinder, zu deren Unterstützung sie verpflichtet ist, direkt verwahrlosen läßt oder mangelhaft unterbringt, Leute finden, die ihre Stimmen erheben und Abstellung der Übelstände fordern.“ Petersen [1912c], S. 13.
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Hamburg undenkbar. Für beides konnte nur ein einziger öffentlicher Kostenträger in Frage kommen, nämlich der Staat. Nicht zu leugnen ist schließlich, dass Hamburg mit dem zweiten Direktor des WHK und späteren Leiter der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“, Johannes Petersen, über einen organisatorisch äußerst talentierten und nicht minder machtbewussten Oberbeamten verfügte. Petersen war ein Machertyp mit Visionen, der es verstand, die Erfolge seiner Arbeit in zahlreichen Fachartikeln und Tagungsbeiträgen als zukunftsweisend zu präsentieren. Seine Vision bestand in der Schaffung eines einheitlichen, effizienten und vor allen Dingen lückenlosen Systems zur Erfassung und Behebung jedweder Art erzieherischer Bedürftigkeit unter Kindern und Jugendlichen. Das wirksamste Mittel zur Erreichung dieses Ziels sah er in einer konsequenten Verstaatlichung der Jugendfürsorge, denn nur der Staat war seiner Meinung nach mit genügend Macht ausgestattet, die Erziehungshilfen notfalls gegen den Willen der natürlichen Gewalthaber durchzusetzen und gleichzeitig der Bevölkerung eine Zwangsabgabe zur Realisierung dieses großen Planes abzufordern. Petersen war keineswegs ein Freund des Sozialismus, aber die Betonung der tragenden Rolle des Staates in seiner Konzeption und die gezielte Förderung weniger repressiver, „ambulanter“ Formen der Unterstützung und Kontrolle trugen ihm doch die Sympathien der organisierten Arbeiterschaft zu. Zugleich war Petersen ein ausgesprochener Pragmatiker, der nichts von Dogmen hielt. Wo rechtliche Grundlagen zur Absicherung umfassender Jugendhilfemaßnahmen fehlten, versuchte er durch extensive Rechtsauslegung seinen Plan dennoch zu verwirklichen. Außerdem war er nüchtern genug zu erkennen, dass der Ausbau der modernen Jugendfürsorge nur in Anknüpfung an die schon bestehenden Institutionen und lokalen Fürsorgementalitäten erfolgen konnte. Wie Emil Münsterberg war auch Johannes Petersen ein typischer Vertreter des sozialmanagerialen Kurses innerhalb der Armen- und Jugendfürsorge.1 Im Unterschied zu dem schon frühzeitig aus Hamburg vergraulten Armenreformer Münsterberg war Petersen aber mit den lokalen Verhältnissen und Befindlichkeiten bestens vertraut.2 Er hatte den „cursus honorum“ absolviert, sich vom einfachen Armenpfleger und Volksschuldirektor zum Spitzenbeamten einer Hamburger Behörde hochgedient und kannte die kollegialen Entscheidungsstrukturen sowie die besondere Hamburger Hilfsmentalität genau – mit anderen Worten: Er wurde von der Hamburger Herrschaftselite als einer der ihren angesehen. Von dieser Herkunft zeugt auch die hohe Wertschätzung, die er der ehrenamtlich or1 Zur Differenzierung von patriarchaler und sozialmanagerialer Reformstrategie in Bezug auf die deutsche Jugendfürsorge des 19. Jahrhunderts: Dickinson [1996], S. 5 ff. 2 Vgl. zu den Umständen der Einstellung und Entlassung Münsterbergs ausführlich: Pielhoff [1999], S. 347 ff.
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ganisierten Fürsorgetätigkeit zollte, sowie sein feines Gespür für die tiefe Abneigung, die viele Hamburger gegenüber dem sozialbürokratischen „Schematismus“ preußischer Provenienz empfanden. Als Petersen im Herbst 1913 mit gerade einmal 51 Jahren starb, war er zu einer unangefochtenen Hamburger Fachautorität geworden. Nicht ohne Stolz verwies man darauf, dass das von Petersen geschaffene System vieles bereits vorwegnahm, was durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz Anfang der 1920er Jahre dann reichsweit eingeführt werden sollte.1 Eine rückblickende Beurteilung der Hamburger Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Jugendfürsorge bliebe allerdings unvollständig, würde sie bei der Gewichtung der verschiedenen Faktoren stehen bleiben, die sie ermöglicht haben. Sie muss zugleich auch auf die problematischen Folgen und inneren Widersprüche hinweisen, welche die moderne Jugendfürsorge mit sich brachte. Zwangsläufig mussten die Kehrseiten öffentlicher Jugendfürsorgetätigkeit dort besonders frühzeitig zum Vorschein kommen, wo auch die Gesamtentwicklung besonders weit vorangeschritten war. Wie weiter oben dargestellt, nahm Petersen den vor allem gegen die Berufsvormundschaft vorgebrachten „Schematismus“-Vorwurf sehr ernst. Individualisierende Fallbearbeitung setzte auch nach seinem Dafürhalten die intensive Pflege von persönlichen Kontakten und das Einbringen eigener Lebenserfahrungen voraus, und dies war nur dann möglich, wenn sich die amtliche Jugendfürsorge auf eine breite Basis ehrenamtlicher Helfer stützten konnte. Die Waisenpfleger und ihre „Helferinnen“ sollten in der Nachbarschaft der Kinder und Jugendlichen wohnen, Hilfe und Kontrolle sollte auf einer Vertrautheit mit dem Milieu beruhen und von sozialem Verantwortungsgefühl und naturwüchsiger Autorität gleichermaßen getragen sein. Solche Erwartungen waren allerdings nur bedingt damit zu vereinbaren, dass die Waisenpfleger als „Vorposten und Patrouille“2 der staatlichen Zentralstelle agierten. Wenn kleinere Gewerbetreibende die an sie als Waisenpfleger ergangenen Ermittlungsaufträge im Jugendstrafverfahren ablehnten, indem sie auf den geschäftsschädigenden Charakter dieser Tätigkeiten hinwiesen, so offenbarte sich darin ein grundlegendes Problem der ehrenamtlich organisierten, aber staatlich zentral gelenkten Jugendfürsorge.3 Gewachsene Autorität und Vertrautheit stießen dort an ihre Grenzen, wo sie zur kontinuierlichen Überwachung des Familienlebens und zur Initiierung staatlicher Zwangsmaßnahmen eingespannt wurden. In diesem Punkt unterschied sich auch das Amt des Armenpflegers grundlegend von jenem des Waisenpflegers. Auch die Armenpflege war mit einer eingehenden Kontrolle des Verhaltens verbunden. Zur Inanspruchnahme der materiellen Hilfe wurde aber niemand gezwungen, und 1
Vgl.: Schröder [1966], S. 251. Petersen [1912b], S. 40 f. Vgl. oben S. 214, Anm. 1. 3 BlHWpfl. 11/1912, Heft 3, S. 10. 2
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verweigerte Kooperation führte im Regelfall nur zur Einstellung der Unterstützung. Ganz anders verhielt es sich bei der Waisenpflege bzw. Jugendfürsorge. Zumeist war die Hilfeleistung gar nicht von einer Antragstellung der gesetzlichen Vertreter abhängig, und eine Verweigerung der Mitarbeit hatte „nur“ zur Folge, dass anstelle des ehrenamtlichen Waisenpflegers ein besoldeter Ermittlungsbeamter von der Zentralstelle erschien, der sich notfalls mit Polizeigewalt Zutritt zur Wohnung der betroffenen Familien verschaffte. Im Fall der Armenfürsorge gab es zwischen Armenpflegern und Unterstützungsempfängern eine starke Kongruenz im Verständnis von „Hilfe“. Nicht so bei der Jugendfürsorge. Was die Waisenpfleger als „Fürsorge“ ausgaben, empfanden die Eltern und Jugendlichen häufig keinesfalls als Unterstützung, sondern als anmaßende, ja gewalttätige Einmischung in ihre private Angelegenheiten. Das kaum auflösbare Spannungsverhältnis von Hilfe und Kontrolle, das sich durch die Einspannung der ehrenamtlichen Waisenpflege in die Arbeit der öffentliche Jugendfürsorge eingeschrieben hatte, wurde durch den von Petersen formulierten Totalitätsanspruch noch verstärkt. Die lückenlose Erfassung aller erzieherischen Bedarfe durch eine zentrale Stelle sollte eine effiziente und gerechte Unterstützungspraxis gewährleisten. Man beabsichtigte damit personelle Ressourcen zu schonen, unnötige Mehrfachbetreuungen zu vermeiden und ein Gegeneinanderarbeiten unterschiedlicher Einrichtungen zu verhindern.1 In der Praxis aber führte der Anspruch einer systematischen Erfassungen der unterschiedlichen Bedarfslagen zu einer ausufernden Falldokumentation, die weniger durch die Einhaltung bzw. Ausbildung bestimmter fachlicher Standards, als vielmehr durch amtliche Routine, stereotype Verkürzung sowie der Abstimmung auf Erfordernisse bestimmt war, die außerhalb des jugendfürsorgerischen Einflussbereiches lagen. Im Ergebnis engten sich die Spielräume der Fürsorgeadressaten und ihrer Angehörigen, eigene Wirklichkeitsdeutungen zur Geltung zu bringen und Einfluss auf die Ausgestaltung der erzieherischen Maßnahmen zu nehmen, immer stärker ein. Die Fallberichterstattung löste sich tendenziell von den kommunikationsgestützten lebensweltlichen Bezügen ab, in welche die beobachteten sozialen Probleme eingebunden waren. Nicht minder problematisch waren die Folgen, welche die Ausdehnung der Zwangserziehung auf die älteren Jugendlichen und die an erzieherischen Gesichtspunkten orientierte differenzierte Unterbringungspraxis mit sich brachten. Die Postulierung einer weit über das schulpflichtige Alter hinausgehenden generellen Erzieh- und Bildbarkeit von Jugendlichen hatte absurderweise dazu geführt, dass sich in Ohlsdorf immer mehr Zöglinge sammelten, an denen die herkömmlichen Erziehungs- und Disziplinierungsbemühungen des Anstaltsperso1
Vgl.: Petersen [1912b], S. 38 ff.
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nals abprallten. Sehr bald schon wurde diese Renitenz bzw. Resistenz gegenüber den pädagogischen Maßnahmen als „Erziehungsunfähigkeit“ gedeutet und immer lauter eine separate Einrichtung zur „Bewahrung“ dieser Jugendlichen gefordert. Der Sicherheitsaspekt trat hier wieder stärker in den Vordergrund der Fürsorgepraxis, und mit ihm hielt die psychiatrische Behandlung als vermeintlich humanere und fortschrittliche Umgangsweise mit „geistig minderwertigen Zöglingen“ Einzug in den Erziehungsalltag. Die zögerlichen Versuche der methodischen Neuausrichtung der Arbeit wurden auf diese Weise ad absurdum geführt, denn mit der psychiatrischen Deutung des renitenten Verhaltens der Zöglinge wurde jede Chance versperrt, die Handlungsweisen der eingesperrten Kinder und Jugendlichen als Reaktion auf das bestehende System und berechtigte Kritik an ihm zu werten und zum Anlass einer grundlegenden Reform zu nehmen. Auch die Hamburger Jugendfürsorge, so lässt sich zugespitzt resümieren, war in der „Dialektik der Modernen“ befangen und trug ein doppelgesichtiges Haupt. So instruktiv und bestechend diese vor allem von Peukert stark gemachte Interpretation der geschichtlichen Entwicklung aber auch ist, sie weist ihre spezifischen Vereinseitigungen auf. Suggeriert wird mit ihr, dass sich die Ausbildung des Jugendhilfesystems mit all seinen Widersprüchlichkeiten quasi automatisch und über die Köpfe der zeitgeschichtlichen Akteure hinweg vollzog. Aus dem Blick gerät so tendenziell, dass auch die bürgerlichen Zeitgenossen und Sozialreformer keineswegs einheitlich dachten. Sie stritten sich mitunter leidenschaftlich über die zukünftige Ausgestaltung der Jugendfürsorge und bedachten dabei nicht selten auch schon die absehbaren destruktiven Folgen der geplanten Maßnahmen. Der Diskurs zur Jugendfürsorge im 19. Jahrhundert war noch nicht vollständig abgeschottet. Wissenschaftliche Sprachspiele setzten sich erst allmählich durch und psychiatrisch-psychologische Deutungsmuster spielten noch so gut wie keine Rolle. Die regionalen und nationalen Bühnen, auf denen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der nachlassenden familialen Sozialisationsleistung diskutiert wurden, waren mehrheitlich von Magistratsvertreter, Juristen und zunehmend auch von höheren Fürsorgebeamten bevölkert. Welche Lager sich dabei bildeten, welche Positionen die einzelnen Akteure vertraten und vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund dies geschah, soll im folgenden Teil näher untersucht werden.
4 Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug – Fürsorgeund rechtspolitische Debatten zum Eingriff in das Elternrecht
Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, im Zuge von Reichsgründung, beschleunigter Industrialisierung und Urbanisierung, vollzog sich in Deutschland, wie andernorts auch, ein tiefgreifender Wandel in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Kaum irgendwo sonst lässt sich dieser Wandel so gut studieren wie in den Diskussionen um die staatlichen Eingriffsbefugnisse in die elterliche Erziehung. Bis weit über die 1850er Jahre hinaus war die vorherrschende Meinung, dass sich der Staat aus familiären Angelegenheiten möglichst herauszuhalten habe. Nach dem Rechtsstaatsprinzip sollten die Bürger vor den Zudringlichkeiten der Obrigkeit geschützt werden. Nur nach eng gefassten, gesetzlich festgelegten Kriterien und einem klar geregelten Verfahren sollte der Staat in die allgemeinen Verkehrsformen, das Wirtschaftsleben sowie die grundlegendsten sozialen Institutionen und Zusammenhänge eingreifen dürfen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich diese Situation grundlegend gewandelt. Zumindest in den politischen Entscheidungsgremien zweifelte kaum noch jemand daran, dass dem Staat und seinen Organen das Recht, ja die Pflicht zukomme, Minderjährige bei festgestellten gravierenden Mängeln in der familialen Erziehung auch gegen den Willen der Eltern in seine Obhut zu nehmen und sowohl zu ihrem eigenen Wohl als auch im öffentlichen Interesse zu erziehen. Die Durchsetzung dieser Sichtweise verlief keineswegs störungsfrei und geradlinig. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen des gesellschaftlichen und politischen Lebens wurde lebhaft und manchmal sogar hitzig über das Thema gestritten. Das lag vor allem daran, dass die Frage nach der staatlichen Interventionsberechtigung in Bezug auf die familiale Erziehung an ganz zentralen politischen Glaubenssätzen und ethischen Grundüberzeugungen rührte. Der Idee einer im nationalen Interesse betriebenen körperlichen und sittlichen Ertüchtigung der Jugend stand die noch immer wirkmächtige Vorstellung von der Familie als Keimzelle der Gesellschaft gegenüber. Hinzu kam, dass die rechtsstaatlichen Prinzipien in den deutschen Teilstaaten je nach politischer Verfassung, kirchlichem Einfluss und Gestaltung des Wirtschaftslebens ganz unterschiedlich stark veran-
J. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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kert waren. Die Auseinandersetzungen über die staatlichen Eingriffsbefugnisse ins Personensorgerecht der Eltern wiesen deshalb auch vielfältige regionale Brechungen und Ungleichzeitigkeiten auf. In diesem Teil der Untersuchung wird es darum gehen, die Entwicklung der Debatten, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zum staatlichen Eingriffsund Erziehungsrecht geführt wurden, in ihren einzelnen Etappen darzustellen und die besonderen Wechselwirkungen herauszuarbeiten, die sich dabei zwischen Hamburg, Preußen und dem Reich ergaben. Größtenteils handelt es sich bei den analysierten Auseinandersetzungen um Verhandlungen der gesetzgebenden Körperschaften. Entsprechend dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung werden hier die Auseinandersetzungen um die rechtliche Normierung von Zwangserziehung und Sorgerechtsentzug in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Insofern bildet der vorliegende dritte Teil der Untersuchung zugleich auch die Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet ab. Vorbereitet, begleitet und kommentiert wurden die Erörterungen der Legislativen allerdings durch zahlreiche Debatten, die in überregional agierenden Fachvereinigungen wie dem „Verein für Sozialpolitik“ (VfS), dem „Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit“ (DVAW) oder dem „Allgemeinen Fürsorgeerziehungstag“ (AFET) geführt wurden. Auf diese wird deshalb ebenfalls näher einzugehen sein.
4.1 Die rechtliche Stellung des Vaters im Spätabsolutismus und die Hamburger Vormundschaftsordnung von 1832 Um die Veränderungen im Nachdenken über die Rolle des Staates in Bezug auf die familiale Erziehung einordnen und in ihrer Tragweite richtig abschätzen zu können, ist es zunächst erforderlich, die historische Ausgangslage zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Neben staatstheoretischen Erörterungen geben vor allem das damals gültige Recht und die konkrete Fürsorgepraxis Auskunft darüber, wie man das Verhältnis von elterlicher und staatlicher Autorität definierte. Da einheitliche familienrechtliche Regelungen Anfang des 19. Jahrhunderts noch fehlten, wird die Rechtssituation exemplarisch für Preußen, den größten aller deutschen Staaten, skizziert. Aufgrund der besonderen politischen und wirtschaftlichen Stellung Hamburgs sowie der eigentümlichen Rechtstraditionen, die sich hier ausgebildet hatten, unterschied sich die Bestimmung des Eltern-Kind-Verhältnisses und der darauf bezogenen Rechte und Pflichten des Staates in der Hansestadt nicht unwesentlich von derjenigen in Preußen. Aber auch in Hamburg gab es bereits erst Anzeichen dafür, dass man über eine veränderte staatliche Rolle nachdachte. In der Vormundschaftsordnung von 1832 wurde zum ersten Mal eine Bestimmung aufgenommen, die dem Staat und seinen Vertretern ausdrücklich gestattete, bei
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„schlechter Behandlung“ oder „nachlässiger Erziehung“ auch in die elterlichen Rechte einzugreifen. Allerdings standen bei der Diskussion über die Ausdehnung der obervormundschaftlichen Kontrolltätigkeit noch ganz eindeutig die Vermögenssorge und die wirtschaftliche Absicherung der Kinder im Vordergrund. In der Praxis hatten die Eingriffsbestimmungen in Bezug auf die Personensorge nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Alle Fürsorge- und Erziehungsmaßnahmen, die über die Bestrafung und Disziplinierung delinquenter Heranwachsender und die notdürftige Unterbringung armer Kinder hinausgingen, überließ der Staat privatwohltätigen Einrichtungen. Die paternalistische Fürsorgepraxis verhinderte, dass zwischen Eltern und Anstaltsvorständen bzw. Armenpflegern größere Meinungsverschiedenheiten bezüglich der richtigen Erziehung und Unterbringung von Kindern auftraten. Die privaten und halb-öffentlichen Erziehungsanstalt versuchten sich zusätzlich mit vertraglichen Regelungen gegen elterliche Einmischungsversuche abzusichern.
4.1.1 Gottvater, Hausvater, Landesvater: Die gesellschaftliche und rechtliche Position des Vaters zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die staatstheoretischen und rechtlichen Bestimmungen der Vaterrolle noch stark geprägt von den traditionellen Ordnungsvorstellungen christlicher und weltlicher Herrschaft. Nahm der Vater und Hausvorstand bis in die Frühneuzeit hinein gegenüber Frau, Kindern und Gesinde noch eine vergleichbare Stellung ein, wie der Priester in seiner Gemeinde oder in letzter Instanz Gottvater gegenüber allen Christen, so wurde diese Ordnung mit der Entstehung des frühneuzeitlichen Staates durch ein zweites, weltliches Ordnungsprinzip überlagert: Der Vater trat nicht nur als Stellvertreter Gottes, sondern nunmehr auch als Repräsentant des Landesherren auf. In dieser Doppelrolle hatte er eine einheitliche Gesellschaftsstruktur, sprich: die Einhaltung der ökonomischen, politischen und religiösen Ordnung auf der Familienebene sicherzustellen. Er war damit auch der Garant für die Aufrechterhaltung der Geschlechter- und Generationenordnung.1 Wich die Frau, ein Kind oder das Gesinde von den traditionellen Ordnungsvorstellungen ab, so hatte er von seinem Züchtigungsrecht Gebrauch zu machen, um die Ordnung wiederherzustellen. Diese Konzeption des Verhältnisses von väterlicher und staatlicher Autorität findet sich, wenn auch etwas modifiziert und abgeschwächt, noch in den großen Kodifikationen der Spätaufklärung wieder. Im preußischen Allgemeinen Landrecht (ALR) beispielsweise wird das Ineinandergreifen väterlicher und 1
Andresen [2004], S. 1097.
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staatlicher Gewalt in den Bestimmungen fassbar, die das Scheitern der elterlichen Zwangsmittel behandeln. In ALR II 2 § 87 hieß es hierzu: „Finden [die Eltern die Zwangsmittel, J.R.] nicht hinreichend: so muß ihnen das vormundschaftliche Gericht, auf gebührendes Anmelden, hülfreiche Hand leisten.“1 Die „hülfreiche Hand“ bestand darin, dass das Gericht nach vorangegangener Untersuchung Art und Dauer der anzuwendenden Besserungsmittel zu bestimmen hatte. Wo also die väterlichen Disziplinierungsbemühungen gegenüber den Kindern keinen Erfolg hatten, dort sollte der Staat unterstützend eingreifen und die Züchtigung oder die sonstigen Zwangsmaßnahmen übernehmen. Auch wenn das ALR der veränderten Rollenverteilung in der Erziehung Rechnung trug und von „elterlicher Zucht“ sprach, blieben die mütterlichen Kompetenzen nachgeordnet. Die Kinder waren zwar beiden Eltern Ehrfurcht und Gehorsam schuldig, „vorzüglich aber stehen sie unter väterlicher Gewalt“ (ALR II 2 § 62). Das bedeutete auch, dass die Entscheidungen bezüglich der Erziehung der Kinder hauptsächlich dem Vater zufielen.2 Allerdings darf man die dem Vater im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gesellschaftlicher- und staatlicherseits zugewiesene Funktion nicht als eine omnipotente Herrschaftsgewalt, als quasi unumschränkte „patria potestas“ missverstehen. Schon die Hausväterliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, die als Pflichtenlehre des christlichen Vaters verstanden wurde, gestaltete dessen Rolle sittlich aus. Sie lehrte den „guten Gebrauch“ seiner Rechte.3 Dem entsprach die Ausdeutung der (väterlichen) Vormundschaft als Schutz- und Fürsorgeinstitut.4, Die Position der germanistischen Rechtswissenschaft, die in der „Vormundschaft“ den Grundbegriff eines genuin deutschen Privatrechts auszumachen können glaubte, fand ihre Entsprechung in der Rechtswirklichkeit des spätabsolutistischen Staates. Preußen baute mit dem ALR die obervormundschaftliche Kontrolle des Staates zum Schutz von Mündeln deutlich aus und hob dabei die Pflichtenseite sowohl des bestellten als auch des väterlichen Vormundes bzw. Gewalthabers hervor.5 Schließlich blieb auch die Spätaufklärung nicht ohne Folgen für das Rechtsverhältnis von Eltern und Kindern. Indem sie die Idee einer Erziehungs-
1 Alle im Folgenden zitierten Bestimmungen des preußischen ALR sind entnommen aus: Hattenhauer/Bernert [1970]. 2 Vgl.: ALR II 2 § 74. 3 Frühsorge [1978]. Diese Pflichtenlehre ist offenbar auch in der Praxis nicht ohne Folgen geblieben. Bezogen auf den süddeutschen Raum konnte Schmidt zeigen, dass Ehefrauen lokale Sittengerichte anriefen, um unter Bezugnahme auf die Hausväterideologie bei ihren Männern gemäßigtes, sparsames und v.a. gewaltfreies Verhalten durchzusetzen (Schmidt, H.R. [1998]). 4 Nach Landau [1997], S. 594 war sie diese Ausgestaltung ein „Produkt der Christianisierung des europäischen Rechtsdenkens“. 5 Vgl. hierzu: Schubert [1995].
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pflicht des Vaters akzentuierte, wirkte sie sich ebenfalls im Sinne einer Einschränkung der väterlichen Machtbefugnisse aus. Nach Humboldts staatstheoretischen Erörterungen etwa waren dem Wirken der Eltern klare Schranken gesetzt. Nach seiner Auffassung besaßen Kinder uneingeschränkte „ursprüngliche“ Rechte auf Leben, Gesundheit, Vermögen und Freiheit.1 Minderjährige müssten sich demzufolge auch keine elterlichen Eingriffe gefallen lassen, wenn diese nicht zu ihrer Bildung – als Voraussetzung ihrer „Mündigkeit“ im weitesten Sinne – und zur Befähigung des selbständigen Erwerbs des Unterhalts erforderlich seien. Jeder elterliche Zwang über den zur Erreichung dieser Ziele notwendigen Zeitraum hinaus hielt Humboldt für ungerechtfertigt. Die Aufgabe des Staates aber sah er darin, für die Sicherheit der Rechte der Kinder gegenüber ihren Eltern Sorge zu tragen. Er müsse zu diesem Zwecke nicht nur das Mündigkeitsalter bestimmen und Grundsätze für die Auswahl von Vormündern aufstellen, sondern auch darüber wachen, „daß die väterliche Gewalt nicht über ihre Grenzen hinausschreite“.2 Dieses Verständnis der väterlichen Gewalt als fremdnütziges Recht im Dienste der Bildung des Kindes fand sich auch im ALR wieder. So sollte den Eltern der Gebrauch von Zwangsmitteln nach ALR II 2 § 86 nur dann gestattet sein, wenn es der Bildung der Kinder diente und ihrer Gesundheit nicht schadete. Das ALR blieb jedoch bei dieser Generalklausel nicht stehen, sondern dehnte die Kontrolle der elterlichen Gewalt über die schon dem römischen Recht bekannte „Verwirkung“ der „patria potestas“ bei vorsätzlichem „hilfs- und aufsichtslosem Verlassen“ der Kinder hinaus aus.3 Neu waren die Eingriffsbefugnisse des Vormundschaftsgerichts. Es war nach ALR II 2 § 90 verpflichtet, sich Minderjähriger anzunehmen, wenn die „Aeltern ihre Kinder grausam misshandeln, oder zum Bösen verleiten; oder ihnen den nothdürftigen Unterhalt versagen“.4 In solchen Fällen konnte „nach Befund der Umstände [...] den Aeltern [...] die Erziehung genommen, und auf ihre Kosten andern zuverlässigen Personen anvertraut werden“ (ALR II 2 § 91). Darüber hinaus konnte das Vormundschaftsgericht die vä1
Humboldt [1851], S. 178 ff. A.a.O., S. 180. 3 Balks [1986], S. 16 ff. 4 Die Erfüllung des Tatbestandes der „grausamen Misshandlung“ setzte nach den einschlägigen Kammergerichtsentscheiden weder voraus, dass der Vater seinem Kind Schmerzen zufügen wollte noch dass diesem durch die Züchtigung ein gesundheitlicher Schaden entstanden war. Selbst eine zum Zwecke der Erziehung erfolgte Züchtigung konnte nach höchstrichterlicher Rechtsprechung eine „grausame Misshandlung“ darstellen. Was genau unter „Verleitung zum Bösen“ verstanden wurde, geht demgegenüber aus Kommentierung und Rechtssprechung nicht klar hervor. Vermutlich war damit die Aufforderung zum Betteln oder Stehlen gemeint. Das „Versagen des notdürftigen Unterhalts“ galt nur dann als gegeben, wenn der Vater zur Bestreitung des standesgemäßen Unterhalts in der Lage war, dies aber aus Böswilligkeit unterließ. In jedem Fall wurde ein „Verschulden“ des Vaters vorausgesetzt (a.a.O., S. 38 ff.). 2
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terliche Gewalt auch dann einschränken, wenn der Vater sich einer allgemeinen „Vernachlässigung“ des Kindes schuldig machte.1 Wie im Bereich des Familienrechts im Allgemeinen, so zeigt sich auch beim Rechtsverhältnis von Eltern und Kindern die Übergangsstellung, die das ALR zwischen dem traditionellen, stände-staatlichen Gesellschaftsmodell und einem modernen Staats- und Rechtsverständnis einnahm.2 Die eben zitierten Rechtsnormen blieben im Übrigen ohne nennenswerte rechtspraktische Bedeutung, was insbesondere auf die ausgebliebene Kostenregelung bei Fremdunterbringungen zurückzuführen ist.3 Die fortbestehende Wirkmächtigkeit des oben beschriebenen traditionellen Ordnungskonzepts sorgte ebenfalls dafür, dass sich die Anzahl staatlicher Eingriffe in engen Grenzen hielt. Abweichendes Sozialverhalten von Kindern wurde – wie Wolff hervorhebt4 – im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert in erster Linie als Auflehnung gegen diese sakrosankte Ordnung wahrgenommen und nicht so sehr als Pflichtverletzung seitens des Vaters. Nach zeitgenössischer Auffassung sollten staatliche oder gesellschaftliche Eingriffe in die Erziehung in erster Linie in Form von Unterstützungen für das Familienoberhaupt erfolgen.5 Väterliches Versagen lag weitgehend außerhalb dieses Ordnungskonzepts, und die Bereitschaft zur tatsächlichen Einschränkung der Autorität des Vaters blieb infolgedessen gering. Im Hamburg dürfte sich das allgemeine Verständnis der gesellschaftlichen Rolle des Vaters zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht grundlegend von dem in Preußen vertretenen unterschieden haben. Aufgrund der ungebrochenen gemeinrechtlichen Tradition kam es hier jedoch erst im Rahmen der Ende der 1820er Jahre einsetzenden Reformdiskussion um das Vormundschaftswesen zu einer ersten Normierung der obrigkeitlichen Eingriffsrechte in die elterliche Erziehung. 1
Vgl.: ALR II 2 § 266. Der Vernachlässigungsbegriff ließ eine sehr weite Auslegung durch die Gerichte zu. Es gab Fälle, in denen schon regelmäßiges heftiges Streiten der Eltern vor ihren Kindern als „Vernachlässigung“ gewertet wurde. Ebenso konnte die Wahl eines Berufes, gegen den das Kind eine ausgesprochene Abneigung empfand, eine „Vernachlässigung“ im Sinne des ALR II 2 § 266 darstellen. Auch hierbei setzte die Rechtsprechung allerdings ein „Verschulden“ voraus (Balks [1986], S. 41 f.). 2 Vgl. hierzu: Dörner [1974]. 3 Es muss deshalb auch bezweifelt werden, ob die Rechtsnorm tatsächlich darauf abzielte, dem preußischen Staat gesunde Soldaten zuzuführen, wie Balks [1986], S. 29 vermutet. 4 Wolff [1995], S. 223. 5 Der Umfang der Inanspruchnahme des ALR II 2 § 87 durch die Eltern ist empirisch nur schwer nachzuweisen. Bis in die 1870er Jahre hinein wurde allerdings anlässlich konkreter Fälle diskutiert, ob nach dem Paragrafen auch eine „gefängliche Einsperrung“ von volljährigen Hauskindern auf Anordnung des Vormundschaftsgerichts möglich sei (Stölzel [1875]). Es kann deshalb angenommen werden, dass die Rechtsnorm bei Minderjährigen zumindest eine gewisse praktische Bedeutung erlangt hatte.
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4.1.2 „Gewiß handelt bey mehrerer Freyheit der Mensch im Ganzen besser ...“ Die Reform des Hamburger Vormundschaftswesens in den 1820er Jahren In Hamburg, wie in den übrigen Hansestädten auch, war die Rezeption des römischen Rechts fast gänzlich ausgeblieben, und die großen Kodifikationen der Aufklärung hatten ebenfalls keinen nennenswerten Impuls zu einer Systematisierung des Rechts gegeben. Auch in dieser Hinsicht herrschten in der Hansestadt „englische Verhältnisse“. Der Begriff der „väterlichen Gewalt“, den der preußische Gesetzgeber dem römischen Recht entnommen hatte, war in Hamburg ungebräuchlich. In den Hamburger Statuten sprach man vielmehr von „väterlicher Vormundschaft“.1 Diese beinhaltete das Recht der Vermögensverwaltung und der Vertretung vor Gericht sowie die Verpflichtung zum Unterhalt. Die väterliche Vormundschaft endete mit der Volljährigkeit – vor diesem Zeitpunkt nur bei Volljährigkeitserklärungen von Söhnen oder bei der Verheiratung von Töchtern. Das Erziehungs- und Züchtigungsrecht stand prinzipiell beiden Elternteilen zu. Wie in Preußen, so hatte aber auch in Hamburg bei Meinungsverschiedenheiten über die Erziehung der Kinder der Standpunkt des Vaters Vorrang. Beide Elternteile mussten zudem einem Verehelichungswunsch ihrer Kinder zustimmen, konnten testamentarisch einen Vormund benennen und hatten einen Anspruch auf Alimentation. Auf der Pflichtenseite beider Eltern stand vor allem die Bestreitung des Lebensunterhalts der Kinder sowie die Pflicht, sie bei Gründung eines eigenen Hausstandes finanziell zu unterstützen. Bereits nach dem Hamburger Stadtrecht von 1603 war die „Entsetzung“ des Vaters als Vormund möglich, wenn „der Vater ein Verschwender, oder sonst eines unordentlichen Haushaltens berüchtiget“ war.2 Die Formulierung des Passus weist darauf hin, dass hier ausschließlich an eine Absetzung des Vaters als Vermögensverwalter gedacht war. Ein Entzug des Erziehungsrechts war demgegenüber nicht vorgesehen. Das sollte sich erst mit der Verabschiedung der Vormundschaftsordnung von 1832 ändern. Die Initiative zu einer umfassenden Neuregelung des Hamburger Vormundschaftswesens ging Mitte der 1820er Jahre von dem damals noch recht jungen Senator Martin Hieronymus Hudtwalcker (1787-1865) aus.3 Hudtwalcker gehörte seit seiner Ernennung zum Ratsherrn im Jahre 1820 dem Obergericht an, das 1 Baumeister [1856], S. 38 ff. Vgl. auch Hudtwalckers Äußerung in: STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. II, Bl. 88a. 2 Teil IV, Art. 48 zit. nach: Verein für Hamburgische Geschichte [1842]. Da ein prinzipieller Unterschied zwischen väterlicher und bestellter Vormundschaft nicht gemacht wurde, war es systematisch konsequent, die Vorschrift im vierten Teil des Stadtrechts aufzunehmen, der dem Vormundschaftsrecht vorbehalten war. 3 Vgl. zur Person Hudtwalckers: Lahrsen [1959].
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in der Hansestadt als obervormundschaftliche Behörde fungierte.1 Dabei waren ihm erhebliche Mängel in der Verwaltung sowie ein eklatantes Vollzugsdefizit der bestehenden vormundschaftsrechtlichen Bestimmungen aufgefallen: Eine effektive Kontrolle der vormundschaftlichen Vermögensverwaltung durch das Obergericht fand nicht statt und Anzeigen unbevormundeter Waisen erfolgten gewöhnlich nur dann, wenn Angehörige ohne die rechtliche Vertretung des oder der Minderjährigen ein bestimmtes Rechtsgeschäft nicht tätigen konnten.2 Um diese Missstände zu beseitigen, arbeitete Hudtwalcker einen 95 Artikel umfassenden Entwurf einer Vormundschaftsordnung aus, den er im Januar 1824 dem Senat zur Beratung vorlegte.3 Die wichtigsten Säulen der von Hudtwalcker angeregten Reform waren:
Die Bildung einer speziellen Vormundschaftsbehörde, die sowohl aus Mitgliedern des Obergerichts als auch der Bürgerschaft bestehen sollte, die Einführung einer allgemeinen Anzeige- und Ermittlungspflicht, um dieser Behörde alle Fälle zur Kenntnis zu bringen, in denen ein Minderjähriger eines Vormundes bedurfte und die Verpflichtung der Vormünder zur jährlichen Rechnungslegung gegenüber der Behörde.
Schon in der ersten Lesung stieß der Vorstoß des jungen Senators bei seinen Ratskollegen auf erhebliche Widerstände. Ausgerechnet der hochbetagte erste Bürgermeister Wilhelm Amsinck (1752-1831), der wegen seiner kompromisslosen Haltung während der französischen Besatzung in der Bevölkerung ein hohes Ansehen genoss, übte scharfe Kritik am „neuen Geist“ des Entwurfs. In einem an den Rat gerichteten Brief vom April 1824 hieß es: „Unsere Vorfahren waren weder so unwissend noch gleichgültig bey ihrer Gesetzgebung, als es manchmal in der Vormundschafts-Materie scheinen könnte. Sie gingen nur von anderen – ob nicht sehr zu berücksichtigenden? – Ansichten aus. Wenn jetzt der Glaube vorzuwalten scheint, daß alles uns recht geht, wenn die Staats-Regierung es ihrer Vormundschaft, und ihren speciellen Gesetzen unterwirft: So überwog damals der Glaube an den Menschen, an seinem Wohlthun im freyen Handeln; und gewiß handelt bey mehrerer Freyheit der Mensch im Ganzen besser: auch schonte man möglichst die bürgerliche Freyheit, und vermied absichtlich 1
Das Obergericht, das eine besondere Sektion des Rats darstellte, vereinigte bis 1960 exekutive und judikative Kompetenzen. Es bildete somit nicht nur die zweite Instanz für die ordentliche Gerichtsbarkeit, sondern auch die zweithöchste Regierungsbehörde. 2 STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. I, Bl. 1. Ähnliche Missstände hatten schon in den 1770er Jahren zu einer Gesetzesinitiative geführt, die jedoch folgenlos geblieben war. 3 A.a.O.
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strenge obrigkeitliche Aufsicht. Ach, die Freyheit ist nur ein Schatten, wenn solche, ohne dringende Noth in die bürgerlichen, fast sogar moralischen, Privat-Handlungen dringt. – [...] Bey den gesetzlichen Zwangsketten, dem doch immer einigermaßen inquisitorischen Verfahren, den vielen Geldstrafen und strengen Verpflichtungen – da wo sie irgend entbehrlich sind – wird der [...] edle und wohlthuende Geist des Vormundes getödtet [...]. Es entsteht durch die gemeinte Behörde anscheinend ein neuer Zweig der Polizey: und hier mögte manche Beschränkung derselben doppelt wünschenswürdig seyn.“ 1
Auf den ersten Blick könnte man meinen, bei Amsincks Stellungnahme handele es sich um ein Musterbeispiel aufgeklärt-liberaler Kritik am absolutistischen Polizei-Staat des 18. Jahrhunderts.2 Aber so rückwärtsgewandt, wie es zunächst scheinen mag, war die Positionierung des Bürgermeisters nicht. Amsinck wollte vielmehr verhindern, dass das „System der erweiterten gerichtlichen Verwaltung im Vormundschaftswesen“ 3, wie es in Preußen mit dem ALR eingeführt worden war, auf Hamburg übertragen werde. Dieses System aber, das an die Stelle der von Einzelpersonen geführten Vormundschaft unter staatlicher Oberaufsicht eine Vormundschaft unter der Leitung des Gerichts setzte, bei welcher den Vormündern nur noch die Rolle staatliche Beauftragter zufiel, war selbst der Ideenwelt der Aufklärung entsprungen.4 In Hudtwalcker hatte die „erweiterte gerichtliche Verwaltung“ nun auch in Hamburg einen wichtigen Fürsprecher gefunden, und das musste den Widerspruch all jener hervorrufen, die sich den Standpunkt der preußischen Gegner des Systems zu eigen gemacht hatten und die lokalen gemeinrechtlichen Traditionen bewahren wollten.5
1 STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. I, Bl. 9. Hervorhebung im Original. Vgl. zur Person Wilhelm Amsincks: Hintze [1932], S. 52 ff. 2 Amsinck begann seine politische Karriere in einer Zeit, in der auch in Hamburg die Aufklärung in eine praktisch-politische Phase getreten war. Die Armenreform von 1788 ist hierfür ein gutes Beispiel. Zwar war er sicherlich keine Hauptakteur der Bewegung. In seiner Eigenschaft als Landherr von Billwerder und Ochsenwerder hatte er sich jedoch um Reformen des Schulwesens und eine Verbesserung der Infrastruktur bemüht. Vgl. hierzu: Kopitzsch [1990] u. Hintze [1932], S. 52 ff. Im Übrigen nahm er, wie es für Hamburger Ratsmitglieder typisch war, einen wirtschaftsliberalen Standpunkt ein, den er in einer eigens verfassten Schrift auch ausführlich darlegte (Amsinck [1801]). 3 Coing [1989], S. 331 f. 4 Mit seinen über 1.000 Paragrafen stellte das Vormundschaftsrecht des ALR ein getreues Abbild des zeitgenössische Verständnisses rechtspflegerischer Allzuständigkeit dar. Nichts sollte hier dem Zufall überlassen bleiben. Die der Spätaufklärung zuzurechnenden Gründerväter des Gesetzes begegneten der individuellen Initiative mit größter Skepsis und hatten auch den Ermessensspielraum der Richter durch eine Vielzahl von Regelungen eingeschränkt (Schubert [1995], S. 237). 5 Hudtwalcker vermied es, das preußische Vormundschaftswesen als Vorbild für seinen Entwurf auszuweisen. Stattdessen gab er an, sich bei der Abfassung des Entwurfs an den Vormundschaftsordnungen Lübecks und Bremens orientiert zu haben, die hinsichtlich eines möglichen preußischen Ein-
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Tatsächlich wies Hudtwalckers Entwurf einige bemerkenswerte Parallelen zum preußischen Vormundschaftsrecht auf: Er sah eine Ausdehnung der staatlichen Kompetenzen bei Vormünderbestellung und Vermögensverwaltung vor, führte eine umfassende amtliche Ermittlungstätigkeit zum Aufspüren unbevormundeter Minderjähriger ein und intensivierte das Berichterstattungswesen. Sogar die Aufsicht über die Erziehung der Mündel schien Hudtwalcker nach preußischem Vorbild ausdehnen zu wollen.1 Sein Entwurf enthielt eine Bestimmung, die der Vormundschaftsbehörde das Recht einräumte, sich „jederzeit nach der Verpflegung und Erziehung der Mündel zu erkundigen, und nach Umständen deshalb eine Untersuchung anzustellen“.2 Während der Verhandlungen im Senat hatte Hudtwalcker außerdem dafür plädiert, „alle vormundschaftlichen Verwaltungen hinsichtlich der pecuniären Verhältnisse der Pupillen und, wenn Beschwerden vorkommen, auch hinsichtlich der Ernährung und Erziehung derselben, im Detail [zu] controllieren“.3 Gerade solche Äußerungen waren es, die Amsincks Widerspruchgeist geweckt hatten. Wollte man dem von Hudtwalcker formulierten Anspruch gerecht werden, so führte der Bürgermeister in seiner oben zitierten Stellungnahme aus, so müsste angesichts der divergierenden Ansichten, die in Erziehungsfragen in der Bevölkerung herrschten, ein regelrechtes „Güter- und Personenpflegeamt“ mit besonderen Untersuchungsbeamten geschaffen werden. Da dies aber nicht in Frage komme, sollte sich die staatliche Erziehungsaufsicht nach Amsincks Meinung „auf entdeckte oder denuncirte gänzliche Vernachlässigung oder wesentliche Fehler“ beschränken.4 Nicht alle Ratsmitglieder begegneten dem Hudtwalckerschen Vorstoß mit der gleichen Ablehnung. Dennoch hatte die Meinung des ersten Bürgermeisters ein besonderes Gewicht und bestimmte den weiteren Verlauf der Verhandlungen. Erst im Sommer 1826 kam der Entwurf, nachdem er von seinem Verfasser grundlegend überarbeitet worden war, im Rat erneut zur Sprache. Der als Gutachter beauftragte Ratsherr und Jurist Nicolaus Binder (1785-1865) gelangte in seiner Stellungnahme zur Frage, ob die festgestellten Missstände in der obervormundschaftlichen Aufsicht auch ohne die Einrichtung einer speziellen Behörde behoben werden könnten, zu einem ähnlich grundsätzlichen Urteil wie zuvor schon Amsinck.5 Anstoß nahm Binder vor allem an der auch im überarbeiflusses einigermaßen unverdächtig waren. STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. I, Bl. 10. Zur zeitgenössischen Kritik am „preußischen System“ vgl.: Schubert [1995], S. 241 ff. 1 Das ALR verpflichtete den Vormund nicht nur dazu, jährlich Rechenschaft über seine Vermögensverwaltung abzulegen, sondern auch über die Personensorge regelmäßig Bericht zu erstatten. (ALR II 18 § 327). 2 Vgl.: Art. 24 des Entwurfs in: STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. I, Bl. 1. 3 Ebd.Hervorhebung im Original. 4 A.a.O., Bl. 9. 5 A.a.O., Bl. 25.
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Abb. 8 u. 9:
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Gegenspieler in der Hamburger Reformdiskussion zum Vormundschaftswesen Ende der 1820er Jahre. Links: Wilhelm Amsinck (1752-1831); Rechts: Martin Hieronymus Hudtwalcker (1787-1865).
teten Entwurf vorherrschenden „Officialmaxime“, die er aus politischen Gründen ablehnte und aus praktischen Gründen für undurchführbar hielt. Die jährliche Rechnungslegung, nach Hudtwalcker die „Seele des Obervormundschaftswesens“1, stellte seiner Auffassung nach nicht nur ein untaugliches Kontrollinstrument dar; er hielt sie auch für gänzlich überflüssig. Ebenso wie Amsinck lehnte er außerdem die Einführung einer allgemeinen Anzeigepflicht ab, da Hinweise aus der Bevölkerung über Missbräuche in der Vermögens- oder Personensorge in den seltensten Fällen zuverlässig seien. In der ihm vorgelegten Frage selbst gelangte er zum Schluss, dass es der Einrichtung einer eigenständigen Behörde bei einer solchermaßen eingeschränkten obervormundschaftlichen Aufgabenstellung nicht bedürfe. Die festgestellten Mängel konnten seiner Meinung nach ebenso gut durch eine personelle Verstärkung des Obergerichts behoben werden. Der Senatsentwurf zur Vormundschaftsordnung, der im September 1828 der Bürgerschaft zur Mitgenehmigung zugeleitet wurde, unterschied sich in drei 1
A.a.O., Bl. 1.
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grundlegenden Punkten von der Hudtwalckerschen Erstfassung: Zunächst einmal war die jährliche Rechnungslegung zugunsten der von Binder vorgeschlagenen Regelung aufgegeben worden. Von den Vormündern wurde zu Beginn der Amtszeit eine genaue Aufstellung des Mündelvermögens und an ihrem Ende eine detaillierte Schlussrechnung verlangt. Außerdem hatte sich der Senat mehrheitlich gegen die „Officialmaxime“ ausgesprochen. Man wollte es bei der Anzeigepflicht der Witwen, der Verwandten und der Testamentvollstrecker belassen. Von Amts wegen sollte auch in Zukunft nicht ermittelt werden. Schließlich war der Senat auch dem Vorschlag Hudtwalckers, eine selbständige Behörde unter bürgerlicher Mitwirkung einzurichten, nur zum Teil gefolgt. Zwar war der Rat am Ende doch zur Überzeugung gelangt, dass die Einrichtung einer speziellen Behörde erforderlich sei, um im Bereich des Vormundschaftswesens über eine organisatorisch selbständige Vorinstanz zu verfügen, für die das Obergericht dann als Beschwerdeinstanz fungieren konnte. Von einer bürgerlichen Mitsprache aber wollten die Senatoren nichts wissen. Einer grundlegenden Reform des Hamburger Vormundschaftswesens, wie sie Hudtwalcker vorschwebte, hatte der Senat also eine klare Absage erteilt. Vor allem mit seiner „Lieblingsidee“, der jährlichen Rechnungslegung, war Hudtwalcker bereits im Rat kläglich gescheitert.1 Im Mittelpunkt des obervormundschaftlichen Schutzes von verwaisten Kindern, darüber war man sich im Rat einig, sollte die Vermögensverwaltung stehen, aber gerade in finanziellen Belangen hielt man die größtmögliche Zurückhaltung und Diskretion der staatlichen Organe für angezeigt. Auf eine weitergehende, sich auf die Ausübung der Personensorge durch die Einzelvormünder erstreckende Überwachung wurde im Begründungstext erst gar nicht eingegangen. Sie galt – wie bereits aus den Äußerungen Amsincks und Binders hervorging – als unerwünscht und unpraktikabel.2 In Bezug auf die väterliche Vormundschaft hatte man es bei den bisher gültigen Bestimmungen des Stadtrechts belassen. Nur bei schweren Missständen in der 1 A.a.O., Bl. 23. Bemerkenswert ist, wie die vergleichsweise geringen Eingriffskompetenzen der neuen Behörde offiziell gerechtfertigt wurden. Im Begründungstext zum Verordnungsentwurf hieß es dazu: „Bey einer Gesetzgebung über das Vormundschaftswesen in einer Stadt wie Hamburg, welche der Handlung wesentlich ihren Flor verdanke, und wo das Interesse der Handlung vor allen Dingen im Auge behalten werden müsse, könne nicht die volle Strenge und bis ins kleinste Detail gehende Genauigkeit beobachtet werden, welche man in andern Staaten für nöthig befunden habe; auch würde dieses zu unserer Verfassung und zu unsern Verhältnissen nicht passen.“ (Hbg. Rath- u. Bürgerschlüsse 1828, S. 35) Geradezu mustergültig wurde hier noch einmal der (wirtschafts-)liberale Standpunkt zur Geltung gebracht. 2 Auch Binder hatte seine Meinung zur Überwachung der Erziehung verwaister Minderjähriger in seinem Gutachten unmissverständlich dargelegt, indem er ausführte: „Von einem UntersuchungsSystem in Beziehung auf die Erziehung und Behandlung der Kinder, u.w.d.a., so wie auf die Verwaltung des Vermögens, würde ich ganz abstrahiren.“ STAH 111-1, Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. I, Bl. 25.
Die rechtliche Stellung des Vaters und die Hamburger Vormundschaftsordnung
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Vermögensverwaltung konnte nach Art. 6 des Verordnungsentwurfs gegen den Vater eingegriffen werden. Allerdings hatte der Senat die bisherige Regelung durch einen nicht unbedeutenden Zusatz ergänzt, der sowohl den Willen zu einer stärkeren obrigkeitlichen Überwachung väterlicher Pflichten als auch die Bedenken erkennen ließ, die einer strikten Handhabung dieser Kontrolle entgegenstanden. „In besonderen Fällen und aus bewegenden Ursachen und ausnahmsweise“, so lautete die umständliche Formulierung, sei die Deputation befugt, auch gegen den väterlichen Vormund einzuschreiten, „aber nicht zum Nachtheil derjenigen Rechte, welche der Vater in eigenem Namen ausübt“.1 Mit der Übersendung des Senatsentwurfs an die Bürgerschaft trat das Gesetzgebungsverfahren in seine entscheidende, letzte Phase ein. Wie es das Kollegium der Oberalten, das höchste der drei bürgerlichen Kollegien, dem der Entwurf als erstes zugeleitet worden war, richtig vorausgesehen hatte, erhob sich in der erbgesessenen Bürgerschaft eine lebhafte Opposition gegen den Verordnungsentwurf. Dabei ging es allerdings nicht um grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Umfang oder die Ausgestaltung der obervormundschaftlichen Kontrolle. Vielmehr geriet die Beratung des Entwurfs in den Sog der verfassungspolitischen Auseinandersetzungen zwischen Senat und Bürgerschaft. Der zur Prüfung der Senatsvorlage eingesetzte Bürgerschaftsausschuss formulierte zwei Haupteinwände gegen den Verordnungsentwurf: Er monierte einerseits die verweigerte bürgerliche Mitsprache und andererseits die seiner Meinung nach völlig unzureichende Gewährung von Rechtsmitteln gegen Entscheide der Behörde.2 Beide Monita hingen inhaltlich eng miteinander zusammen und brachten – gleichsam als Nebenprodukt – die erste landesrechtliche Normierung der staatlichen Eingriffsbefugnis in Bezug auf die väterliche Erziehung hervor.3 Während die Bürgerschaft mit ihrem ersten Einwand erfolglos blieb, konnte sie sich mit der zweiten Forderung nämlich zu großen Teilen durchsetzen. Abweichend vom Senatsentwurf, der gegen Verfügungen und Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde nur die einfache Beschwerde beim Obergericht als höchster Regierungsbehörde vorsah, sollte nach Meinung der Bürgerschaft bei Beschwerden gegen bestimmte Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde analog dem Zivilprozess ein dreigliedriger Instanzenzug sichergestellt werden. Gegen Entscheide des Obergerichts als zweiter Instanz und rechtsprechender Behörde sollte mithin 1
A.a.O., Bl. 69. Gemeint war hier v.a. das Nutznießungsrecht am kindlichen Vermögen. A.a.O., Bl. 75. 3 Beiden Haupteinwänden war gemein, dass sie auf eine Einschränkung bzw. Kontrolle der Machtbefugnisse der Exekutiven abzielten. Mit ihrer Forderung nach einer bürgerlichen Mitwirkung konnte sich das Gremium gegenüber dem Senat nicht durchsetzen, weil dieser sich – wie es der erste Bürgermeister Johann Heinrich Bartels formulierte – keine „Bürgeradjunction aufdrängen“ und den Umsturz der Verfassung riskiere wollte (A.a.O., Bl. 85). 2
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
noch eine weitere Beschwerde zulässig sein, die an das Hanseatische Oberappellationsgericht in Lübeck zu richten war.1 Vor allem in Fällen, in denen in die väterlichen Rechte eingegriffen werden sollte, hielt es die Bürgerschaft für unabdingbar, die betroffenen Mitbürger vor behördlicher Willkür zu schützen und die letzte Entscheidung einem ordentlichen Gericht zu überantworten.2 Im Verlauf der kommissarischen Verhandlungen kam der Senat der bürgerschaftlichen Forderung insoweit nach, als er in Ausnahmefällen die Appellation nach Lübeck zulassen wollte, unter anderem dann, wenn volljährige, männliche Personen als „Verschwender“ oder „Unsinnige“ entmündigt oder ein Vater zur Vormundschaft nicht zugelassen bzw. wegen Veruntreuung der Vermögenssorge daraus „entsetzt“ werden sollte.3 Anders als die Bürgerschaft war der Senat jedoch der Auffassung, dass die Beschränkung der Erziehungsrechte des Vaters eine rein polizeiliche Angelegenheit sei, die nicht vor die ordentlichen Gerichte gehöre. Er konnte sich dabei auf die „Verordnung, die Gränzen des PolizeyAmtes gegen die Civil-Justiz, und die Strafcompetenz der Polizey-Behörde betreffend“ von 1826 berufen, in der es unter sub. 2 hieß: „Alle häuslichen Verhältnisse zwischen Aeltern und Kindern, Herrschaften und Dienstboten, Hausbewohnern und Häuslingen hat die Policey nur in so weit vor ihr forum zu ziehen, als sich grobe Widersetzlichkeiten oder Untreue von der einen, oder thätliche Misshandlung von der anderen Seite ergeben sollte; dagegen Lohnsforderungen inclusive von Trinkgeldern, Weihnachten und was dem anhängig, so wie Miethe- und Meliorations-Forderungen, zur Entscheidung der Civil-Behörde zu verstellen; auch endlich, wenn Unmündige als activer Theil dabey erscheinen, darüber dem Obergerichte einen Bericht zu erstatten.“4
Analog zu dieser Regelung war der Senat bereit, der neu zu gründenden Vormundschaftsbehörde ebenfalls die Kompetenz einzuräumen, in Fällen, in denen 1 Das Obergericht, dass aus vier Senatoren gebildet wurde, vereinigte sowohl exekutive als auch judikative Kompetenzen. Es fungierte m.a.W. sowohl als zweithöchste Regierungsbehörde als auch als Berufungsinstanz für die niedere Gerichtsbarkeit. 2 Bemerkenswerterweise sprach der Bürgerschaftsausschuss in seinem Bericht nicht mehr von „väterlicher Vormundschaft“, sondern von „väterlicher Gewalt“ und deutete den Art. 6 des Senatsentwurfs nunmehr als Befugnis des Staates aus, auch bei Pflichtverletzungen in der Wahrnehmung der väterlichen Personensorge einzugreifen. 3 Die Bürgerschaft konkretisierte daraufhin ihre Position, indem sie erklärte, sie halte eine Appellation im Falle eines Entzuges der Vermögensverwaltung nicht für erforderlich, wohl aber dann, wenn die Vormundschaftsbehörde in die Personensorge des Vaters eingreife. A.a.O., Bl. 96. 4 Lappenberg Bd. 9, 1827, Hervorhebung im Original. Hudtwalcker interpretierte diese Bestimmung dahingehend, dass nur die Regierungsbehörden, das heißt das Obergericht und in letzter Instanz der Senat kompetent seien, in Fragen der Personensorge Entscheidungen zu treffen, die über die polizeilichen Sicherungsmaßregeln hinausgingen. STAH 111-1 Cl. VII, Lit. Lb, No. 35 Vol.10, Fasc. II, Bl. 99a.
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ihr ein Einschreiten in die elterlichen Erziehungsrechte notwendig erschien, die Sache zur weiteren Beschlussfassung dem Obergericht zuzuführen.1 Auch dieser Kompromissvorschlag war für die Bürgerschaft inakzeptabel, da er in ihren Augen der Behörde zu viel Ermessensspielraum ließ. Sie hielt es für erforderlich, die Rechte, die der Vater im eigenen Namen ausübte – wie den gesetzlichen Nießbrauch oder das Aufenthaltsbestimmungsrecht –, von der Eingriffskompetenz der Vormundschaftsbehörde gänzlich auszuschließen und hier ein gerichtliches Verfahren zu garantieren. In allen übrigen Fällen des Art. 6 wurde die Forderung nach einem dreigliedrigen, gerichtlichen Instanzenzug fallen gelassen und nur auf eine Anhörungspflicht des Vaters gedrungen. Um der Behörde auch im Bereich der Personensorge in dringenden Fälle einen gewissen Handlungsspielraum einzuräumen, schlug die Bürgerschaft außerdem vor, entsprechende Ergänzungen in die Art. 23 und 62 des Senatsentwurfs aufzunehmen. Der Art. 23 hatte sich bis dahin ausschließlich auf die Beaufsichtigung der von den gesetzlichen bzw. bestellten Vormündern ausgeübten Personensorge bezogen. Diese Kontrolltätigkeit sollte jetzt auf die väterlichen Vormünder ausgedehnt werden. Nach der neuen, von der Bürgerschaft vorgeschlagenen Fassung war die Behörde befugt, beim Eingang einer glaubhaften Anzeige über die „schlechte Behandlung“ von Kindern beim Vater vorstellig zu werden und – wenn Ermahnungen nicht fruchteten – geeignete Sicherheitsmaßregeln zum Schutze der Kinder zu ergreifen. Außerdem sollte sie – wenn strafbare Handlungen bekannt wurden – die Sache zur weiteren Verfügung an das Obergericht verweisen oder weiter nach Art. 62 verfahren.2 Art. 62 des Senatsentwurfs bestimmte die gesetzlichen Voraussetzungen für die Entlassung bzw. Absetzung eines Vormundes. Auch dieser Artikel wurde auf die väterliche Vormundschaft ausgedehnt, indem der Passus eingefügt wurde: „In solchen Fällen [bei vernachlässigter Erziehung oder schlechter Behandlung, J.R.] kann, wenn dringende Umstände es erfordern, selbst ein Vater von der Vormundschaft über seine Kinder entfernt werden, und geschieht dieses vermittels Ernennung anderweitiger Vormünder nach angestellter genauer Untersuchung.“ Weil das Rechtsmittel der Supplikation an das Obergericht nach diesen 1
Dies sollte durch Aufnahme eines entsprechenden Zusatzes in Art. 6 erfolgen. Ebd. Art. 23 der Hamburger VO von 1832 lautete: "Wenn der Deputation von Verwandten oder Freunden oder anderweitig eine glaubhafte Anzeige geschieht, daß die Kinder schlecht behandelt werden, so untersucht sie die Sache, und nimmt sich durch glimpfliche Vorstellungen an den Vater, die Mutter, oder sonstigen Vormünder, der Kinder an. Fruchten diese nicht, oder sind die Vorfälle überhaupt von bedenklicher Art, so sorgt sie einstweilen für die Sicherheit der Kinder, und verfügt weiter nach den Umständen (Art. 62 und 103). Der Deputation steht ebenfalls die Cognition über alle Beschwerden der Vormünder über ihre Pupillen, und umgekehrt dieser über jene zu, insofern nicht die Vorschrift des Art. 103 eine Verweisung der Sache an das Obergericht nöthig macht." Lappenberg Bd. 11, S. 391 ff. 2
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Ergänzungen nur in sehr speziellen Fällen zulässig war, denen man keine größere praktische Bedeutung beimaß, erklärte sich der Senat im Dezember 1930 schließlich mit dem Kompromissvorschlag der Bürgerschaft zu Rechtsmitteln und Instanzenzug einverstanden.1 Die gesetzgeberische Debatte um die Hamburger Vormundschaftsordnung von 1832 war für die Entwicklung des Diskurses zum Sorgerechtsentzug im 19. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Zunächst einmal lässt sich an ihr exemplarisch verdeutlichen, welch unterschiedlichen Rechtstraditionen zur Bestimmung der wechselseitigen Verpflichtungen von Eltern und ihren Kindern in Deutschland damals existierten. Anders als in Preußen kannte das Hamburgische Landesrecht keine „väterliche Gewalt“. Nach gemeinrechtlichem Verständnis handelte es sich bei dem Rechtsverhältnis des Vaters zu seinen Kindern nur um eine besondere Unterform der Vormundschaft. und konsequenterweise wurde die Materie deshalb auch in der Vormundschaftsordnung geregelt. Zweitens brachte der Senat in der Auseinandersetzung mit dem preußischen System der „erweiterten gerichtlichen Verwaltung“ sein liberales Staatsverständnis auf den Punkt. Die obervormundschaftliche Kontrolle sollte dort ihre Grenzen finden, wo sie die Eigenverantwortlichkeit der Vormünder schwächte und die Grundlagen der wirtschaftlichen Wohlfahrt gefährdete. Nicht das Kindeswohl, sondern das Gemeinwohl war die Maxime, an der sich die Verordnung orientierte. Drittens zeigte sich im Verlauf der Diskussion, dass die Obrigkeit ihre obervormundschaftliche Verantwortung vor allen Dingen in der Absicherung einer guten Vermögensverwaltung sah. Es ging also in erster Linie darum, vermögende Minderjährige nach dem Tod des Vaters wirtschaftlich abzusichern, indem man sie gegen eine materielle Übervorteilung durch Verwandte schützte. Die Überwachung der Personensorge von verwaisten Kindern, aber auch von Minderjährigen, deren Eltern noch am Leben waren, nahm demgegenüber eine deutlich nachgeordnete Stellung ein.2 Viertens wurde im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Bürgerschaft und Senat zum ersten Mal in der Geschichte Hamburgs eine staatliche Eingriffsbefugnis in das väterliche Erziehungsrecht statuiert. Diese rechtliche Fixierung stand allerdings ganz im Zeichen der konstitutionellen Auseinandersetzungen der Zeit. Sowohl bei der Forderung nach einer Einbeziehung in die Verwaltung als auch bei dem Verlangen nach einer Präzisierung der Eingriffstatbestände war es der Bürgerschaft darum gegangen, die Exekutive einer stärkeren Kontrolle zu unterwerfen. Es kam 1 Immer dann nämlich, wenn in Vermögensangelegenheiten die anzeigenden Verwandten oder Bekannten des Kindes als Zeugen nicht zur Verfügung standen oder wenn die Behörde von Amts wegen einschreiten musste. 2 Für Amsinck war zwar schon ein „Güter- und Personenpflegeamt“, das heißt eine Art Jugendamt mit umfangreichem Schutzauftrag, vorstellbar. Diese Vision sollte aber nur demonstrieren, wie unrealistisch und anmaßend die Forderung nach einem umfassenden staatlichen Schutz der Kindesinteressen in Wirklichkeit war.
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den gesetzgebenden Körperschaften noch gar nicht in den Sinn, die Grundlagen für ein konkurrierendes staatliches Erziehungsrecht zu schaffen. Das Resultat der bürgerschaftlichen Bemühungen aber fiel mehr als ambivalent aus. Zwar war es ihr im Verlauf der Verhandlungen gelungen, die Rechtsstellung von Vätern gegenüber der Behörde durch eine Ausdehnung ihres Anhörungs- und Beschwerderechts zu verbessern. Die Kompetenzverteilung zwischen Polizei und Vormundschaftsbehörde beim Schutz von Minderjährigen blieb angesichts der noch nicht vollzogenen Gewaltenteilung des Staates allerdings weiterhin unklar. Welche Konsequenzen sich daraus für die Praxis ergaben, soll im folgenden Abschnitt näher untersucht werden.
Exkurs: Die praktische Bedeutung des Sorgerechtsentzugs in der „liberalen Ära“ Nachdem die Vormundschaftsbehörde – in Hamburg entsprechend ihrer Zusammensetzung aus Deputierten des Senats „Vormundschaftsdeputation“ genannt – im Winter 1831/32 ihre Arbeit aufgenommen hatte, konnte die neue Vormundschaftsordnung Petri 1832 in Kraft treten. Wie Hudtwalcker schon seinerzeit bemängelte, trugen die Ergänzungen in den Art. 23 und 62 nicht gerade dazu bei, in der Frage der Abgrenzung polizeilicher und obervormundschaftlicher Kompetenzen Klarheit zu schaffen. In der Vormundschaftsordnung fehlte jeder Hinweis auf den oben zitierten Passus des „Abgrenzungsgesetzes“, und nach dem Wortlaut des Art. 23 der Vormundschaftsordnung konnte es zumindest zweifelhaft erscheinen, ob für Sicherheitsmaßregeln im Falle von Pflichtverletzungen in der elterlichen Personensorge weiterhin die Polizei- oder nunmehr vorgängig die Vormundschaftsbehörde zuständig sein sollte. Entsprechend mehrdeutig fielen auch Hudtwalckers Ausführungen im „Kurzen Unterricht über die Hamburgische Vormundschaftsordnung für Eltern und Vormünder, die der Rechte unkundig sind“ aus, einer Art Rechtsratgeber für Hamburger Vormünder, den er als Mitglied der neuen Deputation verfasste:1 In der Praxis bereitete die Frage der Grenzziehung polizeilicher und obervormundschaftlicher Befugnisse offensichtlich weit weniger Schwierigkeiten. Die Vormundschaftsbehörde machte von der Bestimmung des Art. 62 bis in die 1880er Jahre hinein so gut wie keinen Gebrauch.2 Im Vordergrund der obervormundschaftlichen Aufsichtstätigkeit stand nach wie vor die Vermögensverwaltung. Mit der Personensorge befasste sich die Vormundschaftsbehörde demge1
Hudtwalcker [1831], S. 3. Die Durchsicht der Vormünderprotokolle der Vormundschaftsbehörde, in denen u.a. der Zweck der einzelnen Vormundschaften festgehalten wurde, ergab für den Zeitraum 1832-1880 keinen einzigen Hinweis auf einen formellen Sorgerechtsentzug. 2
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
genüber nur am Rande. Besonders deutlich trat die unterschiedliche Bewertung von Vermögens- und Personensorge in den schon bald laut werdenden Klagen über die „Armensachen“ hervor. Nach dem Wortlaut der Vormundschaftsordnung sollten ausnahmslos alle ehelichen Kinder, deren Vater verstorben war, einen Vormund erhalten. Dies sei aber, wie die Behörde in ihren jährlichen Berichten an das Obergericht bereits Mitte der 1840er Jahre kundtat, „bei der ganz armen Klasse völlig nutzlos“.1 Die Behördenvertreter glaubte daher zwar nicht dem Buchstaben, aber doch dem Geist des neuen Gesetzes zu entsprechen, wenn sie von einer Bevormundung armer Kinder im Allgemeinen absahen und sie nur dann veranlassten, wenn sich der überlebende Elternteil wiederverehelichen wollte. Ohne die Bestellung eines Vormundes und entsprechende Berichterstattung an die Vormundschaftsbehörde aber war an eine wirksame Kontrolle der Erziehung dieser Kinder gar nicht zu denken.2 Die persönliche Fürsorge armer, vernachlässigter und „verwahrloster“ Kinder blieb bis auf Weiteres den halböffentlichen milden Stiftungen, also dem Waisenhauskollegium (WHK), dem Kostkinderinstitut der Armenanstalt und dem Werk- und Armenhaus überlassen. Auch für die Fürsorgetätigkeit dieser altehrwürdigen Einrichtungen blieb allerdings eine auffällige Indifferenz gegenüber dem elterlichen Erziehungsverhalten kennzeichnend. Zwei Gründe waren hierfür ausschlaggebend: Zum einen waren alle drei Einrichtungen nicht daran interessiert, die häuslichen Verhältnisse und erzieherischen Bedarfe näher in Augenschein zu nehmen, weil dies die Bemühungen, die finanziellen Aufwendungenso möglichst gering zu halten, konterkariert hätte. Und zum anderen gab es immer noch einen stillschweigenden Konsens, dass Schwierigkeiten in der elterlichen Erziehung den Staat und seine halböffentlichen Einrichtungen solange nichts angingen, wie die Eltern selbst nicht um Unterstützung nachsuchten oder die öffentliche Sicherheit tangiert wurde. Im Falle des Waisenhauses stand schon die äußerst restriktive, dem guten Ruf der Einrichtung geschuldete Aufnahmepolitik einer eingehenderen Auseinandersetzung mit den häuslichen Erziehungsverhältnissen entgegen. Wie oben bereits erwähnt, nahm das WHK bis in die 1880er Jahre hinein vor allem solche Minderjährige auf, die ehelicher Herkunft, ein- oder beidseitig verwaist und vor Ort geboren waren. Der materielle und erzieherische Unterstützungsbedarf stand also gewöhnlich außer Frage, ohne dass die häusliche Erziehung auf den Prüfstand hätte gestellt werden müssen. Hinzu kam, dass nur solche Kinder aufgenommen wurden, deren gesetzliche Vertreter einen entsprechenden Antrag gestellt hatten. War die Aufnahme allerdings erst einmal erfolgt, so entsprach es 1
STAH 111-1, Cl. VII Lit. Lb Nr. 35 Vol. 13, Bl. 2. Eine ähnliche Haltung war zeitgleich offenbar auch in Preußen vorherrschend. Vgl.: Schubert [1995], S. 243. 2
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einem ungeschriebenen, breit akzeptierten Grundsatz, dass die vormundschaftlichen Rechte für die Dauer der Unterbringung an das Kollegium übergingen.1 Die privatrechtlichen Einschränkungen, die mit der dauerhaften Fremdunterbringung verbunden waren, bereiteten im Falle der Waisenhauserziehung demnach keinerlei Probleme. Alles lief sozusagen auf vertraglicher Basis ab: Der überlebende Elternteil bzw. der Vormund nahm im Namen des Kindes bzw. Mündels die Unterstützung in Form der Anstaltserziehung in Anspruch und verzichtete im Gegenzug auf die Ausübung seiner eigenen Rechte. Etwas anders gestaltete sich die Fremdunterbringung von Minderjährigen durch das Kostkinderinstitut der Allgemeinen Armenanstalt. Auch die Allgemeine Armenanstalt war sichtlich darum bemüht, Kosten zu sparen.2 Da die Versorgung armer Kinder in Pflegefamilien nur eine besondere Form der Armenunterstützung darstellte, galt auch für diese, dass sie den Eltern in der Regel nicht aufgezwungen wurde, man vielmehr abwartete, bis ein entsprechendes Unterstützungsgesuch beim zuständigen Armenpfleger einging. Gleichwohl eröffneten die sich seit der französischen Besatzungszeit immer stärker durchsetzende moralisierende Betrachtungsweise des Armutsproblems und die paternalistische, auf persönlichem Kontakt beruhende Fürsorgepraxis, zahlreiche Möglichkeiten, armen, hilfesuchenden Eltern die Kinder auch gegen ihren Willen abzunehmen.3 Hielten die Armenpfleger ein Elternpaar beispielsweise aus dem einen oder anderen Grund für „nicht unterstützungswürdig“, so konnten sie die Verpflegung der Kinder in einer anderen Familie anordnen und diese Maßnahme mit der Androhung, andernfalls die Unterstützung ganz zu streichen, auch wirksam durchsetzen.4 Weil aber auch im Falle der Unterbringung durch das Kostkinderinstitut der Allgemeinen Armenanstalt stillschweigend davon ausgegangen wurde, dass die väterlichen bzw. mütterlichen Rechte für die Dauer der Fremdversorgung 1 Schröder [1966], S. 48 f. Mit einer Novelle der Vormundschaftsordnung von 1874 wurden die Anstaltsvormundschaften des Waisenhauses und des Kostkinderinstituts auch gesetzlich verankert, um die „Erziehung gegen unnötige Eingriffe von außen“ zu schützen. Vgl.: Art. 9 der VO i.d.F. von 1874 in: Gesetzsammlung FHH 1874, S. 50 ff. 2 Seit dem Abzug der Franzosen im Jahr 1815 waren die „Kameralisten“ im Armenkollegium tonangebend. Die auf Vorbeugung und Arbeitsvermittlung setzenden Prinzipien der Armenreform von 1788 wurden in den Folgejahren durch eine stärker individualisierende amtliche Betrachtungsweise von Armut ersetzt (Klapproth [1957] S. 12 f.). 3 Das 1830 gegründete „Kostkinderinstitut“ der Armenanstalt nahm Kinder nur unter folgenden Bedingungen auf: 1. wenn es sich um Waisen oder Halbwaisen handelte, die keine Aufnahme im Waisenhaus fanden, 2. wenn Eltern wegen Krankheit oder sonstiger Ursachen außerstande waren, ihre Kinder selbst zu ernähren, oder schließlich 3. wenn es sich um uneheliche Kinder handelte, für deren Unterhalt der Vater nicht aufkam (a.a.O., S. 39 u. S. 104). Diese Voraussetzungen der Aufnahme galten im Prinzip bis 1886. 4 Hierin lag der „entehrende“ Charakter der traditionellen Armenfürsorge. Genauso, wie mit dem Bezug von Armenunterstützung ein Verlust des Wahlrechts einherging, mussten sich öffentlich unterstützte Eltern auch eine Einschränkung ihrer privaten Rechte gefallen lassen.
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ruhten, war diese Vorgehensweise gleichbedeutend mit einem „informellen Sorgerechtsentzug“. Angesichts des Bemühens des Armenkollegiums, Kosten einzusparen, ist es allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass diese Praxis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr weit verbreitet war. Die Wegnahme der Kinder beruhte nicht sosehr auf einer Problematisierung des elterlichen Erziehungsverhaltens. Sie war vielmehr Ausdruck der Sorge, die materiellen Unterstützungsleistungen würden andernfalls ihren Zweck verfehlen und den Kindern nicht zugute kommen. Erst nach der Übernahme des Kostkinderwesens durch das WHK Anfang der 1890er Jahren, wurde – wie noch zu zeigen sein wird – der informelle Sorgerechtsentzug offenbar zu einem Massenphänomen. Dass das behördliche Handeln im vormärzlichen Hamburg durch eine weitgehende Indifferenz gegenüber dem erzieherischen Verhalten der Eltern gekennzeichnet war und es kein praktisches Bedürfnis nach einem formellen Sorgerechtsentzug gab, zeigte sich nicht zuletzt am polizeilichen Umgang mit „vernachlässigten“ bzw. devianten Kindern und Jugendlichen. Als oberster Polizeiherr der Hansestadt übte Hudtwalcker auch in diesem staatlichen Aufgabenbereich einen entscheidenden Einfluss aus. Nach dem „Abgrenzungsgesetz“ war er befugt, Sicherheitsmaßregeln zu treffen, wenn Kinder von ihren Eltern „thätlich misshandelt“ wurden.1 Daneben konnten Eltern bei der Polizeibehörde auch ein Gesuch zur Unterbringung ihrer Kinder einreichen. Vor allem unverheiratete Mütter machten von dieser Möglichkeit anscheinend häufig Gebrauch – ein Indiz dafür, dass die Allgemeine Armenanstalt keineswegs alle unehelichen Kinder aufnahm.2 Beide Gruppen von Minderjährigen, die man im Volksmund als „Polizeikinder“ bezeichnete, wurden im Werk- und Armenhaus untergebracht. Die ungünstigen räumlichen Verhältnisse in der Großanstalt, der rapide Anstieg der Einweisungszahlen im Anschluss an den Hamburger Brand sowie Fälle von aufgedeckter Doppelunterstützung führten allerdings schon bald dazu, dass man nach anderen Lösungen zur Versorgung und Beaufsichtigung der „Polizeikinder“ suchte. 1854 ging dieser polizeiliche Fürsorgezweig schließlich ganz an das Kostkinderinstitut der Allgemeinen Armenanstalt über. Die Polizei behielt jedoch ihr Recht, uneheliche Kinder in dringenden Fällen und eheliche Kinder „bei Gefahr im Verzuge“ zur sofortigen Aufnahme im Kostkinderinstitut zu empfehlen. Als Polizeiherr hatte Hudtwalcker zudem großen Einfluss auf die Einweisung in die so genannte Strafklasse des Werk- und Armenhauses. In dieser 1828 gegründeten Vorläufereinrichtung der Ohlsdorfer „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ wurden sowohl straffällige als auch deviante Kinder und Jugendliche 1 2
Vgl. oben S. 314. Klapproth [1957], S. 40.
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untergebracht.1 Die Hauptgründe für die Aufnahme in die Anstalt bildeten im Jahrzehnt nach der Eröffnung: „Diebereien und Betrügereien“, „Schulelaufen“ und „Umhertreiben“. Daneben wurden aber auch allgemeines „schlechtes Betragen“, „Frevel und Unfug“, „Untreue“, „Bettelei“ und „Entlaufen“, bei den Mädchen schließlich „unsittlicher und liederlicher Lebenswandel“ als Einweisungsgründe genannt.2 Das Verfahren bei „Polizeivergehen“, bei welchem der Polizeiherr in Personalunion als Repräsentant der Ordnungsbehörde, Leiter des Untersuchungsverfahrens und Richter fungierte, war wegen der außerordentlich hohen Fallzahlen zumeist summarisch und flüchtig.3 Waren die Minderjährigen nicht selbst den Ordnungshütern in die Fänge gegangen, so waren die Polizeiaktuare bei der Anordnung von Strafmaßnahmen auf die Berichte antragstellender Dritter angewiesen.4 Die Anzeigen aus dem primären sozialen Netz machten im Zeitraum 1832-1841 nicht weniger als ein Viertel aller spezifizierbaren Anzeigen aus. Man kann dies als einen gewichtigen Hinweis dahingehend werten, dass staatliche Organe von Eltern und Angehörigen im Sinne des Konzepts der „hülfreichen Hand“ in Anspruch genommen wurden, um bei ihren Kindern gehorsames Verhalten durchzusetzen.5 Es gab also augenscheinlich auch in Hamburg nach wie vor Überschneidungen im öffentlichen und privaten Interesse an der Disziplinierung normabweichender Kinder.6 In seiner Doppelfunktion als Polizeiherr und Mitglied der Vormundschaftsbehörde war Hudtwalcker alles andere als blind für die privatrechtlichen Implikationen von Überweisungen in die „Strafklasse“ des Werk- und Armenhauses. In einem Brief an Johann Hinrich Wichern, dem er wegen des geteilten Interesses an der Jugendfürsorge, aber auch aus Glaubensgründen nahestand, wies Hudtwalcker 1837 nachdrücklich auf die Grenzen seiner Amtsbefugnisse hin. Seiner Ansicht nach mussten mindestens zwei Voraussetzungen erfüllt sein, um eine Einweisung in die Strafklasse gegen den Willen der Eltern zu rechtfertigen: Den Eltern mussten die Geldmittel zur Bestreitung der Erziehungs- und Unterhaltskosten fehlen und ihre „Unfähigkeit“ oder „Unwürdigkeit“ zur ferneren Erziehung musste klar und zweifelsfrei nachgewiesen werden.7 Zumindest theore1
Vgl. oben S. 193 f. Döbler [1992], S. 174 ff. 3 Entsprechend verfuhr man auch in Preußen. Vgl. hierzu: Oberwittler [2000], S. 62. 4 Die „Strafschule“ der Armenanstalt ist nicht zu verwechseln mit der hier behandelten „Strafklasse“. Etwa zeitgleich mit Letzterer gegründet, bildete die Strafschule die ultima ratio der Schulzucht und sollte v.a. das „Schulelaufen“ der Armenschüler verhindern. Vgl. zur Geschichte der Einrichtung: Osterloh [1981]. 5 Vgl. hierzu auch die Kommentierung des elterlichen Züchtigungsrechts durch Baumeister [1856], S. 38 ff. und den zitierten Passus aus dem „Abgrenzungsgesetz“, der ausdrücklich ein Einschreiten der Polizei bei „grober Widersetzlichkeit und Untreue“ der Kinder gegen ihre Eltern zuließ. 6 Vgl. hierzu: Döbler [1992], S. 226. 7 Brief Hudtwalckers an Wichern vom 11.03.1839, zit. nach: Pielhoff [1999], S. 320. 2
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tisch stand somit für Hudtwalcker fest, dass die zwangsweise Unterbringung in die Strafklasse einer eingehenden Prüfung der häuslichen Verhältnisse bedurfte und nur schwere erzieherische Mängel den damit verbundenen dauerhaften Eingriff in die elterlichen Rechte rechtfertigten. Dass diese Einsicht aber irgendwelche praktischen Konsequenzen hatte, ist unwahrscheinlich. Ein förmlicher Prozess, in dem die Eltern ihren Standpunkt zur Geltung hätten bringen können, war in „Polizeisachen“ nicht vorgesehen. Bei den meisten Kindern und Jugendlichen, die in der Strafklasse untergebracht wurden, stand das „öffentliche Interesse“ ganz im Vordergrund.1 Dass man in solchen Fällen aber zunächst die Eltern um Erlaubnis gebeten hätte, bevor man die Minderjährigen ins Werk- und Armenhaus überführte, widersprach dem Grundverständnis obrigkeitlicher Strafgewalt. Aber auch wenn bloß „Verwahrlosung“ vorlag und die Unterbringung von Angehörigen angeregt worden war, konnte das elterliche Erziehungsverhalten völlig außer Betracht bleiben. Der Grundkonsens, dass jugendliche Insubordination vor allem dem schlechten Charakter der betreffenden Minderjährigen selbst zuzurechnen war, verhinderte, dass die häuslichen Verhältnisse einer näheren Untersuchung unterzogen wurden. In auffälligem Kontrast zur behördlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Erziehungsverhalten der Eltern stand die wachsende Aufmerksamkeit, welche die Privatwohltätigkeit und insbesondere die erweckungsbewegten Initiatoren der Hamburger „Rettungsarbeit“ den häuslichen und familiären Verhältnissen der städtischen Unterschicht widmeten. Bereits in seiner vielzitierten Gründungsrede zum „Rauhen Haus“ von 1833 war Wichern sehr eingehend auf die sozialen und familialen Hintergründe der Kinder eingegangen, die er in die Einrichtung aufzunehmen gedachte.2 Ihre „sittliche Verwahrlosung“ führte er in erster Linie auf die moralische Verkommenheit der Eltern, auf ihre „Trunk-„ und „Putzsucht“, das Leben in „wilden Ehen“ sowie auf die allgemeine „Pflichtvergessenheit“ in Bezug auf ihre Kinder zurück. Diese Problemverortung wurde vor allem von den Kritikern der aufgeklärten Armenfürsorge im Hamburger Senat, zu denen neben Hudtwalcker auch Senatssyndikus Karl Sieveking zählte, geteilt.3 Sie favorisierten eine dezentrale Fürsorgekonzeption, in welcher das im Privatverein sozial bzw. religiös engagierte Individuum an die Stelle des aufgeklärten patriotischen Staatsbürgers treten sollte.4 Das „Rauhe Haus“ gehörte neben dem von Amalie Sieveking ins Leben gerufenen „Weiblichen Verein für Armen- und 1
Als Nebenmotiv kam dem Schutzgedanken gleichwohl eine gewisse Bedeutung zu. Döbler erwähnt Fälle, in denen von ihren Eltern oder Dienstherren misshandelte Kinder wegen „Umhertreibens“ in die Strafklasse eingewiesen wurden (Döbler [1992], S. 179). 2 Wichern [1833]. 3 Zu Person und Wirkung Sievekings vgl.: Ipsen [1987], S. 119. 4 Vgl. hierzu: Pielhoff [1999], S. 71 u. 82.
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Krankenpflege“ zu den ersten privatwohltätigen Initiativen, die dieser neuen Auffassung entsprachen. Schon im Vormärz war das Verhältnis zwischen „Strafklasse“ und „Rauhem Haus“ durch eine Konkurrenzstellung bestimmt. Schließlich verfolgten beide Einrichtungen das Ziel der Besserung „sittlich verwahrloster“ Kinder und Halbwüchsiger. Im Unterschied zu den 1880er Jahren, als mit der Eröffnung der Ohlsdorfer „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ der staatliche Lösungsansatz in den Vordergrund trat, wurde das privatwohltätige Fürsorgekonzept in den 1830er und 1840er Jahren allerdings noch für das überlegende Modell gehalten. Hudtwalcker hoffte, dass Privateinrichtungen wie das „Rauhe Haus“ eines Tages die „Strafklasse“ überflüssig machen könnten. Für eine Substitution von öffentlichen durch privatwohltätige Einrichtungen sprachen in seinen Augen vor allem die hohe Sterblichkeit und die mangelnden Disziplinierungserfolge der Strafklasse.1 Einer Privatanstalt traute er in beiden Hinsichten wesentlich mehr zu. Wichern selbst war demgegenüber immer sehr darum bemüht gewesen, jedwede Assoziation seiner Anstalt mit der „Strafklasse“ zu vermeiden. Dabei ging es ihm zum einen darum, den großbürgerlichen Argwohn zu zerstreuen, durch die Einrichtung würden dem Staat über kurz oder lang neue finanzielle Belastungen erwachsen. Zum anderen gab es für die Autonomie- und Abgrenzungsbestrebungen auch gewichtige inhaltliche Gründe. Wichern wollte das Ethos „freier Liebestätigkeit“ wiederbeleben, das auf einer grundsätzlichen Freiwilligkeit der Hilfe beruhte. Wieder und wieder betonte er, wie wichtig es sei, dass die Eltern ihre Kinder „auf eine gütliche Weise“ an die Anstalt abtraten.2 Das Prinzip der Freiwilligkeit war dabei keineswegs nur Ausdruck einer ethischen Grundüberzeugung. Wichern rechtfertigte es auch mit pädagogischen Überlegungen. Nicht zuletzt aber war dieser Grundsatz Ausfluss des traditionellen Konzepts der „hülfreichen Hand“. So kommentierte Wichern 1845 die Rückgabe eines Kindes, das ohne elterliche Zustimmung im „Rauhen Haus“ aufgenommen worden war, mit den Worten: „Wir beherbergen hier aber keine Kinder ohne Einwilligung der Eltern; wollten wir diesen Grundsatz aufgeben, so würden wir den heiligsten Kern des Rauhen Hauses verletzen, das gerade Eltern eine letzte Hilfe bei der Erziehung gewähren und den Kindern gegenüber die ihm übertragenen Elternautorität geltend machen will.“ 3
Was sich auf theoretischer Ebene und in der Außendarstellung als besonderer Vorzug der privatwohltätigen Rettungsarbeit präsentieren ließ, stellte sich in der 1
A.a.O., S. 83. A.a.O., S. 70. 3 Zit. nach: Lindmeier [1998], S. 256 f. 2
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
Praxis jedoch schon bald als einer ihrer gravierendsten Nachteile heraus. Von Anfang an sah sich die Leitung des „Rauhen Hauses“ mit dem Problem konfrontiert, dass Eltern die Erziehungsziele der Einrichtung durchkreuzten, indem sie ihre Kinder eigenmächtig aus der Anstalt entfernten und sich den Missionierungsbemühungen der „nachgehenden Elternarbeit“ entzogen.1 Um solche Widerstände zu vermeiden, mussten die gesetzlichen Vertreter der Kinder seit 1837 einen Vertrag mit der Anstalt unterzeichnen, in dem sie sich zur Nichteinmischung in die Erziehungsarbeit sowie zur Kostenerstattung im Falle der vorzeitigen Rücknahme der Kinder verpflichteten.2 Solche Verträge blieben allerdings ein schwaches Instrument, um sich gegen elterliche Zudringlichkeiten und Einmischungsversuche zu wehren. Eine rechtswirksame Beschränkung der Personensorge konnte durch sie nicht erreicht werden, und angesichts der schlechten finanziellen Lage vieler Eltern dürfte auch die Erstattungspflicht zumeist eine leere Drohung geblieben sein. Die eingangs aufgeworfene Frage nach der praktischen Relevanz des Sorgerechtsentzugs in der liberalen Ära lässt sich zusammenfassend somit wie folgt beantworten: Seit 1832 existierte auch in Hamburg die Möglichkeit, wegen Vernachlässigung bzw. missbräuchlicher Ausübung der Personensorge Väter in ihren privaten Rechte zu beschränken. Eine tiefgreifende Auswirkung auf die Fürsorgepraxis hat diese gesetzliche Regelung jedoch offenbar nicht. Die behördliche Haltung gegenüber armen und in ihrer Erziehung „vernachlässigten“ Kindern blieb nach wie vor durch Gleichgültigkeit bestimmt. Vor allem unter Vertretern privatwohltätiger Fürsorgeeinrichtungen zeichnete sich zwar eine deutliche Tendenz ab, kindliche Devianz auf die häuslichen und sittlichen Verhältnisse der Ursprungsfamilie zurückzuführen und damit das althergebrachte Deutungsmuster des „böse veranlagten Kindes“ zu durchbrechen. Vorherrschend aber blieb auch hier die Überzeugung, dass die väterliche Autorität im Falle jugendlicher Devianz gestärkt werden müsse, anstatt sie durch formelle Eingriffe noch weiter zu untergraben. Das heißt nicht, dass bei der Fremdplatzierung von Kindern keinerlei Druck ausgeübt worden wäre. Aber die einvernehmliche Übernahme hatte doch Vorrang und wenn Zwang angewandt wurde, so basierte dieser auf der Geltendmachung der überlegenen gesellschaftlichen Stellung und amtlichen Autorität der Fürsorgevertreter und nicht auf der Anwendung des Ge1 Dem Aufenthalt im „Rauhen Haus“ schloss sich eine Phase intensiver „Nachsorge“ an, die nicht nur darauf abzielte, die Kinder mit ihren Eltern „auszusöhnen“, sondern über die Kinder auch die Eltern zum Glauben zurückzuführen. 2 Pielhoff [1999], S. 84, Anm. 78. Vgl. auch den bei Lindmeier [1998], S. 455 u. 260 f. abgedruckten „Contract über die Aufnahme eines Kindes in die Rettungs-Anstalt für sittlich verwahrloste Kinder“ von 1837. Ähnliche Vereinbarungen mussten übrigens auch die Eltern von „Zöglingen“ nichtkonfessioneller Rettungs- und Bewahranstalten wie dem Pestalozzi-Stift unterzeichnen (Göhring [1994], S. 80).
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setzes. Man drohte mit Unterstützungsentzug oder Rückerstattungsforderungen, um widerspenstige Eltern gefügig zu machen und sie von eigenmächtigen Eingriffen in die Ersatzerziehung abzuhalten. Zuweilen schuf man auch vollendete Tatsachen, indem man Kinder ohne das Wissen ihrer Eltern öffentlich unterbrachte und ihre Rückgabe unter dem Hinweis auf die vormundschaftlichen Rechte der Anstalten verweigerte. Solche Praktiken ließen sich aber nur solange aufrechterhalten, wie die Bevölkerung das obrigkeitliche Auftreten stillschweigend duldete. Am frühesten wurde das Bedürfnis nach formellen Eingriffen in das elterliche Sorgerecht bei den privatwohltätigen Einrichtungen akut. Eine Inanspruchnahme der Vormundschaftsbehörde durch diese Anstalten kam allerdings nicht in Betracht, da ein solches Vorgehen sowohl dem Autonomieanspruch als auch dem „Freiwilligkeitsprinzip“ der Privatwohltätigkeit widersprochen hätte.
4.2 Interventionsstaat und jugendliche Devianz: Das „verwahrloste Kind“ im Fokus straf- und privatrechtlicher Eingriffsbefugnisse Die Hamburger Debatte um die Ausdehnung der obervormundschaftlichen Kontrollbefugnisse der 1820er Jahre und die eben skizzierten gesellschaftlichen Reaktionsformen auf jugendliche Devianz und abweichendes Erziehungsverhalten können nicht ohne Weiteres auf die Verhältnisse in anderen deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übertragen werden. Beide Aspekte waren vielmehr durch eine Reihe regionaler Besonderheiten bestimmt, zu denen neben der quasi-republikanischen Verfassung der Hansestadt auch die tief verwurzelte (wirtschafts-)liberale Gesinnung der herrschenden Gesellschaftskreise sowie die besondere Entwicklungsdynamik der öffentlichen Armenfürsorge zählten. Zwei wesentliche Merkmale, die für die zeitgenössische Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Familie in ganz Deutschland bis in die 1880er Jahre hinein kennzeichnend blieben, treten am Hamburger Beispiel jedoch deutlich hervor: die liberale Selbstbeschränkung staatlicher Machtentfaltung in Bezug auf die Familienerziehung und die Präferenz privatwohltätiger Initiativen im Bereich der Jugendfürsorge.1 Eine grundsätzliche Neubestimmung dieses Verhältnisses, die zu einer schrittweisen Aufgabe der bisher geübten Zurückhaltung des Staates führte, bahnte sich in Deutschland erst im Verlauf der 1880er Jahre an. Von paradigmatischer Bedeutung für diesen reichsweiten Kurswechsel war eine auf der Jahresversammlung des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ 1 Dickinson [1996], S. 15 spricht in diesem Zusammenhang von einem „antiinterventionistischen Konsens“, der die Jugendfürsorge bestimmt habe.
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
(DVAW) ausgetragene Grundsatzdebatte über die Ausdehnung der Zwangserziehung von straffälligen auf „verwahrloste“ Jugendliche.1 Diese Debatte, in der die neue „sozialpolitische“ Stoßrichtung erstmals in aller Deutlichkeit gegen die traditionelle liberale Auffassung in Stellung gebracht wurde und die sich auf die Frage zuspitzte, inwiefern der Staat berechtigt und berufen sei, bei festgestellter jugendlicher Devianz in das elterliche Erziehungsrecht einzugreifen, gab den Bezugsrahmen für alle nachfolgenden Hamburger Diskussionen zur Zwangserziehung und zum Sorgerechtsentzug ab. Bevor der Verlauf dieser Debatte nachgezeichnet wird, muss zunächst etwas ausführlicher auf den konkreten historischen Kontext eingegangen werden, in dem diese stand: Zum einen gilt es die Bedeutung der innenpolitische Wende von 1878/79 für die Entwicklung der „bürgerlichen Sozialreform“ herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt muss anschließend zum besseren Verständnis der Auseinandersetzung kurz auf die Entwicklung des preußischen Zwangserziehungswesens und seine kriminalpolitischen Hintergründen eingegangen werden.
4.2.1 Die Formierung des Interventionsstaates und die „bürgerliche Sozialreform“ Es existiert eine ganze Reihe von teils sich ergänzenden, teils miteinander konkurrierenden Begriffen, Konzepten und Theorien, mit denen man die große Wende in der Reichsinnenpolitik von 1878/79, zu der das zweifache Attentat auf Wilhelm I. den Anlass gegeben hatte, zu fassen versuchte. Einen besonders nachhaltigen Einfluss auf die historische Forschung hat die Theorie vom „organisierten Kapitalismus“ ausgeübt, die – angeregt durch die Sozialwissenschaften und anknüpfend an zeitgenössische Erklärungsansätze sozialistischer Provenienz – die enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik als das bestimmende Merkmal der nachliberalen Ära des Kaiserreichs herausstellte.2 In dieser Perspektive erlangte die innenpolitische Zäsur von 1878/79 den Stellenwert einer „zweiten Reichsgründung“, da sie die entscheidende Weichenstellung für eine sozialkonservative Grundlegung des Reiches darstellte.3 Demgegenüber lässt der Begriff „Interventionsstaat“, der ebenfalls zur Beschreibung der Folgen der Wende von 1878/79 1
Vgl. hierzu ausführlich: Peukert [1986], S. 119-125. Vgl. die bei Ritter/Tenfelde [1992], S. 105, Anm. 61 zitierte Literatur. Die Allianz zwischen „Krautjunkern“ und „Schlotbaronen“ auf der einen Seite und Bismarck als Vertreter der preußischen Verwaltungs- und Militäraristokratie auf der anderen Seite verschmilzt im Erklärungsmodell des „organisierten Kapitalismus“ zu einem mehr oder weniger monolithischen System, wobei der eigentlichen Politik die Rolle eines bloßen Ausführungsorgans ökonomischer Interessen ohne nennenswerte Eigendynamik beigemessen wird. 3 Vgl.: Böhme [1966], S. 419 u. 564 ff. 2
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herangezogen wurde, die Frage nach dem Primat von Wirtschaft oder Politik weitgehend offen, stellt eher auf die allgemeine historische Entwicklung der (kontinental-)europäischen Industriestaaten ab und legt sich auch bezüglich der jeweiligen politischen Ausrichtung des Staatskonzepts nicht fest. Lothar Gall hat in einem viel beachteten Aufsatz darauf hingewiesen, dass es alles andere als gleichgültig sei, unter welchen politischen Prämissen sich die modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaaten jeweils herausgebildet haben. Er kommt zu dem Schluss „dass sich der Interventionsstaat auch in Deutschland als durchaus ambivalent und als von sehr unterschiedlichen Kräften instrumentalisierbar erwiesen hat, ja, daß er letztlich [...] weit weniger das Produkt eines mehr oder weniger geschlossenen Systems als vielmehr eines politisch-sozialen Systemkonflikts gewesen ist.“1 Dieses Verständnis des modernen, westeuropäischen Interventions- und Wohlfahrtsstaates als Produkt eines politisch-sozialen Systemkonflikts ist aus zwei Gründen besonders hilfreich, um den weiteren politischen Kontext der zeitgenössischen Debatten um die staatlichen Eingriffsbefugnisse in die familiale Erziehung auszuleuchten: 1.
1
Der deutsche Interventionsstaat, der sich in den 1880er Jahren auszubilden begann, hatte vor allem zwei Ausprägungen: die Schutzzollpolitik und die maßgeblich von Bismarck bestimmte Sozialversicherungsgesetzgebung.2 In beiden Fällen handelte es sich um staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Während aber die Einführung der Schutzzölle als das direkte Ergebnis der abgestimmten Agitation von Agrar- und Industrieverbänden anzusehen ist, war der Einfluss von Kapital und Wirtschaft im Falle der Sozialpolitik alles andere als eindeutig.3 Teile der Sozialversicherung mussten sogar gegen erhebliche Widerstände von Seiten der Industrie- und Landwirtschaftsverbände durchgesetzt werden.4 Die Sozialgesetzgebung stellte nicht so sehr eine Erweiterung der protektionistischen Wirtschaftspolitik, als vielmehr eine inhaltliche Ergänzung der Sozialistengesetze dar. Sie war ein politisches Mittel, das darauf abzielte, dem Sozialismus das Wasser abzugraben.
Gall [1978]. S. 568 ff. Ritter/Tennfelde [1992], S. 110. 3 Ullrich [1999], S. 54 f. 4 Das galt in besonderem Maße für die Alters- und Invalidenrente, die sowohl die industriellen als auch die landwirtschaftlichen Arbeiter einschloss und bei denen die Arbeitgeber die Hälfte der Kosten tragen sollten. Auch insgesamt betrachtet verfehlte allerdings das Unternehmertum die meisten seiner Ziele, wie die Einrichtung von obligatorischen Betriebskrankenkassen, den Ausschluss der Arbeiter aus der Selbstverwaltung oder die Reduzierung des staatlichen Aufsichtsrechts. Vgl. hierzu: Nipperdey [1998a], S. 345 u. [1998b], S. 405. 2
328 2.
Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
Die konservative Konzeption der Bismarckschen Sozialpolitik stand in den 1870er Jahren und selbst in den 1880er nicht konkurrenzlos da. Es waren vielmehr diverse sozialpolitische Lösungsansätze im Umlauf, die zwar in ihrem Ergebnis ebenfalls als „interventiv“ bezeichnet werden können, aber doch eine deutlich liberalere Handschrift trugen. Gerade für die Frühzeit des Kaiserreichs ist es wichtig, die Vielfalt und die Gegensätze der Interessen in der Sozialpolitik im Auge zu behalten. Die Frage, wie die „innere Reichsgründung“ zu bewerkstelligen sei, war lange Zeit noch offen.
Im Folgenden soll die Entwicklung der zeitgenössischen Diskussionen zur Lösung der „sozialen Frage“ im Zeitraum 1860 bis 1880 nachgezeichnet werden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die organisatorisch-gesellschaftliche Basis der sich formierenden „bürgerlichen Sozialreform“ zu richten, sowie auf die Impulse und Irritationen, welche von zeitgeschichtlichen Ereignissen und Konflikten auf die Thematisierung der „sozialen Frage“ ausging. Erst jüngst hat die Geschichtsschreibung die liberale Sozialpolitik des Norddeutschen Bundes und des frühen Kaiserreichs wiederentdeckt, die lange Zeit im Schatten der Erfolge und vor allem der Originalität der Bismarckschen Sozialversicherungspolitik gestanden hat.1 Im Wesentlichen handelte es sich dabei um eine Fortschreibung des gesellschaftlichen Modernisierungsprogramms, das bereits im Vormärz von der liberal gesinnten Beamtenschaft Preußens entworfen und in ihrem Einflussbereich zum Teil auch schon umgesetzt worden war. Getragen und vorangetrieben wurden diese Bemühungen in der Zeit des Norddeutschen Bundes vor allem durch den Chef des preußischen Kanzleramtes Rudolf Delbrück, der seine Politik allerdings in enger Abstimmung mit den Vertretern der Parlamentsmehrheit betrieb.2 Sozialpolitik wurde hier als flankierende Wirtschaftspolitik verstanden, die das langsame Zusammenwachsen der deutschen Teilstaaten zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum fördern sollte, indem sie die bisher bestehenden heimatrechtlichen Bindungen und Beschränkungen aufhob und damit die Grundlagen für eine ungehinderte Mobilität schuf.3. Für den vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig war das „Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz“ (UWG), das im Sommer 1871, also bereits nach 1
Sachße/Tennstedt u. a. [2000], S. XIX – XLVIII. Rudolf Delbrück war 1867 von Bismarck zum Präsidenten des preußischen Kanzleramtes ernannt worden und übernahm nach der Reichsgründung die entsprechende Position im Kanzleramt des Reiches. Er galt lange Zeit als einer der einflussreichsten innenpolitischen Gestalter des Norddeutschen Bundes. 1876 trat er im Kontext des wirtschaftspolitischen Kurswechsels zurück. Vgl.: Nipperdey [1998], Bd. II, S. 360. 3 An das überkommene Heimatrecht war nicht nur die Möglichkeit zum Erwerb von Grundeigentum und zur Ausübung eines Gewerbes, sondern auch die Berechtigung zur Eheschließung sowie der Bezug von Armenunterstützung gebunden gewesen. 2
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der Reichsgründung, in Kraft trat. Als „gesellschaftliche Unterseite der allgemeinen Freizügigkeit“ stellte es einen zentralen Bestandteil des liberalen Reformprogramms dar.1 Indem es den armenpflegerischen Lastenausgleich zwischen den Kommunen regelte, passte es die soziale Grundsicherung den Anforderungen der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung an. Das soziale Reformprogramm Delbrücks und seiner parlamentarischen Mitstreiter folgte dem Leitbild des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates, demzufolge dem Staat nur die Aufgabe zufiel, die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen festzulegen, die es jedem einzelnen Bürger ermöglichten, seine Existenz zu sichern. Ein aktives staatliches Eingreifen in die Daseinsvorsorge durch Erbringung sozialer Leistungen war dabei nicht vorgesehen. Dadurch unterschied sich die „Sozialpolitik vor dem Sozialstaat“2 grundlegend von dem Bismarckschen Sozialversicherungssystem der 1880er Jahre. Gleichwohl lief auch das liberale Modernisierungsprogramm des Norddeutschen Bundes und des frühen Kaiserreichs auf eine zunehmende Zentralisierung und Stärkung der Staatsgewalt hinaus, weil nichtstaatliche Träger in diesem Konzept überhaupt nicht vorkamen und einzelstaatliche Kompetenzen zugunsten der Zentralgewalt beschnitten wurden. Individuelle Selbstbestimmung und Staatenbildung schlossen sich nach dem Verständnis der liberalen Sozialreformer der 1860er und 1870er Jahre also keineswegs aus, sie bedingten sich vielmehr wechselseitig.3 Das liberale Reformprogramm war mit dem Inkrafttreten des UWG noch keineswegs zum Abschluss gelangt, aber die Reichsgründung und der mit ihr einhergehende Wirtschaftsboom brachten doch eine ganz neue Dynamik in die sozialpolitischen Bestrebungen der Zeit. Der zügige Ausbau des Eisenbahnnetzes, der Fortfall heimatrechtlicher Beschränkungen sowie der seit Mitte der 1860er Jahre einsetzende industriewirtschaftliche Aufschwung hatten nicht nur zu einer Mobilität bisher ungekannten Ausmaßes, sondern auch zu einer neuen Welle von Arbeitskämpfen geführt.4 Hinzu kam, dass die Pariser Ereignisse des Frühjahres 1871 und Bebels und Liebknechts prompte Solidaritätsbekundungen mit der dort kurzzeitig etablierten „Kommune“ den etablierten Gesellschaftskreisen einen gewaltigen Schock versetzte.5 Die „soziale Frage“ bekam durch diese 1
Sachße/Tennstedt u. a. [2000], S. XXI. A.a.O., S. XLVI. 3 A.a.O., S.XXV, XXIX und XXXI. 4 In den Jahren 1867 bis 1874 waren in Deutschland 1250 Arbeitskämpfe gezählt worden (Tennstedt [1997], S. 19-31). 5 Bebel hatte die „Pariser Kommune“ in einer berühmt gewordenen Reichstagsrede vom 25. Mai 1871 als „kleines Vorpostengefecht“ bezeichnet und die Auffassung vertreten, dass die „Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht, und daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats: ‚Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Noth und dem Müßiggange!’ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird“. Zit. nach: Grützner [1863], S. 36. 2
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Vorgänge eine ganz neue Brisanz. Mit der Politisierung der Industriearbeiterschaft drohte dem Reich ein neuer, mächtiger Gegner zu erwachsen. Aus diesem Grund setzte sich im Bildungsbürgertum und auch in der höheren Verwaltungsbeamtenschaft Preußens immer mehr die Auffassung durch, dass auf die „äußere“ jetzt eine „innere Reichsgründung“ folgen müsse, die man vor allem durch sozialpolitische Maßnahmen zu bewerkstelligen gedachte.1 Theoretisch untermauern ließ sich diese Position durch einen Rückbezug auf die so genannte Historische Schule der Nationalökonomie, einer ethisch geläuterten Fassung der Volkswirtschaftslehre, die kameralistische Vorstellungen über den Staat als Förderer der allgemeinen Wohlfahrt mit Ideen des Rechtsstaates zu verknüpfen versuchte.2 In diesem politischen und diskursiven Kontext gründeten im Oktober 1872 in Eisenach 180 Männer aus Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft den „Verein für Sozialpolitik“ (VfS), der sich in den Folgejahren zu einem Stoßtrupp der „bürgerlichen Sozialreform“ entwickeln sollte.3 Was die fast durchweg akademisch gebildeten Vereinsmitglieder einte, war ihre Überzeugung, dass sie durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu berufen waren, zwischen den „im Machtbesitz befindlichen und den aufstrebenden Klassen zu vermitteln“.4 Mit der Gründung des Vereins wollten sie also keineswegs nur eine neue Plattform für den wissenschaftlichen Austausch schaffen. Es ging ihnen vielmehr darum, durch die Bereitstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse die soziale Reform aktiv mitzugestalten. Die vom Verein und seinen Mitgliedern zusammengetragenen bzw. angeregten Enqueten, Statistiken und Monografien sollten die Grundlage für das konkrete legislativ-administrative Handeln der Politiker und Beamten von Reich, Staat und Kommune liefern. Auf diese Weise hoffte man, die sich herausbildenden Klassengegensätze abmildern, die Arbeiterklasse gesellschaftlich integrieren und eine „gesunde“, ruhige Fortentwicklung der bestehenden Sozial- und Wirtschaftsordnung gewährleisten zu können.5 Die Orientierung an den als „berechtigt“ anerkannten Interessen der Arbeiterschaft gingen dabei so weit, Ähnlich euphorisch äußerte sich wenige Tage darauf auch Wilhelm Liebknecht im Leipziger Volksstaat (Liebknecht [1871]). Zur Wahrnehmung der Ereignisse durch das deutsche Bürgertum vgl.: Grützner [1863], S. 99 ff. 1 Der Begriff „innere Reichsgründung“ war 1971 von Gustav Schönberg in seiner Freiburger Antrittsvorlesgung geprägt worden. Vgl.: vom Bruch [1985], S. 70. 2 Vgl.: Ritter [1991], S. 76. Die „historische Schule“ war zwar aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den Laissez-faire.Anschauungen der Manchester-Schule hervorgegangen. Ihre Anhänger bestritten aber die Möglichkeit, die Aufgaben und die Rolle des Staates letztgültig zu bestimmen. Damit erteilten sie dem klassischen liberalen Staatsverständnis, wie es noch von Humboldt vertreten worden war, eine klare Absage. Vgl.: Abelshauser [1994], S. 199. 3 Vgl. zur Rolle des VfS innerhalb der Bürgerlichen Sozialreform: vom Bruch [1985]. 4 Brentano zit. nach: A.a.O.: S. 45. 5 Vgl.: A.a.O., S. 62.
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dass man sogar bereit war, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Sozialismus zu würdigen. Von daher war auch die Fremdbezeichnung „Kathedersozialisten“ nicht völlig ungerechtfertigt.1 Von den politischen Forderungen und den Umsturzabsichten der Sozialisten grenzten sich die Vereinsmitglieder jedoch entschieden ab. Nicht nur die Position des VfS, sondern die der bürgerlichen Sozialreform insgesamt, konnte so auf die bündige Formel gebracht werden: „Weder Kommunismus noch Kapitalismus“.2 Die konkreten sozialpolitischen Maßnahmen, die Gustav Schmoller, einer der bekanntesten Vertreter des Vereins und zugleich Wortführer des kompromissbereiten, gemäßigt-konservativen Mittelfeldes der Organisation, in seiner Eröffnungsrede in Eisenach in Anregung brachte, waren äußerst breit gefächert und spiegelten sowohl die Traditionsbindung als auch die innovative Kraft der neuen Bewegung wider.3 Viele der angedachten Maßnahmen lassen sich als eine Weiterentwicklung, Ergänzung oder Ausgestaltung der liberalen Sozialpolitik des Norddeutschen Bundes begreifen, und auch in personeller Hinsicht gab es vielfältige Verbindungen mit den Initiatoren der Reformgesetze der „liberalen Periode“. Auffallend ist jedoch, dass sich die meisten vorgeschlagenen Maßnahmen gerade mit jenem intermediären Bereich beschäftigten, der von der liberalen Gesetzgebung ausdrücklich ausgespart worden war. Gewerks- und Lehrlingsvereine, Schiedsgerichte, Hilfskassenwesen, kollektive Arbeitsverträge – all dies waren Themen, die bisher keinen Eingang in das staatliche Modernisierungsprogramm gefunden hatten, von denen sich aber die Mehrheit der Vereinsmitglieder, ob es sich nun um Liberale oder Konservative handelte, eine besonders große Wirkung versprach.4 Die 1873 einsetzende „Gründerkrise“ konnte nicht ohne schwerwiegende Folgen für die Debatten im VfS bleiben. Der Nachfragerückgang in den industriellen Leitsektoren, der Montan- und Hüttenindustrie, und das wachsende pro1 Der Begriff war von H. B. Oppenheim im Rahmen der als „Sendschreiben-Krieg“ bekannt gewordenen öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Vertretern der klassisch-freihändlerischen Volkswirtschaftslehre und der „historischen Schule“ Ende 1871 geprägt worden. Vgl. hierzu: Grützner [1963], S. 100. Die ursprünglich denunzierend gemeinte Fremdbezeichnung wurde später auch von der Mehrzahl der Mitgliedern des VfS akzeptiert, obwohl sie im Wortsinn nur auf die Mitglieder Adolf Held, Gustav Schönberg und Adolph Wagner zutraf. Vgl.: vom Bruch [1985], S. 69. 2 Die Wendung stammt von Carl Jentsch, einem konservativen Vertreter der Sozialreform, der 1893 unter dieser Überschrift eine Artikelserie zur Lösung der sozialen Frage verfasste (A.a.O., S. 153, Anm. 1). 3 Das Schieds- und Einigungswesen und die Wohnungsnot kamen ebenso zur Sprache wie Arbeitsvertrag und Arbeitsschutz, Streikrecht, die Organisation von Gewerksvereinen und Hilfskassen, das Lehrlingswesen, die Fabrikgesetzgebung und nicht zuletzt das Steuerwesen. 4 Das galt auch für konservative Sozialreformer wie Hermann Wagener und Theodor Lohmann, sowie für liberale Parlamentarier wie Schultze-Delitzsch und Max Hirsch, die nicht im VfS organisiert waren (Tennstedt [1997], S. 20).
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letarische Elend führten dazu, dass der freihändlerische Glaube an die Selbstregulierungskräfte des Marktes und seine gesellschaftsintegrierende Kraft rapide schwand. Die wenig später auch in der Landwirtschaft einsetzende Absatzkrise verstärkte die um sich greifende Skepsis zusätzlich. Auch die liberale Sozialpolitik der vorangegangenen Jahre wurde jetzt zur Zielscheibe der Kritik. Sie galt nicht nur als unzureichend, um die gesellschaftlichen Folgewirkungen der Krise aufzufangen, sondern wurde sogar als Mitverursacherin der Misere ausgemacht.1 Der Ruf nach dem starken Staat, nach seinen regulierenden Eingriffen in das Sozial- und Wirtschaftsleben, war sozusagen der positive Ausdruck der allgemeinen Diskreditierung der freihändlerischen Positionen und er wurde im Fortlauf der Krise immer unüberhörbarer. Selbst im „Volkswirtschaftlichen Kongress“, einst Hüter der „reinen Lehre“ des Wirtschaftsliberalismus, war protektionistisches Gedankengut auf dem Vormarsch, und im VfS artikulierte sich mehr denn je die Überzeugung, dass die Brisanz der „sozialen Frage“ entschiedene staatliche Eingriffe erforderlich mache.2 Gleichwohl lief noch bis in die Mitte der 1870er Jahre jedes Mitglied des Vereins, das in der Öffentlichkeit für ein vermehrtes staatliches Engagement im Bereich der Sozialpolitik eintrat, Gefahr, als Sozialistenfreund abgestempelt zu werden.3 Diese undifferenzierte Außenwahrnehmung der „Kathedersozialisten“ verdeckte jedoch die Tatsache, dass es auch innerhalb des Vereins weit auseinandergehende Meinungen zu der Frage gab, wo die staatlichen Eingriffe ansetzen und vor allem wie weit diese reichen sollten. Nicht das „Ob“ war also strittig, sondern das „Wie“. In den internen Lagerkämpfen standen sich „konservative“ Sozialreformer, die den Hauptzweck ihrer Bemühungen darin sahen, die Gesellschaft zu einen, „liberalen“ Sozialpolitikern gegenüber, die danach strebten, dem Individuum als Träger des sozialen Geschehens die Möglichkeit zur freien Entfaltung und Selbstbestimmung zu verschaffen.4 In der Frage, wo die Staatshilfe ansetzen sollte, waren immer noch zahlreiche Konzepte im Umlauf, die auf eine Stärkung der Selbsthilfekompetenzen abzielten.5 Aber die Organisations- und Wahlerfolge der Sozialisten hatten doch 1 So verfolgte das konservative Bildungsbürgertum z.B. die während der Krise anwachsenden, sich frei im gesamten Reich bewegenden „Bettler- und Vagantenheere“ mit Schrecken und forderte die Aufnahme des polizeilichen Arbeitszwangs ins UWG (Sachße/Tennstedt u.a. [2000], S. XXXVIII). 2 Lindenlaub [1967], S. 91. 3 Vgl. hierzu Treitschkes gegen Schmoller verfasste Schrift „Der Socialismus und seine Gönner“ aus dem Jahre 1875 (Nipperdey [1998a], S. 336). 4 Wie Lindenlaub hervorhebt, korrespondierte die Eingruppierung in „konservative“ und „liberale“ Sozialpolitiker dabei nur zum Teil mit den parteipolitischen Bindungen der jeweiligen Vereinsmitglieder (Lindenlaub [1967], S. 86). 5 Selbst der sozialpolitische Berater Bismarcks, Theodor Lohmann, der anknüpfend an entsprechende Vorüberlegungen Hermann Wageners seine Vorstellungen außerhalb des VfS von einem protestan-
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dazu geführt, dass sozialpolitische Lösungsansätze, die ihre Hoffnungen auf die gesetzliche Regelung der freien Konfliktaustragung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern setzten, und solche, die den Ausbau des Arbeitsschutzes für vordringlich hielten, schon bald für politisch nicht mehr opportun gehalten wurden.1 In Bezug auf die Frage nach der erforderlichen und politisch gerechtfertigten Eingriffsintensität staatlicher Maßnahmen kann das Spektrum der im Verein vertretenen Ansichten an zwei weit auseinanderliegenden Positionen verdeutlicht werden. Den einen Pol vertrat der süddeutsche Liberale Lujo Brentano. Nach seiner Auffassung verdienten die Interessen des Einzelnen sowohl aus moralischen als auch aus Zweckmäßigkeitsgründen den höchsten Schutz des Staates. Das geeignetste Mittel, die soziale Ungleichheit abzutragen, die nicht nur die gesellschaftliche Einheit, sondern auch eine gedeihliche Fortentwicklung der Volkswirtschaft bedrohe, sah er in der uneingeschränkten Zubilligung der Koalitionsfreiheit an die Arbeiterschaft. Für Brentano hing der kulturelle Fortschritt einer Gesellschaft unmittelbar zusammen mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, die man seinen schwächsten Gliedern zubilligte. Schon mit Bezug auf die geplante Einführung der staatlichen Sozialversicherung äußerte er sich 1881: „Allein es giebt keinen anderen Weg, dieses Ziel [die Einbeziehung der unteren Klassen in die Kultursegnungen der höheren Klassen, J.R.] zu erreichen, als indem man auch die Angehörigen der unteren Klassen wirtschaftlich unabhängig macht. Erst dann können auch sie zu sittlicher, religiöser und geistiger Freiheit gelangen, und erst damit kann ihr Interesse geweckt werden für diese Freiheit, in der eine der Haupterrungenschaften unserer Cultur besteht, auf der diese beruht und ohne deren Fortbestand sie nicht denkbar ist. Wenn nun darin, daß die geplante und theilweise schon angebahnte Neugestaltung der Wirthschaftsordnung das gerade Gegentheil dieser wirthschaftlichen Unabhängigkeit schafft, das für sie Charakteristische besteht, so scheint damit augenscheinlich, daß sie die Erreichung des Ziels, nämlich die Wahrung unserer Cultur, geradezu ausschließt, statt dieselbe sicherzustellen.“2
Ganz anders ließ sich der konservative Sozialreformer Adolph Wagner vernehmen.3 In seiner „Allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ von 1876 brachte er seine bisherigen volkswirtschaftlichen und staatstheoretischen Überlegungen mit der Formulierung des „Gesetzes der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeiten“
tisch-konservativen Standpunkt her entwickelte, trat für Selbstorganisation, Eigeninitiative und Arbeiterschutz ein (Nipperdey [1998a] und Tennstedt [1997], S. 26 ff.). 1 A.a.O., S. 20 u. vom Bruch [1985], S. 76. 2 Brentano [1881], S. 104. 3 Wagner, der wie Brentano zur Gründergeneration des VfS gehörte, galt als einer der wichtigsten Systematiker und Theoretiker der „bürgerlichen Sozialreform“. Zur Person und zum Wirken Adolph Wagners vgl.: Deutsche Biographische Enzykolpädie, Band 10, München 1999, S. 277.
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auf den Punkt.1 Wagner wandte sich in seinem Lehrbuch – wie es unter den Vertretern der historischen Schule üblich war – dezidiert von all jenen Staatstheoretikern ab, die den Bereich der Staatstätigkeit und seine Grenzen a priori feststellen zu können glaubten.2 Dennoch vertrat er den Standpunkt, dass „erfahrungsmässig aus zeitlichen Vergleichen, sowohl als auch aus der Vergleichung der Staaten und Volkswirtschaften auf verschiedenen Entwicklungsstufen, mithin aus räumlichen Vergleichen, eine bestimmte Entwicklungstendenz oder ein sogen. Gesetz der Entwicklung der Staatsthätigkeiten für Culturvölker abgeleitet werden“ könne. „Dieses Gesetz“, so fuhr er fort, „giebt wenigstens die Richtung an, in welcher sich im concreten Falle muthmasslich ebenfalls und mit Recht die Staatsthätigkeit bewegen, daher namentlich die staatliche Gesammtwirthschaft gegenüber den anderen Wirthschaften ausdehnen wird.“3 In eher herkömmlicher Weise unterschied Wagner die Zielsetzungen staatlichen Handelns in zwei Hauptzwecke: den Rechts- und Machtzweck und den Kultur- und Wohlfahrtszweck.4 Ungeachtet der Tatsache nun, dass es im zweiten Bereich sehr viel stärkere räumliche und zeitliche Differenzen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften gebe, sei die Tendenz zu einer Ausdehnung staatlichen Handelns sowohl im Bereich des Rechts- und Machtzweckes als auch im Bereich des Kulturund Wohlfahrzweckes unverkennbar.5 Bei dieser Behauptung blieb Wagner allerdings nicht stehen. Er nahm für sich in Anspruch, auch die Bedingungen, unter denen es notwendig oder ratsam sei, eine Tätigkeit dem Staat zu übertragen, wie auch die Art und Weise, in welcher der Staat diese Tätigkeiten ausüben sollte, auf der Grundlage vergleichender Beobachtungen bestimmen zu können.6 In Bezug auf den Machtzweck führte er hierzu aus: 1 Wagner [1876]. Zur Bedeutung von Wagners „Gesetz“ für die Ausbildung des Sozialstaats vgl.: Ritter [1991], S. 76 f. Mit seinem 1881 in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ publizierten Beitrag unter der Überschrift „Der Staat und das Versicherungswesen“ wurde Wagner auch zum Vordenker des so genannten Munizipalsozialismus (a.a.O., S. 77 u. Abelshauser [1994], S. 202). 2 Konsequenterweise verurteilte er sowohl Konzepte, die die absolute Machtfülle des Staates zum Ideal erhoben (Absolutismus, Kommunismus), als auch solche, die im Staat eine reine Rechtsschutzinstanz erblickten („Manchestertheorie“) (Wagner [1876], S. 248 u. 250). 3 A.a.O., S. 252. Hervorhebungen im Original. 4 Für Wagner zählte der Staat neben Natur, Arbeit und Kapital zu den wichtigsten Produktivfaktoren der Volkswirtschaft. Er sah in ihm einen zentralen Verteilungsregulator, der die Regelungsmechanismen von Konkurrenz und Herkommen ergänze (a.a.O., S. 246 f.). 5 Unter „Ausdehnung“ verstand Wagner dabei einerseits eine Intensivierung bisher schon vom Staat ausgeübter Tätigkeit und andererseits die Übernahme von Aufgaben, die bisher von anderen Gemeinund Privatwirtschaften erbracht worden waren. 6 Zu den Gründen der kontinuierlichen Ausdehnung der Staatsaufgaben im Bereich des Kultur- und Wohlfahrtszwecks rechnete Wagner 1. die Notwendigkeit einer räumlichen oder zeitlichen Konzentration und systematische Einheitlichkeit bei der Aufgabenerledigung, 2. das Bedürfnis nach immer „vollkommeneren“, feineren und höheren Leistungen, 3. das wachsende sachliche Interesse, bei be-
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„Je höher die Volkswirthschaft und die Cultur entwickelt sind, je weiter namentlich auch die Arbeitstheilung, national und international, gediehen, je complicirter die Verhältnisse und Formen des Verkehrs werden [...], desto nothwendiger wird die Prävention, weil die einmal eingetretene Rechtsstörung viel schädlicher wirkt. Das Bedürfnis nach umfassendster Präventivthätigkeit des Staats wird daher mit dem Fortschritte des Volks und seiner Wirthschaft immer dringlicher.“1
Die Schwerpunktverlagerung vom Repressiv- zum Präventivprinzip, das stand für Wagner außer Frage, setze einen Eigendynamik in Gange, die zu einer immer weiteren Ausdehnung und Intensivierung der Staatstätigkeit führe.2 Im Rückblick fällt es nicht eben leicht, der von Wagner geschilderten Dynamik viel Positives abzugewinnen. Seine Ausführungen waren jedoch alles andere als kritisch gemeint. Wagner war es mit seinem Gesetz über die Ausdehnung der Staatstätigkeit gelungen, eine erste bündige und äußerst einflussreiche theoretische Grundlegung des Interventionsstaates zu formulieren, die auch für die Ausgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge und die Postulierung der staatlichen Eingriffsbefugnisse in die familiale Erziehung von großer Bedeutung werden sollte. Wie einflussreich seine Überlegungen und Lehrsätze tatsächlich waren, stellte sich in vollem Umfang allerdings erst nach der großen Wende von 1878/79 heraus.3 Die Gründe der innenpolitischen Wende Ende der 1870er Jahre und des gleichzeitigen Bruchs des Bündnisses zwischen Obrigkeitsstaat und Bürgerliberalismus waren äußerst vielschichtig.4 Die historische Forschung hat sich ausgiestimmten Leistungen das Gewinnstreben hintanzustellen und schließlich 4. den immensen Kapitaleinsatz, der zur Bereitstellung von Einrichtungen zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse erforderlich sei. 1 A.a.O., S. 276. 2 Das System von Maßregeln und Einrichtungen zur Prävention werde, so ereiferte sich Wagner, „immer grossartiger, complicirter, künstlicher, braucht immer mehr und bessere Arbeitskräfte und Kapitalien, erheischt deswegen einen immer grösseren regelmässigen Finanzbedarf und eine diesen beschaffende umfänglichere Anwendung der Besteuerung, setzt daher auch stärkeres Volkseinkommen und Volksvermögen voraus.“ A.a.O., S. 277, Hervorhebungen im Original. Wagner hatte bei solchen Äußerungen v.a. das Militärwesen vor Augen. Bemerkenswerterweise bezog er aber auch die Strafrechtspflege in seine Überlegungen ein (a.a.O., S. 265 f.). 3 Zwar kann sich der Einfluss des Bismarckbewunderers Wagner auf die Gestaltung des deutschen Sozialstaatsmodells nicht mit demjenigen der Kanzlerberater Hermann Wagener und Theodor Lohmann messen. Unter den „Kathedersozialisten“ war er jedoch einer der wenigen, der mit seinem volkswirtschaftlichen Überlegungen überhaupt in nennenswerter Weise auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik des Reiches einwirkte. Wie Wagener, dessen lutherische Wertvorstellungen und sozialkonservative Grundhaltung er teilte, machte er dabei theoretische Anleihen beim Vordenker des „Staatssozialismus“ Karl Rodbertus (Tennstedt [1997], S. 24 u. Deutsche Biographische Enzykolpädie, Bd. 10, München 1999, S. 277.). 4 Nipperdey fasst die Ursachen der „großen Wende“ unter sechs Punkten zusammen: 1. Bismarcks Bestreben, das von ihm vertretene monarchistisch-parlamentarische Regierungssystems durch eine
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big mit ihnen befasst und sie kontrovers diskutiert. Einige, wie die öffentliche Diskreditierung des Wirtschaftsliberalismus, das Aufkommen der Zollschutzforderungen und die stark differierenden Auffassungen im Umgang mit dem Sozialismus, sind bereits angeschnitten worden. Es würde im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen, auf die Motive und Ursachen der großen innenpolitischen Zäsur von 1878/79 im Detail einzugehen. Hier sollen nur mit Nipperdey kurz die wichtigsten Konsequenzen der Wende festgehalten werden: „Sozialistengesetz, Zölle, Interventionsstaat, Verbändepluralismus, Befestigung des autoritären Staates, Zähmung des Liberalismus, so kann man das Ergebnis charakterisieren. Das autoritäre System der Regierung, unabhängig von Parlament und Parteien, hat sich stabilisiert. Die Konservativen gewinnen eine wirkliche und solide Wählerbasis. Die Parteien werden – gegenüber Regierung und Interessensverbänden – schwächer, verlieren an Integrations- und Kooperationsfähigkeit, an Initiative und Perspektive. Das sind die langfristig wichtigsten Ergebnisse der Krise.“1
Mit der Wende von 1878/79 war auch in der Sozialpolitik die liberale Epoche definitiv zu Ende gegangen. Schon die Wahlen von 1877 hatten zu einer entscheidenden Schwächung der „Doctrinairs“ vom linken Flügel der Nationalliberalen Partei geführt. Ein Jahr zuvor war Delbrück, der wichtigste Exponent der liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik, als Kanzleramtschef zurückgetreten. Das 1878 mit den Stimmen der Nationalliberalen verabschiedete Sozialistengesetz stellte für die Partei eine erste schwerwiegende Zerreißprobe dar.2 Vollends zerbrach die liberale Einheit schließlich an der Schutzzollfrage: Als im Sommer 1879 die Industrie- und Agrarzölle zur Abstimmung im Reichstag kamen, votierten nur noch einige wenige Nationalliberale gegen den neuen protektionistischen Kurs.3 Die Abspaltung des linken Parteiflügels in der „Sezession“ war nun nicht mehr aufzuhalten. Wenig später zeichneten sich bereits die Umrisse einer neuen, konservativen Sozialpolitik ab, die Bismarck in Ergänzung zu den SozialistengeAbspaltung des linken Flügels der Nationalliberalen, der von seinen Forderungen nach einem Ausbau des parlamentarischen Systems nie abgerückt war und auf eine baldige Thronfolge hoffte, zu stabilisieren. 2. Die Differenzen zwischen Bismarck und der von rechtsstaatlichen Skrupeln geplagten Mehrheit der Liberalen im Abwehrkampf gegen den Sozialismus. 3. Die Bismarcksche Finanzpolitik, die darauf abzielte, dem Reich neue Finanzquellen zu erschließen und es damit sowohl gegenüber den einzelnen Staaten als auch gegenüber dem Parlament unabhängiger zu stellen. 4./5. Die durch die Wirtschaftskrise bedingte allgemeine antiliberale Stimmung in der Bevölkerung sowie die Schutzzollagitation der wirtschaftlichen Interessensverbände, die Bismarck bereitwillig aufgriff, um seine finanzpolitischen Ziele zu verwirklichen. Und schließlich 6. Das Scheitern des „Kulturkampfes“, das neue politische Bündnisse und parlamentarische Mehrheiten in den Bereich des Möglichen rückte (Nipperdey [1998b], S. 382 ff.). 1 A.a.O., S. 406. 2 Ullrich [1999], S. 60. 3 Stürmer [2004], S. 224.
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setzen entworfen hatte. Anders als die Mehrheit der von den „Kathedersozialisten“ entwickelten Konzepte zielte diese nicht auf eine Humanisierung der industriellen Arbeitswelt ab und war schon gar nicht als Hebel zu einem fortschrittlichen Umbau der Gesellschaft gedacht. Sie stellte hauptsächlich und zuallererst ein Mittel der von Bismarck betriebenen „konservativen Stabilisierungspolitik“ dar.1 Etwa zeitgleich mit dem Beginn der „aktiven Phase“ in der Sozialpolitik des Reiches verlor der VfS in der öffentlichen Meinungsbildung und bei der Anregung sozialpolitischer Maßnahmen an Bedeutung.2 Am Zustandekommen der Sozialgesetzgebung war der Verein nur sehr am Rande beteiligt.3 Die weitere Entwicklung des VfS war durch den Rückzug aus der Tagespolitik und die gleichzeitige Hinwendung zu sozialwissenschaftlichen Methodenfragen gekennzeichnet, bevor die Organisation im Zuge der neuerlichen innenpolitischen Kurskorrektur Ende der 1880er Jahre ihre frühere Bedeutung als sozialpolitischer Impulsgeber für kurze Zeit zurückerlangte. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – der VfS sich vom sozialreformerischen „Stoßtrupp“ zur „akademischen Publikationsgesellschaft“4 gewandelt hatte, blieb er in dieser Übergangszeit als geistiges Zentrum der bürgerlichen Reformbewegung von enormer Wichtigkeit. Das thematische Spektrum und die organisatorische Basis der Sozialreform hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich verbreitert. In den größeren Städten Deutschlands hatte sich die Reformbewegung zu einem unübersichtlichen Geflecht aus privatwohltätigen Organisationen, gesundheits- und wohnungspolitischen Initiativen, jugendpflegerischen Projekten, Sittlichkeitsvereinen und mehr oder weniger einflussreichen Gesprächszirkeln ausgewachsen – begleitet von einer ausufernden Publizistik, die in Umfang und wissenschaftlichem Anspruch eine große Bandbreite abdeckte. All diese Bemühungen verband, dass sie das herrschende bürokratischmonarchische Verfassungssystem als politischen Bezugsrahmen nicht in Frage stellten. Von den traditionellen Lösungsansätzen der „sozialen Frage“ unterschied sich die „neue“ Bewegung jedoch neben ihrer Staatszentrierung zum einen darin, dass sie fast ausschließlich im Bildungsbürgertum verankert war5 und zum anderen dadurch, dass sie den klassenpolitischen Charakter der Konflikte 1
Ullrich [1999], S. 72. Vgl.: vom Bruch [1985], S. 81. In den Debatten des VfS hatte die Sozialversicherung zwar von jeher eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Durch die innenpolitische Wende war jedoch auch der bisher geübten Praxis, durch sachbezogene Resolutionen bestimmte legislative Regelungen oder staatlich zu initiierende Untersuchungen anzuregen, die Grundlage entzogen. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 In früheren Jahrzehnten waren auf lokaler Ebene auch zahlreiche soziale Initiativen und Maßnahmen von Unternehmern und Industriellen ins Leben gerufen worden. 2
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der sich ausbildenden Industriegesellschaft als feststehenden Ausgangspunkt ihrer Reformvorschläge anerkannte. Neben dieser Ausbreitung des Gedankengutes der „Kathedersozialisten“, welche die bürgerliche Sozialreform erst eigentlich zu einer Bewegung formte, gab es Versuche, die einzelnen Initiativen auf überregionaler und nationaler Ebene unter thematischen Gesichtspunkten zusammenzuschließen. Auf diesem Wege entstand bald eine organisatorische Ebene, die zwischen dem VfS, als geistigem Zentrum der Bewegung, und den ungezählten lokalen Veranstaltungen und Vereinen angesiedelt war. Zwei dieser reichsweiten Zusammenschlüsse im Bereich der Sozialreform seien hier erwähnt. Bereits 1873 wurde der „Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ (DVöG) gegründet, der sich unter einer dezidiert sozialen Perspektive der Gesundheitsfürsorge widmete.1 1881 folgte dann die Errichtung des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“ (DVAW).2 Neben der thematischen Spezialisierung war für beide Organisationen kennzeichnend, dass hier nicht die Sozialwissenschaftler und Volkswirtschaftsprofessoren, sondern vor allem die in der Stadtverwaltung tätigen, akademisch gebildeten höheren Beamten den Ton angaben.3 Im Falle des DVöG handelte es sich dabei typischerweise um Mediziner und Ingenieure, beim DVAW regelmäßig um Ökonomen und Juristen.4 Aus dieser Zusammensetzung ergab sich eine doppelte Konsequenz: Zum einen eine im Vergleich zum VfS deutlich pragmatischere Herangehensweise an die verhandelten Gegenstände.5 Zum anderen ein starker Bezug auf die kommunale Ebene. Auch viele der vom DVöG und DVAW verabschiedeten Resolutionen enthielten Vorschläge zu Gesetzesreformen. Aber der Ausbau, die Reorganisation und die Optimierung der kommunalen Daseinsvorsorge auf dem Wege der Verwaltungsreform traten zunehmend in den Vordergrund der Verbandsaktivitäten. 1
A.a.O., S. 90. Vgl. zur Geschichte des DVAW in zeitgenössischer Perspektive: Münsterberg [1905]. Zur sozialen Struktur des DVöG vgl.: Brand [1986], S. 67. 3 Während Anfang der 1880er Jahre im VfS die Professoren bereits ein Drittel der Mitglieder stellten (vom Bruch [1985], S. 81), befand sich unter den Konferenzteilnehmern der Jahresversammlung des DVAW von 1884 nur ein einziger Gelehrter (Präsenzliste der Jahresversammlung des DVAW von 1884 in: Stenogr. Berichte DVAW 1884). 4 Anders als es der Vereinsname vermuten lässt, hatte die Privatwohltätigkeit – sowohl was die Mitgliederzahlen als auch was den Einfluss ihrer Vertreter auf den Jahresversammlungen angeht – von Anfang an im DVAW nur eine untergeordnete Rolle gespielt. 5 So stellte beispielsweise Münsterberg als ein besonderes Charakteristikum der vom DVAW veröffentlichten Vereinsschriften heraus, „daß es sich fast in keinem Falle um rein theoretische Auseinandersetzungen handelt, sondern daß durchweg die praktische Seite der Fragen in gleichem, wenn nicht in höherem Maße berücksichtigt wird. Immer sind es Männer, die durch langjähriges Studium mit den Fragen vertraut, in der lebendigen Praxis stehen und vor uferlosen und unausführbaren Plänen dadurch bewahrt werden, daß sie die Mäßigung besitzen, welche die Praxis dem Verwaltungsbeamten gewissermaßen anerzieht.“ Münsterberg [1905], S. 20. 2
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4.2.2 Die Erfahrungen mit dem preußischen Zwangserziehungswesen als Hintergrund der Debatte im DVAW Während die Ablösung liberaler Sozialpolitik durch den konservativen Interventionsstaat und die zeitgleich an Kraft gewinnende bürgerliche Reformbewegung den unausgesprochenen Kontext der DVAW-Debatte zur staatlichen Eingriffsbefugnis in die elterlichen Erziehungsrechte lieferten, so stellte ein noch recht junges Feld der Strafrechtspflege den Referenzrahmen dar, auf den sich die Diskutanten fortlaufend beriefen: die preußische Zwangserziehung straffälliger Kinder. Die Zwangserziehung war zwar das vorläufige Ergebnis einer in erster Linie strafrechtspolitisch motivierten Reformanstrengung gewesen, deren historischen Wurzeln bis in den Vormärz zurückreichten.1 Dass das Thema aber schon so frühzeitig von den Vertretern der kommunalen Armenpflege aufgegriffen wurde, hatte mehrere handfeste Gründe. Der Anlage und dem Wesen nach handelte es sich beim pr. ZEG von 1878 um ein reines Ausführungsgesetz zu den jugendstrafrechtlichen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuchs (RStGB) in der Fassung von 1876. Die Bestimmungen des RStGB, die sich auf den Umgang mit jugendlichen Straftätern bezogen, waren in den §§ 55 bis 57 zusammengefasst. In der ursprünglichen Fassung besagten diese, dass
Kinder unter zwölf Jahren gänzlich strafunmündig sind (§ 55 RStGB), 12-18-Jährige nur dann verurteilt werden sollten, wenn sie die Einsichtsfähigkeit in die Strafbarkeit ihrer Handlungen besaßen, bei Verneinung dieser Frage aber in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt überwiesen werden konnten (§ 56 RStGB) und schließlich in Bezug auf für schuldig befundene Jugendliche, dass diese in Form von Verweisen und Gefängnishaft bestraft werden sollten, wobei letztere Sanktion bis zu einer Maximalhöhe von 15 Jahren ausgedehnt werden konnte und in speziellen Jugendabteilungen zu vollziehen war.2
Während der § 56 RStGB lediglich die – ursprünglich dem französischen „Code Penal“ entlehnte – „discernement“-Bestimmung des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 übernahm und die Altersobergrenze der eingeschränkten Strafmündigkeit von 16 auf 18 Jahre anhob, war die Festsetzung der unteren Strafmündigkeitsgrenze auf zwölf Jahre für die meisten deutschen Teilstaaten ein No-
1 2
Oberwittler [2000], S. 60. Malmede [2002], 93 ff. u. Peukert [1986], S. 69 f.
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vum.1 Die Einführung der Strafunmündigkeit von Kindern, die auf entsprechende Empfehlungen aus der Preußischen Deputation für das Medizinalwesen zurückging, erregte den Ärger derjenigen Berufsgruppen, die mit devianten Kindern am häufigsten in Berührung kamen und sich eines wirksamen Sanktionsinstruments enthoben sahen: der Lehrer und Geistlichen.2 Ihre gegen den § 55 RStGB gerichteten Petitionen hatten im Februar 1876 Erfolg. Durch eine Gesetzesnovelle wurde der § 55 RStGB dahingehend ergänzt, dass gegen Kinder unter zwölf Jahren, die eine strafbare Handlung begangen hatten, „nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden“ können.3 Preußen war der erste deutsche Staat, der vom Ländervorbehalt Gebrauch machte und 1877 ein „Gesetz, betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder“ (pr. ZEG) erließ, das am 1. Oktober des Folgejahres in Kraft trat. Im Unterschied zu den in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre erlassenen Zwangserziehungsgesetzen anderer Länder, auf die weiter unten noch detaillierter einzugehen ist, hielt sich das Gesetz eng an die reichsrechtlichen Bestimmungen und machte eine strafbare Handlung zur Voraussetzung der Zwangserziehung. Es schränkte den durch das RStGB eröffneten Spielraum sogar noch weiter ein, indem es die Anordnung der Zwangserziehung für Kinder unter sechs Jahren gänzlich ausschloss und die Anordnung der Maßnahme zusätzlich davon abhängig machte, dass die elterliche Erziehung und die allgemeinen Lebensverhältnisse keine genügende Gewähr gegen die fortschreitende „sittliche Verwahrlosung“ boten.4 Der anfängliche Elan, der die Phase der Gesetzesinitiierung geprägt hatte – Geheimrat Illing, einer der entschiedensten Verfechter des preußischen Zwangserziehungswesens, hatte im Herrenhaus den Regierungsentwurf als „erste[n] Schritt zur Lösung der sozialen Frage“5 bezeichnet –, war bei der Verabschiedung des pr. ZEG bereits verflogen. Der Grund hierfür lag nur zum Teil im zähen Ringen zwischen Regierung, Herrenhaus und Abgeordnetenkammer um Detailfragen, das den Gesetzgebungsprozess bestimmt hatte. Der unverhohlene Staatsoptimismus, der in Illings Formulierung zum Ausdruck kam, rief auch die konservativen und klerikalen Kritiker des Gesetzes auf den Plan. Selbst ausgewiesene Experten der bürgerlichen Sozialreform meldeten Bedenken gegen die rhetorische Propaganda der preußischen Regierungsvertreter an. So wies etwa 1 Oberwittler [2002], S. 129. In Hamburg verhielt es sich etwas anders, da im Kriminalgesetzbuch von 1869 die generelle Nichtzurechnungsfähigkeit von Kindern bis zum 14. Lebensjahr angenommen wurde (Art. 25, 4 a), während man das „jugendliche Alter“ nur bei der Strafzurechnung berücksichtigte (Art. 58 a). Vgl.: Gesetzsammlung FHH 1869, S. 132 ff. 2 Malmede [2002], S. 94 u. S. 112. 3 Zit. nach: A.a.O., S. 113. 4 Peukert [1986], S. 71. 5 Zit. nach: Malmede [2002], S. 115
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der Bremer Redakteur und Publizist August Lammers in seiner Kommentierung des pr. ZEG darauf hin, „daß das weite Gebiet der sogenannten socialen Frage hier doch nur in einem ganz kleinen Ausschnitt und obendrein an seiner äußersten Grenze berührt wird. Man kann sogar zweifeln, ob die „verwahrlosten Kinder“ überhaupt hineinfallen. Der Socialismus kümmert sich jedenfalls nicht um sie. [...] Sein Stoff ist die Lohnarbeit. Um die Arbeitsunfähigen, die Verkrüppelten, die Witwen und Waisen sich zu bekümmern überläßt er jenen Menschenfreunden, die die Liebe zum Nächsten nicht lediglich en gros debitiren.“1 Als sich die Mitglieder des DVAW im Oktober 1884 zu ihrer Jahrestagung in Weimar trafen, um sich zum ersten Mal eingehender mit Fragen der kommunalen Kinder- und Jugendfürsorge auseinanderzusetzen, konnten sie ziemlich exakt auf eine sechsjährige praktische Erfahrung mit dem pr. ZEG zurückblicken. Diese Erfahrungen – und vor allem die Beurteilung dieser Erfahrungen – fielen alles andere als einheitlich aus. Es gab auf der einen Seite Skeptiker, denen das Gesetz zu weit ging und die vor dem Ausufern finanzieller Lasten und staatlicher Eingriffe in die bürgerliche Privatsphäre warnten, und auf der anderen Seite „Sozialreformer“, die den reaktiven Charakter des Gesetzes beanstandeten, weil ihnen die Eingriffsbefugnisse viel zu begrenzt erschienen. Tatsächlich hatte es bei der Implementierung des Gesetzes einige „Anlaufschwierigkeiten“ gegeben, die neben der behördlichen Unkenntnis der rechtlichen Bestimmungen vor allem mit der Befürchtung der Gemeinden zusammenhingen, sie würden zur Zahlung der aus der Zwangserziehung entstehenden Unterbringungskosten herangezogen.2 Nachdem jedoch die „Innere Mission“ unter den Betreibern der evangelischen Rettungshäuser die Werbetrommel für das Gesetz gerührt hatte und durch einen Zirkularerlass des preußischen Innenministeriums vom Sommer 1880 endlich auch die finanziellen Bedenken der Kommunen aus dem Weg geräumt worden waren, wuchs die Zahl der aufgrund des § 55 RStGB neu eingewiesenen Zwangserziehungszöglinge stark an.3Der rapide Anstieg der Fallzahlen ab 1880 wiederum weckte unter kritischen Beobachtern den Argwohn, dass die Gemeinden dazu übergegangen sein könnten, armenrechtlich unterstützungsbedürftige Kinder in Zwangserziehung zu bringen, um sich so bequem ihrer finanziellen Lasten zu entledigen. 1
Lammers [1878], S. 73. August Lammers war sowohl verbandlich als auch publizistisch v.a. in der Mäßigungsbewegung aktiv. Lange Jahre hindurch war er als Vorsitzender des „Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ tätig (Lees [2002], S. 203 f.). Auch bei der Gründung des DVAW hatte er allerdings eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Im VfS trat er wiederholt als Experte für Fragen der Armenfürsorge auf (Boese [1939], S. 46 u. 48 u. Münsterberg [1905], S. 2). 2 Peukert [1986], S. 117. 3 Für ganz Preußen lagen die Einweisungszahlen im Zeitraum 1.10.1878 bis 1.04.1880 bei 612. 1881 stiegen dann die Fallzahlen sprunghaft auf 2.752 an, um in den Folgejahren wieder auf ein etwas moderateres Niveau abzusinken (Angaben nach: Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 73).
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Schon sehr früh war also in Preußen die Ausdehnung der Zwangserziehung mit einem unterschwelligen Finanzierungsstreit verbunden gewesen, und dieser Streit sollte die gesamte weitere Entwicklung der preußischen öffentlichen Jugendfürsorge begleiten. Tatsächlich waren die Klagen über eine kommunale Abwälzung von Armutslasten auf den Staat auch in diesen frühen Jahren nicht ganz aus der Luft gegriffen.1 Möglich geworden war dieses Manöver aber erst durch die zum Teil sehr extensive Auslegung der Rechtsnorm durch die preußischen Vormundschaftsgerichte. In vielen Fällen bereitete es den lokalen Behörden offensichtlich keine größeren Schwierigkeiten, die Vormundschaftsrichter von der drohenden „sittliche Verwahrlosung“ eines Kindes durch das Elternhaus zu überzeugen, und da eine Übertretung nach § 360 ff. RStGB, wie Bettelei, schon ausreichte, um auch die zweite Voraussetzung zu erfüllen, wurde von Skeptikern vermutet, dass eine strafbare Handlung vielfach nur fingiert werde, um den Eingriff zu rechtfertigen.2 Ungeachtet des strafrechtlichen Ursprungs des pr. ZEG war der unbestimmte Begriff der „Verwahrlosung“ demnach anscheinend zum eigentlichen Kriterium der Eingriffe geworden. Diese Entwicklung wurde von all jenen begrüßt, die die Ausweitung der staatlichen Interventionsbefugnisse für das Gebot der Stunde hielten. Auf Rechtsstaatlichkeit pochende liberalen Vertreter hingegen vermochten in dieser Praxis nur gerichtliche Willkür zu erblicken, die sie an die Auswüchse des spätabsolutistischen Polizei- und Wohlfahrtsstaates erinnerte. An die Beanstandung der vormundschaftsgerichtlichen Auslegungspraxis schloss sich ein weiterer Kritikpunkt unmittelbar an: die zum Teil erheblichen regionalen Differenzen in den Überweisungszahlen. Während die durchschnittliche Einweisungsziffer für Preußen insgesamt bei 0,19 Kindern auf 1.000 Einwohnern lag, wurden in Hohenzollern und Ostpreußen nur 0,03 bzw. 0,08 Kinder überwiesen; in Pommern und Hessen-Nassau dagegen lagen die Vergleichswerte bei 0,29 bzw. 0,37.3 Selbst in benachbarten Städten, die nach Bevölkerungsumfang und Sozialstruktur vergleichbar waren, differierten die Überweisungsziffern 1 Als Reaktion hierauf hatte die Preußische Regierung 1884 die Erweiterung des Beschwerderechts auf die Kommunalverbände (als wesentliche Kostenträger der Zwangserziehung) in Anregung gebracht, war aber mit ihrem Vorstoß gescheitert (a.a.O., S. 65). 2 Vgl. die Stellungnahme des Düsseldorfer Landrats Brandts in: Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 39: „Ich möchte diejenige Behörde kennen, der es nicht gelingt, durch die Armenpfleger, Schullehrer etc. festzustellen, dass irgend ein Kind zwischen 6 und 12 Jahren, welches sie gern zur Zwangserziehung verurtheilt haben wollen, gebettelt hat, dass es in der Schule einen Griffel gestohlen oder dem Nachbar Aepfel aus dem Garten gestohlen hat, – es fällt mir ein Beispiel ein, dass ein Junge dem Hunde des Bürgermeisters des Orts nachgelaufen ist und ihn eingefangen hat. Das sind alles Fälle, die zur Zwangserziehung führen. Ich konstatire, es ist außerordentlich leicht, eine strafbare Handlung zu finden, die zur Zwangserziehung führt.“ 3 Peukert [1986], S. 118.
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zum Teil erheblich.1 Vollends ad absurdum geführt wurde die ursprüngliche Zielsetzung des Gesetzes, wenn ländliche Kreise im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung doppelt so viele Zöglinge einwiesen wie industriell geprägte Kreise. Ein weiterer Dissens in der Einschätzung des preußischen Zwangserziehungswesens jener Zeit entzündete sich an der Unterbringungsproblematik. Während in der Frage, ob der Erziehung in Anstalten oder vielmehr in Familien der Vorzug zu geben sei, in Armenpflegekreisen relativ schnell ein Konsens erzielt werden konnte und man sich auf das so genannte gemischte System einigte, blieb die pädagogisch-methodische Ausgestaltung der Anstaltserziehung lange Zeit umstritten. Preußen hatte zur Unterbringung der Zwangserziehungszöglinge in großem Umfang auf die bereits bestehenden, in der Regel konfessionell geführten „Rettungsanstalten“ aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts zurückgreifen müssen, deren pädagogisches Konzept vielen als veraltet erschien. Insbesondere an den Anstalten der „Inneren Mission“ wurden die Überfrachtung des Unterrichts mit religiösen Inhalten, die Überlastung der Kinder mit Arbeit, die Lebensferne und nicht zuletzt das Einspannen der Zöglinge für erziehungsfremde, „propagandistische Zwecke“ bemängelt.2 Ein letzter Punkt, über den sich die zeitgenössischen Beobachter des preußischen Zwangserziehungswesens Mitte der 1880er Jahre uneinig waren, betraf die Einschätzung der erzieherischen Erfolge der Zwangserziehung. Die Skeptiker rechneten vor, dass man gesicherte Anhaltspunkte über die Resultate der Zwangserziehung noch gar nicht haben könne, da Minderjährige, die mit zwölf Jahren zur Zwangerziehung überwiesen worden waren, gerade erst in größerem Umfang die Anstalten verließen. Es fehlte in ihren Augen mithin die Grundlage für eine nüchterne Bilanzierung der Wirkungen des Gesetzes.3 Den „sozialpolitischen“ Pragmatikern hingegen genügten die bisher gewonnenen praktischen Erfahrungen und die allgemeinen statistischen Angaben, um vom Erfolg des Gesetzes überzeugt zu sein.4 Sie plädierten für eine präventive Ausdehnung der Maßnahme. Die unterschiedlichen Positionen in der zeitgenössischen Bewertung der preußischen Zwangserziehungspraxis wurden hier absichtlich stark polarisierend dargestellt. Natürlich gab es Zwischentöne. Die herausgearbeiteten drei Frontli1
Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 41. Vgl. die Ausführungen des Berliner Erziehungsinspektors Poesche in: Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 49 ff. und Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 21 u. S. 57. 3 Vgl. die Stellungnahme Ebertys in: Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 71 u. Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 30, sowie die Stellungnahme Bötzows in: Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 74. Aus diesem Grund forderten sie die Erstellung einer Statistik, die das Verhalten der Zwangserziehungszöglinge nach deren Entlassung bis etwa zum 25. Lebensjahr wiedergebe. Vgl.: Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 53. 4 Vgl. hierzu Ohlys und Brants Aussagen in: A.a.O., S. 19 f. und S. 42 f. 2
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nien bildeten aber gewissermaßen die Folie, vor der sich die fachpolitische Debatte jener Tage abspielte, und die auch die im Folgenden näher zu untersuchende Auseinandersetzung im DVAW bestimmte.
4.2.3 Die Grundsatzdebatte über die Zwangserziehung „verwahrloster“ Minderjähriger Auf der vierten Jahresversammlung des DVAW, die am 13. und 14. Oktober 1884 in Weimar stattfand, bildete die Kinder- und Jugendfürsorge nicht nur den Hauptgegenstand der Verhandlungen – von insgesamt 13 Tagesordnungspunkten beschäftigten sich sieben mit der „Fürsorge für Kinder“. Es sollte auch das erste und einzige Mal sein, dass sich der Verein so eingehend und systematisch mit der Materie befasste und damit sein präventives Profil unter Beweis stellte.1 Die Behandlung schwächlicher und kranker Kinder wurde dabei ebenso erörtert wie die Einrichtungen und Maßnahmen für „aufsichtslose“ und „arbeitende“ Minderjährige. Im Zentrum der Debatten aber stand die amorphe Gruppe jener Kinder und Jugendlichen, die als „misshandelt“, „vernachlässigt“ oder eben „verwahrlost“ galten. Drei Sonderberichte waren eigens zu diesem Zweck angefordert worden: Albrecht Ohly (1829-1891), Oberbürgermeister aus Darmstadt, sprach zunächst über die Fürsorge verwaister, verlassener und „verwahrloster“ Kinder. Im darauffolgenden Referat setzte sich der Berliner Erziehungsinspektor Poesche ausführlich mit dem preußischen Zwangserziehungswesen auseinander, und im letzten Beitrag behandelte Victor Böhmert (1829-1918), Professor und Geheimrat aus Dresden, unter dem Titel „Fürsorge für vernachlässigte und misshandelte Kinder“ die Tätigkeit der Kinderschutzvereine. Alle drei Berichte waren sorgfältig vorbereitet worden und lagen dem Plenum bereits vor der Debatte in gedruckter Fassung vor. Während sich Poesche in seinem Bericht ganz auf die Ausgestaltung der Zwangserziehung nach pädagogischen Gesichtspunkten konzentrierte, sprachen sich Ohly und Böhmert mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung für eine konsequente Ausdehnung des Adressatenkreises privatwohltätiger bzw. staatlicher Jugendfürsorge aus. In seinem Vortrag konstatierte Ohly zunächst einen fortgesetzten Anstieg der Zahl „verwahrloster“ und „verlassener“ Kinder, die sich zu einer Gefahr „für das ganze öffentliche Wohl, für den Staat, für die Gemeinden, insbesondere auch für die Schulen“ auswachse.2 Bezeichnenderweise sah der Darmstädter Oberbürgermeister, der als hessischer Landtagsabgeordneter dem regierungstreuen Kurs 1 2
Münsterberg [1905], S. 31 u. 136. Zur Person und zum Wirken Albrecht Ohlys vgl.: www.ohly-familienverband.de/albrechtohly.html.
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der Nationalliberalen gefolgt war, in dieser Entwicklung eine direkte Folge der liberalen Gesetzgebung der 1860er und -70er Jahre. Er machte für die behauptete „Verwahrlosungswelle“ vor allem den Fortfall von Ehebeschränkungen, die schrankenlose Gewerbefreiheit und die Einführung des Unterstützungswohnsitzes verantwortlich.1 Ohly wandte sich dann den verschiedenen Gruppen von Minderjährigen zu, mit denen es die kommunale Armenfürsorge in der Praxis zu tun bekam. Das Hauptaugenmerk seiner Ausführungen galt dabei den „verwahrlosten Kindern“. Diese differenzierte er in gleich zweifacher Weise: Zum einen danach, ob das betreffende Kind bereits eine strafrechtliche Bestimmung übertreten hatte oder nicht, und zum anderen danach, ob die strafrechtlich unbescholtenen Minderjährigen schon „sittlich verwahrlost“ oder bloß „äußerlich vernachlässigt“ waren. Bezüglich der Kinder, die eine strafbare Handlung begangen hatten, begnügte sich Ohly mit einem Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen des RStGB, plädierte für eine konsequente Trennung in der Unterbringung von jugendlichen und erwachsenen Straftätern und forderte die einzelnen deutschen Teilstaaten auf, endlich von dem in § 55 RStGB ausgesprochenen Ländervorbehalt Gebrauch zu machen.2 Den größeren staatlichen Handlungsbedarf sah Ohly hingegen bei solchen Kindern, die noch nicht bestraft worden waren, und unter diesen galt sein Hauptinteresse wiederum jenen Minderjährigen, die er für gefährdet hielt, weil sie „äußerlich vernachlässigt“ waren. Für diese Kinder, so erklärte er, müssten unbedingt vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden. Vorgängig sei zwar zu versuchen, die Eltern mit „guten Worten und Ermahnungen“ an ihre Pflichten zu erinnern. Wenn dieses Vorgehen allerdings nicht fruchte, so müsse die Zwangserziehung auch gegen den Willen der Eltern angeordnet werden können. Einwänden gegen die präventive Stoßrichtung seiner Vorschläge baute Ohly vor, indem er analog zum Schulzwang ein prinzipielles Recht des Staates reklamierte, „Vorschriften darüber [zu] geben, daß die Kinder nicht in einer Weise erzogen werden, daß sie dem Verbrecherthum in die Arme gejagt werden, oder den Armenkassen zur Last fallen“.3 Er stellte außerdem klar, dass er mit seinen Forderungen keineswegs allein dastand, sondern entsprechende Vorschläge schon wiederholt von Pädagogen und Juristen erhoben worden seien.4
1
Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 39. Vgl. oben, S. 369 f. Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 43. 4 Ohly bezog sich dabei neben dem internationalen Gefängniskongress, der 1879 in Stockholm veranstaltet worden war und auf dem die Frage des staatlichen Umgangs mit „verwahrlosten Jugendlichen“ eine wichtige Rolle gespielt hatte, auf den Vortrag, den der Hamburger Lehrer und Schulreformer Johannes Halben auf der 25. „Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung“ in Bremen gehalten hatte. Vgl. unten S. 396. 2 3
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
Die Debatte über Ohlys Vorstöße setzte zunächst eher schleppend, dann aber mit umso größerer Lebhaftigkeit ein. Am ersten Verhandlungstag drohte die Provokation, die in den Forderungen des Darmstädter Oberbürgermeisters steckte, noch im allgemeinen Tagungsgeschäft unterzugehen. Daraufhin sah sich der Vorsitzender der Krefelder Armenverwaltung, Ludwig Friedrich Seyffardt, veranlasst, den Tagungsteilnehmern die Bedeutung und Tragweite der Forderungen seines Parteifreundes noch einmal eindringlich vor Augen zu führen.1 Als nationalliberaler Abgeordneter des preußischen Landtages und ehemaliges Mitglied jener beiden Landtagskommissionen, die zur Beratung des pr. ZEG von 1878 eingesetzt worden waren, wies er darauf hin, dass auch die preußischen Landtagsabgeordneten grundsätzlich der Auffassung gewesen seien, dass die Zwangserziehung auf die noch nicht straffälligen Kinder und Jugendlichen ausgedehnt werden müsse.2 Es sei, so brachte Seyffardt seine Position auf den Punkt, eine „Konsequenz des ersten Schrittes, daß wir auch diese Kategorie von Kindern, die noch nicht in den Brunnen gefallen sind, die aber am Rande stehen, unter unsern Schutz nehmen“.3 Seyffardts Stellungnahme hatte weitreichende und durchaus ambivalente Folgen für den weiteren Fortgang der Debatte: Einerseits war es seinem Redebeitrag zu verdanken, dass die Forderungen Ohlys nunmehr ins Zentrum der Verhandlungen rückten. Zugleich aber hatte der Schulterschluss der beiden Parteifreunde auch zur Folge, dass sich eine gleich zweifache Opposition gegen das Verlangen nach einem systematischen Ausbau der Zwangserziehung erhob: Neben dem Argwohn, mit dem moderate Sozialreformer jedweder Couleur noch immer jedem Aktionismus begegneten, der auf eine einseitige Ausdehnung staatlicher Kontroll- und Machtbefugnisse drängte, trat eine linksliberale Grundsatzkritik hervor, in der sich die tiefe Zerrissenheit des politischen Liberalismus’ jener Tage widerspiegelte. Trotz der fortwährenden Beschwörung des parteiübergreifenden Konsenses durch die Staatsinterventionisten gerieten die Verhandlungen im DVAW fast zwangsläufig in den Sog der parteipolitischen Flügelkämpfe, die nach der Wende von 1878/79 innerhalb der Nationalliberalen Partei entbrannt waren. Ohly und Seyffardt hatten sich mit ihren Stellungnahmen als Vertreter des „gouvernementalen Kurses“ zu erkennen gegeben, wie er unter Federführung von Johannes Miquel ein halbes Jahr zuvor in der „Heidelberger Er-
1
Zu Seyffarth vgl.: Münsterberg [1905], S. 14 ff. Eine entsprechende Resolution an die Reichsregierung, so meinte Seyffarth, sei im Abgeordnetenhaus nur deshalb nicht verabschiedet worden, weil auch der Regierungsvertreter, Geheimrat Illing, die Auffassung geteilt habe, wonach es sich bei dem Gesetz nur um einen „erster Schritt“ zu einer umfassenden öffentlichen Fürsorge „verwahrloster Kinder“ handeln könne. 3 Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 58. 2
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klärung“ festgelegt worden war.1 Vor diesem Hintergrund war es nicht weiter verwunderlich, dass sich ein Mitglied der „Deutschen Freisinnigen Partei“ zum profiliertesten Kritiker der Ausdehnungsbestrebungen im Zwangserziehungswesen aufschwang – und auch der Umstand, dass es sich dabei ausgerechnet um den Vertreter des Berliner Magistrats im DVAW handelte, war keineswegs ein Zufall.2 Bereits im unmittelbaren Anschluss an Seyffardts Plädoyer hatte es erste kritische Stellungnahmen gegen die Ohlyschen Vorschläge aus dem Plenum gegeben.3 Aber erst im Verlauf der auf den Folgetag verschobenen Generaldebatte sollte sich zeigen, wie umfassend und vielschichtig die Opposition gegen den Vorstoß des Darmstädter Bürgermeisters wirklich war. Nachdem Ohly noch einmal die Gelegenheit bekommen hatte, seine Forderungen zu präzisieren, ergriff zunächst der Direktor des Landarmenverbandes der Provinz Pommern, von der Goltz, und anschließend der Berliner Stadtsyndikus Eberty das Wort, um gegen dessen Forderungen Stellung zu beziehen. Während von der Goltz vor allem die Frage nach dem praktischen Bedarf einer gesetzlichen Neuregelung sowie das Problem der rechtlichen Fassbarkeit der Eingriffstatbestände aufwarf, holte Eberty zu einer sehr umfassenden und grundsätzlichen Kritik aus. Diese Kritik war dreifach dimensioniert: Eberty machte prinzipielle Bedenken gegen eine Ausdehnung der Staatstätigkeit im Bereich der familialen Erziehung geltend,
1 Mit der „Heidelberger Erklärung“ hatten sich die Nationalliberalen in allen wichtigen Fragen der Militär-, Kolonial-, Agrar-, Sozial- und sogar der Steuerpolitik dem Standpunkt der Regierung angeschlossen (Nipperdey [1998b], S. 330). Zum Heidelberger Treffen vgl. ausführlich: Tjaden [2000], S. 211 ff. 2 In seinen Lebenserinnerungen bemerkt Seyffardt im Zusammenhang mit seiner Wahl zum Vorsitzenden des DVAW im Jahr 1887: „Nun hatte der Oberbürgermeister von Forckenbeck die drei der Konstituierung vorhergegangenen Konferenzen sehr freundlich und entgegenkommend begrüßt, so daß meine Freunde gar nicht bezweifelten, daß ich leicht zurecht kommen würde, wenn ich mich an ihn oder den Bürgermeister Duncker wenden würde. Ich dürfe mich aber nicht mit dem bisherigen Vertreter von Berlin auf unseren Versammlungen, Syndikus Eberty einlassen, der sich mehrmals durch eigensinniges Verharren auf einem verschrobenen Standpunkt missliebig gemacht hatte. Das war aber alles weit gefehlt. Forckenbeck wollte ebenso wenig wie der alte Duncker. Zuletzt sagte der Erstere, ohne Zweifel durch Ebertysche Weisheit bearbeitet, der Berliner Magistrat stände auf einem andern Standpunkte als die große Mehrheit der bei uns vertretenen Städte. Er sagte nicht inwiefern, aber ich glaubte durchzufühlen, daß der bekannte politische deutsch-freisinnige Standpunkt der Berliner Verwaltung mit im Spiele war“. Seyffardt [1900], S. 263. Maximillian Forckenbeck hatte vor der innenpolitischen Wende von 1878/79 zu den prominentesten Vertretern des linken Flügels innerhalb der Nationalliberalen Partei gehört. Danach war er als Wortführer des „freien Bürgertums“ gegen die hereinbrechende Reaktion aufgetreten. Er gehörte den „Sezessionisten“ an und war Mitbegründer der „Deutschen Freisinnigen Partei“ (Nipperdey [1998b], S. 326 f. und 394). Biografische Angaben zu Eberty: Berner [1901] sowie: Meyers Konversationslexikon, Band 18, S. 231. 3 Vgl. die Stellungnahme des Leipziger Pastors Dreydorff, Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 58 f., der die Ohlyschen Vorstöße als „zu preußisch“ bzw. „zu drakonisch“ bezeichnete.
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
stellte die Ohlyschen Vorstöße aus praktischen Gesichtspunkten in Frage und problematisierte sie schließlich auch auf einer strategisch-taktischen Ebene. Die grundsätzlichen Bedenken, die Eberty gegen die Absichten, die Zwangserziehung auf die „verwahrlosten“ Minderjährigen auszudehnen, vortrug, speisten sich aus der Skepsis, ob die öffentliche Erziehung hinsichtlich Qualität und Leistung überhaupt einen Ersatz für die sittlich-naturrechlich fundierte Eltern-Kind-Beziehung darstellen könne. Gleich zu Beginn seiner Rede beschwor Eberty die Familie als „einzige und elementarste Quelle aller Bildung und Sittlichkeit“1. Aufgrund dieser natürlichen und kulturellen Bedeutung der Familie sei überall dort, wo es um staatliche Eingriffe in familiären Zusammenhänge gehe, die äußerste Zurückhaltung und Vorsicht geboten. Die Erfahrung lehre nämlich, so fuhr er in klassisch-liberaler Diktion fort, „dass das, was an Einwirkung seitens der organisirten Behörden und des Staates auf dem mehr ideellen Gebiete der Erziehung und in der Einwirkung auf das Individuum gethan werden kann, unendlich gering ist im Verhältniß zu dem, was an äußeren Machtmitteln aufgewendet wird. Sehr oft aber wird das Gegentheil bewirkt und statt Nutzen Schaden gestiftet“.2 Um zu illustrieren, was er damit meinte, griff Eberty die Beobachtung eines seiner Vorredner auf, wonach sich neben den Gemeinden auch die Eltern des pr. ZEG bedienten, um sich ihrer Pflichten zu entledigen: „Ich werde es im Übrigen vermeiden, pro patria, zu sprechen [...]. Aber ich möchte Ihnen doch mittheilen, daß seit der Zeit, wo wir in der Gesetzgebung zu Eingriffen in die private Thätigkeit und zu der Lehre von der Berechtigung des Staates, in Einzelheiten der privaten Thätigkeit einzugreifen, gekommen sind, – daß wir seit der Zeit, also etwa seit 5 Jahren, die Beobachtung haben machen müssen, daß die Ansprüche an die öffentliche Hülfe, namentlich in der Waisenpflege, von Jahr zu Jahr zugenommen haben, daß die Protokolle, in welchen Eltern einfach erklären: wir können für unsere Kinder nicht mehr sorgen – Gemeinde, komm her und übernimm die Fürsorge für sie – sich überraschend mehren. In einem Bericht von 1882/83 waren nicht weniger als 490 Kinder in Berlin als der öffentlichen Armenpflege anheimgefallen aufgeführt, weil die Eltern sich einfach gedrückt haben, um mich etwas banausisch auszudrücken [...]. Ich kann auch wiederum bestätigen, was Herr Freiherr v.d. Goltz seinerseits berichtet hat, [...] daß es auch Richter giebt, die in dieser Beziehung sich sehr entgegenkommend bewiesen haben. Mir sind persönlich Protokolle bekannt, die nachher zur Entscheidung durch die Beschwerdeinstanz geführt haben, wo ein Vater an das Gericht kam und sagte: ich kann meinen Jungen, weil er nicht gut thut, nicht länger erziehen; ich bitte, ihn der Zwangserziehung zu überweisen. Das Protokoll wurde einfach herübergegeben und dann gesagt: sei so gut, hier ist der Junge, nun übernimm ihn.“3 1
A.a.O., S. 70. Ebd. 3 A.a.O., S. 70 f. 2
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In der linksliberalen Grundsatzkritik, die Eberty hier formulierte, verschränkte sich also die Befürchtung, der Staat könne seine Machtvollkommenheit in absolutistischer Manier missbrauchen, mit dem Bedenken, die staatlichen Maßnahmen würden über kurz oder lang das elterliche Verantwortungsgefühl untergraben und so der missbräuchlichen Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und Einrichtungen durch die Bevölkerung Vorschub leisten. Es ist wichtig, diesen doppelten Einwand festzuhalten, weil die Bedenken gegen eine Ausdehnung staatlicher Machtbefugnisse und die Befürchtung einer staatlichen Überlastung mit materiellen und ideellen Aufgaben und Verpflichtungen aus linksliberaler Perspektive in Wirklichkeit nur zwei unterschiedliche Facetten des gleichen Problems darstellten. Gerade dem Argument der Unterminierung des elterlichen Verantwortungsgefühls und der missbräuchlichen Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen, die daraus resultierte, wurde aber auch von den Altkonservativen großer Wert beigemessen. Tatsächlich gab es zahlreiche Hinweise, die diesem Kritikpunkt eine gewisse empirische Evidenz verliehen.1 Es gab aber noch einen zweiten prinzipiellen Einwand, den der Berliner Stadtsyndikus gegen die Ohlyschen Vorschläge in Stellung brachte. Ganz auf der Linie der frühen bürgerlichen Sozialreform hielt Eberty es für verfehlt, die ohnehin schon bestehenden Klassenkonflikte durch die Verabschiedung von „Ausnahmegesetzen“ noch zusätzlich zu verschärfen. Auf ein solches Ausnahmegesetz, und damit auf eine Aushöhlung des rechtlichen Gleichheitsgrundsatzes, liefen jedoch seiner Ansicht nach die Bemühungen Ohlys und Seyffardts hinaus, weil nur die ärmeren Gesellschaftsschichten durch die vorgeschlagenen Maßnahmen erfasst würden. In eindringlichen Worten versuchte Eberty den Teilnehmern der DVAW-Jahresversammlung darzulegen, welche Kränkungen des elterlichen Ehrgefühls von den geplanten Maßnahmen ausgehen würden und welche gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen sich daraus ergeben könnten: „Was würden Sie sagen, wenn man Ihnen sagen wollte: Dein Junge taugt nichts, Deine Erziehung reicht nicht aus, ich, Staat oder Gemeinde, werde kommen, ich weiß besser als Du, was für den Jungen gut ist. [...] Sie werden, wenn Sie diese Maßregeln durchführen wollen, wenn die Staatspolizei ergänzend eintreten soll, sehr Viele, namentlich aus den unteren Klassen, dieses nicht als ein Begütigungsmittel, 1 Peukert hat dieses Argument in seiner Darstellung der Debatte leider nicht wiedergegeben (Peukert [1986], S. 119-125). Das ist nicht nur wegen dessen zentralen Stellenwertes innerhalb der Diskussion des DVAW problematisch, sondern v.a. auch deshalb, weil dadurch die Inanspruchnahme öffentlicher Erziehung durch die Eltern ausblendet und suggeriert wird, die Eltern seien von Anbeginn an Objekt und Opfer der Zwangserziehung gewesen. Auch Oberwittlers Behauptung, dass „die in England vorherrschende Kritik an der Zwangserziehung als unverdienter Sozialleistung, die das elterliche Verantwortungsgefühl schwäche [...] in Deutschland praktisch keine Rolle“ (Oberwittler [2000], S. 95) gespielt habe, ist vor diesem Hintergrund zu relativieren.
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als ein Mittel des Friedens anzusehen zwingen, sondern als eine Zurücksetzung gegen die Kinder der wohlhabenden Klassen, in denen es genau ebenso viele, wenn nicht noch mehr Taugenichtse giebt, als in den unteren Klassen.“1
Den grundsätzlichen Einwänden, die Eberty gegen die interventionistische Stoßrichtung vorbrachte, korrespondierte eine Kritik an der praktischen Fundierung und Ausgestaltung der von Ohly verfochtenen „vorbeugenden“ Zwangserziehung. Eberty zweifelte nicht daran, dass das pr. ZEG, wenn man es nur mit der genügenden Sorgfalt und Umsicht zur Anwendung brächte, positive Effekte haben könne. Er bestritt aber energisch, dass man auf der Grundlage einer sechsjährigen Praxis bereits von einem durchgreifenden Erfolg des Gesetzes sprechen und eine Ausdehnung der Maßnahme auf weitere Personenkreise fundiert begründen könne. Es genügte in Fragen der Gesetzgebung seiner Meinung nach nicht, einfach „begeistert zu sein“. Vielmehr sei in solchen Angelegenheiten eine nüchterne Tatsachengesinnung am Platze. Wie von der Goltz hielt es Eberty außerdem für ausgeschlossen, für die geplanten vorbeugenden Eingriffe ähnlich präzise Kriterien zu finden, wie dies bei den strafrechtlichen Sanktionen der Fall war. Er warnte vor den Gefahren, in die man sich begebe, wenn man „innerhalb vollständig flüssiger, nicht feststehender Kriterien“2 eine Ausdehnung staatlicher Rechte und Pflichten betreibe. Das in das behördliche Handeln gesetzte Vertrauen könne nicht verhindern, dass die geplanten Maßnahmen in ein staatliches Experimentieren mit den Urpflichten und Urrechten der Familie abgleiteten. Nicht zuletzt stellte Eberty auch den praktischen Bedarf nach einer Ausdehnung der Zwangserziehung in Frage. In großen Teilen Deutschlands, vor allem aber in Preußen, seien ausreichende gesetzliche Mittel vorhanden, um „pflichtvergessenen“ Eltern wirksam zu begegnen. Er erinnerte an die einschlägigen Paragrafen des ALR und vertrat die Auffassung, dass abgesehen von den Fällen, in denen die Schulzucht versage, die „Kette, wo überhaupt eine Wirkung versucht werden soll, ganz geschlossen“ sei.3 Zu den prinzipiellen und praktischen Fragestellungen, die Eberty aufwarf, traten schließlich Bedenken über das strategisch-taktische Vorgehen seiner Kontrahenten hinzu, aber diese blieben zu Beginn der Verhandlungen noch vergleichsweise unbestimmt. Wie sich in späteren Stellungnahmen jedoch zeigte, sah Eberty im Vorstoß Ohlys eine Instrumentalisierung des DVAW durch die süddeutschen Staaten. Die Forderungen des Darmstädter Oberbürgermeisters waren seiner Ansicht nach nichts weiter als politische Agitation für eine legislatorische Bewegung, die das Ziel verfolgte, die in Hessen und Baden entwickelten 1
A.a.O., S. 73. A.a.O., S. 71. 3 A.a.O., S. 72. 2
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Abb. 10 u. 11: Die Kontrahenten in der DVAW-Debatte um die Zwangserziehung verwahrloster Kinder von 1884/85. Links: Der Oberbürgermeister Albrecht Ohly (1829-1891); Rechts: Stadtrat Eduard Gustav Eberty (1840-1894).
Grundsätze im Umgang mit devianten Jugendlichen allgemeinverbindlich abzusegnen und reichsrechtlich zu verankern. Dieses Vorgehen widersprach aber nach seiner Auffassung nicht nur den bisherigen Gepflogenheiten sondern auch der Satzung des Vereins. Ebertys Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Angesichts der Grundsätzlichkeit seiner Kritik und des „lebhaften Beifalls“, den er dafür laut Protokoll erhielt, waren die meisten Anwesenden offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass man wegen der Schwere der diskutierten Eingriffe ernsthaft und eingehend über gesetzliche Kautele gegen ihre missbräuchliche Anwendung nachdenken müsse. Eine Fortsetzung der Auseinandersetzung erschien zum damaligen Zeitpunkt offenbar weder den Verfechtern des Ohlyschen Vorstoßes noch seinen Gegnern aussichtsreich. Die Versammlung beschloss daraufhin, von einer Abstimmung
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
über die strittigen Punkte Abstand zu nehmen und den Gegenstand auf der folgenden Jahrestagung erneut auf die Tagesordnung zu setzen.1 Als sich die Mitglieder des DVAW im September des Folgejahres in Bremen wiedertrafen, hatten sich die Wogen im Streit um die vorbeugende Ausgestaltung der Zwangserziehung keineswegs geglättet. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass Ohly wieder zum Hauptreferenten ernannt worden war und man ausgerechnet Eberty die Rolle des Ko-Referenten zuwies, musste fast zwangsläufig zu einer neuerlichen Zuspitzung des Konflikts führen.2 Daneben trug aber offenbar auch das unklare Mandat, das man den Referenten erteilt hatte, dazu bei, dass die Auseinandersetzung in die Nähe eines politischen Schlagabtauschs geriet. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen stellte Ohly klar, dass der Verein seiner Meinung nach bereits in Weimar seiner Hauptforderung zugestimmt habe, wonach überall in Deutschland die gesetzlichen Möglichkeiten geschaffen werden müssten, „verwahrloste“ oder von ihren Eltern „vernachlässigte“ Kinder in Zwangserziehung zu bringen. Er sei lediglich beauftragt worden, konkrete Detailbestimmungen für ein erweitertes Zwangserziehungsrecht auszuarbeiten und sehe sich nur wegen der abweichenden Auslegung seines Korreferenten gezwungen, erneut zur Prinzipienfrage Stellung zu nehmen. Seine Forderungen, so hob er hervor, erhebe er lediglich vor dem Hintergrund seiner mehr als zwölfjährigen praktischen Erfahrung in der Armenfürsorge. Nicht ihm, sondern Eberty sei daher der Vorwurf zu machen, politische Parteitheorien in die Debatte hineinzutragen. Er könne das Elend und den Jammer, der aus der Verwahrlosung der Kinder tagtäglich erwachse, nicht mehr mitansehen. Auf Theorien und „Aussprüche von Schriftstellern, die vor vielen Jahren geschrieben haben“3, so fügte er treffsicher hinzu, komme es in einer solch praktischen Angelegenheit gar nicht an.4 1 Bemerkenswerterweise stieg man in Anbetracht dieser Situation in eine Debatte über die von Victor Böhmert in seinem Anschlussreferat angeregten Maßnahmen zum privatwohltätigen Kinderschutz erst gar nicht ein. Böhmert, der Ohlys Initiative ausdrücklich begrüßt hatte, hatte am zweiten Verhandlungstag eine folgenreiche Unterscheidung getroffen, indem er das elterliche Verschulden an der „Verwahrlosung“ zum eigentlichen Kriterium der staatlichen Eingriffe erhob. Es gehe ihm, so betonte er, gar nicht in erster Linie um Minderjährige, die „schlecht veranlagt“ seien oder durch ihre Eltern unzureichend beaufsichtigt würden, sondern um solche Fälle, in denen „die Kinder an und für sich noch erträglich gut, aber die Eltern schlecht“ seien (a.a.O., S. 78 ff.). Angesichts der von Eberty vorgebrachten Grundsatzkritik schien die Erörterung dieses weiterreichenden Vorschläge, die auf die Schließung der Gesetzeslücke zwischen den öffentlich-rechtlichen Bestimmungen der §§ 55-57 RStGB einerseits und den einschlägigen Eingriffstatbeständen des ALR andererseits abzielten, selbst in den Augen der Vertreter des interventionistischen Kurses aussichtslos zu sein. Vgl. hierzu die Äußerungen Seyffardts: A.a.O., S. 61. 2 Die Hintergründe für die Mandatierung Ebertys sind unklar. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass Forckenbeck dabei eine entscheidende Rolle spielte. Vgl.: S. 359, Anm. 1. 3 Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 14. 4 „Wie jede verständige Armenverwaltung und Armenpflege die Aufgabe hat,“ so führte er aus, „in vorderster Linie die Ursachen der Verarmung zu ermitteln und die aufgefundenen Ursachen zu besei-
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Überall dort, so machte Ohly in seinen weiteren Ausführungen geltend, habe der Staat das Recht einzuschreiten, wo durch strafwürdiges oder pflichtwidriges Verhalten das öffentliche Wohl gefährdet werde. Das oberste, ungeschriebene Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft aber sei – das würden selbst Leute anerkennen, die auf einem völlig anderen sozialpolitischen Standpunkt ständen – die Verpflichtung der Eltern, ihre Kinder ordentlich zu erziehen. Ja mehr noch, weil sie ab dem zwölften Lebensjahr für Gesetzesübertretungen belangt werden könnten, die durch eine gute Erziehung hätten vermieden werden können, hätten „auch die Kinder den Eltern und dem Staat gegenüber ein Recht auf eine ordentliche Erziehung“.1 Ein Blick ins Ausland zeige, dass man auch in Frankreich und selbst im vielgepriesenen „Freiheitsland“ England nicht zögere, ein entsprechendes Recht des Staates zu postulieren.2 Alle Alternativvorschläge, die Eberty und seine Mitstreiter zum Umgang mit „verwahrlosten Kindern“ und „pflichtvergessenen Eltern“ unterbreiteten, wies Ohly als unrealistisch zurück. Am wirksamsten stärkte man seiner Auffassung nach das Verantwortungsbewusstsein der Eltern, indem man ihnen in Aussicht stelle: „Wenn Ihr Eure Pflicht nicht erfüllt, nehmen wir Euch die Kinder weg.“3 Gerade von der Schande, die viele Eltern angesichts des drohenden Eingriffs empfänden, sei eine Stärkung des Pflichtbewusstseins zu erwarten. Schließlich kam Ohly auf die Detailbestimmungen eines zukünftigen Zwangserziehungsgesetzes zu sprechen. Hinsichtlich der Eingriffskriterien verharrte er auf seinem bisherigen Standpunkt. Zwar sei es eigentlich recht einfach zu sagen, welche Eltern „schlecht“ seien.4 Da eine erschöpfende Aufzählung aller Fälle jedoch nicht möglich sei, käme hier nur eine Generalklausel in Frage. Bezüglich der Zuständigkeit und Verfahrensgestaltung trug Ohly den schon während der Vorjahresversammlung erhobenen Forderungen nach eindeutigen Kautelen Rechnung. Nach seiner Vorstellung sollten die Aberkennung der elterlichen tigen, so ist es doch wohl auch eine Aufgabe unseres Kongresses, sich gerade in dieser Richtung mit der Frage der Kinderverwahrlosung und ihren Folgen zu beschäftigen.“ A.a.O., S. 16. 1 A.a.O., S. 22. Hervorhebungen im Original. 2 Die pragmatische, zupackende Haltung, die Ohly in seinen einleitenden Ausführungen zur Schau trug und die er geschickt gegen die theoriegeleiteten Betrachtungsweise seines Kontrahenten ausspielte, zeigte sich auch in der Behandlung der Bedarfsfrage. Sicherlich, so gestand der Darmstädter Oberbürgermeister bereitwillig ein, wäre es wünschenswert, über eine allgemeine Statistik zur Wirkung des pr. ZEG zu verfügen, fügte aber sogleich hinzu: „Wir, die wir auf diesem Gebiete arbeiten, brauchen keine Statistik mehr, die Zahlen und Thatsachen stehen uns so sprechend und einleuchtend vor Augen, daß wir bezüglich des Bedürfnisses gar keiner weiteren Nachweise mehr bedürfen.“ A.a.O., S. 19. 3 A.a.O., S. 20. 4 Wenn etwa die Mutter eine „Prostituierte“, der Vater ein „Säufer oder Dieb“ sei oder sich „anderen Lastern“ hingebe, so sei das ein bestimmter Grund zu sagen: „du kannst einen guten, moralischen Einfluß auf dien Kinder nicht üben.“ A.a.O., S. 22.
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Rechte und die Anordnung der Zwangserziehung keine administrative, sondern eine richterliche Angelegenheit sein, die am zweckmäßigsten den Vormundschaftsgerichten zu übertragen sei. Auch das Verfahren, so beschwichtigte er die Zweifler, dürfe kein summarisches sein. Kinder, Eltern, Verwandte und Nachbarn müssten vielmehr vor der Entscheidung gehört werden. Das Urteil, das nicht zwangsläufig zu einem dauerhaften und allumfassenden Entzug der elterlichen Rechte führen müsse, sei ausführlich zu begründen und müsse sowohl eine Entscheidung über die Unterbringungsart als auch über die Kostenregelung enthalten. Selbstverständlich müsse schließlich den Eltern ein umfassendes Rekursrecht gegen das vormundschaftsgerichtliche Urteil eingeräumt werden. Nachdem sich Ohly auf diese Weise als Pragmatiker profiliert hatte, war der Stand seines Korreferenten und Gegenspielers alles andere als einfach. Eberty verwahrte sich gegen die Bemühungen Ohlys, die Beschlussfassung der Vorjahresversammlung als prinzipielle Zustimmung zu seinem Antrag hinzustellen. Die Ausführungen des Oberbürgermeisters, so stehe für ihn nunmehr fest, zielten letztendlich auf die Instrumentalisierung des DVAW für eine von den süddeutschen Ländern ausgehende legislatorische Bewegung ab. Die Notwendigkeit zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der vorbeugenden Zwangserziehung begründete er damit, dass sie „wichtige Gesichtspunkte präventiver Polizei“1 berühre. Das Recht des Staates, bei „Verkommenheit“ und „Verwahrlosung“ gegen Eltern und Kinder einzuschreiten, habe er dennoch niemals angezweifelt. Mit der Anerkennung dieses Rechts war seiner Auffassung nach aber noch gar nichts gewonnen, denn es reiche bei solch drastischen Eingriffen in die dem Vater von Gott verliehenen Rechte und Pflichten nicht aus, genügende und gesicherte Gründe für das Einschreiten zu haben, man müsse auch überzeugt davon sein, „dass das, was an Stelle der von der Natur gesetzten Pflichterfüllung durch die Eltern geschieht, das Surrogat, die Aufoktroirung des künstlichen Vaters und der künstlichen Mutter in Gestalt der Staatserziehung [...], wirklich die Bürgschaft des Erfolges in sich tragen“.2 Ob man eine solche Bürgschaft abgeben könne, hänge aber entscheidend davon ab, inwieweit die Einsicht, Kinder „unwürdiger Eltern“ müssten öffentlich erzogen werden, schon zum Allgemeingut geworden sei und Eingang in den „Pflichtkodex des öffentlichen Bewusstseins“ gefunden habe. So lange dies fraglich sei, solle man lieber die Finger von solch schwerwiegenden Eingriffen lassen. An Ohlys Detailvorschlägen monierte Eberty vor allem, dass dieser zwar behauptet habe, den Verwahrlosungsbegriff hinreichend exakt bestimmen zu können, aus dieser Behauptung aber keinerlei weitere Schlussfolgerungen ziehe. Es sei irreführend, in diesem Zusammenhang auf die englische Gesetzgebung zu 1 2
A.a.O., S. 25. A.a.O., S. 27. Hervorhebung im Original.
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Tabelle 3: Dimensionen der DVAW-Kontroverse zur Zwangserziehung „verwahrloster“ Kinder und Jugendlicher 1884/85
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verweisen, denn dort habe man bewusst einen ganz anderen Weg eingeschlagen, indem man die Zwangserziehung der Bedarfslage entsprechend Schritt für Schritt anhand von eindeutig konkretisierbaren Tatbestandsmerkmalen ausgedehnt habe. Die beiden Hauptvorteile einer solchen Vorgehensweise lagen nach Ebertys Überzeugung auf der Hand: Einerseits lasse sich dadurch die folgenschwere Diskrepanz vermeiden, die darin bestehe, dass per Gesetz zwar die Rechtsgrundlage für staatliche Eingriffe in jede Familie geschaffen werde, aber zum vornherein schon klar sei, dass man nur in die ärmsten Bevölkerungsschichten intervenieren wolle; andererseits ließen sich auf diese Weise politische Fehlentscheidungen vermeiden, weil man erst die Wirkung staatlicher Erziehung abwarte, bevor man ihre Ausdehnung ins Auge fasse. Die Frontenstellung der sich anschließenden Generaldebatte war durch die entgegengesetzten Positionen der beiden Referenten vorgezeichnet. Allerdings deutete sich zumindest auf der Ebene der Problembeschreibung bald eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte an, die schließlich zu einer Annahme der von den Interventionisten angebahnten Kompromisslösung führten. Im Ergebnis trug das pragmatisch-interventionistische Lager um Ohly und Seyffardt einen klaren Sieg davon. Die von den Tagungsteilnehmern nach zweijähriger Debatte mit deutlicher Mehrheit verabschiedete Resolution war eine deutliche Stellungnahme für ein offensiveres staatliches Auftreten im Umgang mit jugendlicher Devianz; sie war ein fachlich gewichtiger und unüberhörbarer Appell an alle deutschen Teilstaaten, die Zwangserziehung durch eine entsprechende Gesetzgebung über den Personenkreis der straffälligen Kinder hinaus auszudehnen.1 Der von Eberty, von der Goltz, aber auch von Protagonisten wie dem Danziger Landesdirektor Wehr vertretene freisinnig-liberale Standpunkt, dem schon das pr. ZEG entschieden zu weit ging und der auch weiterhin auf „zivilgesellschaftliche“ Lösungsansätze setzte, war demgegenüber klar unterlegen. Auch im Bereich der Jugendfürsorge besaß – wie sich an den Reaktionen der Versammlungsteilnehmer auf die Statements der Vertreter privatwohltätiger Initiativen 1 Der volle Wortlaut der Resolution lässt sich aus dem Stenographischen Bericht von 1885 wie folgt rekonstruieren: „Es bedarf überall, wo entsprechende Vorschriften nicht bestehen oder die bestehenden Vorschriften nicht ausreichen, landesgesetzlicher Bestimmungen, nach denen Kinder und jugendliche Personen, welchen zwar noch keine Übertretung von Strafgesetzen zur Last fällt, deren bereits zu tage tretende Verwahrlosung aber die Zuchtmittel der Eltern und der Schule als unzureichend erscheinen läßt, und deren Eltern ihre Pflege- und Erziehungspflicht gröblich verabsäumen, nach gehöriger Feststellung der betreffenden Verhältnisse auch gegen den Willen der Eltern resp. deren Stellvertreter auf eine vom Grade der Besserung abhängende Dauer der Zwangserziehung in anderen Familien oder in Erziehungs- und Besserungsanstalten überwiesen werden können. Eine besondere Aufgabe der Landesgesetzgebung ist es hierbei, durch geeignete, vorzugsweise in der Wahl und Zusammensetzung der mit der Entscheidung zu betrauenden Organe und einem zweckentsprechenden Verfahren zu suchenden Kautelen eine missbräuchliche und über Fälle dringender Notwendigkeit hinausgehende Anwendung zu verhüten.“
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und Einrichtungen ablesen lässt– die Privatinitiative kaum noch Überzeugungskraft.1 Auf eine Neuauflage des alten Streits, wie sich gesellschaftliche Integration am besten erreichen lasse und welche Rolle dem Staat dabei zukommt, wollte man sich schon gar nicht mehr einlassen. Die Weichen in dieser Frage waren durch die innenpolitische Zäsur von 1878/79 bereits gestellt worden, und wer dies nicht anerkennen wollte, setzte sich schnell dem Vorwurf aus, sich nur von Theoremen und nicht von den praktischen Anforderungen der Zeit leiten zu lassen. Dennoch entsprach die Resolution keineswegs in allen Punkten den Vorstellungen des Hauptreferenten. Sie enthielt vielmehr eine Reihe von Modifikationen und Abschwächungen, die ihr den Charakter eines Kompromisses verliehen. Zwei der wichtigsten seien hier noch einmal kurz benannt: Ohly hatte ursprünglich mit seinem Vorstoß nur die allgemeinen Grundsätze eines erweiterten Zwangserziehungsrechts festsetzen wollen, war dann aber von den Versammlungsteilnehmern dazu gedrängt worden, konkrete Vorschläge zur Gestaltung des Verfahrens auszuarbeiten, die den befürchteten Missbrauch staatlicher Gewalt verhindern sollten. Dieses Verlangen nach Kautelen fand seinen Niederschlag in einem angehängten zweiten Satz der Erklärung. Die zweite Änderung bestand darin, dass die Vereinsmitglieder Ohlys ursprünglichem Plädoyer, die staatliche Erziehung sowohl dort eintreten zu lassen, wo die Eltern ihre Erziehungspflichten gröblich verletzten, als auch dort, wo die elterlichen und schulischen Zuchtmittel „versagt“ hatten, nicht gefolgt waren. Bedenken gegen diese beiden, zunächst alternativ gesetzten Eingriffsvoraussetzungen, die die Aufgabe des bisher befolgten „Verschuldensgrundsatzes“ bedeutet hätten, waren in Bremen nicht etwa nur von Eberty und seinen Mitstreitern, sondern auch aus dem politischen Mittelfeld erhoben worden.2 Die Versammlung stimmte schließlich einem vom sächsischen Landesdirektor von Wintzingerode gestellten Änderungsantrag zu, der die beiden Voraussetzungen miteinander verknüpfte.3 Durch eine minimale Änderung des Wortlautes fand dadurch das „Verschuldensprinzip“ Eingang in die Erklärung des DVAW. Diese leicht zu übersehende Modifikation war in doppelter Hinsicht bedeutsam. Sie markierte zum einen die Grenze dessen, was die bürgerliche Gesellschaft Mitte der 1880er Jahre an staatlichen Eingriffen in die elterlichen Rechte für allgemein vertretbar hielt. Die Eltern waren zwar in den Fokus der jugendfürsorgerisch-kriminalpräventiven 1
Vgl.: Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 68 ff., I 78 ff. und Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 47 ff. 2 So meinte etwa der Düsseldorfer Landrat Brandts: „Es ist mir aufgefallen, daß in dem Referat des Herrn Ohly von einer culpa der Eltern als Voraussetzung der Zwangserziehung ganz abgesehen ist. Es ist wiederholt gesagt, was geschehen soll gegen Kinder von Eltern, bei denen keine Schuld vorliegt. Wenn ich aber jemand ein Recht nehme, muß ich doch nachweisen, daß ihn eine Schuld trifft, das muß ich sogar thun, wenn es sich um vermögensrechtliche Bestrafungen und Freiheitsstrafen handelt, umsomehr aber bei derartigen Familienrechten.“ A.a.O., S. 42. 3 A.a.O., S. 47.
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Bemühungen gerückt. Aber das Erklärungsmuster vom „böse veranlagten Kind“, für dessen Verhalten die Eltern nicht verantwortlich gemacht werden konnten, war noch keineswegs ganz aus der Welt geschafft.1 In solchen Fällen setzte man auf Kooperation statt Konfrontation und baute darauf, dass sich die Eltern selbst um eine anderweitige Erziehung bzw. Unterbringung ihrer devianten Kinder kümmern würden. Zum anderen deutete sich in dieser leichten Abwandlung des Wortlautes der Resolution schon die Scheidelinie an, an der sich die fürsorge- und rechtspolitische Auseinandersetzungen um die Eingriffe in die Elternrechte in den kommenden Jahren orientieren sollten: Das Verschuldensprinzip wurde nach der Jahrhundertwende zum eigentlichen Kristallisationspunkt des Streits um die Ausdehnung der öffentlichen Ersatzerziehung.
4.2.4 Die Auswirkungen der DVAW-Kontroverse auf die Debatte zum Hamburger Zwangserziehungsgesetz von 1887 Sowohl der Verlauf als auch der Ausgang der Auseinandersetzung im DVAW wurden in Fachkreisen aufmerksam verfolgt und übten einen entscheidenden Einfluss auf die rechtliche Ausgestaltung des Zwangserziehungswesens in den einzelnen deutschen Teilstaaten aus. Das galt nicht etwa nur für die süddeutschen Länder, obwohl hier die personellen und inhaltlichen Bezüge zur DVAWKontroverse besonders offenkundig waren. Auch in Hamburg stand der öffentliche Umgang mit „verwahrlosten Kindern“ auf der politischen Tagesordnung, und in den Beratungen zum Hamburger ZEG von 1887 sollte sich zeigen, dass man auch hier die Grundsatzdebatte zwischen Ohly und Eberty aufmerksam verfolgt hatte. Wie in Hessen und Baden, so setzte auch in Hamburg die Diskussion um eine grundlegende Reorganisation der Fürsorge „verwahrloster Kinder“ keineswegs erst nach Verabschiedung der DVAW-Resolution ein. Bereits im Herbst 1883 hatte die Bürgerschaft den Senat ersucht, einen Gesetzentwurf zur Unterbringung „verwahrloster Kinder“ auszuarbeiten.2 Zum Zeitpunkt, als man in Weimar und Bremen tagte, war also in der Hansestadt das Gesetzgebungsverfahren schon in vollem Gange.3 Dass man sich mit der Materie so eingehend befasste, hatte mehrere Gründe. Zunächst einmal und vordringlich sahen sich Bürgerschaft und Senat genötigt, die landesgesetzlichen Regelungen den neuen reichs1
In der von Ohlys entwickelten Typologie bildeten die „guten Kinder schlechter Eltern“ das Gegenstück zum „böse beanlagten Kind“ (Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 61 u. Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 59). 2 Vgl. STAH 241-1 I, I C d 2 Vol. 6, Bl. 1. 3 Vgl. die Aussage Conrad Bötzows auf der Weimarer Versammlung in: Stenogr. Berichte DVAW 1884, S. 74.
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rechtlichen Bestimmungen anzupassen, die mit dem RStGB von 1971 und der Novelle von 1876 geschaffen worden waren.1 Die räumlichen Kapazitäten, welche die „Schule des Werk- und Armenhauses“ zur Unterbringung „verwahrloster Kinder“ bereithielt, waren unzureichend, und auch hinsichtlich der architektonischen Gestaltung und Ausstattung entsprach die Einrichtung nicht mehr den Anforderungen, die an eine „Erziehungs- und Besserungsanstalt“ im Sinne des RStGB gestellt wurden.2 Aus diesem Grunde hatten sich Senat und Bürgerschaft 1882 zum Bau einer großen Anstalt in Ohlsdorf durchgerungen.3 Der Erlass von landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen zu §§ 55 und 56 RStGB ließ sich zu diesem Zeitpunkt zwar noch etwas hinauszögern, ganz vermeiden ließ er sich allerdings nicht. Als weiterer Grund für das Bemühen um die Reform und den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen zur Unterbringung „verwahrloster“ Jugendlicher kam hinzu, dass die durch den gesamtgesellschaftlichen Wandel bedingten sozialen Probleme in einer Großstadt wie Hamburg aus naheligenden Gründen besonders massiv auftraten. Vor allem die Volksschullehrer sahen sich wegen der Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht und des unausgesetztem Bevölkerungszuzugs in ihrer täglichen Arbeit mit ernsthaften Disziplinierungsproblemen konfrontiert. Hinzu kam, dass auch die traditionellen, auf Ehrenamtlichkeit beruhenden Verwaltungsstrukturen durch die Konzentration sozialer Probleme einem massiven Reformdruck ausgesetzt waren, der noch dadurch verstärkt wurde, dass sich Hamburg beim Ausbau einer effizienten kommunalen Leistungsverwaltung zunehmend mit anderen deutschen Städten maß.4 Spätestens seit dem 1881 errungenen Sieg der propreußischen Partei über die Alt-Hamburger Partikularisten konnte man sich nicht mehr allein an den Schwesternstädten Lübeck und Bremen orientieren.5 Eng verbunden mit dem ansteigenden sozialen Problemdruck und dem Städte-Wettbewerb war das Vordringen der Überzeugung, dass auch auf dem Gebiet der Jugendfürsorge ein Mehr an staatlicher Initiative gefragt war und dass ein frühzeitiges Eingreifen sich sowohl unter fiskalischen als auch unter Effektivitäts-Gesichtspunkten lohnen würde. Dieser Standpunkt gewann in den gesetz1
Vgl. oben S. 369. Bei der „Schule des Werk- und Armenhauses“ handelte es sich um die Nachfolgeeinrichtung der „Strafklasse“, die Anfang der 1850er Jahre nach Barmbek verlegt worden war und in die sowohl „verwahrloste“ als auch „verbrecherische“ Kinder bis zum 14. Lebensjahr aufgenommen wurden. Vgl.: Föhring [1883], S. 68. 3 Vgl.: A.a.O., S. 71 ff. 4 Dieser Umstand kam v.a. dann zum Tragen, wenn sich – wie im Falle der „Waisenhausaffäre“ von 1884/85 – das Versagen der Hamburger Laienverwaltung zum öffentlichen Skandal ausweitete und den Anlass für auswärtige Kritik an den „Hamburger Verhältnissen“ gab (Richter [2005]). 5 Evans [1996], S. 34. 2
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gebenden Körperschaften immer mehr an Boden und fand insbesondere in der Hamburger Richter- und Lehrerschaft zahlreiche Befürworter. Bereits 1879 hatte die Schulsynode unter Federführung des Hamburger Seminar-Lehrers und „Vaters der Hamburgischen Volksschule“ Johannes Halben (1839-1902) einen „Gesetzentwurf, betreffend die Erziehung sittlich verwahrloster Kinder“ ausgearbeitet, der zwar ganz auf die Hamburger Verhältnisse zugeschnitten war, inhaltlich aber den Vorschlägen Ohlys weitgehend übereinstimmte.1 Halben hatte 1883 seine Vorstellungen über die „öffentliche Sorge für die verwahrloste Jugend“ auf der „Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung“ in Bremen vorgetragen und dabei aus dem Versagen der bisherigen genossenschaftlichen und privatwohltätigen Anstrengungen auf diesem Gebiet die neue staatliche Verantwortung abgeleitet.2 Mit vielsagenden Vergleichen hatte er darüber hinaus für die Umsetzung des Präventionsgedankens in der Jugendfürsorge und die Aussonderung „roher und unsittlicher Elemente“ aus der Volksschule geworben: „Jeder Organismus, auch die bürgerliche Gesellschaft, wie der Einzelne, hat vor allem die Pflicht der Selbsterhaltung; diese fordert hier, daß die moralisch verderbte Jugend einem sittlichen Desinfektionsprozeß unterworfen werde, bevor sie ein selbständig wollendes Glied der staatlichen Gemeinschaft wird. In einer Zeit, wo die öffentliche Wohlthätigkeit sich der körperlich Leidenden und Verwahrlosten annimmt, wo der intellektuellen Verwahrlosung von Jahr zu Jahr mit größeren Mitteln begegnet wird, ist die gleiche, ja größere Thatkraft der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung für den Kampf gegen die ersten Anfänge sittlicher Verkommenheit zu fordern. In einer Zeit, welche schon den edlen Weinstock durch internationale Verträge gegen Ansteckung zu sichern sucht; welche wertvolle Klassen unserer Haustiere oft mit großen Opfern gegen gefahrdrohende Krankheiten schützt und der Verbreitung ansteckender epidemischer Zustände der Bevölkerung unter Aufwendung allen gesetzgeberischen Zwanges vorzubeugen sucht, muß auch das schlimme Gift energisch bekämpft werden, welches die gedeihliche sittliche Entwicklung unserer Jugend bedroht; denn diese ist das köst1 Föhring [1883], S. 70 f. und Osterloh [1981], S. 69 ff. Nicht ohne Grund hatte Ohly Halben, der seit 1884 für die „Fortschrittliche Partei“ im Reichstag saß, als Zeugen und Gewährsmann der Überparteilichkeit seiner Vorschläge angeführt (Stenogr. Berichte DVAW 1885, S. 17). Zur Person Halbens vgl.: Blinckmann [1930], S. 51 f. und Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog 37/1902 (Totenliste). 2 „Dem obervormundschaftlichen Recht, welches der Staat für diese entarteten Kinder für sich in Anspruch nimmt, entspringt eine entsprechende Verpflichtung; ihm erwächst daraus die Verantwortung für ihre Erziehung, und diese kann er nur voll und ganz übernehmen, wenn die Erziehungsveranstaltungen in der Hand seiner eigenen sachkundigen Behörden liegen. [...] Hat aber die bürgerliche Gemeinschaft die Pflicht anerkannt, Lern- und Erziehungsschulen für gut geartete Kinder zu begründen und zu unterhalten, so darf sie sich der Forderung nicht entziehen, Anstalten zur Erziehung derjenigen zu errichten, welche schon frühzeitig von dem Wege des Rechts abgewichen sind oder auf demselben schwanken.“ (Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung, 35. Jg., 25/1883, S. 236.)
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lichste Kleinod, das unter den Schätzen unseres Volkes zu finden ist. Wir Lehrer müssen vor allem laut die Forderung erheben, daß diejenigen Elemente, welche ein arges Beispiel der Roheit, Unsittlichkeit und Eigentumsverletzung in unsere Schulgemeinschaft bringen, derselben fern gehalten werden. Je mehr wir uns auf den Boden der allgemeinen Volksschule stellen, je mehr wir fordern, daß die Volksschule der Ausgleichung der sozialen Gegensätze diene, um so mehr ist es notwendig, sittlich gefährliche Elemente aus derselben auszuscheiden.“ 1
Auf Anregung der Oberschulbehörde hatte sich Ende der 1870er Jahre auch der Hamburger Senat eingehender mit der Reorganisation der Hamburger Strafanstalten für schulpflichtige Kinder befasst und zu diesem Zweck eine behördliche Kommission eingesetzt. Der von dieser Kommission erarbeitete Vorschlag, der aus Kostengründen zunächst wieder in der Schublade verschwand, wich von Halbens Vorstellungen zwar nicht unwesentlich ab.2 Aber die Kommissionsmitglieder teilten doch Halbens grundlegende Auffassung von der neuen Rolle des Staates und der Bedeutung des Präventionsprinzips für die zukünftige Gestaltung der Jugendfürsorge. Der Vorsitzende der Kommission, der Gefängnisvorsteher und spätere Senator Carl Friedrich Rapp, fand in seinem Schlussbericht klare Worte: „Der Staat muß viel mehr als bisher darauf Bedacht nehmen, Erziehungsanstalten einzurichten und die vorhandenen zu gebrauchen. Hier dürfte kein Geld gespart werden und zwar aus Sparsamkeit, denn was der Staat an der Jugend, die der Verwahrlosung entgegengeht, spart, ist im Grunde Verschwendung. Er muß es später zehnfach in Form von Armen-Unterstützung, Unterhaltskosten für Correctionsanstalten, Siechenhäuser und Zuchthäuser zahlen und zwar ohne nur im Entferntesten den Erfolg erzielen zu können, den er sich von den verhältnißmäßig geringen Summen versprechen darf, die er auf die Erziehung verwahrloster oder der Verwahrlosung entgegengehender Jugend verwendet.“3
Dem konnte sich der Strafrichter Heinrich Föhring (1830-1907), der der Kommission als Direktor des Landgerichtes angehörte, in seiner 1883 veröffentlichten Schrift mit dem Titel „Die Reform und der heutige Stand des Gefängniswesens in Hamburg“ nur anschließen.4 Zusammen mit dem Vorsitzenden der Vormundschaftsbehörde Ulrich Moller stellte er 1883 in der Bürgerschaft den 1
A.a.O., S. 236. Im Unterschied zu Halben plädierte er für eine Beibehaltung der Strafschule und setzte sich für die Errichtung einer von der Gefängnisverwaltung losgelösten Erziehungsanstalt für „verwahrloste“ Kinder ein, bei der nicht der Unterricht, sondern die Arbeitserziehung im Vordergrund stehen sollte (Osterloh [1981], S. 69 f.). 3 Zit. nach: Föhring [1883], S. 77. 4 Vgl.: A.a.O., S. 76. 2
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Antrag, den Senat um die Vorlage eines Gesetzes im Sinne des pr. ZEG von 1878 zu ersuchen, der sogleich auch angenommen wurde. Obwohl also das Terrain in Hamburg schon sondiert und der Gesetzgebungsprozess bereits im Gange war, stellte die DVAW-Debatte einen wichtigen Referenzrahmen für die Hamburger Zwangserziehungsdiskussion dar. Der Rezeptionsvorgang wies dabei zwei lokale Eigentümlichkeiten auf: Zum einen wurden die Inhalte des in Weimar und Bremen ausgetragenen Meinungsstreits nicht wie im Falle Preußens und der übrigen deutschen Staaten durch die höhere Verwaltungsbeamtenschaft vermittelt. Das war insofern nicht weiter verwunderlich, als fest angestellte Leitungsbeamte zum damaligen Zeitpunkt in Hamburg fast unbekannt waren.1 Da die Übermittlung der Auseinandersetzung gleichwohl sehr zeitnah erfolgte, dürfte sie vor allem durch die Berichterstattung in der Tagespresse geleistet worden sein. Die zweite Besonderheit der Hamburger Rezeption bestand darin, dass sich nicht sosehr die Interventionisten als vielmehr die Gegner einer präventiven Ausgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge auf die DVAW-Diskussion beriefen, um ihrem Standpunkt mehr Gewicht zu verleihen. Die interventionistische Position war demgegenüber offensichtlich bereits so gut etabliert, dass es einer besonderen Rechtfertigung durch Bezugnahme auf Fachautoritäten gar nicht mehr bedurfte. Die Verfechter liberaler Prinzipientreue waren in Hamburg bereits in die Defensive geraten, während der von Ohly vertretene Pragmatismus ganz dem hanseatischen Politikverständnis entsprach.2 Wie gewöhnlich setzte der Senat nach Eingang des bürgerschaftlichen Antrags zunächst eine Kommission zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs ein, der neben Senatsmitgliedern auch Vertreter der involvierten Behörden und Gerichte angehörten.3 Nachdem die Kommission ihren Entwurf vorgelegt hatte, der sich nach Gliederung und Inhalt eng an entsprechende Gesetze aus Oldenburg und Lübeck anlehnte, holte der Senat im Herbst 1884 noch einmal beim OLG, dem Landgericht und der Vormundschaftsbehörde gutachterliche Stellungnahmen ein.4 In diesem Zusammenhang äußerte sich auch Ernst Friedrich Sieveking 1 Evans [1996], S. 52 u. 683. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die „Hamburger Verhältnisse“, dass auf der Weimarer Versammlung als einziger Hamburger Repräsentant der Staatswissenschaftler Conrad Bötzow vertreten war, der gerade erst vom Preußischen Statistischen Büro zum Statistischen Büro der Hamburger Steuerdeputation gewechselt war. Vgl. hierzu: Präsenz-Liste der Weimarer Versammlung vom 4. Oktober 1884 in: Stenogr. Berichte DVAW. 2 Evans [1996], S. 52. 3 Von Senatsseite nahmen Johann Georg Mönckeberg und Carl Friedrich Rapp, von Seiten des Landgerichts bzw. der Vormundschaftsbehörde die beiden bürgerschaftlichen Antragssteller Föhring und Moller an den Beratungen teil. Hinzu kam jeweils ein Vertreter der Oberschulbehörde und der Gefängnisdeputation. 4 In Oldenburg war bereits 1880 ein Gesetz zur Unterbringung verwahrloster Jugendlicher erlassen worden. Demgegenüber war das Lübecker Zwangserziehungsgesetz erst wenige Monate zuvor verab-
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(1836-1909), der Präsident des Hanseatischen OLG, zur Materie, indem er sich auf den im DVAW ausgetragenen Meinungsstreit berief.1 Obwohl sich Sieveking nicht aufgefordert sah, zur Frage der Ausdehnung der Zwangserziehung selbst Stellung zu nehmen, ließ er doch durchblicken, auf wessen Seite seine Sympathien dabei lagen. Ihm ging der § 10 Nr. 2 des Senatsentwurfs zu weit, nach dem die Zwangserziehung auch gegen Minderjährige unter sechzehn Jahren angeordnet werden konnte, „bei welchen die gewöhnlichen Erziehungsmittel des Hauses und der Schule sich als unzureichend erwiesen haben, um die Kinder vor sittlichem Verfall zu bewahren“.2 Seiner Ansicht nach hätte man es bei den bisherigen gesetzlichen Eingriffsbestimmungen der Vormundschaftsordnung belassen können. Wie so viele andere Juristen seiner Zeit vertrat er außerdem die Auffassung, beim Zwangserziehungswesen handele es sich um einen Fremdkörper innerhalb der freiwilligen Gerichtsbarkeit, und pädagogische Fragen gehörten im Grunde genommen gar nicht in den Zuständigkeitsbereich der Jurisprudenz. Er riet deshalb dem Senat, abgesehen von der Anordnung der Zwangserziehung selbst alle ausführenden Entscheidungen in die Hände einer Verwaltungsbehörde zu legen. Schließlich plädierte er für eine erhebliche Ausweitung und Präzisierung der Rechtsmittel im Gesetzentwurf. Eine entgegengesetzte Position vertraten die ebenfalls um eine Äußerung gebetenen Landgerichtsdirektoren, die es in ihrer Arbeit tagtäglich mit jugendlichen Gesetzesbrechern zu tun hatten. In ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom Februar 1885 sprachen sie sich entschieden für die vom Senat beabsichtigte Ausdehnung der Zwangserziehung aus und plädierten sogar ganz im Sinne der „modernen Schule der Strafrechtslehre“ für die Einbeziehung der bereits gerichtlich verurteilten Jugendlichen in die Zwangserziehung. Die Direktoren des Landgerichts wollten mit anderen Worten auch den Strafvollzug rechtskräftig verurteilter Minderjähriger in „Erziehungs- und Besserungsanstalten“ zulassen.3 Aus Gründen der Einheitlichkeit wollten sie außerdem auch sämtliche Nebenentscheidungen der Vormundschaftsbehörde überlassen. Im Unterschied zu Sieveking waren die Landgerichtsdirektoren außerdem der Ansicht, dass bei Beschlüsschiedet worden. Zu dem von diesen beiden Gesetzen erfassten Personenkreis vgl.: Appelius [1892] S. 116. 1 So hieß es in seinem Gutachten u.a.: „In dem Congress des bereits erwähnten Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit (Weimar, October 1884) hat sich der Oberbürgermeister Ohly (Darmstadt) für das von dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagene Princip ausgesprochen, – andere dagegen, so z.B. der Landesdirector Freiherr v.d. Goltz (Stettin) und der Stadtsyndicus Eberty (Berlin).“ STAH 241-1 I, I C d 2 Vol. 6, Bl. 19. Zur Person Sievekings und zu seinem Wirken am Hanseatischen OLG vgl.: Vogt [1939]. 2 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 17.04.1885. In: Verh. Senat/Bürgerschaft 1885, Nr. 50, S. 156. 3 Die Haftstrafen, so betonten sie, seien zu kurz, um erzieherisch wirken zu können. STAH 241-1 I, I C d 2 Vol. 6, Bl. 23.
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sen über die Art und die Dauer der Zwangserziehung den Beteiligten ein Beschwerderecht nicht zuerkannt werden könne, die Vormundschaftsbehörde in diesen Fragen mithin die erste und letzte Instanz bleiben müsse. Der geänderte Senatsentwurf, der im April 1885 der Bürgerschaft zur Mitgenehmigung übermittelt wurde, richtete sich in allen noch zweifelhaften Punkten nach dem Gutachten des Landgerichts. Bezüglich des Personenkreises hatte man sogar erwogen, die Gruppe der „gefährdeten Kinder“ in das ZEG einzubeziehen, sich aber letzten Endes dagegen entschieden. Zur Begründung hieß es: „Dagegen kann der Senat es nicht für richtig halten, die Zwangserziehung auch auf solche Kinder auszudehnen, welche zwar bisher selbst keinen Grund zu ernster Klage gegeben haben, deren häusliche Verhältnisse aber derartig sind, daß aus denselben die Gefahr der Verwahrlosung den Kindern droht. In solchen Fällen wird je nach den Umständen bald die Vormundschaftsbehörde durch Bestellung von Vormündern das Interesse der Kinder wahrzunehmen, bald die Armenverwaltung die Sorge für dieselben zu übernehmen haben: Die Zwangserziehung eintreten zu lassen, liegt aber in diesen Fällen nach Ansicht des Senats keine Veranlassung vor.“1
In den Motiven zum Senatsentwurf wurde kein Bezug mehr auf die DVAWDebatte genommen. Dennoch ist die Beschäftigung mit den „gefährdeten Kindern“ als ein Beleg dafür zu werten, dass die Auseinandersetzungen von Weimar und Bremen auch an den Ratsmitgliedern nicht spurlos vorbeigegangen waren. Die Bürgerschaft setzte zur Prüfung des Senatsentwurfs einen neunköpfigen Ausschuss ein, in dem die drei Fraktionen Rechte, Linkes Zentrum und Linke entsprechend ihrer Stärke in der Bürgerschaft vertreten waren.2 Der Bericht, den der Ausschuss im Oktober 1885 der Bürgerschaft vorlegte, lobte den Senatsentwurf dafür, dass er dem „große[n] Grundsatz des neuen Pönitentiarwesens, daß Verhütung besser ist als Strafe [...] ersprießliche Rechnung getragen“ habe, machte aber drei wesentliche Änderungswünsche geltend: 1
Verh. Senat/Bürgerschaft 1885, Nr. 50, S. 149. Dem Ausschuss gehörten so bedeutende Persönlichkeiten an wie der Bankier und angehende Senator John Berenberg-Gossler (1839-1913), ein entschiedener Verfechter des Zollanschlusses, oder der linksliberale Gustav Reinhold Richter (1817-1903), Reichstagsabgeordneter der „Fortschrittlichen“ in den Jahren 1882-1884 und Mitbegründer der „Neuen Gesellschaft zur Verteilung von Lebensbedürfnissen von 1856“. Bei den übrigen Mitgliedern handelte es sich um weniger namhafte Persönlichkeiten, die allerdings einigen Sachverstand in die Diskussion einbrachten, da die meisten von ihnen einer der involvierten Behörden angehörten. Mit von der Partie, diesmal als Notable, waren wiederum die beiden Richter Föhring und Moller, hinzu kamen zwei Lehrer, Christian Halben (1838-1921), ein Bruder Johannes Halbens, und Theodor Gottfried Zimmermann (1828-1911). Schließlich gehörte dem Gremium auch der Großkaufmann Wilhelm Kaemmerer (1820-1905) an, der seit 1882 in der Vormundschaftsbehörde als ehrenamtliches Mitglied tätig war und dieses Amt über 20 Jahre lang bekleiden sollte. 2
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Die Einbeziehung derjenigen Minderjährigen unter 16 Jahren, die „mit Rücksicht auf die sittliche Verkommenheit der Eltern oder sonstiger Erzieher der Gefahr des sittlichen Verfalls ausgesetzt sind“, der „guten Kinder schlechter Eltern“ also; die Anhebung der Altersobergrenze der Zwangserziehung auf das vollendete 18. Lebensjahr und die Einsetzung einer selbständigen Behörde für Zwangserziehung.1
Die Forderung nach einer Ausdehnung der Zwangserziehung auf „gefährdete Kinder“ wurde im Bericht nicht umständlich begründet. Man verwies nur darauf, dass bereits nach der bestehenden Rechtslage ein Einschreiten in solchen Fällen möglich sei und der Senat die staatliche Verpflichtung, für diese Kategorie von Kindern zu sorgen, in seinen Motiven ausdrücklich anerkannt habe. Es sei dann aber nicht ersichtlich, warum die neu zu schaffende Behörde nicht auch für die Unterbringung und Beaufsichtigung dieser Gruppe von Minderjährigen in Anspruch genommen werden sollte, zumal es im Ermessen der Vormundschaftsbehörde liege, Zwangserziehung anzuordnen oder wie bisher den Vormündern bzw. der Armenverwaltung die Fremdunterbringung der Kinder zu überlassen. Ähnlich knapp fiel auch die Erklärung zur Heraufsetzung der Altersgrenzen aus. Der Ausschuss rechnete in seinem Bericht vor, dass die Jugendlichen zum Teil erst mit 14 oder 15 Jahren in Zwangserziehung kämen und eine positive Einwirkung auf ihr Verhalten nicht zu erwarten sei, wenn man sie – wie es der Senatsentwurf vorsah – schon kurz vor ihrem 16. Geburtstag wieder aus der Zwangserziehung entlassen müsste. Die Notwendigkeit eines Umbaus des Verwaltungsvorstandes der Ohlsdorfer Anstalt zu einer eigenständigen, von der Gefängnisverwaltung losgelösten Behörde schließlich erklärte man mit der drohenden Überlastung der Vormundschaftsbehörde mit Aufgaben, die nicht zu ihrem eigentlichen Geschäftskreis gehörten. Wie sich zeigen sollte, war im Plenum der Bürgerschaft nur eine dieser Änderungswünsche wirklich umstritten: die Einbeziehung der „guten Kinder schlechter Eltern“.2 Noch bevor sich das Plenum allerdings eingehender mit dem Ausschussbericht befassen konnte, war die Debatte zum Thema bereits durch eine Artikelserie der Hamburger Tageszeitung „Reform“ eröffnet worden.3 Ähn1 „Bericht des Bürgerschaftsausschusses zur Prüfung des Senatsantrags wegen Erlass eines Gesetzes betreffend die Zwangserziehung verwahrloster Kinder“. In: Prot. u. Ausschussb. 1885, Nr. 42. Hervorhebung im Original. 2 Uhlendorffs Annahme, der Ausschussbericht gebe die Meinung der gesamten Bürgerschaft wieder, ist unzutreffend (Uhlendorff [2003], S. 182). Nicht erst im Senat, sondern schon in der Generaldebatte der Bürgerschaft wurde die Ausdehnung der Zwangserziehung auf die „gefährdeten Kinder“ mehrheitlich abgelehnt. 3 „Reform“ vom 28.10., 3.11. und 11.11.1885.
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lich wie schon im Fall der Aufarbeitung der etwa zeitgleich aufgedeckten Missstände in der geschlossenen Waisenfürsorge, setzte auch hier der Chefredakteur der Zeitung, Salomon Belmonte, das Organ gekonnt als Instrument der politischen Meinungsbildung ein, und ebenso entschieden, wie er in Bezug auf den Waisenhausskandal eine radikale Abrechnung mit den „Muckern und Frömmlern“ vom „Rauhen Haus“ gefordert hatte, griff er nun die Vorschläge des Bürgerschaftsausschusses zur Zwangserziehung „guter Kinder schlechter Eltern“ an.1 Schon im ersten Artikel aus der „Reform“ vom 28.10.1885 hieß es unzweideutig: „Nicht einverstanden sind wir mit der Zwangserziehung noch nicht verwahrloster Kinder unter dem 16. Lebensjahre. Wir erkennen mit dem Berichte des Ausschusses gerne an, daß Verhütung besser ist als Strafe; daß es also besser ist, die Kinder durch gute Erziehung vor dem Begehen von strafbaren Handlungen zu schützen, als sie, ist erst die That begangen, in die Zwangserziehung zu nehmen. So allgemein gehalten darf aber die Frage nicht gestellt werden, wenn wir an die Gesetzgebung neue Anforderungen richten. Hier handelt es sich nicht um die Erziehung der Kinder überhaupt, sondern darum, in wie weit der Staat durch Eingriffe in die Rechte der Familie Kinder gegen ihre Eltern zu schützen hat, oder präziser: wann hat der Staat die väterliche oder die elterliche Gewalt zu suspendiren und seinen Organen zu übertragen?“2
Dass der Redakteur der „Reform“ die Ausdehnung der Zwangserziehung auf die „gefährdeten Kinder“ nur wenige Wochen nach der Bremer Armenfürsorgetagung zur Grundsatzfrage erhob, war natürlich alles andere als ein Zufall. Belmonte bezog sich in seinem Artikel vielmehr ganz explizit auf die DVAWKontroverse und schloss sich dabei vorbehaltlos dem Standpunkt Ebertys an. In Anlehnung an dessen Kritik benannte er drei Voraussetzungen für die Anwendung der Zwangserziehung auf noch nicht verwahrloste Kinder: „Erstens darf nicht die subjektive Anschauung für den Eintritt dieser Maßregel entscheiden; zweitens muß der Staat die absolute Sicherheit für eine gute Erziehung gewähren, und drittens müssen genügend Thatsachen über die Wirkung ähnlicher Einrichtungen vorliegen“.3 Keine dieser Bedingungen war seiner Auffassung nach bisher erfüllt. Belmonte konnte sich sicher sein, dass seine Äußerung große Beachtung fand, immerhin handelte es sich bei der „Reform“ um die auflagenstärkste Hamburger Tageszeitung und er selbst genoss den Ruf, einer der glänzendsten Strafverteidiger der Stadt zu sein. Als Bürgerschaftsmitglied verfügte Belmonte au1
Vgl. zur Auseinandersetzung mit der „Waisenhausaffäre“ oben, Abschnitt 3.2. „Reform“ vom 28.10.1885. Hervorhebungen im Original. 3 Ebd., Hervorhebungen im Original. 2
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ßerdem über internes Wissen sowie über einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf seine Fraktionskollegen. Knapp eine Woche nach Erscheinen des ersten Artikels zum ZEG wusste die „Reform“ ihren Lesern schon zu berichten, dass „ein großer Theil der Bürgerschaft zu unserer Meinung [steht]“.1 Am 11. Oktober 1885, dem Tag, an dem die Generaldebatte zum Ausschussentwurf in der Bürgerschaft stattfinden sollte, legte Belmonte noch einmal nach. Er stellte klar, dass es den Ausschussmitgliedern gar nicht darum gehe, gegen Eltern vorzugehen, die bisher unbehelligt geblieben wären. Vielmehr wolle man die Kinder solcher Eltern, denen man schon nach bestehendem Recht die Personensorge entziehen könne, in eine Kategorie mit den „verwahrlosten“ Kindern pressen. Damit aber würde nicht nur vielen „verkommenen“ Eltern ihr letzten Rettungsanker genommen – vor allem im Interesse der Kinder selbst sei eine Überstellung in die Zwangserziehungsanstalt zu vermeiden, da man ihnen damit „für ihr ganzes Leben den Makel des ,Strafschülers’“ anhänge.2 Als die Bürgerschaft am selben Abend zu ihrer Plenarsitzung zusammentraf, waren die Konfliktlinien des Meinungsstreits also gewissermaßen schon vorgezeichnet. Zusätzlich verkompliziert wurden die Verhandlungen über den Ausschussbericht noch dadurch, dass der Senat die beiden Senatoren Mönckeberg und Rapp zur Bürgerschaftssitzung entsandt hatte, um die vom Ausschuss formulierten prinzipiellen Einwände gegen den Senatsentwurf auszuräumen. Berichterstatter und Ausschussmitglieder hatten somit keinen leichten Stand, als sie ihre Vorschläge erläutern mussten. Hermann May (1832-1900), Rechtsanwalt und Angehöriger der Fraktion „Linkes Zentrum“, war das erste Mitglied des Bürgerschaftsausschusses, das zur Verteidigung des Ausschussberichts ansetzte. Das Protokoll gab seine Aussage wie folgt wieder: „Wenn der Staat bei Kindern einschreite, bei denen die gewöhnlichen Erziehungsmittel sich als unzureichend erwiesen haben, um sie vor sittlichen Verderben und vor gefährlichen Menschen zu bewahren, so müsse dasselbe geschehen, wenn ein Kind mit guten Anlagen in einem sittlich verwahrlosten Hause aufwachse, zwar noch nicht verderbt sei, aber der größten Gefahr ausgesetzt sei, es zu werden. Sei es nicht human, nicht gerade Sache des Staates, hier einzugreifen? Das führe zu weit? Gerade hier sei die Zwangserziehung am Platze, nicht vielleicht bei den doch schon verwahrlosten Kindern.“3
1
„Reform“ vom 3.11.1885. Wiederum bezugnehmend auf die Verhandlungen des DVAW, schilderte Belmonte die Schritt für Schritt vorgehende englische Gesetzgebungspraxis und empfahl, das Verantwortungsbewusstsein der Eltern dadurch zu stärken, dass man ihnen die politischen Rechte aberkannte, wenn ihre Kinder auf öffentliche Kosten erzogen werden müssten. 2 „Reform“ vom 11.11.1885. 3 „Hamburgischer Correspondent“ vom 12.11.1885.
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Die Stellungnahme Mays veranlasste Belmonte dazu, seine bereits in der „Reform“ geäußerte Kritik jetzt noch einmal als Bürgerschaftsmitglied zu wiederholen.1 Belmonte ging aber noch einen Schritt weiter, indem er den Senat angriff. Statt sich wie in Preußen auf den Erlass eines Ausführungsgesetzes zu §§ 55 und 56 RStGB zu beschränken, habe dieser, wie er meinte, den Bürgerschaftsausschuss durch seine ausführlichen Erörterungen des Präventionsgesichtspunktes in der Entwurfsbegründung erst eigentlich auf die Idee gebracht, die Einbeziehung „gefährdeter Kinder“ zu fordern. Die Senatsvertreter Rapp und Mönckeberg verwahrten sich gegen solche Anschuldigungen. Auch der Rat, so betonte Letzterer, sei gegen die Aufnahme der „gefährdeten Kinder“ in das Gesetz gewesen, weil sie nicht in Zwangserziehung gehörten und für ihren Schutz schon durch die einschlägigen Bestimmungen der Vormundschaftsordnung gesorgt sei. Demgegenüber müsse die Zwangserziehung vom Präventionsgesichtspunkt aus auch bei solchen Kindern greifen, die wegen des Versagens der häuslichen Erziehungsmittel auf ein ähnlich tiefes sittliches Niveau herabgesunken seien wie die schon bestraften Minderjährigen. Mit dieser zweifachen Widerrede war die Sache eigentlich bereits entschieden. Aber so einfach gaben sich die Ausschussmitglieder nicht geschlagen. Moller versuchte den Ausschussantrag noch einmal durch die praktischen Erfahrungen zu untermauern, die er in seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Vormundschaftsbehörde gesammelt hatte. Die Vormundschaftsbehörde lerne, so führte er aus, „in jeder Sitzung die traurigsten häuslichen Verhältnisse kennen, wo ein Einschreiten absolut nothwendig sei, wenn die Kinder nicht bald aus der Kategorie 4 in die Kategorie 3 oder 2 oder 1“, das heißt von den „gefährdeten“ zu den „verwahrlosten“ oder sogar straffälligen Kindern übergehen sollten.2 Ein „heiliges Recht“ der Eltern auf Erziehung könne er nicht anerkennen, zumal dort nicht, wo die Eltern ihre Pflichten mit Füßen treten würden. Moller schloss mit der bereits von Seyffardt in Weimar bemühten Brunnenmetapher: Belmonte sei der Mann, der den Brunnen zudecken würde, nachdem das Kind bereits hineingefallen sei. Er selbst aber wolle es aus dessen gefährlicher Nähe entfernen.3 1 Es sei ein „schreiendes Unrecht, wenn man Kinder, die noch gut seien, in Straferziehungsanstalten bringe, denn man möge sagen, was man wolle, einen Makel hänge man den Kindern damit doch an“. Ebd. 2 Ebd. Auch der Senat, so meinte ein anderes Ausschussmitglied, habe in seinen Motiven bereits deutlich gemacht, wie schwierig es sei, in der Praxis zwischen „verwahrlosten“ und „gefährdeten“ Kindern zu unterscheiden. Belmontes Argument, man würde die Kinder mit einem Makel behaften, ließen die Ausschussmitglieder demgegenüber nicht gelten, da es der Vormundschaftsbehörde frei stehe, „gefährdete“ Kinder wie bisher in Pflegefamilien unterzubringen. 3 Ebd. Auch Landrichter Föhring ergriff in seiner Funktion als Berichterstatter des Ausschusses noch einmal das Wort und gab zu bedenken, dass es dem Ausschuss in erster Linie darum gegangen sei, ein einheitliches Gesetz zu schaffen und die bestehenden Bestimmungen von VO und Armenrecht in einem einzigen Gesetzestext zusammenzufassen.
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Auch dieser letzte Versuch, die Bürgerschaft noch umzustimmen, blieb allerdings vergeblich: Während der Ausschuss seine beiden anderen Hauptforderungen, die Errichtung einer Zwangserziehungsbehörde und die Heraufsetzung des Entlassungsalters, ohne nennenswerte Abstriche durchsetzen konnte, stimmte die Bürgerschaft mehrheitlich gegen die Aufnahme der „gefährdeten Kinder“ ins ZEG. Die Erwiderung des Senats, die erst anderthalb Jahre später, am 21. März 1887, erfolgte, brachte keine nennenswerten Änderungen mehr. Am 1. Oktober desselben Jahres trat das Gesetz in Kraft.1 Im Ergebnis hatte sich auch in Hamburg die interventionistische Stoßrichtung in der Jugendfürsorge durchgesetzt können. Von der liberalen Zurückhaltung, die noch die Diskussion um die Vormundschaftsordnung von 1832 bestimmt hatte, war Mitte der 1880er Jahre nicht mehr viel übrig geblieben. Die Mehrheitsverhältnisse in Bürgerschaft und Senat hatten sich zugunsten der staatlichen Initiative verkehrt und die „verwahrlosten“ Jugendlichen waren ohne große Debatte in die Zwangserziehung einbezogen worden. Das „Verschuldensprinzip“ sollte in diesen Fällen keine Gültigkeit mehr haben. Anders als in Baden und Hessen war man in Hamburg jedoch davor zurückgewichen, die „guten Kindern schlechter Eltern“ ebenfalls in die Zwangserziehung einzubeziehen. Im Unterschied zur Auseinandersetzung im DVAW war der maßgeblich von Belmonte organisierte Widerstand gegen die entsprechende Bestimmung des Ausschussentwurfs allerdings nicht Ausdruck eines bestimmten „Parteienstandpunktes“.2 Vielmehr standen sich in der Diskussion die mit den Problemen jugendlicher Vernachlässigung und „Verwahrlosung“ befassten „Praktiker“ aus der Lehrerund Richterschaft auf der einen Seite und Regierungsvertretern sowie vereinzelte „Rechtstheoretiker“ wie Belmonte oder Sieveking auf der anderen Seite gegenüber. Belmonte konnte sich zwar als Sieger der Auseinandersetzung fühlen. Im Grunde genommen führte er aber ein aussichtsloses Rückzugsgefecht, denn der Präventionsgedanke hatte sich trotz des Widerstandes gegen die Aufnahme der „guten Kinder schlechter Eltern“ fraktionsübergreifend durchsetzen können. Während das Hamburger Gesetz hinsichtlich seiner vorbeugenden Ausrichtung noch hinter den süddeutschen Gesetze zurückgeblieben war, ging es in anderer Hinsicht über die Landesgesetze von Baden und Hessens weit hinaus.3
1 Vgl.: „Erwiderung und Antrag, betreffend Erlaß eines Gesetzes wegen der Zwangserziehung verwahrloster jugendlicher Personen“. In: Verh. Senat/Bürgerschaft 1887, Nr. 33 u. “Öffentlicher Anzeiger“ Nr. 169 vom 22. Juli 1887. 2 Belmonte selbst gehörte der Fraktion der Rechten an, während der Ausschussantrag von mehreren linksliberalen Bürgerschaftsmitgliedern wie dem Reichstagsabgeordneten Gustav Richter oder dem Schulrektor Christian Halben mitgetragen worden war. 3 Die Fälle der §§ 56 (mangelnde Erkenntnisfähigkeit) und 57 RStGB hatte man im Unterschied zu Baden und Hessen ausdrücklich in die Zwangserziehung einbezogen. Vgl.: Aschrott [1892], S. 16.
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Dass auch das Hamburger ZEG noch Kompromisscharakter hatte und sich in ihm die alte, liberale und die neue interventive Staatsauffassung überlappten, wurde allerdings an einem anderen Punkt deutlich: Das 1887 verabschiedete Gesetz sah ausdrücklich vor, dass Kinder und Jugendliche auch ohne vorgängige vormundschaftsgerichtliche Verhandlung auf Antrag ihrer Eltern in die Ohlsdorfer Zwangserziehungsanstalt aufgenommen werden konnten.1 Die Aufrechterhaltung der Institution der „freiwilligen Zwangserziehung“ zeigte sinnfällig, dass man auch im Stadtstaat an der Elbe in der öffentlichen Jugendfürsorge nicht vom einen auf den anderen Tag von Kooperation auf Konfrontation umschwenken wollte. Die elterlichen Anträge wurden einer verstärkten behördlichen Gegenprüfung unterzogen. Ganz unterbunden wurde die Heimerziehung als letztes Mittel zur Durchsetzung elterlicher Autorität jedoch nicht.
1 Vgl.: § 4 Abs. 2 des Zwangserziehungsgesetzes von 1887 in: Gesetzsammlung FHH, 23. 1887, S. 67 ff. Eltern, die die Aufnahme ihrer Kinder in Ohlsdorf beantragten, mussten – ähnlich, wie dies in den privatwohltätigen Besserungsanstalten der Fall war – eine Erklärung unterzeichnen, durch die sie sich zur Nichteinmischung in die Erziehungsgeschäfte verpflichteten. Vgl.: Formular „Aufnahmebedinungen der Erziehungs- und Besserungs-Anstalt Ohlsdorf“ in: STAH 354-2, A 9.
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4.3 Auf dem Weg zum staatlichen Wächteramt: Die reichsweite Normierung vorbeugender Zwangserziehung Nur wenige Jahre, nachdem die Erziehung „verwahrloster“ Kinder und Jugendlicher als öffentliche Aufgabe bestimmt worden war, wurden die staatlichen Eingriffskompetenzen in die familiale Erziehung erneut zum Gegenstand umfassender und kontroverser Diskussionen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Auseinandersetzungen, in denen die zivilrechtlichen Aspekte der Fragestellung nur am Rande erörtert worden waren, rückte jetzt allerdings die Konkurrenz zwischen den elterlichen und staatlichen Rechten in den Mittelpunkt der Debatte. Nicht mehr die „verwahrlosten“, sondern die durch das erzieherische Fehlverhalten ihrer Eltern „gefährdeten“ Kinder wurden mehr und mehr zum Zentrum der gesetzgeberischen und fachpolitischen Auseinandersetzungen. Die breite Aufmerksamkeit, die den „guten Kindern schlechter Eltern“ am Ausgang des 19. Jahrhunderts zuteil wurde, hing einerseits mit der – im Rahmen der Beratungen zum BGB – zur Debatte stehenden rechtlichen Ausgestaltung des Eltern-KindVerhältnisses zusammen. Zum anderen aber hatte sie ganz praktische Hintergründe: Die Eltern wollten sich die Armenunterstützung in Form langandauernder öffentlicher Ersatzerziehung ihrer Kinder immer weniger gefallen lassen und „reklamierten“ diese immer öfter aus den kommunalen oder staatlichen Erziehungsanstalten und Pflegestellen. In Ansätzen zeichnete sich in den Diskussionen um die „gefährdeten“, „misshandelten“ bzw. in ihrer Erziehung „vernachlässigten“ Kinder schon die Umrisse einer allgemeinen Kontroll- und Eingriffsbefugnis des Staates gegenüber der familialen Erziehung ab. Auch wenn dem „staatlichen Wächteramt“ noch kein Verfassungsrang zukam, die Funktion des Staates als oberste Überwachungsinstanz der Primärsozialisation wurde in diesen Jahren bereits festgelegt.
4.3.1 Die parlamentarischen Beratungen und öffentlichen Diskussionen zum § 1666 BGB Während man sich in Halle, Bremen und Hamburg noch die Köpfe über die Zwangserziehung „verwahrloster“ Kinder heiß redete, waren andernorts die Beratungen zur reichsweiten privatrechtlichen Regelung des Eltern-KindVerhältnisses bereits in vollem Gange. Allerdings sollte die in Bezug auf die „verwahrlosten“ Kinder geführte Grundsatzdebatte bald auch auf die Beratungen des BGB übergreifen. Die zivilrechtlich verankerten Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls wurden an den neuen Zwangserziehungsgesetzen von Baden, Hessen und Hamburg gemessen. So wie die reichsweite Debatte über die
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Zwangserziehung „verwahrloster Kinder“ die Landesgesetzgebung beeinflusst hatte, wirkte nun die Landesgesetzgebung auf die Beratung der reichsgesetzlichen Bestimmungen zurück. Schon 1874 war Gottlieb Planck mit der Konzipierung des familienrechtlichen Teils eines zukünftigen Bürgerlichen Gesetzbuches beauftragt worden. Sein als „Planckscher Vorentwurf“ bekannt gewordener Gesetzestext enthielt zwei Paragrafen, die sich mit den staatlichen Interventionsmöglichkeiten in die elterlichen Erziehungsrechte befassten. Unter Verwendung verschiedener Rechtsbegriffe aus den bisher gültigen Privatrechtskodifikationen des deutschsprachigen Raums sowie einzelner Bestimmungen des öffentlichen Rechts hatte Planck eine einheitliche Eingriffsnorm geschaffen, nach der das Vormundschaftsgericht immer dann zugunsten der Kinder intervenieren sollte, wenn a.
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der Inhaber der elterlichen Gewalt, in der Regel also der Vater, durch „Missbrauch“ der Personensorge oder durch „grobe Vernachlässigung“ das „geistige oder leibliche Wohl“ des Kindes gefährdete, das Kind eine strafbare Handlung begangen hatte und die Tat, die Persönlichkeit des elterlichen Gewalthabers und die allgemeinen Lebensumstände eine weitere Verwahrlosung befürchten ließen oder schließlich wenn der Vater seine bürgerlichen Ehrenrechte verwirkt hatte (hier wurde analog zu einer Bestimmung des RStGB verfahren, nach welcher der Ehrverlust zur Bekleidung von Ehrenämtern unfähig mache (§ 34 Ziff. 6 RStGB) oder einen „offenkundig unsittlichen Lebenswandel“ führte.1
Welche Schutzmaßnahmen das Vormundschaftsgericht zu treffen hatte, sollte nach Plancks Vorstellungen dem pflichtgemäßen Ermessen der Richter überlassen bleiben. Mit dem Entzug oder der Beschränkung der elterlichen Gewalt sowie einer darüber hinausgehenden Fremdunterbringung in einer Familie oder Erziehungs- und Besserungsanstalt wurde nur die Grenze der als zulässig anerkannten Maßnahmen ausdrücklich benannt. Es ist bezeichnend, dass der Vorentwurf neben den „gefährdeten“ Kindern auch die bereits straffällig gewordenen Minderjährigen einbezog. Als Planck seinen Entwurf verfasste, war die Diskussion über die ersatzweise Erziehung von Kindern, die wegen ihres jugendlichen Alters oder ihrer fehlenden Verstandesrei1 Planck [1880], S. 79, §§ 363 u. 364 „Planckscher Vorentwurf“. Den Missbrauchsbegriff hatte Planck dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch, den der „groben Vernachlässigung“ dem ALR und den der „Gefährdung“ dem sächsischen BGB entnommen (Balks [1986], S. 98). Der Begriff des „Kindeswohls“ hatte bereits im 18. Jahrhundert eingang in die Rechtssprache gefunden. Plancks Entwurf bezog sich auf entsprechende Wortkombinationen aus dem ALR: „Wohl der Pflegebefohlnen“ und „das künftige Wohl der Person“ (ALR II 18 §§ 232, 234). Vgl. hierzu: Haibach [1991], S. 319 ff.
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fe strafrechtlich nicht belangt werden konnten, auf einem ersten Höhepunkt angelangt. Die Eingriffsbestimmung des Planckschen Vorentwurfs trug diesen kriminalpolitisch motivierten Bestrebungen der späten 1870er Jahre Rechnung, indem sie einerseits die privatrechtliche Seite der Zwangserziehung noch recht junger, wegen Bagatelldelikten belangter Minderjähriger zur Geltung brachte und andererseits die auf ein Fehlschlagen der Erziehung reagierenden, inhaltlich nahe verwandten gerichtlichen Maßnahmen in einer gesetzlichen Bestimmung zusammenfasste.1 Daraus ergaben sich zwei folgenschwere Probleme: Zum einen wurde die privatrechtliche Grundlegung, bei der das Interesse und der Schutz der Kinder im Vordergrund standen, mit den öffentlich-rechtlich begründeten Bemühungen zur Eindämmung der Jugendkriminalität vermischt. Das lief nicht nur der vorherrschenden systematischen Unterteilung der Rechtsgebiete zuwider, sondern führte auch dazu, dass die Kontroverse über den richtigen Umgang mit „verwahrlosten“ Minderjährigen in die Diskussionen über die familienrechtlichen Bestimmungen des BGB hineingetragen wurde.2 Zum anderen wurden die staatlichen Eingriffe in den Fällen (a) und (c) mit einem groben Fehlverhalten der Eltern gerechtfertigt, während im Fall (b) massive Verhaltensabweichungen des Kindes zum Anlass genommen werden sollten, sich im öffentlichen Interesse in die elterliche Erziehung einzumischen. Vereinfacht gesagt: Im ersten Fall wurde die Schuld am Versagen der Erziehung eindeutig auf Seiten der Erzieher verortet, während im zweiten Fall zweifelhaft blieb, ob das abweichende Verhalten des Kindes vom erzieherischen Verhalten der Eltern herrührte oder doch eher von der schlechten Veranlagung des Kindes bzw. den allgemein ungünstigen Lebensumständen, in denen es aufwuchs. Diese uneinheitliche Bestimmung der Gefährdungsanzeichen war Ausdruck der Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten in den zeitgenössischen Erklärungsmodellen zur Entstehung abweichenden Verhaltens. Bereits im Verlauf der Beratungen der ersten Kommission, die zeitlich mit den Debatten über die landesrechtliche Ausdehnung der Zwangserziehung auf „verwahrloste“ Kinder zusammenfielen, wurde diese doppelte Problematik sichtbar.3 Während die Eingriffstatbestände des „Missbrauchs“, der „Vernachlässigung“ sowie des „unsittlichen Lebenswandels“ weitgehend unbeanstandet blieben4, wurde der Passus über die kriminellen Kinder als systemwidrig beanstandet 1
Polligkeit [1907], S. 5 ff. Diese Problematik war schon frühzeitig von Appelius [1892] und später dann von Polligkeit [1907] hervorgehoben worden. 3 Die erste Kommission gehörten 13 Mitglieder an, bei denen es sich in der Mehrzahl um Juristen und Staatswissenschaftler handelte. Jakobs/Schubert [1984] 4 Es wurde lediglich auf den Zusatz „grob“ verzichtet, weil das Vormundschaftsgericht nicht erst dann zum Einschreiten berufen sein sollte, wenn als Schutzmaßnahme nur noch der vollständige Entzug der Personensorge aussichtsreich erschien. Außerdem wurde der Verlust der Ehrenrechte als un2
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und schließlich ganz gestrichen. Gerade dieser Umstand, dass nämlich die kriminalpräventive Stoßrichtung aus dem Entwurft weitgehend verschwunden war, führte zu lebhaften öffentlichen Reaktionen auf seine 1887 erfolgte Veröffentlichung. Vor allem die Vertreter des interventionistischen Lagers sahen in den Korrekturen der ersten Kommission einen herben Rückschlag ihrer jahrelangen Bemühungen. Nicht nur ihr Versuch war fehlgeschlagen, die Zwangserziehung gemäß §§ 55a RStGB nunmehr auch privatrechtlich zu verankern. Viel gravierender war in den Augen der Kritiker, dass der im Entwurf zum Einführungsgesetz (EG BGB E I) aufgenommene Ländervorbehalt auch eine Bedrohung all jener landesrechtlichen Bestimmungen zur Zwangserziehung darstellte, die über den engen Rahmen des § 55 RStGB hinausgingen. Stellvertretend für die kommunale Armenfürsorge äußerte sich als einer der ersten Emil Münsterberg kritisch zu Wort.1 Anerkennend hob er hervor, dass die Kommission auf dem Standpunkt der neueren Gesetzesentwicklung stehe, beklagte aber gleichzeitig, dass sie die Chance zu einer Vereinheitlichung des Zwangserziehungsrechts nicht wahrgenommen habe. Als besonders bedenklich sah er die Verankerung des „Verschuldensgrundsatzes“ und die daran gekoppelte Ausklammerung der „subjektiven Verwahrlosung“ an, das heißt die Nichtberücksichtigung all jener Fälle, in denen das Kind ohne erkennbares Dazutun der Eltern „durch unsittliche oder verbrecherische Neigung dem öffentlichen Wohl schädlich geworden ist oder schädlich zu werden droht“.2 In diesem Sinne empfahl er eine Bestimmung entsprechend den neuen Zwangserziehungsgesetzen in den § 1546 BGB E I aufzunehmen, wonach die Vormundschaftsbehörde bei im Verhalten des Kindes sich manifestierendem Versagen der elterlichen oder schulischen Zuchtmittel zum Einschreiten befugt werde. Ganz im Sinne der Resolution des DVAW von 1885 plädierte er außerdem für eine klare gesetzliche Regelung des Verfahrens, des Beschwerderechts und der Dauer der angeordneten Fremdplatzierungen. Es war offensichtlich, dass Münsterberg immer noch darauf hoffte, dass sich über das BGB eine reichsweite Durchsetzung der vorbeugend orientierten landesrechtlichen Vorschriften erreichen ließ, wie sie einige Jahre zuvor in Baden, Hessen und Hamburg erlassen worden waren. Mit ähnlichen Argumenten wie Münsterberg mischten sich einige Jahre später auch die Vertreter der „modernen Schule der Strafrechtswissenschaft“ in die Debatte ein.3 Einer von ihnen, Hugo Appelius, ging mit den Kommissionsmitgliedern in seinem
abhängiges Tatbestandsmerkmal aus dem Entwurf gestrichen, da eine Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte nicht notwendigerweise mit einer Gefährdung des Kindeswohls einhergehe. 1 Münsterberg [1889]. 2 A.a.O., S. 59. 3 Aschrott rekapitulierte in seinen Auseinandersetzungen über „Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend“ den bisherigen Verlauf der Debatte zu den staatlichen Eingriffen in die elterliche Erziehung, um dann ebenfalls das Verschuldensprinzip anzugreifen und für die Aufnahme
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Bericht für die deutsche Sektion der „Internationale Criminalistischen Vereinigung“ hart ins Gericht. Die von seinem Wissenschaftskollegen Aschrott noch offen gelassene Frage, ob die Zwangserziehung im BGB reichsweit und abschließend normiert werden sollte sei, beantwortete er ohne zu zögern dahingehend, dass öffentlich-rechtliche Eingriffe im BGB nichts zu suchen hätten. Nach seiner Meinung hatten die Verfasser des § 1546 BGB E I einen doppelten Fehler begangen: „Der Fehler des Entwurfs zum Bürgerlichen Gesetzbuch und des Einführungsgesetzes beruht auf dem doppelten Grund des übermäßigen Betonens der väterlichen Gewalt und der elterlichen Erziehungsrechte, und auf dem Verkennen der Grenzen des Privatrechtes; es mußte das Gebiet des öffentlichen Rechtes völlig unberührt gelassen und keinesfalls durften der Weiterentwicklung desselben Schranken aufgerichtet oder die bisherige Entwickelung zurückgedreht werden.“1
Nicht ohne Grund befürchtete Appelius, dass selbst dann, wenn den Eltern ein „Verschulden“ nachgewiesen werden könne, die Unterbringung „gefährdeter“ Kinder regelmäßig an der ungeklärten Kostenfrage scheitern würde. Von den Eltern jedenfalls könne ein wesentlicher Beitrag zur Begleichung der Unterbringungskosten nicht erwartet werden, und die Ortsarmenverbände würden sich voraussichtlich ebenfalls weigern, freiwillig für die Unterbringungskosten aufzukommen. Damit hatte Appelius bereits sehr früh ein Problem angeschnitten, das bei der landesrechtlichen Umsetzung der Eingriffsbestimmung eine herausragende Rolle spielen sollte. Mehr noch als über die Unzulänglichkeiten des § 1546 BGB E I war Strafrechtswissenschaftler aber über die Restriktionen aufgebracht, die der Art. 16 EG BGB E I der Landesgesetzgebung auferlegte. Indem der Artikel die Unterbringung von „verwahrlosten“ Kindern in Erziehungsanstalten ausschließlich im engen Rahmen des § 55a des RStGB zuließ, also nur dann, wenn die Kinder eine strafbare Handlung begangen und das zwölfte Lebensjahr noch nicht überschritten hatten, würden alle sozialpolitischen Bestrebungen der Zeit verhöhnt. Mit einem Federstrich, so Appelius, werde „das wenig Gute, was die Landesgesetzgebung auf diesem Gebiete geschaffen hat“ beseitigt.2 Tatsächlich hätte die Verabschiedung des Paragrafen in seiner damaligen Fassung die Aufhebung der Zwangserziehungsgesetze von Baden, Hessen und auch Hamburg zur Folge gehabt. In der wenig später eingesetzten zweiten Kommission zur Beratung des BGB-Entwurfs wurden die von Münsterberg, Aschrott und Appelius angeführten einer „weichen“ Tatbestandsvoraussetzung entsprechend dem Hamburger ZEG zu plädieren. Vgl.: Achrott [1892], S. 15 ff. 1 Appelius [1892], S. 121 f. 2 A.a.O., S. 123.
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Kritikpunkte eingehend gewürdigt.1 Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder gelangte schließlich zu der Auffassung, dass es im „sozialpolitischen Interesse“ liege, den Verschuldensgrundsatz aufzugeben und fügte, wie von Münsterberg und Appelius vorgeschlagen, die „sittliche Verwahrlosung“ infolge eines Versagens der elterlichen Erziehungsmittel als selbständige Tatbestandsvoraussetzung in den Paragrafen ein. Nur eine kleine Minderheit innerhalb der Kommission warnte weiterhin eindringlich vor einem möglichen Missbrauch dieser Bestimmung. Die Vormundschaftsrichter, so befürchtete sie, könnten den Passus dazu nutzen, missliebige politische oder religiöse Einflüsse auf die Erziehung zu verfolgen. Wie nicht anders zu erwarten war, verlagerte sich infolge dieser grundsätzlichen Umorientierung die Diskussion erneut auf die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit. War es angesichts der Schwere und voraussehbaren Quantität der Eingriffe nicht notwendig, die Entscheidungskompetenz einem ordentlichen Gericht zu überlassen, das an die fahrensrechtlichen Bestimmungen der Zivilprozessordnung gebunden war? Reichten die Rechtsgarantien der freiwilligen Gerichtsbarkeit wirklich aus, um die uferlose und missbräuchliche Anwendung des Paragrafen zu verhindern? Die Auseinandersetzung mit derlei Fragen nahm in der zweiten Kommission einen breiten Raum ein. Am Ende setzte sich auch hier die Position durch, dass der geringe Formalismus des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit eher als Vor- denn als Nachteil zu werten sei. Eine weitere Folge der Anerkennung des „sozialpolitischen Interesses“ an der Zwangserziehung normabweichender, noch nicht straffälliger Kinder war, dass der bisherige Art. 16 EG BGB E I durch die zweiten Kommission einer Revision unterzogen wurde und dabei seinen bisherigen restriktiven Charakter weitgehend verlor. Der erste Satz des Art. 106 EG BGB E II lautete jetzt schlicht: „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangserziehung Minderjähriger“. Im Interesse der Rechtseinheit blieb allerdings zwingend vorgeschrieben, dass die Fremdunterbringung außer im Falle des § 56 RStGB, immer auf einem vormundschaftsgerichtlichen Beschluss beruhen musste. Insgesamt betrachtet entsprach die Eingriffsnorm des zweiten Entwurfs somit sehr weitgehend den Forderungen, die von Münsterberg und den Vertretern der „modernen Schule“ der Strafrechtswissenschaft aufgestellt worden waren. Die „fortschrittlichen“ Grundsätze, die in Ländern wie Baden, Hessen und Hamburg in Bezug auf die Zwangserziehung eingeführt worden waren, wurden durch die zweite Kommission reichsrechtlich verankert. Die ersten beiden Absätze des 1 Die zweite Kommission zählte doppelt soviel Mitglieder, wie die erste. Ihr gehörten auch zahlreiche Vertreter der einzelnen deutschen Teilstaaten an. Von Hamburger Seite nahm Isaac Wolffson an den Verhandlungen teil. Vgl.: Jakobs/Schubert [1984].
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Eingriffsparagrafen, der jetzt als § 1557 BGB E II gekennzeichnet wurde, hatten folgenden Wortlaut: „Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, dass der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes missbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Gleiche gilt, wenn das Kind sittlich verwahrlost und nach der Persönlichkeit und den Lebensverhältnissen des Vaters anzunehmen ist, dass die elterliche Erziehungsgewalt zur Besserung des Kindes nicht ausreicht. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, dass das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt untergebracht wird.“
Dieses sollte allerdings nicht das letzte Wort in der Sache bleiben. Bevor die Bestimmung nämlich die abschließende Plenarlesung des Reichstages unbeanstandet passierte, wurde sie durch die Kommission des Reichstages noch einmal grundlegend überarbeitet. Mehr noch als bei der Debatte im DVAW zeigte sich in den parlamentarischen Verhandlungen zum Familienrecht des BGB, wie tief das Misstrauen vieler Abgeordneter gegenüber dem Nationalstaat in seiner damaligen Verfasstheit noch war. Und nicht zufällig waren es neben den „Freisinnigen“ vor allem die Vertreter des „Zentrums“ und der „Sozialdemokratie“, die gegen den Staat als „Vater in subsidio“ nach Kräften opponierten. In beiden Fällen waren die Erinnerungen an die Zeiten der politischen Drangsalierung und Verfolgung während des „Kulturkampfes“ bzw. der „Sozialistengesetze“ noch zu frisch, um dem Staat ohne schwerwiegende Gründe und eingehende Prüfung so weitreichende Eingriffskompetenzen in die gesellschaftliche Sphäre einzuräumen. Der vom Reichstag im Winter 1895/96 mit der Prüfung des BGB-Entwurfs beauftragten Kommission gehörten 21 stimmberechtigte Mitglieder an. Entsprechend der Sitzverteilung im Reichstag stellte das „Zentrum“ mit sechs Vertretern die meisten Mitglieder. Der „Freisinn“ wurde durch drei Abgeordnete repräsentiert, die „Sozialdemokratie“ durch zwei. Dem standen, als regierungsnahes, nationalstaatliches Lager, drei Abgeordnete der Fraktion der „Konservativen“, zwei der „Reichspartei“ und drei „Nationalliberale“ gegenüber. Hinzu kamen zwei Abgeordnete von Splitterfraktionen, deren Votum in der anstehenden Frage als unsicher gelten musste. An den Verhandlungen nahmen außerdem als Kommissäre des Bundesrats zahlreiche Regierungsvertreter der einzelnen Bundesstaaten
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mit beratender Stimme teil.1 Damit war ein gewisses Gegengewicht zur zahlenmäßigen Überlegenheit des staatskritischen Lagers innerhalb der Kommission geschaffen, da gerade von den Gesandten aus Baden, Hessen, Württemberg und Sachsen erwartet werden konnte, dass sie entschieden für den Fortbestand der Zwangserziehungsgesetze ihrer Länder eintreten würden.2 Das Ergebnis der Verhandlungen entsprach denn auch ziemlich genau dem dargestellten Kräfteverhältnis: Der Verschuldensgrundsatz wurde wiedereingeführt und gleichzeitig gestand man den Ländern eine Art Bestandsschutz zu. Zwei Änderungsanträge lagen der Kommission in erster Lesung zum § 1557 BGB E II (jetzt § 1643 BGB E II) vor.3 Der eine war von den sozialdemokratischen Abgeordneten, der zweite vom „Zentrum“ eingebracht worden. Beide richteten sich auf den zweiten Satz des Paragrafen und forderten dessen ersatzlose Streichung, was auf eine Wiedereinführung des Verschuldensprinzips hinauslief. Die Sozialdemokraten verlangten außerdem, dass eine Bestimmung aufgenommen werde, die es dem Vormundschaftsgericht ausdrücklich untersagte, das Verhalten und die Einwirkungen des Vaters auf seine Kinder in religiöser oder weltanschaulicher Hinsicht als „Missbrauch“, „Vernachlässigung“ oder „ehrloses und unsittliches Verhalten“ zu werten. Die Änderungsanträge verfolgten mithin zwei unterschiedliche Ziele: Einerseits sollte verhindert werden, dass schon ein geringfügig abweichendes Verhalten der Kinder zum Rückschluss führte, die Eltern hätten in ihrer Erziehung versagt und müssten deshalb in ihren Rechten beschränkt werden. Zum anderen ging es darum, den Eingriffen, die mit dem abweichenden Verhalten der Eltern begründet wurden, klare Grenzen zu setzen, um zu vermeiden, dass jede politische Gesinnung und jede Glaubensrichtung, die von der herrschenden Auffassung abwich, sanktioniert und die Bestimmung dadurch politisch instrumentalisiert werden könne. Während die erste Zielsetzung ganz auf der Linie der schon von Eberty formulierten Grundsatzkritik lag, brach1 Verh. Reichstag, IX. Legislatur, IV. Session, 1895/97, S. 1935 u. 2094. Den Vorsitz führte der Berliner Kammergerichtsrat und Zentrumsabgeordnete Spahn, zum stellvertretenden Vorsitzenden war ein Vertreter der Freisinnigen Fraktion gewählt worden. 2 Hamburg war in die Beratungen der Reichstagskommission nicht einbezogen worden und konnte somit auch seine Interessen am Fortbestehen des ZEG von 1887 nicht geltend machen. Schon die gewöhnliche Kommissionsarbeit des Bundesrates war, sofern sie sich nicht auf die Zoll- und Handelspolitik bezog, dem Einfluss der Stadtstaaten weitgehend entzogen, da diese aus finanziellen und personellen Gründen nicht in der Lage waren, einen ständigen Gesandten abzuordnen. Vgl. zum Einfluss der Hansestädte im Bundesrat während des Kaiserreichs: Dahl [1969], S. 112. Für die Annahme, dass Hamburg an den Diskussionen zur Ausgestaltung des familienrechtlichen Teils des BGB insgesamt kaum beteiligt war, spricht außerdem die Tatsache, dass die Hamburger Kommission zur Beratung des BGB-Entwurfs keinerlei Veränderungsvorschläge zum Familienrecht gemacht hatte (Vgl.: STAH 241-1 I, I A a 1 Vol 10). 3 Zum Folgenden vgl.: Verh. Reichstages, IX. Legislatur, IV. Session, 1895/97, 2077 ff.; Mugdan [1979], S. 1258-1261 u. Jakobs/Schubert [1989], S. 558-572.
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te vor allem die zweite einen völlig neuen Aspekt in die Diskussion ein: die Befürchtung des politischen Missbrauchs der Bestimmung. Die Bedenken der Sozialdemokraten waren keineswegs völlig aus der Luft gegriffen. Der Berliner Abgeordnete Stadthagen führte sowohl in der Kommission als auch auf den Plenarsitzungen des Reichstags zur Begründung des Antrages seiner Partei den Fall eines hessischen Amtsrichters an, der den Vater eines Jugendlichen angewiesen hatte, diesem die Mitgliedschaft in einem Turnverein zu untersagen, der vor seinem Vereinslokal die „rote Fahne“ gehisst und damit seine sozialdemokratische Gesinnung zu erkennen gegeben hatte. Die Weigerung des Vaters, dieser Aufforderung nachzukommen, war von dem Richter als „missbräuchliche“ Ausübung des Erziehungsrechtes gewertet und zum Anlass genommen worden, dem Vater die gesamte Personensorge zu entziehen.1 Vor einem anderen Erfahrungshintergrund argumentierten die Zentrumsabgeordneten. Sie befürchteten weniger den gezielten Einsatz der Maßnahme zur politischen oder religiösen Verfolgung einzelner Personen.2 Ihre Bedenken gingen eher dahin, dass die staatliche Zwangserziehung einen ähnlichen Stellenwert und Umfang annehmen könnte wie seinerzeit die Schulpflicht und dass Kinder katholischer Konfession dann massenhaft in Anstalten untergebracht würden, die ihrer Glaubensauffassung nur unzureichend Rechnung trügen. Man befürchtete mit anderen Worten, dass die Simultanerziehung, die den Katholiken mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht aufgezwungen worden war, durch eine „simultane häusliche Zwangserziehung“ ergänzt werden könnte.3 Wenngleich das Wachrufen solcher Erinnerungen und Befürchtungen erforderlich erschien, um die Positionen innerhalb der Parteien zu klären – als Mittel, die Gegner der „präventiven Zwangserziehung“ zu einen, eignete es sich nicht. Das zeigte sich bereits in der ersten Kommissionslesung zum § 1643 BGB E II, als der sozialdemokratische Antrag mit deutlicher Mehrheit abgelehnt wurde, weil vereinzelte Fälle des Missbrauchs einer Rechtsbestimmung nicht zu dem
1 Selbst das vom Vater als Beschwerdeinstanz angerufene Hanauer Landgericht bestätigte diese Entscheidung. Erst in der dritten Instanz hatte der betroffene Vater endlich Erfolg und erhielt seine Rechte zurück. Bereits in einem Gutachten zum BGB-Entwurf der zweiten Kommission war von einem Fall berichtet worden, in dem die sozialdemokratische Weltanschauung als „ehrloses Verhalten“ ausgelegt und ein Vormund seines Amtes enthoben worden war (Vgl.: Balks [1986], S. 187). 2 In gewissem Umfang hielten sie einen solchen Einsatz sogar für gerechtfertigt. Der Zentrumsabgeordnete Gröber führte beispielsweise aus: „Es ist immerhin denkbar, daß sich unter dem Vorwand einer religiösen Bewegung auch unsittliche Bestrebungen verbreiten können. Ich erinnere z.B. daran: wenn die Mormonen ihre Agenten nach Europa schicken und hier zu werben suchen, so werden Sie [gemeint waren hier die sozialdemokratischen Abgeordneten, J.R.], einverstanden sein, dass für einen derartigen Zweck eine Einwirkung des Vaters auf das Kind nicht gestattet werden darf.“ Zit. nach: Balks [1986], S. 189. 3 Jakobs/Schubert [1989], S. 571.
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Schluss führen dürften, dieselbe sei an sich verwerflich.1 Einen größeren Einigungseffekt hatten demgegenüber Argumente, die an allgemein verbreitete Erklärungsmuster zu den Ursachen kindlichen Fehlverhaltens und die traditionelle Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft anknüpften. Die Motive, die der württembergische Zentrumsabgeordnete Gröber für den von ihm eingebrachten Antrag zur Streichung des § 1643 Abs. 2 BGB E II anführte, erinnerten stark an die bereits von Eberty vertretene Position. Der Staat, so meinte er, dürfe sein Recht generell nicht über dasjenige des natürlichen Gewalthabers stellen und sich als „Vater in subsidio“ aufspielen. Es sei verkehrt, dem Staat ein mit den Eltern konkurrierendes und eventuell sogar vorgehendes Erziehungsrecht zuzugestehen. Schon gar nicht dürfe dort eingegriffen werden, wo die Eltern alles Erdenkliche getan hätten, um ihr Kind vor der „Verwahrlosung“ zu schützen, sie also keinerlei Schuld träfe. Außerdem war er mit den sozialdemokratischen Kommissionsmitgliedern der Auffassung, dass der Staat bisher keinerlei Gewähr für ein besseres Erziehungsergebnis in der öffentlichen Ersatzerziehung übernehmen könne. Die staatliche Anstaltserziehung verfahre zu bürokratisch und mechanisch, die Rückfallquoten seien hoch und schließlich lägen gerade bezüglich der „sittlich verwahrlosten“ Kinder bislang noch keine gesicherten Ergebnisse vor. Vergeblich versuchten der württembergische Regierungskommissar von Mandry mit Unterstützung des Vertreters des Reichsjustizamtes die Kommissionsmitglieder vom Gegenteil zu überzeugen, indem sie auf das Recht und die Pflicht des Staates zur Bekämpfung der stetig wachsenden Schar „jugendlicher Verbrecher“ verwiesen, die Zersplitterung des Rechts beklagten und die durchaus positiven Erfahrungen hervorhoben, die man in Württemberg, Baden und Hessen mit der präventiven Zwangserziehung gemacht habe. Das Ergebnis der Abstimmung fiel eindeutig aus: mit zehn zu sieben Stimmen wurde der Zentrumsantrag angenommen und der Verschuldensgrundsatz zum verbindenden Prinzip der Eingriffsnorm erhoben.2 Auch die Bemühungen der Unterlegenen, durch eine Streichung des Verweises auf § 1643 BGB E II in Artikel 134 EG
1 Auch ein erneuter sozialdemokratischer Antrag zur Aufnahme einer entsprechenden Schutzklausel gegen politischen und religiösen Missbrauch in der zweiten Plenarlesung des Reichstags blieb erfolglos (Balks [1986], S. 200). 2 Die Frontenstellung konnte eindeutiger kaum ausfallen: Für den Antrag hatten gestimmt: die sechs Zentrumsmitglieder, ein Mitglied der „Freisinnigen Volkspartei“, ein Abgeordneter der „Freisinnigen Vereinigung“ und die zwei Sozialdemokraten. Die ablehnenden Stimmen verteilten sich offensichtlich auf die nationalliberalen und die deutsch-konservativen Abgeordneten. Vier der 21 Kommissionsmitglieder waren zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht zugegen. Nach Überzeugung des bayerischen Ministerialrates Heller hätten jedoch zwei davon mit großer Sicherheit ebenfalls mit „ja“ gestimmt (Vgl.: Jakobs/Schubert [1989], S. 565 ff.).
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BGB E II wenigstens die landesrechtlichen Regelungen vom Verschuldensgrundsatz auszunehmen, scheiterten an einer knappen Mehrheit.1 Es war vorauszusehen, dass sich schon bald nach dieser empfindlichen Niederlage die Staatsinterventionisten neu formieren würden, um in der zweiten Lesung, die im Juni 1896 anstand, noch zu retten, was zu retten war. Von konservativer Seite war erneut die Aufhebung des Verschuldensprinzips durch Wiederherstellung des ursprünglichen § 1643 Abs. 2 BGB E II gefordert worden und – in einem Folgeantrag – die Ausnahme der Landesgesetzgebung von diesem Grundsatz.2 Die Diskussion verlagerte sich jetzt entsprechend der Ausgangssituation stärker auf die praktischen Erfahrungen, welche die Länder mit der ausgedehnten Zwangserziehung gemacht hatten. Auf eine entsprechende Stellungnahme des Großherzoglich Hessischen Justizministeriums hin wurde ausgeführt, dass „der Grund der Verwahrlosung der Kinder ohne Verschulden der Eltern [...] fast ausnahmslos in der wirthschaftlichen Lage der armen Eltern [liege], diese leiden zuerst und am meisten unter der Verwahrlosung ihrer Kinder und der Widerspruch gegen die auf Zwangserziehung lautenden Beschlüsse komme fast nie aus dem Kreise dieser an der Verwahrlosung nicht mitschuldigen Eltern.“3 Auch der badische Bundesratsgesandte Dr. Jagemann unterstützte den Hauptantrag, indem er auf die durchweg positiven Erfahrungen hinwies, die man in seinem Land mit der Zwangserziehung „verwahrloster Kinder“ gesammelt habe. Ausdrücklich hervorgehoben wurde von den Antragstellern und ihren Unterstützern außerdem, dass sich die Zwangserziehung hervorragend als Druckmittel gegenüber jenen Eltern bewährt habe, die es mit der Beaufsichtigung ihrer Kinder nicht so genau nähmen. Man könne, so wurde unverblümt erklärt, zwar zur Not auch durch eine extensive Auslegung des „Missbrauchs-“ bzw. „Vernachlässigungsbegriffs“ nach Abs. 1 zum selben Ergebnis gelangen wie mit dem Abs. 2, dann aber wäre man zu einer eingehenden Untersuchung der elterlichen „Schuld“ gezwungen und würde den Hass der Angehörigen gegen den Staat erst recht schüren. Eher am Rande der Debatte und beiläufig wurde die Meinung geäußert, dass es nicht um den Schutz der elterlichen Rechte, sondern zuallererst um das 1
Vgl.: Balks [1986], S. 195. Der Antrag war von dem konservativen Abgeordneten v. Buchka, der selbst nicht der Kommission angehörte, gestellt und durch das Mitglied der Reichspartei in der Kommission, Freiherr v. StummHalberg, vertreten worden. Der Folgeantrag wurde von dem nationalliberalen Abgeordneten Osann eingebracht. 3 Verh. Reichstag, IX. Legislatur, IV. Session, 1895/97, Band 3, S. 2079. Der Stellungnahme des Hessischen Justizministers zufolge waren in den ersten sieben Jahren nach Erlass des Zwangserziehungsgesetzes von insgesamt 713 Kindern 192, also rund ein Viertel, ohne elterliches Verschulden und darunter noch einmal 57 (8%) ohne strafbare Handlung untergebracht worden. Diese Zahlen hielt man offenbar für geeignet, die Befürchtungen einer ausufernden und missbräuchlichen Anwendung der Eingriffsnorm zu zerstreuen. 2
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Interesse des Kindes selbst gehen müsse. Aber dieses Argument wurde nicht weiter aufgegriffen und ging in der Diskussion fast unter. Die Bemühungen der Landesvertreter, den praktischen Erfolg der ausgedehnten Zwangserziehungsgesetze unter Beweis zu stellen, konnten die Gegenseite nicht überzeugen. Vieles deutete sogar darauf hin, dass sich die Vertreter der beiden Volksparteien jetzt erst recht aufgefordert sahen, die vermeintlichen Interessen der Bevölkerung zu verteidigen. Die Streichung des Abs. 2, so behauptete etwa Gröber, habe „in weiten Kreisen Befriedigung hervorgerufen“.1 Für die Bewertung der Gesetzeswirkung sei nicht entscheidend, was die Verwaltungsvertreter sagten, sondern was die betroffenen Eltern selbst von der Zwangserziehung hielten. Wenn Eltern, die ihre Kinder zunächst freiwillig in staatliche Anstalten untergebracht hätten, im Nachhinein ihre Zustimmung wieder zurücknehmen würden, sei dies doch recht bezeichnend. Eine extensive Auslegung des Abs. 1, wie von den Antragsbefürwortern in Aussicht gestellt, komme nicht in Frage, weil dies eine missbräuchliche Rechtsanwendung darstellen würde. Gröbers Plädoyer für die Beibehaltung der letzten Fassung des Paragrafen gipfelte in der Mahnung, welch verheerende Folgen die Anerkennung des Grundsatzes einer generellen Vorrangstellung des staatlichen Erziehungsrechtes bei einem immerhin denkbaren politischen Systemwechsel haben könnte2 – eine Mahnung, die sich rückblickend betrachtet, als nur allzu berechtigt herausstellen sollte.3 Im Ergebnis gelang es den Interventionisten nur, ihren Folgeantrag durchzubringen. Der Hauptantrag wurde hingegen mit zwölf zu neun Stimmen abgelehnt. Das Verschuldensprinzip war damit definitiv im § 1643 BGB E II verankert, während den Ländern Ausnahmen von dieser Regel gestattet wurden.4 Das 1
Ebd. „Man möge sich doch nur vergegenwärtigen, wohin ein solches Prinzip führen könne, wenn der gegenwärtige Staat, der ein christlicher sein wolle, demnächst vielleicht einmal ersetzt worden sei durch einen Staat, der prinzipiell ungläubig und religionsfeindlich sei. Alsdann könne ein solcher Staat das Prinzip in seinem Geiste dahin anwenden, daß man die Kinder christlicher Eltern in unchristlichem Geiste zwangsweise erziehe.“ Ebd. 3 Vgl. zum ideologischen Missbrauch des Sorgerechtsentzugs während der Nazizeit und in der DDR: Liebler-Fechner [2001] und Andermann [2003]. 4 In der zweiten Lesung im Reichstag kam der Gegenstand ein letztes Mal zur Diskussion und es zeigte sich dabei noch einmal, wie verbissen beide Seiten für ihre Sache kämpften. Mit allen Mitteln versuchte das „Zentrum“ das Schlupfloch, das durch den Ländervorbehalt geschaffen worden war, wieder zu schließen und das „Verschuldensprinzip“ zum allgemeingültigen Rechtsgrundsatz der staatlichen Jugendfürsorge zu erheben. Vermutlich hätte sich für dieses Ziel sogar eine parlamentarische Mehrheit gefunden. Die Gegenseite war jedoch schlau genug, dem Ansinnen durch einen Kompromissvorschlag zuvorzukommen. Anstelle der von Gröber beantragten Wiedereinführung des Verweises auf § 1643 BGB in Art. 134 EG BGB wurde die für die Landesgesetzgebung maßgebliche Eingriffsschwelle nur ein wenig angehoben, indem die staatliche Interventionsbefugnis auf Fälle beschränkt wurde, in denen sie „zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Kindes“ notwendig war. 2
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letztgültige Resultat der langjährigen Debatten zum Eingriffsparagrafen des BGB war wiederum ein Kompromiss. In diesem Falle waren es jedoch die Gegner der ausgedehnten staatlichen Eingriffsrechte, die mehr von ihren Forderungen durchsetzen konnten. Der § 1666 Abs. 1 BGB, der 1900 in Kraft trat, hatte folgenden Wortlaut: „Wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, dass der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes missbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht, so hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßregeln zu treffen. Das Vormundschaftsgericht kann insbesondere anordnen, dass das Kind zum Zwecke der Erziehung in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungsoder Besserungsanstalt untergebracht wird.“1
Artikel 135 EG BGB (entspricht Art. 134 EG BGB E II) hatte folgende Fassung: „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die Zwangserziehung Minderjähriger. Die Zwangserziehung ist jedoch, unbeschadet der Vorschriften der §§ 55, 56 des Strafgesetzbuches, nur zulässig, wenn sie von dem Vormundschaftsgericht angeordnet wird. Die Anordnung kann außer in den Fällen der §§ 1666, 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuches nur erfolgen, wenn die Zwangserziehung zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens nothwendig ist. Die Landesgesetze können die Entscheidung darüber, ob der Minderjährige, dessen Zwangserziehung angeordnet ist, in einer Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt unterzubringen sei, einer Verwaltungsbehörde übertragen, wenn die Unterbringung auf öffentliche Kosten zu erfolgen hat.“
In der Gesamtschau lassen sich Verlauf und Ertrag der Debatte zum § 1666 BGB auf zweierlei Weise interpretieren: Zunächst einmal lässt sich die Auseinandersetzung als ein klassischer, politischer Grundsatzkonflikt begreifen, bei dem es um nichts Geringeres als die Neujustierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft ging. Bis zuletzt war die Debatte über die Fassung der Eingriffsnorm durch eine parteienpolitische Frontenstellung bestimmt, bei der sich die Abgeordneten des „Freisinns“, des „Zentrums“ und der „Sozialdemokratie“ auf der einen Seite und die Vertreter der „Konservativen“, der „Reichspartei“ und „Nationalliberalen“ auf der anderen Seite in unversöhnlichen Lagern gegenüberstan1 Der Abs. 2, der sich ausschließlich auf die Vermögenssorge bezog und für unseren Zusammenhang deshalb von weitaus geringerer Bedeutung ist, lautete: „Hat der Vater das Recht des Kindes auf Gewährung des Unterhalts verletzt und ist für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des Unterhalts zu besorgen, so kann dem Vater auch die Vermögensverwaltung sowie die Nutznießung entzogen werden“.
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den. Die Kritik an den Bestrebungen, die staatlichen Eingriffsrechte in die elterliche Erziehung auszudehnen und reichsrechtlich zu verankern, orientierte sich auch hier am liberalen Staatskonzept. Allerdings gesellten sich zu den früheren Opponenten der vorbeugenden Zwangserziehung nunmehr auch die Vertreter des „Zentrums“ und der „Sozialdemokratie“ hinzu. Diese begründeten ihre ablehnende Haltung nicht nur mit prinzipiellen Erwägungen, sondern auch mit den leidvollen Erfahrungen politischer und kultureller Drangsalierung während der 1870er und 1880er Jahre. Es wäre demnach verkürzt, im Beharren auf dem Verschuldensprinzip lediglich den Ausdruck eines überkommenen Staatsverständnisses und antiquierten Familienbildes zu sehen. Im politischen Widerstand gegen die nahezu uneingeschränkte staatliche Eingriffsbefugnis spiegelte sich auch die kulturelle und gesellschaftliche Zerklüftung des Reiches wider. Je nach Region und konfessionellem bzw. sozialen Milieu existierten ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, welche Rechte man dem Staat zugestehen sollte. Zumal im Bezug auf die praktische Ausgestaltung des staatlichen „Erziehungsrechts“ waren sich viele Bürger nicht sicher, ob sich die staatlichen Vertreter einer kulturellen und weltanschaulichen Ausdeutung der Tatbestandsvoraussetzungen enthalten würden. Der Verlauf der gesetzgeberischen Auseinandersetzungen zum § 1666 BGB lässt sich jedoch auch als strategisch-diskursives Geschehen deuten. Aus dieser Perspektive war der Ausgang der Debatte einer unglücklichen Vermischung privat- und öffentlich-rechtlicher Zielsetzungen geschuldet.1 Statt sich bei der Ausgestaltung der Eingriffsnorm ganz vom Kindesinteresse leiten zu lassen, hatte insbesondere das interventionistische Lager von Anfang an versucht, im gleichen Zuge auch die bestehenden landesgesetzlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Jugendkriminalität reichsrechtlich abzusichern. Durch die Verknüpfung der beiden Zielsetzungen war der Widerspruchsgeist der Staatsskeptiker jedoch erst richtig geweckt worden. Dass man die staatliche Ersatzerziehung „gefährdeter“, noch nicht verwahrloster Kinder letztlich aber von der Feststellung eines „elterlichen Verschuldens“ abhängig machte, schützte nicht nur die patriarchale Familie vor ungerechtfertigten Übergriffen seitens des Vormundschaftsgerichts und seiner Hilfsorgane. Es verstärkte auch den Eindruck, dass die vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe im Grunde genommen auf eine Bestrafung der Eltern abzielten. Über Jahre hinweg behinderte diese öffentliche Wahrnehmung, dass das Interesse des Kindes in den Vordergrund der Schutzmaßnahmen treten konnte. Eine konsequente „sozialpolitische“ Ausgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge, die auch Fälle von wirtschaftlich oder krankheitsbedingter Vernachlässi1 Gerade von den Vertretern des unterlegenen interventionistischen Standpunktes war diese Interpretationsweise in selbstkritischer Absicht ausformuliert worden.
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gung der elterlichen Erziehungspflichten umfasste, war unter diesen Voraussetzungen stark erschwert. Trotz dieser negativen Bilanz für die interventionistischen Bestrebungen kann das Ergebnis der Diskussion um die privatrechtliche Zwangserziehung nicht einfach mit einem Festhalten am Status quo gleichgesetzt werden. Der Verlauf der Debatte war für die historische Entwicklung insofern hoch bedeutsam, als an ihm erneut und deutlicher als je zuvor sichtbar wurde, wie fragil und brüchig die alte Allianz geworden war, in welcher der Staat die Erziehung der Eltern mit anderen Mitteln fortsetzte und die auf dem stillschweigenden Einvernehmen basierte, dass man das „böse, schlecht veranlagte Kind“ mit vereinten Kräften kurieren müsse. Es war deutlich geworden, dass es in Erziehungsfragen eine grundlegende Konkurrenz zwischen staatlichen und privaten Interessen gab oder doch geben konnte. Mit dem § 1631 BGB hatte zwar auch das traditionelle Konzept der „hülfreichen Hand“ Eingang in das Zivilgesetzbuch gefunden. Der Gesamtton der Auseinandersetzungen wurde aber durch ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den Eltern bestimmt.
4.3.2 Die Reklamationsproblematik in Hamburg Obwohl auch die Hamburger Regierung ein starkes Interesse daran hatte, dass dem geltenden ZEG nicht die rechtliche Grundlage entzogen wurde, hatte sie sich aus den Beratungen zum § 1666 BGB fast vollständig herausgehalten. Dennoch wurden die Grenzziehung zwischen elterlichem und staatlichem Erziehungsrecht und die darauf gerichteten institutionellen Prozeduren in der Hansestadt ab den frühen 1890er Jahren aus ganz praktischen Gründen ebenfalls zu einem Thema behördeninterner und öffentlicher Auseinandersetzungen: Immer weniger Eltern waren bereit, stillschweigend zu akzeptieren, dass ihnen ihre freiwillig untergebrachten Kinder von den Fürsorgebehörden auch dann noch vorenthalten wurden, wenn sich ihre familiäre und/oder materielle Situation gebessert hatte. Außerdem hatte die Ausgliederung der Jugendfürsorge aus der allgemeinen Armenfürsorge dazu geführt, dass die Differenzen in der Zielsetzung beider Verwaltungszweige immer stärker hervortraten: Während das Waisenhauskollegium (WHK) vor allem daran interessiert war, die Erfolge öffentlicher Ersatzerziehung langfristig abzusichern und die Kinder dauerhaft von den Einflüssen ihrer Eltern abzuschirmen, war die Allgemeine Armenanstalt bestrebt, die Armenlasten zu minimieren und die Waisenpflege, für die sie aufzukommen hatte, zeitlich zu begrenzen. Als sich kurz vor Inkrafttreten des BGB die Hamburger Behörden endlich mit den Auswirkungen befassten, die das neue Familien- und Vormundschaftsrecht für die Hamburger Fürsorge- und Verwaltungs-
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praxis haben würde, war längst ein akuter Bedarf nach einer besseren formellen Absicherung der Eingriffe in die elterlichen Erziehungsrechte sichtbar geworden. Bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Hamburger Waisenpflegegesetzes im Jahre 1892 hatten sich das WHK, die Allgemeine Armenanstalt und die Vormundschaftsbehörde in kommissarischen Verhandlungen darüber geeinigt, wie mit Kindern zu verfahren sei, die von ihren Eltern aus der Waisenpflege „reklamiert“ worden waren, bei denen die Erziehung jedoch aus anderen als wirtschaftlichen Gründen nicht ausreichend sichergestellt erschien.1 Das Gesetz selbst hatte das Zusammenwirken der drei Behörden in diesen Fällen nur vage umrissen. Es wurde deshalb vereinbart, dass immer dann, wenn sich Armenanstalt und WHK einig waren, dass die Waisenpflege im Interesse des Kindes fortgesetzt werden müsse, eine Einschaltung der Vormundschaftsbehörde unterbleiben sollte. Wenn die Eltern ihre Kinder nach der Konfirmation oder schon zu einem früheren Zeitpunkt zurückverlangten, wurde ihnen in diesen Fällen die Herausgabe ihrer Kinder wie bisher mit einem Hinweis auf die Anstaltsvormundschaft des WHK verweigert. Traten hingegen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Fürsorgebehörden hinsichtlich der Notwendigkeit einer Fortführung der öffentlichen Erziehung auf, so sollte ein formeller Beschluss der Vormundschaftsbehörde herbeigeführt werden, der genau diesen fortgesetzten Bedarf feststellen sollte und auch für die Armenbehörde verbindlich war. Die Vereinbarung war mithin ganz an verwaltungspraktischen und arbeitsökonomischen Gesichtspunkten orientiert. In der Praxis bewährte sie sich gleichwohl nicht, weil sie weder den privaten Rechten der Eltern ausreichend Rechnung trug, noch der vom Gesetzgeber vorgesehenen Kompetenzverteilung entsprach. Schon wenige Jahre nach Inkrafttreten des Waisenpflegegesetzes konnten Eltern auf dem Rechtsweg erwirken, dass ihnen ihre ohne Einschaltung der Vormundschaftsbehörde abgenommenen bzw. vorenthaltenen Kinder zurückgegeben wurden. 1898 stellte das Hanseatische OLG auf eine entsprechende Klage hin klar, dass die vormundschaftliche Stellung des WHK nach Art. 9 VO keineswegs ausreiche, um Eltern, die noch im Vollbesitz ihrer Rechte waren, die Rückgabe ihrer Kinder zu verweigern. Es sei dabei völlig unerheblich, ob der Vater oder die Mutter der Aufnahme zunächst zugestimmt hätten oder nicht, weil die natürlichen Erziehungsrechte durch Verzichtserklärungen niemals aufgehoben werden könnten und eventuell anders lautende vertragliche Vereinbarungen gegenstandslos seien.2 Entzog schon diese höchstrichterliche Entscheidung Teilen der behördlichen Absprache den Boden, so brachte sie ein drei Jahre andauernder Rechts1 Gutachten des Bezirksvorstehers H. Joachim in Waisenpflegesachen in: STAH 351-2 II, Bd. 347 u. Beiblatt HGZ, 20. 1899, Nr. 10, S. 54. 2 Vgl.: Beiblatt HGZ, 19. 1898, Nr. 178.
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streit endgültig zu Fall. Der Rechtsauseinandersetzung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine bedürftige Witwe, die sich mit einem als „arbeitsscheu“ etikettierten Zimmermann wiederverheiratet hatte, hatte ihre beiden erstehelichen Söhne im Alter von neun und zwölf Jahren Anfang 1895 offenbar nur sehr widerwillig und unter Androhung des Entzugs der Armenunterstützung in Waisenpflege gegeben. Als sie nur wenige Wochen später, nachdem die Unterstützungsleistungen bereits eingestellt worden waren, ihre Kinder wieder zurückverlangte, wurde ihr Ersuchen vom WHK abgewiesen. Auch mehrfache Wiederholungen dieses Antrages bei anderen Stellen führten zu keinem anderen Ergebnis. Erst nachdem sie zweimal bis in die höchste Instanz geklagt hatte, bekam die Mutter insoweit Recht, als das Hanseatische OLG mit einer Entscheidung vom April 1898 die bisherige Praxis der Fürsorgebehörden in für rechtswidrig erklärte.1 Das Gericht stellte klipp und klar fest, dass die Armenbehörde Kinder gegen den Willen der Erziehungsberechtigten weder in Waisenpflege nehmen noch behalten könne, sondern in all ihrem Tun von der Zustimmung der Eltern abhängig sei. Die Waisenpflege sei nur eine andere Form der freiwilligen Armenpflege und hätte mit der gegenüber Bettlern, Vagabunden und Obdachlosen praktizierten Zwangsarmenpflege nichts zu tun. Wie aber bei der Armenpflege, so gelte auch bei der Waisenpflege der Grundsatz: „beneficia non obtruduntur“. Dass eine Wohltat in Form von Armenpflege dem Empfänger nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werden könne, gehe schon daraus hervor, dass mit der Annahme der Unterstützung die Einbuße weitreichender politischer Rechte verbunden sei. Das OLG begnügte sich jedoch nicht damit, die Armenbehörde in ihre Schranken zu verweisen. Auch das WHK wurde vom OLG über die ihm zustehenden Rechte belehrt. Die Anstaltsvormundschaft des Kollegiums nach Art. 9 VO bewirke nur, so hieß es in der Entscheidung, dass die elterlichen Rechte während der Dauer des Aufenthalts der Kinder in der Anstalt ruhten. Ein Rückverlangen der Eltern aber führe automatisch auch zur Beendigung der Vormundschaft. An diesem Grundsatz ändere sich auch dadurch nichts, dass zwischen Armenbehörde und WHK Einvernehmen über die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Waisenpflege bestehe. Schließlich führten selbst die Bestellung von Spezialvormündern durch die Vormundschaftsbehörde und die von diesen getroffenen Entscheidungen über den Aufenthalt und die Unterbringung der Mündel nicht zu einer dauerhaften Suspendierung des elterlichen Herausgabe- bzw. Reklamationsrechts. Denn in dem Moment, in dem die Kinder in Waisenpflege kämen und die Vormundschaft von den Einzelvormündern an die Anstaltsverwaltung übergehe, würden die Eltern auch wieder in den Vollbesitz ihrer Rechte 1 Beiblatt HGZ, 20. 1899, Nr. 25. Bereits im Mai des Vorjahres hatte die Allgemeine Armenanstalt bei einem ihrer Bezirksvorsteher ein umfangreiches Rechtsgutachten zum Fall in Auftrag gegeben, das zum gleichen Ergebnis gelangte. In: STAH 351-2 II, Bd 347.
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gelangen. Den einzigen Weg, den das OLG für gangbar hielt, um Minderjährige gegen den Willen der Eltern dauerhaft in öffentliche Erziehung zu nehmen oder in dieser zu behalten, war der Entzug der elterlichen Rechte durch einen entsprechenden Beschluss der Vormundschaftsbehörde und die anschließende Beantragung der Wiederaufnahme in Waisenpflege durch den dann das Personensorgerecht ausübenden generellen Vormund. Während die junge Witwe mit dem Ausgang des Prozesses zufrieden sein konnte, stellte die Entscheidung des OLG für die involvierten Behörden offensichtlich eine große Ernüchterung dar. Die Zeit, in der man sich über geltendes Recht einfach hinwegsetzen konnte, um zu einem möglichst unkomplizierten Verfahren zu gelangen, war vorbei. Spätestens nach der Veröffentlichung der Entscheidung war mit einer stillschweigenden Duldung der bisher geübten Praxis durch die Eltern kaum noch zu rechnen. Das galt umso mehr, als sich die ersten Anhaltspunkte für eine Politisierung der Reklamationsproblematik ergaben. Im Herbst 1897 war im „Hamburger Echo“, der sozialdemokratischen Tageszeitung der Hansestadt, ein Bericht über den Fall eines Witwers erschienen, dem das WHK die Herausgabe zweier Töchter verweigert hatte, die während seiner Inhaftierung in Waisenpflege gegeben worden waren.1 Die Redaktion kommentiert die Sache mit den Worten: „Solche Vorkommnisse, wie sie hier geschildert worden sind, sind uns nichts Neues. Fortgesetzt gehen uns Klagen und Beschwerden gleicher und ähnlicher Art zu. Eine Änderung der Zustände bei der Waisenhausverwaltung ist aber nicht eher zu erwarten, als bis in der Bürgerschaft energische Vertreter der Interessen der Bevölkerung sitzen, die dafür sorgen, daß mit dem bei der Waisenhausverwaltung herrschenden gemeinschädlichen System gründlich aufgeräumt wird.“2
Die gegen die Waisenhausverwaltung gerichteten Klagen waren offenbar so weit verbreitet, dass die Sozialdemokraten sie sogar in ihr „Aktionsprogramm“ zum Bürgerschaftswahlkampf von 1898 aufnahmen. Neben dem Ausbau der Vorschulerziehung und der Stärkung der Mitsprache der Eltern in der Schulverwaltung forderte die Partei unter Punkt 15 auch die „Verbesserung der Armen- und
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In Untersuchungshaft genommen worden war der Vater, weil ihn eine ehemalige Haushälterin der Blutschande bezichtigt hatte. Seine beiden Töchter im Alter von vier und fünf Jahren befanden sich zum Zeitpunkt der Inhaftierung in einer vom Vater ausgewählten und bezahlten Privatpflegestelle, aus der sie auf Initiative des Waisenhauses aber fortgenommen und auch nach der Einstellung des gegen den Vater gerichteten Ermittlungsverfahrens diesem noch vorenthalten wurden. 2 „Hamburger Echo“ vom 23. Oktober 1897
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Waisenpflege. Unzulässigkeit der Uebertragung von Vormundschaften an die Armen- und Waisenbehörden oder deren Beamten.“1 Durch die höchstrichterlichen Entscheide und die in die gleiche Richtung zielende politische Agitation der Sozialdemokraten geriet die Waisenhausverwaltung unter massiven Druck. In den Augen des noch amtierenden Direktors Stalmann stand nicht nur die geordnete Fürsorge für all jene Kinder auf dem Spiel, die noch Eltern hatten. Wenn man die vormundschaftlichen Kompetenzen des WHK derart umfassend in Zweifel zog, werde im Grunde genommen seine gesamte über das 14. Lebensjahr hinausreichende und armenrechtlich nicht mehr zu rechtfertigende Fürsorgetätigkeit zur Disposition gestellt. Insbesondere der Dienst- und Lehrstellenvermittlung für bereits schulentlassene Zöglinge, in die so viel Hoffnung gesetzt worden war, schien durch die Infragestellung der Reichweite der Anstaltsvormundschaft der rechtliche Boden entzogen zu sein. Wie unabwendbar die Auflösung des Instituts der gesetzlichen Anstaltsvormundschaft war und welch weitreichende Folgen sich für die Praxis daraus ergaben, wurde der Waisenhausverwaltung gleichwohl erst im Zusammenhang mit den Erörterungen der einschlägigen Bestimmungen des BGB bewusst. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Senatskommission für die Justizverwaltung offenbar noch Spielraum für die Verabschiedung einer neuen Hamburger VO gesehen und einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten lassen. Ein zu diesem Vorhaben von Direktor Stalmann verfasste gutachterliche Stellungnahme beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Frage, wie man die „altbewährte Einrichtung“ der Hamburger Anstaltsvormundschaft oder zumindest Teile von ihr nach Inkrafttreten des BGB noch retten könne.2 Zwar ging der Direktor auch jetzt noch von dem kaum mehr zu haltenden Standpunkt aus, die bisher dem Kollegium eingeräumte vormundschaftliche Stellung sei geeignet, die „oft versuchte Einmischung unverständiger Angehöriger erfolgreich zurück zu weisen und namentlich die zahlreichen dauernd überwiesenen älteren Unmündigen vor Ausbeutung oder sittlicher Verlotterung zu schützen“.3 Seine Bilanzierung der neuen reichs1 STAH 331-3 S 2837-6 Bd. 4. Orientiert man sich an den Berichten der politischen Polizei, so spielte die Abschaffung der Anstaltsvormundschaft in der Agitation der Partei allerdings keine tragende Rolle. Immerhin ließ sich ein Redner durch die ihm noch fehlende „politischen Immunität“ nicht davon abschrecken, die Unterbringung von Hamburger Waisenpfleglingen auf dem Land anzuprangern. Aus dem Vorwurf der wirtschaftlichen Ausbeutung von Kindern durch den Bauernstand ließ sich offenbar mehr politisches Kapital schlagen als durch den Hinweis auf die Missachtung fundamentaler Elternrechte. 2 STAH 354-5 I, 23., Bl. 4. 3 Ebd.. Stalmann schien es ganz selbstverständlich zu sein, dass der öffentlichen Jugendfürsorge ähnliche weitreichende Befugnisse zugestanden werden müssten wie dem Lehrer gegenüber seinen Schülern oder dem Offizier gegenüber den Rekruten: „Nun stelle man sich vor, daß in Zukunft diese Inhaber der elterlichen Gewalt von dem nach § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machend über die Erziehung, die Beaufsichtigung und den Aufenthalt ihrer in
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rechtlichen Bestimmungen aber fiel niederschmetternd aus: Weder nach den im EG BGB enthaltenen Ländervorbehalten noch nach den Bestimmungen des BGB selbst war nach seiner Auffassung zu retten, „was von sachkundiger Seite als Vorzug der hamburgischen öffentlichen Waisenpflege anerkannt ist“. Und mit Blick auf die sozialdemokratische Agitation fügte er in einer Mischung aus Zorn und Resignation hinzu, dass das BGB damit in Hamburg die Geschäfte derjenigen „nicht gerade staatserhaltenden Partei“ besorge, welche die Beseitigung der gesetzlichen Vormundschaft zum politischen Ziel erhoben habe. Schon einige Jahre vor der Jahrhundertwende wuchs in Hamburg demnach im Zusammenhang mit der Reklamationsproblematik das praktische Bedürfnis nach formellen Eingriffen in das Personensorgerecht. Mehrere Faktoren wirkten dabei zusammen. Zum einen war die Waisenpflege sowohl was das Lebensalter der Minderjährigen als auch was die erfassten Problemlagen anbetraf massiv ausgedehnt worden, ohne dass es hierzu eine ausreichende gesetzliche Grundlage gab. In „wahrhaft staatsmännischer Weisheit und weitblickender Ausübung ‚vorsorgender Wohlthätigkeit’“1 hatte die Armenbehörde nach den Worten des des Waisenhausesdirektors auch solche Maßnahmen finanziert, zu denen sie streng genommen gar nicht verpflichtet war. Die Gewährung solch freiwilliger Leistungen galt als fortschrittlich und weitsichtig, war aber zugleich auch immer disponibel. Ein zweiter Faktor, der mitspielte, war die organisatorische Ausgliederung der Waisenpflege aus der allgemeinen Armenfürsorge. Dieser Vorgang ließ den latenten Interessensgegensatz beider Fürsorgezweige immer deutlicher hervortreten. Zwar galt die Waisenpflege auch weiterhin als ein Zweig der Armenfürsorge. Das WHK entwickelte aber zunehmend eigenständige Kriterien, an denen es den Erfolg seiner Arbeit maß, und diese gerieten immer stärker in Widerspruch zur Strategie der Kostenminimierung, welche die Armenverwaltung verfolgte. Am deutlichsten wurde diese Spannung im Umgang mit unterhaltspflichtigen Eltern: Während das WHK schon beim geringsten Verdacht mangelhafter häuslicher Erziehungstätigkeit seine Erziehungserfolge abzusichern versuchte, indem sie auf eine möglichst dauerhafte Trennung der Kinder von ihren Eltern drängte, war die Armenbehörde daran interessiert, die moralischen Maßstäbe an die Familienerziehung zurückzuschrauben und jeden Unterstützungsbedarf, der auch anders als durch staatliche Hilfe gedeckt werden konnte, abzuwehren. Schließlich hatte sich im Verlauf der 1880er und 1890er Jahre offensichtlich öffentlicher Pflege befindlichen Kinder mitbestimmen dürfen. Das würde zu ebenso unhaltbaren Zuständen führen, als wenn etwa die Eltern die Befugniß erhielten, darüber mitzubestimmen, wie ein Lehrer die Kinder seiner Classe unterweisen und erziehen, oder gar, wo ein noch unter elterlicher Gewalt stehender militairpflichtiger Sohn dienen, und wie er von seinen Vorgesetzten behandelt werden solle.“ 1 Ebd.
Auf dem Weg zum staatlichen Wächteramt
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auch das Auftreten der Unterschichtsangehörigen gegenüber den staatlichen Organen nachhaltig gewandelt. Der Waisenhausskandal von 1885/86, das Auslaufen der Sozialistengesetze und das jämmerliche Staatsversagen bei der Hamburger Choleraepidemie von 1892 hatten das Selbstbewusstsein der organisierten Arbeiterschaft Hamburgs und – wie sich vermuten lässt - der unteren Bevölkerungsschichten insgesamt gestärkt.1 In Bezug auf die öffentliche Jugendfürsorge fand dieses gestärkte Selbstbewusstsein seinen sichtbarsten Ausdruck in den Zivilprozessen, welche die Eltern gegen die Fürsorgebehörden anstrengten. Eine Praxis, die wie die informellen Sorgerechtsentzüge so offensichtlich gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstieß, war nur noch beizubehalten, wenn man den offenen Konflikt mit der Sozialdemokratie riskieren wollte. Der Ausgang eines solchen Konfliktes war aber nicht vorhersehbar.
1
Vgl. zum Waisenhausskandal oben, Abschnitt 3.2.
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
4.4 Die landesrechtliche Einführung der Eingriffsnorm Nach dem Inkrafttreten des BGB stellte sich für alle deutschen Teilstaaten die Frage, wie sie die Reichsgesetzgebung im Einzelnen umsetzen sollten – mit anderen Worten, ob sie sich damit begnügen wollten, durch Ausführungsgesetze die bestehenden Bestimmungen lediglich der neuen Rechtslage anzupassen, oder ob sie den Ländervorbehalt positiv nutzen wollten, um neue Wege zu beschreiten. Preußen und Hamburg gingen hier getrennte Wege. In Preußen wurde das BGB zum Anlass genommen, das Zwangserziehungsrecht zügig der Entwicklung in den anderen deutschen Staaten anzupassen. In Hamburg dagegen begnügte man sich zunächst damit, transitorische Verfügungen zu erlassen. Die gesetzliche Neuregelung des Zwangserziehungswesens wurde hier in eine umfassendere Reform des gesamten Fürsorgewesens eingebunden. In den gesetzgebenden Körperschaften beider Staaten gab es eine deutliche Tendenz zu einer „sozialpolitischen“, das heißt die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexte stärker als bisher berücksichtigenden Ausgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge. In der landesrechtlichen Umsetzung der reichsrechtlichen Bestimmungen sollte sich allerdings zeigen, dass in Preußen die Hürden zu einer flächendeckende Umsetzung frühzeitig einsetzender öffentlicher Erziehungsmaßnahmen sehr viel höher waren als im Stadtstaat Hamburg. In Hamburg konnten die Reformverfechter mit den Ergebnissen der 1908 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung zufrieden sein, während im großen Nachbarstaat die anfängliche Euphorie über das moderne „Fürsorgeerziehungsgesetz“ von 1901 schon bald wieder abebbte und Forderungen nach einer neuerlichen Gesetzesreform Platz machte.
4.4.1 Wer bezahlt die „künstliche Armut“? Die preußische Kostendebatte zur vorbeugenden „Fürsorgeerziehung“ Als einer der ersten deutschen Staaten nutzte Preußen die Chance zur Neuregelung, die sich durch § 1666 BGB und Art. 135 des EG BGB ergab. Im Juli 1900 erließ es das so genannte Fürsorgeerziehungsgesetz (pr. FEG). Dass gerade Preußen den Anfang machte, war absehbar gewesen, denn das pr. ZEG war zu diesem Zeitpunkt bereits 22 Jahre in Kraft, und entsprechend groß war der Druck, es an die neuere Gesetzesentwicklung anzupassen. Im Unterschied zum pr. ZEG von 1878, das als reines Ausführungsgesetz zum RStGB konzipiert worden war und nur Kinder und Jugendliche erfasste, die eine strafbare Handlung begangen hatten, sollte das neue Gesetz die ganze Bandbreite sozialisationsbezogener Problemlagen abdecken. Von den durch das elterliche Verhalten
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„gefährdeten“ Kindern, die es vorbeugend zu schützen galt, über die bereits „verwahrlosten“ Kinder und Jugendlichen, deren weitere „Verwahrlosung“ aufgehalten werden sollte, bis hin zu den sittlich schon „tief herabgesunkenen“ Minderjährigen, die durch Besserungsmaßnahmen vor ihrem „vollständigen Verderben“ bewahrt werden sollten, waren im Prinzip alle nachhaltigen Störungen der Primärsozialisation erfasst.1 Das pr. FEG brachte eine dreifache Ausdehnung der öffentlichen Ersatzerziehung mit sich. Zunächst war die Altershöchstgrenze von bisher 16 Jahren auf nunmehr 18 Jahre angehoben worden. Sodann hatte man die Gruppe jener Minderjährigen erfasst, die ohne „Verschulden“ der Eltern sittlich stark verwahrlost waren, also jenen Personenkreis, der im Art. 135 EG BGB benannt worden war. Das eigentliche Novum des Gesetzes aber bestand in der präventiven Erweiterung des staatlichen Zugriffes auf die „gefährdeten“ Kinder. Darin wurde das „ethische Moment“, der „frische sozialpolitische Geist“ des Gesetzes gesehen, der mit der neuen Bezeichnung „Fürsorgeerziehung“ zum Ausdruck gelangen sollte. Der Begriff war nicht nur erdacht worden, um die negativen Konnotationen der bisherigen Zwangserziehung abzuschütteln. Er war auch als terminologische Klammer gedacht, unter die sich auch die „guten Kinder schlechter Eltern“ problemlos subsumieren ließen.2 Der Einbezug der „gefährdeten“ Kinder in das Gesetzeswerk war keineswegs nur ein rhetorischer Akt. Bereits das ALR hatte ja, wie oben dargestellt, dem Staat ein weitgehendes Eingriffsrecht bei „grausamer Misshandlung“, „Verleitung zum Bösen“ und „Vernachlässigung“ durch den väterlichen Gewalthaber eingeräumt.3 Besonders in Preußen, wo sich die kommunale Armenunterstützung auf Aufwendungen für den „unentbehrlichen Unterhalt“ beschränkte, darüber hinausgehende, rein erzieherische Bedarfslagen aber nicht abdeckte, hatte sich schon seit Langem das Problem ergeben, dass bei armen Familien die vormundschaftsgerichtlich verfügte Wegnahme der Kinder regelmäßig an der ungeklärten Kostenfrage scheiterte. Obwohl diese Problematik allgemein bekannt war, hatten die Verfasser des BGB bewusst darauf verzichtet, den Ländern vorzuschreiben, wie sie die Kosten aus der zivilrechtlich verankerten Zwangserziehung begleichen sollten. Dass sich vormundschaftsgerichtliche Beschlüsse wegen fehlender Finanzmittel als undurchführbar erweisen würden, glaubten die Mitglieder der zweiten Kommission nicht verhindern zu können.4 Genau diese entscheidende Lücke der Reichsgesetzgebung hatte man in Preußen durch die Einbeziehung der „gefährdeten“ Kinder zu schließen versucht. Der Fortschritt des Gesetzes wurde 1 Altona [1903], S. 83. Vgl. auch die Ausführungen des Kammergerichts in seinem Beschluss vom 11. November 1901 in: Rechtspr. OLG Zivilrecht, 1901, 2. HJ, Nr. 108, S. 421. 2 Verh. Pr. Abgeordnetenhaus, 19. Legislaturperiode, II. Session 1900, Spalte 4576 ff. 3 Vgl.: oben S. 305. 4 Balks [1986], S. 174.
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also neben der systematischen Zusammenfassung aller jugendfürsorgerischen Problemlagen in erster Linie in der finanziellen Absicherung der präventiven Eingriffe gesehen.1 Es gab indes bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes manche Anzeichen, die dafür sprachen, dass das Kostenproblem noch längst nicht gelöst war und sich zu einem wesentlichen Hindernis bei der Implementierung der präventiven Fürsorgeerziehung auswachsen könnte. Schon der Formulierung einer zusätzlich ins Gesetz aufgenommenen Tatbestandsvoraussetzung, nach der die Fürsorgeerziehung nach § 1666 BGB nur dann zulässig sein sollte, wenn sie „erforderlich ist, um die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten“, war zu entnehmen, dass man Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, um die unkalkulierbaren Folgekosten aus der vorbeugenden Ersatzerziehung in den Griff zu bekommen.2 Außerdem war die Aufteilung der Kosten zwischen Kommunen, Provinzialverbänden und Staat im Gesetzgebungsverfahren bis zuletzt umstritten gewesen. In den parlamentarischen Verhandlungen war man schließlich übereingekommen, dass die Ortsarmenverbände wegen ihrer oftmals außerordentlich prekären wirtschaftlichen Lage nur für die Erstausstattung, die Überführung sowie das eventuelle Begräbnis der Fürsorgezöglinge aufkommen sollten, während die Unterbringungskosten im Verhältnis 1/3 – 2/3 zwischen Provinzialverbänden und Staat aufgeteilt wurden.3 Gleichwohl hatte es bis zum Schluss Stimmen gegeben, die vor einer finanziellen Überforderung der Provinzialverbände warnten.4 Niemanden, der mit dem Verlauf der gesetzgeberischen Debatte und dem Wortlaut des pr. FEG vertraut war, konnte es demnach überraschen, dass schon kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes ein lebhafter Streit zwischen den Trägern der Armenfürsorge und den Provinzialverbänden entbrannte, der sich vor allem an den Kosten aus der Fremdunterbringung „guter Kinder schlechter Eltern“ entzündete. Zunächst hatte der außerordentlich steile Anstieg der zivilrechtlich begründeten Anträge auf Fürsorgeerziehung bei den Vertretern der Provinzialverwaltungen den Argwohn genährt, die antragstellenden Ortsarmenverbände könnten es auf eine systematische Abwälzung von Kosten abgesehen haben, indem 1
Altona [1903], S. 87, 90 u. Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 19. Ähnliche Bestimmungen waren auch in die Landesgesetze Bayerns, Badens und Waldecks aufgenommen worden, während in den übrigen Ländern des Reiches, die die Zwangserziehung bereits der neuen reichsrechtlichen Lage angepasst hatten, die Bestimmungen des § 1666 BGB ohne zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen übernommen worden waren. In Hamburg und Sachsen war die öffentliche Ersatzerziehung bis 1903 überhaupt noch nicht neu geregelt worden (Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 31 ff.). Dass es auch nach 1910 noch beträchtliche regionale Unterschiede in der Anordnung der Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung gab, geht aus Petersen [1912c], S. 21, hervor. 3 Vgl.: § 15 des pr. FEG in: Schmitz [1917], S. 225 f. 4 Vgl.: Schmitz [1917], S. 227 u. Verh. Pr. Abgeordnetenhaus, 19. Legislaturpersionde, II. Session 1900, Spalte 4586 ff. 2
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sie Kinder, die lediglich arm waren, kurzerhand zu „gefährdeten“ erklärten.1 Als vor diesem Hintergrund mehrere Provinzialverwaltungen dazu übergingen, routinemäßig den Rechtsweg zu beschreiten, um die von den Armenverbänden angeregten Überweisungsbeschlüsse einer Überprüfung zu unterziehen, erhoben die Ortsarmenverbände nunmehr ihrerseits den Vorwurf, die Kläger hätten es nur darauf abgesehen, die auf sie zukommenden Kosten gering zu halten.2 Die Anzahl der kammergerichtlichen Entscheide, die in den Jahren 1901 und 1902 zur Abgrenzung der Zuständigkeit von Armenfürsorge und staatlicher Jugendfürsorge ergingen, war in der Tat beachtlich. Zwischen September 1901 und Dezember 1902 musste das oberste preußische Gericht sich nicht weniger als 16 Mal mit der Materie befassen.3 Das Kammergericht stellte zwei Grundsätze auf, die in späteren Jahren nur noch leicht modifiziert wurden.4 Zum einen stellte das Gericht klar, dass es einen bedeutenden Unterschied zwischen zivilrechtlich angeordneter Zwangserziehung und öffentlich-rechtlicher Fürsorgeerziehung gäbe, und dass der Zusatz in § 1 Nr. 1 des pr. FEG, nach dem die „Erforderlichkeit“ der Maßnahme festzustellen war, als Subsidiaritätsgrundsatz zu verstehen sei. Überall dort, wo „gefährdete Kinder“ durch andere Maßregeln, wie etwa die bloße Entfernung aus dem elterlichen Haushalt, wirksam vor „Verwahrlosung“ geschützt werden konnten, war die Anordnung der Fürsorgeerziehung demnach unzulässig. Zum anderen entwickelte das Kammergericht in Anlehnung an die Entscheidungen des „Bundesamtes für das Heimatwesen“, der höchsten Spruchinstanz des Armenwesens, den Begriff der „künstlichen Hilfsbedürftigkeit“. Der Entzug der Personensorge durch das Vormundschaftsgericht habe, so stellte das Kammergericht klar, dieselbe Wirkung wie die durch Verwaisung oder Einkommensarmut der Eltern bedingte Mittellosigkeit eines Minderjährigen. In beiden Fällen habe das Kind im armenrechtlichen Sinne als hilfs1
Tatsächlich gab es Armenverwaltungen, etwa die von Berlin, die in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende gleich massenhaft Anträge auf Fürsorgeerziehung wegen angeblicher Kindeswohlgefährdung stellten. Vgl. hierzu: Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 19, 33 u. 47. Da die Berliner Armenverwaltung bis 1900 viele „gefährdete Kinder“ auf freiwilliger Basis übernommen hatte, war die pragmatische Nutzung der neuen Gesetzeslage vor der Hand liegend. Auch statistische Daten ließen sich als Beleg für die behauptete Tendenz heranziehen. So waren in der Zeitspanne von April bis September 1901 rund 45 Prozent aller Überweisungen in Fürsorgeerziehung auf der Basis des § 1 Nr. 1 pr. FEG, das heißt wegen „Gefährdung“, erfolgt. Nach einer Zusammenstellung des Düsseldorfer Landrates Schmidt entfielen von 2.885 Überweisungen 1.299 auf § 1, Nr. 1, 417 auf § 1, Nr. 2 und 1.169 auf § 1 Nr. 3 Pr.FEG. Vgl. Altona [1903], S. 85. 2 Stenogr. Bericht DVAW 1903, S. 29. 3 Eine Zusammenstellung und kurze Inhaltsübersicht der Entscheidungen findet sich in: JdF 2. 1907, S. 117 f. Um wie viel höher die Zahl der landgerichtlichen Beschlüsse gewesen sein musste, lässt sich nur erahnen. 4 Eine übersichtliche Darstellung der kammergerichtlichen Beschlüsse gibt: Schlenthner [1904], S. 645 ff.
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bedürftig zu gelten und müsse durch den Ortsarmenverband unterhalten werden. Zusammengenommen gaben die beiden Prinzipien die folgende Praxis vor: Erschien zur Abwendung der „Verwahrlosungsgefahr“ der Einsatz „besonderer erziehlicher Maßnahmen“ nicht erforderlich, so musste sich der Vormundschaftsrichter auf einen Sorgerechtsentzug bzw. einen Trennungsbeschluss beschränken und einen Pfleger bestellen, der beim zuständigen Ortsarmenverband die Übernahme des betreffenden Kindes zu beantragen hatte. Erst wenn der Ortsarmenverband und der ihm übergeordnete Bezirksausschuss die Übernahme der Erziehung unter Berufung auf die rechtliche Beschränkung der armenrechtlichen Unterstützungspflicht verweigerten, konnte der Vormundschaftsrichter Fürsorgeerziehung nach § 1 Nr. 1 des pr. FEG anordnen. Die Folgen, die kammergerichtliche Rechtsprechung für die Beschlusspraxis der preußischen Vormundschaftsgerichte hatte, waren gravierend. Aufmerksame Beobachter stellten ein abruptes Abflauen der allgemeinen Euphorie fest, die durch die neuen gesetzlichen Möglichkeiten ausgelöst worden war. Sowohl die Antrags- als auch die Beschlussbehörden verloren angesichts der restriktiven Rechtsprechung ihr anfänglich bekundetes Interesse an der präventiven Fürsorgeerziehung.1 Am eindrücklichsten ließen sich die Folgen der Kammergerichtsentscheide an der Entwicklung der Überweisungszahlen und der Zusammensetzung der Fürsorgezöglinge dokumentieren. Im Vergleich zum Vorjahr war die Zahl der nach § 1 Nr. 1 des pr. FEG angeordneten Fürsorgeerziehungen 1902 um mehr als die Hälfte zurückgegangen, während gleichzeitig das Durchschnittsalter der Fürsorgeerziehungszöglinge und der Anteil der bereits vorbestraften Jugendlichen unter ihnen beträchtlich zugenommen hatte.2 Alles lief also auf eine Zweiteilung der öffentlichen Ersatzerziehung hinaus: Die kommunale Armenfürsorge blieb in weitem Umfang für die „guten Kinder schlechter Eltern“ zuständig, während die Provinzialverwaltungen die Fürsorge und Erziehung der bereits „verwahrlosten“ Minderjährigen übernahmen. War der Zwist bisher noch vorwiegend im Gerichtssaal ausgetragen worden, so weitete er sich angesichts dieser drastischen Folgen zu einem heftigen Disput in den gesetzgebenden Körperschaften sowie in diversen Fachvereinigungen aus. Zum Teil lebte dabei der alte parteipolitische Prinzipienstreit über die staatlichen Eingriffsrechte wieder auf.3 Aber der Konflikt hatte sich doch langsam von den weltanschaulichen Differenzen gelöst und wurde mehr und mehr von den gegensätzlichen Standpunkten der Vertreter der unterschiedlichen Verwaltungsebenen und gerichtlichen Instanzen bestimmt. Im Vergleich zu den 1
Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 17. A.a.O., S. 28 u. Köhne [1904], S. 528 f. Vgl. hierzu auch: BlHWpfl. 4/1905, Heft 3, S. 14. 3 Der alte freisinnige Prinzipienstandpunkt wurde beispielsweise erneut von Schlenther [1904], S. 727 zur Geltung gebracht. 2
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parteienpolitischen Auseinandersetzungen vor der Jahrhundertwende war der Disput zugleich einfacher und komplexer geworden. Im Vordergrund stand ganz zweifellos der finanzielle Interessensgegensatz zwischen kommunalen Armenbehörden und Provinzialverbänden. Er bildete den eigentlichen Ausgangspunkt des Streits.1 Das wurde besonders an der 1903 im Rahmen der DVAWJahresversammlung in Elberfeld geführten Diskussion zum Thema deutlich. Die Magistratsvertreter und Landräte, die hier als Referenten auftraten, begnügten sich nicht mit gegenseitigen Bezichtigungen, bei der vorbeugenden Fürsorgeerziehung Kosten sparen oder abwälzen zu wollen. Ein Vertreter der Breslauer Armenverwaltung ging sogar so weit, die von den Provinzialverbänden ersparte Summe auf einen fünfstelligen Betrag bis auf zwei Stellen hinterm Komma zu beziffern.2 Es versteht sich von selbst, dass entsprechende Vorwürfe von den Angegriffenen umgehend dementiert wurden. Aber die Debatte wurde durch die immer wieder vorgebrachte Behauptung, die Gegenseite würde das materielle über das ideelle Interesse stellen, emotional stets aufs Neue aufgeheizt.3 Auf den finanziellen Aspekt lässt sich die Auseinandersetzung gleichwohl nicht reduzieren. Dafür waren einerseits die Geldbeträge, um die es ging, viel zu unbedeutend. Andererseits spricht auch der Umstand, dass sich schon sehr frühzeitig Vormundschaftsrichter in die Debatte einmischten, gegen eine solche Deutung. So beklagte sich beispielsweise der Kieler Amtsrichter Altona bereits im Oktober 1902 im „Zentralblatt für freiwillige Gerichtsbarkeit“ sehr eindringlich über die verheerenden praktischen Folgen der kammergerichtlichen Entscheidungen, indem er den „jetzige[n] Zustand, dass die Provinzen gefährdete Kinder den Gemeinden zuweisen und diese wiederum ihre Verpflichtungen bestreiten“ für unhaltbar erklärte.4 Er brachte die Sichtweise vieler Richter auf den Punkt indem er ausführte: 1 Der Kostenstreit war wegen der ausdrücklichen Herausnahme der Erziehungsaufwendungen aus dem Pflichtenkatalog der Armenfürsorge und wegen des starken Stadt-Land-Gefälles in Preußen besonders ausgeprägt. Latent vorhanden war der Konflikt aber auch in den Ländern wie Bayern und Waldeck mit ähnlich restriktive Ausführungsbestimmungen zum UWG. Die Rezeption der kammergerichtlichen Grundsatzentscheide zur „künstlichen Hilfsbedürftigkeit“ und Subsidiarität das Thema aber selbst in Hessen auf die Tagesordnung, wohingegen Sachsen, Baden und Württemberg, die Erziehungsaufwendungen seit Langem schon als Pflichtbestandteile der Armenfürsorge betrachteten, fast vollständig davon unberührt blieben (Vgl.: Stenogr. Bericht DVAW 1903, S. 60 ff. und Verh. AFET 1908) 2 Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 29. 3 A.a.O., S. 39. 4 Vgl.: „Centralblatt für freiwillige Gerichtsbarkeit und Notariat sowie Zwangsversteigerung“, Oktober/1902, S. 221-228. In einem auf der Elberfelder DVAW-Versammlung von Schiller als „bürokratisches Meisterstück“ angeführten Verfahren hatte es ein Jahr und nicht weniger als acht Entscheidungen verschiedener Instanzen gebraucht, bis FE nach § 1 Nr. 1 FEG angeordnet werden konnte. Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 27. Dass dieser Zustand fast unverändert bis in die 1910er Jahre fortdauerte, bezeugt der von Petersen zitierte Fall (Petersen [1912c], S. 25 f.).
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„Wer als Vormundschaftsrichter in der Praxis steht, wird wissen, wie schwer die Unterbringung durch private, kirchliche oder Vereinsmittel ist, wie man überhaupt vergeblich anklopft, weil eben kein Geld da ist, wie die kostbare Zeit darüber vergeht, oft Monate, in denen der Minderjährige noch in der bisherigen Umgebung bleibt. Und wie ist die Umgebung! Der Vater ein Trinker, die Mutter verkommen, der Unzucht ergeben, in wilder Ehe lebend – immer dasselbe traurige Bild! Nur schnellstes Eingreifen könnte helfen. Es ist aber nicht angängig, weil die Voraussetzungen für die Fürsorgeerziehung fehlen sollen [...]. Nun bleibt nach dem Kammergericht die Armenverwaltung. Langwierige Korrespondenzen beginnen, die Armenbehörde bestreitet ihre Verpflichtung. Und schliesslich gelangt vor dem Forum des Vormundschaftsrichters ein Streit zur Verhandlung zwischen dem Kommunalverband und der Ortsarmenverwaltung, ein Streit, für den von Rechtswegen ganz andere Organe zuständig sind wie das Vormundschaftsgericht.“1
Ein anderer Vormundschaftsrichter, der Berliner Jugendgerichtsaktivist Paul Köhne, war bedächtiger in seinen Äußerungen. In der Einschätzung der praktischen Folgen der Kammergerichtsentscheide stimmte er mit seinem Kieler Amtskollegen jedoch weitgehend überein.2 Den Vorwurf der Vertreter der Provinzialverwaltungen, die Vormundschaftsrichter würden die Beschwerdeverfahren durch ihre äußerst knapp gefassten Beschlüsse geradezu provozieren, wies er entrüstet zurück, indem er bemerkte, er habe es immer für richtiger gehalten, gute Entscheidungen zu treffen, als große Aufsätze zu verfassen. „Wenn man sagt, daß der Vater sitzt und die Mutter Dirne ist, so ist das eine Zeile und reicht für 8 Kinder, und es kommt auf jedes Kind nicht einmal ein Wort.“3 Noch weiter verkompliziert wurde die Debatte dadurch, dass in ihr ein latenter Konflikt zwischen Stadt und Land zum Tragen kam. Bei den Kritikern der Kammergerichtsentscheide aus den Reihen der kommunalen Armenfürsorge handelte es sich fast ausnahmslos um Verwaltungsbeamte großstädtischer Kommunen. Ihre Klagen aber richteten sich vor allem auf die Zustände, die auf dem Lande herrschten.4 In den Augen der Vertreter der städtischen Armenfürsorge
1 Altona [1903], S. 86 f. Altonas Kommentar gipfelte im Vorwurf, das Kammergericht habe mit seinen Entscheidungen weder den Sinn noch den Wortlaut des pr. FEG getroffen. Es handele sich eben nicht um eine einfache Rechtsfrage, sondern um eine Entscheidung „über das Wohl und Wehe von Hunderten elender Kinder, denen mit dem Fürsorgeerziehungsgesetz eine geordnete Erziehung zu teil werden sollte“. A.a.O., S. 92 2 Vgl. seine Äußerungen in: Köhne [1904], S. 530. 3 Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 40. 4 In den Worten des Potsdamer Oberregierungsrats von Massow: „Mein Haupteinwand gegen die Sachlage, wie sie durch die Entscheidungen des Kammergerichts sich ausgestaltet hat, ist, daß Tausende von Ortsarmenverbänden unfähig sein werden, den ihnen auferlegten Verpflichtungen nachzukommen. [...] Bei der Fürsorgeerziehung kommt es nicht nur auf die Geldmittel, sondern auch auf das Verständnis für die Sache an.“ A.a.O., S. 49. Vgl. hierzu auch: Petersen [1912c]. Nicht zufällig
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waren die Ortsarmenverbände des Landes nicht nur zu leistungsschwach, sondern auch zu uneinsichtig und verständnislos, um wirksame Maßnahmen zum Schutz „gefährdeter Kinder“ zu ergreifen.1 Offenkundig wurde die armenrechtliche Behandlung von „Rechtswaisen“ von diesen Kritikern an den jugendfürsorgerischen Standards gemessen, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Großstädten wie Leipzig, Hamburg und Franfurt usw. entwickelt worden waren. Wie in Hamburg, so waren beispielsweise auch die Armenverwaltungen von Berlin und Potsdam bereits vor der Jahrhundertwende gegenüber „gefährdeten Kindern“ in „Vorleistung“ gegangen, indem sie sie wie gewöhnliche Waisenkinder behandelten. Hier wie dort hatte man außerdem die Schwächen der Beaufsichtigung durch Einzelvormünder kennen gelernt, sich mit „eigensinnigen“ Eltern auseinandersetzen müssen und organisatorische und rechtliche Maßnahmen ergriffen, um solchen Unzulänglichkeiten abzuhelfen. Die Magistrate der betreffenden Städte hatten sich dabei weniger vom öffentlichen Sicherheitsinteresse als vielmehr von allgemeinen sozialpolitischen oder – wie es die Vertreter der Provinzialverwaltungen abschätzig formulierten – vom reinen „Humanitätsgesichtspunkt“ leiten lassen. All diese wertvollen Erfahrungen und Errungenschaften moderner Jugendfürsorgetätigkeit schien das Kammergericht mit seinen Entscheiden komplett zu ignorieren.2 Der Barmener Oberbürgermeister und spätere preußische Finanzminister Lentze, einer der eifrigsten und einflussreichsten Kritiker der kammergerichtlichen Judikatur, betonte auf der Elberfelder Tagung:3 „Nun, meine verehrten Damen und Herren, wird jetzt der Streit immer darauf hinübergespielt, als handele es sich lediglich um einen Kampf bezüglich der Kosten zwischen den Gemeinden und der Provinz. Das ist unzutreffend. Nicht hierum handelt es sich, sondern darum, welcher von zwei ganz grundverschiedenen Wegen beschritten werden soll. [...] [D]as Kammergericht irrt, wenn es die Fürsorgeerziehung als die allersubsidiärste Maßregel ansehen will, die zu ergreifen ist. [...] Nach meiner Ansicht liegt bei der sorgte ein Fall aus dem kleinstädtischen Milieu, der im Herbst 1902 vor dem Kammergericht verhandelt wurde, für besondere Empörung. 1 Vgl.: Rechtspr. OLG Zivilrecht 7. 1903, 2. HJ., Nr. 10 c, S. 89 ff. 2 So erinnerte sich etwa der Potsdamer Stadtrat Jakstein in Elberfeld: „Wir haben damals nicht gefragt: dürfen wir es vor unseren Kommunen, vor den Trägern der Armenlast verantworten, so vorzugehen? – sondern wir haben es getan, weil wir nicht anders konnten, und wir haben die Armenpflegeorgane, die Bürgerschaft, hinter uns gehabt. Wir konnten das früher ganz einfach machen, niemand zwang uns; wir konnten den Vormundschaftsrichter angehen und sagen: entziehe doch den Eltern die Erziehungsrechte –; dann waren wir Herr und konnten mit den Kindern machen, was wir wollten. Jede weitere Fürsorge für Kinder in den Armenverbänden war doch ziemlich wertlos; denn wenn die Armenverwaltung nicht das Recht über die Kinder hat, dann hat sie nichts.“ Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 53. 3 Lentze agierte auch als Mitglied des Preußischen Herrenhauses auf politischer Ebene gegen die enge Rechtsauslegung des Kammergerichts.
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Rechtsprechung bisher der Kardinalfehler darin, daß bei armen, noch nicht verdorbenen Kindern Erziehung und Ernährung identisch sein sollen. Es wird gesagt, die Trennung von den Eltern und die Ernährung in einer andern Familie genügten vollständig im Interesse der Kinder und hierfür hätten die Armenverbände, weil es sich ja nur um die Kosten des Unterhaltes handele, aufzukommen. Denken Sie sich, ein Kind wird seinen Eltern fortgenommen und in einer andern Familie untergebracht, weil es ganz offenbar bei seinen Eltern verwahrlost, oder weil die Eltern nichts taugen und es schlecht erziehen, nach welchen Gesichtspunkten wird die andere Familie ausgesucht? Etwa nach Gesichtspunkten der Ernährung? Nein, durchaus nicht? Ernährt wird das Kind ja auch bei seinen Eltern. Worauf es ankommt, ist, daß das Kind in eine Umgebung kommt, wo es ordentlich erzogen wird.“1
Genau dieses umfassende Verständnis öffentlicher Fürsorgetätigkeit gegenüber „gefährdeten“ und „verwahrlosten“ Minderjährigen war es, das nach Meinung der Fürsorgebeamten im Begriff „Fürsorgeerziehung“ zum Ausdruck gelangen sollte. Die kammergerichtlichen Entscheiden aber stellten dieses breite Verständnis wieder in Frage, indem sie die Fürsorgeerziehung auf ein „besonderes, strenges Erziehungsmittel“ reduzierten. Aus Sicht der Vertreter großstädtischer Kommunen stand zu befürchten, das sich die Fürsorgeerziehung in der Anstaltserziehung von bereits verwahrlosten, älteren Jugendlichen erschöpfte und noch sehr junge, ausschließlich körperlich vernachlässigte Minderjährige der flächendeckend völlig unzureichend organisierten kommunalen Armenfürsorge überlassen werden sollten. Ganz so uneigennützig, wie die Vertreter großstädtischer Armenverwaltungen gern Glauben machen wollten, waren ihre Hoffnungen auf eine staatsweite Durchsetzung der Prinzipien moderner Jugendfürsorge durch das pr. FEG gleichwohl nicht. Der Niveauunterschied zwischen städtischer und ländlicher Armenfürsorge wurde nämlich vor allem dort praktisch relevant, wo die Fürsorgebehörden großer Kommunen daran scheiterten, Unterbringungs- und Verpflegungskosten für vom Land zugezogene „gefährdete“ Kinder auf dem Erstattungswege vom Armenverband des Herkunftsortes zurückzuerlangen.2 Das klassische, armenfürsorgerische Koordinatierungsproblem, das seit jeher zwischen prosperierenden Großstädten und ökonomisch ins Abseits geratenen kleinstädtischen und ländlichen Regionen bestand, brach beim Versuch erneut auf, die vorbeugende Kinder- und Jugendfürsorge flächendeckend umzusetzen.3 Die Kostenfrage war demnach gleich zweifach dimensioniert: Die großstädtischen Armenbehörden argwöhnten, dass die ländlichen und kleinstädtischen Kommunen sich in der Gewissheit wähnten, ihre Ge1
DVAW [1903], S. 42. Vgl. Verh. AFET 1908, S. 159. Vgl.: Zum Interdependenzproblem der städtischen Armenfürsorge in der frühen Neuzeit vgl.: de Swaan [1993], S. 52. Für die Entschärfung des Problems im Reichsgebiet, war das Unterstützungswohnsitzgesetz von 1871 von herausragender Bedeutung gewesen. 2 3
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meindemitglieder würden auch ohne ihr Zutun in der Stadt versorgt werden, während die Provinzialverbände sowohl gegen große als auch gegen kleinere Kommunen den Vorwurf erhoben, „arme“ Kinder zu „gefährdeten“ zu stempeln, um die Kosten für ihre Erziehung dem Staat zuzuschieben. Vor dem Hintergrund dieser mit zunehmender Besorgnis beobachteten Dynamik lief die Diskussion um die Kosten der „künstlichen Hilfsbedürftigkeit“ letztlich auf die organisatorische Fragestellung hinaus, wie sich die flächendeckende Durchsetzung präventiver Jugendfürsorgepolitik unter den Bedingungen des politischen und administrativen Mehrebenensystems Preußens überhaupt bewerkstelligen lasse. Zwei Modelle standen dabei zur Debatte: Entweder konnte man die bereits bestehenden, über verwaltungstechnischen Sachverstand und ein differenziertes Anstaltssystem verfügenden Provinzialverwaltungen mit allen Maßnahmen betrauen, die über die rein armenrechtliche Unterstützung von Minderjährige hinausgingen, das heißt auch mit der Ersatzerziehung der im Sinne des § 1666 BGB „gefährdeten Kinder“. Oder man konnte umgekehrt bei den kleinen, bereits mit den anspruchslosesten Erziehungsaufgaben überforderten Armenverbänden ansetzen und diese zu großen, leistungsstarken Verbänden zusammenschließen, die dann analog der großstädtischen Armenbehörden in der Lage sein würden, auch die prophylaktischen Maßnahmen gegenüber „guten Kindern schlechter Eltern“ sachgemäß durchzuführen. Die Diskussion der hier skizzierten organisatorischen Alternative stand auf der Tagesordnung des 1908 in Straßburg abgehaltenen „Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages“ (AFET).1 Zu einer eingehenderen Erörterung des Gegenstandes kam es allerdings nicht, weil erneut eine höchstrichterliche Entscheidung die Versammelten beschäftigte. Erst kurz vor Tagungsbeginn hatte sich nämlich erstmalig das preußische Oberverwaltungsgericht mit dem Rechtskonstrukt der „künstlichen Hilfsbedürftigkeit“ befasst und war zu einem Ergebnis gelangt, das der kammergerichtlichen Judikatur diametral entgegenstand.2 Nach Auffassung der obersten preußischen Entscheidungsinstanz in Verwaltungsfragen war die vom Vormundschaftsgericht verfügte Unterbringung eines bloß „gefährdeten“ Kindes zum Zwecke seiner Erziehung für den Armenverband in keiner Weise bindend – und was noch schwerer wog: auch ein bloßer Trennungsbeschluss begründete nach Meinung der Verwaltungsrichter niemals einen Unterstützungsbedarf im armenrechtlichen Sinne. Dem Wesen nach, so führten die Juristen aus, 1
Vgl.: Verh. AFET 1908, S. 159. Das Einstiegsreferat zum Themenkomplex hielt Wilhelm Polligkeit. In charakteristischer Zuspitzung vertrat er die These, dass die „notdürftige Erziehung“ eines Kindes schon unter geltendem preußischen Recht zur gesetzlichen Aufgabe der Armenfürsorge gehöre und die „unzureichende Armenpflege [...] eine direkte Bedingung der Verwahrlosung“ sei. Vgl.: A.a.O., S. 128. 2 Die Entscheidung findet sich u.a. in: Die Jugendfürsorge 4/1910, S. 240 ff.
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handele es sich bei einer Trennung auf Grund des § 1666 BGB um nichts anderes als um eine besondere Form der Zwangserziehung, für welche die Armenpflege nach geltendem Recht nicht aufkommen könne. Schon unter den in Straßburg Versammelten fielen die Reaktionen auf diesen Richterspruch alles andere als einheitlich aus. Die Mehrheit schien zunächst einfach nur bestürzt zu sein über die Unvereinbarkeit und Widersprüchlichkeit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Sie wertete diese als ein „Symptom bedenklichen Unordnung des Staatswesens“, unter dem vor allem die „gefährdeten Kinder“ zu leiden hätten.1 Andere, die sich die kammergerichtliche Auffassung zu eigen gemacht und die damit verbundenen Komplikationen durch verfahrenstechnische Verbesserungen und Absprachen auszugleichen versucht hatten, zeigten sich vor allem irritiert über die neuerliche Infragestellung bisher geübten Praxis.2 Und schließlich gab es noch solche, die, wie der Lenneper Amtsrichter Landsberg, die Entscheidung als „Sturm nach starrer Winterkälte“ werteten. Eine gesetzliche Klarstellung, so waren sie der Meinung, war nunmehr unausweichlich und manche sahen bereits die Chancen steigen, dem pr. FEG seine ursprüngliche sozialpolitische Zielsetzung zurückzugeben.3 Was die Gesetzesreform anging, so sollten sich die Hoffnungen von Landsberg bewahrheiten. Die weiter gesteckten Erwartungen aber, mit einer Neufassung des § 1 Nr. 1 pr. FEG ließe sich das Durchschnittsalter der Fürsorgezöglinge nachhaltig senken, die Familienerziehung ausbauen und dadurch das negative Image der Fürsorgeerziehung abschütteln, stellten sich als Trugschlüsse heraus. Die Gesetzesrevision im Sinne der Kammergerichtsgegner erfolgte erst 1915, also bereits außerhalb des hier behandelten Zeitraums.4 Vorausgegangen waren zahlreiche an die preußische Staatsregierung gerichtete Petitionen und Anträge von Verbänden, Vereinigungen und gesetzgebenden Körperschaften, die mit unterschiedlicher Akzentsetzung alle ein und dasselbe Ziel verfolgten: eine einheitliche Kostenregelung für die öffentliche Ersatzerziehung „gefährdeter“ und schon „verwahrloster“ Minderjähriger.5 Erst nach dem Scheitern eines Ministeri1
Die Jugendfürsorge 6/1909, S. 346. Zu dieser Gruppe gehörte auch Polligkeit. Eine „verfahrenstechnische Verbesserung“ konnte v.a. durch die sorgfältigere Begründung der Beschlüsse und die routinemäßige Anwendung der „vorläufigen Unterbringung“ erreicht werden. 3 Verh. AFET 1908, S. 160. Bemerkenswerterweise schlossen sich dieser letzten Auffassung nun auch viele Vertreter der Provinzialverwaltungen an, die in früheren Jahren die kammergerichtlichen Entscheidungen noch begrüßt, sich inzwischen aber davon überzeugt hatten, dass das Ansehen der Fürsorgeerziehung durch den Altersanstieg der Fürsorgezöglinge und die damit verbundene relative Erfolglosigkeit der Erziehungsbemühungen bereits stark gelitten hatte. A.a.O., S. 153. 4 Vgl.: Boschau [1915], S. 19 f. 5 Vgl. hierzu u.a.: Petersen [1912c], S. 13. Bereits 1909 verabschiedete die „Konferenz der deutschen Rettungshausverbände“ eine „Denkschrift und Resolution über die Abänderung des § 1, No. 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes in Preußen“ (Die Jugendfürsorge, 6/1909, S. 321-331). Im Mai 1910 2
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alerlasses, mit dem versucht worden war, den Vormundschaftsrichter die Rechtssprechung der Kammergerichte im Detail zu erläutern, gab das preußische Innenministerium seinen Widerstand gegen eine Gesetzesreform auf.1 Am 3. August 1915 schließlich, ziemlich exakt 15 Jahre nach Inkrafttreten des pr. FEG, trat der veränderte § 1 Nr. 1 des pr pr. FEG in Kraft. Sein Wortlaut war nunmehr: „Ein Minderjähriger, welcher das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden: 1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorliegen und zur Verhütung der Verwahrlosung die anderweite Unterbringung erforderlich ist, eine nach dem Ermessen des Vormundschaftsgerichts geeignete Unterbringung aber ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nicht erfolgen kann“2
Zusammenfassend lässt sich der Verlauf der preußischen Debatte zur Umsetzung des § 1666 BGB wie folgt resümieren. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die Auseinandersetzung um die „guten Kinder schlechter Eltern“ in Deutschlands größtem und einflussreichstem Staat von einem weltanschaulichen Schlagabtausch zu einer Meinungsverschiedenheit unter Vertretern der verschiedenen Verwaltungsebenen gewandelt. Während sich vor 1900 noch unversöhnliche Parteienblöcke in der Beantwortung der Frage gegenüberstanden, inwieweit staatliche Eingriffe bei unverschuldetem Erziehungsversagen überhaupt zulässig seien, stritten sich nunmehr Vormundschaftsrichter und Vertreter der kommunalen Armenverwaltung auf der einen Seite mit Beamten der Provinzialverwaltungen sowie Vertretern der höheren Richterschaft auf der anderen Seite über die Durchführung und Finanzierung der Maßregeln zum Schutz „gefährdeter Kinder“. Der unklare Wortlaut des Gesetzes, die latenten Spannungen im dreigeteilten Verwaltungssystem Preußens und nicht zuletzt die restriktive Ausgestaltung des Armenrechts sorgten dafür, dass es nach den kammergerichtlichen Klarstellungen von 1903 und 1904 zu einer faktischen Zweiteilung der Jugendfürsorge kam: Für die „verwahrlosten“ Kinder und Jugendlichen wurden die Provinzialwurde dann im preußischen Herrenhaus einstimmig ein Antrag angenommen, mit dem die Staatsregierung aufgefordert wurde, alle unter 14-Jährigen von „Verwahrlosung“ bedrohten Kinder der FE zu überweisen. 1912 brachte der Zentrumsabgeordnete Schmedding einen ausformulierten Gesetzesänderungsantrag in das preußische Abgeordnetenhaus ein. Der Schmeddingsche Antrag wurde schließlich vom preußischen Städtetag zu einer umfassenden „Denkschrift über die Abänderung des § 1 Ziffer 1 des Gesetzes, betreffend die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juni 1900“ ausgebaut, die die angestrebte Gesetzesrevision zur Folge hatte. (Die Jugendfürsorge, 6/1913, S. 334-347) 1 Der Erlass vom 19. Juni 1912 wies u.a. darauf hin, dass für die Anordnung der FE keineswegs eine schon sichtbar gewordene „Verwahrlosung“ erforderlich sei, sondern eine bloße „Gefährdung“ ausreiche. Außerdem sei das Subsidiaritätsprinzip nicht so zu verstehen, dass alle vorrangigen Maßnahmen auch vorgängig durchprobiert werden müssten, bevor FE angeordnet werden könne. 2 Zit. nach: Boschau [1915], S. 17.
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verwaltungen zuständig, während die Mehrzahl der vom Vormundschaftsgericht als „gefährdet“ eingestuften Minderjährigen, auf die sich die ganzen Hoffnungen der Reformer gerichtet hatten, der vielfach desolaten und wenig angesehenen kommunalen Armenfürsorge anheimfielen. Die Reaktionen auf diese praktischen Konsequenzen waren uneinheitlich. Einigkeit herrschte jedoch schon bald darüber, dass das hohe Durchschnittsalter der Fürsorgezöglinge die Erziehungserfolge schmälerte und dadurch das öffentliche Ansehen der Institution gefährdete. Tatsächlich wurde die „Fürsorgeerziehung“ in der Öffentlichkeit bald nur noch als wenig geglückter Euphemismus für eine äußerst strenge, in Anstalten vollzogene Erziehungsmaßregel und insofern als Fortsetzung der traditionellen staatlichen „Zwangserziehung“ wahrgenommen. In der Forschung zur Entwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge in Deutschland wurde häufig die Meinung vertreten, die zeitgenössische Kritik an der Rechtsauslegung des Kammergerichts sei stark überzogen gewesen, weil in der Praxis zahlreiche Möglichkeiten bestanden hätten, die vorbeugende Fremdunterbringung auch unter Umgehung des § 1 Nr. 1 des pr. FEG durchzusetzen.1 Diese Einschätzung der historischen Forschung geht insofern an der zeitgenössischen Kritik vorbei, als sie die weitreichenden organisatorischen Implikationen der kammergerichtlichen Rechtsauslegung sowie deren Folgen für das öffentliche Ansehen der Institution Fürsorgeerziehung unberücksichtigt lässt. Gerade der Vergleich mit Hamburg zeigt, dass die fünfzehn Jahre, während derer man sich in Preußen darüber stritt, wer für die Unterbringungskosten der Erziehung „gefährdeter“ Kinder aufkommen sollte, eine schwere Hypothek für die organisatorische Umgestaltung der öffentlichen Jugendfürsorge darstellten. Nicht ohne Grund wiesen bereits vorausschauende Zeitgenossen auf die destruktive Wirkung hin, die eine immer stärkere Ausdehnung staatlicher Verhaltenskontrolle auf bisher lebensweltlich fundierte Sozialisationsformen haben würde. Aber zugleich trug der Ausbau vorbeugender Fürsorgemaßnahmen auch die Chance in sich, weniger repressive Formen staatlicher Ersatzerziehung wie etwa die Familienpflege zu fördern, ein Gegengewicht zum nach wie vor großen Einfluss konfessioneller Rettungshausarbeit zu schaffen und neue Kooperationsmodelle mit den Eltern zu erproben. 1915, als das novellierte pr. FEG endlich in Kraft trat, war die Fürsorgeerziehung durch die Dominanz der repressiven Anstaltserziehung und die an die Öffentlichkeit gedrungenen Hinweise über massive Diszip1 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Peukert [1986], S. 128; Roth [1997], S. 418 f. und Oberwittler [2000], S. 144. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Indizien, die darauf hindeuten, dass sich Armenbehörden und Vormundschaftsrichter in der Praxis ganz gut „zu helfen“ wussten. So bemerkte etwa schon Köhne [1904], S. 529, die Vormundschaftsrichter würden „in der Allegierung der Gesetzesvorschriften [...] nicht immer ganz vorsichtig“ sein. Er bezog sich dabei auf die Tatsache, dass zahlreiche FE-Überweisungen auf Grund von § 1 Nr. 1 u. 3 erfolgt waren, was streng genommen gar nicht möglich war.
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linierungsprobleme bereits soweit diskreditiert, dass von der Einbeziehung der „guten Kinder“ keine nennenswerten Reformimpulse mehr zu erwarten waren. Die Diskussion um die „künstliche Hilfsbedürftigkeit“ war somit nicht etwa nur der Ausdruck reformerischen Übereifers, und schon gar nicht ist sie als bloße Fußnote der Geschichte zu betrachten. Sie war vielmehr das Signum des vorzeitigen Scheiterns eines programmatischen Kurswechsels in der preußischen Jugendfürsorgepolitik.
4.4.2 Die Debatte zum Hamburger Zwangserziehungsgesetz: öffentliche Ersatzerziehung für „gute Kinder schlechter Eltern“ Die Ausgangssituation, in der sich das Hamburger Zwangserziehungswesen beim Inkrafttreten des BGB befand, unterschied sich deutlich von derjenigen Preußens. Im Unterschied zu Preußen konnte die Hansestadt bereits auf eine mehr als zehnjährige Erfahrung in der staatlichen Erziehung „verwahrloster“, noch nicht straffällig gewordener Minderjähriger zurückblicken. Gleichwohl war man auch in Hamburg gezwungen, das Landesrecht den neuen reichsrechtlichen Bestimmungen anzupassen, und ähnlich wie im großen Nachbarstaat gab es zahlreiche Stimmen, die mit der bisherigen Anwendung und Ausgestaltung der Zwangserziehung unzufrieden waren und eine entschlossenere Durchsetzung der präventiven Stoßrichtung forderten. Dass diese Bemühungen sehr viel erfolgreicher waren als in Preußen, hatte mehrere Gründe. Man profitierte im Stadtstaat an der Elbe nicht nur von dem Erfahrungsvorsprung in der Erziehung „verwahrloster“ Minderjähriger und dem weit vorangeschrittenen organisatorischen Ausbau der öffentlichen Familienpflege, sondern auch von den vergleichsweise überschaubaren territorialen Verhältnissen und der überschaubaren Verwaltungsgliederung. Hinzu kam, dass der relativ späte Erlass des neuen Hamburger ZEG die Möglichkeit eröffnete, aus den preußischen Erfahrungen zu lernen und die „Fehler“ des pr. FEG zu vermeiden. Die Zwangserziehung, darüber waren sich Bürgerschaft und Senat bald einig, sollte vom Nimbus der „Strafe“ befreit werden, der ihr entgegen der Absicht des Gesetzgebers von 1887 noch immer anhaftete. Sie sollte nicht länger „ultima ratio“ sein und als besonders strenge Form der Anstaltserziehung verstanden werden, sondern als ein früh einsetzendes und in sich differenziertes Programm zur Vermeidung jugendlicher Devianz. Die Verhandlungen zur Revision des Hamburger ZEG zogen sich fast zehn Jahre hin: vom Winter 1897/98, als die Zwangserziehungsbehörde (ZEB) zum erst Mal ein Gutachten zur Auswirkung des Reichsrechts auf das geltende Landesgesetz einholte, bis zum 11. September 1907, dem Tag, an dem sich Senat und Bürgerschaft über den Gesetzestext einig wurden. Dass der Gesetzgebungs-
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prozess so viel Zeit in Anspruch nahm, hing allerdings weniger mit grundlegenden politischen Differenzen in Bezug auf die Ausgestaltung des Zwangserziehungswesens zusammen, sondern war Folge der Bündelung mehrerer inhaltlich zusammenhängender Gesetzesinitiativen. Gleichzeitig mit dem ZEG wurde auch über das „Gesetz über die öffentliche Fürsorge Minderjähriger“, ein neues Armengesetz sowie ein „Gesetz über die Oberaufsicht milder Stiftungen“ beraten. Vor allem die Frage der Beteiligung von Frauen an der ehrenamtlichen Waisenund Armenpflege und die Diskussionen über die rechtliche Ausgestaltung des armenpolizeilichen Arbeitszwangs gegenüber „arbeitsscheuen“, „trunksüchtigen“ und ihre Unterhaltspflicht vernachlässigende Bedürftigen nahmen in den Verhandlungen einen breiten Raum ein – zwei Themen also, die nur peripher mit der Zwangserziehung zu tun hatten. Die wichtigsten Entscheidungen in Bezug auf das Zwangserziehungswesen waren indes bereits 1904 gefasst worden. Schon im März 1900 hatte der Senat der Bürgerschaft einen ersten Entwurf eines novellierten ZEG zur Mitgenehmigung vorgelegt, der im Wesentlichen am Altbewährten festhielt und das geltende Recht nur insoweit abänderte, als dies durch das BGB unbedingt erforderlich war. Der Entwurf war das Ergebnis eingehender Erörterungen zwischen den beteiligten Fachbehörden gewesen. Er beschränkte die Kompetenzen der Vormundschaftsbehörde auf das reichsrechtlich vorgegebene Maß, dehnte den Kreis der potenziellen Zwangserziehungszöglinge insoweit aus, als er die Altersgrenze von 16 auf 18 Jahre heraufsetzte, und hielt an der Institution der „freiwilligen Zwangserziehung“ fest. Zwar hatte es in den behördeninternen Vorverhandlungen nicht an Anstößen zu einer grundlegenden Neuorganisation des Zwangserziehungswesens und zu einer Herabsenkung der Eingriffsvoraussetzungen gefehlt. Vor allem der Präses der Vormundschaftsbehörde, Ulrich Moller, der sich bereits in den 1880er Jahren für eine präventive Ausgestaltung der Zwangserziehung eingesetzt hatte, trat wiederholt mit entsprechenden Vorschläge hervor, ohne sich bei seiner vorgesetzten Behörde allerdings das nötige Gehör verschaffen zu können.1 Die Senatskommission für die Justizverwaltung war der Auffassung, dass es sich bei Überweisungen in eine Erziehungsanstalt nach § 1666 BGB nicht um eine Zwangserziehung im landesrechtlichen Sinne handele. Gleichzeitig vertrat sie den Standpunkt, dass ein Trennungsbeschluss des Vormundschaftsgerichts einen armenrechtlichen Unterstützungsanspruch begründe und somit für die den Eltern weggenommenen 1 Vgl.: STAH 241-1 I, Cd 2 Vol. 7, Bl. 17 u. 42. Schon Jahre zuvor hatte Moller die Forderung nach einer verfahrensrechtlichen Gleichstellung der „guten Kinder schlechter Eltern“ mit den „verwahrlosten Jugendlichen“ erhoben (vgl. unten, S. 453). Als vorsitzender Richter der Vormundschaftsbehörde war er bestrebt, seiner Behörde möglichst umfangreiche Kompetenzen zu sichern. In seiner Anregung, die Zwangserziehungsbehörde kurzerhand aufzuheben, drückte sich allerdings nicht nur das konfliktreiche Verhältnis der beiden Behörden zueinander aus. Sie nahm zugleich auch schon die fachlich begründeten Forderungen der Bürgerschaft vorweg.
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„gefährdeten Kinder“ ausreichend gesorgt sei. In Übereinstimmung mit der ZEB und im Gegensatz zu Moller sah die Senatskommission außerdem keine dringende Notwendigkeit, die Zwangserziehung auf die bereits über 18-jährigen „arbeitsscheuen Rowdies“ auszudehnen „welche vielfach in den verrufenen Kneipen der Niedern- und Mohlenhofstraße ihr Dasein fristen“.1 Der erste Senatsentwurf enthielt in seinen Bestimmungen zum Personenkreis zwar wie das preußische Gesetz einen Verweis auf § 1666 BGB, koppelte die Tatbestandsvoraussetzung der „Gefährdung“ aber an die zusätzliche Bedingung des „Versagens der Erziehungsmittel des Hauses und der Schule“ und machte sie damit praktisch unwirksam.2 Den meisten Abgeordneten der Bürgerschaft erschien die vom Senat vorgeschlagene Gesetzesreform viel zu zögerlich. Ihrer Ansicht nach trug er insbesondere den Mängeln unzureichend Rechnung, die im System der Zwangserziehung sichtbar geworden waren. Der zur Beratung der Gesetzesvorlage eingesetzte neunköpfige Bürgerschaftsausschuss unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsrats Adolph Zacharias erinnerte in seinem Bericht daran, dass schon mit dem Gesetz von 1887 die Zwangserziehung als eine früheinsetzende, vorbeugende und schwerpunktmäßig auf Familienpflege setzende Maßnahme konzipiert worden war. Dass in der Praxis diese Absicht komplett konterkariert wurde und die Zwangserziehung sowohl in der Bevölkerung als auch unter den Waisenpflegern und Richtern bald nur noch als eine besondere Form der Bestrafung angesehen wurde, hing seiner Meinung nach mit einem organisatorischen Konstruktionsfehler zusammen. Indem man die Vorentscheidung über den Eintritt der Zwangserziehung derselben Behörde übertragen hatte, die auch für die Verwaltung der Ohlsdorfer Anstalt zuständig war, war die Erziehungs- und Besserungsanstalt zum eigentlichen Kern des gesamten Zwangserziehungswesens geworden: Die ZEB schlug vorzugsweise solche Minderjährigen zur Zwangserziehung vor, die in die ihr unterstellte Anstalt „passten“, das heißt einer strengen Anstaltserziehung bedurften. Bei den erkennenden Richtern verstärkte sie dadurch die Neigung, die Zwangserziehung als eine Art Strafe aufzufassen. Gerade diese Auffassung wurde aber zum kaum überbrückbaren Hindernis beim Ausbau der Familienpflege. Für die Mitglieder des Bürgerschaftsausschusses konnte es deshalb nur ein Mittel geben, um die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers nachträglich zu verwirklichen: Die Spezialisierung der Verwaltung im Zwangserziehungswe-
1 Unpaginierter „Entwurf zu einem Gesetz, betreffend die Zwangserziehung Minderjähriger vom 30.Mai 1903“ a.a.O. 2 Verh. Senat/Bürgerschaft 1900, Nr. 49, S. 243 ff.
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sen musste beendet, die ZEB aufgelöst und die ihr zugewiesenen Aufgaben dem Waisenhauskollegium (WHK) übertragen werden.1 Die Gründe, die der Ausschussbericht für die Wahl des WHK als neuen Träger des Zwangserziehungswesens nannte, waren offenbar so einleuchtend, dass sich weder das Bürgerschaftsplenum noch der Senat ihrer Überzeugungskraft verschließen konnten. Im Gegensatz zur negativen Beurteilung der Zwangserziehungspraxis waren die Mitglieder des Bürgerschaftsausschusses voll des Lobes für die Leistungen und Reformanstrengungen des WHK. Sie gingen so weit zu behaupten, dass man das Zwangserziehungswesen schon 1887 dem WHK übertragen hätte, wenn die Reform der Waisenpflege zum damaligen Zeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen wäre. Was im Bereich Zwangserziehung fast vollständig missglückt war, hatte man hier anscheinend erfolgreich verwirklicht: die Abkehr vom Primat der geschlossenen Anstaltsfürsorge und die Etablierung eines „gemischten“, auf Anstaltserziehung und Familienpflege basierenden Systems, das eine an der erzieherischen Bedarfslage orientierte Unterbringung der Minderjährigen ermöglichte. Da das WHK bereits über ein gut funktionierendes integriertes System verfügte, lag es nach Auffassung der Ausschussmitglieder nahe, dieses auch für die noch „wenig verdorbenen“ Zwangserziehungszöglinge zu nutzen, zumal bei diesen Minderjährigen die Gefahr der weiteren „Verwahrlosung“ mit der Entfernung aus dem Herkunftsmilieu oft schon gebannt sei.2 Das gut funktionierende Familienpflegesystem des WHK war aber nur ein Aspekt, der nach Ansicht des Bürgerschaftsausschusses für die dortige Angliederung des Zwangserziehungswesens sprach. Das WHK verfügte in den Augen der Ausschussmitglieder auch über sehr viel umfassendere Erfahrungen und einen größeren pädagogischen Sachverstand als die ZEB. Da sich Letztere bisher nur mit den „völlig depravierten“ Fällen befasst habe, hätte sie auch keine tieferen Einblick in die gewöhnlichen Erziehungsverhältnisse der unteren Bevölkerungsschichten gewinnen können. Im Bericht des Ausschusses wurde hierzu ausgeführt: „Wer aber über den Erziehungsgang eines verwahrlosten Kindes der unteren Stände richtig bestimmen soll, muß mit den Verhältnissen der Erziehung normaler Kinder der unteren Stände vertraut sein. Es ist eine unlösbare Aufgabe nur über die Behandlung anormaler Fälle richtig zu entscheiden, wenn Einem die Erfahrung bezüglich der nor1
„Bericht des Bürgerschaftsausschusses zur Prüfung des Senatsantrags zum Zwangserziehungsgesetz“ in: Prot. u. Ausschussb. 1901, Nr. 44, S. 4. 2 Wie die Ausschussmitglieder betonten, seien selbst bei zahlreichen verwahrlosten Kindern die negativen Einflüsse der Familie und der Großstadt der eigentliche Grund ihres abweichenden Verhaltens. Eine dauerhafte Entfernung aus dem Herkunftsmilieu durch Unterbringung der Kinder auf dem Land schien aus dieser Sichtweise für ihre „Rettung“ völlig ausreichend zu sein. Vgl.: A.a.O., S. 5
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malen Fälle gänzlich fehlt. Während die Provisoren des Waisenhauses in die Verhältnisse der Erziehung der Kinder der unteren Stände nach kurzer Amtszeit bereits einen tiefen Einblick gewonnen haben und demnächst auf Grund eigener Sachkenntniß ihr Urtheil zur Geltung zu bringen vermögen, ist es für die bürgerlichen Mitglieder der Behörde für Zwangserziehung gänzlich unmöglich, die erforderlichen Grundlagen an Erfahrung und Sachkenntniß auf dem Gebiet des Erziehungswesens (bezüglich normaler Kinder) zu erwerben. Die bürgerlichen Mitglieder der Zwangserziehungsbehörde haben nur Gelegenheit die Erziehungsverhältnisse völlig depravierter Kinder und zwar die Verhältnisse einer Anstaltserziehung kennen zu lernen. Für das, was das Gesetz von ihnen verlangt, nämlich die sachgemäße Entscheidung, ob und eventuell wie durch Familienerziehung zu helfen ist, welche Wege dazu einzuschlagen sind, welche leitenden Gesichtspunkte für die Beamten aufzustellen sind, – für alles das fehlt es ihnen an allen und jeden brauchbaren Grundlagen.“1
Zeigte sich schon bei der Forderung nach einer Aufhebung der ZEB der unbedingte Wille der Bürgerschaft, die Zwangserziehung als vorbeugende Maßregel ausund umzugestalten, so wurde diese Stoßrichtung in der vom Bürgerschaftsausschuss ebenfalls monierten Behandlung der „guten Kinder schlechter Eltern“ im Senatsentwurf vollends offenkundig. Wie bereits in den 1880er Jahren, so warben die Ausschussmitglieder auch diesmal wieder für eine möglichst umfassende Einbeziehung der „gefährdeten Kinder“ in die Zwangserziehung und bezogen sich dabei explizit auf den § 1 Ziff. 1 des pr. FEG.2 Tatsächlich wäre durch die geforderte Übertragung des Zwangserziehungswesens an das WHK einem der wichtigsten Argumente, die seinerzeit gegen die Zusammenfassung noch „unbescholtener“ und bereits „verwahrloster“ Kinder in ein und demselben Gesetz vorgebracht worden waren, der Boden entzogen worden. Wenn „unbescholtene“ Zwangserziehungszöglinge wie gewöhnliche Waisenpfleglinge in Familienpflege gegeben werden konnten, war an eine „moralische Infektion“ durch „schwer verwahrloste“ Mitinsassen kaum mehr zu denken. Zudem gab es die begründete Hoffnung, dass auch die stigmatisierende Wirkung, die bisher von einer Überweisung in Zwangserziehung ausgegangen war, unter den veränderten Voraussetzungen allmählich nachlassen würde. Um dem veränderten Verständnis von Zwangserziehung Nachdruck zu verleihen, schlug der Bürgerschaftsausschuss vor, wie in Preußen zu verfahren und den Begriff der „Zwangserziehung“ durch jenen der „Fürsorgeerziehung“ zu erset1 A.a.O., S. 6. Das von den Mitgliedern der ZEB vorgebrachte Gegenargument, das WHK habe seinerseits keine Ahnung von der Erziehung „verwahrloster“ Kinder, ließen die Berichterstatter nicht gelten. Viele der aus armenrechtlichen Gründen in Waisenpflege gegebenen Kinder seien nämlich ebenfalls schon in erheblichem Maße „verwahrlost“ gewesen. Das WHK habe somit schon seit Jahren genau die gleiche Funktion ausgeübt wie die ZEB – mit dem einzigen Unterschied, dass sie dabei mit erheblich mehr Sachverstand und Augenmaß vorgegangen sei. 2 A.a.O., S. 8 u.14.
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zen. Vehement widersprach der Ausschussbericht der Ansicht des Senats, wonach man die „gefährdeten Kinder“ getrost wie bisher der Armen- und Waisenfürsorge überlassen könne und führte dafür sowohl rechtliche Gründe als auch Zweckmäßigkeitserwägungen ins Feld. Nur in einem Bruchteil der Fälle, in denen Kinder nach § 1666 BGB als „gefährdet“ eingestuft würden, so führte der Verfasser des Berichtes aus, würden gleichzeitig auch die Voraussetzungen für armenrechtliche Hilfsbedürftigkeit vorliegen. In allen übrigen Fällen sei die Armenverwaltung aber gezwungen, die armenrechtliche Hilfsbedürftigkeit durch eine großzügige Auslegung des Begriffs des „notwendigen Lebensbedürfnisses“ zu fingieren, um auch zukünftig Waisenpflege bewilligen zu können. Gerade hierzu aber sei die Armenbehörde seit der Reform von Anfang der 1890er Jahre immer weniger bereit und in der Lage.1 Mit der Auflösung der ZEB und der Einbeziehung der „guten Kinder schlechter Eltern“ waren die beiden wichtigsten Forderungen der Bürgerschaft zur zukünftigen Ausgestaltung des Zwangserziehungswesens benannt und die Eckpfeiler der erstrebten Gesetzesreform umrissen. Zur Ausarbeitung eines Gegenentwurfs hatte sich der Ausschuss nicht veranlasst gesehen. Er beschränkte sich vielmehr darauf, dem Plenum die Ablehnung des Gesetzentwurfs zu empfehlen – und dieser Empfehlung folgte die Bürgerschaft auch ohne längere Debatte. Der revidierte zweite Gesetzentwurf ließ mehrere Jahre auf sich warten, was neben der erneuten Konsultation der beteiligten Behörden vor allem mit der schon erwähnten Bündelung der vier unabhängigen Gesetzesvorlagen zu tun hatte. Im Oktober 1904 war es endlich so weit. Der überarbeitete Senatsentwurf, welcher der Bürgerschaft zu Mitgenehmigung zugeleitet wurde, trug den beiden Hauptforderungen des Bürgerschaftsausschusses in vollem Umfang Rechnung.2 Aus den einleitenden Begründungen zu den Entwürfen des ZEG und des „Gesetzes über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige“ lassen sich weder in Bezug auf die organisatorische Neugliederung des Zwangserziehungswesens noch hinsichtlich des Umgangs mit den „guten Kindern schlechter Eltern“ nennenswerte Unstimmigkeiten entnehmen. Mit seinem zweiten Entwurf erkannte der Senat die Unumgänglichkeit einer Auflösung der ZEB und die Übertragung ihrer Aufgaben an das WHK ausdrücklich an. Die Zusammenlegung der beiden Fürsorgezweige konnte somit bereits im Herbst 1904 als beschlossene Sache gelten. In 1
Für die Einbeziehung der „guten Kinder schlechter Eltern“ in das Gesetz sprach nach Auffassung des Bürgerschaftsausschusses nicht zuletzt, dass eine verfahrensrechtliche Gleichstellung mit den „verwahrlosten“ Minderjährigen auch im Sinne einer Schutzmaßnahme gegen die missbräuchliche Inanspruchnahme und uferlose Anwendung des § 1666 BGB notwendig erschien. 2 Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 3. Oktober 1904 in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1904, Nr. 182, S. 597.
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Bezug auf die „gefährdeten Kinder“ war der Senat den Forderungen der Bürgerschaft ebenfalls weitgehend gefolgt. Der § 1 Nr. 1 des Entwurfs, der in den späteren Beratungen der Bürgerschaft unbeanstandet blieb, lautete jetzt fast wortgleich mit der entsprechenden Bestimmung des pr. FEG.1 Um auch die letzten Zweifel über die Zuständigkeit für solche Kinder auszuräumen, bei denen die Vormundschaftsbehörde einen Trennungsbeschluss für ausreichend hielt, war in das „Gesetz über das Armenwesen“ außerdem eine Bestimmung aufgenommen worden, welche die Armenanstalt ausdrücklich zur Übernahme der daraus entstehenden Kosten verpflichtete.2 Der Senatsentwurf griff damit eine bereits vom Bürgerschaftsausschuss angebahnte Kompromisslösung auf, die zwischen der rein armenrechtlichen Behandlung der „guten Kinder schlechter Eltern“, wie sie bisher befolgt worden war, und dem vollen Einbezug dieser Kategorie von Kindern in die Zwangserziehung einen Mittelweg suchte. Statt die „gefährdeten Kinder“ ganz der Armenfürsorge zu überlassen, wurde seit 1907 mit den „guten Kindern schlechter Eltern“ somit zweigleisig verfahren. Der Schwerpunkt der öffentlichen Gefährdetenfürsorge sollte aber gleichwohl auf der „Zwangserziehung“ liegen.3 Im Vergleich zu diesen weitreichenden Zugeständnissen fiel das Festhalten des Senats am überkommenen Zwangserziehungsbegriff kaum ins Gewicht. Das galt um so mehr, als dieser Terminus im Verlauf der Verhandlungen einer grundlegenden Neuinterpretation unterzogen wurde und der Begriff der „Fürsorgeerziehung“ durch den preußischen Kostenstreit binnen weniger Jahre in Misskredit geraten war. In der Entwurfsbegründung des Senats war als Argument gegen die Übernahme der preußischen Wortschöpfung neben der Abweichung von der Terminologie des BGB noch angeführt worden, dass die neue Bezeichnung beim „Publikum“ Verwirrung stiften könnte. Wie sollte man der Hamburger Bevölkerung auch klar machen, dass es sich bei der vom WHK durchgeführten „Fürsorgeerziehung“ um etwas anderes handele als bei der von der gleichen Institution betriebenen öffentlichen Fürsorge für arme Kinder?4 Dafür, dass sich schließlich auch die Bürgerschaft mit der alten Bezeichnung zufriedengab, war jedoch ein 1 „Die Zwangserziehung eines Minderjährigen kann von dem Vormundschaftsgericht angeordnet werden: 1) wenn in den Fällen der §§ 1666, 1838 des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Übernahme der Erziehung durch den Staat geboten ist, um durch Anwendung geeigneter Erziehungsmittel die Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten“ 2 Vgl.: § 20 des Entwurfs in: A.a.O., S. 663 und der nur leicht modifizierte § 17 des 1907 verabschiedeten „Gesetzes über das Armenwesen“ in: Gesetzsammlung FHH 1907, I 227. 3 Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass der Senat in seiner Entwurfsbegründung ausdrücklich der Auffassung des preußischen Kammergerichts entgegengetreten war, wonach es sich bei der Fürsorge- bzw. Zwangserziehung um eine bloß subsidiär anzuordnende Maßnahme handele. Vgl.: Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 3. Oktober 1904 in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1904, Nr. 182, S. 614. 4 A.a.O., S. 615.
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anderer Aspekt ausschlaggebend. Zu den Beratungen der Bürgerschaft war als Sachverständiger der Direktor des Waisenhauses Johannes Petersen hinzugezogen worden, und dieser hatte darauf hingewiesen, dass die vermeintlich wertneutrale Bezeichnung „Fürsorgezögling“ in Preußen inzwischen den gleichen negativen Beiklang habe wie die ältere Bezeichnung „Zwangserziehungszögling“.1 Man profitierte bei der Wahl des Gesetzestitels also ganz entscheidend von den preußischen Erfahrungen. Sowohl im Senat als auch in der Bürgerschaft hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass tiefgreifende strukturelle Veränderungen in Kombination mit einer abschließenden Klärung der Kostenfrage für das Gelingen der Reform bedeutsamer waren als der Austausch veralteter Bezeichnungen durch moderner klingende Namen. Wie in Preußen, so musste allerdings auch in Hamburg der Begriff der „Zwangserziehung“ mit neuem Inhalt gefüllt werden, weil er nunmehr einen größeren Gegenstandsbereich abdecken sollte als bisher. Wenn die „Zwangserziehung“ auch gegen „gefährdete Kinder“ zur Anwendung gelangen sollte, so war klar, dass mit „Zwang“ nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich der gegen das Kind gerichtete Zwang gemeint sein konnte. Vielmehr handelte es sich, wie der abschließende Bericht der Bürgerschaft ausführte, um einen „Zwang gegen den Erziehungsberechtigten, der seine Erziehungspflicht nicht erfüllen kann oder will und dem daher der Staat im Interesse der Allgemeinheit diese Erziehung abzunehmen genötigt ist“.2 Nirgends wurden die Folgen dieser begrifflichen Umprägung deutlicher als beim Gegenstück der „Zwangserziehung“: der Unterbringung in einer öffentlichen Erziehungsanstalt auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern. Wenn „Zwangserziehung“ gleichbedeutend war mit Ersatzerziehung gegen den Willen der Erziehungsberechtigten, so wurde die Institution der „freiwilligen Zwangserziehung“ zu einem Widerspruch in sich. Es war deshalb nur folgerichtig, dass man die einschlägige Bestimmung des ersten Senatsentwurfs, die eine solche Erziehung auf elterlichen Wunsch auch weiterhin ermöglichte, aus dem ZEG strich und in das neue „Gesetz, über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige“ aufnahm.3
1
10. Sitzung des Bürgerschaftsausschusses vom ... in: STAH 121-3 I, C 893. Bericht des Bürgerschaftsausschusses zur Prüfung der Senatsentwürfe vom November 1906 in: Prot. Ausschussb. 1906, Nr. 42, S. 10 f. 3 § 23 des 1. Entwurfs eines „Gesetzes, betreffend die Zwangserziehung Minderjähriger“, in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1900, Nr. 49, S. 251 u. 257 u. § 3 Ziff. 5 des „Gesetzes, über die öffentliche Fürsorge für Minderjähriger“ in: Gesetzessammlung FHH 1907, I 216. Im Herbst 1904 war die Frage, ob die Aufnahme eines Kindes in Ohlsdorf auf elterlichen Antrag auch ohne vorgängigen Beschluss der Zwangserziehungsbehörde statthaft sei, ausführlich erörtert worden. Der Senat hatte sie klar verneint, gleichzeitig aber auf das laufende Gesetzgebungsverfahren verwiesen, das eine neue Rechtsgrundlage für diese Praxis schaffen würde. Vgl.: STAH 111-1, Cl. VII, Lit. C c Nr. 16 Vol. 14. 2
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Alles in allem entsprach der vom Senat ausgearbeitete zweite Entwurf somit sehr weitgehend den Vorstellungen der Reformverfechter aus den Reihen der Bürgerschaft. Nach 1904 waren sämtliche Differenzen hinsichtlich der grundlegenden Organisation, des erfassten Personenkreises und des Gesetzes-Titels zwischen den beiden gesetzgebenden Körperschaften ausgeräumt. Ungeachtet dieser Tatsache gab es bis kurz vor Verabschiedung des neuen ZEG Stimmen, die vor der Zählebigkeit des „alten Geistes“ in der Zwangserziehung warnten und selbst ein Übergreifen des preußischen Kostenstreits auf Hamburg für nicht ganz ausgeschlossen hielten. Zu ihnen zählte Zacharias, der im Sommer 1907 im Plenum der Bürgerschaft die Generaldebatte zum ZEG mit den Worten eröffnete: „Da hat in neuester Zeit die Sorge wieder aufs Neue ihr Haupt erhoben, die Sorge nämlich, es könnte die Praxis das, was wir wollen, vereiteln. Diese Sorge stammt aus den Erfahrungen her, die man in Preußen gemacht hat. – Unser Gesetz unterscheidet sich etwas von dem preußischen Gesetz, aber beiden Gesetzen liegt der unentbehrliche Gedanke zu Grunde, daß die Zwangserziehung nur dann angeordnet werden darf, wenn der Fall so liegt, daß eine solche Erziehung, wie sie die Zwangserziehung ihren ganzen Einrichtungen nach zu gewähren vermag, Aussicht auf guten Erfolgt verheißt und notwendig erscheint. Dieser Gedanke, der notwendig ist, liegt beiden Gesetzen zu Grunde, und wesentlich auf Grund dieses Gedankens lehnt man jetzt wieder in Preußen die Übernahme der Kinder in Fürsorgeerziehung ab, wenn der Fall so liegt, daß weiter nichts erforderlich ist, als eine Familienerziehung. [...] Jener unentbehrliche Grundsatz, den ich erst genannt habe, wird, wie ich fürchte, eine Nottür wieder öffnen, um die alte Praxis, die wir nicht wollen, die wir beseitigen wollen, wieder hereinzubringen, und diese Nottür möchte ich verschließen.“1
Und dies konnte nach Auffassung des Redners nur gelingen, wenn man die gesetzgeberischen Absichten in den Motiven zum Gesetz klar und deutlich herausstellte. Als interessiertem Beobachter der Entwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge war es Zacharias nicht entgangen, dass auch das Hanseatische OLG in zwei Grundsatzentscheiden von Anfang 1904 eine strengere Prüfung der „Erforderlichkeit“ bei Eingriffen in die elterliche Personensorge angemahnt hatte und daraufhin die Zahl der von der Vormundschaftsbehörde beschlossenen Sorgerechtsentzüge erheblich zurückgegangen war.2 Dennoch entbehrte die Befürchtung, dass es in Hamburg zu ähnlichen Verhältnissen wie in Preußen kommen könnte, jeder stichhaltigen Grundlage: Nicht nur war der Senat in seiner Entwurfsbegründung ausdrücklich der Auffassung des preußischen Kammergerichts 1
Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1907, 24. Sitzung, S. 625 f. Vgl. zur zahlenmäßigen Entwicklung der Sorgerechtsentzüge und zu den OLG-Entscheiden von 1904: Abschnitt 5.4.2 und 5.4.5.2.2. 2
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
entgegengetreten, wonach es sich bei der vorbeugenden Fürsorge- bzw. Zwangserziehung um eine bloß subsidiär anzuordnende Maßregel handele; durch die Präzisierung der armenrechtlichen Bestimmungen war auch das wackelige Konstrukt der „künstlichen Hilfsbedürftigkeit“ obsolet geworden. Gegen die Annahme, dass in Hamburg preußische Verhältnisse Einzug halten könnten, sprachen jedoch zuallererst die verwaltungsorganisatorischen Unterschiede, die zwischen beiden Staaten bestanden. Anders als im größten deutschen Flächenstaat wurden in der Hansestadt nämlich die Kosten der Zwangserziehung und diejenigen der Waisenpflege aus derselben Kasse bestritten. Für einen materiellen Interessenskonflikt zwischen Trägern der Armen- und Jugendfürsorge fehlten somit die entscheidenden finanzpolitischen Voraussetzungen.1 Untersucht man die Diskussionen um das Hamburger ZEG von 1907 gründlicher, so zeigt sich gleichwohl, dass es für die von Zacharias geäußerte Skepsis noch weitere Gründe gab. In seiner Fallstudie zur Geschichte des Hamburger Jugendamtes hat Uhlendorff zu Recht darauf hingewiesen, dass die Hamburger Gesetzesreform von 1907 letzten Endes auf einen radikalen Bruch mit der bisher befolgten Verwaltungslogik hinauslief.2 Die Ausgestaltung der öffentlichen Ersatzerziehung sollte nach dem Willen der Reformverfechter nicht länger in starrer Abhängigkeit von den rechtlichen Zuweisungsgründen erfolgen. Stattdessen sollten die Maßnahmen nach rein pädagogischen Kriterien auf die individuellen Erziehungsbedürfnisse des Einzelfalles abgestimmt werden. Gerade in diesem Punkt hatten sich die Reformer um Zacharias jedoch nicht voll durchsetzen können, und hieraus rührt auch das Unbehagen, das sie noch 1907 beschlich. Wenn sich das Verwaltungshandeln im Fürsorgewesen fortan an reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten orientieren sollte, so stellte dies nicht nur eine Abkehr von dem wenig flexiblen „Wenn-dann“-Schema dar, das die öffentliche Jugendfürsorgepraxis bis dahin bestimmte. Zugleich bedeutete dies auch einen 1 Vgl.: Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft vom 3. Oktober 1904 in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1904, Nr. 182, S. 614. Dafür, dass die Gefahr einer restriktiven Auslegung des Gesetzes zur Schonung der Staatskasse in Hamburg faktisch vergleichsweise gering war, spricht auch die gelassene Haltung, mit der Johannes Petersen in seiner Eigenschaft als Direktor des Waisenhauses Anfang 1908 die Reform kommentierte. Vgl.: „Die neuen Gesetze über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige und die Zwangserziehung Minderjähriger“ in: BlHWPfl., 7/1908, Heft 1, S. 3. 2 Prägnant auf den Punkt gebracht wurde die Abkehr von der bisherigen Verwaltungslogik in einem Gutachten der Armenanstalt, das der Senat kurz vor Fertigstellung seines Entwurfs in Auftrag gegeben hatte. Verfasser des Gutachtens war der Jurist Ernst Jaques, der sich auch auf dem Gebiet privatwohltätiger Jugendfürsorge engagierte. Es hieß dort: „Die Entscheidung darüber, in welcher Weise der Zögling unterzubringen ist, von dem Grund, aus dem er der öffentlichen Fürsorge überwiesen ist, abhängig zu machen, ist durchaus unrichtig. Entscheidend darf nur sein das individuell festzustellende pädagogische Bedürfnis. Auch dieser Gesichtspunkt führt aber zwingend dazu, die Ausübung der Waisenpflege und der Zwangserziehung nach den gleichen Grundsätzen zu regeln.“ Zit. nach: Uhlendorff [2003], S. 192.
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Bruch mit der strafrechtlichen Dogmatik, die dem Zwangserziehungswesen noch immer zugrunde lag. Wenn die „Zwangserziehung“ ihrem Namen gerecht werden und eher „Erziehung“ als „Strafe“ sein sollte, so musste sie auch nach Form und Inhalt dem normalem Erziehungsgeschehen angepasst werden. In dem Maße aber, in dem die komplexe Erziehungsrealität ins Auge gefasst wurde, drohten konditional programmierte Verfahren, die vom vielschichtigen Bedingungsgefüge menschlichen Handelns abstrahierten und unterschwellig an Konstrukten wie „Schuld“ und „Strafe“ festhielten, ihren Dienst zu versagen. Hinter der Einsicht, dass pädagogische Maßnahmen, um wirksam zu sein, nicht im Sinne eines rigiden Straftaxen-Systems angewandt sondern auf der Grundlage eingehender individueller Bedarfsprüfung gestaltet werden mussten, verbarg sich eine veränderte Auffassung kindlicher Devianz. „Es gab eine Zeit“, so brachte es Zacharias in der bereits zitierten Rede vor der Bürgerschaft auf den Punkt, „wo man, wenn ein Kind etwas Böses tat, sagte: Daran ist die schlechte Natur dieses Kindes schuld. Jetzt sind wir soweit gekommen, daß wir wissen, daß die menschlichen Handlungen zum großen Teil nur ein Produkt der Verhältnisse sind, unter denen die Menschen erzogen sind und unter denen die Menschen leben.“1 Die Entschlossenheit, mit der Senat und Bürgerschaft sich von der Verwaltungslogik verabschiedeten, wurde mithin zum eigentlichen Prüfstein der Frage, inwieweit sie mit überkommenen Vorstellungen abweichenden Kindesverhaltens gebrochen hatten. Gerade in diesem Punkt verhielten sich beide gesetzgebenden Körperschaften skeptisch bis ablehnend, und genau das gab den Reformverfechtern Anlass zur Sorge.2 Die Vision der radikalen Reformverfechter innerhalb der Bürgerschaft, wonach das WHK bzw. sein Direktor die Kompetenz erhalten sollte, auch armenrechtlich unterstützte Kinder, die sich als „sittlich verwahrlost“ erwiesen, ohne umständliche Anrufung des Vormundschaftsgerichts in die Ohlsdorfer Erziehungsanstalt einzuweisen, ließ sich demnach nicht realisieren. 1
Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1907, 24. Sitzung, S. 626. So hieß es in der Senatsbegründung des Entwurfs zum „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige“ vom Oktober 1904: „Allerdings ist der Entwurf dem erwähnten Ausschussberichte darin nicht völlig gefolgt, daß es nach einer solchen Unterstellung beider Anstalten [gemeint sind hier das Waisenhaus und die Ohlsdorfer Erziehungsanstalt, J.R.] unter dieselbe Behörde schlechthin dem Ermessen dieser Behörde zu überlassen ist, ob sie die ihr zugewiesenen Minderjährigen ohne Rücksichtnahme auf den Grund der Überweisung in der einen oder der anderen Anstalt unterbringen will. Die Überweisung armenrechtlich hilfsbedürftiger und die Überweisung sittlich verwahrloster Kinder erfolgen unter ganz verschiedenen Voraussetzungen und für ganz verschiedene Zwecke. Die Erziehungs- und Besserungsanstalt soll den Charakter einer zur Besserung verwahrloster Kinder bestimmten Anstalt auch in Zukunft behalten. Die Aufnahme in die Anstalt muß deshalb davon abhängen, daß alle Voraussetzungen gegeben sind, unter denen eine Zwangserziehung angeordnet werden kann.“ Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1904, Nr. 182, S. 635. Zur Positionierung der Bürgerschaft vgl. die Äußerung Soltaus, Mitglied der Fraktion „Linkes Zentrum“, im zweiten Bürgerschaftsausschuss vom 4. April 1905 in: STAH 121-3 I, C 893. 2
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Der Diskurs zum Sorgerechtsentzug
4.5 Zusammenfassung: Von der „künstlichen Hilfsbedürfigkeit“ bis zur Proklamation des „Rechts des Kindes auf Erziehung“ Die Nachzeichnung der fürsorge- und rechtspolitischen Debatten über die „verwahrlosten“ und „gefährteten“ Minderjährigen hat neben verschiedenen, mehr oder weniger eindeutigen historischen Entwicklungslinien in der Thematisierung normabweichender Sozialisationsverläufe auch die unterschiedlichen Positionen in der Auseinandersetzung um die staatlichen Eingriffsbefugnisse sowie die diesbezüglich bestehenden Differenzen auf Landes- und Reichsebene sichtbar gemacht. Speziell für Hamburg ließ sich eine allmähliche Diskreditierung des traditionellen paternalistischen Konzepts der „hülfreichen Hand“ konstatieren, das in Bezug auf die Sicherstellung von Sozialisationserfolgen bei Kindern von einem Hand-in-Hand-Arbeiten elterlicher und staatlicher Autorität ausging. Wurde Anfang des 19. Jahrhunderts noch unterstellt, dass sich Eltern bei akuten familiären Notlagen oder gravierenden Erziehungsproblemen schon im eigenen Interesse hilfesuchend an den Staat wenden würden, so hatte sich am Ende des Jahrhunderts bei Fürsorgevertretern, Parlamentariern und Regierungsverantwortlichen ein breites Misstrauen gegenüber den erzieherischen Fähigkeiten der Eltern und ihren Intentionen bei der Inanspruchnahme staatlicher Erziehungshilfe eingestellt. Statt von einer prinzipiellen Interessensübereinstimmung in der Erziehung und Disziplinierung von Minderjährigen wurde in den Debatten immer häufiger von einem grundlegenden Interessensgegensatz zwischen Eltern und Staat ausgegangen. Die Veränderungen im Umgang mit jugendlicher bzw. elterlicher Devianz hatte mehrere Ursachen. Ein wesentlicher Grund für den seit den späten 1870er Jahren immer lauter werdenden Ruf nach staatlichen Eingriffen in das Sozialund Wirtschaftsleben war die allgemeine Verunsicherung, die durch die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen dieser Jahre ausgelöst worden war. Die unausgesetzt starke Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte, die wirtschaftliche Talfahrt im Anschluss an den „Gründerboom“ und die beängstigenden Organisationserfolge der Sozialisten erzeugten beim Bürgertum eine Krisenstimmung, aus der heraus immer häufiger einschneidende sozial- und ordnungspolitische Maßnahmen seitens des Staates gefordert wurden. Für den veränderten Umgang mit normabweichendem Kindes- und Elternverhalten waren aber auch Entwicklungen innerhalb der einzelnen Verwaltungs- und Fürsorgezweige ausschlaggebend. In Strafrecht und Strafvollzug war vor allem vor dem Hintergrund des beobachteten Anstiegs der Jugendkriminalität schon seit Längerem die Forderung nach einer Sonderbehandlung minderjähriger Gesetzesbrecher erhoben worden. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht hat-
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te außerdem dazu geführt, dass mangelnde Erziehungsleistungen seitens des Elternhauses immer sichtbarer wurden und man „undisziplinierte“ und „schulelaufende“ Kinder aus der Schule auszusondern versuchte. Zur veränderten Betrachtungsweise schwieriger Sozialisationsverläufe trug schließlich auch die präventive Ausgestaltung und Rationalisierung der großstädtischen Armenfürsorge bei, die insbesondere in den Großstädten zu einer gezielten Förderung pädagogischjugendfürsorgerischer Arbeitsansätze führte. All diese Verunsicherungen, Tendenzen und Entwicklungen trugen dazu bei, dass sich das Bürgertum in der Auseinandersetzung mit der Jugendfürsorge mehr und mehr von der traditionellen privatwohltätigen Konzeption der ersten Jahrhunderthälfte löste und immer offensiver für einen systematischen Ausbau öffentlicher Fürsorgemaßnahmen eintrat. So allgemein und schleichend die Durchsetzung dieser Auffassung aber im Rückblick auch erscheinen mag, die Untersuchung der parlamentarischen und fachpolitischen Debatten hat gezeigt, dass die neue Stoßrichtung neben zahlreichen Fürsprechern auch leidenschaftliche Gegner kannte. Die Befürworter der vorbeugenden Zwangserziehung wurden hier etwas summarisch und undifferenziert als „Interventionisten“ bezeichnet, ihre Kritiker als „Antiinterventionisten“. Tatsächlich hatten einfache politische Ordnungsschemata wie die Einteilung in „rechts“ und „links“, „konservativ“ und „progressiv“ für die Entwicklung der Auseinandersetzung eine weitaus geringere Bedeutung, als auf den ersten Blick angenommen werden konnte. Das heißt aber nicht, dass die Parteienzugehörigkeit für die Positionierung im Streit unerheblich gewesen wäre. Bei den wichtigsten Widersachern der Interventionisten handelte es sich fast ausnahmslos um „Freisinnige“. Sie gehörten jenem politischen Lager an, das den gouvernementalen Kurs, den die Nationalliberalen Anfang der 1880er Jahre eingeschlagen hatten, nicht mittragen wollten und lehnten die neue Bismarcksche Innenpolitik sowohl aus konstitutionellen wie auch aus sozialpolitischen Gründen heraus ab.1 Im Berliner Stadtsyndikus Eberty hatten die Kritiker der ausgedehnten öffentlichen Ersatzerziehung ihren bedeutendsten Wortführer gefunden – und dass seine Äußerungen keineswegs allgemein als „eigensinniges Verharren auf einem verschrobenen Standpunkt“2 betrachtet wurden, geht aus zahlreichen Sympathiebekundungen hervor, die Hamburger Protagonisten in der Auseinandersetzung um die Zwangserziehung abgaben. Spätestens in der Reichstagsdebatte zum § 1666 BGB sollte sich dann jedoch herausstellen, dass es auch ganz andere parteipolitisch motivierte Bedenken gegen eine unumschränkte Ausdehnung staatlicher Eingriffsbefugnisse in die elterlichen Erziehungsrechte gab. Zu den „Freisinnigen“ gesellten sich nun auch Abgeordnete des 1 2
Vgl. oben, S. 346. Vgl. oben, S. 347, Anm. 2.
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Zentrums und der Sozialdemokratie hinzu, die an der politischen und konfessionellen Neutralität der staatlichen Organe bei der Ausdeutung der zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe zweifelten, die die Gesetzesbestimmung enthielt. Die Aufnahme bzw. Aufrechterhaltung des „Verschuldensgrundsatzes“ verdankte sich demnach der gemeinsamen Oppositionen von Parteien, die in ihren staatsund familienpolitischen Standpunkten sehr deutlich voneinander abwichen. Der parteiübergreifende Widerstand, der sich aus der Befürchtung eines möglichen politischen Missbrauchs des § 1666 BGB speiste, hielt allerdings nicht lange an. Zwar waren die „Antiinterventionisten“ als Gewinner aus der Auseinandersetzung um den Eingriffsparagrafen des BGB hervorgegangen. In den Folgejahren sollte sich aber herausstellen, dass zumindest die vom „Zentrum“ und den Sozialdemokraten geäußerten Bedenken unbegründet waren. Als Instrument gezielter politischer Verfolgung wurde die Bestimmung während des Kaiserreichs offenbar nicht eingesetzt. Im Zuge der preußischen Kostendebatte verlagerte sich außerdem die Frontenstellung im Streit um die „guten Kinder schlechter“ Eltern immer stärker auf eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Verwaltungsebenen und Fachdisziplinen. Den Vormundschaftsrichtern und Vertretern der großstädtischen Armenfürsorge, die für einen pragmatischen Umgang mit den „gefährdeten“ Kindern warben, standen nunmehr vor allem leitende Provinzialbeamten sowie Vertreter der liberal gesinnte höhere Richterschaft gegenüber. Diese „neuen“ Opponenten hielten den massiven Anstieg vorbeugender Fürsorgeerziehung aus fiskalischen Gründen für bedenklich oder arbeiteten der extensiven Auslegungspraxis durch die Vormundschaftsberichte gezielt entgegen. Erst als sich zeigte, dass auch die Provinzialverbände, die für die Durchführung der Fürsorgeerziehung zuständig waren, kein Interesse an einem immer stärkeren Anstieg des Alters von „Fürsorgezöglinge“ haben konnten, verlor der Konflikt allmählich an Bedeutung. In Hamburg hatte der parteipolitische Dissens nie eine vergleichbare Rolle wie in Preußen gespielt. Bereits in den 1880er Jahren, als man in Senat und Bürgerschaft das erste ZEG beriet, zeigte sich, dass die Impulse zu einem Ausbau der öffentlichen Jugendfürsorge in erster Linie von „Praktikern“ aus den Reihen der Lehrer und Vormundschaftsrichter ausgingen. Die Kritik an entsprechenden Vorstößen war demgegenüber vor allem von Personen vorgetragen worden, die mit dem Problem der „Kindesvernachlässigung“ und „Jugendverwahrlosung“ nicht direkt in Berührung kamen. In ihrer ablehnenden Haltung ließen sich diese jedoch nicht so sehr von prinzipiellen Erwägungen leiten. Im Zentrum ihrer Bedenken stand vielmehr die Befürchtung, dass die „guten Kinder schlechter Eltern“ durch die geplante Einbeziehung in die Zwangserziehung durch älteren Zöglinge negativ beeinflusst und von der Gesellschaft „gebrandmarkt“ werden könnten. Als man einige Jahre nach Inkrafttreten des BGB in Hamburg erneut
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über die zukünftige Ausgestaltung der Zwangserziehung verhandelte und dabei die Einbeziehung der „guten Kinder schlechter“ Eltern ins Auge fasste, regte sich kaum noch Widerstand gegen diese Absichten. Das lag nicht nur daran, dass sich der Gedanke von der Notwendigkeit eines effektiven gesetzlichen Kinderschutzes allgemein durchgesetzt hatte. Mit der organisatorischen Zusammenführung von Waisenpflege und Zwangserziehung waren auch die Voraussetzungen für eine differenzierte Unterbringungspraxis geschaffen worden, die der Argumentation mit der „moralischen Infektionsgefahr“ und der stigmatisierenden Wirkung den Boden entzog. Allerdings konnten sich weder Senat noch Bürgerschaft dazu durchringen, die herkömmliche, konditionalprogrammierte Verwaltungspraxis vollständig aufzugeben. Und daher rührten auch die Zweifel der Reformverfechter, ob sich der „alte Geist“ der Zwangserziehung mit dem Erlass des neuen ZEG wirksam beseitigen ließ. Anders als in Preußen hatte man in Hamburg darüber hinaus auch auf eine für alle sichtbare, begriffliche Distanzierung von der bisherigen Fürsorgepraxis verzichtet. Im Vergleich zur preußischen Reform von 1900 stellte der von Hamburg beschrittene Weg, der auf einen langsame Bewusstseinswandel auf der Basis einer grundlegend gewandelten Organisationsstruktur abstellte, jedoch immer noch den wirksameren und - wenn man so will - auch „ehrlicheren“ Weg dar. Anstatt wie in Preußen den Zwangscharakter der Maßnahme zu kaschieren, bekannte man sich in Hamburg ausdrücklich zur Anwendung staatlichen Zwangs. Der neuen Stoßrichtung im Fürsorgewesen entsprechend wurde der gegen die Eltern ausgeübte Zwang allerdings zum verbindenden Element erklärt, während die Anwendung besonders strenger Zuchtmittel kein originäres Kennzeichen der „Zwangserziehung“ mehr sein sollte. Die alte Institution der „freiwillige Zwangserziehung“, die es den Eltern in Hamburg ermöglicht hatte, ihre Kinder im Falle auftretender Erziehungsschwierigkeiten und Konflikte auf eigenen Antrag in der Ohlsdorfer Erziehungsanstalt unterzubringen, war damit zu einem Widerspruch in sich geworden. Zwar konnten auch weiterhin Kinder ohne Anordnung durch das Vormundschaftsgericht in Ohlsdorf untergebracht werden, wenn die Eltern dazu ihre ausdrückliche Zustimmung gaben. Aber ein solches Verfahren wurde jetzt nur noch beschritten, wenn die Kinder sich zuvor schon länger aus armenrechtlichen Gründen in öffentlicher Erziehung befunden hatten und ihre Verlegung in die geschlossene Anstalt der Behördenleitung aus erzieherischen Gründen angezeigt erschien. Ohne eine eingehende behördliche Gegenprüfung war also eine Heimeinweisung durch die Eltern nicht mehr möglich. An die Stelle der „hülfreichen Hand“, die der Staat den Eltern noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Erziehungsschwierigkeiten entgegenstreckte, war auch in Hamburg eine grundlegendes Misstrauen
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des Staates gegenüber allen Versuchen von Eltern getreten, die einschlägigen öffentlichen Einrichtungen zur Disziplinierung ihrer Kinder zu nutzen. Ob es sich nun um Erörterungen zum Umgangs mit „verwahrlosten“ Minderjährigen oder Auseinandersetzungen über den privatrechtlich verankerten Schutz „gefährdeter Kinder“ handelte, bei allen nachgezeichneten Diskussionen stand das öffentliche Interesse im Vordergrund. Auch der Umstand, dass die einschlägige Gesetzesbestimmung zur präventiven Zwangserziehung im Rahmen des BGB normiert worden war, änderte daran nichts. Erst am Ende des hier betrachteten Zeitraums zeichnete sich eine Reformulierung der Problemstellung aus der Perspektive der Minderjährigen ab. Der wichtigste Impuls hierzu kam von dem Frankfurter Fürsorgerechtsexperten Wilhelm Polligkeit, der durch einen viel beachteten Aufsatz mit dem Titel „Das Recht des Kindes auf Erziehung“ von 1907 die Visionen der Reformer auf eine neue, bündige Formel brachte.1 Polligkeit beschränkte sich in seinem Beitrag nicht darauf, vom sozialpolitischen bzw. jugendfürsorgerischen Standpunkt her zu behaupten, dass jedes Kind einen Anspruch auf eine „ordentliche“ Erziehung habe. Vielmehr zerlegte und interpretierte er den § 1666 BGB nach allen Regeln der juristischen Auslegekunst und entwickelte aus den Motiven und verstreuten Bestimmungen des BGB den positiven Rechtsbegriff der „ordnungsgemäßen Erziehung“.2 Im Endergebnis gelangte er zu dem für Fürsorgevertreter einigermaßen überraschenden Schluss, dass das BGB Kinder durch den genannten Paragrafen bereits mit einem relativ ausgedehnten Rechtsanspruch gegenüber ihren Eltern ausgestattet habe, der im Wege des „vormundschaftsrichterlichen Rechtsschutzverfahrens“ auch einklagbar sei. “Das Vorliegen dieses Tatbestandes [des § 1666 BGB, J.R.] ist somit auch die Voraussetzung für die Entstehung des Rechtsanspruches, den das Kind auf Beseitigung des gefährdenden Zustandes bzw. Herstellung eines seinen Interessen entsprechenden Zustandes hat. In den Grenzen dieser Voraussetzung kann das Kind ein bestimmtes Tun oder Unterlassen von dem Erziehungspflichtigen verlangen, weil es, falls der Erziehungspflichtige dem nicht entspricht, durch Anrufen des vormundschaftsrichterlichen Rechtsschutzverfahrens die Verwirklichung dieses Verlangens erzwingen kann. Der Inhalt dieses Rechtsanspruches umfasst alle Interessen des 1
Polligkeit [1907]. Als Grundsätze der „notdürftigen Erziehung“, die gewissermaßen die Minimalanforderungen an eine „ordnungsgemäße Erziehung“ darstellten, nannte Polligkeit: a) die geistige und körperliche Ausbildung des Kindes im Sinne einer Befähigung zur selbständigen Bestreitung des Lebensunterhalts sowie zur Tätigung der dafür erforderlichen Rechtsgeschäften, b) die sittliche Förderung des Kindes im Sinne der Entwicklung einer seinen Lebensumständen und Beziehungskreisen entsprechenden rechtlichen Verantwortlichkeit und c) die Berücksichtigung der individuellen körperlichen und geistigen Veranlagungen des Kindes bei der Realisierung der unter a) und b) genannten Ziele (Polligkeit [1907], S. 37). 2
Die Proklamation des „Rechts des Kindes auf Erziehung“
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Kindes an einer ordnungsmäßigen Erziehung, die des Rechtsschutzes aus § 1666 BGB. fähig sind..“1
Damit schien nun endlich der richtige Hebel gefunden zu sein, mit dem selbst die hartnäckigsten Gegner der präventiven Stoßrichtung von der Notwendigkeit einer Ausdehnung und sozialen Ausgestaltung staatlicher Jugendfürsorge überzeugt werden konnten. Dadurch, dass Polligkeit das Kindesinteresse in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückte, sollte ein für alle Mal klargestellt werden, dass die öffentliche Erziehung den Kindern kein Leid zufügen, sondern ihnen eine “Wohltat“ zukommen lassen wollte. Vom vermeintlichen Kindesinteresse aus ließ sich nahezu jede beliebige Forderung nach weiterführenden fürsorgerischen Maßnahmen stellen, weil die Kinder selbst ihre Interessen kaum zu artikulieren im Stande waren. Was dem „Wohl des Kindes“ diente, definierten wie bisher die Erwachsenen. Aber es waren jetzt vor allem die Erwachsenen, die in den Behördenzentralen der städtischen Jugendfürsorge oder in den Vormundschaftsgerichten saßen, und nicht mehr die leiblichen Eltern, die über das Schicksal der Kinder bestimmten. Mit dem 1921 erlassenen Reichsjugendwohlfahrtsgesetz wurde das „Recht des Kindes auf Erziehung“ zum ersten Mal in Form einer Präambel festgeschrieben. Dass es sich bei diesem Recht um ein „deklamatorisches“, eben gerade nicht einklagbares Recht handelte, zweifelten selbst die Zeitgenossen nicht mehr an.
1
A.a.O., S. 75 f.
5 Die Praxis des Sorgerechtsentzugs in Hamburg vor und nach Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900
In den vorangegangenen Teilen dieser Studie wurden die Kontexte dargestellt, in denen sich die „interventive Familienpolitik“ und eines ihrer zentralen Instrumente, der Sorgerechtsentzug, entwickelten. Es wurden zunächst die zeitgenössischen Wahrnehmungsmuster des Familienlebens im großstädtischen Unterschichtsmilieu rekonstruiert und mit den „realen“ Verhältnissen in Beziehung gesetzt, wie sie sich auf der Grundlage statistischer Massendaten, sozialhistorischer Detailstudien und der verstreuten Selbstzeugnisse von Unterschichtsangehörigen erschließen ließen (Teil 1). Der zweite Teil befasste sich mit der organisatorischen Entwicklung und inhaltlichen Ausgestaltung der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge, die als eine Antwort auf den beobachteten Strukturwandel der Familie im 19. Jahrhundert betrachtet werden kann, gleichzeitig aber die „Probleme“, auf die sie abstellte, erst eigentlich konstruierte. Die Herausbildung der „modernen“ öffentlichen Jugendfürsorge stellte insofern einen wichtigen Hintergrund für die Etablierung des gerichtlichen Jugendschutzes dar, als sich das Bedürfnis nach formellen Eingriffen in die elterliche Personensorge aus der konkreten Fürsorgepraxis ergab. Umgekehrt hatte die reichsweite Normierung staatlicher Eingriffsbefugnisse durch § 1666 BGB auch weitreichende Konsequenzen für die zukünftige Ausgestaltung der Jugendfürsorge. In diesem Paragrafen gelangte nicht nur der Wille zum Ausdruck, im öffentlichen Interesse möglichst frühzeitig regulierend in die Familie einzugreifen, um gravierenden Störungen des Sozialisationsprozesses zuvor zu kommen. Er sicherte zugleich auch die Jugendfürsorgemaßnahmen gegen elterliche Einmischungsversuche ab und wurde gezielt als Drohmittel genutzt, um „nachlässige“ oder „uneinsichtige“ Eltern zur Einwilligung in staatliche Erziehungsmaßnahmen zu bewegen. Insofern waren die Entwicklung der modernen öffentlichen Jugendfürsorge und die Etablierung des Sorgerechtsentzugs untrennbar miteinander verbunden. In Teil 3 wurde schließlich der diskursive Kontext ausgeleuchtet, der zur Durchsetzung der staatlichen Eingriffsbefugnisse auf Landes- und Reichsebene führte. Anhand der fürsorge- und rechtspolitischen Debatten, die in den großen nationalen Fürsorgefachvereinigungen sowie in den gesetzgebenden Körperschaften Hamburgs und des Reichs geführt wurden, konnte gezeigt werden, wel-
J. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
che gesellschaftlichen Kräfte hinter der Forderung nach einer möglichst ausgedehnten, vorbeugenden öffentlichen Ersatzerziehung standen. Gleichzeitig wurde deutlich, dass es auch ganz unterschiedlich motivierte Widerstände gegen die interventionistische oder in den Worten ihrer Protagonisten: „sozialpolitischen“ Ausrichtung der Jugendfürsorge gab. In den einschlägigen landes- und reichsrechtlichen Bestimmungen spiegelte sich das jeweilige Kräfteverhältnis der Streitparteien wider. Trotz der immer stärkeren Durchsetzung des Präventionsgedankens stellten die rechtlichen Regelungen zeitbedingte Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Standpunkten dar. Im Folgenden soll nun am Hamburger Fallbeispiel der Frage nachgegangen werden, welche praktische Bedeutung der ausgedehnten staatlichen Eingriffsbefugnis zukam. Neben der quantitativen Entwicklung der Sorgerechtsentzüge und ihrem Zusammenhang mit den übrigen Maßnahmen justizieller Sozialkontrolle interessiert dabei vor allem, wie sich das „vormundschaftsrichterliche Rechtsschutzverfahren“1 in der konkreten Praxis gestaltete. Die Rechtspraxis wird dabei nicht als bloße Anwendung gesetzlicher Bestimmungen durch die Richter verstanden. Weder die materiell- noch die formellrechtlichen Regelungen gaben exakt vor, was sich vor Gericht abspielte. Aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Stellung brachten die Richter, bei denen es sich sowohl um Juristen als auch um Rechtslaien handelte, ganz verschiedene Gesichtspunkte in die Verhandlungen ein. Zudem unterlagen sie in ihrem Tun ganz massiven organisatorisch-administrativen Zwängen. Noch wichtiger war für die konkrete Ausgestaltung der Rechtspraxis allerdings das Handeln der einzelnen Verfahrensbeteiligten. Das Geschehen vor Gericht wurde durch die Institutionen und Personen, die am Verfahren beteiligt waren, aktiv mitgestaltet. Besonders groß war der Einfluss jener Instanzen, welche die Aufgaben der Gerichtshilfe wahrnahmen. Daneben waren die Entscheide der Beschwerdegerichte für das Vorgehen der Vormundschaftsbehörde von entscheidender Bedeutung. Nicht zuletzt aber übte, wie bereits eingangs am Fall „Köhnsen“ gezeigt werden konnte, das Verhalten der Eltern einen Einfluss darauf aus, ob einzelne Sachverhalte als „Gefährdung des Kindeswohls“ ausgelegt wurden oder nicht. Die lebensweltlichen Konflikte, die regelmäßig den Anlass zu den staatlichen Eingriffen gaben, strukturierten das Geschehen vor Gericht entscheidend mit. Die Untersuchung der Hamburger Gerichtspraxis gliedert sich wie folgt: In einem ersten Schritt wird die Aufgaben-, Personal und Organisationsentwicklung der Hamburger Vormundschaftsbehörde nachgezeichnet, die immer schon eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Verwaltungsbehörde und Gericht einnahm. Das zweite Kapitel (5.2) befasst sich mit der sozialen Zusammensetzung 1
Polligkeit [1907], S. 75 vgl. oben S. 458.
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und dem Erfahrungshintergrund der Laienrichter, da angenommen werden kann, dass beide Faktoren eine mehr oder weniger direkte Auswirkung auf die Entscheidungen in „Vernachlässigungs-“ und „Missbrauchsfällen“ hatten. Anschließend wird im dritten Kapitel (5.3) dargestellt, wie sich das Verfahren nach den gesetzlichen Bestimmungen gestalten sollte, bevor abschließend eingehend auf die konkrete Rechtpraxis eingegangen wird. Die Analyse der Rechtspraxis bezieht sich zum einen auf die quantitative Entwicklung der Eingriffe in das Personensorgerecht und ihrem systematischen Stellenwert innerhalb der Maßnahmen justizförmiger Sozialkontrolle (5.4). Das Schwergewicht liegt jedoch auf der qualitativen Untersuchung der Gerichtspraxis (5.5), die sich am Ablauf des Absetzungs- bzw. Entzugsverfahren orientiert und auf einer umfangreichen Auswertung von Personenakten beruht.
5.1 Die Vormundschaftsbehörde Ähnlich wie im Falle der Waisenpflege, so stellte auch für die Entwicklung des Vormundschaftswesens und seine Verwaltung das Inkrafttreten des BGB eine herausragende historische Zäsur dar. Von vielleicht noch weitreichenderer Bedeutung war allerdings das wenige Jahre zuvor erlassene Reichsgesetz über die „Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FGG), das eine durchgreifende organisatorische Umstrukturierung der Hamburger Vormundschaftsbehörde erforderlich machte. Von daher ist es auch hier sinnvoll, die Untersuchung der Personal- und Organisationsentwicklung chronologisch anzulegen und in zwei Abschnitte zu teilen: die Zeit bis zur Jahrhundertwende und die Zeit von 1900 bis zum ersten Weltkrieg.
5.1.1 Die Aufgaben-, Personal- und Organisationsentwicklung der Vormundschaftsbehörde bis zum Inkrafttreten des BGB Seit den 1830er Jahren war die Hamburger Vormundschaftsordnung immer wieder den neuen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst worden1 – und mit ihr hatte sich auch die Organisation der Vormundschaftsdeputation im Laufe der Zeit deutlich gewandelt. Von eher oberflächlicher Art war die 1874 erfolgte Umbenennung der „Deputation“ in „Vormundschaftsbehörde“. An der generellen Organisation der Verwaltung änderte das wenig: Noch immer 1 So wurde durch verschiedene Revisionen der Geltungsbereich der Vormundschaftsordnung erst auf die Vorstädte, später auch auf das Landgebiet der Hansestadt ausgedehnt. (Schröder [1966], S. 47, 102)
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wurde die eigentliche „Behörde“, das heißt das Gremium, das die Entscheidungen im Vormundschaftswesen der Stadt traf, aus einer dreiköpfigen „Sektion des Obergerichts“ gebildet. Die „Behörde“ besaß ihre eigenen Büroräume, die als „Kanzlei“ bezeichnet wurden. Sie dienten weniger als Sitzungs- und schon gar nicht als Arbeitsort der Behördenmitglieder, da diese in erster Linie am Obergericht tätig waren. In der Kanzlei verrichtete vielmehr das spärliche Hilfspersonal die alltäglichen Schreibarbeiten und buchhalterischen Tätigkeiten. Noch wichtiger aber war ihre Funktion als Anlaufstelle für das Publikum: Hier konnten die hinterbliebenen Verwandten und Vormünder zu bestimmten Zeiten in der Woche ihre Anzeigen machen, Berichte zu Protokoll geben und Inventare abliefern. Deutlich schwerer als die Umbenennung von 1874 wog eine vier Jahre später im Zuge der Reichsjustizreform vorgenommene Revision der Vormundschaftsordnung. In Anlehnung an die Organisation des Handelsgerichts wurde mit ihr die bürgerliche Mitsprache im Vormundschaftswesen erheblich ausgebaut. Ganz im Sinne der Forderung, welche die Bürgerschaft schon in den frühen 1830er Jahren erhoben hatte, wurden die jetzt vom Landgericht abzustellenden drei rechtsgelehrten Behördenmitglieder um vier von der Bürgerschaft zu wählende nichtrechtsgelehrte Mitglieder ergänzt.1 Seit diesem Zeitpunkt traf die „Behörde“ ihre Entscheidungen in der gemischten Besetzung von ausgebildeten Richtern und ehrenamtlich tätigen Rechtslaien. Abgesehen von geringfügigen Verschiebungen des Zahlenverhältnisses der beiden Gruppierungen blieb es bei dieser Konstruktion bis in die späten 1920er Jahre hinein.2 Dieser Schritt ist für das Verständnis der vormundschaftsgerichtlichen Praxis in Hamburg im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von herausragender Bedeutung. Zum einen hielt das Prinzip der „Laienverwaltung“, das dem Verwaltungssystem der Hansestadt im 19. Jahrhundert sein typisches Gepräge gab, nun auch im Vormundschaftswesen Einzug.3 Diesem Prinzip lag, wie Richard Evans in seiner Studie über die Choleraepidemie von 1892 herausgearbeitet hat, ein selbstbewusst vorgetragenes, „amateurhaftes“ Politikverständnis zu Grunde, dessen Richtschnur der „gesunde Menschenverstand“ war.4 Auch im Vormundschaftswesen wollte man durch die Einbeziehung der Laien erreichen, dass die „in anderweiten Lebensstellungen erworbenene Erfahrungen, Personen- und Geschäftskenntniße“, das heißt die nichtrechtlichen Wissensbestände, die bei einem Großteil der vormundschaftsgerichtlichen Entscheidungen zweifellos von großer 1 Vgl. zur Forderung nach einer bürgerlichen Beteiligung an der Verwaltung des Vormundschaftswesens: oben S. 313. 2 Zur Verwaltungsreform der 1920er Jahre, die zu einer grundsätzlichen Veränderung des Charakters des „Deputationswesens“ führte, vgl.: Schambach [2002]. 3 Zur Tradition der Selbstverwaltung in Hamburg vgl.: Evans [1996], S. 51 f. und 681 ff. und Postel [1984], S. 836 f. 4 Evans [1996], S. 41, 52 u. 61.
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Bedeutung waren, Eingang in die Beschlusspraxis fanden.1 Die Bürgerschaft war nicht nur der Überzeugung, dass dies durch die gemischte Zusammensetzung besser gelingen würde als durch die fallbezogene Einberufung eines „Familienrats“ – einer Institution, die dem französischen Vormundschaftsrecht entstammte und im Rheingebiets eine gewisse Verbreitung gefunden hatte. Auch das aufwendige Hinzuziehen von auswärtigen Sachverständigen glaubte man auf diese Weise umgehen zu können.2 Als negative Konsequenz ergab sich aus der bürgerlichen Mitsprache ein Grundwiderspruch in den Arbeits- und Entscheidungsstrukturen der „Behörde“. Schon immer war das amateurhafte Politikverständnis in Hamburg mit einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber bürokratischen Arbeitsformen preußischen Zuschnitts verbunden gewesen.3 Insbesondere der Ausbau des gehobeneren Beamtenstabes hatte in Hamburg lange Zeit keine Chance.4 Die Aufstockung des mittleren und unteren Dienstpersonals der städtischen Verwaltung konnte nur gegen erhebliche Widerstände von Seiten des Senats und der Bürgerschaft durchgesetzt werden, wobei finanzielle Erwägungen zwar eine wichtige, aber sicherlich nicht die ausschlaggebende Rolle spielten. Die Kombination von kollegialen und bürokratischen Elementen in der Organisation der Vormundschaftsbehörde erschwerte nicht nur die Kommunikation zwischen ständigem und ehrenamtlichem Personal, indem es ein langatmiges Referieren aus den Akten bzw. ein Zirkulieren derselben durch viele Hände erforderlich machte. Es verkomplizierte auch die Entscheidungsabläufe. Hinzu kam, dass der regelmäßige Wechsel der nichtrechtsgelehrten Mitglieder die Ausbildung zeitsparender Routinen erschwerte. Nicht zuletzt konnte mit kollegialen Strukturen nicht flexibel genug auf die steigende Arbeitsbelastung reagiert werden. Immer fanden sie ihre Grenze in der beschränkten zeitlichen Verfügbarkeit der ehrenamtlich tätigen Mitglieder. Mit der Revision der Vormundschaftsordnung von 1879 war auch eine Veränderung des bisherigen Geschäftskreises der Vormundschaftsbehörde einhergegangen: Die Entmündigung von Geisteskranken und Verschwendern, für welche die Zivilprozessordnung (ZPO) das kontradiktorische Verfahren vorschrieb, fiel jetzt in die Zuständigkeit des Landgerichts. Die Vormundschaftsbehörde bestellte zwar auch weiterhin die Kuratoren und übte die obervormund1
Verh. Senat/Bürgerschafft 1899, S. 53. Verh. Senat/Bürgerschaft 1899, S. 53 f. Das Institut des „Familienrats“ war durch den Code Civil erstmals privatrechtlich verankert worden und wurde im Zuge der Napoleonischen Besatzung auch im Rheingebiet eingeführt. Dort hatte es sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil des Vormundschaftswesens entwickelt. Auf diesem Wege gelangte es schließlich auch in das BGB von 1900. 3 Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurde von den Senatoren wie selbstverständlich erwartet, dass sie ihre Aktenarbeit in ihren privaten Arbeitsräumen erledigten (Evans [1996], S. 52). 4 A.a.O., S. 51 u. 682 ff. 2
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schaftliche Kontrolle über erwachsene Mündel aus. Der Eingriff selbst war jedoch den ordentlichen Gerichten vorbehalten. Umgekehrt wurden die Gegenstände der nicht streitigen Gerichtsbarkeit, für die bisher das Obergericht zuständig gewesen war, zum Großteil an die Vormundschaftsbehörde abgegeben.1 Ein weitere Veränderung, die zwar organisatorisch kaum ins Gewicht fiel, für das „Publikum“ aber umso bedeutender gewesen sein dürfte, war der 1887 erfolgte Umzug der „Kanzlei“ vom Neuen Wall in die „Alte Post“ (vgl. Abb. 11). Das heute noch existente, kurz nach dem Hamburger Brand von Alexis de Chateauneuf unweit des Jungfernstiegs im florentinischen Stil errichtete Gebäude, in dem ursprünglich vier Poststationen untergebracht waren, hatte durch die Errichtung der Oberpostdirektion am Stephansplatz seine bisherige Bestimmung verloren.2 Nach umfangreichen Umbauarbeiten zog die „Kanzlei“ der Vormundschaftsbehörde im Spätherbst 1887 zusammen mit einer Reihe weiterer städtischer Verwaltungsabteilungen in das repräsentative Gebäude ein.3 In den mittleren Etagen des Hauses blieb die Vormundschaftsbehörde bis 1916 ansässig. Das „Publikum“, das die „Alte Post“ seit Langem kannte, war für die sprachlichen Spitzfindigkeiten der Verwaltungsleute, die zwischen “Kanzlei“ und „Behörde“ unterschieden, unempfänglich und sprach von „der Obervormundschaft“ oder noch kürzer von „der Vormundschaft“, wenn es sich auf den Weg in die Poststraße machte oder sich schriftlich an das Behördenpersonal wandte. Auch nach dem Umzug in das ehemalige Postgebäude blieb das Personal der „Kanzlei“ zunächst noch sehr überschaubar. Es setzte sich aus zwei Sekretären, einem Buchhalter, einem Kanzlisten, einem Registrator sowie zwei Schreibern und zwei Boten zusammen. Den beiden Sekretären, von denen der eine die Befähigung zum Richteramt haben musste, während beim anderen die Qualifikation eines gewöhnlichen Gerichtsschreibers genügte, hatte man die verantwortungsvolleren Tätigkeiten wie die Protokollführung und die Entgegennahme von Anzeigen und Berichten anvertraut.4 Dem rechtsgelehrten, ersten „Sekretär“ war zudem die Aufsicht über die Kanzlei übertragen worden. Zum „ständigen Personal“ ist schließlich noch der Vorsitzende der Vormundschaftsbehörde zu rechnen. Bereits 1880 war das Präsidium des Landgerichts, das den Vorsitzenden aus dem Kreis der drei rechtsgelehrten Mitglieder alljährlich auszuwählen hatte, dazu übergegangen, für dieses Amt einen Richter dauerhaft abzustellen. Seither hatte der 1836 in Hamburg geborene und in Göttingen promovierte Landrichter Ulrich 1 Vgl.: Motive zum „Gesetzentwurf, betreffend Abänderung der Vormundschaftsordnung“ in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1878, S. 714 ff. und Motive zum „Gesetz, betreffend die nicht streitige Gerichtsbarkeit“ in: Gesetzsammlung FHH 1879, 253 ff. 2 Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg [1890], S. 182 ff. 3 Vgl.: STAH 241-1 I, IV A 1 Vol.1. 4 Hbg. StaHB 1887 und Art. 99 bis 101 der Vormundschaftsordnung i.d.F. vom 1.1.1884 in: Gesetzsammlung FHH 1883, S. 125 ff.
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Abbildung 12: Die „Alte Post“, in der Zeit von 1887-1916 Dienstsitz der Hamburger Vormundschaftsbehörde.
Philipp Moller die Position des Vorsitzenden inne. Moller war zeitgleich mit seiner Ernennung zum Landrichter 1880 in die Bürgerschaft eingezogen, der er bis 1899 als Vertreter der Fraktion der Rechten angehörte. Als ehemaliger „Aktuar“ der Vormundschaftsbehörde war er nicht nur mit der Rechtsmaterie, sondern auch mit den konkreten Arbeitsabläufen der Vormundschaftsbehörde bestens vertraut.1 Mit dem Erlass des ZEG 1887 und dem fast zeitgleich erfolgten Umzug der „Kanzlei“ war Moller von seinen bisherigen Amtspflichten als Strafrichter des Landgerichts entbunden worden. Obwohl er mit seinen Vorstößen, die Vormundschaftsbehörde organisatorisch vom Landgericht zu trennen und 1 STAH 241-2, A 348. Im Zeugnis der Vormundschaftsbehörde von 1879 anlässlich Mollers Bewerbung zum Richteramt wurden neben den Tugenden wie Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Pflichttreue, Fleiß und Zuverlässigkeit v.a. seine profunden Rechtskenntnisse sowie seine „persönliche Liebenswürdigkeit“ hervorgehoben, durch welche er sich die Zuneigung des Publikums erworben habe.
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seine Beförderung zum Landgerichtsdirektor zu erwirken, zunächst scheiterte, war er seit diesem Zeitpunkt ausschließlich für die Vormundschaftsbehörde zuständig. Moller vereinigte somit seit 1888 in seiner Person die Funktion des vorsitzenden Richters der „Behörde“ mit der des Leiters der „Kanzlei“. Erst mit seiner Pensionierung 1917 trat ein erneuter Wechsel an der Spitze der Vormundschaftsbehörde ein. So übersichtlich sich das ständige Personal der Vormundschaftsbehörde ausnahm, so beschaulich waren zunächst die Räumlichkeiten der „Kanzlei“.1 Es existierte eine Anzahl kleinerer Büros, in denen die Sekretäre die mündlichen Anzeigen des „Publikums“ entgegennahmen und Buchhalter und Schreiber ihre tägliche Verwaltungsarbeit verrichteten. Ein etwas größerer Raum wird dem Vorsitzenden vorbehalten gewesen sein. Darüber hinaus gab es zwei etwa 50 Quadratmeter große Säle. Aller Wahrscheintlichkeit nach wurde wenigstens einer von ihnen als Sitzungszimmer genutzt. In diesem Raum fanden neben den zahlreichen Versammlungen der Behördenmitglieder vermutlich auch die Kommissionen sowie die „Hauptverhandlungen“ im Zwangserziehungsverfahren statt. Leider ist über die innere Ausgestaltung dieser Sitzungs- und Verhandlungszimmer nichts bekannt.2 Da das Absetzungs- vom Zwangserziehungsverfahren in formellrechtlicher Hinsicht stark abwich, ist aber davon auszugehen, dass man das vorhandene Mobiliar dem jeweiligen Zweck entsprechend arrangierte.3 Fest installierte Richterstühle, Anklagebänke und Zeugenstände wird es demnach nicht gegeben haben. Trotzdem dürfte Moller, nach dessen Auffassung in allen „richterlichen“ Angelegenheiten kontradiktorisch und mündlich verhandelt werden sollte, Wert darauf gelegt haben, dass zumindest für die Hauptverhandlung im Zwangserziehungsverfahren die Sitzungszimmer so hergerichtet wurden, dass sie den Verhandlungssälen der Strafjustiz glichen. Die Beschaulichkeit der Räume darf jedoch nicht über das umfangreiche und beständig anwachsende Arbeitspensum hinwegtäuschen, das in der „Kanzlei“ verrichtet wurde. Einen Eindruck vom Arbeitsanfall gewinnt man, wenn man die zahlenmäßige Entwicklung der neu eingerichteten Vormundschaften sowie der eingegangenen und abgesandten Schriftstücke betrachtet. Vergegenwärtigt man sich, dass der traditionelle Geschäftsgang eine Vielzahl von schriftlich fixierten Zwischenschritten kannte – vom Eingang eines auswärtigen Schrift1 Vgl. die Submissionszeichnung zum Umbau des ehemaligen Posthauses in: STAH 131-6 Plankammer, 189/1887.002. 2 Die Wechselwirkung, die zwischen den räumlichen Arrangements einerseits und der Gestaltung der Verhandlungen andererseits besteht, ist offenkundig. Donzelot sieht prinzipielle Unterschiede in den räumlich-symbolischen Anordnungen von straf- und vormundschaftsgerichtlichen Verhandlungen. Während erstere nach dem Muster eines Kreuzes organisiert seien, hält er bei vormundschaftsgerichtlichen Verfahren die Kreisform für konstitutiv. Vgl.: Donzelot [1980], S. 119. 3 Zu den Details des Verfahrens vgl. unten Abschnitt 5.3.
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Tabelle 4: Entwicklung des Arbeitsanfalls Vormundschaftsbehörde 1884-1899
in
der
Kanzlei
der
stücks über die Verfügung, das Konzeptschreiben bis hin zur Abfassung eines abgehenden Schriftstücks – so lässt sich das wahre Ausmaß der in der „Kanzlei“ anfallenden Arbeiten ermessen.1 Insbesondere Anfang der 1890er Jahre war der Arbeitsanfall der Vormundschaftsbehörde drastisch gestiegen. Dies war nicht nur eine Folge der Cholera, obwohl der hohe Wert der 1894 neu eingerichteten Vormundschaften einen gewissen, durch die Seuche bedingten „Nachholeffekt“ dokumentiert.2 Das 1892 erlassene Waisenpflegegesetz hatte ebenfalls zum Anwachsen des Arbeitsanfalls in der Vormundschaftsbehörde beigetragen: Ein Großteil des 1894 geführten Schriftverkehrs der Vormundschaftsbehörde ging auf das Konto der Waisenhausdirektion.3 Schließlich hatte auch die Praxis der Staatsanwaltschaft, der Vormundschaftsbehörde all jene Akten zuzustellen, in denen gegen Jugendliche ermittelt worden war, zum Anwachsen der Geschäfte beigetragen.4 Es ist deshalb auch nicht weiter verwunderlich, dass zu Beginn der 1890er Jahre die „Relationen“, das heißt die zwischen der Vormundschaftsbehörde und anderen Behörden erstatteten Aktenberichte, sprunghaft anstiegen.5 Zwar dürfte es sich beim Großteil der Aktenberichte um einfache Adressauskünfte des Einwohner1 Vgl. zur Entstehung und Gestaltung von Verwaltungsakten aus quellenkundlicher Sicht: Opgenoorth/Schulz [2001], S. 73 ff. und Schmid [1994]. 2 Im Jahr 1893 war die Zahl der neu bestellten Vormünder gegenüber dem Vorjahr von 2.429 auf 2.243 gesunken, was Moller auf die Cholera zurückführte. Vgl.: STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 17. 3 So waren unter den 3.049 eingegangenen Schreiben 804 Formularanzeigen der Waisenhausdirektion, und von den abgesandten 3.999 Schreiben waren 674 ebenfalls an die Waisenhausdirektion gerichtet. Vgl.: STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 18. 4 Vgl. die gutachterliche Stellungnahme der Vormundschaftsbehörde vom 12. August 1892 in: STAH 354-2, A 12 u. unten S. 451. 5 Während in dem Jahrzehnt von 1883-1892 die durchschnittliche Zahl der „Relationen“ bei etwas weniger als 13.800 pro Jahr gelegen hatte, stieg sie 1893 auf über 18.000, im Folgejahr sogar auf fast 23.000.
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meldeamtes gehandelt haben. Dennoch ist dieser Anstieg als ein Indiz für die zunehmende Verflechtung der administrativen Tätigkeiten und ganz allgemein für die Ausweitung der interbehördlichen Korrespondenz zu werten. Das bisherige Personal der Behördenkanzlei war der wachsenden Arbeitsbelastung schon bald nicht mehr gewachsen, und so bildete die Forderung nach seiner Aufstockung bzw. Beförderung einen stets wiederkehrenden Bestandteil der Jahresberichte jener Zeit. Mollers Bemühungen war jedoch nur ein mäßiger Erfolg beschieden. Während es ihm gelang, eine sukzessive Steigerung des unteren Dienstpersonals zu erreichen, so stieß er mit seinen Forderungen hinsichtlich der mittleren Dienstränge auf erhebliche Widerstände.1 Das Präsidium des Landgerichts war nur dazu zu bewegen, der Vormundschaftsbehörde Assessoren und Referendare als „Hülfssekretäre“ zuzuweisen. Eine nachhaltige Entlastung brachte diese Maßnahme jedoch nicht, denn die „Hülfssekretäre“ mussten erst eingearbeitet werden und wurden schon bald nach ihrem Eintritt in die „Kanzlei“ wieder abgezogen.2 Der dringlich vorgetragenen Bitte um Anstellung eines dritten Sekretärs kam man bis 1900 nicht nach. Auch der „Arbeitsüberbürdung“ der rechtsgelehrten Behördenmitglieder, insbesondere des Vorsitzenden, wurde nicht wirksam begegnet. Bereits 1885 waren etwa 88 Prozent der 15.000 erstatteten „Relationen“ Einzelrichtersachen, das heißt sie mussten von einem der rechtsgelehrten Mitglieder, überwiegend wohl von Moller, getätigt werden.3 Schon vor dem Inkrafttreten des Zwangerziehungsgesetzes mehrten sich zudem die so genannten Kommissionen.4 Aus guten Grund fiel auch diese Aufgabe den mit den Verhandlungs- bzw. Vernehmungstechniken der Zivil- bzw. Strafjustiz vertrauten rechtsgelehrten Behördenmitglieder zu. Zu allem Überfluss wich das Landgerichtspräsidium Anfang der 1890er Jahre auch noch vom ihrem Grundsatz ab, den personellen Wünsche des Vorsitzenden bei der Abstellung rechtsgelehrter Behördenmitglieder zu entsprechen. Moller sah sich daraufhin gezwungen, „noch mehr als bisher [...] die Geschäfte allein zu erledigen, um den ihm zugewiesenen neuen Kollegen möglichst wenig in Anspruch zu nehmen“.5 In allen Verhandlungen, die Moller vor der Jahrhundertwende in personellen Angelegenheiten führte, ist die Sorge des Landgerichtspräsidiums und der 1 Bis 1895 wurde das niedere Dienstpersonal um zwei weitere „Schreiber“, zwei „Kanzlisten“ und einen Bürovorsteher ergänzt, sodass 1899 – abgesehen vom Vorsitzenden und den beiden Sekretären – insgesamt neun Personen auf der Gehaltsliste der „Behörde“ standen. Vgl.: Hbg. StaHB 1899. 2 STAH 241-1 I, XXI B a 2 Vol. 17. 3 „Jahresbericht der Verwaltungsabteilung für das Justizwesen“ in: VerwBer. 1885. 4 Die „Kommissionen“ konnten je nach dem zu regelnden Gegenstand sowohl den Charakter von Vergleichsverhandlungen als auch von gewöhnlichen Vernehmungen annehmen. Ein von der Behörde aus den Reihen seiner Mitglieder bestimmter „Kommissar“ leitete die Verhandlungen, die vom Sekretär protokollarisch festgehalten wurden. 5 STAH 241-1 I, XXI B a 2 Vol. 18. Hervorhebung im Original.
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Senatsabteilung für die Justizverwaltung mit Händen zu greifen, Moller könnte es auf die Einrichtung eines zweiten Dezernats abgesehen haben. Die Binnendifferenzierung der „Behörde“ in zwei Abteilungen und Mollers Anstrengungen, die Zahl der Sekretäre zu vermehren, wiesen in diese Richtung. Wie in anderen Verwaltungszweigen auch, versuchte man dieser Ausdifferenzierung und der mit ihr verbundenen Erhöhung der Anzahl leitender Beamter mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Nicht weniger massiv war der Arbeitsdruck in der „Behörde“, das heißt dem Gremium, das die vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse fasste. Im Zuge einer Neufassung der Beschlussregelungen der Behörde hatte man 1884 die Zahl der nichtrechtsgelehrten Behördenmitglieder von vier auf acht erhöht. Diese Erhöhung wurde dem tatsächlichen Arbeitsanfall aber schon bald nicht mehr gerecht. Bereits 1885 musste die „Behörde“ in nur 58 Sitzungen 9.901 Beschlüsse fassen. Gemittelt entfielen also auf jede Sitzung etwa 170 Beschlüsse. Wie die nachstehende Tabelle zeigt, gelang es in den folgenden Jahren durch eine starke Erhöhung der Sitzungsfrequenz, diese Quote zu verringern bzw. konstant zu halten. Beliebig ausdehnen ließ sich dieses Verfahren aber nicht, und über die wachsende zeitliche Inanspruchnahme der nichtrechtsgelehrten Mitglieder durch ihr Ehrenamt konnte das ebenso wenig hinwegtäuschen. Tabelle 5: Entwicklung der Arbeitsbelastung der Vormundschaftsbehörde
Da die Versuche, dem anhaltenden Arbeitsdruck durch personelle Maßnahmen zu begegnen, fehlschlugen oder der Entwicklung hinterherhinkten, wuchs die Bedeutung anderer Strategien der Arbeitsentlastung. Wie in den meisten städtischen Verwaltungsbehörden jener Zeit, setzte auch in der Vormundschaftsbehörde in den 1890er Jahren ein kräftiger Rationalisierungsschub im Schriftverkehr, in der Aktenführung und im allgemeinen Geschäftsgang ein. Am deutlichsten
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wird diese Entwicklung daran erkennbar, dass immer mehr Formulare in Umlauf kamen. Es gab Formulare zur Berichterstattung der Vormünder, Formulare zur Äußerung der unehelichen Mütter über die Unterbringung ihres Kindes und den Namen des Kindesvaters, Formulare zur Erkundigung der Adressen beim Einwohnermeldeamt, Formulare zur Anfertigung von Aktenprotokollen usw., usf. Eine weitere, bereits angedeutete Möglichkeit zur Verringerung der Arbeitsbelastung bestand in der Delegation von „weniger wichtigen“ Geschäften an die unteren Dienstränge. So ging die Anzahl der von den rechtsgelehrten Mitgliedern gehaltenen, sehr zeitintensiven „Kommissionen“ im Jahrzehnt von 1887 bis 1897 kontinuierlich zurück. In diesem zur allgemeinen Geschäftsentwicklung gegenläufigen Trend ist ein klarer Beleg für die Verlagerung von vormals richterlichen Tätigkeiten auf die Sekretäre zu sehen. Zumindest im „Vorverfahren“ bekam das „Publikum“ die Richter immer weniger zu Gesicht. Vermittlungsversuche, eidesstattliche Zeugenvernehmungen oder „ernstliche Ermahnungen“, die den Hauptgegenstand der Kommissionen bildeten, wurden mehr und mehr von den Sekretären vorgenommen oder schlicht nicht mehr durchgeführt. Eine letzte Strategie zur Arbeitsentlastung bestand im Abrücken vom Prinzip der „Doppelvormundschaft“.1 Schon seit den späten 1880er Jahren verlief der Anstieg der Anzahl jährlich neu bestellter Vormünder deutlich moderater als die Steigerung der neu eingerichteten Vormundschaften. Das deutet zum einen darauf hin, dass man immer mehr Vormundschaften auf die bereits bestellten Vormünder verteilte. Es kam mit anderen Worten also zu einer Häufung von Vormundschaften bei einem beschränkten Personenkreis. In einer ganzen Reihe von Fällen hielt man es jedoch auch für überflüssig, einen „Gegenvormund“ zu bestellen, der den „Hauptvormund“ bei der Ausübung seiner Pflichten kontrollierte. Das Abrücken vom Grundsatz der Doppelvormundschaft ist zwar in erster Linie als eine Reaktion auf die wachsende Schwierigkeit zu werten, geeignete und motivierte Vormünder zu finden. Ein nicht unbedeutender Nebeneffekt bestand aber darin, dass der personal- und zeitintensive, in den meisten Fällen auf face-to-face-Kontakten basierende Verkehr mit den Vormündern nicht weiter ausuferte: Es mussten weniger Vormünder vereidigt, weniger Vorladungen versandt und weniger Vernehmungen durchgeführt werden. Gleichzeitig fand allerdings offensichtlich in all jenen Fällen, in denen die Personensorge im Vordergrund stand, auch eine Verlagerung der früher vom Gegenvormund ausgeübten Kontrollfunktion auf die Behörde statt. So stellte sich die innerbehördliche Situation am Ende des 19. Jahrhunderts dar. Das Inkrafttreten von FGG und BGB brachte jedoch eine ganze Reihe ein1 Vgl.: Jahresbericht der Vormundschaftsbehörde für das Jahr 1896. In: STAH 241-1 I, B a 2 Vol. 20. Die Möglichkeit, für bestimmte Zwecke einen Einzelvormund zu bestellen, war mit einer 1884 erfolgten Ergänzung des Art. 10 VO eingeführt worden.
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schneidender Neuerungen, die den Charakter der Vormundschaftsbehörde in nur wenigen Jahren stark verändern sollten.
5.1.2 Die organisatorischen und personellen Veränderungen seit der Jahrhundertwende Die wohl wichtigste organisatorische Veränderung, welche die beiden genannten Reichsgesetze mit sich brachten, ging auf den § 35 FGG zurück, der alle vormundschaftsgerichtlichen Kompetenzen dem Amtsgericht übertrug. Dies wollte man in Hamburg um jeden Preis vermeiden, denn damit wäre unweigerlich ein Abrücken vom „altbewährten“ Prinzip der Laienverwaltung verbunden gewesen. Bürgerschaft und Senat entschlossen sich deshalb, von einem Ländervorbehalt im Einführungsgesetz zum BGB (EG BGB) Gebrauch zu machen, der eine von § 35 FGG abweichende Regelung unter der Voraussetzung ermöglichte, dass die vormundschaftsgerichtlichen Aufgaben „anderen als gerichtliche Behörden“ übertragen werden.1 Mit der Anwendung dieses Vorbehalts, der für die Hamburger Situation wie geschaffen erschien, hatte man sich allerdings ein Folgeproblem eingehandelt: Seit den späten 1880er Jahren vertrat nämlich die höchstrichterliche Rechtsprechung in Hamburg die Auffassung, dass es sich bei der Vormundschaftsbehörde gar nicht um eine Verwaltungsbehörde, sondern um ein Gericht handele.2 Eine Übertragung der vormundschaftsgerichtlichen Kompeten1 Art. 147 I EG BGB. Außer Hamburg machten noch Württemberg und die beiden Mecklenburg von dem Vorbehalt Gebrauch. Vgl.: Schutze-Görlitz/Oberneck [1900], S. 43 Anm. zu § 35 FGG und: Neumann [1905], S. 136 Anm. 2 zu Art. 147 EG BGB. 2 Vgl.: Beiblatt HGZ 1886, Nr. 61 u. 1888, Nr. 169. Bis dahin war die Stellung der Hamburger „Vormundschaftsbehörde“ zwischen Verwaltungsbehörde und Gericht alles andere als klar gewesen. Vgl. das Rechtsgutachten zu dieser Frage in: STAH 241-1 I, VII D a Vol.1. Weder der Hamburger Verfassung noch der Vormundschaftsordnung selbst waren sichere Anhaltspunkte für die Zuordnung der Vormundschaftsbehörde zu den vollstreckenden oder den rechtsprechenden Behörden zu entnehmen. Auch das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 brachte in dieser Hinsicht keine Klarheit, denn es bezog sich ausdrücklich nur auf die streitige Gerichtsbarkeit. Für die Annahme, die Vormundschaftsbehörde sei ein Gericht, sprach u.a. die Tatsache, dass ihr drei rechtsgelehrte Mitglieder des Landgerichts angehörten, die von dessen Präsidium alljährlich abgestellt wurden. Außerdem stand ihr nicht wie bei den anderen Verwaltungsbehörden ein Senatsmitglied vor, sondern einer der drei Landrichter. Schließlich fungierte als Beschwerdeinstanz das Hanseatische OLG und nicht die oberste Verwaltungsbehörde, der Senat. All dies sprach dafür, die Vormundschaftsbehörde als eine besondere „Abteilung des Landgerichts“ zu betrachten. Auf der anderen Seite ähnelte die Vormundschaftsbehörde in ihrer Zusammensetzung aus rechtsgelehrten und nichtrechtsgelehrten Mitgliedern in auffallender Weise den anderen Hamburger „Deputationen“, deren Status als vollstreckende Behörden unstrittig war. Auch die Bestimmungen über die Wahl und Anstellung von Beamten stimmte nicht mit der Zuordnung zum Landgericht überein. Vor allem aber unterschied sich die Vormundschaftsbehörde durch das „kommissarische Verfahren“ von den ordentlichen Gerichten. Vgl. hierzu weiter unten S. 468 f.
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zen an die Vormundschaftsbehörde alten Zuschnitts war damit ausgeschlossen. Wollte man auf den Gesetzesvorbehalt des EG BGB zurückgreifen, so musste man zunächst einmal den engen organisatorischen Zusammenhang zwischen Vormundschaftsbehörde und Landgericht, auf den sich die Auffassung des Hanseatischen OLG stützte, beseitigen. Mit einem eigens ausgearbeiteten Gesetz zur zukünftigen Organisation der Vormundschaftsbehörde wurde deshalb die neu zu schaffende Behörde der Senatskommission für die Justizverwaltung unterstellt.1 Anstelle der vom Landgericht entsandten drei Landrichter traten nun zwei vom Senat ernannte Vorsitzende an die Spitze der Behörde. Die neuen Vorsitzenden erhielten den Dienstrang von „Räthen“, mussten aber weiterhin über die Befähigung zum Richteramt verfügen und waren auch hinsichtlich ihres Gehaltes den Landrichtern gleichgestellt. Durch die organisatorische Abtrennung vom Landgericht konnte die Einrichtung von separaten Dezernaten nicht länger hinausgezögert werden. Es wurden nach dem Buchstabenprinzip zwei getrennte Abteilungen unter dem Vorsitz der beiden „Räthe“ geschaffen, denen man je zwei Sekretäre zuordnete.2 Auch die Anzahl der nichtrechtsgelehrten Mitglieder, die man jetzt als „Beisitzer“ bezeichnete, hatte man von acht auf zwölf vermehrt. Wie bisher wurden sie von der Bürgerschaft auf Vorschlag der Vormundschaftsbehörde auf die Dauer von sechs Jahren gewählt und vor dem Senat vereidigt. Ihre Zuteilung zu den beiden Abteilungen erfolgte zu Beginn jedes Geschäftsjahres im Plenum der Behörde. Schließlich wurde mit dem Gesetz auch die Beschlussfassung im Fünf-MannKollegium abgeschafft. In der Mehrheit der Fälle wurden auch jetzt die Entscheidungen in der Besetzung von einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern gefäßt. Allerdings billigte das Gesetz der Behörde hinsichtlich der Beschlussfassung einen großen Ermessensspielraum zu, indem es nur eine positive Auflistung all jener Fälle vornahm, in denen die Beschlussfassung auch ohne Hinzuziehung von „Beisitzern“ zulässig oder aber die Einbeziehung von nichtrechtsgelehrten Mitgliedern zwingend erforderlich war. Die schon vor der Jahrhundertwende sich abzeichnende Arbeitsverlagerung von den hauptamtlichen Richtern auf die Sekretäre hatte dadurch eine gesetzliche Form erhalten. Durch die reichsrechtliche Vereinheitlichung waren somit alle von Moller bereits Mitte der 1880er Jahre unterbreiteten Vorschläge zur Reorganisation der Vormundschaftsbehörde mit einem Schlag realisiert worden. Moller behielt sei1
„Gesetz, betreffend die Vormundschaftsbehörde vom 14. Juli 1899“ in: Gesetzsammlung FHH 1899, I. Abteilung S. I 99 ff. sowie Begründung dazu in: Verh. Senat/Bürgerschaft 1899, S. 100 ff. 2 STAH 241-1 I, VII D a Vol.1. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Bezeichnung „Abteilung“ eine doppelte Bedeutung hatte. Während sie Moller im Sinne von „Dezernaten“ gebrauchte, verstanden die gesetzgebenden Körperschaften unter Abteilungen die behördlichen Ausschüsse, welche die vormundschaftlichen Beschlüsse fassten.
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nen Posten als erster Vorsitzender. Allerdings musste er in seiner neuen Funktion als „Rath“ sein Bürgerschaftsmandat niederlegen, denn die Mitgliedschaft in der Bürgerschaft und der Vorsitz in einer Behörde waren nach der Hamburger Verfassung unvereinbar. Zum zweiten Vorsitzenden und Leiter der Abteilung II der Vormundschaftsbehörde ernannte man den ehemaligen Sekretär der Finanzdeputation und „ständigen Hülfsarbeiter“ des Senats, Carl Friedrich Brandis.1 Eine weitere Neuerung, die das BGB mit sich brachte, war eine abermalige Veränderung des vormundschaftsgerichtlichen Geschäftskreises. Die Vormundschaftsbehörde musste nicht mehr wie bisher jedem Kind, dessen Vater verstorben oder an der Ausübung der elterlichen Gewalt gehindert war, einen Vormund bestellen, da dessen Rechte nach der neuen Gesetzeslage gewöhnlich automatisch an die verheiratete Mutter übergingen. Fort fiel auch die Bestätigung von Adoptionen, für die jetzt das Amtsgericht zuständig wurde. Die „Einkindschaft“, die nach bisherigem Recht durch die Vormundschaftsbehörde genehmigt werden musste, war dem BGB gänzlich unbekannt. Entlastend dürfte sich darüber hinaus die Einrichtung des Gemeindewaisenrats ausgewirkt haben. Mit seiner Etablierung entfiel neben der fürsorgerischen Kontrolle der Mündel die zeitaufwendige Suche nach geeigneten Vormündern. Nicht zuletzt war die Aufsicht der Behörde in Vermögensangelegenheiten in mancherlei Hinsicht vereinfacht worden. Dem gegenüber stand eine deutliche Erweiterung des Aufgabenspektrums in anderen Bereichen. So musste nach dem BGB jedem unehelichen Kind gleich nach der Geburt ein Vormund bestellt werden. Alle für die Mündel abgeschlossenen Dienst-, Lehr- und Arbeitsverträge, soweit sie für länger als ein Jahr vereinbart wurden, unterlagen jetzt der Genehmigungspflicht der Vormundschaftsbehörde. Entscheidend ausgedehnt wurde außerdem, wie in Teil 4 bereits gezeigt wurde, die obervormundschaftliche Kontrolle in Bezug auf die Ausübung der elterlichen Gewalt. Die Kontrolle der Vermögensverwaltung hatte sich insofern verkompliziert, als es nach der neuen Rechtslage im Ermessen des Vormundes lag, wie er die zu verwaltenden Gelder anlegen bzw. realisieren wollte. Aber auch mit der Einführung der jährlichen Rechnungslegung war ein erheblicher Mehraufwand verbunden. Schließlich hatte das BGB eine ganze Reihe von Entscheidungen im Bereich des ehelichen Güterrechts sowie der Gestaltung der persönlichen Rechtsbeziehung der Eheleute untereinander in den Geschäftsbereich der Vormundschaftsbehörde verschoben.2 1
STAH 241-2 A 797. Brandis hatte eine ganz gewöhnliche juristische Laufbahn im Verwaltungsdienst durchlaufen. Der Umstand, dass weder seine schlechten schulischen Leistungen noch das „Ausreichend“ im ersten Staatsexamen seiner Anstellung im Wege standen, deutet darauf hin, dass der Posten nicht sonderlich begehrt war. 2 Vgl. hierzu: Motive zum „Gesetz, betreffend die Vormundschaftsbehörde“. In: Verh. Senat/Bürgerschaft 1899, S. 100 ff.
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
Ob es unter dem Strich zu einem entscheidenden Anwachsen der Geschäfte der Vormundschaftsbehörde kommen würde, war unklar. Jedenfalls gab es hierfür nach der Auffassung von Senat und Bürgerschaft keinerlei gesicherten Anhaltspunkt. Die Aufstockung des ständigen niedrigen Dienstpersonals fiel denn auch moderat aus: Entsprechend der Unterteilung der Behörde in zwei getrennte Abteilungen wurden ein weiterer Bürovorsteher, ein weiterer Buchhalter sowie zwei zusätzliche Kanzlisten angestellt.1 Konsens war jedoch, dass aufgrund des Umfangs der erforderlichen „Überleitungsarbeiten“ von einem vorübergehenden Mehrbedarfs an Schreibkräften auszugehen war. Jede Einzelakte kam erneut zur Vorlage und musste daraufhin überprüft werden, ob nach dem neuen Recht überhaupt noch die Notwendigkeit zur Führung einer Vormundschaft bestand. Zeitweise waren 38 Hilfsarbeiter mit der Erledigung dieser Arbeit beschäftigt.2 Erst 1903 hatten sich die Arbeitsverhältnisse in der Behörde wieder weitgehend normalisiert: Der Arbeitsaufwand der Buchhaltung bei der Überprüfung der Vormünderrechungen nahm ab und die Zahl der schriftlichen Eingänge ging gegenüber 1900 deutlich zurück.3 Im selben Jahr entspannten sich auch die Raumverhältnisse: Die zweite Abteilung bezog den zweiten Stock der „Alten Post“, der durch den Umzug des Amtsgerichts in das fertiggestellte Ziviljustizgebäude in der Neustadt freigeworden war.4 Die Zahl der neuangelegten Vormundschaftsakten stieg jedoch weiterhin kontinuierlich an. Lag ihr Wert schon 1904 bei 18.176, so kletterte er bis 1909 auf 24.259 und 1914 sogar auf 28.301.5 Eine wichtige Zäsur hinsichtlich des Arbeitsanfalls bildete wiederum das erheblich veränderte und in Bezug auf die Eingriffsbefugnisse erweiterte ZEG, das Anfang 1908 in Kraft trat. Das neue Gesetz habe, so schrieb Moller in seinem Jahresbericht für 1908, „für die Behörde und 1
Hbg. StaHB 1901. Im Oktober 1899 bewilligte die Bürgerschaft 17.500 Mark für die Bezahlung von Hilfsarbeitern für 1901. Vgl.: Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft Nr. 192 vom 25. Oktober 1899. Später wurden noch einmal 20.000 Mark nachbewilligt, da die zunächst beantragten Gelder bei Weitem nicht ausreichten. 1902 wurden noch einmal 39.000 Mark für diesen Zweck bewilligt. Anfang 1901 beschäftigte die Vormundschaftsbehörde noch 38 vorübergehend angestellte Hilfsschreiber (STAH 241-1 I, XXI, B a 2 Vol. 25). 3 Jahresbericht der Vormundschaftsbehörde von 1902 in: STAH 241-1 I, B a 2 Vol. 26. 4 In seinem Jahresbericht von 1903 schrieb Moller zufrieden: „Die Vormundschaftsbehörde“ habe bei den Besprechungen mit den verschiedenen Behörden über die zukünftige Raumnutzung „erreicht, was sie gewünscht, aber immer entbehrt hatte, nämlich ein eigenes Sitzungszimmer für ihre Plenarversammlungen, das zugleich auch als Sitzungszimmer für die regelmäßigen Sitzungen der Abteilung I dient, bessere Zimmer für die Kasse und für die zum Teil nur sehr mangelhaft untergebrachten Sekretäre [...]. Für absehbare Zeiten ist damit dem Raumbedürfnis der beiden Abteilungen genügt“. STAH 241-1 I, B a 2 Vol. 27. 5 Es ist deutlich schwieriger, für die Zeit nach 1900 differenzierte Aussagen über die allgemeine Geschäftsentwicklung der Vormundschaftsbehörde zu treffen, da in der behördlichen Statistik seit 1903 entsprechende Angaben fehlen. 2
Die Vormundschaftsbehörde
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Tabelle 6: Personalentwicklung Vormundschaftsbehörde Hamburg 1884-1914
namentlich für deren beide Vorsitzenden eine gewaltige Zunahme der Arbeit zur Folge gehabt“.1 Mollers Äußerungen nach zu urteilen, konnte außerdem auch im beginnenden 20. Jahrhundert der personelle Zuwachs auf den unteren Diensträngen nicht mit der allgemeinen Geschäftsentwicklung Schritt halten. Im Vergleich zu den 1880er und 1890er Jahren war der personelle Ausbau bei den niedrigen und mittleren Dienstgraden, wie die nachstehende Tabelle zeigt, gleichwohl beachtlich. 1914, am Ende des untersuchten Zeitraums, hatte sich die Vormundschaftsbehörde zu einem bedeutenden Zweig innerhalb der Hamburger Justizverwaltungentwickelt, auf dessen Gehaltsliste insgesamt 42 Beamte und Angestellte standen.2 Das ständige Anwachsen der Geschäfte, die zunehmenden Abstimmungserfordernisse mit anderen Behörden und nicht zuletzt der anschwellende Besuchsverkehr hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Umbau der Vormundschaftsbehörde in einen leistungsstarken, bürokratisch strukturierten und hierarchisch gegliederten Verwaltungsapparat geführt. Die tendenzielle Bürokratiefeindlichkeit der etablierten Herrschaftsschichten Hamburgs hatte diesen Trend nicht zu verhindern, sondern höchstens etwas zu verzögern vermocht. Wie gezeigt werden konnte, kam dem BGB in diesem Prozess eine wichtige Schrittmacherfunktion zu. Gerade weil das Vormundschaftswesen im Unterschied zum übrigen Reichsgebiet in die Hände einer Behörde gelegt worden war, konnte die Vormundschaftsbehörde sogar eine Vorreiterstellung bei der Rationalisierung 1 2
Vgl.: STAH 241-1 I, XXI B a 2 Vol. 32. STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 38.
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
von Arbeitsabläufen erlangen.1 Gleichwohl hatte man in Hamburg mit der Entscheidung für die Beibehaltung des Laienprinzips bzw. gegen eine Übertragung der vormundschaftsgerichtlichen Geschäfte an das Amtsgericht einen Sonderweg eingeschlagen, der grundlegende Reformen im Vormundschaftswesen erschwerte und Hamburg von der allgemeinen Entwicklung abzukoppeln drohte. Das sollte sich vor allem im Verlauf der in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg geführten Diskussion über eine mögliche organisatorische Vereinigung von Amtsgericht und Vormundschaftsbehörde zeigen.2
1
1906 verlangte der Preußische Justizminister Auskunft darüber, wie die Hamburger Vormundschaftsbehörde ihr alphabetisches Mündelregister führe. Nachdem die Behörde die Informationen zum Aufbau und zur Handhabung des Registers bereitwillig übermittelt hatte, wurde im Jahr darauf in den Amtsgerichtsbezirken Berlin-Mitte und Breslau eine Mündelkartei nach Hamburger Vorbild eingeführt. Vgl.: STAH 241-1 I, VII D a Vol.1. 2 Vgl. hierzu ausführlich Ramcke [1959], S. 58.
Die Laienrichter
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5.2 Die Laienrichter Bevor sich die Untersuchung der eigentlichen Gerichtspraxis zuwendet, muss vorab noch etwas ausführlicher auf die Gruppe der Laienrichter eingegangen werden. Wie in allen organisations- und fallbezogenen Entscheidungen von einigem Belang, so war ihre Mitwirkung auch bei Eingriffen in die elterlichen Rechte zwingend vorgeschrieben. Es soll im Folgenden insbesondere zwei Fragen nachgegangen werden: 1. Inwiefern wurden die „Beisitzer“ dem Anspruch, den „gesunden Menschenverstand“ in die vormundschaftsgerichtlichen Entscheidungen einzubringen, auch bezüglich des Absetzungs- bzw. Entzugsverfahrens gerecht? 2. Welchen Einfluss übten sie auf die inhaltliche Gestaltung der Beschlüsse aus? Verteilt über den gesamten Untersuchungszeitraum waren 43 ehrenamtliche, nichtrechtsgelehrte Mitglieder für die Vormundschaftsbehörde tätig.1 Sie wurden, wie bereits erwähnt, von der Bürgerschaft gewählt, jedoch von der Vormundschaftsbehörde zur Wahl vorgeschlagen. Zur Übernahme des unentgeltlichen Amtes waren sie per Gesetz verpflichtet.2 Wie die bürgerlichen Mitglieder anderer „Deputationen“ auch, mussten sie nicht unbedingt der Bürgerschaft angehören, aber doch über das passive Wahlrecht verfügen.3 Dieses Kriterium engte den Personenkreis, der für das Amt in Frage kam, stark ein, denn nur wer das Bürgerrecht erworben hatte, über 25 Jahre alt war und Einkommenssteuer zahlte, mit anderen Worten: wer über ein beträchtliches Vermögen verfügte, konnte in die Bürgerschaft gewählt werden.4 Die exklusive Zusammensetzung der Behörde ist schon an den Namen der „Beisitzer“ abzulesen: Die Rödings und Hudtwalckers waren ebenso vertreten, wie die Sievekings, Gosslers, Burchards und Lutteroths. In dieser Hinsicht unterschied 1
Die folgenden Ausführungen basieren auf einer detaillierten Auswertung der Hamburger Staatshandbücher sowie der Adressbücher von 1884-1914. Ergänzend konnte zurückgegriffen werden auf das im Hamburger Staatsarchiv befindliche Verzeichnis der Bürgerschaftsabgeordneten (STAH Handschrift DC I (601)). 2 Vgl.: Art. 83 u. 84 der Verfassung und § 6 des Verwaltungsgesetzes vom 2. November 1896. 3 Vgl.: Art. 96 der Vormundschaftsordnung i.d.F. von 1884 in: Gesetzsammlung FHH 1883, S. 125 ff. und § 4 des „Gesetzes, betreffend die Vormundschaftsbehörde“ von 1899, in: A.a.O. 1899/I, S. 99 ff. 4 Vgl.: Evans [1996], S. 77 u. 685. In gewisser Hinsicht glich die soziale Zusammensetzung der nichtrechtsgelehrten Behördenmitglieder der Hamburger Vormundschaftsbehörde derjenigen der amtsgerichtlichen Schöffen. Zwar schloss das Gerichtsverfassungsgesetz jeden Zensus des Vermögens und der Bildung aus und gestand grundsätzlich jedem männlichen deutschen Staatsangehörigen über 30 Jahre die Wählbarkeit als Schöffe zu, sofern nicht bestimmte Unfähigkeits- oder Untauglichkeitsgründe vorlagen. Aber de facto wirkte sich die gesetzlich eingeräumte Möglichkeit, das Schöffenamt aufgrund der damit verbundenen finanziellen Belastung abzulehnen, als „plutokratisches Ausleseprinzips“ aus (Kern [1954], S. 111).
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
sich die Vormundschaftsbehörde kaum von der Zusammensetzung anderer Hamburger Verwaltungsbehörden.1 Bei der Hälfte der „Beisitzer“ handelte es sich um ehemalige oder aktuelle Bürgerschaftsmitglieder. Allerdings fällt bei einem Vergleich der Zeit vor und nach 1900 auf, dass ihr Anteil zu Beginn des 20. Jahrhunderts drastisch zurückging: Handelte es sich bei den vor 1900 tätigen „Beisitzern“ noch zu mehr als zwei Dritteln um Bürgerschaftsmitglieder, so betrug ihr Anteil nach 1900 nur noch rund 40 Prozent – ein Hinweis darauf, dass es immer schwieriger wurde, zwei so zeitraubende Ehrenämter miteinander zu verknüpfen. Aufschlussreich ist auch die Fraktionszugehörigkeit der Bürgerschaftsmitglieder, die als „Beisitzer“ fungierten: Die senatsloyale Fraktion der Rechten war am stärksten vertreten, während die zahlenmäßig größte Fraktion des „linken Zentrums“, die traditionell eine vermittelnde Position zwischen den „demokratischen“ Linken und der Fraktion der Rechten einnahm und als Interessensvertreter der Industrie galt, nicht angemessen repräsentiert war. Dieser Befund ist deshalb bemerkenswert, weil der Senat formell gar keinen Einfluss auf die Auswahl der „Beisitzer“ besaß. Es ist allerdings fraglich, ob die vergleichsweise starke Stellung der „Rechten“ wesentliche inhaltliche Auswirkungen auf die Beschlüsse hatte. Denn die Fraktionen waren keine Parteien im heutigen Sinne und schon gar nicht vertraten sie irgendwelche klar umrissenen sozialpolitischen Ziele.2 Das konnte man von der SPD, die 1901 ihr erstes Bürgerschaftsmandat erlangte, nicht behaupten. Aber den SPD-Vertretern blieb der Zugang zur bürgerlichen Mitverwaltung bis nach dem Krieg verschlossen, und so suchte man unter den „Beisitzern“ der Vormundschaftsbehörde auch vergeblich nach Sozialdemokraten.3 Schon eher lassen sich Schlussfolgerungen für die Entscheidungspraxis aus einer detaillierteren Untersuchung der sozialen Herkunft der ehrenamtlichen Behördenmitglieder ziehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass auch in der Vormundschaftsbehörde die Kaufleute eine dominante Stellung einnahmen. 25 der im Untersuchungszeitraum tätigen 43 „Beisitzer“ waren dieser Berufssparte zuzurechnen, wobei eine klare Differenzierung in kleinere, im Kommissionshandel tätige Geschäftsleute und Großkaufleute auf forschungspraktische Schwierigkeiten stößt. Die zweitstärkste Gruppe bildeten „Privatiers/Rentner“ sowie die Angehörigen der „freien Berufe“ (sieben von 43), worunter sich ein Apotheker und drei Architekten befanden. Letztere waren nicht immer eindeutig von einer dritten Berufsgruppe, der Gruppe der „Handwerksmeister“ (3 von 43), zu unter-
1
Vgl.: Schambach [2002], S. 113 ff. Vgl. Evans [1996], S. 76. 3 Einen gesetzlichen Grund gab es hiefür offenbar nicht. Vgl.: § 6 des „Revidirten Gesetz über die Organisation der Verwaltung“ vom 2. November 1896. In: Gesetzsammlung FHH 1896, Nr. 55 I 102. Eine konstruktive Mitarbeit in der stadtstaatlichen Verwaltung hätte gleichwohl auch der sozialdemokratischen Verweigerungstaktik widersprochen. Vgl.: Teetz [2004], S. 118 ff. 2
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Die Laienrichter
Tabelle 7: Soziale Herkunft der Laienrichter Vormundschaftsbehörde 1884-1914
der
Hamburger
scheiden, denn der Übergang vom Maurermeister zum Architekten war bekanntlich fließend. Eine dritte berufliche Kategorie konnte mit den „Unternehmern“ gebildet werden (drei von 43). Diese nach ihrer gesellschaftlichen Stellung zwischen den Kaufleuten und den freien Berufen anzusiedelnde Gruppe war jedoch in ihrer Zusammensetzung eher heterogen.1 Vor 1900 entsprach die Zusammensetzung der „Beisitzer“ ziemlich exakt den Verhältnissen, die in der Bürgerschaft herrschten.2 Nach der Jahrhundert-
1
Der Inhaber einer Feinwäscherei wurde dieser Kategorie ebenso zugeordnet wie ein Hersteller von Farben und Lackfirnis sowie der mehrfache Reichstagskandidat und Betreiber des Versammlungslokals „Conventgarten“ Johann Heinrich Adloff (vgl. zu Adloff weiter unten S. 447). Bei weiteren fünf Beisitzern war die Bestimmung ihres Berufs nicht möglich. 2 Eine Ausnahme stellten die in der Bürgerschaft relativ stark vertretenen Rechtsanwälte dar, die für das Amt eines „nichtrechtsgelehrten“ Behördenmitgliedes naheliegender Weise nicht in Betracht
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
wende veränderte sich das Bild dann deutlich: Während sowohl in der Bürgerschaft als auch in der Vormundschaftsbehörde die Handwerksmeister von der Bildfläche verschwanden, erhöhte sich der Anteil der Kaufleute unter den „Beisitzern“ weiter, obwohl sie in der Bürgerschaft ihre komfortable Mehrheit längst verloren hatten und bald nur noch ein Drittel der Abgeordneten stellten.1 Außerdem waren die eigentlichen „Gewinner“ der Bürgerschaftswahlen nach 1900, die zur Berufgruppe der Lehrer, der Angestellten und Beamten aus Behörden und Unternehmen gehörten, unter den „Beisitzern“ nicht vertreten.2 Die „Behörde“ blieb also während des gesamten Untersuchungszeitraums ein rein bürgerliches Gremium, in dem die Kaufleute den Ton angaben. Dies entsprach auch durchaus den gesetzgeberischen Absichten, wonach die Notwendigkeit, in Vormundschaftssachen die „tatsächlichen“ Verhältnisse zu berücksichtigen, die Mitwirkung von in „anderer Lebensstellung“ praktisch erfahrenen und mit Personen- und Sachkenntnissen ausgestatteten Bürgern erforderlich mache.3 Solange der Schwerpunkt der obervormundschaftlichen Tätigkeit bei der Beaufsichtigung und Sicherung der vermögensrechtlichen Belange der Mündel lag, war nämlich vor allem kaufmännisch-buchhalterischer Sachverstand gefragt. In dem Maße aber, in dem die gerichtlichen Funktionen der Behörde und die Kontrolle der Personensorge in den Vordergrund traten 4, verlor das kaufmännische Wissen an Bedeutung. Paradoxerweise nahm jedoch der Anteil der Kaufleute nach 1900 nicht ab, sondern zu. Vor diesem Hintergrund erscheint es mehr als fraglich, ob das gesellschaftliche Laienwissen und die geschäftlichen Kenntnisse der „Beisitzer“ auch im beginnenden 20. Jahrhundert noch ausreichten, um in den Abteilungssitzungen einigermaßen kompetente Stellungsnahmen abzugeben. Die von den Laienrichtern eingebrachten Erfahrungs- und Wissensbestände lassen sich jedoch aus ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Stellung und Berufszugehörigkeit nur unzureichend erschließen. Untersucht man nämlich die weiteren ehrenamtliche Tätigkeiten der Laienrichter, so muss man das bisher gezeichneten Bild von den ausschließlich in Vermögensangelegenheiten bewanderten „Beisitzern“ wieder etwas korrigieren: Für jeden fünften Laienrichter ließ sich zeigen, dass er vor oder während seiner Tätigkeit für die Vormundschaftsbehörde ein „soziales“ Ehrenamt bekleidete und dabei in direkten, persönlichen Kontakt mit den „unteren Volksschichten“ getreten war. Dabei handelte es sich in der kamen. (Vgl. zur Vertretung von Rechtsanwälten in der Hamburger Bürgerschaft: Evans [1996], S. 73 ff.) 1 Evans [1996], S. 689. 2 Vermutlich ist dies auf die Arbeitsbelastung zurückzuführen. Ob es formelle Gründe dafür gab, dass sich unter den Behördenmitgliedern keine Angestellte und Beamte fanden, konnte abschließend nicht geklärt werden. 3 Vgl.: Verh. Senat/Bürgerschaft 1899, S. 53. 4 Vgl.: unten S. 459 u. 469.
Die Laienrichter
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Regel um eine Tätigkeit als Schulpfleger, aber auch ehemalige Wohnungs- und Armenpfleger waren vertreten. Drei weitere „Beisitzer“ waren als Kreis- bzw. Bezirksvorsteher der Allgemeinen Armenanstalt tätig gewesen. In dieser Funktion hatten sie nicht nur die an die Armenanstalt gerichteten Unterstützungsgesuche zu prüfen, sondern entschieden auch über die Gewährung von Waisenpflege. Wieder andere waren Aufsichtsräte privatwohltätiger Fonds und Stiftungen. Der Großteil der ehrenamtlichen Tätigkeit der „Beisitzer“ entfiel jedoch auf die Mitwirkung in anderen Hamburger „Fürsorgebehörden“: Vier fungierten zeitgleich oder vor ihrer Tätigkeit für die Vormundschaftsbehörde als Mitglieder des Waisenhauskollegiums (WHK) bzw. der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge, zwei weitere waren Mitglieder der Zwangserziehungsbehörde (ZEB), drei waren Mitglieder des Armenkollegiums und ebenso viele Mitglieder der Gefängnisdeputation. Das „soziale“ Ehrenamt, so zeigt sich hier erneut, war ein fester Bestandteil des „cursus honorum“, den jeder Hamburger Bürger absolvieren musste, wenn er in der gesellschaftlichen Elite der Hansestadt arrivieren wollte. Die gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren Behörden stellte darüber hinaus ein wichtiges Korrektiv zu den zersplitterten Verwaltungsstrukturen und der damit einhergehenden Konkurrenzstellung der Behörden untereinander dar. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die „Beisitzer“ in fürsorgerischen Angelegenheiten keineswegs so unerfahren waren, wie man anhand der Berufszugehörigkeit zunächst vermuten würde. Insgesamt lässt sich für mehr als ein Drittel aller Laienrichter mit Sicherheit feststellen, dass sie neben ihrem Ehrenamt in der Vormundschaftsbehörde in irgend einer anderen Form im „sozialen“ oder erzieherischen Bereich engagiert waren – und zwar mit zunehmender Tendenz. Während ihr Anteil vor 1900 noch bei rund 26 Prozent gelegen hatte, so machte der Kreis der fürsorgerisch engagierten „Beisitzer“ im Zeitraum von 1900-1914 schon 56 Prozent aus. Ob diese Entwicklung das Ergebnis einer gezielten Personalpolitik war, muss dahingestellt bleiben. Immerhin ist davon auszugehen, dass dieses Engagement die bestehenden Erfahrungs- und Wissenslücken der „Beisitzer“ zumindest teilweise kompensierte und die Vormundschaftsbehörde in die Lage versetzte, ihrem veränderten gesellschaftlichen Auftrag auch zu Beginn des 20. Jahrhundert gerecht zu werden, ohne die kollegialen Strukturen anzutasten. Wie die Entscheidungsprozesse in den „Kollegien“ bzw. „Abteilungen“ der Behörde, die auch die Beschlüsse im Entzugs- bzw. Zwangserziehungsverfahren fassten, genau abliefen, lässt sich leider nicht mehr feststellen.1 Formellrechtlich waren die „Beisitzer“ immer in der Mehrheit und konnten das rechtsgelehrte 1 Das Abstimmungsverfahren war in Grundzügen durch die Zivilprozessordung bzw. das „Gesetz, betreffend die Vormundschaftsbehörde“ geregelt. Ramcke [1959] zitiert zwar noch aus Behördenprotokollen aus der Zeit nach 1900. Die Recherche nach diesen Unterlagen blieb jedoch sowohl beim Rechtsnachfolger der Vormundschaftsbehörde als auch im Hamburger Staatsarchiv erfolglos.
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Mitglied überstimmen. Dass es zu einer solchen Überstimmung in der Praxis oft gekommen wäre, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich. Zunächst sagt natürlich die zahlenmäßige Überlegenheit der nichtrechtsgelehrten Mitglieder nur wenig über die reale Machtverteilung im Entscheidungsprozess aus.1 Entlarvend ist in diesem Zusammenhang die Äußerung Mollers, wonach sich ein Referent im kommissarischen Verfahren schon recht ungeschickt anstellen müsse, wenn sich das Kollegium seinen Empfehlungen nicht anschlösse.2 Hinzu kam der enorme Zeitdruck, unter dem die Abteilungssitzungen standen. Für lange Auseinandersetzungen war schlicht keine Zeit vorhanden. Zu langwierigen Diskussionen dürfte es aber noch aus zwei weiteren Gründen nur ausnahmsweise gekommen sein: Zum einen hätte das den in Hamburg tief verwurzelten „kollegialen“, auf Einvernehmen zielenden Beratungs- und Abstimmungskonventionen widersprochen. Zum anderen teilten die Behördenmitglieder im Großen und Ganzen die bürgerlichen Normen und Wertvorstellungen, die für die Beurteilung der verhandelten Fällen im Entzugs- bzw. Zwangserziehungsverfahren ausschlaggebend waren.3 Aus diesen Umständen zu schließen, dass die „Beisitzer“ mehr und mehr in eine Statistenrolle abgedrängt wurden und die Voten der rechtsgelehrten Mitglieder nur noch „abnickten“, wäre allerdings wiederum voreilig. Dem stand schon ihr ausgesprochenes Selbstbewusstsein entgegen, das sich auf die lange Tradition bürgerlicher Mitsprache in der Hamburger Verwaltung berufen konnte und biografisch durch die vielen im Lebensverlauf wahrgenommenen Ehrenämter gestützt wurde. Daneben ist den „Beisitzern“ auch wegen ihrer zum Teil außerordentlich langen Amtsdauer kaum eine rein passive Rolle zuzutrauen: 13 der 43 „Beisitzer“ wurden ein zweites Mal in ihr Amt gewählt, das heißt sie waren mehr als sechs Jahre, in der Regel aber 12 Jahre für die Vormundschaftsbehörde tätig. Acht „Beisitzer“ traten sogar noch eine dritte Amtsperiode an. Drei Beispiele mögen veranschaulichen, mit welchen Persönlichkeiten man es bei den ehrenamtlichen Behördenmitgliedern mitunter zu tun hatte: Der 1820 geborene Kaufmann Wilhelm Heinrich Kaemmerer war ab 1882 23 Jahre lang ununterbrochen als Laienrichter tätig. Zuvor war er nicht nur Aufsichtrat diverser Geldinstitute, Mitglied zahlreicher Deputationen sowie ehrenamtlicher Handelsrichter gewesen, sondern hatte auch als Armenpfleger, Waisenhausprovisor und 1 Nicht nur durch ihre juristische Fachbildung waren die Vorsitzenden den übrigen Mitgliedern überlegen. Sie hatten auch einen privilegierten Zugang zu allen Informationen, die den Sachverhalt betrafen: In schwierigen Fällen kannten sie die Beteiligten bereits von der Zeugenvernehmung. Und selbst wenn in der Regel nicht sie, sondern die Sekretäre den Sachverhalt referierten, war ihnen meist schon vor der Verhandlung der Akteninhalt im Detail bekannt. 2 Vgl. unten S. 453. 3 Vgl. die unten S. 494, Fn. 94 zitierte Einschätzung des LG-Direktors Mönckeberg, wonach in der Regel im Sorgerechtsentzugsverfahren „allgemeines Einverständniß herrsch[e]“.
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Mitglied des Gesundheitsrats des Armenkollegiums Erfahrungen sammeln können. Bereits seit den 1860er Jahren gehörte er als Vertreter der „Fraktion der Rechten“ der Bürgerschaft an, wo er sich vor allem für den Bau des neuen Rathauses einsetzte. Bekannt war Kaemmerer jedoch insbesondere als Stifter eines Altersheims für alleinstehende, erwerbsunfähige Blinde.1 Der eine Generation jüngere Johann August Jauch war insgesamt 19 Jahre lang nichtrechtsgelehrtes Behördenmitglied. In sein Amt war er erstmalig 1898 gewählt worden. Der ehemalige Landwirt und Privatier gehörte seit den frühen 1890er Jahren der Bürgerschaft an, in der er sich ebenfalls der „Fraktion der Rechten“ zuordnete. Jauch war nacheinander Mitglied des Armenkollegiums, der Aufsichtsbehörde für die milden Stiftungen, der Sektion für das Werk- und Armenhaus sowie der Behörde für Zwangserziehung gewesen und hatte zuvor auch noch als Wohnungspfleger gewirkt. Aber auch bei „Beisitzern“, die nur eine Amtszeit für die Vormundschaftsbehörde tätig waren, handelte es sich keineswegs immer um „Leichtgewichte“: Johann Heinrich Adloff z.B. war von 1890-1895 Mitglied der Vormundschaftsbehörde. Der Betreiber des weithin bekannten Hamburger Versammlungslokals „Conventgarten“ vertrat seit 1874 die Fraktion der Linken in der Bürgerschaft und kandidierte mehrfach – allerdings immer erfolglos – für den Reichstag. Auch Adloff war parallel zu seiner Beschäftigung als „Beisitzer“ in der Behörde für Zwangserziehung tätig. Im Gesamteindruck entsteht so ein Bild von der bürgerlicher Mitwirkung im Hamburger Vormundschaftswesen, das gekennzeichnet ist 1.) durch die massive Präsenz der Kaufleute unter den „Beisitzern“, 2.) durch das ausgeprägte Selbstbewusstsein der Laienrichter, das einerseits in der langen Tradition bürgerlicher Mitsprache in Hamburg wurzelte, sich daneben aber auch aus dem persönlich zurückgelegten Parcours durch eine Vielzahl öffentlicher Ehrenämter speiste, und schließlich 3.) durch die personelle Verflechtung ehrenamtlicher Mitgliedschaften in den verschiedenen Verwaltungszweigen der Stadt. Gemessen am Selbstanspruch bürgerlicher Beteiligung waren die von den Beisitzern eingebrachten Wissensbestände, die sich neben professionellen Kenntnissen im wirtschaftlich-fiskalischen Bereich eben auch auf das gesellschaftliche Erfahrungswissen erstreckten, das man sich als Wohnungs- oder Armenpfleger, als Kreisvorsitzender der Armenanstalt oder Aufsichtsrat einer milden Stiftung erworben hatte, den Anforderungen ihres Amt durchaus angemessen. Dennoch zweifelten selbst Zeitgenossen am Urteilsvermögen der „Beisitzer“ in Fürsorgeangelegenheiten. So vertrat z.B. der Amtsrichter Wilhelm Hertz, einer der prominentesten Vertreter der Jugendgerichtsbewegung in Hamburg, in einem 1912 verfassten Gutachten über die Möglichkeit einer organisatorischen Vereinigung vormund1
Wilhelm [1909], S. 188 ff.
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
schaftsgerichtlicher und strafrechtlicher Kompetenzen die Auffassung, dass sich die „Beisitzer“ der Vormundschaftsbehörde zwar bei der Bewertung vermögensrechtlicher Verhältnisse bewährt hätten, ihre Eignung für die Beurteilung von Zwangserziehungsangelegenheiten aber fraglich sei.1 Und Walter Classen, der Hamburger Pionier auf dem Gebiet der freien Jugendpflege, wurde in seinem rückblickenden Urteil über die Zeit „vor dem Großen Kriege“ noch deutlicher: „Von der Vormundschaftsbehörde war keine Hilfe damals zu haben. Man fand da liebenswürdige Herren mit schönen alten Namen, weltfremd und unentschlossen. Unseren Stadtteil [gemeint war damit der Hammerbrook, J.R.] hatte nie einer betreten.“2
In dieser Kritik schwang nicht nur die zunehmende Skepsis mit, auf die das Laienprinzip seit der Cholera-Katastrophe von 1892 bei vielen Verwaltungsfachleuten und einem Teil der politischen Verantwortungsträger stieß.3 Sie war auch Ausdruck der Überzeugung, dass das neue Tätigkeitsfeld der Jugendgerichtsbarkeit in besonderem Maße der Einbeziehung professionellen, das heißt vor allem pädagogisch-psychologischen Wissens bedürfe - und eben dies war von den Laienrichtern nicht zu erwarten. Tatsächlich scheint die von Bürgerschaft und Senat 1900 formulierte Erwartung, durch die gemischte Besetzung der Hamburger Vormundschaftsbehörde regelmäßig auf die Hinzuziehung von Sachverständigen verzichten zu können, die vormundschaftsgerichtliche Praxis gegen das „Einsickern“ von pädagogischem Expertenwissen abgedichtet zu haben. Zu dem rechtlichen Know-how der Vorsitzenden konnten die „Beisitzer“ in Fürsorgeangelegenheiten bestenfalls ihr an der paternalistischen Fürsorgepraxis der Hamburger Armen- oder Wohnungspflege erprobtes Alltagswissen beisteuern. Aber auch wenn im Hamburger Vormundschaftswesen der „gesunde Menschenverstand“ regierte, so sollte diese Hamburger Besonderheit im Hinblick auf die Praxis des Sorgerechtsentzugs doch auch nicht überbewertet werden, denn auch andernorts spielte das „Expertenwissen“ bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein nur eine untergeordnete Rolle.
1
Zit. nach: Ramcke, [1959], S. 63. Classen [2001], S. 192. 3 Vgl.: Evans [1996], S. 475 ff. u. 683. 2
Das Absetzungs- und Entzugsverfahren
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5.3 Das Absetzungs- und Entzugsverfahren nach den verfahrensrechtlichen Bestimmungen Während die fachliche Qualifikation, welche die (Laien-)Richter in ihre Tätigkeit einbrachten, in erster Linie für die Entscheidungspraxis von Belang war, waren für die konkrete praktische Vorgehensweise der Behörde gegenüber den Eltern vor allem die verfahrensrechtlichen Bestimmungen von zentraler Bedeutung. Bis zum Inkrafttreten von FGG und BGB war das Absetzungs- bzw. Entzugsverfahren landesrechtlich nur sehr lückenhaft geregelt gewesen. Die diesbezüglichen gesetzlichen Bestimmungen waren über die gesamte Vormundschaftsordnung (VO) verstreut und bestimmten das Vorgehen der Vormundschaftsbehörde nur in groben Zügen.1 Die verfahrensrechtlichen Ungereimtheiten begannen schon bei den obervormundschaftlichen Eingriffen in die väterliche Vermögenssorge, die bereits in den Statuten von 1603 kodifiziert worden waren und die man mit geringfügigen Ergänzungen in Art. 6 der VO von 1832 übernommen hatte. Voraussetzung für den Eingriff war, dass „kundbar, oder beweislich“ wurde „daß der Vater ein Verschwender, oder sonst eines unordentlichen Haushaltens berüchtiget war“.2 Der Artikel statuierte außerdem ein Recht auf gerichtliches Gehör. Bestimmungen darüber, wie die Beweise zu erbringen waren und wie das Anhörungsrecht verwirklicht werden sollte, enthielt die VO nicht. Nicht viel klarer war die Rechtslage in Bezug auf die obervormundschaftlichen Eingriffe in die Personensorge des Vaters bzw. der Mutter. Nach Art. 23 der VO i.d.F. von 1883 musste die Behörde, wenn sie durch „Verwandte oder Freunde oder anderweitig“ eine „glaubhafte Anzeige“ über die „schlechte Behandlung“ eines Kindes erhielt, sich durch „glimpfliche Vorstellung an den Vater, die Mutter oder sonstige Vormünder“ der Kinder annehmen. Wie bei den Eingriffen in die Vermögenssorge, so wurde auch hier von einem Anhörungsrecht des Vaters ausgegangen.3 Was unter einer „glimpflichen Vorstellung“ ge1 „Gesetz betreffend Abänderung der Vormundschaftsordnung und Gesetz, betreffend die nicht streitige Gerichtsbarkeit“ vom 25. Juli 1879 in: Gesetzsammlung FHH 1883, S. 125 ff. Im Folgenden wird der Einfachheit halber vom „Absetzungsverfahren“ immer dann gesprochen, wenn vom Verfahren zur Entfernung bzw. Absetzung des väterlichen Vormundes auf der Grundlage der bis 1899 gültigen Hamburger VO die Rede ist. Demgegenüber ist mit „Entzugsverfahren“ das gerichtliche bzw. behördliche Vorgehen zur Beschränkung oder zum Entzug des Personensorgerechts auf der Grundlage des § 1666 BGB gemeint. 2 Vgl. zu den Bestimmungen der Statuten und zu ihrer Übernahme in die VO von 1832 oben S. 307 u. 449. 3 Dies ergibt sich aus verstreuten Vermerken in den Personenakten. So wurde in Fällen, die ausschließlich die Personensorge betrafen, mit Verweis auf den Art. 6 VO die Vernehmung des Vaters angeordnet. Vgl. etwa Dekret vom 10. September 1884 in: STAH 232-1 Serie III 2776.
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nau zu verstehen war, blieb indes unklar.1 Die Wortwahl und der weitere semantische Kontext der Rechtsnorm deuten jedoch darauf hin, dass die Eltern zunächst durch Ermahnungen, Zurechtweisungen und Verweise zu einer Veränderung ihres Verhaltens bewegt werden sollten.2 Nach Art. 62 VO konnte die Vormundschaftsbehörde auch den väterlichen Vormund absetzen, „wenn dringende Umstände es erfordern“ und sie nach „genauer Untersuchung“ zu der Überzeugung gelangt war, dass der Vater seine Kinder tatsächlich „schlecht behandelt“ bzw. sie in ihrer „Erziehung vernachlässigt“ hatte. Wurden im Verlauf der Untersuchungen strafbare Handlungen bekannt, so musste die Vormundschaftsbehörde die Sache nach Art. 103 VO an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Die „Entfernung“ des Vaters aus seiner vormundschaftlichen Stellung sollte „vermittels Ernennung anderweitiger Vormünder“ geschehen. Auch die Fassung des Art. 62 VO ließ eine Reihe von Fragen zur konkreten Gestaltung des Verfahrens offen. Zunächst einmal lieferte der Artikel keinerlei Anhaltspunkte, ob und gegebenenfalls wie gegen alleinstehende Mütter vorgegangen werden sollte, die ihre Kinder „schlecht behandelten“ oder „vernachlässigten“.3 Tatsächlich plagten die Vormundschaftsbehörde Mitte der 1890er Jahre, als das WHK sie mit einer Flut von Eingriffsersuchen überschwemmte, schwere Zweifel, ob sie bei Witwen und unehelichen Müttern analog zum Art. 62 VO verfahren durfte.4 Unklar blieb außerdem, wie das „Untersuchungsverfahren“ zu gestalten war. In der Praxis behalf man sich mit drei weiteren Bestimmungen der VO, die hierzu vage Anhaltspunkte lieferten. Nach Art. 10 VO konnte die Vormundschaftsbehörde von Amts wegen Vormünder bestellen, wenn die Mündel keine näheren, zur Führung der Vormundschaft „berufenen“ Verwandten hatten oder diese aus gesetzlichen Gründen nicht zugelassen werden konnten. Nach dieser Rechtsnorm war es der Vormundschaftsbehörde auch möglich, Vormundschaften „zu einem bestimmten Zweck“ einzurichten. Diese auch als „Vormundschaften ad hoc“ oder „Spezialvormundschaften“ bezeichneten, zweckgebundenen Vormundschaften, die den späteren Pflegschaften nach § 1909 BGB entsprachen, stellten vor 1900 die wichtigste 1 Die Literatur zum Hamburgischen Privatrecht legt den Begriff der „Vorstellung“ nicht weiter aus. Vgl.: Baumeister [1856] und Brandis [1895]. 2 Blieb nämlich dieses Vorgehen „fruchtlos“ oder die Vorfälle waren „überhaupt von bedenklicher Art“, so sollte die Vormundschaftsbehörde nach Art. 23 VO durch einstweilige Verfügungen für den Schutz der Kinder sorgen und weiter nach Art. 62 bzw. 103 VO verfahren. 3 Bei verheirateten Müttern stellte sich die Frage insofern nicht, als zunächst gegen den väterlichen Vormund eingeschritten wurde. War dieser aber erst einmal abgesetzt und ein genereller Vormund an seine Stelle getreten, so hatte der Vormund auch in Erziehungsfragen das Sagen und das Erziehungsrecht der Mutter trat dahinter zurück. Anders war die Situation bei Halbwaisen, wenn die Witwe – wie es häufig bei unvermögenden Kindern der Fall war – nicht offiziell als Vormunde bestellt worden war, aber das Erziehungsrecht uneingeschränkt ausübte. 4 Vgl.: Jahresbericht der Vormundschaftsbehörde von 1894 in: STAH 241-1 I, XXI B a 2 Vol. 18.
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Grundlage für die Ermittlungstätigkeit der Vormundschaftsbehörde im Absetzungsverfahren dar. Konkret bedeutete dies, dass die Behörde einen „Vormund ad hoc“ bestellte und diesen mit der „genauen Untersuchung“ der vorgebrachten Anschuldigungen oder ganz allgemein mit der Ermittlung der „häuslichen Verhältnisse“ und anschließender Berichterstattung beauftragte.1 Für die weitere Gestaltung des Verfahrens nach Abgabe des Vormünderberichts war schließlich der Art. 102 VO von erheblicher Bedeutung, der sich mit den so genannten Kommissionen der Vormundschaftsbehörde befasste. „Kommissionen“ wurden in der Praxis immer dann eingesetzt, wenn die Berichte der Vormünder kein klares Votum enthielten oder aus sonstigen Gründen keine ausreichende Basis für eine Beschlussfassung lieferten. Die Behörde „entsandte“ hierzu eines ihrer Mitglieder als „Kommissar“ zu einer speziell angesetzten Verhandlung mit den Verfahrensbeteiligten und/oder Zeugen, um den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt weiter zu klären.2 Auf Grundlage der Protokolle, die über diese Verhandlungen angefertigt wurden, wurden dann die Entscheidungen der Behörde getroffen. Dieses in allen Hamburger Vormundschaftssachen befolgte „kommissarische Verfahren“ stellte den entscheidenden Unterschied zwischen dem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und dem des Zivil- und Strafprozesses dar. Eine nach dem kontradiktorischen Prinzip gestaltete „Hauptverhandlung“ war nicht vorgesehen. Zwar wiesen die „Kommissionen“ der Vormundschaftsbehörde gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit den Hauptverhandlungen der ordentlichen, streitigen Gerichtsbarkeit auf. Anders als diese fanden jene jedoch prinzipiell unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Es gab außerdem keine klaren Bestimmungen, wie die Beweiserhebung konkret erfolgen sollten und was noch wichtiger war: Nie waren alle „Richter“ in den Verhandlungen zugegen.3 Demgegenüber war die Zusammensetzung des Gremiums, das letztlich den Beschluss fasste, gesetzlich genau festgelegt. Bei Beschlüssen betreffend die Absetzung von (väterlichen) Vormündern war nach Art. 98 VO ausdrücklich die Mitwirkung von zwei rechtsgelehrten und drei nichtrechtsgelehrten, ehrenamtlich täti1 Die Vormünderberichte konnten, wie übrigens alle anderen Anträge und Stellungnahmen an die Vormundschaftsbehörde auch, nach der einzigen allgemeinen Verfahrensvorschrift, welche die Vormundschaftsordnung enthielt (Art. 104 VO), wahlweise schriftlich eingereicht oder mündlich zu Protokoll gegeben werden. 2 Bei diesen kommissarischen Verhandlungen musste, wie die Art. 100 u. 102 VO festlegten, neben dem als „Kommissar“ bestimmten Behördenmitglied immer auch ein Sekretär oder ein anderer beeidigter Protokollführer anwesend sein. 3 Die von dem vormundschaftsgerichtlichen Eingriff betroffenen Eltern konnten sich nicht einmal sicher sein, dass überhaupt eine „Kommission“ einberufen wurde. Zwingend vorgeschrieben war sie beim Absetzungsverfahren jedenfalls nicht, und so konnte es sein, dass die Entlassungsbeschlüsse nur auf Grund der Aktenlage ergingen, d.h. auf der Basis von Vormünderberichten, den Vernehmungsprotokollen der Sekretäre sowie eventuell vorliegenden Akten anderer Behörden.
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gen Behördenmitgliedern vorgeschrieben, also die Beschlussfassung im so genannten Fünf-Mann-Kollegium.1 Gegen die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde stand den „Beteiligten“ nach Art. 106 VO die Beschwerde vor dem Hanseatischen OLG zu. Wer genau beschwerdeberechtigt war, ging aus der Bestimmung nicht hervor. Die Beschwerde musste innerhalb einer Woche schriftlich oder zu Protokoll an die Vormundschaftsbehörde gerichtet werden. Wenn die Behörde sie für begründet hielt, konnte sie ihr selbst „abhelfen“. Andernfalls musste sie die Beschwerde innerhalb einer weiteren Woche an das OLG weiterleiten. Für Entscheidungen des OLG in Beschwerdesachen des Vormundschaftswesens war nach Art. 108 VO die Mitwirkung von fünf Mitgliedern des Gerichts vorgeschrieben. Nicht nur im historischen Rückblick erscheint die Regelung des Absetzungsverfahrens vor 1900 als lückenhaft und unzulänglich. Im Zuge der Diskussionen zum ZEG von 1887 hatte schon der Vorsitzende der Vormundschaftsbehörde, Landrichter Ulrich Moller, seine Bedenken über die Zeitgemäßheit des Verfahrens geäußert. Der Bürgerschaftsausschuss, der sich mit dem Zwangserziehungsgesetz (ZEG) befasste, hielt es für erforderlich, für die vormundschaftsgerichtlich anzuordnende Zwangserziehung die Beschlussfassung im FünfMann-Kollegium gesetzlich festzuschreiben.2 Moller, der dem Ausschuss als Bürgerschaftsmitglied angehörte und als einziger die bisher befolgte Verfahrensweise der Vormundschaftsbehörde genau kannte, war gegen die Einführung des Fünf-Mann-Kollegiums im Zwangserziehungsverfahren. In einem vertraulichen Schreiben an den Vorstand der Verwaltungsabteilung für das Justizwesen, Bürgermeister Hermann Weber, vom Juni 1885 erläuterte er hierzu: „Die Herren des bürgerlichen Ausschusses sind, wie mir jetzt nicht zweifelhaft ist, von der stillschweigenden Annahme ausgegangen, daß die Verhandlung, die schließlich zur Verurtheilung zur Zwangserziehung führen kann, vor dem Kollegium – dasselbe sei nun ein 5 Männer, oder 3 Männer-Kollegium – sich abspiele, und haben sich deshalb für das 5 Männer-Kollegium ausgesprochen. Ersichtlich schwebte den Herren vor, daß das Verfahren bei der Vormundschafts-Behörde für diese Fälle dem Verfahren bei den Schöffengerichten oder den Strafkammern analog einzurichten sei oder richtiger, da jetzt schon auf Grund Artikels 23 und 62 der Vormundschafts-Ordnung Vätern ihre Kinder zwangsweise genommen werden können, daß das Verfahren für diese Fälle jetzt schon so, wie oben angedeutet, gestaltet sei, aber 1
Detaillierte Vorschriften zum Beratungs- und Abstimmungsverfahren existierten jedoch ebenso wenig wie solche über die Gestaltung und die Zustellung von Beschlüssen. Ob die einschlägigen Bestimmungen des Verwaltungsorganisationsgesetzes auch für die Vormundschaftsbehörde galten oder analog angewandt wurden, bleibt zweifelhaft. Zur genauen Zusammensetzung der Behörde vgl. oben Abschnitt 5.2. 2 Vgl. zur Debatte um das Hamburger ZEG von 1887 Abschnitt 4.2.4.
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diese Voraussetzung ist, wie Euer Magnificenz wissen, eine falsche, denn jetzt werden die Kinder, Eltern u.s.w. kommissarisch abgehört, und dann von dem Kommissar den 4 anderen Mitgliedern des 5 Männer-Kollegiums auf Grund des ActenInhalts referirt.“1
Moller erwartete, dass sich die Ausschussmitglieder, vor die Alternative gestellt, entweder einem Drei-Mann-Kollegium und der mündlichen Verhandlung oder einem Fünf-Mann-Kollegium und der kommissarischer Verhandlung zuzustimmen, sich für die erste Variante entscheiden würden, „weil sie bei dem jetzt herrschenden Princip der öffentlichen, mündlichen Verhandlung die Beibehaltung des jetzigen Verfahrens für eine Abnormität, wenn nicht vielleicht gar für unzulässig halten werden“.2 Ob er mit der letzten Vermutung recht hatte, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls erhielt er weder von seiner vorgesetzten Behörde noch von Weber selbst die gewünschte Unterstützung für seinen Vorschlag.3 Als der Gesetzesentwurf im Bürgerschaftsplenum verhandelt wurde, nutzte Moller die Gelegenheit, um die von ihm bemängelte Regelung nunmehr einer öffentlichen Kritik zu unterziehen. Der „Hamburgische Korrespondent“ gab seine Äußerung tags darauf wie folgt wieder: „[Moller] sei der Ansicht, daß ein so großer juristischer Apparat, wie er im ersten Absatz dieses Paragraphen aufgestellt sei, nicht nothwendig sein werde. In Preußen entscheide der Amtsrichter allein über die Zwangserziehung. Die Bedenken gegen die Einsetzung von 3 entscheidenden Mitgliedern seien im Ausschuß auch nur formale gewesen. Die Zahl 5 sei nach Analogie der bestehenden Vorschrift der Vormundschafts-Ordnung vom Senat angenommen, daß bei etwaiger Absetzung eines Vormundes 5 Mitglieder thätig sein müssen. Die Sache werde eben so gehandhabt, daß einem Mitgliede die Sache zur Information übertragen wurde, welches dann dem Collegium referire. Das entspreche aber nicht dem Geist der jetzigen Strafprozeßordnung. Alle, die an einem Urtheil mitzuwirken berufen seien, sollten selbst die Beschuldigten hören und nicht durch die Brille Anderer sehen. Ein Referent im großen Collegium müsse sehr ungeschickt sein, wenn die von ihm allein behandelte Sache nicht nachher in dem Sinne erledigt würde, wie er sie aufgefaßt habe.“4
1
STAH 241-1 I, I C d 2 Vol. 6, Bl. 25. Ebd. 3 Der von Weber um eine Stellungnahme gebetene LG-Direktor Mönckeberg sprach sich ausdrücklich für die Beibehaltung des kommissarischen Verfahrens in Vormundschaftssachen sowie dessen Übertragung auf Zwangserziehungsangelegenheiten aus. Er bezweifelte nicht nur, dass es infolge des ZEG zu einer erheblichen Mehrbelastung der Vormundschaftsbehörde kommen werde, sondern glaubte auch, dass unter den Behördenmitgliedern in den genannten Fällen „in der Regel allgemeines Einverständniß herrschen wird, also für eine große Verhandlung gar keine Veranlassung vorliegt“. A.a.O., Bl. 27. 4 „Hamburgischer Correspondent“ vom 19.11.1885 2
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Aufgrund dieses Amendements wurde das Fünf-Mann-Kollegium in Zwangserziehungssachen schließlich fallen gelassen. Im vormundschaftsgerichtlichen Verfahren zum Schutz der „guten Kinder schlechter Eltern“ blieb aber alles beim Alten. Es wurde demnach fortan zweigleisig verfahren: Während das Zwangserziehungsverfahren nach dem Wunsch der Bürgerschaft kontradiktorisch und mündlich gestaltet wurde, blieb es bei der Absetzung väterlicher Vormünder beim kommissarischen Verfahren und der Beschlussfassung im Fünf-MannKollegium. Im Verlauf der gesetzgeberischen Debatten zum ZEG von 1887 war also nicht nur die Forderung nach einer Einbeziehung der „guten Kinder schlechter Eltern“ gescheitert, sondern auch die angestrebte Vereinheitlichung des Verfahrens der beiden eng verwandten Interventionsformen.1 Erst mit dem Inkrafttreten des Reichsgesetzes über die „Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FGG von 1898) und des BGB (1900) sowie den entsprechenden Hamburger Ausführungsgesetzen wurden die meisten der noch bestehenden Verfahrensunsicherheiten beseitigt.2 § 1673 BGB führte die Anzeigepflicht des Gemeindewaisenrats (GWR), dessen Geschäfte in Hamburg dem WHK übertragen worden waren, in all jenen Fällen ein, in denen die Vormundschaftsbehörde „zum Einschreiten berufen“ war.3 Mit dem Inkrafttreten des FGG waren außerdem alle bisherigen Zweifel über die Gestaltung des Beweisverfahrens und die dabei der Behörde und den Spezialvormündern zukommenden Pflichten beseitigt worden. § 12 FGG bestätigte für das Entzugverfahren ausdrücklich die „Offizialmaxime“, indem es ausführte, dass „das Gericht“ – in Hamburg also die Vormundschaftsbehörde 4 – „von Amtswegen die zur Feststellung der Thatsachen erforderlichen Ermittelungen zu veranstalten und die geeignet erscheinenden Beweise aufzunehmen [hat]“. Damit war der bisher geübten Praxis, bei der die Tatsachenfeststellung weitgehend den Spezialvormündern 1 Vgl. oben S. 381. Wie weiter unten (S. 579) noch zu zeigen sein wird, deutet gleichwohl manches darauf hin, dass die Vormundschaftsbehörde die hinsichtlich der Absetzung des väterlichen Vormundes bestehenden verfahrensrechtlichen Unsicherheiten z.T. durch Analogieschluss zum Zwangserziehungsverfahren zu beheben versuchte. Das Zwangserziehungsverfahren war durch ein „Regulativ“ sehr detailliert geregelt worden (vgl.: „Regulativ betreffen das bei der Vormundschafts-Behörde zu beobachtende Verfahren in Zwangserziehungssachen“ in: STAH 241-1-I, I C d 2 Vol. 8 a, Bl. 3). 2 Die folgenden Ausführungen stützen sich – sofern nicht anders vermerkt – auf folgende Gesetzesausgaben bzw. Kommentare: Gerichtsverfassungsgesetz (GVG): Keller [1877]; FGG: SchultzeGörlitz/Oberneck [1901]; Planck [1901]; Zivilprozessordnung (ZPO): Neukamp [1900]. Bei den Hamburger Ausführungsgesetzen handelte es sich um das „Gesetz, betreffend Ausführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs“ (AG BGB) vom 14.7.1899, das „Gesetz, betreffend die Vormundschaftsbehörde“ vom gleichen Tag sowie das „Hamburger Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ vom 29.12.1899. In: Gesetzessammlung FHH 1899, Abt. I, Nr. 36, 38 u. Nr. 82. 3 Die Übertragung der Geschäfte des GWR war in § 77 des Hamburger AG BGB festgelegt worden. 4 Nach § 70 des Hamburger AG BGB waren die „dem Vormundschaftsgericht obliegenden Verrichtungen“ der Stadt Hamburg sowie der Landherrschaften der Geest- und Marschlande der Vormundschaftsbehörde übertragen worden.
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überlassen worden war, endgültig die rechtliche Grundlage entzogen. Über die Art und den Umfang der zu erbringenden Beweise hatte das sachgemäße Ermessen der Vormundschaftsbehörde zu entscheiden. Es galt der „Grundsatz der freien Beweiswürdigung“.1 Im Einzelnen orientierte sich das Beweisverfahren an den Bestimmungen der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie den einschlägigen Paragrafen des BGB. Als „Verfahrensbeteiligter“ sollte vor einem Beschluss nach § 1666 BGB zunächst „wenn thunlich“ der Vater, als regelmäßiger Inhaber der elterlichen Gewalt, gehört werden (§ 1673 Abs. 1 BGB).2 Das Gleiche galt ausdrücklich auch für die Mutter, aber nur, sofern die elterliche Gewalt an sie übergegangen war.3 Nach § 1673 Abs. 2 BGB sollten daneben auch die näheren Verwandten, insbesondere die (verheiratete) Mutter, von der Vormundschaftsbehörde als „Auskunftspersonen“ vernommen werden, sofern dies ohne einen erheblichen finanziellen oder zeitlichen Mehraufwand zu leisten war. Im Unterschied zu diesen „Auskunftspersonen“ stand dem Vater bzw. der Mutter als „Verfahrensbeteiligten“ das Recht zu, vor der Vormundschaftsbehörde in Begleitung eines Beistandes zu erscheinen oder sich durch einen Bevollmächtigten vertreten zu lassen.4 Bei der formellen Beweisaufnahme war die Behörde nach § 15 FGG an die einschlägigen Vorschriften der ZPO zum Zeugen- und Sachverständigenbeweis sowie zur Abnahme von Eiden gebunden. Die „Beteiligten“ hatten allerdings nicht das Recht, der Beweisaufnahme beizuwohnen.5 Auf das Beweisverfahren konnten die betroffenen Väter bzw. Mütter nur insofern Einfluss nehmen, als sie berechtigt waren, Zeugen zu benennen und diese zu konkreten Fragen vernehmen zu lassen.6 Abweichend von § 375 ZPO bestimmte der § 10 des „Gesetzes, betreffend die Vormundschaftsbehörde“, dass die Vormundschaftsbehörde sowohl die tatbestandlichen Ermittlungen als auch die Erhebung der von ihr beschlossenen Beweise einem ihrer Mitglieder oder einem der vier Sekretäre über1
Schultze-Görlitz/Oberneck [1900], S. 16 Anm. 3 zu § 12. Als „unthunlich“ galt eine Anhörung immer dann, „wenn in Folge der Anhörung ein Aufschub eintritt und mit dem Aufschube Gefahr verbunden ist“. Vgl.: §§ 1686 i.V.m. 1673 Abs. 1 BGB. Nach Auffassung Plancks handelte es sich bei dieser Bestimmung allerdings um eine reine Ordnungsvorschrift, deren Nichtbeachtung keine Auswirkungen auf die Gültigkeit des Beschlusses hatte. Vgl.: Planck [1901], S. 427 Anm. 1 zu § 1673 BGB. 3 Nach § 1684 BGB stand der Mutter die elterliche Gewalt immer dann zu, wenn der Vater verstorben oder für tot erklärt worden war, oder aber wenn er die elterliche Gewalt „verwirkt“ hatte und die Ehe aufgelöst worden war. Unverändert blieb demgegenüber die rechtliche Stellung der verheirateten Mutter, wenn dem Vater nach § 1666 BGB die Personensorge entzogen und seine Rechte einem Vormund übertragen worden waren. Vgl.: Planck [1901], S. 435 Anm. 2 zu den allgemeinen Bestimmungen zur „Elterlichen Gewalt der Mutter“ sowie S. 450, Anm. 2 zu § 1698 BGB. 4 § 13 FGG. 5 Schultze-Görlitz/Oberneck [1901], S. 19, Anm. 4 zu § 15. 6 Vgl.: §§ 373 u. 397 ZPO 2
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tragen konnte. An dieser Bestimmung zeigt sich deutlich, wie sehr man in Hamburg auch nach 1900 bemüht war, am bisher geübten „kommissarischen“ Verfahren festzuhalten. Analog zur ZPO mussten die Zeugen, die nur in klar definierten Ausnahmefällen ihre Aussage verweigern durften, einzeln und getrennt voneinander vernommen werden. Ihre Gegenüberstellung war nur für den Fall vorgesehen, dass sich ihre Aussagen widersprachen.1 Für das gerichtliche Verfahren galten nach § 8 FGG die „sitzungspolizeilichen“ Regelungen und die Bestimmungen zum Beratungs- und Abstimmungsverfahren des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) von 1878 (§§ 177-185 und §§ 194-200). Wie bisher fand das gesamte Absetzungsverfahren unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Für die „Aufrechterhaltung der Ordnung“ in den Sitzungen war der vorsitzende Richter verantwortlich, dem hierzu nun ausdrücklich all jene Mittel zur Verfügung standen, die auch ein Straf- oder Zivilrichter anwenden durfte.2 Hinsichtlich des Beratungs- und Abstimmungsverfahrens des Gerichts brachte das FGG ebenfalls nur geringfügige Änderungen der bisher geübten Praxis mit sich. Nach §§ 6 und 8 Nr. 3 u. 4 des „Gesetzes, betreffend die Vormundschaftsbehörde“ von 1899 bedurften Beschlüsse, mit denen dem Inhaber der elterlichen Gewalt alle oder einzelne Bestandteile seiner Rechte entzogen wurden, nunmehr zwingend der Mitwirkung eines rechtsgelehrten und zweier nichtrechtsgelehrter Mitglieder. Wenigstens in diesem Punkt war damit endlich – 15 Jahre nach der oben erwähnten Diskussion in der Bürgerschaft – eine Anpassung an die Modalitäten des Zwangserziehungsverfahrens erreicht worden. Gemäß § 195 GVG erfolgte die Beratung und Abstimmung der einzelnen Abteilungen der Vormundschaftsbehörde wie bisher nicht öffentlich. Auch wenn das kollegiale Selbstverständnis der Behörde auf das Erzielen einstimmiger Beschlüsse ausgerichtet war und es in Entzugsfällen nur ausnahmsweise zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sein dürfte, entschied nach § 198 GVG formell die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Im Prinzip konnten in Hamburg 1 §§ 383-390 ZPO und § 394 ZPO. Die Vernehmung begann mit der Aufnahme der wichtigsten Personendaten. Bestanden Zweifel über die Glaubwürdigkeit des Zeugen, so sollten diese Angaben durch zusätzlich Fragen über die Beziehung des Zeugen zu den „Verfahrensbeteiligten“ ergänzt werden (§ 395 ZPO). Ebenfalls analog zur ZPO war der Zeuge anschließend vom Vorsitzenden bzw. den Sekretären „zu veranlassen, dasjenige, was ihm von dem Gegenstande seiner Vernehmung bekannt ist, im Zusammenhange anzugeben“. „Zur Aufklärung und zur Vervollständigung der Aussage, sowie zur Erforschung des Grundes, auf welchem die Wissenschaft des Zeugen beruht“ sollten sie dem Vorgeladenen bei Bedarf weitere Fragen stellen (§ 396 ZPO). 2 Die mit § 8 FGG vorgenommene Klarstellung war für Hamburg deshalb von besonderer Bedeutung, weil es in der Vergangenheit aufgrund der zwitterhaften Stellung der Vormundschaftsbehörde zwischen Verwaltungsbehörde und Gericht wiederholt zu Streitigkeiten über ihre „sitzungspolizeilichen“ Befugnisse gekommen war. Vgl. hierzu: STAH 241-1 I, VII D a Vol.1.
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also die nichtrechtsgelehrten Mitglieder den Vorsitzenden immer überstimmen.1 Wie schon in der VO, so fehlte auch nach dem FGG jegliche Formvorgabe für die Gestaltung der erstinstanzlichen Beschlüsse – das heißt, dass für die Abfassung von Beschlüssen der Vormundschaftsbehörde nach § 1666 BGB formellrechtlich nicht einmal eine Begründung des Beschlusses zwingend vorgeschrieben war.2 Besonders bemerkenswert für die Untersuchung der Gerichtspraxis unter „Nutzerperspektive“ sind die gesetzlichen Neuregelungen im Bereich des Beschwerdeverfahrens. Durch die organisatorische Abtrennung der Vormundschaftsbehörde vom Landgericht konnte Letzteres nun als zweite Instanz fungieren, während das Hanseatische OLG nur noch über die „weitere Beschwerde“ zu befinden hatte.3 Gleichzeitig wurde der Kreis der Beschwerdeberechtigten genauer bestimmt und erheblich ausgedehnt. Nach § 20 FGG stand nicht mehr nur den „Beteiligten“, sondern jedem, dessen Rechte durch den Beschluss der Vormundschaftsbehörde beeinträchtigt wurden, das Rechtsmittel der Beschwerde zu.4 Die Beschwerde, die entweder auf neue Tatsachen oder auf Beweise gestützt werden konnte (§ 23 FGG), war schriftlich oder mündlich bei der Vormundschaftsbehörde oder beim Landgericht einzureichen (§ 21 FGG) und an keine besondere Frist gebunden. Allerdings hatte sie in der Regel auch keine aufschiebende Wirkung (§ 24, Abs. 1 FGG). In Vormundschaftssachen war das Beschwerderecht in einer Reihe von Fällen noch deutlich über den Kreis der „rechtlich Beeinträchtigten“ ausgedehnt worden. Für die Praxis des Sorgerechtsentzugs sind vor allem Fälle, die in § 57 Nr. 8 und 9 FGG geregelt wurden, von Belang. Nach § 57 Ziffer 8 FGG stand das Beschwerderecht auch den Verwandten und Verschwägerten des Kindes zu, wenn die Vormundschaftsbehörde eine Maßregel nach § 1666 BGB abgelehnt oder wieder aufgehoben hatte. Das heißt also, dass der nähere Verwandtenkreis zwar keine rechtliche Handhabe besaß, sich gegen die Maßnahmen der Vormundschaftsbehörden nach § 1666 BGB zur Wehr zu setzen, aber immer dann vom Rechtsmittel der Beschwerde Gebrauch machen konnte, wenn sich die Behörde weigerte, zum Wohl des Kindes zu intervenieren. Gegen Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde, welche die Personensorge betra1 Nach § 200 GVG waren die an der Entscheidung Mitwirkenden zu Stillschweigen über die Beratung und den Hergang der Abstimmung verpflichtet. 2 Schultze-Görlitz/Oberneck [1901], S. 30 Anm. 1 zu § 24. Demgegenüber war die Bekanntmachung von Entzugsbeschlüssen an den Inhaber derjenigen elterlichen Rechte, die sie beschränkten, in § 16 FGG genau geregelt und analog den Zustellungsbestimmungen der ZPO gestaltet worden. 3 Vgl. zur organisatorischen Trennung von Vormundschaftsbehörde und Landgericht: oben S. 472 f. 4 Eine Unterart der einfachen Beschwerde stellte die „sofortige Beschwerde“ nach § 22 FGG dar. Nach § 60 FGG fand dieses Rechtsmittel auch auf bestimmte vormundschaftsgerichtliche Beschlüsse Anwendung. Im Entzugsverfahren spielte die „sofortige Beschwerde“ jedoch keine zentrale Rolle, weshalb hier auf eine ausführliche Erörterung des Rechtsmittels verzichtet werden kann.
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fen, konnte nach § 57 Ziffer 9 FGG darüber hinaus jeder, „der ein berechtigtes Interesse hatte, diese Angelegenheiten wahrzunehmen“, eine Beschwerde einlegen. Dabei war natürlich vor allem an die Armenverwaltung und die „Jugendbehörden“ (WHK, GWR usw.) gedacht, daneben aber auch an privatwohltätige Vereine, die im Bereich der Jugendfürsorge und des Jugendschutzes tätig waren.1 Schließlich hatte nach § 59 FGG auch jedes unter elterlicher Gewalt oder Vormundschaft stehende Kind bzw. Mündel, sofern es das 14. Lebensjahr vollendet hatte und nicht geschäftsunfähig war, in allen seine Person betreffenden Angelegenheiten ein selbständiges Beschwerderecht. Für die Erledigung der Beschwerden gegen die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde war nach § 30 FGG eine Zivilkammer des Landgerichts zuständig. Gegen die Beschlüsse des Landgerichts fand nach §§ 27, 28 FGG das Rechtsmittel der „weiteren Beschwerde“ beim Hanseatischen OLG Anwendung. Sie war jedoch nur dann zulässig, wenn die Entscheidung der ersten Beschwerdeinstanz auf einer Gesetzesverletzung beruhte, mit anderen Worten: wenn das Landgericht eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewandt hatte. Die weitere Beschwerde konnte bei jeder der drei Instanzen mündlich oder schriftlich eingelegt werden (§ 29 FGG). Im Falle der schriftlichen Beschwerde musste die Beschwerdeschrift von einem Rechtsanwalt unterzeichnet werden. Im OLG war ein Zivilsenat für die Entscheidungen über Beschwerden im Bereich der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuständig (§ 30 FGG). Überblickt man die Regelungen zum Absetzungs- bzw. Sorgerechtsentzugsverfahren vor und nach 1900, so springen mehrere gravierende Veränderungen, aber auch einige bedeutende Kontinuitäten ins Auge. Vor 1900 war das Vorgehen gegen Väter und vor allem Mütter, die ihre Kinder „vernachlässigten“ oder „schlecht behandelten“, rechtlich nur sehr lückenhaft geregelt gewesen. Außer im Beschwerderecht spiegelte sich die Schwere der Eingriffe in verfahrensrechtlichen Besonderheiten kaum wider. Den Vorsitzenden der Behörde plagten Zweifel, ob das „kommissarische Verfahren“ der Sache wirklich angemessen sei. Daneben bereitete auch die unklare Stellung der Mütter Kopfzerbrechen. Die beiden Reichsgesetze, BGB und FGG, führten zur Klarstellung einer ganzen Reihe der bisher bestehenden formellrechtlichen Unsicherheiten. Vor allem das Beweisverfahren, aber auch die Regelungen zu den Rechtsmitteln wurden konkretisiert. Beibehalten wurde jedoch das für Hamburg typische „kommissarische“ Verfahren. Und obwohl die Vorgehensweise in vielerlei Hinsicht dem Zivilprozess nachempfunden worden war, blieb die verfahrensrechtliche Stellung der Beteiligten, insbesondere auch der von den Eingriffen betroffenen Eltern, unterbelichtet. Die Verhandlungen fanden generell unter Ausschluss der 1
Schultze-Görlitz/Oberneck [1901], S. 65, Anm. 27.
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Öffentlichkeit statt, und was noch wichtiger war: Es wurde nicht mündlich verhandelt. Die Richter entschieden auf der Grundlage des Referats des Kommissars darüber, was zu geschehen hatte, nicht auf Grundlage dessen, was sie selbst gehört oder gesehen hatten. Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen machten die Vorgehensweise der vormundschaftsbehördlichen Abläufe zum Entzugsverfahren für alle Seiten einigermaßen vorhersehbar, transparent und rechtlich überprüfbar. Sie gaben den Richtern, den Verfahrensbeteiligten und den Zeugen eine gewisse Handlungssicherheit. Allerdings blieb noch sehr viel Spielraum für die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens in der Praxis. Bevor aber der Frage nachgegangen werden kann, wie sich die beteiligten Behörden und Einzelpersonen im Verfahren verhielten und sich die Gerichtspraxis „aneigneten“, soll zunächst noch ein Blick auf die quantitative Entwicklung der Sorgerechtsentzüge und ihre Einbindung in die anderen Maßnahmen justizförmiger Sozialkontrolle gerichtet werden.
5.4 Der Sorgerechtsentzug im Kontext justizförmiger Sozialkontrolle: Eine quantitative Annäherung In diesem Kapitel soll eine quantitative Annäherung an die Praxis des Sorgerechtsentzugs der Hamburger Vormundschaftsbehörde unternommen werden, um den Umfang der staatlichen Eingriffe im Verhältnis zu anderen gerichtlichen Maßnahmen abschätzen zu können und erste Anhaltspunkte für die quantitative Analyse der Entzugspraxis zu gewinnen. Über die Zeit bis zur Jahrhundertwende liegen kaum zuverlässige Daten über die zahlenmäßige Entwicklung der vormundschaftsgerichtlichen Interventionspraxis vor. Obwohl sich die Personensorge in der obervormundschaftsgerichtlichen Praxis immer mehr in den Vordergrund schob, blieben die gerichtlich angeordnete Fremdunterbringungen von Kindern noch lange Zeit eine Marginalie. Kennzeichnend war für die justizielle Kontrollpraxis außerdem, dass die strafrechtlichen, vormundschaftsgerichtlichen und behördlichen Maßnahmen mehr oder wenigen unsystematisch nebeneinander herliefen. Die vormundschaftsgerichtliche Praxis entwickelte sich vorübergehend zu einem Experimentierfeld im fürsorgerischen Umgang mit straffälligen und devianten Jugendlichen. Die gerichtlich angeordnete Fremdunterbringung von Kindern blieb aber noch lange Zeit eine Seltenheit. Durch die mit der Jahrhundertwende eintretende neue Gesetzeslage veränderte sich die Situation schlagartig. Nur noch auf Beschluss der Vormundschaftsbehörde konnten künftig Minderjährige gegen den Willen ihrer Eltern fremduntergebracht werden. Auf der Grundlage der Jahresberichte der Vormundschaftsbehörde lässt sich zeigen, dass die Zahlen der vormundschaftsge-
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richtlich angeordneten Zwangserziehungsmaßnahmen, vor allem aber die Fälle der formellen Eingriffe in das elterliche Personensorgerecht sprunghaft anstiegen. Außerdem zeichnete sich ab 1908, das heißt schon vor der Einrichtung des Hamburger Jugendgerichts, eine allmähliche Verlagerung von strafrechtlichen Sanktionen auf jugendfürsorgerische Maßnahmen ab. Die Fürsorge- und Ermittlungstätigkeit des WHK diente dabei als eine Art Relais und die Drohung mit Strafhaft oder der zwangsweisen Unterbringung in der Ohlsdorfer Erziehungsanstalt war der zentrale Wirkmechanismus.
5.4.1 Die obervormundschaftliche Kontrolltätigkeit als Experimentierfeld – die Entwicklung bis zur Jahrhundertwende Für das 19. Jahrhundert ist es ausgesprochen schwierig, die zahlenmäßige Entwicklung der vollzogenen „Absetzungen“ zu bestimmen. Die statistischen Erhebungen, welche die Vormundschaftsbehörde nach Art. 109 VO für das Landgerichtspräsidium vornahm, waren reine Verwaltungsberichte und enthielten keinerlei Angaben über die Inhalte vormundschaftsgerichtlicher Beschlüsse.1 Nur für die Jahre 1884 und 1885 liegen amtliche Angaben zur Anzahl der vorgenommenen formellen Eingriffe in das elterliche Personensorgerecht vor. In seinem bereits zitierten Antrag zur Neuregelung des Verfahrens hinsichtlich der Absetzung von Vormündern gab Moller im November 1885 die Fallzahlen der beiden Jahre mit sechs bzw. fünf an und bemerkte dazu, dass „alle diese Fälle ohne Ausnahme [...] väterliche Vormünder [betrafen], die wegen schlechter Behandlung ihrer Kinder ihrer gesetzlichen Vormundschaft entsetzt wurden, oder Mütter, denen aus demselben Grunde die Erziehung ihrer Kinder genommen wurde. Fälle der Absetzung von fremden Vormündern, Kuratoren oder Assistenten sind überall nicht vorgekommen“.2 Ergänzend wurde durch eine detaillierte Sichtung der Einzelakten der 1894 neu angeordneten Vormundschaften versucht, auch für dieses Jahr die Gesamtzahl der beschlossenen Eingriffe zu ermitteln. Auf diese Weise konnten ganze 1 Auch den vollständig überlieferten „Vormünderprotokollen“, mit denen die Einrichtung neuer Vormundschaften festgehalten wurde, ist neben dem Namen des Vormundes, des Vaters und des Mündels nur der Zweck der angeordneten Vormundschaften zu entnehmen. Da die Aberkennung der elterlichen Rechte in der Regel jedoch bei der Bestellung einer Vormundschaft noch nicht feststand, lässt sich auch anhand dieser Quelle die Anzahl der vollzogenen Beschlüsse nicht bestimmen. Nur den Vormundschaftsakten selbst kann – mit einiger Sicherheit – entnommen werden, ob ein formeller Eingriff in die elterliche Gewalt stattgefunden hat oder nicht. Aufgrund der hohen Fallzahlen (vgl. oben S. 431, Tabelle 4) war eine Erhebung gerichtlicher Eingriffen über den gesamten 15-JahresZeitraum auf diesem Wege aus arbeitsökonomischen Gründen allerdings nicht möglich. 2 STAH 241-1 I, I C d 2 Vol. 8 a
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vier Fälle zutage gefördert werden, in denen das Vormundschaftsgericht väterliche Vormünder abgesetzt hatte. Es handelt sich hierbei aber bestenfalls um einen Annäherungswert, da die Vormundschaftsbehörde zum Teil erst Jahre nach der Anordnung einer Vormundschaft in die Rechte der Eltern eingriff.1 Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Anzahl der Absetzungsverfahren gegenüber 1884 deutlich zugenommen hatte. In seinem Jahresbericht von 1894 führte Moller das neuerliche Anwachsen der Arbeitsbelastung u.a. auf das Inkrafttretens des „Gesetzes über die öffentliche Waisenpflege“ von 1892 zurück. Das Gesetz habe dazu geführt, dass die Direktion des Waisenhauses sich jedes Mal, wenn ein in ihrer Obhut befindliches Kind von Vater oder Mutter „reklamiert“ wurde und sie eine Entlassung für bedenklich hielt, veranlasst sehe, unter Berufung auf Art. 62 VO die Vormundschaftsbehörde anzurufen, um einen Rechtsgrund für die verweigerte Entlassung zu erhalten.2 Zwar war die Entscheidungspraxis der Vormundschaftsbehörde in diesen Jahren, wie im Weiteren noch darzustellen ist, sehr restriktiv. Angesichts dieser neuen Konstellation ist gleichwohl davon auszugehen, dass die Zahl der Eingriffe in diesem Jahr etwa das Doppelte der recherchierten Fälle betrug und unter Umständen sogar im zweistelligen Bereich lag. Berücksichtigt man den starken Zuwachs der minderjährigen Bevölkerung Hamburgs im Zeitraum von 1884 bis 1894, so war der Anstieg von den sechs Entzugsfällen im Jahr 1884 auf die geschätzten acht bis elf Fälle 1894 gleichwohl relativ gering.3 Genauere Aussagen sind über die Bedeutung der Vormundschaftsbehörde als sozialer Kontrollinstanz in Bezug auf abweichendes Kindes- bzw. Elternverhaltens möglich. Die folgende Tabelle gibt die zahlenmäßige Entwicklung der strafrechtlichen Kontrollpraxis im Verhältnis zu den verschiedenen vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen sowie den von der Zwangserziehungsbehörde (ZEB) angeordneten Fürsorgemaßnahmen wieder. Im gesamten Zeitraum von 1884 bis 1899 dominierte die strafrechtliche Verurteilung die staatlichen Reaktionsformen auf abweichendes Kinder- und Jugendverhalten. Insbesondere Mitte der 1890er Jahren kam es in Hamburg zu einer regelrechten Verurteilungsflut, die im Zusammenhang mit dem sozialen
1
Vgl. zur Vorgehensweise bei Auswahl und Sichtung der relevanten Personenakten unten S. 526 f. STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 20 3 Im Dezember 1885 hatte die Zahl der 0-21-Jährigen noch 198.530 betragen, zehn Jahre später schon 260.657, was einem Zuwachs von 31 % entspricht. Vgl.: Stat. Hbg. Staats, Heft XIV, I. Abt. 1887, S. 67 ff. und Heft XIX, 1894, S. 32. Relativ gesehen war der Anteil der unter 20-Jährigen, wie in Teil 1 gezeigt werden konnte, allerdings rückläufig. 2
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
Tabelle 8: Entwicklung justizförmiger Sozialkontrolle in Hamburg bis 1900.
Massenelend der Nach-Cholerazeit stand.1 Die „Explosion“ der (Jugend)Kriminalität begann sich aber schon fünf Jahre früher klar abzuzeichnen und hatte vor allem zwei Ursachen: Zum einen schlug sich in ihr der rücksichtslos betriebene Ausbau des Freihafens auf dem kleinen Grasbrook nieder, dem ein ganzer Arbeiterstadtteil zum Opfer fiel und der die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Lage der Hamburger Unterschichtsbevölkerung noch zusätzlich verschärfte. Die Folge war ein starker, absoluter wie relativer Anstieg im Bereich leichterer Delikte (einfacher Diebstahl, Bettelei, Obdachlosigkeit, Landstreicherei), der zu einem nicht geringen Anteil auf das Konto von Minderjährigen ging.2 Auf der anderen Seite war die stark wachsende Zahl der verurteilten Jugendlichen eine Funktion der Polizeidichte: Um den Anschluss an andere deutsche Metropolen zu schaffen, hatte man 1888 in Hamburg quasi über Nacht das Polizeipersonal um mehr als 60 Prozent aufgestockt.3 Auch im Vergleich zum Reich 1 Auch die Entwicklung polizeilichen Gewahrsamnahmen aufgrund von Bettelei und Landstreicherei sowie die Verurteilungen wegen Diebstahls wiesen 1894 außergewöhnliche Spitzen auf, die Andreas Roth auf die Choleraepidemie zurückführt (Roth [1997], S. 263 f. u. 312 f.). 2 Vgl.: A.a.O., S. 264 u. 320 sowie ders. [1995], S. 389 f. 3 Vgl.: A.a.O., S. 387.
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wies der OLG-Bezirk Hamburg eine überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsrate auf, wobei anzumerken ist, dass in der Reichskriminalstatistik die so genannten Übertretungen nach § 361 ff. Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) noch gar nicht enthalten waren.1 Erst zur Jahrhundertwende hin begann sich die Hamburger Situation aufgrund der allgemeinen Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und der vom Polizeipräsidenten Gustav Roscher betriebenen Liberalisierung polizeilicher Verfolgungstätigkeit allmählich wieder zu „normalisieren“.2 Die vormundschaftsgerichtlichen Fürsorgemaßnahmen spielten bis 1900 im Vergleich zur strafrechtlichen Sanktionspraxis zwar nur eine nachgeordnete, keineswegs aber eine unbedeutende Rolle. Das lag nicht sosehr an der Funktion der Vormundschaftsbehörde im Zwangserziehungsverfahren, denn die meisten Anordnungen wurden hier wie bisher auf administrativem Wege getroffen. Nur wenn die Kinder und Jugendlichen eine strafbare Handlung begangen hatten – und selbst dann nur in denjenigen Fällen, in denen die Eltern ihre Zustimmung zur Zwangserziehung verweigerten – musste die Vormundschaftsbehörde die Zulässigkeit der Erziehungsmaßnahme prüfen und entsprechend beschließen.3 Von den 652 Neuaufnahmen, zu denen es im Zeitraum 1888 bis 1899 in Ohlsdorf gekommen war, waren nur 163, also ein Viertel, auf Anordnung der Vormundschaftsbehörde erfolgt.4 Auch die formellen Sorgerechtsentzüge fielen, wie bereits gezeigt wurde, zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Viel wichtiger war die Kontrolltätigkeit, welche die Vormundschaftsbehörde gegenüber bereits schulentlassenen Jugendlichen entfaltete, die mit den Strafverfolgungsbehörden in Berührung gekommen waren oder auf Veranlassung ihrer meist alleinstehenden Mütter unter vormundschaftliche Aufsicht gestellt wurden. Die Staatsanwaltschaft stellte der Vormundschaftsbehörde routinemäßig all jene Akten zu, die eine Ermittlung gegen Kinder und Jugendliche dokumentierten. Anfang der 1890er Jahre handelte es sich dabei um etwa 850 Akten jährlich. Ging es um Bagatelldelikte oder hatten die Minderjährigen bereits das 18. Lebensjahr überschritten, so sah die Vormundschaftsbehörde von weiteren Schritten ab. Alle übrigen Fälle, in denen aufgrund der familiären Verhältnisse oder 1 Vgl.: Reichskriminalstatistik 1893 ff. Für die vergleichsweise hohe Jugendkriminalität des OLGBezirks Hamburg waren offenbar in erster Linie die vielen verurteilten Kinder sowie die spezifische Deliktstruktur ausschlaggebend. Bei den Delikten nahm der OLG-Bezirk Hamburg bei Diebstahl, Sittlichkeitsdelikten, Betrug und Untreue sowie Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt eine herausgehobene Stellung im Reich ein. Bei Körperverletzungen rangierte der Bezirk dagegen ganz weit hinten (a.a.O., S. I 75 ff.). 2 Roth [1995], S. 390; ders. [1997], S. 312 u. 320. Vgl. außerdem: Reichskriminalstatistik 1902. 3 Die eigentliche Anordnung der Unterbringung in Ohlsdorf blieb auch in diesem Fall Sache der Zwangserziehungsbehörde. 4 STAH 354-2, A 3, Jahresberichte 1888- 1899.
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
der dem Jugendlichen zur Last gelegten Tat eine weitere Fürsorge für erforderlich und aussichtsreich gehalten wurde, unterwarf die Vormundschaftsbehörde ihrer Aufsicht, indem sie den Jugendlichen Vormünder bestellte.1 Hatten die Mündel das 16. Lebensjahr noch nicht überschritten, so beantragten die Vormünder bzw. die Vormundschaftsbehörde regelmäßig ihre Aufnahme in Ohlsdorf, was jedoch nicht immer erfolgreich war.2 Bei Mädchen und jungen Frauen stand unter Umständen noch die öffentliche Erziehung in Form einer Unterbringung in der Mädchenabteilung des Werk- und Armenhauses offen. Für die Erziehung oder „Besserung“ männlicher Jugendlicher, die das 16. Lebensjahr schon vollendet hatten, existierte in Hamburg demgegenüber keine staatliche Einrichtung, sodass der Behörde nichts anderes übrig blieb, als diesen Personenkreis – rund ein Drittel der von der Staatsanwaltschaft überwiesenen Fälle – unter ihrer Aufsicht zu behalten.3 Durch diese Praxis schloss die Vormundschaftsbehörde eine bedeutende Kontrolllücke im Straf- und Zwangserziehungsrecht, denn die ungelernten, schulentlassenen, männlichen Jugendlichen rückten in Hamburg wie überall sonst im Reich im Verlauf der 1880er Jahre in den Fokus des öffentlichen und staatlichen Interesses.4 Da es sich aber als ausgesprochen schwierig erwies, geeignete und vor allem motivierte Vormünder für dieses Klientel zu finden, handelte es sich dabei bestenfalls um eine Übergangslösung. Bereits 1889 hatte die Vormundschaftsbehörde an die Gefängnisverwaltung einen Antrag zur „verbesserten Einrichtung zum Schutze der bestraften oder mit der Polizei resp. den Strafgerichten in Berührung gekommenen Jugendlichen“
1
STAH 354-2, A 12 Anl. zu Bl. 11. Im März 1893 klagte die Vormundschaftsbehörde in einem Artikel des Hamburger Correspondenten öffentlich darüber, dass sie von der Zwangserziehungsbehörde, wenn sie einmal den Wunsch äußere, ein Kind in Ohlsdorf unterzubringen, nicht immer „collegial“ behandelt werde. Aus einer daraufhin erfolgten behördeninternen Richtigstellung geht hervor, dass die Erfolgsaussichten der Anträge der Vormundschaftsbehörde bei 65,6% lagen (STAH 354-2, B 12, Bl. 12). Im Zeitraum von 18951899 jedoch sanken sie auf 29% ab. Vgl. hierzu die detaillierten Angaben zur Antragserledigung in den Jahresberichten der Behörde für Zwangserziehung für den Zeitraum 1895-1899 in: VerwBer. 1895-1899. 3 Eine der wenigen großen Lücken in der Überlieferung der Tätigkeiten der Vormundschaftsbehörde vor 1900 betrifft ausgerechnet das hier skizzierte Aufgabenfeld: Laut Vermerk im vorläufigem Beständeverzeichnis wurden die gut 3.000 Akten, die bei der Vormundschaftsbehörde im Zeitraum 1881-1894 in Strafsachen erwachsen waren, am 19.10.1943 vernichtet. 4 Moller charakterisierte den Personenkreis, mit dem es die Behörde hier zu tun bekam, mit den Worten: „Die meisten dieser Jugendlichen sind ‚Arbeiter’ d.h. in Wahrheit Strolche, und es kommt vor allem darauf an, sie zu einem bestimmten Beruf zu erziehen, damit sie wenigstens ‚gelernte Arbeiter’ werden, und dies Ziel wird am sichersten in einer Anstalt erreicht. [...] Gerade diese Jugendlichen sind die gefährlichsten Elemente in einer Großstadt, weil sie in ihrem Alter noch die meiste Fühlung haben mit der jüngeren Generation und auf diese daher unheilvoller influieren, als die an Jahren gereiften Verbrecher.“ STAH 354-2, A 12, Anl. Zu Bl. 11. 2
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gerichtet.1 In den Folgejahren wurde der Umgang mit diesem Personenkreis zum Gegenstand kommissarischer Verhandlungen unter den involvierten Behörden. Bemerkenswerterweise schlug der Leiter der Ohlsdorfer Anstalt schon damals vor, das Problem zu lösen, indem man die Vormundschaften über bestrafte Mündel hauptamtlichen Vormündern übertrug. Hier wurde also das USamerikanische Probationsystem, wie es 15 Jahre später in Deutschland zunächst auf unbezahlter Basis adaptiert werden sollte, gedanklich vorweggenommen.2 Jedoch kristallisierte sich schon bald heraus, dass nicht nur die Vormundschaftsbehörde, sondern auch die Gefängnisverwaltung, die Armenanstalt und die ZEB von der Notwendigkeit der Einrichtung eines speziellen „Arbeitshauses für Jugendliche“ überzeugt waren. Spätestens bei der Frage, welcher der Behörden eine solche Anstalt zu unterstellen sei, schieden sich allerdings die Geister wieder.3 Während Emil Münsterberg in seiner Eigenschaft als Direktor der Armenanstalt die Angliederung der Anstalt an das seiner Behörde unterstellte Werk- und Armenhaus als ressortfremd zurückwies, wehrte sich die ZEB gegen den ins Auge gefassten Aufgabenzuwachs vor allem mit dem Argument, dass dadurch der pädagogische Charakter der Ohlsdorfer Anstalt verloren ginge. Zwischen Bürgerschaft und Senat konnte man sich nicht einmal darüber verständigen, ob man das Bedürfnis zur Einrichtung einer solchen Anstalt anerkennen sollte: Der Senat zweifelte die Notwendigkeit des von der Bürgerschaft unterstützte Behördenvorhabens offen an. Im Frühjahr 1894 verschwand die Angelegenheit dann endgültig von der politischen Tagesordnung. Das lag nicht nur an den angedeuteten Meinungsverschiedenheiten, sondern auch am nachlassenden Problemdruck. Vor allem die Intensivierung und altersmäßige Ausdehnung der Waisenpflege trug anscheinend zu einer erheblichen Entspannung der Lage in der Vormundschaftsbehörde bei.4 In den folgenden Jahresberichten der Vormundschaftsbehörde wurden deshalb die Vormundschaften über straffällige Mündel nicht mehr gesondert rubriziert. Vielleicht noch bemerkenswerter als das vorübergehende Engagement der Vormundschaftsbehörde bei der Kontrolle straffälliger Jugendlicher war der kon1
Jahresbericht der Vormundschaftsbehörde von 1889 in: STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 1. STAH 354-2, A 12, Bl. 3. Zum „probation system“ vgl. ausführlich oben, Abschnitt 3.3.2.3. 3 Auch die Vorstellungen über den konzeptionellen Charakter der angedachten Anstalt gingen weit auseinander. Moller z.B. warb für die Errichtung einer stadtnahen Einrichtung, in der die Jugendlichen eine handwerkliche Grundausbildung erhalten sollten, während Oberlehrer Blunk, der Leiter der Ohlsdorfer Anstalt, für eine Anstalt fernab der Großstadt eintrat, in der die Zöglinge in landwirtschaftlichen Tätigkeiten unterwiesen werden sollten. Wieder andere versprachen sich von ausländischen Vorbildern im Umgang mit delinquenten Jugendlichen die beste Wirkung. So wollte der Fuhlsbütteler Gefängnisdirektor Streng die betreffenden Jugendlichen wie in England auf Schulschiffen unterzubringen (STAH 354-2, A 12, Bl. 4). 4 Vgl. Auszug aus dem Sitzungsprotokoll der Vormundschaftsbehörde vom 19. Mai 1894 in: STAH 354-2, A 12, Bl. 11. 2
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
tinuierliche Anstieg der Vormundschaften zum Zwecke der „Überwachung und Erziehung“. Sowohl altersmäßig als auch hinsichtlich des Geschlechts ähnelte der unter diesem Titel erfasste Personenkreis stark den zuvor behandelten straffälligen Jugendlichen. Im Unterschied zu diesen gerieten diese Minderjährigen jedoch nicht auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft unter obervormundschaftliche Kontrolle, sondern auf Betreiben der eigenen Eltern, oder genauer gesagt: ihrer meist verwitweten bzw. verlassenen Mütter, die erklärten, mit ihnen „nicht mehr fertig“ zu werden.1 An dieser Stelle soll zunächst ausschließlich auf die zahlenmäßige Entwicklung solcher Spezialvormundschaften eingegangen werden2: Hatte die Vormundschaftsbehörde 1884 gerade einmal 14 Vormundschaften pro Jahr zum Zweck der „Überwachung und Erziehung“ angeordnet, so waren es kurz vor der Jahrhundertwende bereits 181. Besonders klar tritt die zahlenmäßige Bedeutung der hier entwickelten Kontroll- und Fürsorgetätigkeit hervor, wenn man sie ins Verhältnis zur Zwangserziehung setzt. Die meist über Monate, häufiger über Jahre andauernden „ambulante Maßnahmen“ überstiegen die Gesamtzahl der Zwangserziehungen zuletzt um etwa das Vierfache. Man kann in diesen Spezialvormundschaften Vorläufer der durch das BGB eingeführten „Erziehungspflegschaften“ bzw. der im Rahmen des Straf- und Zwangserziehungsverfahrens seit 1908 verstärkt angewandten „Erziehungsaufsichten“ sehen.3 Bezeichnenderweise wirkte die Praxis der „überwachten Freiheit“, die an die informelle Sozialkontrolle von Familie und sozialem Umfeld anschloss, aber offenbar noch nicht im Sinne einer institutionellen Verlängerung der vormundschaftsgerichtlich angeordneten Zwangserziehung. Beide Maßnahmen waren nicht systematisch aufeinander bezogen, liefen vielmehr nebeneinander her und erfassten unterschiedliche Altersgruppen und Problemlagen. Zwar dürften sich auch damals schon die Vormünder der Drohung mit der Zwangserziehung bedient haben, um bei den Jugendlichen und ihren Eltern kooperatives Verhalten durchzusetzten. Aber selbst den ungebildetsten Bevölkerungsteilen dürfte die restriktive Aufnahmepolitik der ZEB bekannt gewesen sein. Erst im Zuge der Einrichtung von Jugendgerichten nach US-amerikanischem Vorbild und des Ausbaus der „Bewährungsaufsicht“ zu einer eigenständigen jugendfürsorgerischen Maßnahme sollte dieser Zusammenhang hergestellt werden. Die generalpräventive Wirkung der Zwangserziehung wurde jetzt gezielt zur Erzwingung elterlicher Kooperationsbereitschaft eingesetzt.4 1
Vgl.: Jahresbericht der Vormundschaftsbehörde von 1896 u. STAH 354-2, A 12, Anl. zu Bl. 11. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Anlässen und Beweggründen solcher Vormundschaften findet sich weiter unten in Abschnitt 5.4.3.1.1. 3 Die Erziehungspflegschaften waren in § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB rechtlich normiert worden. Zur Praxis der Erziehungspflegschaften vgl.: oben Abschnitt 3.3.2.3. 4 Vgl. die Äußerung Petersens S. 521. 2
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Die fehlende Abstimmung der unterschiedlichen staatlichen Maßnahmen war zunächst auch für das Verhältnis zwischen strafrechtlicher Sanktionspraxis und Zwangserziehung kennzeichnend. Während der oben zitierten kommissarischen Beratungen zum „Arbeitshaus für Jugendliche“ beklagte sich Senator Hertz in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Verwaltungsabteilung für das Justizwesen angesichts der chronisch überfüllten Gefängnisse darüber, dass in Hamburg von der „Wohlthat des § 56 des Str. G.B.“ so wenig Gebrauch gemacht werde.1 Zwar war Ende der 1880er Jahre immerhin rund ein Viertel aller Neuaufnahmen in Ohlsdorf auf Grundlage der §§ 55 und 57 RStGB bzw. § 1 Ziffer 1 und 2 des Hamburger ZEG erfolgt, und mehr als die Hälfte der zwischen 1888 und 1899 in der Erziehungs- und Besserungsanstalt untergebrachten Jugendlichen waren vorbestraft.2 Aber von der Möglichkeit, Jugendliche wegen mangelnder Einsichtsfähigkeit freizusprechen und stattdessen der Zwangserziehung zuzuführen, machte das Landgericht offenbar nur sehr selten Gebrauch: Unter den 697 Zwangserziehungsmaßnahmen, die in Hamburg im Zeitraum von 1887 bis 1899 angeordnet wurden, befanden sich gerade einmal 23 Fälle, in denen die Überweisung auf Grund eines landgerichtlichen Beschlusses nach § 56 RStGB erfolgt war.3 Der Senat machte von seinem Begnadigungsrecht zur Aufschiebung der Strafe unter der Bedingung der Zwangserziehung ebenfalls nur in sehr bescheidenem Umfang Gebrauch, und selbst wenn er einmal darauf zurückgriff, so war es mehr als ungewiss, ob daraufhin auch tatsächlich eine Aufnahme in Ohlsdorf erfolgte.4 1 Im übrigen Reich lagen die Prozentwerte der aufgrund § 56 RStGB freigesprochenen Jugendlichen bis Mitte der 1890er Jahre wesentlich höher. Erst in der zweiten Hälfte wurde das Reich in dieser Hinsicht vom OLG-Bezirk Hamburg überrundet. (Vgl.: Reichskriminalstatistik 1894-1896) 2 Zu den einschlägigen Paragrafen des RStGB und den darin enthaltenen Tatbestandsvoraussetzungen vgl. oben, Abschnitt 4.2.2. Nach dem Hamburger ZEG konnte Zwangserziehung angeordnet werden: „1) gegen Kinder, welche nach Vollendung des sechsten und vor Vollendung des zwölften Lebensjahres eine strafbare Handlung begehen (§ 55 des Straf-Gesetzbuchs); 2) gegen Jugendliche, welche wegen einer strafbaren Handlung verurtheilt worden sind (§ 57 des Straf-Gesetzbuchs) und entweder die gegen sie erkannte Strafe verbüßt oder Strafaufschub erhalten haben oder begnadigt sind, wenn in jedem dieser unter 1 und 2 erwähnten Fälle mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der strafbaren Handlung, auf die Persönlichkeit der Eltern oder sonstiger Erzieher, auf das bisherige Betragen, die übrigen Lebensverhältnisse und das Alter der Kinder die Zwangserziehung zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung und zum Zwecke der Besserung erforderlich erscheint; 3) gegen Kinder unter 16 Jahren, bei welchen die gewöhnlichen Erziehungsmittel des Hauses und der Schule sich als unzureichend erwiesen haben, um sie vor sittlichem Verfall zu bewahren.“ Gesetzsammlung FHH, 1887, S. 67 ff. 3 STAH 354-2, A 3. Zwar liegen differenzierte Angaben zu den Einweisungsgründen nur für die Jahre 1888 und 1889 vor. Die Anzahl der vom Strafgericht nach Ohlsdorf überwiesen Zöglinge ergibt sich allerdings aus den Angaben zu den „Antragstellern“. 4 STAH 354-2 A 10. Laut den Verwaltungsberichten der Zwangserziehungsbehörde sprach der Senat im Zeitraum von 1887 bis 1899 in insgesamt 24 Fällen eine bedingte Begnadigung aus. Von 20 Fällen, von denen auch die weitere Erledigung durch die Zwangerziehungsbehörde bekannt ist, führten
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Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
Grafik 5:
Anträge auf Zwangserziehung Erledigung Okt. 1887 – Dez. 1892
nach
Antragstellern
und
120
Oberschulbehörde
22 (18,3%) 93
Vormundschaftsbehöre
32 (34,4%) 88
Polizei
42 (47,7%) 69
Eltern
17 (24,6%) 46 33 (71,7%)
Staatsanwaltschaft
41
Armenverwaltung
14 (34,1%) 8 3 (37,5%)
Senat
8 6 (75%)
Gefängnisverwaltung 0
20
40
60
80
100
120
Anzahl der Anträge davon durch ZEB abgelehnt
gestellte Anträge
Der Zurückhaltung der Rechtssprechung in der Anwendung der jugendstrafrechtlichen Bestimmungen korrespondierte die ablehnende Haltung, welche die ZEB bei der Aufnahme straffälliger, bereits schulentlassener Jugendlicher an den Tag legte. Man sperrte sich hier lange Zeit gegen alle Versuche einer kriminalpolitischen Indienstnahme – nicht zuletzt deshalb war ja auch der enorme Problemdruck entstanden, mit dem sich die Vormundschaftsbehörde konfrontiert sah. Die Abwehrhaltung der ZEB schlug sich in den relativ geringen Erfolgsaussichten nieder, die den Aufnahmeanträge von Polizei bzw. Staatsanwaltschaft beschieden waren: Im Zeitraum von Oktober 1887 bis Dezember 1892 wurden knapp die Hälfte aller polizeilichen Gesuche und sogar mehr als 70 Prozent aller staatsanwaltschaftlichen Anträge auf Zwangserziehung abgelehnt. In den Jahren bis zur Jahrhundertwende stieg die Erfolgsquote der Anfragen der Polizei etwas an, während nur noch jeder fünfte Antrag von Seiten der Staatsanwaltschaft erfolgreich war.1
neun zu einer Aufnahme in Ohlsdorf. STAH 354-2 A 3 u. B 12. Zum Instrument der bedingten Begnadigung vgl. ausführlich oben, Abschnitt 3.3.2.3. 1 STAH 354-2, A 3 u. B 12. Von den 24 zwischen 1895 und 1899 durch die Staatsanwaltschaft gestellten Anträgen führten nur fünf zum Erfolg.
Sorgerechtsentzug im Kontext justizförmiger Sozialkontrolle
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Entgegen ihrem strafrechtlichen Ursprung blieb der Bezug der Zwangserziehung zur Strafrechtspflege in der Praxis also eher unbestimmt. Wenn die Zwangserziehung in den 1880er und 1890er Jahren in Hamburg überhaupt in einemsystematischen Zusammenhang zu anderen Sanktionsformen stand, so sind diese im Bereich der abgestuften schulischen Disziplinarmaßnahmen zu suchen. Dafür spricht nicht nur die große Zahl der seitens der Oberschulbehörde gestellten Zwangserziehungsanträge, die in vier von fünf Fällen auch den gewünschten Zweck erreichten.1 Sehr viele der in Ohlsdorf eingewiesenen Kinder und Jugendlichen waren auch zuvor schon in der Strafschule untergebracht gewesen. Nicht zuletzt aber ergab sich der Bezug der Zwangserziehung zu den schulischen (und familialen) Zuchtmitteln aus dem Wortlaut des § 1 Ziffer 3 ZEG, der das Scheitern der „gewöhnlichen Erziehungsmittel des Hauses und der Schule“ als Voraussetzung für den Eintritt der Zwangserziehung benannte. Zumindest Ende der 1880er Jahre war der größte Teil der Anordnungen aufgrund dieser Rechtsbestimmung erfolgt.2 Orientiert man sich an der zahlenmäßigen Entwicklung der Zwangserziehungsanträge und ihrer behördlichen Erledigung, so war anscheinend selbst der Konnex, der zwischen der Zwangserziehung und den Instanzen informeller Sozialkontrolle bestand, noch ausgeprägter als derjenige zwischen Zwangserziehung und justizförmiger Sozialkontrolle. All diese neu hinzugekommenen Tätigkeitsfelder zeigen deutlich, dass sich der Arbeitsschwerpunkt der Vormundschaftsbehörde bereits in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von der Vermögenssorge zur Personensorge zu verlagern begann. Anfang der 1880er Jahre machten die Vormundschaften über straffällige Jugendliche und zur „Überwachung und Erziehung“ Minderjähriger etwa ein Zehntel aller neu angeordneten Vormundschaften aus.3 Als man Mitte der 1890er Jahre von der Bevormundung straffälliger Jugendlicher wieder abkam, trat die Überwachung der vermögensrechtlichen Interessen Minderjähriger vorübergehend wieder in den Vordergrund der obervormundschaftlichen Kontrolltätigkeit. Aber schon kurz vor der Jahrhundertwende betrug allein der Anteil der zum Zwecke der „Überwachung und Erziehung“ eingerichteten Vormundschaften wieder 4 Prozent aller Vormundschaften.4 Noch deutlicher wird die langsame Akzentverschiebung in der obervormundschaftlichen Kontrolltätigkeit, wenn man die Eingriffe in die Personensorge und die Verfahren in Zwangserzie1 Im Zeitraum 1895-1899 lag die Erfolgsquote der Anträge der Oberschulbehörde sogar bei deutlich über 85 % (ebd.). 2 Leider liegen differenzierte Angaben zu den Einweisungsgründen nur für die Jahre 1888 und 1889 vor. Vgl. die Jahresberichte der entsprechenden Jahrgänge in: STAH 354-2, A3. 3 Von den 1.573 neu eingerichteten Vormundschaften waren nicht weniger als 187 zu diesem Zweck angeordnet worden (vgl. die entsprechenden Angaben in: Tabelle 4 und 8, S. 431 u. 469). 4 Von den 4.445 neu eingerichteten Vormundschaften waren 181 zum Zweck der „Überwachung und Leitung“ eingerichtet worden (vgl. Angaben in: Tab. 4 und 8 für 1899, S. 431 u. 469).
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hungssachen berücksichtigt. Auf den ersten Blick scheinen die in Tabelle 8 wiedergegebenen Werte vernachlässigbar zu sein, zumal von einer deutlich Steigerungstendenz nicht die Rede sein kann. Aber zum einen verbargen sich hinter den Absetzungen väterlicher Vormünder und den Überweisungen in Zwangserziehung weit mehr Fälle, in denen die Behörde sich nicht zu einem Eingriff hatte durchringen können - 1891 waren z.B. nur zwölf von 18 Anträgen auf Zwangserziehung für zulässig erklärt worden.1 Und zum anderen sagen die Zahlen allein noch nichts über den tatsächlichen Arbeitsaufwand aus, der mit dieser neuen, im engeren Sinne „gerichtlichen“ Tätigkeit verbunden war. Aufgrund der anzustellenden Recherchen, Anhörungen und Verhandlungen waren sowohl die Zwangserziehungs- als auch die Absetzungsverfahren außerordentlich zeitintensiv. In seinem Jahresbericht von 1894 erklärte Moller, dass jedes von dem WHK an die Vormundschaftsbehörde herangetragene Sorgerechtsverfahren „hunderte sogenannte Selbstgänger der gewöhnlichen Sachen“ aufwiege.2 Im genannten Jahr hatte die Behörde zwar „nur“ 13 Überweisungsbeschlüsse zur Zwangserziehung gefasst. Es hatten aber „13 Sitzungen der Kommission für Zwangserziehungssachen statt[gefunden], in denen 24 ‚Relationen’ vorgekommen und 22 Beschlüsse gefasst wurden“.3 Als Fazit kann demnach festgehalten werden, dass die Richter und Beisitzer der Vormundschaftsbehörde, aber auch die Vormünder, sich im Verlauf der letzten 15 Jahre des 19. Jahrhunderts immer häufiger mit pädagogischen und erzieherischen Fragen auseinandersetzen mussten.
5.4.2 Die Entwicklung von 1900-1914: Die Einbindung der Eingriffe in das elterliche Sorgerecht in die justizförmige Sozialkontrolle Für die Zeit zwischen dem Inkrafttreten des BGB und dem ersten Weltkrieg lässt sich ein sehr viel genaueres Bild über die zahlenmäßige Entwicklung der Sorgerechtsentzüge und ihr Verhältnis zu den übrigen Maßnahmen justizförmiger Sozialkontrolle zeichnen, als dies für die vorangegangenen 15 Jahre möglich war. Die Jahresberichte der Vormundschaftsbehörde wiesen ab 1900 die Zahl der Eingriffe aufgrund § 1666 BGB differenziert nach den jeweils aberkannten Bestandteilen der elterlichen Sorge aus. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Eingriffe in die Personensorge bis 1921 im Vergleich zu den Zwangserziehungsmaßnahmen sowie den von der Behörde ergriffenen Maßregeln zur Sicherung des geistigen und leiblichen Kindeswohls.
1
STAH 354-2, A 3, Jahresbericht 1891. STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 18. 3 STAH 241-1 I, XXI B a 2 Vol. 20 2
Sorgerechtsentzug im Kontext justizförmiger Sozialkontrolle
471
Im hier interessierenden Zeitabschnitt von 1900 bis 1914 entzog die Vormundschaftsbehörde in insgesamt 1.768 Fällen, das heißt in durchschnittlich 118 Fällen pro Jahr die Personensorge oder die gesamte elterliche Gewalt. Dieser abrupte Anstieg der Fallzahlen von den geschätzten acht bzw. elf Fällen im Jahre 1894 auf mehr als das Zehnfache seit 1900 hatte im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen stand der Vormundschaftsbehörde mit dem Gemeindewaisenrat (GWR) nun ein weitverzweigtes Netz an ehrenamtlichen Waisenpflegern zur Verfügung, das ein flächendeckendes Aufspüren von „Gefährdungsfällen“ überhaupt erst möglich machte. An die Stelle der eher zufälligen Anzeigen durch die Bevölkerung und die Erstermittlungen durch die Beamten der Polizeibehörde war mit dem GWR ein einigermaßen leistungsfähiger Kontrollapparat getreten. Dieser arbeitete der Vormundschaftsbehörde im Sinne einer Gerichtshilfe zu und nahm damit quasi staatsanwaltschaftliche Aufgaben wahr.1 Zum anderen ist der abrupte Anstieg dadurch zu erklären, dass das BGB viele der früher bestehenden rechtlichen Unklarheiten beseitigte und vor allem den bisher praktizierten Eingriffen in die elterliche Personensorge den Boden entzog. Das Gesetz differenzierte die einzelnen Bestandteile des Sorgerechts aus. Gleichzeitig präzisierte und erweiterte der § 1666 BGB die Eingriffsvoraussetzungen der Vormundschaftsbehörde. Beides verschaffte Klarheit darüber, wann die Behörde befugt war zu intervenieren. Noch wichtiger war allerdings, dass mit Inkrafttreten des Gesetzes der automatische Eintritt der Anstaltsvormundschaften, auf den sich die Kindeswegnahmen von WHK und Armenanstalt bisher mehrheitlich gestützt hatten, seine Rechtsgrundlage verlor.2 Sowohl das WHK als auch die Armenanstalt sahen sich jetzt auf den gerichtlichen Weg verwiesen, wenn sie ein Kind gegen den Willen der Eltern in Waisenpflege geben oder seine Rückgabe an dieselben verhindern wollten. Der sprunghafte Anstieg von 1900 ist deshalb eher als ein Indiz für das Ausmaß der stillschweigenden behördlichen Eingriffspraxis vor der Jahrhundertwende zu werten denn als Beleg für die Ausweitung der staatlichen Sozialkontrolle seit Inkrafttreten des BGB.
1 Da die Dokumentation der Tätigkeiten des GWR nur sehr diskontinuierlich erfolgte, können hier nur einige wenige Zahlen wiedergegeben werden: In den Jahren 1907, 1908 u. 1909 trafen beim Gemeindewaisenrat 491, 470 resp. 416 Anzeigen über die Gefährdung Minderjähriger ein. 1907 ersuchte dieser die Vormundschaftsbehörde in nicht weniger als 251 Fällen um ein Einschreiten (STAH 354-2, A3, Jahresbericht des Waisenhauskollegiums für die Jahre 1907, 1908 u. 1909). 2 Vgl.: STAH 354-5 I, 23. Auch hier muss man sich mit vereinzelten Zahlenangaben begnügen. Nach dem Verwaltungsbericht des Waisenhauskollegiums aus dem Jahre 1907 hatte die Vormundschaftsbehörde in nicht weniger als 39 Fällen auf seine Veranlassung hin in das Personensorgerecht von Eltern eingegriffen – und zwar 19 Mal, weil die Eltern das Kind aus der Waisenpflege „reklamiert“ hatten und 20 Mal, weil sich „aus dem Verhalten der Eltern“ die Notwendigkeit zum Eingriff ergeben habe. STAH 354-2, A3, Jahresbericht des Waisenhauskollegiums für das Jahr 1907.
472
Die Praxis des Sorgerechtsentzugs
Grafik 6:
Vormundschaftsgerichtliche Maßregeln zur Sicherung des Kindeswohls und Zwangserziehung in Hamburg, 1900-1921
600
500
400
300
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E n tzie h u n g v o n e lte rl. G e w a lt o d e r P e rso n e n so rg e A n g e o rd n e te Z w a n g s e rzie h u n g M a ß re g e ln zu r S ich e ru n g d e s g e istig e n u n d le ib lic h e n K in d e sw o h ls
Geändert hatte sich vor allem der Modus der Eingriffe. An die Stelle der Kindeswegnahme im Rahmen einer paternalistischen Fürsorgekonzeption, welche die elterliche Einwilligung mit der angedrohten Kürzung der Armenunterstützung erwirkte oder vollendete Tatsachen schuf, indem sie die Kinder in öffentliche Erziehung brachte, war der Sorgerechtsentzug durch formellen Beschluss der Vormundschaftsbehörde getreten. Einen vergleichbaren Zusammenhang lässt sich auch in Bezug auf die Entwicklung der vormundschaftsgerichtlich angeordneten Zwangserziehung konstatieren. Auch hier verbarg sich hinter dem sprunghaften Anstieg von den jährlich 14 Fällen vor 1900 auf durchschnittlich 63 Fälle in der Zeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende die Tatsache, dass die Überweisung auf Beschluss der ZEB mit dem Inkrafttreten des BGB unzulässig geworden war und es ein praktisches Bedürfnis gab, den Wegfall der behördlichen Einweisung auszugleichen. Vergleicht man die Gesamtentwicklung der zur Zwangserziehung nach Ohlsdorf überwiesenen Kinder und Jugendlichen unmittelbar vor und nach der Jahrhundertwende, so stellte das Jahr 1900 keine eindeutige Zäsur in der Entwicklung
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dar.1 Das Auf und Nieder der Überweisungen scheint weit mehr von finanziellen Gesichtspunkten und den räumlichen Kapazitäten in der Ohlsdorfer Anstalt abhängig gewesen zu sein als von den gewandelten Zuständigkeiten bei der Anordnung der Zwangserziehung. Am Verlauf der in Grafik 6 dargestellten Kurven fällt zunächst auf, dass die von der Vormundschaftsbehörde vorgenommenen Entzüge der Personensorge die Überweisungen in Zwangserziehung bis 1907 deutlich überwogen und regelmäßig das Doppelte dieser Maßnahmen ausmachten. Die restriktive Auslegung des § 1666 BGB durch das Hanseatische OLG im Jahre 1904 führte in den Folgejahren zu einem vorübergehenden Abfall der Fallzahlen.2 Aber erst 1908, mit Inkrafttreten des neuen ZEG, das die Tatbestandsmerkmale der §§ 1666 und 1838 BGB als Voraussetzungen für die Zwangserziehung übernahm, änderte sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Sorgerechtsentzug und Zwangserziehung grundlegend: Die Entwicklung der Entzugszahlen war nun eher rückläufig und pendelte sich in den ersten Weimarer Jahren bei ungefähr 100 Fällen pro Jahr ein, während sich die Zwangserziehungszahlen – sieht man von dem sporadischen Abfall während der Kriegsjahre einmal ab – bei etwa 200 Fällen pro Jahr auf hohem Niveau stabilisierten. Der plötzliche Anstieg der Kurve der Zwangserziehungen im Jahre 1908 bei gleichzeitigem Rückgang der Fallzahlen beim Sorgerechtsentzug ist zu einem erheblichen Teil auf die rechtliche Ausdehnung des Gesetzes auf die „guten Kinder schlechter Eltern“ zurückzuführen.3 Maßgeblich für den Anstieg der Überweisungen in Zwangserziehung waren allerdings auch die gleichzeitige Erhöhung der Altersobergrenze von 16 auf 18 Jahre, die Ausweitung der Unterbringungskapazitäten durch die organisatorische Vereinigung von Zwangserziehung und Waisenpflege sowie eine bisher nicht gekannte Flut von Zwangserziehungsanträgen.4 Letztere kann ihrerseits auf die wenige Jahre zuvor erfolgte Schließung der Strafschule und die rege öffentliche Anteil-
1 Die Überweisungszahlen in die Ohlsdorfer Erziehungs- und Besserungsanstalt entwickelte sich um 1900 herum wie folgt: 1895: 54, 1896: 70, 1897: 42, 1898: 56, 1899: 47, 1900: 58; 1901: 71, 1902: 48; 1903: 59, 1904: 68. STAH 354-2, A 3, Jahresberichte 1895-1804. 2 Vgl. hierzu: Entsch. AG, 5.1904, Nr. 8, S. 14 ff. und Nr. 71, S. 154 ff. und zusätzlich die Kommentierung des letzten Falles in den BlHWpfl. 3/1904, Heft 5, S. 28 f. Zu den OLG-Beschlüssen im Einzelnen vgl. unten S. 609 ff. 3 In den ersten Jahren nach Inkrafttreten des ZEG bewegten sich die Anteile derjenigen Minderjährigen, die nach § 1 Ziffer 1 ZEG (§§ 1666 u. 1838 BGB) zur Zwangserziehung überwiesen wurden, zwischen 39% (1908) und 44,8 % (1910) aller gerichtlich angeordneten Überweisungen. Gleichzeitig sank die Zahl der auf Antrag des Waisenhauskollegiums und des GWR erfolgten Sorgerechtsentzüge in den Jahren 1907-1909 von 78 über 31 auf 20. Vgl. die Jahresberichte des Waisenhauskollegiums bzw. der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge 1907-1910 in: VerwBer. 1907-1910. 4 Vgl. hierzu: Petersen [1909b], S. 111 f. sowie zu den Gründen der Ausdehnung der Zwangserziehung außerdem ders. [1911], S. 36 ff.
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nahme an der Debatte um das ZEG zurückgeführt werden.1 Nach dem „Abarbeiten“ der aufgestauten Fälle, fiel die Kurve im Folgejahr wieder ab, um 1911 im Zuge der Eröffnung der Mädchenabteilung in Alsterdorf erneut anzusteigen. Nur 1914, zu Beginn des Krieges, sollten beide Kurven noch einmal für kurze Zeit zur Deckung kommen. Da das Berichtswesen in den Kriegsjahren stark reduziert wurde, lässt sich über die genauen Hintergründe dieser zahlenmäßigen Annäherung nur spekulieren.2 Anders als bei der Zwangserziehung geben die Jahresberichte des WHK und später der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge keine Auskunft darüber, wer die Eingriffe ins elterliche Sorgerecht bei der Vormundschaftsbehörde veranlasste. Vermutlich entsprachen die mehreren hundert Anzeigen, die alljährlich beim GWR über „gefährdete“ Kinder eingingen, ihrer Herkunft nach den Gesuchen, die der „Verein zum Schutze der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlung“ entgegennahm.3 Nach einer Aufstellung des Vereins für das Jahr 1909 entfielen von den 639 eingegangenen Anzeigen 28 Prozent auf Straf- bzw. Jugendgerichte, 21 Prozent auf Nachbarn und Verwandte, 18 Prozent auf andere städtische Behörden (Polizei, Schule oder Jugendbehörde), 17 Prozent auf die Mitarbeiter des Vereins sowie andere privatwohltätige Organisationen und 13 Prozent auf Eltern und Vormünder. Die restlichen 3 Prozent der Anzeigen waren anonym erfolgt.4 Auffällig ist der hohe Anteil der strafgerichtlichen Anzeigen, in dem sich das neue jugendfürsorgerische Tätigkeitsfeld der Jugendgerichtshilfe niederschlug, die der Verein in Hamburg eine Zeit lang ausübte. Daneben springt die relative Bedeutung von Anzeigen aus dem sozialen Umfeld und der Eltern selbst ins Auge, die zusammen mehr als ein Drittel aller Anzeigen ausmachten. Der Kinderschutzgedanke hat demnach in der Bevölkerung eine recht breite Akzeptanz besessen.
1
STAH 354-2, A 3 Jahresbericht für 1905 und 1906 u. Petersen [1911], S. 36 ff. Vermutlich als Reaktion auf den erneuten Anstieg der Jugendkriminalität in Hamburg hatten die an die Jugendbehörde gerichteten Gesuche zur Unterbringung „verwahrloster“ bzw. „gefährdeter“ Minderjähriger 1912 eine Rekordhöhe von knapp 2.000 Anzeigen jährlich erreicht. Durch diese Antragsflut dürfte der Druck auf die Behörde gestiegen sein, bei minder schweren Fälle, d.h. denjenigen, bei denen die Kinder und Jugendlichen noch keine manifesten Symptome der „Verwahrlosung“ zeigten, auf die Einleitung eines Zwangserziehungsverfahrens zu verzichten und stattdessen auf die kostengünstigeren „ambulanten Maßnahmen“ auszuweichen. Vgl. hierzu: BlHWpfl. 12/1913, Heft 3, S. 11 u. Uhlendorff [2003], S. 291 f. 3 Zwar waren sich die Vereinsgründer einig gewesen, dass eine Trennung von Eltern und Kindern möglichst zu vermeiden sei (Weber [2000], S. 33); da sich Kinderschutzverein und GWR hinsichtlich Zielsetzung, Organisation und Personal jedoch stark ähnelten, dürfte sich auch die Zusammensetzung der Anzeigenden nicht wesentlich unterschieden haben. Vgl.: STAH 611-20/13 1 u. 2, 1. Sitzung des Arbeitsausschusses vom 17. Mai 1907 (Protokollbuch II), S. 19. 4 STAH 611-20/ 13, 3, Bericht Bahnsons auf der Generalversammlung des Vereins 1910. 2
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Was die Erledigung der Anträge und Anzeigen durch die Vormundschaftsbehörde anbetrifft, so deuten die relative Höhe der von der Vormundschaftsbehörde zur Sicherung des Kindeswohls angeordneten Maßregeln (vgl. oben Grafik 6) sowie die auch in Hamburg schon bald einsetzenden Klagen über die geringe Bereitschaft der zuständigen Behörden, präventive Maßnahmen zum Schutz der Kinder vor „Verwahrlosung“ zu ergreifen 1, darauf hin, dass nur ein Bruchteil der eingegangenen Gesuche auch einen rechtlichen Eingriff in die Personensorge zur Folge hatte. Die oben erwähnten 251 Anzeigen, die der GWR 1907 mit einem entsprechenden Ersuch an die Vormundschaftsbehörde weitergeleitet hatte, hatten beispielsweise „nur“ zu 39 Eingriffen auf der Grundlage des § 1666 BGB geführt, was einer „Erfolgsquote“ von etwa 16 Prozent entspricht. Der GWR reagierte auf diese in seinen Augen „magere Ausbeute“, indem er in den Folgejahren nur noch jede fünfte bis sechste bei ihm eingetroffene Anzeige an die Vormundschaftsbehörde weiterleitete. Aber selbst nachdem diese Vorsorgemaßnahme getroffen worden war, führte nur etwa jede siebte Anzeige auch zum „Erfolg“.2 Etwas günstiger waren die Aussichten jener Eingriffsgesuche, die vom WHK aus Anlass von „Reklamationen“ bzw. der Widersetzlichkeit von Eltern an die Vormundschaftsbehörde gerichtet wurden: Den 31 Fällen, in denen das Kollegium oder die Direktion 1908/09 einen Sorgerechtsentzug erwirken konnten, standen vier abgelehnte Anträge gegenüber.3 Auch für die Zeit nach der Jahrhundertwende soll noch einmal ein Blick auf das zahlenmäßige Verhältnis von Strafrechtspflege und vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen zur Kontrolle abweichenden Jugend- und Elternverhaltens geworfen werden. Die folgende Aufstellung dokumentiert eine deutliche Verschiebung in der Gewichtung der beiden Reaktionsformen.Wie die Zahlen zeigen, dominierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die strafrechtliche Verfolgung die Reaktionsweisen auf deviantes Jugendverhalten. Aber die Verurteilungen Jugendlicher waren sowohl absolut als auch relativ gesehen deutlich zurückgegangen, was vor allem auf die schon erwähnte kriminalpolitische Wende Hamburgs am Ausgang des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist. Das gleichzeitige Aufholen der vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen legt jedoch die Vermutung nahe, dass wir es hier nicht sosehr mit einem Sanktionsverzicht, sondern vielmehr mit der beginnenden Substitution strafrechtlicher Sanktionen durch jugendfür1
Vgl.: BlHWPfl: 3/1904, Heft 5, S. 28 f. Von den 1908 beim GWR eingereichten 470 Anzeigen, waren 99 weitergeleitet und 15 mit einem Einschreiten nach § 1666 BGB beantwortet worden. 1909, als „nur“ noch 416 Anzeigen eintrafen, schritt die Vormundschaftsbehörde nur in fünf der 73 ihr zur Kenntnis gebrachten Fälle mit einem Sorgerechtsentzug ein. STAH 354-2, A3, Jahresbericht des Waisenhauskollegiums für die Jahre 1907, 1908 u. 1909. 3 Ebd. 2
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Tabelle 9: Entwicklung justizförmiger Sozialkontrolle in Hamburg 1900-1914
sorgerische Maßnahmen unter der Devise „Erziehung statt Strafe“ zu tun haben. Da außer in den Fällen des § 56 RStGB, denen auch nach der Jahrhundertwende nur eine marginale Bedeutung zukam1, eine einfache Verschiebung eines Falls vom einen in das andere Verfahren aufgrund der organisatorischen Trennung von Straf- und Vormundschaftsgericht nicht möglich war, ist es erforderlich, die hier stattfindende Verlagerung etwas genauer zu untersuchen. Erste Anhaltspunkte für die sich anbahnende Umorientierung justizieller Sozialkontrolle lassen sich den Gewichtsverlagerungen innerhalb der strafrechtlichen Sanktionspalette entnehmen. Einem allgemeinen Trend folgend gewann der „Verweis“ eine zunehmende Bedeutung, während der Anteil der mit Gefängnis bestraften Minderjährigen langsam zurückging.2 In Zahlen ausgedrückt: 1904 wurden zwei von fünf verurteilten Kindern bzw. Jugendlichen, also 40 Prozent, mit einem „Verweis“ bestraft. 1899 waren es erst 33,4 Prozent aller Verurteilten unter 18 Jahren gewesen.3 Auch bei den Vorstrafen der Ohlsdorfer Zöglinge gab 1 Im Zeitraum zwischen 1900-1909 waren insgesamt 1.050 gerichtlich angeordnete ZE-Maßnahmen zu verbuchen gewesen. Nur 61 von ihnen, d.h. 5,8%, waren auf der Grundlage des § 56 RStGB angeordnet worden. STAH 354-2 A3, Jahresberichte 1900-1909. 2 Vgl.: Oberwittler [2000], S. 259. 3 „Hamburgischer Correspondent“ vom 5.2.1909.
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es bedeutende Verschiebungen, die auf ein gewandeltes Verhältnis zwischen Strafrechtspflege und Zwangserziehung hindeuten.1 Eine weitere Möglichkeit, sich dem Wechselverhältnis von zivilrechtlicher und strafrechtlicher Verhaltenskontrolle zu nähern, besteht in der Analyse des Anzeigeverhaltens. Auch in den sieben Jahren nach der Jahrhundertwende entfiel mit annähernd 35 Prozent der größte Teil der Zwangserziehungsanträge auf die Oberschulbehörde. Die zweite Hauptgruppe von Antragstellern bildeten wie bisher Eltern und Vormünder. Sie waren bereits für ein Drittel aller Anträge verantwortlich.2 Bemerkenswert ist jedoch, dass die Staatsanwaltschaft vermehrt als Initiator von Zwangserziehungsmaßnahmen auftrat: Während 1895-1899 von den insgesamt 419 gestellten Anträgen nur 24 auf die Staatsanwaltschaft zurückgingen, waren es 1900-1906 schon 91 von 832, was einer Steigerung von immerhin fünf Prozent entsprach. Auch die Erfolgsaussichten der von den Strafverfolgungsbehörden ausgehenden Zwangserziehungsanträge hatten sich augenscheinlich inzwischen verbessert. Ende des 19. Jahrhunderts waren noch vier von fünf Anträgen von der ZEB bzw. der Vormundschaftsbehörde abgelehnt worden. Nach der Jahrhundertwende traf dies nur noch auf zwei von drei Anträgen zu.3 All diese Veränderungen stützen die Vermutung, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Hamburg zu einer besseren Abstimmung von kriminalpolitischen und jugendfürsorgerischen Zielsetzungen kam. Der zentrale Wirkmechanismus der beobachteten Verschiebung begann allerdings erst 1908/09 zu greifen und steht in engem Zusammenhang mit der organisatorischen Angliederung des Zwangserziehungswesens und der Jugendgerichtshilfe beim WHK sowie dem zeitgleich einsetzenden Ausbau „ambulanter Erziehungsmaßnahmen“. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Artikel aus dem Jahre 1910, in dem sich Johannes Petersen mit der Abnahme der Jugendkriminalität in Hamburg befasst.4 1
Eine Zusammenstellung der in den Jahresberichten der Zwangserziehungsbehörde gesammelten Daten zum Vorleben der neu aufgenommenen „Zöglinge“ ergibt, dass die „Strafschule“ im „Vorstrafenregister“ v.a. der weiblichen Zöglinge an Bedeutung verloren hatte. Im Gegenzug hatte das Gewicht der strafrechtlichen Vorstrafen zugenommen. Weil schulentlassenene Mädchen in Ohlsdorf nicht aufgenommen wurden, waren vorbestrafte weibliche Jugendliche in der Anstalt unterrepräsentiert. Dagegen hatte jetzt annähernd die Hälfte aller männlichen Zöglinge bereits Bekanntschaft mit dem Strafrichter gemacht. (Jahresberichte der Zwangserziehungsbehörde 1887-1906 in: VerwBer. 1887-1906). 2 Im Zeitraum 1895-1899 hatte ihr Anteil noch bei 25,1% gelegen. 3 Immer seltener regte demgegenüber die Polizeibehörde direkt die Zwangserziehung bei der zuständigen Behörde an. Wenn dies aber einmal geschah, so waren die Erfolgsaussichten der polizeilichen Anträge recht günstig: Von den 34 im Zeitraum 1900-1906 gestellten Anträgen, waren „nur“ zwölf von der Zwangserziehungs- bzw. Vormundschaftsbehörde abgelehnt worden. Eine „bessere“ Quote erzielten nur noch die pädagogischen Fachbehörden, d.h. die Oberschulbehörde und das Waisenhauskollegium. 4 BlHWplf. 9/1910, Heft 5, S. 20.
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Der Direktor der Jugendbehörde führte die rückläufigen Verurteilungszahlen auf zwei Faktoren zurück: die spezialpräventive Wirkung, welche die Zwangserziehung unter der Leitung der Jugendbehörde entfalte, und die Ermittlungen der Behörde in ihrer Eigenschaft als Jugendgerichtshilfe. Er betonte, dass es nicht Sinn und Zweck der Jugendgerichtshilfe sei, schuldige Minderjährige vor einer Verurteilung zu schützen. Gleichwohl habe es sich gezeigt, dass viele Jugendliche aufgrund der Ermittlungstätigkeit seiner Beamten nicht gerichtlich bestraft zu werden brauchten. Ein Plädoyer für ein gänzliches Absehen von staatlichen Eingriffen war dies allerdings nicht, wie aus den nachgeschobenen Äußerungen hervorgeht: „Andererseits darf nicht vergessen werden, daß allein mit der Straffreiheit noch nichts Positives erreicht worden ist. Man kann noch nicht sagen, daß im Jahre 1909 weniger kriminelle Taten von Jugendlichen begangen worden sind. [...] Es darf nicht ein Jugendlicher, der mit dem Gericht in Berührung kam und glimpflich davon kam, sich sagen: Einmal ist keinmal! Jeder Jugendliche, der mit dem Strafgericht zu tun hatte, muß, auch wenn er wegen mangelnder Einsicht freigesprochen worden ist, dennoch die Erinnerung daran behalten und mit allen verfügbaren Mitteln vor Wiederholung von Straftaten bewahrt werden. Wo die Familie dazu zu schwach ist, muß eben die Hilfe der Behörden und ihrer Organe oder der Vereine eintreten. Sonst könnte der Segen, der in der Abnahme der Zahl verurteilter Jugendlicher liegt, sich in das Gegenteil verkehren."1
Unter „Hilfe“ verstand Petersen die Ausdehnung der Ermittlungs- und Kontrolltätigkeiten zu so genannten Erziehungsaufsichten unter Ausnutzung der abschreckenden Wirkung von gerichtlicher Verurteilung und Zwangserziehung.2 In einer Rede vor den Kreisversammlungen im Jahre 1912, die sich mit den Erziehungsaufsichten befasste, spitzte er diesen Gesichtspunkt noch einmal zu, indem er betonte: „Also nochmals: Tunlichst ausgedehnte Erziehung der Gefährdeten durch Aufsicht in der Familie, aber mit vollem Ernst ausgeübte Hilfe, das tut uns not. Und dabei darf gern, um den Ernst voll zum Ausdruck kommen zu lassen, mit der Zwangserziehung gedroht werden.“3 Erst durch diese systematische Ausnutzung der generalpräventiven Wirkung der Zwangserziehung fügte sich die Praxis der „überwachten Freiheit“, mit der die Vormundschaftsbehörde schon in den 1880er und 1890er Jahren experimentiert hatte, in den institutionellen Gesamtzusammenhang staatlicher Jugendfürsorge ein. In der organisatorischen Vereinigung der Gerichtshilfe im Sorge1
Ebd. Vgl.: BlHWpfl. 7/1908, Heft 4, S. 22 u. Petersen [1912a], S. 35-38. Vgl. hierzu oben Abschnitt 3.3.2.3. 3 A.a.O., S. 38. 2
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rechts-, Zwangserziehungs- und Strafverfahren in der Hand des WHK und später der Jugendbehörde lag der eigentliche Schlüssel für die Neujustierung des Verhältnisses zwischen Strafrechtspflege und öffentlicher Jugendfürsorge in Hamburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie stellte die organisatorische Basis für das „Verschieben“ von Fällen aus dem Strafverfahren in das Zwangserziehungsverfahren bereit, ohne dass es hierzu einer Personalunion von Vormundschaftsund Strafrichter oder einer rechtlichen Regelung der „Erziehungsaufsichten“ bedurft hätte.1 Auch für Hamburg lässt sich somit Oberwittlers an Preußen gewonnener Befund bestätigen, wonach es bereits um 1908, das heißt deutlich vor den großen gesetzlichen Reformen zu Beginn der Weimarer Republik, zu einer grundlegenden Veränderung der Kontrollpraxis der Jugenddelinquenz gekommen sei, indem straffällige Kinder und Jugendliche massenhaft vom straf- zum vormundschaftlichen Verfahren umgeleitet wurden.2 Anders als in Preußen, wo den Staatsanwälten offenbar die tragende Rolle in diesem Prozess zukam und die Gerichtshilfen gleichsam nur als „Instrumente“ der erweiterten Sozialkontrolle fungierten, war in Hamburg jedoch die „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ unter der Leitung ihres damaligen Direktors Johannes Petersen Impulsgeber und zentrale Schaltstelle für die Umverteilung. Bereits im Zusammenhang mit der Debatte um das Hamburger ZEG von 1907 wurde die Frage erörtert, inwieweit sich die Verhältnisse in Hamburg von denjenigen in Preußen unterschieden. Vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Differenzen bezüglich des praktischen Zusammenwirkens von Strafverfolgungsund Jugendfürsorgebehörden in beiden Staaten und der statistischen Angaben über die Anwendung der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen der einschlägigen Landesgesetze lässt sich auf diese Frage nunmehr eine deutlich konkretere Antwort geben. Schon Johannes Petersen war eifrig darum bemüht gewesen, die besondere präventive Stoßrichtung der Hamburger öffentliche Jugendfürsorge gegenüber Fachkollegen auf der Basis von „harten Fakten“ herauszustellen und sie zur Nachahmung zu empfehlen. Nach nur einjähriger Wirkungsdauer des novellierten ZEG stellte er im „Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung“ einen Vergleich zwischen der Anwendung der Fürsorgeerziehung in Berlin und den Erfolgen des Hamburger Gesetzes an, der eindeutig ausfiel: Sowohl hinsichtlich der absoluten Zahlen als auch des Alters der „Zöglinge“ und nicht zuletzt den Gründen der Überweisung schnitt die Hamburger Jugendfürsorge deutlich „besser“ ab als Berlin, was heißen sollte, dass sie in jeder Hinsicht stärker am Gesichtspunkt der Prophylaxe orientiert war.3 Diese Behauptung, die geeignet war, 1 Aufschlussreich in dieser Hinsicht sind insbesondere Petersens Ausführungen in: BlHWpfl.: 7/1908 Heft 4, S. 22. 2 Oberwittler [2000], S. 304 ff. 3 Petersen [1909b], S. 124 ff.
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das Ansehen der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge noch weiter auszubauen, ist in der historischen Forschung inzwischen von verschiedenen Seiten relativiert worden. So weist z.B. Roth in seiner komparativ angelegten Studie zur großstädtischen Kriminalitätsbekämpfung während des Kaiserreichs in Bezug auf den von Petersen angestellten Vergleich darauf hin, dass auch in Berlin die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen aufgrund „allgemeiner Verwahrlosung“ in Fürsorgeerziehung kam.1 Entscheidend sei, dass auch in der Reichshauptstadt nicht in erster Linie Devianz und Kriminalität der Minderjährigen den Anlass zu staatlichen Interventionen gegeben habe, sondern ganz allgemein fehlende Sozialisationsleistungen. Dieses Argument geht allerdings insofern an der Behauptung Petersens vorbei, als in Berlin und Hamburg auf die Tatbestandsmerkmale des § 1666 BGB, die sowohl Eingang in das Preußische Fürsorgeerziehungsgesetz (FEG) als auch in das Hamburger ZEG von 1908 gefunden hatten und in denen von „Verwahrlosung“ überhaupt keine Rede war, in ganz unterschiedlichem Maße zurückgegriffen wurde. Das galt nicht etwa nur für das Jahr 1908, für das die preußische Zwangserziehungsstatistik nachträglich die Berliner Vergleichszahlen lieferte, sondern für die gesamten Jahre bis zum Kriege: Während in Hamburg die gerichtlichen Anordnungen nach § 1 Ziffer 1 ZEG bei durchschnittlich etwas über 39 Prozent aller Anordnungen lagen, bewegten sich die Vergleichswerte für Berlin bei gerade einmal 3,8 Prozent.2 Der „Verwahrlosungs“-Begriff war zwar dehnbar, aber nicht in dem Maße, dass man ohne Weiteres auch die „guten Kinder schlechter Eltern“ unter ihn hätte subsumieren können. Wäre dies der Fall gewesen, wäre die ganze Debatte um die Neufassung des Art. 1 § 1 des Preußischen FEG, zu der Petersen mit seinem Vergleich einen Beitrag liefern wollte, gegenstandslos gewesen. Die folgende Aufstellung gibt den unterschiedlichen Anteil der nach § 1666 BGB in Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung überwiesenen Minderjährigen an der Gesamtzahl der Überwiesenen für die Jahre 1901 und 1911 für Preußen, Berlin und Hamburg wieder.3 Es wird daraus ersichtlich, dass es gravierende Unterschiede in der Jugendfürsorgepolitik zwischen Preußen und dem Hamburger Stadtstaat, vor allem aber zwischen der Reichshauptstadt und Hamburg gab. In Preußen, mehr
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Roth [1997], S. 418 f. Die Prozentwerte beziehen sich im Falle Berlins auf den Zeitraum 1908-1912 und im Falle Hamburgs auf die Jahre 1908-1913. Stat. Jahrbuch Preußen, 8-12./1910-1914, S. 285, 463, 524, 510 u. 518 (eigene Berechnung) und Jahresberichte des Waisenhauskollegiums und der Behörde für öffentliche Jugendfürsorge für die Jahre 1908-1913 in: STAH 354-2, A3. Die von Petersen [1909b], S. 125 für 1908 angegebenen 28% sind deshalb irreführend, weil sie sich auch auf die „freiwilligen“ Zwangserziehungsmaßnahmen bezogen. 3 1901 waren die „guten Kinder schlechter Eltern“ noch nicht ins Hamburger Zwangserziehungsgesetz einbezogen, weshalb hier Vergleichszahlen fehlen. 2
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Tabelle 10: Die Anordnung vorbeugender Zwangs- bzw. Fürsorgeerziehung in Hamburg, Berlin und Preußen im Vergleich
noch aber in Berlin blieb die Fürsorgeerziehung Anfang der 1910er Jahre noch ganz überwiegend den „verwahrlosten“ Kindern und Jugendlichen vorbehalten. Allerdings wäre es voreilig, wollte man im Umkehrschluss daraus ableiten, dass sich die preußische und berlinerische Jugendfürsorgepolitik durch Untätigkeit gegenüber den „gefährdeten Kinder“ ausgezeichnet hätte. In dieser Beziehung ist der von Oberwittlers formulierte Einwand gegen die ungeprüfte Übernahme des in Fürsorgerkreisen des Kaiserreichs vertretenen Standpunktes von der praktischen Bedeutungslosigkeit des § 1666 BGB aufschlussreich.1 Für die Jahre 1906, 1908 und 1909 konnte er zeigen, dass auch die preußischen Vormundschaftsgerichte neben der vorbeugenden Fürsorgeerziehung noch einen sehr umfangreichen Gebrauch von den selbständigen Bestimmungen des § 1666 BGB machten, das heißt den Eltern die Personensorge entzogen und einen Trennungsbeschluss herbeiführten. 1906 kamen in Preußen beispielsweise auf drei Überweisungen in Fürsorgeerziehung zwei Beschlüsse nach § 1666 BGB. 1909 hatte sich das Verhältnis etwas „verschlechtert“, aber auch jetzt noch kam auf zwei Fürsorgeerziehungsbeschlüsse ein Entzugs- bzw. Trennungsbeschluss.2 Noch wichtiger als die Hervorhebung der quantitativen Bedeutung der Sorgerechtsentzüge ist allerdings sein Hinweis darauf, dass die meisten der durch das Vormundschaftsgericht als „gefährdet“ eingestuften und von ihren Eltern ge-
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Oberwittler [2000], S. 145. 1906/1909 wurden in Preußen 6.923 resp. 8099 Mal auf der Grundlage des Fürsorgeerziehungsgesetzes interveniert. Dem standen an Anordnungen nach § 1666 BGB 4566 (1906) bzw. 3960 (1909) Fälle gegenüber. Ebd. 2
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trennten Kinder sich später auch in öffentlichen Erziehungseinrichtungen, ihres tendenziell jüngeren Alters wegen vor allem in Pflegefamilien wiederfanden. Leider liegen keine differenzierten Daten für die vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 BGB für Preußen und Berlin vor. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen, welche die Vertreter der kommunalen Armenfürsorge über die Qualitätsunterschiede in der Armenfürsorge zwischen Stadt und Land führten und der hervorgetretenen Diskrepanzen in der Anwendung der vorbeugenden Fürsorgeerziehung in Preußen und Berlin (vgl.: Tab. 10) kann vermutet werden, dass sich eine Doppelgleisigkeit im Umgang mit den „gefährdeten Kindern“ und „verwahrlosten Jugendlichen“ entwickelt hatte: In großen Städten, allen voran natürlich in Berlin, hat man die Fürsorgeerziehung offenbar den devianten Jugendlichen vorbehalten. Gegenüber den gefährdeten Kindern behalf man sich demgegenüber mit einem Trennungsbeschluss auf der Grundlage des § 1666 BGB, weil auch die großstädtische Armenfürsorge so gut ausgebaut war, dass eine Unterbringung auf armenrechtlicher Grundlage vertretbar erschien. Die Vormundschaftsgerichte, die für die kleineren Städten und das Land zuständig waren, bemühten sich dagegen allem Anschein nach weiterhin möglichst viele „gefährdete Kinder“ in Fürsorgeerziehung zu bringen, weil sie die Jugendfürsorgetätigkeit der kleineren Ortsarmenverbände für fachlich unzureichend und tendenziell unterfinanziert hielten. Mit Bezug auf die Hamburger Verhältnisse lässt sich demnach sagen, dass durch die im Vergleich zum Preußischen FEG großzügigere Fassung der Tatbestandsvoraussetzungen in § 1 Ziffer 1 ZEG, insbesondere aber durch die bestehenden Besonderheiten auf verwaltungsorganisatorischer Ebene (weitgehende Einheit von Kommune und Staat, Identität der Kostenträgerschaft), die vorbeugende Fürsorge besonders frühzeitig zum Zuge kam. Auch die preußischen Vormundschaftsrichter hatten sich allerdings mit dem bestehenden Rechtszustand recht gut arrangiert. In beiden Staaten rückten die „gefährdeten Kinder“ immer stärker ins Zentrum der Gerichtstätigkeit. Die rein zahlenmäßige Ausdehnung der Interventionen zugunsten „guter Kinder schlechter Eltern“ sagt allerdings noch nichts über die inhaltliche Ausgestaltung der staatlichen bzw. kommunalen Fürsorgetätigkeit aus. Das Hamburger Modell bestach die Zeitgenossen nicht nur durch die relativ solide Kostenregelung, die in Bezug auf die „gefährdeten Kinder“ getroffen worden war. Es überzeugte die Fürsorgevertreter anderer großstädtischer Kommunen vor allem deshalb, weil es die „vollständige Jugendfürsorge“ zu einem einheitlichen, gestuften System ausgestaltete, das sich an den pädagogischen Bedarfslagen der Minderjährigen und nicht am Rechtsgrund ihrer Überweisung zu orientieren schien.
Das Sorgerechtsverfahren in der Praxis
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5.5 Die Ausgestaltung des Sorgerechtsverfahrens in der Praxis Die Untersuchung der quantitativen Entwicklung der vormundschaftsgerichtlichen Kontroll- und Interventionstätigkeit hat ergeben, dass den gerichtlichen Maßnahmen zum Schutz „gefährdeter Kinder“ im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine wachsende Bedeutung zukam. Gezeigt werden konnte überdies, wie die unterschiedlichen rechtlichen und jugendfürsorgerischen Maßnahmen zur Kontrolle devianten Kindes- und Erziehungsverhaltens zu einem einheitlichen System ausgebaut wurden, mit dem Störungen der familialen Sozialisation möglichst frühzeitig erfasst und durch pädagogische Maßnahmen beseitigt werden sollten. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie die vormundschaftsgerichtliche Eingriffspraxis konkret „funktionierte“, wer mit welchem Interesse „Gefährdungsfälle“ bei der Vormundschaftsbehörde anzeigte und wie die persönlichen Lebensumstände und Sachverhalte, auf welche die Entscheidungen abstellten, ermittelt wurden. Nicht zuletzt soll der Frage nachgegangen werden, welches elterliche Verhalten überhaupt als „gefährdend“ eingestuft wurde. Die Darstellung basiert auf einer eingehenden qualitativen Untersuchung von 184 mehr oder weniger vollständig dokumentierten Hamburger „Sorgerechtsfällen“. 92 von ihnen stammen aus der Zeit vor und 92 aus der Zeit nach 1900.1 Die Darstellung der Untersuchungsergebnisse orientiert sich am Verlauf des Absetzungs- bzw. Entzugsverfahrens. In einem ersten Schritt wird zunächst auf die soziale Herkunft der betroffenen Familien eingegangen (5.5.1), um darauf aufbauend das Anzeigeverhalten und die unterschiedlichen Anlässe der vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen zu untersuchen (5.5.2). In einem dritten Hauptabschnitt wird die methodische Ausgestaltung des „Ermittlungsverfahrens“ nachgezeichnet und die Verhandlung von sozialen Normen in Bezug auf Arbeit, Geschlecht und Erziehung rekonstruiert (5.5.3). Die formelle und inhaltliche Gestaltung der Entzugsbeschlüsse ist Gegenstand des Abschnitts 5.5.4, in dem auch die Ausdeutung der unbestimmten Rechtsbegriffe und Tatbestandsvoraussetzungen des § 1666 BGB durch die Vormundschaftsbehörde untersucht wird. Den Abschluss bildet eine Analyse des Rechtsmittelgebrauchs sowie der Umsetzung der Beschlüsse durch die staatlichen Behörden (5.5.6).
5.5.1 Soziale Herkunft und Wohnort der betroffenen Familien Zur Feststellung der sozialen Herkunft der Familien, die Gegenstand vormundschaftsgerichtlicher Ermittlungen wurden, bieten sich zwei Indikatoren an: Der 1 Eine eingehende Darstellung der Vorgehensweise bei Auswahl und Analyse der Akten ist über den „OnlinePlus“-Service des VS-Verlags abrufbar unter: www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/.
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Beruf der Eltern und der Wohnort der Familien.1 Für die Zeit vor 1900 liegen zu 58 „Sorgerechtsfällen“ Angaben über den ausgeübten Beruf des Vater, der Mutter oder beider Elternteile vor. Für den Zeitraum 1900-1914 liegen dagegen nur zu 43 „Fällen“ entsprechende Daten vor. Die folgende Grafik gibt die Anteile der einzelnen Berufskategorien wieder.2 Grafik 7:
Soziale Herkunft der von Sorgerechtsverfahren betroffenen Familien nach dem Beruf der Eltern Soziale Herkunft der Familien nach Beruf der Eltern
ungelernte Arbeiter/innen: 37% (an-)gelernte Arbeiter/Arbeite nnen: 23%
"unehrenhafte Berufe" 17%
Sonstige 4%
kl. Selbständige 13%
kleine Angestellte 6%
Der überwiegende Teil der Familien bzw. Eltern, die ins Visier der Vormundschaftsbehörde gerieten, stammte, wie sich Grafik 7 entnehmen lässt, aus der Arbeiterschaft. Unter diesen überwogen wiederum die ungelernten Arbeiter bzw. Arbeiterinnen deutlich. Regelmäßig hielten sich solche Familien nur sehr notdürftig mit Gelegenheitstätigkeiten über Wasser. Sie standen bereits am unters1 Die genauen Einkommensverhältnisse konnten nur ausnahmsweise ermittelt werden. Insbesondere dann, wenn nur die Beschlüsse der betroffenen Familien sind den Beschlüssen 2 Die Kategorisierung nach Berufsgruppen birgt eine ganze Reihe möglicher Fehlerquellen. Abgesehen davon, dass die Zuverlässigkeit der gemachten Angaben in vielen Fällen zweifelhaft erscheint, wirft v.a. die Abgrenzung von „gelernten“ und „ungelernten“ Arbeitern sowie von „Handwerkern“ und „gelernten Arbeitern“ Schwierigkeiten auf, die nur durch den Einbezug weiterer Informationen aus den Personenakten einigermaßen zufriedenstellend gelöst werden konnten.
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ten Rand der Gesellschaft. Marginaler war höchstens noch die Stellung derjenigen Väter und Mütter, die hier der Kategorie der „unehrenhafte Berufe“ zugeordnet wurden. Sie waren mit 17 Prozent allem Anschein nach in der Stichprobe stark überrepräsentiert. Auch die wenigen im Sample enthaltenen Angestellten und Selbständigen lebten zumeist in sehr bescheidenen Verhältnissen und sind der sozialen Lage nach der städtischen Unterschicht zuzurechnen. Der in der Einleitung vorgestellte Buchbinder Köhnsen ist hierfür ein gutes Beispiel. In einer vergleichbar prekären sozialen Lage befanden sich auch viele Wirte, Barbiere und Kleinhändler. Die wenigen „Angestellten“, über die Akten angelegt wurden, befanden sich ebenfalls in subalternen Stellungen. Noch deutlicher wird die gesellschaftliche Randstellung der betroffenen Familien, wenn man ihren Wohnort untersucht. Die meisten Eltern und Kinder, deren häusliche Verhältnisse von der Vormundschaftsbehörde oder den von ihr ernannten Spezialvormündern vor der Jahrhundertwende untersucht wurden, lebten in den baufälligen Innenstadtquartieren, das heißt vor allem den Gängevierteln der Neu- und Altstadt.1 Es gab allerdings Ausläufer in nord-westlicher und süd-östlicher Richtung: Zahlreiche „Fälle“ kamen aus dem nördlichen St. Pauli sowie dem südlichen Eimsbüttel, und auch die am Hammerbrook, in Teilen des nördlichen St. Georgs und auf dem Billwerder Ausschlag lebenden Eltern waren anscheinend besonders „anfällig“, bei der Vormundschaftsbehörde aktenkundig zu werden. Für die Zeit nach 1900 liegen nur sehr vereinzelt Angaben zum Wohnort der Familien vor. Anhand dieser Angaben gewinnt man den Eindruck, dass sich die räumlichen Konzentrationen allmählich auflösten, was sich mit dem flächendeckenden Ausbau des waisenrätlichen Kontrollnetzes unmittelbar nach der Jahrhundertwende auch plausibel erklären ließe. Zieht man zusätzlich andere Quellen zu Rate, so zeigt sich allerdings, dass die beobachtete Diffusion in erster Linie ein Ausdruck der spärlichen Dokumentation entsprechender Fälle ist. So versuchte Paul Riebesell 1922, der amtierende zweite Direktor der Jugendbehörde, in einem in den „Blättern“ erschienen Artikel dem Einfluss der wirtschaftlichen Verhältnisse auf die „Verwahrlosung“ Jugendlicher auf die Spur zu kommen, indem er sämtliche Fälle, die in den vergangenen 14 Jahren in der Abteilung für Zwangserziehung „anhängig“ geworden waren, nach dem letzten Wohnort der betreffenden Minderjährigen auswertete und sie mit der Einwohnerzahl, der Wohndichte und dem Durchschnittseinkommen der einzelnen Stadtteile verglich.2 Da der Großteil der von Riebesell ausgewerteten „Fälle“ auf den 1 Vgl. hierzu die über den „OnlinePlus“-Service des VS-Verlags unter: www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/ abrufbare Karte. 2 Riebesell [1922]. Riebesell kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der von Emil Münsterberg geprägte Satz, es gebe eigentlich gar keine „verwahrlosten“ Jugendlichen, sondern nur „verwahrloste Verhält-
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Zeitraum 1908-1915 entfiel und die „guten Kinder schlechter Eltern“ – wie oben gezeigt werden konnte – einen hohen Prozentsatz an de Zwangserziehungszöglingen ausmachten, können aus der zeitgenössischen Erhebung auch Rückschlüsse auf die Verteilung der „Missbrauchs-“ und „Vernachlässigungsfälle“ gezogen werden. Setzt man das von Riebesell zusammengestellte Zahlenmaterial kartografisch um, so zeigt sich tatsächlich eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der regionalen Verteilung der „Sorgerechtsfälle“ aus der Zeit vor der Jahrhundertwende.1 Auch nach dem Inkrafttreten des BGB, so kann demnach mit einiger Bestimmtheit gesagt werden, kamen die meisten Eltern, gegen welche die Vormundschaftsbehörde wegen vermuteter „Kindeswohlgefährdung“ ermittelte, aus den ärmsten Teilen der Stadt. Es lässt sich neben der Einkommensarmut der in den Gängevierteln und den elbnah gelegenen neuen Arbeitervororten lebenden Bevölkerung allerdings noch eine andere Erklärung für die lokal stark ausgeprägten „Verwahrlosungstendenzen“ geben. Im Zusammenhang mit der Erörterung des organisatorischen Ausbaus des WHK wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Größe der Waisenpflegebezirke danach festgesetzt wurde, wie der vermeintliche oder tatsächliche Bedarf an Jugendfürsorgemaßnahmen gesehen wurde.2 Das heißt aber zugleich, dass die Kontrolldichte in den Gängevierteln höher war, als in andern Stadtteilen. Das hier besonders viele deviante Jugendliche registriert wurden, könnte demnach zumindest zum Teil auch an der vergleichsweise starken Präsenz der Waisenpfleger im Quartieren gelegen haben.
5.5.2 Ausgangskonflikte, Anzeigeverhalten und Interventionsanlässe Die Rekonstruktion der Ausgangskonflikte auf der Grundlage der Personenakten wirft zwei methodische Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf: Zunächst einmal lässt sich die Annahme, einer Intervention seitens der Vormundschaftsbehörde sei stets ein Konflikt vorausgegangen, vor dem Hintergrund gut gesicherter kriminologischer Erkenntnissen über den Verlauf von Karrieren abweichenden Verhaltens problematisieren. Tendenziell, so könnte man einwenden, nisse“, zwar im Großen und Ganzen zutreffend sei, relativierte ihn allerdings dahingehend, „daß die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht alles bedeuten, daß vielmehr die Persönlichkeit der Eltern eine wesentliche Rolle spielt, so daß trotz schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse in manchen Stadtteilen niedrige Verwahrlosungsziffern zu finden sind. Gute wirtschaftliche Verhältnisse sind eine gute Grundlage für eine geordnete Erziehung, alleinbestimmend sind sie aber nicht.“ (Ebd., Hervorhebung im Original) 1 Vgl. hierzu die über den „Online-Plus“-Service des VS-Verlags unter www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/ abrufbare Karte. 2 Vgl. oben Abschnitt: 3.3.1.2.
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läuft diese Annahme auf eine missverständlichen Deutung der Gerichtspraxis insgesamt hinaus. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob es nicht ein aussichtsloses Unterfangen ist, sich auf der Grundlage der überlieferten Vormundschaftsakten um eine zweite, nachträgliche Wirklichkeitsdeutung der zugrunde liegenden Sachverhalte zu bemühen. Wird damit nicht implizit behauptet, eine solche Rekonstruktion habe einen höheren Geltungsanspruch als die seinerzeit vom Gericht vorgenommene „Tatsachenfeststellung“? Beide Einwände sind gravierend und müssen deshalb vorab kurz erörtert werden. Hinsichtlich der ersten Problemstellung ist zunächst eine begriffliche Präzisierung erforderlich. Mit „Ausgangskonflikten“ sind hier nicht nur Konflikte zwischen Eltern und Kindern bzw. Familien und ihrem weiteren sozialen Umfeld gemeint, Auseinandersetzungen also, die sich in Anlehnung an die Habermassche Unterscheidung von System und Lebenswelt als „lebensweltlich“ klassifizieren lassen.1 Gedacht ist auch an Konflikte, die sich zwischen Privatpersonen und Behörden sowie zwischen Behörden untereinander entspannten. Es gab selbstverständlich auch Personenakten, in denen jede Spur von einem Ausgangskonflikt fehlte, was dadurch zu erklären ist, dass es einen solchen Konflikt entweder nie gegeben oder die Auseinandersetzung einfach keinen Niederschlag in den Akten gefunden hatte. Dennoch ist es hilfreich davon auszugehen, dass der Ermittlungs- und Eingriffstätigkeit der Vormundschaftsbehörde zumeist ein handfester Konflikt zwischen zwei oder mehreren Parteien zugrunde lag und eine der Parteien die Sache der Vormundschaftsbehörde zur Kenntnis brachte. Unter forschungsstrategischen Gesichtspunkten lässt sich dadurch zum einen eine Erweiterung der Perspektive erreichen, die den Blick auf die gesellschaftliche Einbindung der Gerichtspraxis lenkt und damit eine vorschnelle Fixierung auf die Akteure und Instanzen der formellen Sozialkontrolle vermeidet. Zum anderen erscheint eine solche Annahme auch den realen historischen Verhältnissen besser zu entsprechen als die Vermutung, im Kaiserreichs hätten die staatlichen Instanzen grundsätzlich von „außen“ oder „oben“ in das an sich unproblematische Familienleben der Unterschicht eingegriffen. Tatsächlich agierte die Vormundschaftsbehörde zu Beginn unseres Untersuchungszeitraumes nicht nur als Interventions- sondern auch als Schieds- oder Schlichtungsinstanz. Dass das aber so 1
Habermas unterscheidet in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ drei Aspekte der Lebenswelt, die in den verschiedenen Handlungs- und Sprechsituationen jeweils als Kultur, als Gesellschaft und als Persönlichkeit erscheinen. Diese drei Aspekte der Lebenswelt definiert Habermas wie folgt: „Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandsetzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten.“ Habermas [1981], S. 209.
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war, hing mit dem Fehlen der notwendigen organisatorischen Voraussetzungen zusammen: Über einen Personalapparat zum Aufspüren von Fällen „schlechter Behandlung“ oder „vernachlässigter Erziehung“, wie er 1900 mit dem GWR geschaffen werden sollte, verfügte die Vormundschaftsbehörde noch nicht. Sie war deshalb auf Anzeigen von Dritten angewiesen, und diese waren regelmäßig durch einen Streit motiviert. Dem zweiten Einwand kann entgegengehalten werden, dass hier nicht eine „falsche“, interessensgeleitete zeitgenössische Deutung der Grundsachverhalte nachträglich durch eine „richtigere“, weil interesselose historische Rekonstruktion ersetzt werden soll. Die historische Betrachtung kann auf der Grundlage der Personenakten nicht zu den sozialen Sachverhalten „wie sie wirklich waren“ durchdringen. Dies lässt sich weder durch eine andere Gewichtung der protokollierten Aussagen noch durch ein „Gegen-den-Strich-“ oder „Zwischen-denZeilen“-Lesen erreichen. Ob sich ein lebensweltlicher Konflikt in den Akten überhaupt niederschlug, hing entscheidend von dem Willen und dem Vermögen der einzelnen Konfliktparteien ab, ihrer Sichtweise der Dinge bei den involvierten Behörden Geltung zu verschaffen. Für die Kontrahenten war es von strategischer Bedeutung, die eigene Sichtweise der Dinge gegenüber den Behördenvertretern als ebenbürtig erscheinen zu lassen, das heißt eine einseitige Beschuldigung in eine Meinungsverschiedenheit auf Augenhöhe zu verwandeln. Aus diesem Grund ist auch die Frage, ob der Darstellung des Sachverhaltes durch eine Konfliktpartei mehr Glauben zu schenken sei als der einer anderen, von sekundärer Bedeutung. Der Stellenwert einer Aussage ergibt sich nicht aus sich selbst, sondern bleibt bezogen auf die machtdurchwobene Praxis vor Gericht. Er ist Ausdruck der Darstellungskompetenz und der Machtstellung der einzelnen Verfahrensbeteiligten. Im Folgenden sollen nun die unterschiedlichen Ausgangskonflikte an einer Reihe von Beispielen typisierend aufgezeigt werden. Zur Einordnung der Einzelfälle wurde dabei auf zwei Kriterien zurückgegriffen: auf die beteiligten Konfliktparteien und auf die Komplexität bzw. Evidenz der in den Personenakten festgehaltenen Konflikte.
5.5.2.1 Lebensweltliche Ausgangskonflikte Die lebensweltlichen Ausgangskonflikten, die den Anlass zu den gerichtlichen Anzeigen gaben, lassen sich in drei große Gruppen unterteilen: Die Personenakten dokumentierten Konflikte zwischen Eltern und Kindern, zwischen Eltern untereinander und schließlich solche zwischen den betroffenen Familien bzw. einzelnen Familienmitgliedern und ihrem weiteren sozialen Umfeld. Manchmal
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stand eine dieser Konfliktlinien deutlich im Vordergrund. Häufiger aber überlagerten sich diese Typen von Ausgangskonflikten in der Darstellung vor oder während des vormundschaftsgerichtlichen Verfahrens derart, dass sich kaum noch sagen lässt, welchen Streit die einzelnen Beteiligten selbst als Ausgangskonflikt gewertet hätten. Zunächst soll auf die Auseinandersetzungen eingegangen werden, die zwischen Eltern und Kindern geführt wurden. 5.5.2.1.1 Eltern-Kind-Konflikte Zur Kenntnis der Vormundschaftsbehörde gelangten Konflikte zwischen Eltern und ihren Kindern zum einen, wenn die Vormundschaftsbehörde über die körperliche Misshandlung eines Kindes durch seine Eltern von der Polizeibehörde bzw. von Privatpersonen unterrichtet wurde, und zum anderen dann, wenn sich die Eltern – oder ein Elternteil – hilfesuchend an die Vormundschaftsbehörde wandten, weil sie mit der Erziehung eines in der Regel schon älteren Kindes nach eigener Einschätzung nicht mehr zurechtkamen. Fälle von körperlicher Misshandlung sind für alle Altersstufen dokumentiert, und fast durchgängig waren die beschuldigten Eltern bemüht, die meist durch polizeiärztliches Attest festgestellten Exzesse als gewöhnliche Ausübung ihres körperlichen Züchtigungsrechts hinzustellen oder mit dem Vorhandensein handfester Erziehungsschwierigkeiten zu rechtfertigen. Die benannten Anlässe für Erziehungskonflikte variierten je nach dem Alter der Kinder. Eher selten wurden Misshandlungen von noch nicht schulpflichtigen Kinder aktenkundig. In solchen Fällen wurden von den Eltern wiederholt Probleme bei der Reinlichkeitserziehung als Grund für die von ihnen vorgenommenen Züchtigungen angegeben. So zeigte im Spätsommer des Jahres 1883 ein in der Hamburger Neustadt wohnender Konstabler auf Drängen seiner Ehefrau die in der Nachbarschaft lebende Fabrikarbeiterin Christiane Petzold wegen wiederholter Misshandlung ihrer zweieinhalbjährigen Tochter bei der Polizei an (1883, Petzold, Serie III 2793).1 Die daraufhin vernommene Mutter wies den Vorwurf der Misshandlung weit von sich, gab aber bereitwillig zu, das Kind des Öfteren mit der Hand sowie
1 Ein umfangreiches Verzeichnis der untersuchten und im folgenden zitierten Fälle findet sich im Internet unter: www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/ Die Zitationskürzel sind wie folgt aufgebaut: die vorangestellte Jahreszahl gibt das Jahr an in dem die Spezialvormundschaft zur Erkundung der häuslichen Verhältnisse (vor 1900) oder der vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe in das Personensorgerecht (nach 1900) wieder. Beim angegebenen Namen handelt es sich i.d.R. um den Namen des Mündelvaters, bei unehelichen Kindern um den Mutter. Der gibt einen Hinweis auf die Fundstelle. Vgl. hierzu auch die Ausführungen weiter oben unter ..
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mit einem Rohrstock gezüchtigt zu haben, weil es sich „jede Nacht, sowie auch oft des Tages [verunreinigt]“ habe.1 Mit Eintritt des schulpflichtigen Alters wurden die Probleme rund um die Reinlichkeitserziehung durch anders gelagerte Schwierigkeiten überlagert. Nicht selten wurde die Vernachlässigung schulischer Pflichten von Müttern und Vätern zum Anlass genommen, ihre Kinder körperlich schwer zu züchtigen. Aber auch das „Bummeln“ auf dem Nachhauseweg, die Unterschlagung kleinerer Geldbeträge oder ganz allgemein „Widerspenstigkeit“ und „Ungehorsam“ mussten als Rechtfertigung für elterliche Züchtigungen herhalten. Waren die Kinder schon etwas älter, so traten Konflikte um ihre Arbeitsleistung bzw. -haltung hinzu. Ein gutes Beispiel für Konflikte, die mit dem Schulbesuch zusammenhingen, war der Fall eines auf St. Pauli lebenden siebenjährigen Mädchens, das nach Angaben der Nachbarn fortgesetzter Misshandlungen seitens seines Vaters und seiner Stiefmutter ausgesetzt war (1884/1886 Böttger, Abt. I 288). Der im selben Haus lebende Hausknecht, der die Sache bei der Polizei zur Anzeige brachte, wollte beobachtet haben, wie der Vater das Kind durch den Torweg des Vorderhauses geschleift hatte, weil es nicht zur Schule gehen wollte. Bei den polizeilichen Erkundigungen in der Nachbarschaft fanden sich nicht nur zahlreiche Zeugen für diesen Vorgang. Ein Nachbarin gab außerdem an, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie die Stiefmutter das Kind 14 Tage zuvor mit einem 50 cm langem und zwei Arm dicken Stück Brennholz traktiert hatte, weil es sich geweigert habe, sich waschen zu lassen. Als das Kind vom Polizeioffizianten mit offensichtlichen Spuren der Gewalteinwirkung in einer abgedunkelten Kammer der elterlichen Wohnung aufgefunden wurde, behauptete der zur Rede gestellte Vater, seine Tochter nur mit der Hand geschlagen zu haben. In Übereinstimmung mit dem anzeigenden Hausknecht gab er als Grund für seine Züchtigung an, seine Tochter habe sich geweigert, zur Schule zu gehen. Neben dem Schulbesuch selbst scheint auch die vermeintliche oder tatsächliche Vernachlässigung schulischer Pflichten immer wieder Anlass zu Konflikten gegeben zu haben, die in Gewalttätigkeiten eskalierten. Ein verwitweter Steinmetz aus Eimsbüttel, welcher der Misshandlung seiner zehnjährigen Tochter beschuldigt wurde, rechtfertigte die harte Handhabung seines Züchtigungsrechts, indem er angab: „Im letzten Vierteljahr führte sie sich in der Schule schlecht, wie aus ihren Zeugnissen hervorging. Am 11. October sollte sie mir einen Brief von der Lehrerin im Auftrage derselben übergeben, was sie nicht that. Ich züchtigte sie deswegen mit einem 1 Mit ähnlichen Worten verteidigte sich eine auf St. Pauli wohnende Mutter, die von einem in der Nachbarschaft lebenden Arbeiter der Misshandlung ihres vierjährigen Sohnes beschuldigt wurde (1885, Fangmann, Abt. I 780).
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Rethstock. Gleich daraufhin fielen aus ihren Schreibbüchern bunte Bilder heraus, und da ich ihr öfters eindringlich verboten hatte solche Bilder, als beim Schulunterricht störend, in ihre Bücher zu legen, wurde ich noch zorniger und mag sie wohl etwas zu hart gezüchtigt zu haben.“ (1885, Klöss, Abt. I 879) 1
Neben dem „schulischen Betragen“ stellte sich die Mitarbeit im Haushalt als ein besonders sensibler Bereich heraus, der schnell zum Kristallisationspunkt gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Eltern und ihren Kindern werden konnte. Jungen blieben dabei von den elterlichen Aggressionen keineswegs verschont. Vor allem alleinstehende Väter und Stiefväter spannten ihre Kinder offenbar ohne Rücksichten auf das Geschlecht für die Erledigungen häuslicher Arbeiten ein. Im Sommer 1885 wurde der in der südlichen Altstadt lebende Restaurateur Figge mit seinem zwölf Jahre alten unehelichen Neffen bei der Polizeibehörde vorstellig (1885, Figge, Abt. I 759). Er zeigte an, dass Letzterer von seinem Stiefvater, dem im selben Viertel lebenden Arbeiter Wulff, schlecht behandelt werde. Seine Schwester, so erklärte er, befinde sich seit geraumer Zeit im Allgemeinen Krankenhaus, weshalb Wulff mit seinem Neffen und dessen fünfjähriger Halbschwester alleine zuhause sei. Am Vortage sei der Junge nun zu ihm geflüchtet, weil er das Mittagessen des Stiefvaters habe anbrennen lassen, woraufhin dieser ihm angekündigt habe, er werde ihm nach seiner Heimkehr „das Genick umdrehen“. Der Stiefvater, vom ermittelnden Polizeioffizianten mit den Vorwürfen konfrontiert, bestritt zwar die Drohung, räumte aber ein, seinen Stiefsohn vor einiger Zeit ins Gesicht geschlagen zu haben, weil der Knabe nicht auftragsgemäß die Wäsche vom Dachboden geholt und ihn diesbezüglich auch noch belogen habe.2 Wenn die Kinder die Schule verließen und bei fremden Leuten einen Dienst antraten, gewannen familiale Konflikte rund um die Arbeitshaltung der Kinder offenbar eine noch größere Bedeutung. Nicht untypisch scheint dabei gewesen zu sein, dass Eltern und Dienstgeber bei der Maßregelung der Heranwachsenden an einem Strang zogen. In einem der wenigen Fälle, in denen die Stellungnahme eines minderjährigen Opfers häuslicher Gewalt überliefert ist, bildete die Ungeschicklichkeit bei der Arbeit den Anlass zu einer schweren körperlichen Züchtigung (1884, Müller, Abt. II 114). Das betroffene 15-jährige Dienstmädchen, Sophie Müller, gab die Ereignisse, die durch ihre frühere Pflegemutter zur Anzeige gebracht worden waren, auf der Polizeiwache wie folgt zu Protokoll: 1 Ähnliche Argumente sollte noch neun Jahre später ein in der Neustadt wohnender und gleichfalls verwitweter Tischler während seiner polizeilichen Vernehmung gebrauchen (1894, Koch, Abt. I 6423). 2 Einem gleichaltrigen Mädchen, das als jüngstes Kind nach dem frühen Tod seiner Mutter dem Vater den Haushalt besorgen sollte, war es ähnlich ergangen (1884, Muurmann, Abt. II 236).
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„Sie habe am Sonnabend den 26. d. Mts: Abends gegen 5 Uhr bei ihrer Herrschaft, Frau Fürst wohnh. Eimsbüttelerstraße 8 III, auf dem Herd Feuer anmachen sollen, welche sie nicht so schnell, als Frau Fürst es verlangt habe ausführen hätte können. Hierüber sei ihre Madame aufgebracht geworden, habe nach ihrer Mutter, Frau Maria Pillgrimm wohnt St. Pauli Schulterblatt 58 A. Hs. 2 bei Schier geschickt und diese ersuchen lassen dort hinzukommen. Ihre Mutter sei sofort erschienen und habe ein schwarzen Spazierstock, dem p. Schier gehörend mitgebracht. Sie sei darauf von ihrer Mutter nach der Küche gerufen, letztere habe die Thür verschlossen und sie sofort mit dem 1sten Schlag zu Boden [sic!], dann wiederholt mit voller Kraft über den ganzen Körper auf sie losgeschlagen und mit Füßen getreten worden. – Dieses habe eine Zeit von 20 Minuten gedauert und habe erst ihre Mutter auf wiederholtes Rufen und Klopfen der Frau Fürst die Thür wieder geöffnet.“
Die ältesten Minderjährigen des Samples, die Opfer elterlicher Gewalt wurden, befanden sich zum Zeitpunkt der polizeilichen bzw. vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen schon im vorgerückten Jugendalter, und die Konflikte, in die sie involviert waren, können als typische Ablösungskonflikte klassifiziert werden. Ihrem Alter entsprechend spielten diese Jugendlichen während der gerichtlichen Auseinandersetzung eine sehr viel aktivere Rolle als die Minderjährigen der bisher behandelten Fälle. In zwei Fällen aus dem Jahr 1894 waren es bezeichnenderweise die Jugendlichen selbst, die sich hilfesuchend an die Vormundschaftsbehörde wandten, weil sie von ihren Vätern misshandelt worden waren. Das eine Mal handelte es sich um den 17-jährigen Sohn eines Barmbeker TelegraphenAssistenten, der wegen der Unterschlagung von Geldern aus seiner Lehrstelle entlassen und daraufhin von seinem Vater, der ihm die Stelle verschafft hatte, schwer gezüchtigt worden war (1894, Mrongrowius, Abt. II 6554). Aus seinem Versteck, in das er vor den väterlichen Misshandlungen geflüchtet war, wandte er sich schriftlich an die Vormundschaftsbehörde, um diese einerseits über die ihm zuteil werdende „schlechte Behandlung“ zu unterrichten und andererseits um Unterstützung bei der Auslieferung seiner Habseligkeiten zu bitten, die er im Elternhaus zurückgelassen hatte.1 Im anderen Fall beantragte eine schon 18jährige junge Frau über einen Anwalt bei der Vormundschaftsbehörde sogar direkt die Absetzung ihres Vaters als Vormund (1894, Riebold, Abt. II 6709), weil dieser sie mehrere Male durch Faustschläge und Fußtritte misshandelt und ihr – 1 In dem höflich, aber bestimmt formulierten Brief hieß es u.a. „Sonntags ist mein Vater sehr oft im hause, dienstfrei, und betrinkt sich dann regelmäßig; 14 Tage nach Pfingsten passierte dieses auch und er schlug mit einem 4-fachen fingerdicken Thau derartig auf meinen entblößten Körper ein, daß von fremden Leuten die Fensterscheiben eingeschlagen wurden [...]. Am vergangenen Sonntage, 1. Juli, nahm mein Vater mit einem Scheuerbesen fast die halbe Haut vom Kopfe ab, sodaß ich, als er sich nachher zum Schlafen hingelegt hatte, heimlich aus dem Hause fortging, um nicht wieder in dasselbe zurückzukehren, da ich diese immer zunehmenden Misshandlungen und die gemeinen Schimpfworte, die er stets für mich hatte, nicht mehr ertragen konnte.“
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nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung – bis ins Treppenhaus ihrer Dienstherrschaft nachgestellt habe. Anlass der Handgreiflichkeiten war nach Darstellung des Vaters das ungebührliche Benehmen seiner Tochter gewesen, nachdem er dieser die Zustimmung zur Eheschließung mit einem Krämergehilfen verweigert hatte.1 Bisher wurden nur Fälle wiedergegeben, in denen die „schlechte Behandlung“ von Kindern durch ihre Eltern von der Nachbarschaft, dem weiteren Verwandten- und Bekanntenkreis oder den betroffenen Jugendlichen selbst bei der Polizei oder der Vormundschaftsbehörde angezeigt wurde. Zahlreiche Familienkonflikte gelangten aber auch durch Anzeigen der Eltern zur Kenntnis der Vormundschaftsbehörde. Je älter die Kinder wurden, desto wahrscheinlicher war es, dass das körperliche Kräfteverhältnisse zuungunsten der Eltern umschlug und Letztere selbst zur „Zielscheibe“ von Injurien oder körperlicher Gewaltanwendung ihrer Söhne und Töchter wurden. Besonders prädestiniert für derlei Angriffe waren anscheinend alleinstehende, kranke oder schon gebrechliche Elternteile, und vor allem Mütter wandten sich in solchen Situationen regelmäßig an die Vormundschaftsbehörde, um Unterstützung bei der Ausübung ihrer Erziehungspflichten zu erhalten.2 Rund ein Viertel aller im Jahre 1894 zum Zweck der „Überwachung und Erziehung“ eingeleiteten Vormundschaften ging auf eine entsprechende Anregung seitens alleinstehender Mütter zurück.3 Die Erziehungsauseinandersetzungen, die alleinstehende oder gebrechliche Eltern der Vormundschaftsbehörde aus eigenem Antrieb meldeten, unterschieden sich in ihrer Struktur nicht grundlegend von jenen, die anlässlich beobachteter Kindesmisshandlungen durch Dritte angezeigt worden waren. Aber es gab doch zwei hervorstechende Momente, welche die Darstellungsweise von Erziehungsschwierigkeiten durch die anzeigenden Elternteile von den bisher nachgezeichneten Verteidigungsstrategien in Misshandlungsfällen unterschieden: Zum einen konnten die Mütter nämlich erwarten, dass man ihnen in der Auseinandersetzung mit ihren Kindern amtlicherseits „den Rücken stärkte“, was bei der behördlichen Vorladung im Zusammenhang mit überzogenen Züchtigungen nicht der Fall war. Und zum anderen verschafften sie sich durch die Eröffnung des Verfahrens einen 1 Auch einem der Fälle vom Anfang des 20. Jahrhunderts lag ein Ablösungskonflikt zwischen Vater und Tochter zugrunde (1902, Timm, D 425). 2 Vgl. oben S. 466 f. 3 Insgesamt waren 1894 121 Vormundschaften zu diesem Zweck eingerichtet worden. In 29 Fällen erfolgte ihre Einrichtung auf die Anregung der verwitweten (19), ledigen (4), getrennt lebenden oder geschiedenen (6) Mütter. Hinzu kamen zwei gleichgelagerte, von Stiefmüttern gemachte Anzeigen sowie ein entsprechendes Hilfsgesuch einer Großmutter und einer Schwester. Dass sich in der Antragsschwemme auch die durch die Cholera verursachten besonderen soziale Problematiken wiederspiegelten (Tod der Väter, geringe Chance der Wiederverheiratung ...) ist wahrscheinlich. Konkretisieren ließ sich diese Annahme auf der Basis der Personenakten allerdings nicht.
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bedeutenden strategischen Vorteil. Indem sie den „ersten Schritt“ taten, konnten sie nicht nur ihre Glaubwürdigkeit unterstreichen, sondern mit ihren Erzählungen zugleich auch schon das Terrain möglicher Wirklichkeitsdeutung abstecken. Unbelastet von Misshandlungsvorwürfen hatten sie die Freiheit, in ihren Gesuchen jene Aspekte der Auseinandersetzungen mit ihren Töchtern und Söhnen hervorzuheben, welche die Dringlichkeit des Antrages unterstrichen und andere, die sie selbst in ein schlechtes Licht rückten, unerwähnt zu lassen. Ein typischer Fall eines elterliches Unterstützungsgesuch stellt die Anzeige einer alleinstehenden Mutter von vier Kindern Anfang der 1890er Jahre dar. Im Herbst 1891 suchte die geschiedene Frau persönlich die Kanzlei der Vormundschaftsbehörde auf, um ihrem ältesten, 17-jährigen Sohn Siegfried einen Vormund bestellen zu lassen (1894, Simon, Abt. II 3537). Als Grund für ihr Gesuch gab sie an, mit diesem „nichts mehr anfangen“ und ihn nicht mehr länger bei sich im Hause behalten zu können, weil er sich „im höchsten Grade impertinent“ benehme und sich erdreistet habe, nicht nur seine Geschwister, sondern auch sie selbst zu schlagen.1 Nicht alle Elternteile, die sich an die Vormundschaftsbehörde wandten, ließen es erst zu solchen Handgreiflichkeiten kommen, bevor sie um obrigkeitliche Hilfe baten. Von den zahlreichen auf elterliche Initiative zurückgehende Spezialvormundschaften, die 1894 zur „Überwachung und Erziehung“ eingerichtet wurden, beruhten nur die wenigsten auf offen gewalttätigem Verhalten der Kinder. Zumeist waren es deutlich harmlosere Vorfälle, welche die Mütter – oder Väter – zum Gang in die Poststraße bewegten. Gewöhnlich wurden die Unterstützungsgesuche, welche die Eltern zu Protokoll gaben, durch eine floskelhaften Kapitulationserklärung eingeleitet.2 Die Mütter erklärten, ihre Kinder „nicht mehr regieren“ zu können, mit ihnen „nicht mehr fertig“ zu werden, keine „Autorität“ oder keine „Herrschaft“ mehr über sie zu besitzen. In manchen Fällen griffen sie auch – wie im obigen Fall – auf die lapidare Formulierung zurück, sie wüssten mit ihren Söhnen oder Töchtern „nichts anzufangen“.3 Häufig beklagten sich die 1 Auch Töchter wurden bisweilen gegen ihre Mütter handgreiflich (1894, Reinholdt, Abt. II 6733). Handgreiflichkeiten seitens der Kinder, die den Anstoß für elterliche Anzeigen an die Vormundschaftsbehörde gaben, sind auch in den folgenden, in die detaillierte Auswertung nicht einbezogenen Personenakten dokumentiert: STAH 232-1, Abt. I 5037, Abt. II 6465, Abt. II 6542 u. D 243 sowie 1894, Ahlers, Abt. I 6303. 2 Eine ähnliche Rhetorik bemühten auch Pariser Eltern, die etwa zur selben Zeit in schriftlichen Gesuchen um die Aufnahme ihrer Söhne und Töchter in ein staatliches Internat baten. Vgl. hierzu: Quincy-Lefebvre [1997], S. 13. 3 Damit war meist gemeint, dass sie nicht mehr wussten, was sie mit ihren Kindern „anstellen“ sollten, damit sie ihnen gehorchten. Nicht selten signalisierte diese Redewendung jedoch gleichzeitig, dass die Eltern ihre Kinder auf die eine oder andere Art loswerden wolltenDeutlich wird dies an der von den betreffenden Eltern häufig bekundeten Absicht, ihre Kinder aus der Wohnung zu werfen oder sie in eine Besserungsanstalt einzuweisen. (Vgl. hierzu: 1884, Heiden/Krause, Abt. I 365; 1894,
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anzeigenden Mütter darüber, dass ihnen ihre Kinder nicht „gehorchten“, sich „nicht schickten“ oder sich „schlecht führten“.1 Abgeschlossen wurden die mündlichen Gesuche regelmäßig mit der noch recht unbestimmten Forderung, dass das Kind in „strenge Zucht“ genommen werden müsse bzw. einer starken „männlichen Hand“ bedürfe. Hinter den elterlichen Klagen über die Insubordination ihrer Kinder steckten zumeist tiefer gehende Eltern-Kind-Konflikte, die sich zum Teil schon über mehrere Jahre hinzogen. Zwei Aspekte haben offensichtlich im Unterschichtsmilieu das Verhältnis zwischen den Generationen besonders nachhaltig beeinträchtigt: hinter vielen Anzeigen steckten Streitigkeiten um die Verteilung der notorisch knappen Subsistenzmittel; und vor allem in Konflikten zwischen alleinstehenden Müttern und ihren Kindern spielte die emotionale Belastung der ElternKind Beziehungen durch uneheliche Geburt oder Stiefelternschaft eine tragende Rolle. Sittlich-moralische Gesichtspunkte hatten demgegenüber eine deutlich nachgeordnetere Bedeutung, und wenn sie in elterlichen Unterstützungsanträgen zur Sprache gebracht wurden, steckte dahinter nicht selten das Engagement eines Stadtmissionars oder Pastors. Die meisten Eltern, die sich vor dem Sekretär der Vormundschaftsbehörde über Schwierigkeiten in der Erziehung ausließen, beklagten sich ganz allgemein über das unproduktive Verhalten ihrer Töchter und Söhne. Aber es kamen auch Fälle vor, in denen insbesondere Mütter recht direkt materielle Interessen an ihren Kindern bekundeten. So wandte sich im Herbst 1894 eine alleinstehende Mutter aus St. Georg an die Vormundschaftsbehörde, um die Bevormundung ihres 18-jährigen unehelichen Sohnes zu erwirken, weil dieser während ihrer neunwöchigen Abwesenheit – sie hatte den Sommer über als Kochfrau in Travemünde gearbeitet – einen Großteil der ihm anvertrauten Miete, sein gesamtes Salär sowie die Mieten der Aftermieter für sich verbraucht habe.2 In einem später verfassten und ebenfalls zu den Akten gelangten Brief legte die Mutter ihre Beweggründe rückblickend noch einmal dar:
Simon, Abt. II 3537; 1901, Wenck, D 156 u. STAH 232-1 Abt. II 1858). Die Wendung wurde also regelmäßig synonym für „das Kind ist zu nichts nutze“ oder „zu nichts zu gebrauchen“ verwandt und scheint Ausdruck eines repulsiven Affekts gewesen zu sein. Im Französischen benutzten Eltern in vergleichbaren Situationen die Formulierung „on ne peut rien en faire“. (Quincy-Lefebvre [1997], S. 17). 1 Die Bandbreite der verwandten Begriffe kann als Beleg dafür gewertet werden, dass der Sekretär der Vormundschaftsbehörde zwar die Aussagen der Eltern zusammenfasste und in indirekte Rede verwandelte, gleichzeitig aber an die alltagssprachlichen Redewendungen der Anzeigenden anknüpfte. 2 STAH 232-1, Abt. II 6692.
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"Ich dachte meinem Sohn einen Vormund zu geben, damit es ihm bestimmt würde, was er thun muß, denn er ist doch erst 18 Jahre und immer am besten bei seiner Mutter aufgehoben und niemand sorgt so für ihn wie nur die Mutter [...]. Da ich meinen Sohn so kümmerlich groß gemacht habe, um die Stadt nicht zur Last zu fallen möchte ich auch gerne die Freude mit ihm teilen, da er jetzt erwachsen ist und verdient."
Der letzte Satz lässt das ökonomische Kalkül hinter dem Gesuch der unehelichen Mutter hervortreten. Zu Recht oder unrecht erwartete sie, dass ihr inzwischen herangewachsener Sohn, den sie offenbar ohne Inanspruchnahme von Armenunterstützung großgezogen hatte, sie jetzt ihrerseits alimentieren würde, wozu er jedoch nicht bereit war. In den Augen der Vertreter des Bürgertums gerieten sowohl Väter als auch Mütter, die ihr materielles Interessen an ihren Kindern deutlich zu erkennen gaben, schnell in den Verdacht, sie wollten diese nur wirtschaftlich ausnutzen oder, in den Begriffen der Zeit: „von ihnen ziehen“.1 Tatsächlich sind in den ausgewerteten Personenakten noch zahlreiche andere Fälle dokumentiert, in denen das finanzielle Kalkül der Eltern so offenkundig und dominant war, dass dieser Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist.2 Mit „Lieblosigkeit“ oder „materieller Ausbeutung“ hatten die mütterlichen Versuche, durch Einspannung der Vormundschaftsbehörde das Familieneinkommen zu sichern, aber meist nichts zu tun. Die mütterlichen Gesuche zeigten vielmehr anschaulich, in wie starkem Maße gerade alleinstehende Frauen auf das Zusatzeinkommen ihrer Kinder angewiesen waren. Es gab für sie zumeist sehr reale Gründe, sich um die Produktivität ihrer Söhne und Töchter zu sorgen, denn das Einkommen, dass sie selbst erzielten, reichte zum Leben meist kaum aus. Wenn Spezialvormünder wie im Fall der unehelichen Köchin aus St. Georg, behaupteten, die Mütter seien sehr wohl in der Lage, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen und würden nur aus „Arbeitsscheu“ auf das Einkommen ihrer Kinder spekulieren, so sprach daraus eine gehörige Portion Ignoranz gegenüber der prekären Lebenslage, in der sich alleinstehende Mütter befanden. Auch in der Art der Gesuche, mit denen die alleinstehenden Mütter an die Vormundschaftsbehörde herantraten, spiegelte sich ihre besondere gesellschaftliche Stellung wider. Während zusammenlebende Elternpaare oder rüstige Witwer es sich sozusagen „leisten“ konnten, auf eine potenzielle Einnahmequelle zu ver1
Dieser Verdacht spielte, wie wir weiter unten noch sehen werden, auch bei der Reklamationsproblematik eine bedeutende Rolle. 2 Eine besondere Evidenz erhalten solche Anschuldigungen v.a. dadurch, dass sie auch von Kindern und Jugendlichen vorgebracht und regelmäßig auch von Personen aus dem näheren sozialen Umfeld bestätigt wurden. Vgl. hierzu etwa die von einem Jugendlichen gegen seinen Vater vorgebrachten Vorwürfe in: 1885, Fischer, Abt. I 486.
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zichten und bei auftretenden Erziehungsschwierigkeiten bei der Vormundschaftsbehörde die Fremdunterbringung ihrer Kinder anzuregen, mussten alleinstehende Mütter darauf bedacht sein, ihre finanzielle Lage durch die Aufrechterhaltung der Verdienstverhältnisse der Kinder abzusichern. Es war demnach kein Zufall, dass die meisten Spezialvormundschaften zur „Erziehung und Überwachung“ von Kindern durch alleinstehende Mütter angeregt wurden. Wie sich im Zusammenhang mit den behördlichen Verarbeitungsprozessen der elterlichen Anzeigen noch zeigen wird, entsprach es allerdings auch ganz den polaren Geschlechterstereotypen der Zeit, wenn sich alleinstehende „schwache Mütter“ anlässlich von Erziehungskonflikten hilfesuchend an die Vormundschaftsbehörde wandten, damit diese ihnen den fehlenden Part des Vaters durch Bestellung eines „energischen“ Spezialvormundes ersetzte.1 Demgegenüber streckte der Staat dem Vater bei Auseinandersetzungen mit seinen minderjährigen Söhnen und Töchtern noch immer die „hülfreiche Hand“ entgegen, indem er ihm als letztes Mittel elterlicher Zucht die Einweisung in die Ohlsdorfer Zwangserziehungsanstalt zugestand. So gesehen stellten die mütterlichen Gesuche zur Einrichtung von Vormundschaften zur „Überwachung und Erziehung“ das Pendant der recht zahlreichen väterlichen Anträge auf Zwangserziehung dar.2 So vorherrschend in unvollständigen Familien auch der materielle Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung werden konnte, so reichte er gewöhnlich doch nicht aus, um das Verhältnis zwischen den Generationen nachhaltig zu trüben. Eltern und Kindern war offenbar meist klar, dass sie einer Schicksalsgemeinschaft angehörten und aufeinander angewiesen waren, um ihre Existenz zu sichern.3 Anders verhielt es sich mit Eltern-Kind Beziehungen, die durch den latenten Argwohn gegenüber Stiefelternkonstellationen, die allgemeine gesellschaftliche Ächtung der uneheliche Geburt oder eine langanhaltende Trennung dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen worden waren. In den untersuchten Personenakten finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass hier eine zentrale Wurzel jener lebensweltlichen Konflikte lag, die später zur Kenntnis der Vormundschaftsbehörde gelangten. Schon bei einigen der oben zitierten besonders schweren Misshandlungsfälle hatten Stiefeltern eine wichtige Rolle gespielt.4 Während sich die zugrunde 1
Vgl.: Quindy-Lefebvre [1997], S. 13. Allerdings muss dabei bedacht werden, dass Mütter selbst dann, wenn sie ihre Kinder in eine Erziehungsanstalt überweisen wollten, nicht darum herumkamen, sie erst bevormunden zu lassen. Der Aufnahmeantrag in ein Heim konnte nämlich nur vom Vormund gestellt werden. 3 Schenkt man den Lebenserinnerungen von Arbeiterkindern Glauben, so hat es die Söhne und Töchter aus der Unterschicht geradezu mit Stolz erfüllt, etwas zum Familieneinkommen beitragen und der notleidenden Mutter unter die Arme greifen zu können. Vgl. die Erinnerungen Robert Neddermeyers (Neddermeyer [1980], S. 31 f.) und Ludwig Tureks (Turek [1975], S. 14 ff.). 4 Vgl. Fall Böttger (1884/1886, Böttger, Abt. I 288) und Fall Figge (1885, Figge, Abt. I 759) 2
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liegenden, in der Regel stark emotionalisierten Beziehungskonflikte zwischen Stiefeltern und Stiefkindern in den meisten Fällen nur erahnen ließen, so fanden sich einigen wenigen Personenakten Aussagen wieder, die diesen Punkt ganz offen zum Ausdruck brachten. 1893 nahm beispielsweise ein Barmbeker Grünwarenhändler seine zweite Ehefrau gegen die Anschuldigungen der Nachbarschaft in Schutz, sie würde die von ihm in die Ehe eingebrachten beiden Mädchen im Alter von 13 und 14 Jahren fortgesetzt misshandeln, indem er erklärte, „[d]ie Kinder hätten es vielfach an Achtung und dem allernothwendigsten Respect vor seiner Frau fehlen lassen und sie dadurch wiederholt schwer gereizt“ (1893, Lehmann, Abt. II 5441).1 Ein gerichtliches Einschreiten, so warnte er, könne zum dauernden Bruch zwischen Stiefmutter und Stiefkindern führen. Mit einem wenig später aufgesetzten, an die Behörde adressierten Schreiben ergriff die Stiefmutter selbst das Wort und warb um Verständnis für die schwierige Lage, in der sie sich befand: „Es ist ein sehr schwerer Punkt Stiefmutter zu sein überdem bei so großen Kindern ich würde jeden Menschen abrathen [...] bei Kindern [einzu]heirathen.“ Typisch für das spannungsgeladene Verhältnis von Stiefeltern und Stiefkindern war offenbar, dass es überaus empfänglich für die Einmischung durch Dritte war. Selten fehlte in Missbrauchsfällen, in die Stiefeltern verwickelt waren, der Hinweis auf die nachbarschaftliche Sozialkontrolle. Insbesondere das Verhalten von Stiefmüttern, die noch nicht lange vor Ort wohnten, wurde anscheinend nicht selten von den Nachbarn fast auf Schritt und Tritt verfolgt. Zwar verharrte die Nachbarschaft zunächst gewöhnlich in einer abwartend-beobachtenden Stellung. Aber sobald sich die betroffenen Frauen durch ihr Auftreten in irgendeiner Weise exponierten, schlug diese passive Haltung schnell in aktive Einmischung um.2 In einem Fall, der ebenfalls Mitte der 1890er Jahre aktenkundig wurde (1894, Becker, Abt. I 6432) hatte ein von zuhause fortgelaufenes elfjähriges Mädchen durch seine Aussage, es würde von seiner Stiefmutter bei jedem geringfügigen Anlass geschlagen, eine genauere polizeiliche Ermittlung im Wohn1 Dieser Darstellung entsprach auch die Aussage der älteren Tochter, die, danach befragt, warum ihre Stiefmutter mit einem Messer nach ihr geworfen habe, zu Protokoll gab, dieselbe hätte sich eingeredet, von ihr verhöhnt worden zu sein. 2 So war die aus dem Ostfriesischen stammende Stiefmutter Böttger, der die Misshandlung ihrer Stieftochter zur Last gelegt wurde, nach Darstellung ihres Mannes Opfer von „Weiberklatschereien“ geworden (1884/1886, Böttger, Abt. I 288). Er konkretisierte seine Behauptung, indem er folgenden Vorfall schilderte: „Gestern hatte sie [die Tochter, J.R.] 5 [Pfennig] unterschlagen und dafür Chocolade gekauft meine Frau hat sie dann bestraft, jedoch hat sie die ganze Nachbarschaft hier wieder auf der Thür gehabt und sich besonders von einer Frau Bornholdt, welche hier gegenüber im Keller wohnt Schimpfreden und Drohungen mit Anzeige gefallen lassen müßen und ist dann von Kindern welche sich damit brüsten ihren Eltern Geld weg zu nehmen und nie bestraft zu werden unter Hurahschreihen aus der Terasse gebracht.“
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umfeld der Eltern in Gang gesetzt. Diese ergab, dass die Stiefmutter nach Wahrnehmung der Nachbarn während der Abwesenheit ihres Mannes „dem Nichtsthun und dem Trunke fröhne“, mit den Einlogierern und anderen „Weibern“ auf der Straße plaudere und abends regelmäßig eine bestimmte Kneipe aufsuche, aus der sie erst spät abends zurückkehre. Namentlich die beiden ältesten Mädchen der vom Vater in die Ehe eingebrachten vier Kinder würden, so sagten die Nachbarn aus, fortgesetzt von ihren Eltern gezüchtigt. Als dem Vater bei seiner ersten Vernehmung vor der Vormundschaftsbehörde nahegelegt wurde, die elfjährige Tochter freiwillig abzugeben, und er daraufhin versprach, die Angelegenheit mit seiner Frau zu besprechen, fiel die Antwort der Mutter eindeutig aus: Eine Abgabe des Kindes kam für sie vor allem deshalb nicht in Frage, weil die Nachbarn dann einen Grund gehabt hätten zu behaupten, sie habe als Stiefmutter kein Herz für die Kinder – und genau das wollte sie um jeden Preis vermeiden. Ein eindringlicheres Zeugnis für die Wirkungsmacht nachbarschaftlicher Sozialkontrolle hätte sie kaum ablegen können. Einer noch stärkeren Nachbarschaftskontrolle als ortsfremde Stiefmütter unterlagen offenbar schlechtintegrierte uneheliche Mütter. Frauen, die unverheiratet Kinder zur Welt brachten, hatten nicht nur unter der allgemeinen gesellschaftlichen Ächtung der unehelichen Geburt zu leiden. Ihr Verhältnis zu den Kindern war regelmäßig auch dadurch getrübt, dass sie aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen waren, sie schon sehr frühzeitig aus dem Haus zu geben, wodurch regelmäßig ein Prozess der Entfremdung in Gang gesetzt wurde. Bei den eingangs zitierten zwei Misshandlungenfällen von Kleinkindern (1883, Petzold, Serie III 2793, 1885, Fangmann, Abt. I 780) handelte es sich um unehelich geborene Kinder von Frauen, die von auswärts zugezogenen waren. Die aus Frankenberg in Schlesien stammende 34-jährige Arbeiterin Christine Petzold hatte nach eigenen Angaben schon sieben uneheliche Kinder geboren, von denen sechs bereits verstorben waren. Den genauen Aufenthalt des außerehelichen, aus Schweden stammenden Vaters, der sich in Billwerder als Knecht verdingt hatte, konnte oder wollte sie nicht preisgeben. Aber nicht nur dieser soziale Hintergrund diskreditierte sie in den Augen ihrer Nachbarn. Die Mutter hatte sich auch durch ihre Entscheidung exponiert, das Kind bei sich zu behalten und nur tagsüber in die Warteschule zu geben. Ihr ohnehin schwerer Stand im Viertel wurde durch den Hohn und Spott, mit dem sie die Nachfragen und Anschuldigungen der Nachbarn quittierte, nicht gerade verbessert. In der Charakterisierung der Frau Petzold als „gefühllose[n] unbarmherzige[n] Mutter“ flossen all diese Aspekte der Fremdwahrnehmung mit ein.1 1 Abgesehen davon, dass die moralische Verurteilung durch die Nachbarn fast vollständig von der Härte der Lebensumstände einer unehelichen, alleinerziehenden Mutter ablenkte, kontrastierte sie
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Während uneheliche Mütter, die sich entschlossen hatten, ihre Kinder selbst aufzuziehen, dem fortgesetzten Misstrauen der Nachbarschaft ausgesetzt waren, wurde das Eltern-Kind-Verhältnis von unverheirateten Müttern, die ihre Kinder kurz nach der Geburt bei Verwandten oder „fremden Leuten“ untergebracht hatten, durch die langandauernde Trennung und die damit einhergehende Entfremdung auf eine harte Probe gestellt. In zahlreichen vor der Vormundschaftsbehörde verhandelten Misshandlungsfällen wurde von unehelichen Müttern außerdem das angeblich zu laxe Erziehungsverhalten früherer Pflegeeltern als Grund für die Erziehungsprobleme benannt, mit denen sie ihre Züchtigungen rechtfertigten. Besonders konfliktträchtig gestaltete sich offenbar das Verhältnis von unehelichen Kindern zu ihren Müttern, wenn sich Letztere verehelicht hatten und ihre Kinder als eine Art Haushaltshilfe in den neubegründeten Haushalt zurücknahmen. In einem Fall, der im Dezember 1883 zur Kenntnis der Behörden gelangte, sah sich eine 13-jährige unehelichen Tochter, die den größten Teil ihres Lebens bei der Großmutter im Mecklenburgischen verbracht hatte, den vereinten Disziplinierungsbemühungen von Mutter und Stiefvater ausgesetzt (1883, Meier, Serie III 2976). Vom gelähmten Stiefvater mit diversen Gegenständen malträtiert, von der Mutter unter massiven Drohungen aus der Wohnung befördert, hatte das Mädchen Zuflucht bei den Nachbarsfrauen gesucht, die sich nach einiger Zeit an die Polizei wandten. Schon während der polizeilichen Vorermittlungen war deutlich geworden, dass die Antipathien zwischen Eltern und Kind auf Gegenseitigkeit beruhten, denn der Stiefvater behauptete, zu seinen Ausschreitungen durch das Mädchen gereizt worden zu sein, das ihn verlacht und verhöhnt und regelmäßig hilflos sich selbst überlassen habe. Die Mutter des Kindes hatte keineswegs eine vorteilhaftere Meinung von ihrer Tochter. Nach ihrer Ansicht wollte das Mädchen durch ihr Verhalten nur bezwecken, dass sie von zu Hause wieder fortkomme und ihre bisherige Freiheit zurückerlange. Als Grund für die körperlichen Züchtigungen gab die Mutter an, „daß d. Mädchen, ihre außereheliche Tochter, bei ihrer Großmutter, Meyer in Sülz (Mecklenburg), wo sie vor ihrer, der Comparentin, Heirath gelebt, sehr schlecht erzogen sei. Es koste die äußerste Energie, um das Mädchen zu größerer Reinlichkeit oder Fleiß anzuhalten, das aber hoffe sie durch strenge Behandlung zu erreichen. Mit Güte sei das Mädchen, so oft es auch versucht, nicht zu regieren.“1
auch in auffälliger Weise mit dem Verhalten der Mutter, als sie von der Inobhutnahme ihrer Tochter erfuhr. (Vgl. unten, S. 615). 1 Ganz ähnliche häusliche Verhältnisse bewogen zwei Jahre später ein in Winterhude lebendes elfjähriges Mädchen, sich freiwillig in polizeiliche Schutzhaft zu begeben (1884, Peters, Abt. II 169). Vgl. auch 1884, Kröger, Abt. I 337, ein Fall in dem sämtliche Stationen der Pflegekindkarriere eines achtjärigen Jungen dokumentiert sind.
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Durch die qualitative Untersuchung der Personenakten lässt sich der weiter oben wiedergegebene Befund stützen, wonach sittlich-moralische Aspekte in Erziehungsauseinandersetzungen, die von Eltern der Polizei oder der Vormundschaftsbehörde zur Kenntnis gebracht wurden, nur eine nachgeordnete Rolle spielten. Selbst alleinstehende Mütter, die sich an die Vormundschaftsbehörde wandten, weil sie die nächtlichen Ausgänge ihrer heranwachsenden Töchter nicht mehr unterbinden konnten, hoben in ihren Anzeigen nicht so sehr auf die „sittliche Verwerflichkeit“ vorehelicher Sexualkontakte ab. Vielmehr trieb sie offenbar vor allem die Sorge um die Konsequenzen solcher Verbindungen in Form ungewollter Schwangerschaften um.1 Wenn doch einmal die „Liederlichkeit“2 der Töchter betont wurde, so war das nicht selten dem Umstand geschuldet, dass zuvor schon ein „Moralunternehmer“ aus dem Kreis der Pastoren und Stadtmissionare auf das Verhalten des betreffenden Mädchens aufmerksam geworden war und durch sein Werturteil Einfluss auf die Problemdarstellung der Eltern genommen hatte. So motivierte eine in der Neustadt wohnende, geschiedene Mutter ihren Antrag auf Bevormundung ihrer 16-jährigen Tochter mit deren „unordentlichem Lebenswandel“. „Dieselbe betrinke sich oft, sei arbeitsscheu und treibe sich umher“, weshalb es dringend erforderlich sei, „daß ihre Tochter entweder in einer Anstalt untergebracht oder unter eine sehr strenge Vormundschaft gestellt werde“.3 Könnte man diese Passage aus dem Protokoll der Vormundschaftsbehörde noch für eine authentische Aussage der Mutter halten, so ließ sich der tatsächliche Hintergrund der Anzeige aus dem weiteren Verlauf der Unterredung relativ unzweideutig herauslesen. Anders als die meisten antragstellenden Mütter wusste sie auf die obligatorische Frage des Sekretärs, wen sie denn als Vormund vorschlagen könne, nämlich sogleich einen Pastoren zu benennen, der sich bereit erklärt hatte, das Amt zu übernehmen.4 Dass Mütter im unmittelbaren Vorfeld ihrer Anzeigen im Austausch mit Pastoren und Stadtmissionaren standen, war kein Einzelfall – und nicht selten 1 Vgl. etwa 1894, Kolle, Abt. I 6282 u. 1894, Peters, Abt. II und STAH 232-1 Abt. II 2881. Lipp [1990], S. 246 zitiert Othmar Spann mit der Einschätzung, dass im Sittenkodex des proletarischen Milieus der außereheliche Geschlechtsverkehr hauptsächlich „unter dem Gesichtspunkt seiner Folgeerscheinungen und der wirtschaftlichen Möglichkeiten, diese zu tragen“ beurteilt worden sei. 2 Auch der Begriff der „Liederlichkeit“ war keineswegs ausschließlich für Mädchen und Frauen reserviert (vgl. etwa: 1884, Schumann, Abt. II 305; 1894, Michaelsen, Abt. II 6246; 1901, 1902 und 1912, Wauge, D 157, sowie bezogen auf volljährige, entmündigte Personen: STAH 232-1, D 27 u. D 175). Im Unterschied zum „Leichtsinn“ enthielt er jedoch ein klares Unwerturteil, das sich auf das Sexualverhalten einer Person bezog. 3 STAH 232-1, Abt. I 5960. 4 Bei seiner zwei Monate später erfolgten behördlichen Vernehmung beseitigte der Vormund dann den letzten Zweifel, wer der eigentliche Initiator des Gesuchs gewesen war. Sein Mündel, so erklärte er freimütig, sei bereits vor seiner Beeidigung auf sein Betreiben hin in der „Zufluchtsstätte“ Eppendorf untergebracht worden.
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ließ sich auch ein konkreter Hinweis darauf finden, dass die Gesuche von diesen wenn nicht aktiv unterstützt, so doch angeregt worden waren.1 Besonders gut lässt sich die Unterstützung elterlicher Gesuche auf vormundschaftliche „Überwachung und Erziehung“ am Beispiel des Rothenburgsorter Stadtmissionars Heinrich Irwahn (1835-1892) veranschaulichen. Irwahn war für sein jugendfürsorgerisch-konfessionelles Engagement bekannt, und wie für seine „Rettungsarbeit“ insgesamt, so war auch für seine Zusammenarbeit mit der Vormundschaftsbehörde eine sehr offensive Herangehensweise kennzeichnend.2 Im August 1884 wandte er sich mit folgendem Schreiben an die Vormundschaftsbehörde (1884, Lenschow, Abt. II 420): „Hochzuverehrende, löbliche Vormundschafts-Behörde! Den 14 jährigen Sohn der von ihrem Manne böswillig verlassenen Frau Lenschow, Kattrepel No. 24, 4. Etg. treibt sich bis in die Nächte umher, ist der Zucht seiner an den Folgen des Schlagflusses leidenden Mutter entwachsen und bedarf, wenn er nicht untergehen soll, der Vormundschaft, welche ich verordnen zu wollen ganz gehorsamst bitten möchte. Zu Vormündern erlaube ich mir vorzuschlagen Herrn Heide, Schneidermeister, Schreinemakersst. 46, Herrn Irwahn, Stadtmissionar, Billh. Röhrendamm 89. In höchs. Hochachtung Ganz ergebenst A.U.G. Irwahn, Stadtmissionar.“
Sozusagen in Reinform zeichnet hier Irwahn das Bild der „schwachen Mutter“, die, auf sich allein gestellt und krank, ihrem schon aus der Schule entlassenen Sohn nicht mehr gewachsen ist und dringend der obrigkeitlichen Unterstützung in Form der Bestellung eines „starken“ männlichen Vormundes bedürfe, zu welchem Amt er sich kurzerhand selbst vorschlägt. Es ist nicht leicht, die Bedeutung des geschilderten Engagements von Stadtmissionaren und Pastoren für die vormundschaftsgerichtliche Praxis insgesamt abzuschätzen. Vorstellbar ist, dass ihr wiederholtes Eintreten für die Interessen alleinstehender Mütter mit Erziehungsproblemen ebenso wie die gezielte Einspannung der Vormundschaftsbehörde für diese Zwecke einen strukturbildenden Effekt auf die vormundschaftsgerichtliche Interventionspraxis hatte. Immerhin handelte es sich bei den Stadtmissionaren und Pastoren um die einzige mehr oder weniger klar umrissene gesellschaftlich Gruppierung, für die sich eine gezielte „Nutzung“ vormundschaftsgerichtlicher Maßnahmen nachweisen ließ. Umgekehrt dürfte der Vormundschaftsbehörde das Engagement der Stadtmissio1
Vgl. neben den zitierten Fällen auch: 1882, Palau, Serie III 1558, Irwahn waren über die Jahre hinweg nicht weniger als 43 Vormundschaften übertragen worden (Dießenbacher [1986], S 235). Zum beruflichen Werdegang und Wirken Heinrich Irwahns vgl. den Nachruf in „Fliegende Blätter“ 1892, S. 441-446. 2
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nare auch durchaus gelegen gekommen sein, denn dadurch erübrigte sich in zahlreichen Fällen die mühsame Suche nach motivierten Einzelvormündern. Für die Annahme einer Indienstnahme der Vormundschaftsbehörde durch die Stadtmissionare spricht schließlich auch, dass es Fälle gab, in denen diese über die Unterstützung mütterlicher Bevormundungsgesuche weit hinausgingen.1 Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass die „Moralunternehmer“ von der „Inneren Mission“ den Sorgerechtsentzugs gezielt für eigene Interessen eingespannt hätten, indem sie etwa den konfessionellen Rettungsanstalten Kinder zuzuführen versuchten, lassen sich allerdings in den Personenakten nicht finden. Wahrscheinlich ist dies darauf zurückzuführen, dass sich die Einforderung staatlicher Interventionen nur schwer mit dem Ideal „freiwilliger Rettungsarbeit“ vereinbaren ließ, dem die Brüder des „Rauhen Hauses“ verpflichtet waren. Die Stadtmissionare gehörten dem protestantisch non-interventionistischen Lager innerhalb der bürgerlichen Sozialreform an. Staatliche Eingriffe in die „heiligsten Rechte“ der Eltern blieben ihnen suspekt. Nach ihrem traditionellen paternalsitischen Fürsorgeverständnis konnte es nur darum gehen, die väterliche Autorität wiederherzustellen. Im Falle von alleinstehenden Müttern hieß das aber, dass ihnen zunächst einmal ein männlicher Begleiter und Erzieher in Form eines Vormundes zur Seite gestellt werden musste. Eine Kindeswegnahme auf der Basis eines formellen Gerichtsbeschlusses dürfte für die Stadtmissionare demgegenüber nur als letztes Mittel in Betracht gekommen sein.
5.5.2.1.2 Eheauseinandersetzungen um die Kindeserziehung und Konflikte mit dem weiteren sozialen Umfeld Neben den Eltern-Kind-Konflikten, die hier in ihren verschiedenen Facetten ausgiebig erörtert wurden, spielten in den Fällen, die der Vormundschaftsbehörde zur Kenntnis gelangten, auch Ehestreitigkeiten und Auseinandersetzungen in der Nachbarschaft/Verwandtschaft eine bedeutende Rolle. Nur selten standen sie allerdings eindeutig im Vordergrund. Häufiger anzutreffen war eine Vermischung oder Überlagerung der verschiedenen Konfliktebenen. Das ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass Ehe- und Verwandtschaftskonflikte, die das ElternKind-Verhältnis gar nicht tangierten, für die Vormundschaftsbehörde bedeutungslos gewesen wären. Oder anders formuliert: Erst wenn die gegenseitigen Anschuldigungen so massiv waren, dass von der Behörde eine Überprüfung der 1 1891 tat sich Irwahn beispielsweise mit einer jungen Lehrerin zusammen, um sich bei der Vormundschaftsbehörde für die Fremdunterbringung eines 14-jährigen Mädchens einzusetzen, das von seiner Stiefmutter mit Arbeit überhäuft und dadurch am Lernen gehindert worden war (1892, Führing, Abt. I 4238).
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häuslichen Verhältnisse in die Wege geleitet und ein Absetzungs- bzw. Entzugsverfahren erwogen wurde, wurden die betreffenden Fälle in die Auswertung einbezogen. Schon aus diesem Grund können die beiden genannten Konfliktarten knapper abgehandelt werden als die Auseinandersetzungen, die sich zwischen Kindern und ihren Eltern entspannten. Am einfachsten ließen sich die unterschiedlichen Konfliktlinien in Ehescheidungsfällen auseinanderhalten. In einem Fall aus dem Jahre 1882 befanden sich die Eltern zweier Schulmädchen noch im Ehescheidungsprozess, als sich die Mutter dazu entschloss, die Vormundschaftsbehörde in die Auseinandersetzung um ihre Kinder einzuschalten (1883, Spiegel, Serie III 2078). Die Mutter, die ihren Mann wegen dauernder Misshandlungen verlassen hatte, wollte mit ihrer Anzeige bewirken, dass die beiden beim Vater lebenden Mädchen zu ihr kämen, weil sie bei ihrem Ehemann „schlecht aufgehoben seien“. Der in die Poststraße geladene Vater stellte die Aussagen seiner Frau in Abrede, behauptete, sie habe niemals Ansprüche auf ihre Kinder erhoben und wolle ihn mit den Anschuldigungen nur kränken. Blieben diese gegenseitigen Vorwürfe noch auf der Ebene der Zerwürfnisse, die einen Ehescheidungsprozess üblicherweise begleiteten, so holte der Ehemann mit seinen Erklärungen zum Hintergrund der Scheidung zu einem Gegenschlag aus, der geeignet war, den Leumund der Ehefrau nachhaltig zu schädigen. Bezogen auf die Trennung gab er nämlich an, seine Ehefrau habe „mehrfach die eheliche Treue gebrochen und sei in hohem Grade leichtsinnig“. Von ihm und ihren Kindern habe sie sich nicht etwa wegen Misshandlungen seinerseits getrennt, sondern nur deshalb, weil sie ungestört mit ihrem Geliebten verkehren wolle. Er selbst bitte deshalb um die Bestellung von Spezialvormündern, die sich von der Sorgfalt überzeugen könnten, mit der er sich der Kindeserziehung widme.1 Wie schon bei den „reinen“ Eltern-Kind-Konflikten, so spielte auch in Auseinandersetzungen, die Eltern untereinander um die Erziehung ihrer Kinder führten, der wirtschaftliche Aspekt regelmäßig eine tragende Rolle. Die Alimentationsproblematik entzündete sich in unbegüterten Schichten nicht sosehr an der Frage, ob die formulierten Ansprüche überhaupt und in ihrer Höhe gerechtfertigt waren, sondern bezog sich einerseits auf die Schwierigkeit ihrer faktischen Durchsetzung und andererseits auf die fiskalischen Interessen, die der Staat an der Abwendung zusätzlicher Armenkosten hatte. Die Väter konnten, solange der Scheidungsprozess noch schwebte, die Unterbringungsart der Kinder einseitig diktieren, indem sie sich nur zu Zahlungen des Kostgeldes an Dritte bereit erklärten oder behaupteten, sie seien außerstande, die Alimentierung anders als in 1 Dass der Versuch der sittlichen Diskreditierung von Ehepartnern als Reaktion auf die Höherstufung des Konflikts durch Einschaltung der Vormundschaftsbehörde nicht untypisch war, belegt auch ein anderer Fall aus der Mitte der 1880er Jahre (1885, Werkholz, Abt. II 844).
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Form der Unterstützung und Erziehung im eigenen Haushalt zu gewähren. Ein Fall aus dem Jahre 1894 dokumentiert nicht nur diese Machtstellung der Väter, sondern zeigt gleichzeitig, dass auch Mütter vor ehrrüchigen Anschuldigen zur Diskreditierung der Kindesväter nicht zurückscheuten. Eine Mutter, die sich im Ehescheidungsprozess mit ihrem Mann befand, wandte sich im Winter 1893/94 mit der Bitte an die Vormundschaftsbehörde, sie bei der Durchsetzung der Alimentationsansprüche ihrer ältesten, 15-jährigen Tochter zu unterstützen (1894, Michaelsen, Abt. II 6246). Das Mädchen bedurfte nach Darstellung der Mutter dringend einer neuen Ausstattung. Der vorgeladene Vater, der als selbständiger Linear tätig und damit offenbar in der Lage war seiner Alimentierungspflicht nachzukommen, behauptete demgegenüber, seine Tochter erst zu Weihnachten neu ausstaffiert zu haben und ihr überdies bei der Stellensuche behilflich gewesen zu sein. Seine Tochter aber sei aus allen vermittelten Stellen nach kurzer Zeit wieder fortgelaufen. Weil sie zudem verlogen sei und von seiner Ehefrau ganz verdorben werde, wollte er das Mädchen in einer privaten Erziehungsanstalt unterbringen. Als die Vormundschaftsbehörde daraufhin eine Spezialvormundschaft zur Prüfung der Frage einleitete, ob das Mädchen bei ihrer Mutter verbleiben könne, griff die von dieser unerwarteten Wendung aufgeschreckte Antragstellerin sofort zur Feder. In einem Brief an die Behörde beschwor sie ihren unbescholtenen Leumund, um dann zum Gegenschlag auszuholen. „Mein Mann“, so erklärte sie, „kann unter keinen Umständen eine sittlich anständige Erziehung seinen Töchtern zutheil werden lassen, indem mein Mann den liederlichsten Lebenswandel, die wildesten Orgien feiert, und das eigene Heim mit seiner Arbeiterin beschmutzte und noch von mir, seiner Frau, verlangte, dieses Mädchen in seinem Bette entbinden zu lassen.“ Wie bei den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und ihren Kindern befand sich grundsätzlich auch bei Zwistigkeiten, die die Eltern untereinander austrugen, derjenige Teil im strategischen Vorteil, der sich zuerst an die Behörde wandte.1 Welche der beiden Parteien in der Eröffnungsphase des Verfahrens die Sache zu ihren Gunsten beeinflussen konnte, war offenbar in erster Linie davon abhängig, ob es den Müttern oder Vätern gelang, sich einem idealisierten Bild der Vater- bzw. Mutterrolle entsprechend zu verhalten und die ihnen entgegengebrachte behördliche Skepsis zu zerstreuen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die uneheliche Mütter bei der Eintreibung der Alimente ihrer Kinder machten, war klar, dass Frauen vor allem darauf bedacht sein mussten, den Eindruck der sittlichen und das hieß in erster Linie: sexuellen Unbescholtenheit aufrechtzuerhalten. Väter waren demgegenüber dem Generalverdacht ausgesetzt, sich vor den finanziellen Belastungen durch ihre Kinder zu drücken und ihr Geld 1 Üblicherweise handelte es sich dabei um die Mütter. Hin und wieder ging die Initiative allerding auch von einem Vater aus. Vgl. etwa: 1884, Schönfeldt, Abt. II 468.
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lieber zur Deckung ihrer eigenen Bedürfnisse auszugeben. Insofern lässt sich der Rückgriff auf sittliche Kategorien bei den ehelichen Auseinandersetzungen auch als Reaktion auf die antizipierte behördliche Wahrnehmung von Müttern und Vätern aus der Unterschicht insgesamt werten. Im Fall der getrennt lebenden Eheleute Woidt, der im Winter 1901 aktenkundig wurde, war es eindeutig die Ehefrau, welche die Sympathien für sich gewinnen konnte. Bereits im März des Jahres hatte sich Hermine Woidt, Mutter vierer Kinder, die sich als Teeverleserin notdürftig über Wasser hielt, mit folgendem Gesuch an die Vormundschaftsbehörde gewandt: „An die Löbl. Obervormundschaftsbehörde, Hier. Unterzeichnete erlaubt sich mit nachstehendem Gesuch an die löbl. Obervormundschaftsbehörde zu wenden. – Dieselbe ist seit dem 24. Januar cr. von ihrem Ehemann getrennt, da sich die Unterzeichnete mit demselben nicht vertragen konnte. Da sich nun ihr Ehemann absolut nicht um seine Familie kümmert, auch nichts für sein Kind Anna, welches im fünften Lebensjahre steht, zur Alimentirung hergiebt, bittet die ergebenst Unterzeichnete die Löbl. Obervormundschaftsbehörde ihr für das Kind einen Vormund beiordnen zu wollen. Ergebenst Hermine Woidt Teilfeld 22 Hs 15 I b. Rumblich“.
Nachdem sie bei ihrer persönlichen Vernehmung die Vorwürfe wiederholt und als Grund für die Trennung von ihrem Mann angegeben hatte, dieser habe sie in angetrunkenen Zustand ständig misshandelt, bestellte die Behörde einen Pfleger zur Geltendmachung der erhobenen Alimentationsansprüche. Dieser berichtete wenig später, dass der Vater nur bereit sei, das Kind zu alimentieren, wenn es von der Mutter fortgenommen und in einer ländlichen Pflegestelle untergebracht werde. Die Ehefrau weigere sich jedoch ganz entschieden, dieser Forderung nachzukommen, weil sie nicht glaube, „daß das Kind, das sehr an sie gewöhnt sei, eine Trennung ertragen könne, [...] sie sei [...] während ihrer ganzen freien Zeit immer mit dem Kind zusammen, besonders Sonn- und Feiertags.“ Für den Pfleger war die Sache damit klar: Die Ehefrau Woidt entsprach mit ihrer Äußerung sehr weitgehend dem bürgerlichen Idealbild der verantwortungs- und liebevollen Mutter, während die Verwirklichung der Absichten des Vaters, das „noch ganz unbeholfene Kind von der Mutter weg[zureissen]“, in seinen Augen einen Missbrauch seiner Rechte darstellten. Dem Typus des trunkfälligen Vaters, der Frau und Kinder misshandelte, begegnet man in den Personenakten der Vormundschaftsbehörde häufiger, und er war offensichtlich in besonderer Weise geeignet, die Behördenvertreter für die
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Mütter und Kinder einzunehmen.1 Dass sich die Frauen von ihren prügelnden Ehemännern offiziell trennten, stellte allerdings eine Ausnahme dar.2 Schon Frauen, die den Mut aufbrachten, den wegen Kindesmisshandlung ermittelnden Polizeibeamten gegenüber einzugestehen, dass auch sie von ihren Männern geschlagen wurden, besaßen Seltenheitswert.3 In vielen Fällen erduldeten die Frauen ihre gewalttätigen Ehemänner bis zu ihrem eigenen frühen Tod. Wenn sich dann die nahen Verwandten mütterlicherseits den waisen Kindern annahmen, schlossen sich oftmals Verwandtschaftskonflikte lückenlos an die früheren Eheauseinandersetzungen an. Im Fall der zehnjährige halbwaisen Anna Muurmann, die von ihrem Vater im Alkoholrausch mit einer Feuerzange traktierten worden war, waren es die beiden älteren, schon verheirateten Schwestern sowie eine Tante väterlicherseits, die sich an die Vormundschaftsbehörde wandten (1884, Muurmann, Abt. II 236). Sie gaben zu Protokoll, dass der Vater häufig betrunken sei und „in diesem an Delirium grenzenden Zustande [...] seine Tochter mit dem ersten Gegenstand, den er findet“, misshandle. Außerdem warfen sie ihm vor, dass Kind nicht rein zu halten und nur unzureichend zu kleiden. Der Vater verteidigte sich gegen diese Anschuldigungen, indem er behauptete, seine älteren Töchter seien nur wütend über seinen Entschluss, sich mit einer bereits bei ihm wohnenden Frau wiederzuverehelichen und hätten Anna aus diesem Grund gegen ihn aufgehetzt. In einem anderen Fall von Anfang der 1880er Jahre zog der Schwager eines verarmten Hammerbrooker Tischlermeisters sämtliche Register gegen den Mann seiner erst kürzlich verstorbenen Schwester (1883, Herrling, Serie III 2925). Er hatte den Schwager nicht nur wegen der Misshandlung seiner sechs noch minderjährigen Kinder bei der Polizei angezeigt, sondern parallel dazu auch dessen Entmündigung beim Landgericht angestrengt, weil er ihn für einen „notorischen
1 In einem einzigen Fall aus dem Jahre 1884 zeigte ein in Eppendorf lebender, arbeitsloser Ehemann seine Frau wiederholt bei der Polizeibehörde an und bat um ihre Unterbringung in einer Besserungsanstalt, weil sie „dem Trunke sehr ergeben sei & in diesem Zustand seine 5 Kinder im Alter von 2-12 Jahren misshandele“. (1884, Dorndorf, Abt. I 263). 2 Das dürfte nicht nur mit der begründeten Angst vor einer Eskalation des Konflikts und den absehbaren wirtschaftlichen Konsequenzen zu tun gehabt haben, sondern auch mit dem restriktiven Scheidungsrecht. Hin und wieder fanden sich in den Personenakten auch Hinweise darauf, dass sich Frauen wegen Misshandlungen auch ohne gerichtlichen Prozess von ihren Ehemännern getrennt hatten. (1884, Koops, Abt. I 272) 3 Vgl. etwa: 1883, Schmid, Serie III 2650. Anna Schreck, eine der Mütter, die sich schließlich doch der Vormundschaftsbehörde anvertrauten, erklärte, sie habe die Misshandlungen „9 Jahre lang ertragen, um die Sache nicht unter die Leute zu bringen“. Nach dem letzten Exzess ihres Mannes war sie allerdings entschlossen, sich scheiden zu lassen und erbat aus diesem Grund um Bestellung eines Vormundes für ihre Kinder (1883, Schreck, Serie III 2774).
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Säufer“ hielt.1 Die Abwehrversuche des Vaters gegen diese massiven Anschuldigungen muten etwas hilflos an. Schon vor der behördlichen Vernehmung des Schwagers hatte er versucht, die ganze Sache als Auswüchse eines Familienzwistes darzustellen. Dem Schwesterbruder, so erklärte er, gehe es in Wirklichkeit nur darum, ihm seine Kinder zu entfremden.2 Neben der „Rohheit“ und „Trunkfälligkeit“ der Väter und Ehemänner konnte auch ihr sittlich zweifelhafter Umgang mit Frauen den Anstoß zu Einmischungen aus der näheren Verwandtschaft geben. Vielleicht nicht zufällig waren es in den beiden Fällen des Samples, in denen dies zutraf, die direkten Angehörigen der Väter selbst, welche die behördlichen Eingriffe anstrengten. In dem einen Fall, der aus dem Jahr 1884 datiert, hatte ein junger Witwer aus St. Pauli, Vater zweier noch sehr kleiner Kinder, seinen eigenen Vater dermaßen gegen sich aufgebracht, dass dieser ihn ebenfalls gleich zweifach denunzierte (1884, Kuhlmann, Abt. I 278). Der Sohn hatte sich kurz nach dem Tode der Mutter seiner Kinder mit einer noch anderweitig verheirateten Frau zusammengetan – sehr zum Missfallen seines Vaters, der ihn vorübergehend bei sich im Hause aufgenommen hatte. Es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden, bei denen der 64-jährige Großvater allem Anschein nach unterlegen war. Wegen dieser Attacken zeigte er seinen Sohn bei der Staatsanwaltschaft an, um sich kurz darauf mit einem „Absetzungsantrag“ an die Vormundschaftsbehörde zu wenden. Selten uferten Familienzwiste so aus wie im zweiten Fall eines wegen seines abweichenden Sexualverhalten angezeigten Vaters (1881, Wulff, Serie III 874). Da die Auseinandersetzung eine Reihe von Besonderheiten aufwies, die unter anderem mit dem jüdischen Glauben der Eltern zusammenhingen, soll sie hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Den Auftakt zur Geschichte, die die Vormundschaftsbehörde über 20 Jahre lang beschäftigte, bildete die Anzeige der schwerkranken Ehefrau. Über einen Anwalt ersuchte sie die Vormundschaftsbehörde, die von ihrem Mann geforderte Auslieferung ihrer bei Verwandten untergebrachten Kinder durch geeignete Maßnahmen zu unterbinden. Zur Begründung gab sie an, derselbe habe sie vor zwei Jahren völlig mittellos sitzen gelassen und sein ganzes Vermögen mit einer jungen Witwe durchgebracht, zu der er schon seit Jahren ein illegitimes Verhältnis unterhalte. Unterschrieben war das anwaltliche Schreiben von sämtlichen näheren Verwandten mütterlicher und väterlicherseits. 1 Diese zweite Maßnahme hielt er für notwendig, weil der Vater einerseits schon den gesamten Hausrat versetzt habe und andererseits von seinen betagten Eltern noch ein beträchtliches Vermögen erwarten würde, das seinen Kindern unbedingt erhalten bleiben müsse. 2 Auch in einem weiteren Fall aus demselben Zeitabschnitt waren es die Schwager, die sich für die Kinder ihrer verstorbenen Schwester einsetzten (1884, Müller, Abt. II 206).
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Bei seiner ersten kommissarischen Vernehmung setzte sich der Vater gegen diese Anschuldigungen zur Wehr, indem er behauptete, nicht er habe sich von seiner Ehefrau, sondern diese sich von ihm getrennt, und zwar „auf Anstachelung der Familie“. Er bestritt vehement, mit der benannten Witwe intimen Kontakt zu pflegen und sich um seine Kinder jahrelang nicht gekümmert zu haben. Auf Drängen seines Bruders, der nach dem kurze Zeit darauf erfolgten Tod der Ehefrau noch diverses „Beweismaterial“ zu den Akten gab, bestellte die Vormundschaftsbehörde schließlich eine Spezialvormund, der prüfen sollte „ob nicht Simson Hirsch Wulff wegen Unwürdigkeit zu remontiren sei.“ Jahre später wandte sich der Vater, dem inzwischen all seine Rechte genommen worden waren und der mehrfach vergeblich versucht hatte, seine Wiedereinsetzung als väterlicher Vormund zu erwirken, in einem mitleidserheischenden Brief an die Behörde, um sich noch einmal über die familiären Hintergründe der Auseinandersetzung um seine Kinder auszulassen: „Der ganze Groll der von einem jüngsten Bruder und deren angeheiratheten Schwägern aus gegen mich existirt, ist doch lediglich derjenige, daß ich, von mosaischer Confession, zu der sich auch die Kinder bekennen, eine Christin geheirathet habe. Ich glaube wohl daß eine so brave Frau wie diese es ist, auch den Kindern [...], mit Liebe und Sorgfalt entgegentreten kann. Daß das Gegentheil geglaubt wird ist doch keine Thatsache.“
Man kann in den soeben nachgezeichneten Konflikten historische Ausläufer jener Kämpfe um die Familienehre sehen, die die Angehörigen der städtischen Unterschichten der frühen Neuzeit dazu bewogen, sich hilfesuchend an die Obrigkeit zu wenden.1 Von der Dramatik, die diese Auseinandersetzung gekennzeichnet hatten, fehlte allerdings in den Hamburger Familienzwisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts jede Spur. An die Stelle der „Ehre“ war im Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung das Konstrukt der „Respektabilität“ getreten. Vor allem im Kleinbürgertum und in der gelernten Arbeiterschaft war es üblich, sich als „respektabel“ auszuweisen. Das beinhaltete jedoch auch, sich auf Streitereien der oben dargestellten Art erst gar nicht einzulassen. Als „Bühne“ für Auseinandersetzungen um die Familienehre eignete sich die Großstadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur noch bedingt. Dass sich die Verhältnisse gegenüber dem 18. Jahrhundert erheblich gewandelt hatten, geht auch aus der Struktur jener Konflikte hervor, die sich zwischen Eltern und dem weiteren sozialen Umfeld entspannten. Wenn sich Ver1 Vgl. zu den „Ehrenhändeln“ der Pariser Unterschicht im späten 17. und 18. Jahrhundert und zum Rückgriff auf die staatlichen Instanzen zur Regelung dieser Konflikte: Farge/Foucault [1989] und Dinges [1994].
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wandte in die Beziehung der Eltern und ihre Erziehungsverhältnisse einmischten, so handelten sie offenbar aus einem Gefühl der Verantwortung heraus. Mischten sich hingegen nichtverwandte Dritte in die Kindeserziehung ein, so spielten dabei nicht selten andere Motive eine Rolle. In einem bereits zitierten Missbrauchsfall, der von einem in der Nachbarschaft der beschuldigten Stiefmutter lebenden Klempner angezeigt worden war, wurde schon im Rahmen der Vorermittlungen der Verdacht laug, der Denunziant könnte aus Rache gehandelt haben (1885, Fangmann, Abt. I 780). Der Klempner war offenbar erbost darüber, dass der Ehemann der Beschuldigten, ein Kellerwirt und Hausbesitzer, seinen Mietern empfohlen hatte, die Dienste eines anderen Handwerkers in Anspruch zu nehmen, weil er die Preise des Klempners für überhöht hielt. Eine andere, ebenfalls der Misshandlung ihrer Stiefkinder beschuldigte Frau sah einen Zusammenhang zwischen den gegen sie geführten „Verleumdungen“ und ihrer Weigerung, die Kunden ihres Grünwarenhandels noch weiter „anschreiben“ zu lassen (1885, Fangmann, Abt. I 780). Ob solche Aussagen der Wahrheit entsprachen oder eher Ablenkungsmanöver darstellten, lässt sich nicht mehr feststellen und ist auch nur von sekundärer Bedeutung. Die Hinweise auf geschäftliche Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit Misshandlungsanzeigen zeigen gleichwohl deutlich, wie stark sich lebensweltliche Konflikte zum Teil überlagerten. Und das machte die Ermittlungsarbeit der Vormundschaftsbehörde nicht eben leichter. Die häufigsten nichtverwandtschaftlichen Konflikte, die zu einer Anzeige bei der Vormundschaftsbehörde führten, waren solche zwischen leiblichen Eltern und Pflegeeltern.1 Die Gesuche, die von Pflegeeltern an die Vormundschaftsbehörde gerichtet wurden, waren zumeist durch eine Kombination aus Verantwortungsbewusstsein, Zuneigung und finanziellem Interesse motiviert.2 Die Verköstigung und Verpflegung von Kindern stellte zumal für alleinstehende, ältere Frauen eine attraktive Erwerbsquelle dar. Insbesondere dann, wenn der Unterhalt der Kinder von der Armenanstalt bestritten wurde, war auf diese Art von Zuverdienst Verlass. Insofern waren „Kostmütter“ nicht sehr erfreut, wenn sich die leiblichen Eltern wieder verstärkt den eigenen Kinder zuwandten oder diese sogar zurückverlangten. Musste das Kostgeld demgegenüber von den leiblichen Eltern selbst aufgebracht werden, so war das Verhältnis zwischen Pflegeeltern und leiblichen Eltern schon durch diesen Umstand belastet, denn Verdienstaus1 Bei den meisten „Kosteltern“, die sich mit Anzeigen an die Vormundschaftsbehörde wandten, handelte es sich um Großeltern oder Onkel und Tanten der betroffenen Kinder. Zumeist versuchten sie sich für ihre malträtierten Enkel, Neffen und Nichten zu verwenden. Aber auch bei manchen dieser Anzeigen ging es neben dem Wohlergehen der Kinder um die Zahlung des Kostgeldes. Vgl. hierzu etwa: 1883, Crause, Serie III 277 u. 1887, Erbts, Abt. I 860. 2 Eine weitere Auseinandersetzung zwischen nichtverwandten Kosteltern und einer leiblichen Mutter über die Zahlung des Kostgeldes ist dokumentiert in: 1883, Faasch, Serie II 6740;
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fälle auf Seiten der Eltern führten sogleich auch zu Unregelmäßigkeiten in der Bezahlung des Kostgeldes. Aber selbstvertändlich war der finanzielle Aspekt nicht der einzige Grund, weshalb sich „Kostmütter“ dagegen sträubten die ihnen einmal anvertrauten Jungen und Mädchen wieder herzugeben. Viele hatten offenbar auch eine innige Beziehung zu den Kindern entwickelt und sorgten sich um ihr zukünftiges Wohlergehen. Dass auch unterschiedliche Erziehungsstile den Grund für Streitereien zwischen leiblichen Eltern und Pflegeeltern abgeben konnten, wurde weiter oben schon erwähnt. Hier soll die Störanfälligkeit dieses Verhältnisses an einem besonders anschaulichen Fall noch einmal exemplarisch dargestellt werden. Im Spätsommer des Jahres 1894 wandte sich ein kinderloses Ehepaar an die Vormundschaftsbehörde, das seit vielen Jahren ein Mädchen bei sich hatte, welches von seiner Mutter, einer Prostituierten, kurz nach der Geburt per Annonce „ausgetan“ worden war (1894, Tietze, Abt. II 6693). Die Pflege-Eltern trieb die Sorge um, die leibliche Mutter könnte ihre inzwischen 14-jährige Tochter zurückverlangen, und sie baten die Behörde, dies durch geeignete Maßnahmen zu unterbinden. Anlass zu den Befürchtungen hatten Wiederannäherungsversuche der Mutter gegeben, die nach längerem Aufenthalt in London kurz zuvor mit ihrem „Zuhälter“ nach Hamburg zurückgekehrt war und ihr Kind zu sehen wünschte. Als Beleg der Ernsthaftigkeit der mütterlichen Absichten legten die Pflegeeltern der Vormundschaftsbehörde mehrere Briefe der Mutter vor, aus denen hervorging, dass sich die beiden Parteien schon seit Jahren über die Zahlung des Kostgeldes stritten. Die Geldforderungen der Kosteltern waren von der Mutter immer wieder mit der Drohung quittiert worden, ihr Kind notfalls anderswo unterzubringen. Gleichzeitig dokumentierten die Briefe, wie fremd sich Mutter und Tochter über die Jahre hinweg geworden waren und wie sehr sich die Kosteltern bemühten, dass dies auch so blieb.1
5.5.2.2 Anzeigen ohne erkennbaren Konfliktanlass In den näher untersuchten Personenakten fanden sich eine Reihe von Fällen wieder, bei denen jede Spur von einem lebensweltlichen Konflikt im Vorfeld der gerichtlichen Interventionen fehlte. Entweder war hier der Anstoß für die vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen aus dem Kreis der Instanzen informeller Sozialkontrolle gekommen, ohne dass den Akten Anhaltspunkte für das Bestehen von Nachbarschafts- oder Verwandtschaftsstreitigkeiten zu entnehmen wa1 Eine persönliche Begegnung zwischen Mutter und Tochter war durch die Kosteltern verhindert worden, und offenbar hatten sie auch die in den Antwortschreiben formulierten Forderungen ihrem Pflegekind diktiert.
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ren.1 In diesen Fällen knüpfte die formelle Sozialkontrolle offenbar nahtlos an die gesellschaftliche Ächtung durch das sozialen Umfeld an. Oder der Anstoß erfolgte durch eine andere staatliche Stelle, die bereits mit der Familie „zu tun“ hatte, sei es, dass die Familie Armenunterstützung bezog, das Kind in der Schule auffällig geworden war oder eines der Familienmitglieder von der Polizei aufgegriffen wurde. Die im Folgenden geschilderten Fälle stimmen noch am ehesten mit dem Bild überein, das die Fürsorgegeschichtsschreibung von dem Verhältnis zwischen staatlichen Fürsorge- und Kontrollinstanzen und ihren „Adressaten“ gezeichnet hat: Relativ unvermittelt scheint „der Staat“ in die an und für sich unproblematischen Lebenszusammenhänge der städtischen Unterschichten einzudringen, um durch seine Interventionen den Betroffenen die bürgerliche Normen aufzuzwingen, die in ihren sozialen Zusammenhängen keine oder nur eine nachgeordnete Geltung besaßen. Die meisten der Familien, die durch behördliche Anzeigen zur „Zielscheibe“ vormundschaftsgerichtlicher Ermittlungen wurden, zeichneten sich durch drückende Armut und eine besonderes Maß an gesellschaftlicher Desintegration aus. Sie verfügten gewöhnlich nur über ein sehr geringes „soziales Kapital“, und vielfach waren Kinder oder Eltern gesundheitlich stark angegriffen. Bereits am Beispiel der Buchbinderfamilie Köhnsen wurde deutlich, dass auch Eltern, die mit ihren Kindern mehr oder weniger einträchtig zusammenlebten, durch die schwierige wirtschaftliche Lage und gesellschaftliche Isolation, in die sie geraten waren, die Aufmerksamkeit der Vormundschaftsbehörde auf sich zogen. Während aber im Falle der Buchbinderfamilie die Streitereien mit dem Vermieter und der Nachbarschaft den Hintergrund für die vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen bildeten, so gab es auch Familien, die recht unvermittelt in den Fokus der Vormundschaftsbehörde gerieten. Die Problematisierung der von diesen Familien entwickelten „Überlebensstrategien“ erfolgte in diesen Fällen gewöhnlich nicht durch die Nachbarschaft oder das weitere soziale Umfeld, sondern durch die behördlichen Kontrollinstanzen. In einem Fall von Mitte der 1880er Jahre ging die Anregung zur vormundschaftsgerichtlichen Untersuchung von der Schule aus (1885, Foertsch, Abt. I 584). Weil die 13-jährige Volksschülerin Anna Foertsch wiederholt unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben war und auch der zu ihrer Abholung ausgeschickte Schulbote unverrichteter Dinge wieder zurückkehrte, war der Verdacht entstanden, dass die Mutter das Mädchen zu Hause behielt, um sie zum Betteln auszuschicken. Tatsächlich lebte die Mutter, deren 1 Das heißt nicht, dass in den Akten keine Fronten und Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Beteiligten zu erkennen waren. Gleichwohl lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob diese schon vor der gerichtlichen Anrufung bestanden hatten oder erst durch die behördlichen Eingriffe in die lebensweltlichen Zusammenhänge hervorgerufen wurden.
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Mann einige Monate zuvor verstorben war, in sehr ärmlichen Verhältnissen. Sie musste noch eine zweite, bereits aus der Schule entlassene Tochter unterhalten und hielt sich mit einer wöchentlichen Armenunterstützung von zwei Mark sowie den Erträgen aus sporadischen Näharbeiten über Wasser. Bei den von der Schule veranlassten polizeilichen Ermittlungen stellte sich überdies heraus, dass die Arbeiterwitwe hoch verschuldet war und nur ein äußerst dürftig möbliertes Zimmer bewohnte. Dem ermittelnden Polizeioffizianten gab sie an, dass alle ihre Töchter „gut geartet“ seien und sie insbesondere über ihre jüngste Tochter nicht klagen könne. Anna sei jedoch sehr kränklich und habe zunächst am Bandwurm, später dann an einem hartnäckigen Kopfausschlag gelitten. Aus diesem Grund habe sie sie auch nicht zur Schule geschickt. Zum Betteln, so verteidigte sie sich, würde sie Anna nicht anhalten. Wohl aber hole ihre Tochter regelmäßig von einigen Leuten Kartoffelschalen ab.1 Zur Kategorie der Fälle ohne lebensweltlichen Konflikthintergrund können auch diejenigen vormundschaftsgerichtlichen Untersuchungen gerechnet werden, die durch einen Hinweis der Strafverfolgungsbehörden in Gang gesetzt wurden. Wie bereits weiter oben erwähnt, brachte die Staatsanwaltschaft der Vormundschaftsbehörde Ende des 19. Jahrhunderts all jene Vorgänge zur Kenntnis, in denen sie gegen Minderjährige ermittelt hatte.2 Sah die Behörde Anhaltspunkte dafür, dass die betreffenden Kinder und Jugendlichen einer fortgesetzten obervormundschaftlichen Kontrolle bedurften oder durch das Verhalten ihrer Eltern „gefährdet“ wurden, so leitete sie entsprechende Ermittlungen ein. Im Sommer 1882 übersandte die Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts der Vormundschaftsbehörde ihre Akte über den zwölfjährigen Schulknaben Johannes Koops, der eingestandenermaßen zusammen mit seinem Vetter versucht hatte, in einer Badeanstalt Geld zu stehlen (1884, Koops, Abt. I 272). Die zur Vernehmung in die Vormundschaftsbehörde geladene Mutter sah im Verhalten ihres Sohnes keinen Grund, ihm einen Vormund zu bestellen. Johannes sei „ziemlich wild, aber geistig gut veranlagt“. Unehrlich, so meinte sie, sei er nie gewesen und zu dem Diebstahlsversuch sei er lediglich durch seinen Vetter verleitet worden. 1 Auch im Falle eines arbeitslosen Maurers und dessen als Lumpensammlerin tätigen Frau, auf den die Vormundschaftsbehörde wegen wiederholter Schulversäumnisse der Kinder aufmerksam gemacht worden war, fehlte jedes Anzeichen für einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern. (1884, Prödel, Abt. II 207). Einen ähnlichen Hintergrund hatte außerdem die Anzeige im Fall: 1892, Zunker, Abt. II 4646. 2 Vgl. oben, S. 507. Bei den Taten, die den Minderjährigen zur Last gelegt wurden, handelte es zumeist um Bagatelldelikte. In einem Fall stahl ein zehnjähriger Knabe zwei Flaschen Wein aus der Ladung eines Kutschers (Prödel, Abt. II 207). Ein anderer Schuljunge, der von der Polizei der Vormundschaftsbehörde gemeldet worden war, war beim Betteln angetroffen worden (1884, Heiden/Krause, Abt. I 365). Nur selten gelangten schwerwiegendere Delikte zur Kenntnis der Vormundschaftsbehörde. Vgl. etwa: 1884, Ohlerich, Abt. II 432 u. 1884, Rapcke, Abt. II 3609.
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Auch die wenigen Anzeigen über „verwahrloste“ Kinder und Jugendliche, die bei der Vormundschaftsbehörde eingingen, hatten meist keinen lebensweltlichen Konflikthintergrund.1 Wenn die Etikettierung „verwahrlost“ in Anzeigen an die Vormundschaftsbehörde auftauchte, handelte es sich zumeist um einen Hinweis der Schule oder der Polizei. Mit der Zuschreibung wurde bereits ein Zusammenhang zwischen kindlichen Auffälligkeiten und dem Verhalten der Eltern hergestellt. Zeigten Väter und Mütter Erziehungskonflikte bei der Behörde an, so hüteten sie sich deshalb davor, ihre Kinder als „verwahrlost“ zu bezeichnen.2 Wie das folgende Schreiben eines Schulleiters an die Vormundschaftsbehörde vom Frühjahr 1894 zeigt, stellten Meldungen „verwahrloster“ Kinder gewissermaßen die logische Fortsetzung der Anzeigen wegen Verstößen gegen die Schulpflicht dar: „Der Knabe Hand Oldenburg, geb. d. 30. Oktober 1886 in Hamburg, Schüler der Klasse 7 a, Sohn der Witwe M.M. Oldenburg, verwitw. Wiebke, geb. Knaak, wohnhaft Gertigstr. 6 III zu Winterhude, erhält durch seine häusliche Erziehung nicht diejenige Berücksichtigung, welche seitens der Schule für seine Entwicklung gefordert werden muß. Die Mutter ist meistens außerhalb des Hauses beschäftigt, während der Knabe sich selbst überlassen bleibt. Daher versäumt er häufig den Schulunterricht, zeigt Neigung zum Umhertreiben und entschuldigt sich durch freche Lügen.“
Der Vorsitzende des zuständigen Kontrollausschusses der Volksschulen fügte hinzu: „Im Anschluß an Vorstehendes habe ich zu bemerken, daß, wenn nicht straffe häuslichen Erziehungsmittel angewandt werden, die Verwahrlosung des Knaben zu befürchten stehe; und da die Mutter Armenunterstützung nicht bezieht, so erübrigt nur ein Eingreifen der Vormundschaftsbehörde zu Veranlassen, um welche der Kontrollausschuß durch vorstehende Anlage ersucht.“ (1894, Oldenburg, Abt. II 6452)
Auch Anzeigen wegen „sittlicher Verwahrlosung“ gingen meist direkt von jenen Behörden aus, denen die Jugendlichen aufgefallen waren. In der Regel handelte es sich wiederum um Meldung seitens der Polizeibehörde und betroffen waren vor allem Mädchen, die wegen ihres Sexualverhaltens die Aufmerksamkeit der Ordnungshüter auf sich gezogen hatten. Ein nächtliches Treffen mit einem Mann 1 Dass nur wenige Anzeigen dieser Art bei der Vormundschaftsbehörde eingingen, hing damit zusammen, dass Antragsteller, die glaubten, bei den betreffenden Kindern bereits eine „Verwahrlosung“ ausmachen zu können, sich gewöhnlich direkt an die Zwangserziehungsbehörde wandten. 2 Auch bei Meldungen aus dem sozialen Umfeld wurde der Begriff der „Verwahrlosung“ nur selten bemüht. Vermutlich hing das damit zusammen, dass die fehlende elterliche Beaufsichtigung, auf die der Begriff in der Verwendung von Lehrern und Armenpflegern anspielte, in der Bevölkerung kaum Anstoß erregte.
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auf der Straße reichte in Kombination mit der ärztlichen Behandlungen von Geschlechtskrankheiten hier als Verdachtsmoment meist aus, um in polizeilichen Gewahrsam genommen und anschließend der Vormundschaftsbehörde gemeldet zu werden.1 Eine letzte Kategorie von Anzeigen, die nicht durch Streitigkeiten von Familienmitgliedern untereinander oder mit dem sozialen Umfeld motiviert waren, zielte direkt auf normabweichendes Verhalten der Eltern ab. Auch hierbei bildete die straf- oder polizeirechtliche Sanktionierung meist den Auslöser. Häufig war eine Bestrafung der Eltern wegen Sexualvergehen erfolgt. An die Vormundschaftsbehörde wurden diese Fälle entweder gemeldet, weil es sich bei den Opfern der Straftaten um die eigenen Kinder handelte oder weil von den anzeigenden Stellen angenommen wurde, dass von dem normabweichenden Verhalten der Eltern eine moralisch korrumpierende Wirkung auf die Kinder ausgehe. In einem Fall von Mitte der 1880er Jahre konnte die Mutter eines zehnjährigen Mädchens bei ihrer Anhörung durch die Vormundschaftsbehörde nur mutmaßen, warum die Polizei ihr ihre Tochter abgenommen hatte, um sich anschließend mit einem Bevormundungsantrag an die Vormundschaftsbehörde zu wenden. Die Frau war wegen „gewerbsmäßiger Unzucht“ in polizeilicher Untersuchung gewesen und hatte nicht ohne Grund den Verdacht, dass hierin der Grund für die Kindeswegnahme lag (1885, Aspengren, Abt. I 500). Klarer lagen die Verhältnisse in einer Reihe von Fällen, die nach der Jahrhundertwende der Vormundschaftsbehörde durch die Strafgerichte zur Kenntnis gebracht wurden. Es handelte es sich dabei um Väter, die der „Blutschande“ bzw. des „Sittlichkeitsverbrechens“, begangen an ihren Töchtern, überführt worden waren. Automatisch verloren sie dadurch die „elterliche Gewalt“ über die betreffenden Kinder. Da die betroffenen Männer aber noch andere Kinder hatten und auch deren „Wohl“ als „gefährdet“ erschien, überprüfte die Vormundschaftsbehörde in diesen Fällen routinemäßig die häuslichen Verhältnisse der Familien.2
5.5.2.3
Konflikte zwischen Eltern und Behörden und Behörden untereinander
Man kann noch eine dritte große Gruppe von Anzeigen unterscheiden, die gewissermaßen eine Zwischenstellung zwischen den Anzeigen einnahmen, die 1 1894, Kochau, Abt. I 6461. Vgl. außerdem: 1884, Grebenstein, Abt. I 107; 1894, Becker, Abt. I 6432. In einem Fall nach der Jahrhundertwende war eine 19-jährige Tochter bereits der polizeilichen Sittenkontrolle unterstellt worden, als man die Eltern zur Vernehmung in die Vormundschaftsbehörde einbestellte (1901, Wenck, D 156). Sexuelle Devianz war zwar das dominante Motiv bei der Meldung von Mädchen durch die Strafermittlungsbehörden. Es wurden der aber zuweilen auch Mädchen angezeigt, die wegen anderer Delikte bestraft worden waren. Vgl. etwa: 1884, Duerkoop, Abt. I 262, 2 Vgl.: 1907, Matthies, D 287; 1903, Weiß, D 160;
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durch lebensweltliche Konflikte oder behördlich registrierte Auffälligkeit veranlasst wurden. Auch diesen Anzeigen lagen Auseinandersetzungen zugrunde; in die Konflikte waren aber immer schon Behörden verwickelt, weshalb sie nicht als „lebensweltlich“ klassifiziert werden können. Die wichtigste Rolle nahmen in quantitativer wie systematischer Hinsicht Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Fürsorgebehörden ein. Bereits im Rahmen der Untersuchung der rechtspolitischen Debatten wurde auf die „Reklamationsproblematik“ eingegangen.1 Im Unterschied zu den soeben behandelten behördlichen Anzeigen wurde hier die Meldung an die Vormundschaftsbehörde dadurch ausgelöst, dass Eltern ihre Kinder aus dem Waisenhaus oder einer öffentlichen Pflegestelle zurückverlangten und das WHK sich dieser Absicht widersetzte. Da in den 1890er Jahren immer deutlicher wurde, dass die Anstaltsvormundschaft, die das Kollegium kraft der Vormundschaftsordnung ausübte, zur Rechtfertigung dieser Weigerung nicht ausreichte, musste sie bei der Vormundschaftsbehörde die formelle Absetzung des väterlichen Vormundes beantragen. Anders als bei den übrigen Anzeigen, die in der Poststraße eingingen, stellte hier die Meldung ganz gezielt auf einen gerichtlichen Eingriff in die elterlichen Rechte ab. Kennzeichnend für die Anträge des WHK war außerdem, dass sie mit moralischen Argumenten operierten. Vom misshandelnden Vater hieß es dann, er sei als „Trunkenbold“ und „roher Mensch“ bekannt oder würde aus „Arbeitsscheu“ keiner geregelten Beschäftigung nachgehen. Müttern dagegen – zumal wenn sie alleinstehend waren – wurde entsprechend den polaren Geschlechterstereotypen vor allem ein Vorwurf aus ihren tatsächlichen oder vermeintlichen außerehelichen Sexualkontakten gemacht.2 Das folgende Schreiben aus dem Jahre 1893 kann als mustergültig für zahlreiche Anträge des WHK gelten: „Der in öffentlicher Pflege befindliche Friedrich Eduard Rudolph Stroß, geb. 29. August 1885 ist von seinen Eltern Speisewirt Johann Friedrich Wilhelm Stroß und Friederike Christine Sophie geb. Rieck, altst. Neustraße unter 11 wohnhaft, reklamirt worden. Die Aufnahme des Kindes ist. s. Zt. erfolgt, weil die Eltern zur Versorgung außer Stande waren. – Wie nun die s.p.r. anbei folgende Polizei-Akte ergiebt, sind die Eheleute Stroß verkommene, dem Trunke ergebene und auch schon wiederholt bestrafte Individuen, welchen man das Kind zur Erziehung unmöglich anvertrauen kann. – Indem wir auch unsere Akte zur gefälligen Kenntnißnahme
1
Vgl. oben: Abschnitt 4.3.2. Die Spannweite der Charakterisierungen reichte hier vom „Leichtsinn“, der im abendlichen Besuch von Tanzlokalen und anderen Vergnügungsstätten gesehen wurde, über die „wilde Ehe“ bis hin zur „Liederlichkeit“ und „gewerbsmäßigen Unzucht“. 2
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s.p.r. beifügen, ersuchen wir ergebenst, den Eheleuten Stroß die Erziehungsrechte aberkennen zu wollen.“ (1893, 1895, Stroß, Abt. II 5875)1
Neben den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und WHK waren es vor allem Konflikte mit der Allgemeinen Armenanstalt, die zu Meldungen an die Vormundschaftsbehörde führten. Regelmäßig stritten sich Armenpfleger mit Unterstützungsempfängern über die Unterbringung ihrer Kinder.2 Waren Armenpfleger der Meinung, Eltern würden aus moralischen Gründen eine Barunterstützung nicht verdienen oder seien überhaupt unterstützungwürdig, so empfahlen sie den ihnen vorgesetzten Gremien, den so genannten Kreisversammlungen der Armenanstalt, die Kinder in Form von Waisenpflege zu unterstützen. Da sich aber immer weniger Eltern durch die Androhung des Unterstützungsentzugs unter Druck setzen ließen, ihre Kinder freiwillig herzugeben, wandten sich auch Armenpfleger ab den 1890er Jahren verstärkt mit Absetzungsanträgen an die Vormundschaftsbehörde, um einen Rechtsgrund für die zwangsweise Fortnahme der Kinder zu erhalten.3 Es gab allerdings noch einen weiteren Grund, weshalb die Armenpfleger mit entsprechenden Gesuchen an die Vormundschaftsbehörde herantraten: Erst wenn Eltern die Rechte über ihre Kinder entzogen worden waren, hatten die Armenpfleger die Möglichkeit, die Alimentierung der Kinder durch ihre Eltern zwangsweise durchzusetzen.4 Verglichen mit den Absetzungs- und Entzugsanträgen, die vom WHK und ihrem Direktor gestellt wurden, fielen die Anzeigen der Armenpfleger zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Die Gründe für diesen Unterschied sind naheliegend. Anders als die Vertreter der staatlichen Jugendfürsorge mussten Armenpfleger immer auch darauf bedacht sein, die öffentlichen Ausgaben der Armenunterstützung möglichst gering zu halten. Insofern durften die moralischen Standards, die an die häuslichen Verhältnisse der Unterstützungsempfänger gestellt wurden, nicht zu hoch sein. Durch diese unterschiedlichen Interessen von Armen- und Waisenpflege konnten die Auseinandersetzungen, die Eltern mit dem WHK über 1 Vgl. außerdem die in folgenden Personenakten enthaltenen vergleichbaren Anträge: 1883, Crause, Serie III 2776; 1884, Heiden/Krause, Abt. I 365; 1892, Meyer, Abt. II 4778; 1894, Dunker, Abt. I 6273; 1894, Joder, Abt. I 2585; 1894, Rosewe, Abt. II 6555; 1901, Milich, Abt II 6876 u. 1904, 1905, Rahlf, BlHWpfl. 2 Vgl. hierzu oben S. 319. 3 Vgl. etwa: 1892, Zunker, Abt. II 4646; 1894; Brand, Abt. I 6121; 1894, Helmer, Abt. I 6115. Bezeichnend war die Äußerung, mit der ein Armenpfleger im zuletzt zitierten Fall die Reaktion einer von ihm unterstützten Mutter kommentierte, der er in Aussicht gestellt hatte, ihre Kinder in einer Pflegestelle unterzubringen: „Das schien der H. nicht zu conviniren denn sie erklärte mir bei der nächsten Auszahlung, sie könne sich jetzt allein helfen & bräuche keine Unterstützung mehr. – Ich halte die Überführung der Kinder ins Waisenhaus für sehr nothwendig da die Mutter den Kindern gegenüber ein unwürdiges Leben führt.“ 4 Vgl. hierzu: 1894, Dunker, Abt. I 6273; 1901, Milich, Abt II 6876.
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die Rückführung ihrer Kinder führten, durch einen Streit zwischen den Entscheidungsträgern der beiden Fürsorgezweige überlagert werden. Zwar hatten diese Zwistigkeiten in Hamburg längst nicht die Dimensionen, die sie in Preußen im Zuge der Debattte über die „künstliche Hülfsbedürftigkeit“ annahmen.1 Im Einzelfall konnte die Auseinandersetzung aber zu recht unerwarteten Situationen führen. Als Mitte der 1890er Jahre eine Prostituierte sich ihren beiden unehelich geborenen Töchtern wiederanzunähern begann, die Jahre zuvor auf öffentliche Kosten in einer Pflegestelle untergebracht worden waren (1894, Joder, Abt. I 2585), versuchten die Direktion des Waisenhauses diese Kontaktaufnahme durch einen Wechsel der Pflegeeltern zu unterbinden. Gegen diese Maßnahme setzte sich die Mutter zur Wehr, indem sie ankündigte, ihre Kinder notfalls ganz zu reklamieren und auf eigene Kosten unterzubringen. Alarmiert durch dieses Ansinnen wandte sich Direktor Stalmann mit einem Gesuch „um weitere Veranlassung“ an die Vormundschaftsbehörde. Der zuständige Armenpfleger zeigte indes keinerlei Interesse, die Bemühungen Stalmanns zu unterstützen. Er befürwortete vielmehr ausdrücklich den Reklamationsantrag der Mutter und half ihr aus Sicht des WHK sogar, die Kinder vorsorglich zu „verstecken“.2
5.5.3 Das Ermittlungs- und Beweisverfahren Auf die Anzeige der Fälle bei der Vormundschaftsbehörde folgte in aller Regel die Eröffnung des Ermittlungs- und Beweisverfahrens. Es bestand im Wesentlichen aus drei Teilen: Den Auftakt bildete – sowohl vor als auch nach 1900 – die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung der beschuldigten Väter bzw. Mütter, die von den Sekretären vorgenommen wurde. Ihr folgte das eigentliche Ermittlungsverfahren. Vor dem Inkrafttreten des BGB griff die Behörde dabei auf die Dienste der so genannten Spezialvormünder bzw. „Vormünder ad hoc“ zurück, die sie mit einem entsprechenden Mandat ausstattete und zur Berichterstattung verpflichtete. Nach der Jahrhundertwende durfte die Behörde die Ermittlungstätigkeit nicht mehr in dieser Form delegieren. Sie war in ihren Erkundungen auf die Akteneinsicht bei anderen Behörden, die Amtshilfe der Polizei sowie die speziell angeforderten Stellungnahmen von Lehrern, Armenpflegern usw. angewiesen. 1 Vgl. oben: Abschnitt 4.4.1. Vgl. hierzu auch die Auseinandersetzung zwischen Armenbehörde, Waisenhauskollegium und Vormundschaftsbehörde über die armenrechtlichen Konsequenzen eines Entzugsbeschlusses: STAH 354-5 I, 226, Bl. 9 ff. 2 Im Sample fanden sich eine Reihe von Fällen, in denen die Armenbehörde Kinder aus der öffentlichen Fürsorge entließ, obwohl das Waisenhauskollegium massive Bedenken gegen diesen Schritt geltend gemacht hatte: 1894, Rosewe, Abt. II 6555; 1903, Wiesiolek, D 153. Es kam auch vor, dass Armenpfleger und Bezirksausschüsse unterschiedlicher Meinung hinsichtlich der Notwendigkeit einer Fremdunterbringung von Kindern waren. Vgl. etwa: 1901, 1902 und 1912, Wauge, D 157.
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Schließlich kam im Bedarfsfall die Vernehmung der Beteiligten und Zeugen durch einen aus dem Kreis der Behördenmitglieder gewählten „Kommissar“ in Frage. Nur selten hatten die kommissarischen Verhandlungen den Charakter einer „Hauptverhandlung“ wie vor ordentlichen Gerichten. Gewöhnlich entsprachen sie eher einer gerichtlichen Beweiserhebung. Die Eröffnung des Absetzungs- bzw. Entzugsverfahrens war in der Regel mit einer erheblichen Dramatisierung der lebensweltlichen Ausgangskonflikte verbunden, und dieser Effekt wurde offenkundig von den anzeigenden Parteien auch mehr oder weniger bewusst einkalkuliert.1 Erste Beispiele für Reaktionen der beschuldigten Partei auf die behördliche Untersuchung wurden weiter oben bereits wiedergegeben. Im Folgenden soll es nun darum gehen, die konkrete Ausgestaltung des dreigliedrigen Ermittlungs- und Beweisverfahren und seine Auswirkungen auf die Ausgangskonflikte zu rekonstruieren. Dabei wird zunächst auf die konkrete Vorgehensweise der vernehmenden und ermittelnden Organe und erst im Anschluss daran summarisch auf inhaltliche Aspekte dieser Untersuchungen eingegangen.2
5.5.3.1 Die Anhörung Mit der Ladung und Anhörung des Vaters bzw. der Mutter, die auf die Anzeige hin erfolgte, wurde das vormundschaftsgerichtlichen „Ermittlungsverfahren“ eröffnet. Die Anhörung wurde von den Sekretären vorgenommen und fanden in der Kanzlei der Vormundschaftsbehörde statt.3 Der elterliche Anspruch, gehört zu werden, wurde eher pragmatisch gehandhabt. In der Regel wurden zwar die Eltern im unmittelbaren Anschluss an die Anzeige des Falles gerichtlich vorgeladen; es kam aber auch vor, dass weder Vater noch Mutter zu den gegen sie vorgebrachten Vorwürfen gehört wurden, bevor die Behörde eine Spezialvormundschaft einrichtete. In einigen wenigen Fällen verzichtete die Vormundschaftsbehörde sogar dann noch auf die elterliche Vernehmung, wenn die bestellten Spezialvormünder daran gingen die Fremdunterbringung der Kinder zu veranlassen. Zum Teil ist die Anhörung ersichtlich deshalb ausgeblieben, weil die Eltern nicht mehr in Hamburg lebten oder die Behörde ihren Aufenthaltsort nicht ermitteln konnte. Auch bei einigen inhaftierten 1 1893, Lehmann, Abt. II 5441, Bl. 6 unten, 1882, Eggebrecht, Serie III 1523, 1894, Rohm, 6345, Bl. 7. 2 Die Analyse der methodischen Vorgehensweise beschränkt sich auf die beiden ersten Schritte des „Ermittlungs- und Beweisverfahrens“, die „Anhörung“ und die „Ermittlungen vor Ort“ durch Spezialvormünder. 3 Nur in einem einzigen Fall begab sich der Sekretär auf Geheiß der Behörde zu einer Mutter nach Hause, weil diese das Wochenbett hüten musste (1894, Brand, Abt. I 6121).
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Elternteilen verzichtete man auf die Vorführung oder begnügte sich mit einer Vernehmung durch einen Gefängnisbeamten.1 In manchen Fällen lässt sich der Grund für den laxen Umgang mit dem Anhörungsrecht, der sowohl in Misshandlungs- und Vernachlässigungsfällen als auch in solchen von „sittlicher Gefährdung“ vorkam, nur erahnen. Neben dem Umstand, dass die erhobenen Vorwürfe zum Teil schon durch polizeiärztliche Gutachten erhärtet worden waren oder die Behörde ein schnellstmögliches Eingreifen für notwendig hielt, könnten der soziale Status und die daraus abgeleitete Beschwerdemacht der betroffenen Eltern eine Rolle gespielt haben. In diese Richtung weist zumindest die Vorladung eines Vaters aus Eppendorf, der sich und seine neunköpfige Familie notdürftig mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten versuchte (1884, Dorndorf, Abt. I 263). Der Mann, der die Polizei zunächst um die stationäre Unterbringung seiner „trunksüchtigen“ Frau ersucht hatte, später aber selbst des Alkoholmissbrauchs „überführt“ worden war, wurde in die Poststraße zitiert, um eventuelle Einwände gegen die vom Spezialvormund beantragte Fremdunterbringung seiner Kinder geltend zu machen. Der Vorladung war die Bemerkung beigefügt worden, dass sie unter „dem Präjudiz“ erfolge, „daß im Falle seines Ausbleibens angenommen werde, daß er Einwendungen nicht zu machen habe.“ Eine solche Androhung hätte sich die Behörde gegenüber bessergestellten Eltern wohl kaum erlaubt. Bei der Handhabung des rechtlichen Gehörs fiel die unterschiedliche rechtliche Stellung von Väter und Müttern2 erstaunlicherweise kaum ins Gewicht. Sowohl Väter als auch Mütter wurden vor die Behörde geladen, um sich zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen zu äußern. Dass es hier keine nennenswerte Ungleichbehandlung gab, dürfte vor allem daran gelegen haben, dass die meisten Eltern entweder alleinstehend waren oder bei ihrer Wiederverheiratung auf eine „Einkindschaftung“ durch den neuen Ehepartner verzichtet hatten (Stiefelternfamilie). In beiden Fällen wurde das Erziehungsrecht also nur vom Vater oder der Mutter ausgeübt. Anders gestaltete sich die Situation bei verheirateten Elternpaaren, die sich im Ehescheidungsprozess befanden oder solchen, die gemeinschaftlich ihre Kinder versorgten. Während bei Eheauseinandersetzungen gewöhnlich beide Parteien gehört wurden, weil eine Sorgerechtsregelung noch nicht herbeigeführt worden war, hat man sich bei zusammenlebenden Elternpaa1 Vgl. 1894, Levy, Abt. II 6510, 1894, Dunker, Abt. I 6273. Mehrere Vorführungen von Vätern aus dem Gefängnis aus der Zeit nach 1900 sprechen allerdings dafür, dass die Behörde es mit dem väterlichen Anhörungsrecht zumindest nach Inkrafttreten des BGB sehr genau nahm. 1903, Wietschenk, D 161 u. 1907, Matthies, D 287. Im letzteren Fall saß der Vater wegen wiederholten Sittenverbrechens, begangen an seiner Tochter, ein. Zu einer wiederholten Vernehmung war außerdem eine Mutter aus der Korrektionshaft vorgeführt worden, die sie wegen Obdachlosigkeit verbüßte (1885, Aspengren, Abt. I 500). 2 Vgl. oben, S. 493 f.
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ren offenbar regelmäßig mit der Anhörung des Vaters begnügt.1 Die Stellung des Vaters als regelmäßiger Inhaber der „elterlichen Gewalt“ führte dazu, dass sich die angedachten Interventionen zunächst auf ihn bezogen. Auf seine Anhörung wurde deshalb auch besonderen Wert gelegt. Das konnte theoretisch bedeuten, dass Kinder aus einer Familie entfernt wurden, ohne dass die Mütter von der Behörde zu ihrer Sichtweise der Dinge befragt worden waren. Im Sample findet sich jedoch kein einziger Fall, auf den dies zutraf. Auch wenn sich die Behördenvertreter zuerst oder ausschließlich an den Vater wandten, bedeutete dies jedoch nicht, dass sich die Mütter nicht auf anderem Wege Gehör verschafften. Manche Mütter erschienen einfach statt ihrer Männer auf der Vormundschaftsbehörde und äußerten sich zur Sache. Andere waren selbstbewusst genug, um sich ganz ohne Vorladung in der Poststraße einzufinden. Auch zahlreiche unaufgeforderte schriftliche Stellungnahmen von Müttern fanden sich in den untersuchten Einzelakten wieder. Was die Väter und Mütter äußerten, wurde vom Sektretär in einem nüchtern-sachlichen Schreibstil zu Papier gebracht. Die Kürze der Protokolle lässt darauf schließen, dass der Sekretär die Aussagen der Eltern zusammenfasste. Man gewinnt beim Lesen der Niederschriften den Eindruck, als handele es sich um zusammenhängende Äußerungen der vorgeladenen Personen. Nur selten lässt sich an einführenden Formulierung wie „auf Vorhalt erklärt Comparent ...“ ein klares Redeverteilungsmuster erkennen.2 Die Sekretäre enthielten sich jedoch einer inhaltlichen Wertung des Gesagten, und auch floskelhafte und stereotype Formulierungen trifft man kaum an. Zwar übersetzten die Protokollanten die plattdeutsche Rede in allgemein verständliches Hochdeutsch und verwandelten das Gesagte in indirekte Rede. Aber sie griffen die Wortwahl und einzelnen Formulierungen der Eltern auf und gaben allem Anschein nach deren Sichtweise der Dinge im Großen und Ganzen zutreffend wieder. Von daher können die Niederschriften zwar nicht als authentische Aussagen der betroffenen Eltern gewertet werden, sie sind aber eine wichtige Quelle für ihre Deutungen der verhandelten Situationen und Konflikte. Insbesondere in Missbrauchsfällen, in denen der Anfangsverdacht meist schon durch polizeiliche Erkundigungen erhärtet worden war, kam dieser ersten Vernehmung der Eltern eine eminente Bedeutung zu, weil es ganz wesentlich vom Auftreten und erzählerischen Geschick der Vorgeladenen abhing, in welche Richtung sich die anschließenden Ermittlungen bewegten. 1 Vollständig im Hintergrund blieben die Mütter bezeichnenderweise in den zwei oben zitierten Ablösungskonflikten, die von den Kindern zur Anzeige gebracht worden waren. 1894, Mrongowius, Abt. II 6554 u. 1894, Riebold, Abt. II 6709. 2 Das entsprach sicherlich nicht der realen Kommunikationssituation. Der Sekretär wird sich kaum damit begnügt haben, die Äußerungen kommentarlos entgegenzunehmen und in einen kurzen, lesbaren Text zu verwandeln. An inhaltlichen Brüchen lässt sich vielmehr erkennen, dass er das Gespräch durch gezieltes Nachfragen lenkte.
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5.5.3.2 Die Ermittlungstätigkeit der Vormundschaftsbehörde Die Vormundschaftsbehörde verfügte im gesamten Untersuchungszeitraum über kein festangestelltes Personal zur Erledigung der in Misshandlungs- und Vernachlässigungsfällen notwendigen Ermittlungsarbeit. Bis zum Inkrafttreten des BGB bediente sie sich für die Erkundigungen vor Ort so genannter Spezialvormünder, die sie mit einem entsprechenden Mandat ausstattete. Nach 1900 entfiel aus rechtlichen Gründen auch diese Möglichkeit, weshalb die Vormundschaftsbehörde die Amtshilfe der Polizei und vor allem des Gemeindewaisenrats (GWR) in Anspruch nehmen musste. Die Heranziehung des GWR zur Ermittlungszwecken bedeutete jedoch, dass auch hier die Erkundigungen von ehrenamtlichem Personal eingezogen wurde – mit allen Vor- und Nachteilen, die dies mit sich brachte. Im Folgenden soll schwerpunktmäßig die Ermittlungspraxis in den 15 Jahren vor der Jahrhundertwende untersucht werden, weil sich diese anhand der zahlreich überlieferte Personenakten besonders detailliert rekonstruieren lässt. In einem zweiten Schritt wird kurz skizziert, was sich an der Vorgehensweise der ermittelnden ehrenamtlichen Organe nach Inkrafttreten des BGB verändert hat. Auf dieser Basis wird dann der Frage nachgegangen, wie die oben ausführlich beschriebenen Ausgangskonflikte im Interaktionsprozess zwischen den betroffenen Eltern und den ehrenamtlichen Ermittlungsorganen von Vormundschaftsbehörde und GWR „verarbeitet“ wurden.
5.5.3.2.1 Zur Vorgehensweise bei den Ermittlungen Vor 1900 war die Bestellung und Mandatierung der Spezialvormünder im Vergleich zur elterlichen Anhörung ohne Zweifel der bedeutendere prozessuale Einschnitt, denn damit war der Startschuss für umfangreiche Erkundigungen in den Wohnungen der Beschuldigten und ihrem sozialen Umfeld gefallen. Die Ermittlungen stellten keine bloße Wiederholung oder Intensivierung der behördlichen Vernehmungen dar und beschränkten sich auch nicht auf tatbestandsrelevante Aspekte. Vielmehr dienten sie der Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Aussagen sowohl der anzeigenden Partei als auch der Eltern. Allen Beteiligten muss dabei klar gewesen sein, dass die Ergebnisse dieser Untersuchung und die darauf aufbauenden Stellungnahmen der Spezialvormünder von ausschlaggebender Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens waren. Es war für die Behörde im Allgemeinen nicht leicht, in ausreichender Zahl geeignete und vor allem motivierte Spezialvormünder zu finden. Besonders schwierig gestaltete sich die Suche nach Spezialvormündern, wenn ihnen die
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Überprüfung von Missbrauchsvorwürfen oder die Erkundung der häuslichen Erziehungsverhältnisse von Mündeln übertragen werden sollte. Zum einen mussten die für diese Aufgabe ausgesuchten Männer über die gesetzlichen Anforderungen hinaus bestimmte persönliche und fachliche Voraussetzungen erfüllen.1 Auf der anderen Seite waren mit dem Ehrenamt zahlreiche Unannehmlichkeiten verbunden. Die Ausübung einer Spezialvormundschaft war zeitaufwendig und brachte die Vormünder in direkten Kontakt mit den untersten Bevölkerungsschichten. Hinzu kam, dass man mit dem Widerstand und der Feindseligkeit der betroffenen Familien oder sogar des gesamten sozialen Umfeldes rechnen musste. Das Amt war – kurz gesagt – sehr unbeliebt. Diese Unbeliebtheit kam vor allem darin zum Ausdruck, dass nicht wenige der ausgewählten Männer versuchten, ihre Ernennung sogleich wieder rückgängig zu machen. Sichtlich erleichtert konnten mehrere von ihnen schon vor Aufnahme des Amtes einen der gesetzlich anerkannte Weigerungsgründe geltend machen.2 Aber auch wenn dies nicht der Fall war, suchten viele der bestellten Personen nach Argumenten, um ihre Wiederentlassung zu bewirken. Anfang/Mitte der 1880er Jahre erreichten die Probleme bei der Rekrutierung von Vormündern einen ersten Höhepunkt. Ein in seiner Ausführlichkeit einmaliges Entlassungsgesuch aus dem Jahre 1883 illustriert die verbreitete Abneigung gegen das Amt besonders anschaulich. In dem im Neustädter Prostituiertenmilieu angesiedelten Fall (1883, Faasch, Serie II 6740) war es der Vormundschaftsbehörde erst im dritten Anlauf gelungen, einen „Gegenvormund“ zu bestellen. Der erste Vormund, den die Behörde bestellen wollte, hatte bereits das 60. Lebensjahr überschritten. Ein zweiter Kandidat konnte sich zwar nicht auf gesetzliche „Entschuldigungsgründe“ berufen, brachte aber in einem Schreiben so überzeugende Argumente für seine Wiederentlassung vor, dass die Vormundschaftsbehörde auch seinem Gesuch stattgeben musste: 1 Es wurde z.B. darauf geachtet, dass sie unparteiisch waren. Gleichzeitig sollten sie aber auch nicht zu weit entfernt von ihrem Mündel wohnen und über eine gewisse Orts- und Milieukenntnis verfügen. Es gab Ämter und Berufe, wie Armenpfleger oder Oberlehrer, bei denen Interessenskollisionen programmiert waren. Nach Art. 15 u. 16 VO i.d.F. vom 1.1.1884 mussten Vormünder überdies Angehörige des Deutschen Reiches sein und ihren Wohnsitz in Hamburg haben. Sie mussten lesen und schreiben können und durften weder mit den Eltern des Mündels verfeindet noch einschlägig vorbestraft sein. Ausgeschlossen waren außerdem alle Personen, die selbst bevormundet wurden oder den Ruf eines „Verschwenders“ hatten. Dass Frauen nur in ganz bestimmten Situationen als Vormünder zugelassen waren, verstand sich von selbst. 2 Vgl.: 1884, Prödel, Abt. II 207; 1894, Kruse, Abt. I 6397 u. 1894, Riebold Abt. II 6709. Die regelmäßige Bestellung von Vormündern, die bereits das 60. Lebensjahr überschritten hatten, kann als Beleg für die Wahllosigkeit des Vorgehens bzw. die verzweifelte Lage gewertet werden, in der sich die Behörde befand. Da in einem Fall sogar ein 78-jährige Mann bestellt worden war (1894, Prüß, Abt. II 4021), ist ein Abgleich mit dem polizeilichen Melderegister anscheinend nicht üblich gewesen.
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„Ich wohne 16 Jahre in Hamburg, und hiervon 3 Jahre in Hammerbrook und 13 Jahre Wandsbeckerstieg Hohenfelde. Wäre mir nun von einer löblichen Vormundschaftsbehörde ein Auftrag für diese Gegend ertheilt, so ließe sich denken, daß ich durch Anfrage wenigsten einiges in Erfahrung bringen könnte, um daraufhin Bericht erstatten und den Pflichten als Vormund in gewissen Sinne gerecht werden zu können. In der Neustadt, wo [...] Personen lt. den bei Ihnen eingesehenen Acten wohnen, habe ich hingegen wenig [...] und absolut gar keine Personenkenntnisse, und bin deshalb vollständig außer Stande irgend welche Auskunft einzuholen, und zwar um so weniger, als die betreffenden Personen selbst laut Acten durchaus unglaubwürdig sind. Meine Vormundschaft wird also in diesem Falle zu einer reinen Formsache herabsinken, weshalb ich eine löbliche Vormundschaftsbehörde unter [...] Ihres Schreibens II 6740 ergebenst bitte mich von dem gen. Auftrage gütigst entbinden zu wollen, und ich hoffe um so mehr hierauf, als ich unter gegebenen Verhältnissen selbstverständlich jegliche Verantwortlichkeit von vornherein würde ablehnen müssen. Ich empfehle mich.“
Prägnanter konnten die negativen Auswirkungen, die das beschleunigte Wachstum der Stadt und die damit einhergehenden Segregationserscheinungen auf die Rekrutierung von Spezialvormündern hatten, kaum zum Ausdruck gebracht werden. Ob es genau dieser Fall war, der den Anlass für die Anstrengungen der Behörde gab, eine grundsätzliche Lösung des Problems herbeizuführen, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Kurze Zeit nach Eingang des Schreibens entwickelte die Vormundschaftsbehörde jedenfalls eine Doppelstrategie im Umgang mit der Rekrutierungsproblematik: Sie machte einerseits auch in Fällen von Kindesmisshandlung oder –vernachlässigung von der neuen gesetzlichen Möglichkeit Gebrauch, nur noch einen statt bisher zwei Spezialvormünder zu bestellen, und griff andererseits bei der Suche nach geeigneten Personen verstärkt auf die Amtshilfe von Oberschulbehörde und Kirche zurück.1 Ende Mai 1883 traf die Vormundschaftsbehörde mit Ersterer eine Vereinbarung, wonach in allen Fällen, die „in ihren häuslichen Verhältnissen verwahrloste Volksschulkinder“ betrafen, die zuständigen Oberlehrer einen geeigneten Kandidaten vorschlagen sollten.2 Dass dieses Verfahren systematisch und mit einigem Erfolg auch praktiziert wurde, dokumentieren mehrere Fälle des Samples.3 Gleichzeitig versuchte die Behörde auch die Pastoren und Stadtmissionare für die Suche nach geeigneten Vormündern einzuspannen. Die im Zusammenhang mit den Ausgangskonflikten dargestellte Inanspruchnahme der Vormundschaftsbehörde durch diesen Personenkreis fand ihre Entsprechung darin, dass die Behörde ihrerseits gerne auf die 1 Die Möglichkeit, für bestimmte Zwecke einen Einzelvormund zu bestellen, war mit einer 1884 erfolgten Ergänzung des Art. 10 VO eingeführt worden. Vgl. oben S. 473. 2 Vgl.: STAH 361-2 I, D 5, Bd. 13, Bl. 2,3 u. 8. 3 1885, Aspengren, Abt. I 500, Bl. 5; 1884, Koops, Abt. I 272, Bl. 2; 1884, Kröger, Abt. I 337 Bl. 4
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Hilfe der Kirchenmänner zurückgriff, wenn es um die Suche nach geeigneten Vormündern ging. Manches deutet darauf hin, dass die Zusammenarbeit mit ihnen weniger erfolgreich war als mit der Schulbehörde. Ein Fall von 1884 (1884, Heiden/Krause, Abt. I 365) dokumentiert die spezifischen Schwierigkeiten, die bei der Kooperation mit den Kirchenvertretern auftraten. Zur Prüfung der häuslichen Verhältnisse eines von der Polizei beim Betteln angetroffenen Kindes hatte sich die Vormundschaftsbehörde zunächst hilfesuchend an den weiter oben bereits vorgestellten Stadtmissionar Irwahn gewandt. Nachdem dieser festgestellt hatte, dass die betreffende Familie aus seinem Bezirk schon wieder verzogen war, erkundigte man sich bei der Polizeibehörde nach der neuen Anschrift des Vaters und richtete ein wortgleiches Gesuch an den Pastoren des neuen Wohnbezirks. Dieser ließ sich trotz Arbeitsüberbürdung zwar zu einem Hausbesuch bewegen, erklärte sich aber außerstande, geeignete Vormünder namhaft zu machen.1 Inzwischen hatte der Vater mit seiner Familie noch einmal die Bezirksgrenze überschritten und die Behörde versuchte ihr Glück beim nächsten Stadtmissionar. Diesen versuchte sie für die Übernahme der Spezialvormundschaft mit dem Argument zu erwärmen, die Kinder seien noch ungetauft. Auf diesem Ohr war der altgediente Vertreter der „Inneren Mission“ nicht taub und willigte schließlich in die Anfrage ein. Seit der Meldung des Falles waren jedoch nicht weniger als zehn Monate vergangen. Insgesamt betrachtet hatte die von der Vormundschaftsbehörde verfolgte Doppelstrategie zwar zu einer Entschärfung des Problems geführt. Solange die Behörde aber auf Spezialvormünder zur Ermittlungstätigkeit angewiesen war, weil sie weder über eigene Ermittlungsbeamten verfügte noch auf die Dienste des WHK zurückgreifen konnte, ließen sich die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung geeigneten ehrenamtlichen Personals nicht aus der Welt schaffen. Bereits aus der Nachzeichnung der Rekrutierungspraxis ergaben sich Anhaltspunkte zur sozialen Herkunft der Spezialvormünder. Bei den zur Ermittlungstätigkeit herangezogenen Personen handelte es sich durchweg um Männer – zumeist protestantischer Konfession und mittleren Alters2 –, die in gesellschaftlicher Hinsicht mehr oder weniger deutlich über den Mündeleltern standen. Eine Berufsgruppe stach dabei besonders hervor: die der Gerichtsreferendare und jungen Anwälte. Das hatte sicherlich einerseits mit der in vielen Fällen vorhersehbaren rechtlichen Problematik zu tun, vor allem aber damit, dass 1 Dass sich gerade Pastoren wegen ihrer umfangreichen Amtsgeschäfte nur widerwillig zu Hilfsdiensten für die Vormundschaftsbehörde bereit erklärten, zeigen auch zwei weitere Fälle aus der gleichen Periode (1884, Muurmann, Abt. II 236 u. 1885, Fischer, Abt. I 486) 2 Die konfessionelle Übereinstimmung von Vormündern und Mündeln war ein wichtiges Auswahlkriterium. Sie bereitete aber in den meisten Fällen keinerlei Schwierigkeiten, weil die Mehrheitsgesellschaft protestantischen Glaubens war. Bei jüdischen und katholischen Eltern bemühte sich die Vormundschaftsbehörde, Vormünder gleichen Glaubens zu bestellen.
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die Vormundschaftsbehörde auf diesen Personenkreis relativ leicht zurückgreifen konnte. Die Übernahme von Spezialvormundschaften war anscheinend eine wenn auch unbeliebte, so doch unumgängliche Sprosse auf der beruflichen Karriereleiter junger Juristen, und manch einer von ihnen stellte bei der Ausübung des Amtes nicht nur seine Zuverlässigkeit und sein Verantwortungsbewusstsein, sondern auch sein fachliches Können unter Beweis.1 Erst in weitem Abstand folgten die Lehrer, Stadtmissionare und Pastoren, denen man offenbar ebenfalls eine besondere Befähigung zur Ausübung des Amtes unterstellte und deren Auswahl durch die erwähnte Kooperation mit Oberschulbehörde und Kirche institutionalisiert worden war. Gegenüber der Auswahl von Juristen besaß die Rekrutierung von Lehrern und Geistlichen über die zuständigen Behörden den entscheidenden Vorteil, dass sie neben der Grundqualifikation auch eine gewisse Vertrautheit mit dem Milieu der betroffenen Kinder und Eltern, sowie die Wohnortnähe der Vormünder garantierte.2 Schließlich gab es ein breites „Mittelfeld“ von Vormündern, die keine besonderen beruflichen Merkmale aufwiesen. Mehrere Handwerker waren darunter vertreten, aber auch ein Hausmakler, ein „Bürochef“ und ein Harmonikafabrikant. Einige von ihnen waren durch die betroffenen Eltern selbst oder andere Verwandte vorgeschlagen worden. Aber die Erfahrung der Behörde sprach eigentlich dagegen, auf solche Vorschläge aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld einzugehen.3 In den meisten Fällen ließ sich der Rekrutierungsweg hingegen nicht mehr genau rekonstruieren. Die beiden Hauptkriterien für die Wahl von Vormündern bestanden ganz offensichtlich da-
1 Der berufliche Werdegang eines Sekretärs der Behörde, Max Lohse, deutet darauf hin, dass die Bestellung zum Spezialvormund für junge Juristen einer regelrechten Strafarbeit gleichkommen konnte. Lohse, der seine erste juristische Prüfung 1883 nur mit „ausreichend“ bestanden hatte und dem in seinen Zeugnissen Weitschweifigkeit und Schwerfälligkeit attestiert wurden, war 1892 „mangels anderer Bewerber“ für den Posten bei der Vormundschaftsbehörde vorgeschlagen worden und rückte erst in Folge des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges auf die Stelle des ersten Sekretärs auf. Dass er Mitte der 1880er Jahre, zwischen Promotion und Militärdienst, von der Behörde gleich mehrfach als Vormund eingesetzt wurde, dürfte kaum ein Zufall gewesen sein. (Vgl.: STAH 131-15 Senatskanzlei, Personalakten C 290 u. 1884, Müller Abt. II 114 sowie 1884, Zawadzki, Abt. II 170). Wie stark junge Juristen von der Vormundschaftsbehörde mitunter in Anspruch genommen wurden, dokumentiert ein Entlassungsgesuch eines Referendars, der angesichts des heranrückenden Assessorenexamens erklärte „unmöglich zur Zeit neue Tutelen [...] übernehmen“ zu können. (1883, Herrling, Serie III 2925). 2 Trotz des latent vorhandenen Interessenswiderspruchs beider Ämter befanden sich außerdem einige Armenpfleger unter den Spezialvormündern. Das war nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass viele Eltern Armenunterstützung bezogen und die Pfleger schon vor der Anzeige in die Fälle involviert waren. (1894, Nieschulz, Abt. II 6775). 3 In einem Fall musste die Behörde den Schwager eines beschuldigten Vaters, der selbst von seiner Bestellung abgeraten hatte, schon bald wieder entlassen, weil seine persönliche Verstrickung in die zu untersuchende Angelegenheit immer offensichtlicher wurde (1883, Herrling, Serie III 2925).
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rin, dass sie als unparteiisch galten und in der Nähe der Mündeleltern lebten.1 Die meisten wohnten im gleichen Viertel, manche sogar im selben Häuserblock. In der Regel verstrich wenigstens ein Monat, bis ein Spezialvormund gefunden und beeidigt war. Das hing mit den angesprochenen Komplikationen bei der Vormündersuche zusammen, war aber zum Teil auch eine Folge des elterlichen Widerstrebens gegen Ermittlungen, die sich auf ihre Person richteten. In der Mehrheit der Fälle machte die Vormundschaftsbehörde nicht viel Aufhebens vom Widerwillen der Eltern. Manchmal konnte sie die Betroffenen sogar zu einer kleinlauten Einverständniserklärung bewegen, die augenscheinlich in der Mehrzahl der Fälle in der Hoffnung abgegeben wurde, im Verlauf der Ermittlungen die erhobenen Anschuldigungen doch noch entkräften oder wenigstens umlenken zu können. Immer wieder sah sich die Behörde allerdings genötigt, schon die Bestellung von Spezialvormündern durch einen ausführlich begründeten Beschluss abzusichern. Bemerkenswerterweise handelte es sich dabei fast ausschließlich um Fälle, die Väter in überdurchschnittlich hohen beruflichen Positionen betrafen.2 Ganz offensichtlich rechnete die Behörde bei diesem Personenkreis mit vermehrten Widerständen, was insofern begründet war, als die betroffenen Väter zumeist ein ausgeprägtes Ehrgefühl besaßen und sich schon aus diesem Grund veranlasst sahen, gegen jede behördliche Einmischung in ihre „privaten“ Angelegenheiten mit größter Entschiedenheit vorzugehen. Der Vater Mrongowius z.B. (1894, Mrongowius, Abt. II 6554), gegen den die Polizei mit „großer Discretion“ ermittelt hatte, sah sich als Reichsbeamter verpflichtet, gegen alle ihn verleumdenden Zeugen ein Disziplinarverfahren bei der ihm vorgesetzten Dienststelle anzustrengen. Zwar ist es wenig wahrscheinlich, dass der Vater die Behördenmitglieder mit dieser Ankündigung beeindrucken konnte. Aber die Absicherung der Spezialvormundschaften durch ausführlich begründete Beschlüsse kann doch als ein weiterer Ausdruck der realen Beschwerdemacht der Eltern gewertet werden, welche die Vormundschaftsbehörde im Auge behalten musste, wenn ihre Beschlüsse vor den nachgeordneten Instanzen Bestand haben sollten.3 Wenn sich viele Eltern die Anordnung von Spezialvormundschaften 1 Die Spezialvormundschaften sollten, wie aus einem Beschluss aus dem Jahre 1885 hervorgeht, dazu dienen, „die Sachlage aufzuklären u. der Vorm. Beh., die nicht alle Untersuchungen und Erhebungen selbst vornehmen kann, eine gründliche u. unparteiische Darstellung der Sache zu geben.“ Vgl. 1885, Fischer, Abt. I 486. 2 1881, Wulff, Serie III 874; 1885, Fischer Abt. I 486; 1892, Meyer, Abt. II 4778; 1894, Stroß, Abt. II 5875; 1894, Michaelsen, Abt. II 6246; 1894, Mrongowius, Abt. II 6554. Wulff gab seinen Beruf mit „Geschäftsreisender“ an, Fischer war als Privatlehrer und „englischer Korrespondent auf einem Comptoire“ tätig und bei Stroß handelte es sich um einen „Linear“ mit eigenem Geschäft. Der so sichtbar um den sozialen Aufstieg seines Sohnes bemühte Vater Mrongowius schließlich war als „Obertelegraphenassistent“ Reichsbeamter. 3 Im Falle des insgesamt sehr prozessfreudigen Vater Wulff wird dieser Zusammenhang besonders deutlich. Der Mann strengte nicht nur einen Zivilprozess gegen die Vormundschaftsbehörde an und
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stillschweigend gefallen ließen, so ist darin also auch ein Quellenproblem zu sehen: Widerstände der Eltern fanden in dieser entscheidenden Etappe des Verfahrens vor allem dann ihren Niederschlag in den Personenakten, wenn sie von der Behörde gefürchtet werden mussten. Festzuhalten ist, dass der Zwangscharakter der Beziehung zwischen Spezialvormündern und Mündeleltern beidseitig war, und dieser Umstand sollte die zwischen ihnen stattfinden Interaktionen nachhaltig prägen. Zumindest Mitte der 1880er Jahre verfügten die Spezialvormünder in der Ausübung ihres Amtes über einen recht großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Zum Teil gewinnt man sogar den Eindruck, dass sie die eigentlichen „Herren des Verfahrens“ waren.1 Dennoch lässt sich im Vergleich der beiden Jahrgänge 1884 und 1894 eine Tendenz zu vermehrten Anweisungen der Vormundschaftsbehörde an die Spezialvormünder erkennen. Das entsprach einerseits den allgemeinen Disziplinierungsanstrengungen der Behörde gegenüber unmotivierten Vormündern, war aber auch Ausdruck der wachsenden Unsicherheit, welche die Spezialvormünder selbst bei der Erledigung ihres Amtes empfanden. Immer wieder baten sie um „nähere Instructionen“, wenn sie bei der Erfüllung ihres Auftrages auf Probleme stießen. Eingeschränkt wurde ihr Handlungs- und Entscheidungsspielraum außerdem durch eine Reihe ungeschriebener Regeln und Konventionen bezüglich ihrer Vorgehensweise, deren Einhaltung sowohl von der Vormundschaftsbehörde als auch von den betroffenen Eltern selbst kontrolliert wurde. Diese Konventionen waren im Wesentlichen der jahrhundertealten Praxis der Armenpflege entlehnt und gaben fünf Standardtechniken zur Ermittlung der „häuslichen Verhältnisse“ vor:
Der „Hausbesuch“, also die Inaugenscheinnahme der Wohnung sowie die Befragung der Eltern und – ab einem bestimmten Alter – auch der Kinder in ihrem häuslichen Umfeld; die „Vernehmung“ von involvierten dritten Personen wie anzeigenden Verwandten, Pflegeeltern usw.; die Erkundung des Leumundes bei relativ „uninteressierten“ Nachbarn, Vermietern und Arbeitgebern; die Einholung von schriftlichen Stellungnahmen von Fachleuten wie Lehrern, Armenpflegern oder Ärzten und schließlich
legte mehrfach Beschwerde gegen die Beschlüsse derselben beim Oberlandesgericht ein. Noch bevor ihm der Bestellungsbeschluss zugestellt werden konnte, hatte er sich auch schon in die Poststraße begeben und erkundigte sich nach seinem Inhalt (1881, Wulff, Serie III 874). 1 Nicht ganz zu Unrecht monierte ein betroffener Vater 1885, dass die Vormundschaftsbehörde selbst keine eingehende Überprüfung der Sachlage vornehme, die tatbestandlichen Erhebungen vielmehr ganz den Spezialvormündern überlasse, um aufgrund ihrer Berichte zu dekretieren. (Ebd.)
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die Einsichtsnahme in Polizei- und Gerichtsakten.
Trotz dieses Standardrepertoires an Ermittlungstechniken, auf das die Spezialvormünder zurückgreifen konnten, war kaum ein Vormund mit seiner konkreten Handhabung vertraut, und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Vorgehensweisen der Spezialvormünder so vielfältig waren wie ihre Amtsauffassungen überhaupt. Besonders gut lassen sich die bestehenden Differenzen für den „Hausbesuch“ und die „Erkundung des Leumundes“ nachzeichnen. Beiden Ermittlungstechniken war gemein, dass sie in die komplexe und mehrdeutige Lebenswelt der betroffenen Familien vordrangen. Von den Spezialvormündern wurde erwartet, dass sie die vorgefundenen Lebensrealitäten ordnend deuteten, die Glaubwürdigkeit der einzelnen Aussagen gegeneinander abwogen und damit die Ausgangskonflikte einer Weiterverarbeitung durch die Behörde zugänglich machten. Für den Hausbesuch war kennzeichnend, dass er die direkte Auseinandersetzung mit den Eltern und ihren Widerständen mit sich brachte, während die spezifischen Schwierigkeiten bei der Erkundung des Leumundes darin bestanden, dass diese Ermittlungstechnik in das Dickicht von Nachbarschafts- und Verwandtschaftskonflikten mit Tratsch, Verleumdung und „übler Nachrede“ führte. Der Hausbesuch stellte keine bloße Wiederholung der vormundschaftsgerichtlichen Anhörung der Eltern dar. Idealerweise sollte er einen Gesamteindruck von der häuslichen Situation der beschuldigten Eltern und ihrer Kinder vermitteln und eine Vielzahl von Informationen zusammentragen, die auf anderem Wege nur schwer zu gewinnen waren: Die Spezialvormünder konnten die Familienmitglieder – das heißt in erster Linie natürlich die Eltern – erneut zu ihrer Sichtweise der Dinge befragen, sich ein Bild von der Zusammensetzung der Familie verschaffen und durch Verhaltensbeobachtung einen flüchtigen Eindruck vom Verhältnis der Familienmitglieder untereinander gewinnen. Der Hausbesuch ermöglichte des Weiteren eine allgemeine Einschätzung der materiellen Situation, in der sich die Familie befand (Einkommen, Art und Zustand der Behausung, Belegung/Ausstattung der Wohnung). Und nicht zuletzt gab die Inaugenscheinnahme der Wohnung Aufschluss darüber, wie die Familienmitglieder mit knappen räumlichen, materiellen und zeitlichen Ressourcen umgingen (Nutzung der Räume, Schlafarrangements, Zubereitung von Essen, Reinlichkeit der Wohnung usw.). Obwohl der Hausbesuch nicht nur auf einer langen armenpflegerischseelsorgerische Tradition beruhte, sondern es bereits erste, einflussreiche Versuche zu seiner theoretischen Fundierung gab, deutet wenig darauf hin, dass sich die Vormünder der unterschiedlichen Kategorien von Informationen sowie der
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Art ihrer Gewinnung bewusst waren.1 Von der Vormundschaftsbehörde einmal abgesehen, die gegebenenfalls korrigierend eingreifen konnte, existierte keine Instanz, welche die Spezialvormünder in der Vorgehensweise beim Hausbesuch unterwiesen hätte, und konsequenterweise ist auch den Vormünderberichten ein wiederkehrendes Muster, dass auf ein methodische Vorgehensweise schließen ließe, nicht zu entnehmen. Eine seltene Ausnahme stellt in dieser Hinsicht ein vom Stadtmissionar Daniel Timm und seinem Mitvormund verfasster Bericht aus dem Jahre 1884 dar, der die praktische Erfahrung und Versiertheit des im „Rauhen Haus“ geschulten Armenbesuchers erkennen lässt (1882, Eggebrecht, Serie III 1523): „Beauftragt, nach genauer Kenntnißnahme der häuslichen Verhältnisse, in die der Knabe Ferdinand Eggebrecht nach seiner Entlassung aus dem Gefängniß zurückgekehrt ist, über weitere, mit dem Knaben einzuschlagende Wege Vorschläge zu machen – begaben wir uns in die Wohnung der Eltern Neue Springeltwiete unter No. 4. – Wir trafen den Knaben in der Stube mit Kinderwarten beschäftigt. Außer dem Knaben Ferdinand zählt die Familie noch 4 Kinder. Der Vater ist fester Arbeiter auf dem Venloer Bahnhof, wo er täglich 2 M 70 verdient. Er war nicht zugegen. Die Wohnung macht einen ärmlichen Eindruck. Die Mutter arbeitete in der Nachbarschaft u. wurde geholt. Auf unsern Vorschlag, den Knaben für eine Zeitlang anderswo unterzubringen, damit er seinen ehemaligen verführerischen Umgang entzogen würde, ging die Mutter nicht ein, sondern verhielt sich abwehrend, weil sie der Meinung sei, daß derartiges [der Diebstahl von 600,- Mark aus einer verschlossen Kommode seines Dienstherren, J.R.] nicht wieder vorkommen könne.“
Nach diesem ersten Besuch der elterlichen Wohnung am Tage wandten sich die beiden Spezialvormünder zunächst an den Lehrer des Knaben, um ihn zur Sache zu befragen. Unterrichtet über dessen Sichtweise der Dinge – der Lehrer hatte für die Fremdunterbringung des Knaben plädiert, weil er die Eltern für Mitwisser des Diebstahls hielt – klopfte Timm dann am Abend desselben Tages noch einmal an die Tür der Mündeleltern. Über den weiteren Fortgang der Untersuchung berichtete er: „An demselben Abend suchten wir wieder die Wohnung der Eltern auf, die ganze Familie war beisammen, der Vater verzehrte sein Abendbrod. Er ist ein verständiger Mann, dem das Wohl seiner Familie am Herzen liegt, auch ist er eine entschiedene Autorität in seiner Familie. Nach eingehendem Gespräch mit dem selben in Gegen1 Zu nennen sind hier neben den Erörterungen J.H.Wicherns auch die des schottischen Philanthropen Thomas Chalmers sowie die einflussreiche Schrift Barons de Gérandos mit dem Titel: Armenbesucher (Weisbrod [1986]; Donzelot [1980], S. 81 f.). Auf die frühzeitige Systematisierung des Armenbesuchs als Interventions- und Ermittlungstechnik durch Vertreter der „Innere Mission“ weist v.a. Dießenbacher [1986] hin.
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wart des Knaben, wie der übrigen Familienglieder bemerke ich, daß er die That seines Kindes tief verabscheut. Der Knabe stand dem sehr ernst redenden Vater gegenüber u. weinte stille vor sich hin, u. ich empfing aus der ganzen Situation sogleich den Eindruck der Unmöglichkeit die Ansicht des Herrn Corens zu theilen. Wenn auch weniger, so macht die Mutter doch auch den Eindruck des Nichtbetheiligtseins. Ueberhaupt hätten beide Eltern sich im Familienkreise nicht so ernst u. ungefangen aussprechen können, wenn irgend eine Schuld der Art auf ihnen haftete. Dem Knaben merkt man fortwährend eine gedrückte Stimmung an. Nach seiner Aussage wohnen seine ehemaligen Complicen nicht mehr in der Gegend, nach seiner Entlassung aus dem Gefängniß hat er noch keinen derselben wiedergesehen. Bezüglich die Verpflanzung des Knaben aus der Familie meinten beide Eltern, dass sie nicht nöthig sei, ungern wolle der Vater ihn vor seiner Confirmation aus dem Hause geben.“
Neben der Wiedergabe des paternalistischen Familienverständnisses und der detaillierten Schilderung der Gefühlsbeziehungen in der Familie war es vor allem die dreistufige Vorgehensweise, die den professionellen Armenbesucher als Verfasser des Berichts zu erkennen gab. Geradezu idealtypisch führten die beiden Spezialvormünder vor, wie der Hausbesuch zeitlich und im Zusammenhang mit den anderen Untersuchungsschritten so zu arrangieren war, dass man ein Maximum an Informationen bekam, ohne den Widerstand der Familie heraufzubeschwören.1 Zunächst wurde die Familie am Morgen überrascht, um die Mutter allein zu sprechen und um zu sehen, wie der Haushalt geordnet ist, ob die Kinder in der Schule und die Eltern bei der Arbeit sind. Im Anschluss wurden dann die Aussagen von Fachpersonen gesammelt, an deren Objektivität und Urteilskraft nicht ernsthaft gezweifelt wurde. Schließlich wurde die Familie am Abend erneut aufgesucht, um zu sehen, ob der Vater seiner Rolle als Familienoberhaupt nachkam, um denselben mit den Aussagen des Lehrers und der Mutter zu konfrontieren. Ganz ungezwungne und fast nebenbei warfen die Spezialvormünder dabei noch ein Blick in die Kochtöpfe der Familie. Trotz des methodisch-versierten Vorgehens, das der Stadtmissionar und sein Amtskollege beim Hausbesuch an den Tag legten, gibt es allerdings eine ganze Reihe von Aspekten, die im auffälligen Widerspruch zu dem von Donzelot und anderen gezeichneten Bild des Armenbesuchs als ausgeklügelter Kontrolltechnik stehen. Dazu gehört die Bereitschaft der Berichterstatter, die Anschuldigungen des Lehrers in Zweifel zu ziehen, genauso wie das fast vollständige Fehlen abwertender Äußerungen in der Schilderung der Häuslichkeit und des Familienlebens. Der Bericht war ganz auf das abschließende Votum ausgerichtet, das bemerkenswerterweise nicht nur davon abriet, den Eltern das Kind zu nehmen, weil dies in der Familie und der Nachbarschaft „böses Blut setzen“ würde. Der 1
Vgl. hierzu: Donzelot [1980], S. 81 f.
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Stadtmissionar Timm, dem als Absolvent der Wichernschen Brüderanstalt ein Interesse unterstellt werden kann, dem „Rauhen Hause“ neue Zöglinge zuzuführen, vertrat sogar die Auffassung, dass der Knabe nicht in eine Rettungsanstalt gehöre. Korrigiert der Bericht schon inhaltlich die gängige Vorstellung vom Hausbesuch als einer zum vornherein auf Eingriff abzielenden Kontrollstrategie, so relativiert seine isolierte Stellung im Gesamtkontext der vormundschaftsgerichtlichen Praxis die Vorstellung eines bruchlosen Übergangs von vormodernprivatwohltätigen zu wohlfahrtstaatlich-bürokratischen Ermittlungstechniken noch ein Stück weiter. Die meisten Spezialvormünder gingen beim Hausbesuch sehr viel unbeholfener als die Stadtmissionare der Horner „Brüderanstalt“ vor, versuchten ihn nach Möglichkeit sogar gänzlich zu umgehen und die geforderten Informationen auf andere Weise zu beschaffen. Häufig waren die Aussagen, welche die Spezialvormünder zur Beschaffenheit der Wohnung machten, so vage, dass es zweifelhaft erscheint, ob sie das Haus der Mündeleltern überhaupt betreten hatten. Es lässt sich deshalb rückblickend nicht einmal behaupten, dass der Hausbesuch bei den Ermittlungen der Spezialvormünder regelhaft zum Einsatz kam. Die ausgeprägte Abneigung der Vormünder gegen den Hausbesuch hatte neben dem allgemeinen Widerwillen, sich dem sozialen Elend der städtischen Unterschicht in seiner ganz konkreten Gestalt auszusetzen, vor allem zwei Wurzeln: Viele der beschuldigten Eltern konnten beim ersten Anlauf nicht angetroffen werden, die Spezialvormünder mussten sich also ein zweites oder sogar drittes Mal auf den Weg machen, was einen hohen Zeitaufwand und viel „Lauferei“ bedeutete.1 Hinzu kam, dass die skeptische Haltung der Eltern schnell in offene Feindseligkeit umschlagen konnte, die Vormünder also mit Beschimpfungen und sogar Handgreiflichkeiten rechnen mussten. Dass viele Spezialvormünder vor verschlossene Türen kamen, lag – wie sich den Randvermerken in den Vormundschaftsakten entnehmen lässt – zum einen an fehlerhaften bzw. veralteten Adressangaben, zum anderen aber auch an der ungünstigen Tageszeit, die sie für den Besuch wählten. Überraschungsbesuche hatten zwar den Vorteil, dass sie einen ungeschönten Eindruck von den Wohnverhältnissen und dem Familienleben vermittelten, weil den Eltern keine Zeit blieb, sich gezielt auf den Besuch vorzubereiten. Um den Wahrheitsgehalt 1
Durchaus kennzeichnend war etwa die folgende Äußerung, mit der ein Vormund 1884 seinen Bericht an die Vormundschaftsbehörde einleitete: „Trotz eingehender Erkundigungen ist es mir unmöglich gewesen, die Mutter des Mündels oder dieses selbst aufzufinden, denn an allen Stellen, wo die Mutter nach polizeilicher Mittheilung wohnen soll, war sie nicht anzutreffen, war überhaupt dort nicht bekannt.“ (1884, Müller, Abt. II 114) Vgl. ähnliche Äußerungen in den Fällen: 1883, Faasch, Serie II 6740 u. 1894, Levy, Abt. II 6510.
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ihrer Schilderungen hervorzuheben, wiesen deshalb Vormünder in ihren Berichten immer wieder darauf hin, die Familien ohne jede Voranmeldung aufgesucht zu haben.1 Spontane Besuche bargen aber auch ein zweifaches Risiko in sich: die Eltern nicht vorzufinden, sich also vergeblich auf den Weg gemacht zu haben, und Feindseligkeiten zu schüren, welche die weiteren Ermittlungen erheblich erschwerten. Es ist deshalb kaum vorstellbar, dass Überraschungsbesuche zur normalen Praxis gehörten. Auf Seiten der Mündeleltern waren die Übergänge zwischen momentaner Verärgerung über unangekündigte Besuche und Zudringlichkeiten seitens der Spezialvormünder und gezielten Versuchen, sich der obervormundschaftlichen Kontrolle zu entziehen, fließend. 1894 gab ein Spezialvormund als Grund für seine verspätete Berichterstattung an, er habe den Sachverhalt schon vor acht Wochen aufzuklären versucht, „an welchem Tage jedoch mir von dem Ehemann Roesler der Eintritt in die Wohnung und jegliche Auskunft verweigert wurde“ (1894, Bruhn, Abt. I 6136). In einem anderen Fall weigerte sich die Mutter zweier Jungen im Alter von fünf und neun Jahren, die sich vom Vater der Kinder getrennt hatte und mit ihrem „Zuhälter“ zusammengezogen war, dem Spezialvormund ihre neue Adresse anzugeben, weil sie mit der von ihm beabsichtigten Unterbringung des ältesten Kindes im Pestalozzi-Stift nicht einverstanden war (1884, Schönfeldt, Abt. II 468). Etwa zur selben Zeit entführte ein im Ehescheidungsprozess stehender Vater seine beiden schulpflichtigen Kinder sogar nach Bremen, nachdem die Vormundschaftsbehörde eine Spezialvormundschaft zur Prüfung der Frage angeordnet hatte, ob „dem Vater die Erziehung der Kinder zu nehmen“ sei. Zur Begründung gab er an, „der Behandlung der Sache durch die Vormundschaftsbehörde, die mich in meinen väterlichen Rechten beeinträchtigt, schließlich überdrüssig geworden“ zu sein (1882, Spiegel, Serie III 2078). Der Hausbesuch wurde für die Spezialvormünder nicht nur durch unkorrekte Adressangaben, fehlende Vorankündigung und elterliche Versuche, sich der Kontrolle zu entziehen, zu einem Unternehmen mit unvorhersehbarem Ausgang. Eine Reihe von Spezialvormündern hatte schlicht Angst vor tätlichen Angriffen durch die Eltern und vor allem natürlich die Väter. Besonders begründet war diese Furcht augenscheinlich dort, wo die Polizei die Kinder bereits provisorisch aus der elterlichen Wohnung entfernt hatte oder ein Strafverfahren gegen Vater oder Mutter eingeleitet worden war. Ein Rechtsreferendar, der 1885 in einem Misshandlungsfall zum Spezialvormund bestellt worden war, erklärte der Vormundschaftsbehörde gegenüber, er habe es „nicht für opportun“ gehalten, sein Mündel zuhause aufzusuchen, „[d]a der Vater ein ziemlich roher Mensch zu sein scheint“ (1885, Figge, Abt. I 759). Und ein anderer Vormund, der die häus1
1884, Böttger, Abt. I 288, 1894, Rohm, Abt. II 6345.
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lichen Verhältnisse eines Altstädter Wirtes erkunden sollte, dem die Vormundschaftsbehörde schon die Rechte über das jüngste seiner sieben Kinder genommen hatte, weigerte sich strikt, die Wohnung der Eltern erneut zu betreten. Bei der letzten Begegnung habe nämlich der Vater, der kurz vor seiner Entlassung aus einer fünfmonatigen Gefängnishaft stand, ihm mit sofortiger Festnahme gedroht, falls er dies täte (1893/1895, Stroß, Abt. II 5875). Es gab für die Spezialvormünder eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die erwarteten oder tatsächlichen Unannehmlichkeiten beim Hausbesuch zu umgehen. Die einfachste und wohl auch gebräuchlichste bestand darin, die Eltern oder Mündel zu sich nach Hause zu bestellen. Nicht alle Betroffenen ließen sich allerdings auf eine solche Behandlung „von oben herab“ ein. Ein Bote, der von einem Spezialvormund ausgeschickt worden war, um den zuhause nur schwer anzutreffenden Mündelvater zu sich zu bestellen, kehrte mit der Meldung zurück, der Vater habe die Aufforderung mit Hohn zurückgewiesen (1885, Fischer, Abt. I 486). In einem anderen Fall schrieb ein Vater an den mit der Überprüfung des gegen ihn erhobenen Misshandlungsvorwurfs beauftragten Spezialvormund: „Bereits zum 2ten Male erhalte ich von Ihnen eine Aufforderung mit meiner Tochter Minna bei Ihnen vorzukommen, indem Sie sich als Vormund meiner Tochter gerieren [...]. Glauben Sie etwa daß, wenn ich Abends spät von Arbeit komme, ich mich noch ein extra Vergnügen, wenn ich müde bin, mache und nach dem Burstah spaziere“ (1884/1886, Böttger, Abt. I 288)
Für den Spezialvormund war diese selbstbewusste Zurechtweisung durch den Vater Grund genug, bei der Vormundschaftsbehörde um seine Entlassung zu bitten. Bezeichnenderweise aber ging die Behörde auf dieses Ersuchen nicht ein, sondern ergriff für den Vater Partei. Sie stellte zum einen klar, dass es dem Vormund freistehe, um polizeilichen Schutz nachzusuchen, wenn er trotz der anderslautendenden Beteuerungen des Vaters befürchte, von diesem beim Hausbesuch „insultirt“ zu werden. Zum anderen stellte sie den Grundsatz auf, dass ein Hausbesuch zur Beurteilung der Lebensverhältnisse des Mündels viel geeigneter sei als eine Besprechung im Büro des Vormundes. Eine andere, offenbar deutlich weniger verbreitete Möglichkeit, den Hausbesuch zu umgehen, bestand in der Delegation der Aufgabe an Dritte. Ein Rechtsanwalt, der 1894 zum Vormund ad hoc in einem Vernachlässigungsfall bestellt worden war, schickte einen Untergebenen aus, um die „nicht reinliche“ und von „schlechtem Geruch“ erfüllte Wohnung der Mündeleltern in der südlichen Altstadt zu inspizieren (1894, Rosewe, Abt. II 6555). Aber auch eine sol-
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che, rechtlich fragwürdige Delegation dürfte die Vormundschaftsbehörde nur so lange geduldet haben, wie sie von den betroffenen Eltern akzeptiert wurde.1 Schließlich gab es Vormünder, die meinten, auf den Hausbesuch und die Vernehmung der beschuldigten Eltern ganz verzichten und ihre Voten nur auf Auskünfte Dritter stützen zu können. Das eine solche Verfahrensweise ebenfalls zu ungeahnten Komplikationen führen konnte, zeigt ein Beispiel aus dem Jahre 1894 (1894, Levy, Abt. II 6510). Ein Spezialvormund, der gegen die alleinerziehende Mutter eines 13-jährigen Mädchens ermittelte, die von WHK und Armenanstalt des Führens eines „unsittlichen Lebenswandels“ bezichtigt wurde, war wiederholt mit dem Versuch gescheitert, die Mutter „selbst bei späten Abendbesuchen – gegen 9 Uhr und noch später“ anzutreffen. Angesichts der Vergeblichkeit seiner Bemühungen zog er schließlich Erkundigungen bei zwei Nachbarsfrauen ein, auf deren Aussagen sich zum Teil auch sein Plädoyer stützte, der Mutter das Kind abzunehmen und dem Waisenhaus zu übergeben. Nachdem die Abnahme ohne vorherige Benachrichtigung der Mutter und ohne formellen Entzugsbeschluss erfolgt war, reichte die Mutter über ihren Anwalt eine Beschwerde bei der Vormundschaftsbehörde ein. Darin hieß es: „Der von der Vormundschaftsbehörde bestellte Vormund hält es für angebracht, indem er sich von der Vormundschaftsbehörde leiten läßt, das Kind weder in Augenschein zu nehmen noch zu besuchen noch sich auch bei der Lehrerin des Kindes, deren gutes Zeugniß auch bei den früheren Versuchen schon maßgeblich war, sich irgend wie zu erkundigen, seiner Vormundschaftspflichten damit zu genügen, daß er den bereits abgethanen Klatsch sich noch einmal reproduciren läßt, daraufhin ersichtlich ohne weiteres Urtheil den Antrag stellt, das Kind an das Waisenhaus zu überweisen. – Auf diesen ersichtlich werthlosen Bericht und Antrag hin, ohne daß die Mutter des Kindes von einem Mitgliede der Behörde vernommen wird, ohne daß das zwölfjährige Kind einer Befragung unterzogen wird, ohne daß hinsichtlich der Berichte der Lehrerin Ermittelungen angestellt werden, ergeht der Beschluß, in welchem die Polizei-Behörde ersucht wird, mit möglichster Beschleunigung das Kind der Mutter abzunehmen.“
Zwar musste der Anwalt im Nachhinein manche seiner Anschuldigungen wie das Ausbleiben der Anhörung der Mutter und die angeblich nicht stattgefundene Befragung der Lehrerin wieder zurücknehmen. Der Berechtigung der von ihm
1 Wie umstritten die Delegation des Hausbesuchs an Dritte war, sollte sich nach der Jahrhundertwende in der Debatte um die Einführung der Berufsvormundschaft zeigen. Vgl. hierzu BlHWpfl. 9/1910, Heft 2, u. oben S. 256.
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geübten Grundsatzkritik an der Vorgehensweisen des Spezialvormunds und der Vormundschaftsbehörde tat dies aber keinen Abbruch.1 Erkundigungen nach dem Leumund der Eltern durch Befragungen in der Nachbarschaft stellten, wie in den beiden letzten Beispielen bereits anklang, nicht nur eine fragwürdige Alternative zu den Hausbesuchen dar. Zuweilen glichen sie dem sprichwörtlichen „Griff ins Wespennest“, weil die Wahrnehmungen der Nachbarn alles andere als einheitlich waren und die Vormünder die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Aussagen eingehend prüfen mussten, wollten sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, einseitig ermittelt zu haben. Auf der anderen Seite gab es Situationen, in denen die Nachbarn zwar einhelliger Meinung über die Eltern und ihr Verhalten gegenüber den Kindern waren, die ehrenamtlichen Ermittler aber gut daran taten, zwischen begründeten Meinungen, Zeugnissen auf der Basis bloßen Hörensagens und böswilligen Verleumdungen zu unterscheiden. Aus diesem Grund fanden sich in den Personenakten eher selten Vormünderberichte, die sich nur auf in der Nachbarschaft, bei Arbeitgebern oder Logiswirten eingezogene Erkundigungen stützten. In einem Ende 1883 erstatteten Bericht untermauerten zwei Spezialvormünder ihren Antrag, einem Witwer die Rechte über seine drei minderjährigen Kinder zu nehmen, mit den Aussagen von sechs namentlich benannten Nachbarn, die den Vater unisono als einen Trunkenbold bezeichneten, der seit langer Zeit nicht mehr arbeite und seine Kinder schlecht behandele (1883, Herrling, Serie III 2925). Offenbar waren sich die Vormünder der relativen Wertlosigkeit der einzelnen Angaben durchaus bewusst und ahnten auch, dass die Vormundschaftsbehörde die Ermittlungen für nicht ausreichend halten würde, um den vorgeschlagenen Eingriff zu rechtfertigen.2 Ihren Bericht schlossen sie jedenfalls mit der Bemerkung: „Sollte die verehrlichte Vormundschaftsbehörde noch nicht in der Lage sein, auf Grund dieses Berichts ihre Entscheidung zu treffen, so werden die Vormünder auf Verlangen noch weiteres Material zur Akte bringen können.“ Zu einer Fortsetzung der Untersuchung kam es jedoch nicht, weil die parallel angestellten polizeilichen Ermittlungen den Verdacht nährten, einer der Vormün1 Dass Vormünder, die den Hausbesuch für entbehrlich hielten, durch den Protest der Eltern in Bedrängnis gerieten, war kein Einzelfall. Ein anderer Spezialvormund hatte seinen Bericht über zwei angeblich von ihrer Stiefmutter „schlecht behandelte“ Mädchen nur auf Erkundigungen in der Nachbarschaft gestützt (1893, Lehmann, Abt. II 5441). Nachdem die Mutter der Behörde gegenüber ihr Befremden über diese Vorgehensweise geäußert hatte, wurde der Vormund zu einer kommissarischen Vernehmung in die Vormundschaftsbehörde bestellt. Sichtlich kleinlaut rechtfertigte er sein Handeln, indem er angab, „er habe absichtlich die Frau Lehmann nicht aufgesucht und vernommen, weil er überzeugt gewesen [sei], daß er nur von ihr gehört haben würde, daß sie Alles bestreite“. 2 So zitierten sie eine Nachbarin mit den Worten, „[i]hre persönliche Ansicht, die sie allerdings mit strickten Beweismitteln nicht zu belegen vermöge, sei die, daß die Kinder es beim Vater nicht gut hätten, vielmehr von demselben, wie sie angäben, mißhandelt würden; dies sei überhaupt die Meinung aller Einwohner.“
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der, ein mit dem Beschuldigten verschwägerter Armenpfleger, könnte die Absetzung des Vaters aus nicht ganz uneigennützigen Gründen betrieben haben. Vor die Vormundschaftsbehörde zitiert, wurde dem Vormund nahegelegt, auf sein Amt zu verzichten, was er schließlich wohl oder übel auch tat. Nicht immer gingen Spezialvormünder so unbedarft mit den Auskünften von Nachbarn und Bekannten um wie in dem vorstehenden Fall. Ein Bürochef, der 1892 als Spezialvormund bestellt worden war, um der Frage nachzugehen, ob einer geschiedenen Mutter ihre fünf Kinder genommen und anderswo untergebracht werden sollten, hatte seinen ersten Bericht offenbar auf der Basis mehrerer Hausbesuche sowie eines Gesprächs mit dem Lehrer verfasst. Er war darin zu einem ausgesprochen günstigen, ja einfühlsamen Urteil gelangt, für welches er von der Vormundschaftsbehörde auch nachdrücklich gelobt wurde (1892, Zunker, Abt. II 4646). Ein Jahr später hatte sich das Blatt gewendet und der Spezialvormund, dem inzwischen auch die „Leitung und Überwachung“ der Kinder übertragen worden war, beantragte die sofortige Fortnahme der Kinder von der Mutter und ihre Übergabe an den wiederverheirateten Vater. Neben dem plötzlichen Auftauchen des als ruhig, nüchtern und fleißig beschriebenen ExEhemannes, von dessen Aufenthalt und solidem Lebenswandel die Mutter nichts gewusst haben wollte, stützte er sein Gesuch auf die Aussagen von zwei namhaft gemachten Bekannten der Mutter, die angeblich gesehen hatten, wie diese abendliche Tanzveranstaltungen besuchte, während sich die Kinder aufsichtslos auf der Straße herumtrieben. Bemerkenswerterweise hatte der Vormund sich nicht damit zufriedengegeben, die Aussagen in seinen Bericht aufzunehmen, sondern hatte ein förmliches Protokoll angefertigt, das er von den Zeuginnen unterschreiben ließ und seinem Bericht als Anhang beilegte. Das hervorstechendste Kennzeichen der Ermittlungen vor Ort, so lassen sich die Ergebnisse der Untersuchung zur Vorgehensweise der Spezialvormünder zusammenfassen, war somit die unsystematische und wenig reflektierte Handhabung der einzelnen Ermittlungstechniken. Die Spezialvormünder konnten zwar relativ selbstbestimmt agieren, sie waren aber auch auf sich allein gestellt und mussten individuelle Lösungen auf die vielfältigen Schwierigkeiten entwickeln, die sich bei der Ausführung ihres Amtes ergaben. Natürlich vermittelten die traditionellen, paternalistischen Verhaltensmuster, die den Umgang mit den Armen im Rahmen der zahlreichen sozialen Ehrenämter der Stadt bestimmten, einen gewissen Halt. Aber längst nicht für jedes Vorkommnis gab dieser mentale Fundus eine passende Antwort. Es barg sogar gewisse Risiken in sich, wenn Vormünder ihr Mandat mit den Aufgaben eines Armenpflegers verwechselte. Die ehrenamtlichen Ermittler mussten erst mühsam ihre eigenen Erfahrungen sammeln, wie sie bei den Ermittlungen am besten vorzugehen hatten. „Erfahrungen sammeln“ bedeutete in erster Linie, von der Vormundschaftsbehörde und
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nicht selten eben auch von den Mündeleltern auf die Missachtung ungeschriebener Verfahrensregeln hingewiesen zu werden. Sofern die Eltern ihren guten Ruf noch nicht gänzlich verspielt hatten, sich halbwegs artikulieren konnten und auch über genügend Selbstbewusstsein verfügten, um sich zu wehren, wurden sie zu argwöhnischen Kontrolleuren der Spezialvormünder und ihrer Vorgehensweise. Nur die Stadtmissionare legten, wie der oben zitierte Bericht Daniel Timms zeigte, eine gewisse methodische Versiertheit an den Tag. Aber sie bildeten eine Minderheit unter den Spezialvormündern, die zur Untersuchung angezeigter Erziehungsmängel vor der Jahrhundertwende bestellt worden waren. Es ist nicht einfach, die Auswirkungen abzuschätzen, die das Inkrafttreten des BGB für die Vorgehensweise bei den vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen vor Ort mit sich brachte. Mit der neuen Rechtslage war es der Vormundschaftsbehörde nicht mehr möglich, Spezialvormünder für die Ermittlungsarbeit einzuspannen. Sie war jetzt für diese Zwecke auf die Unterstützung durch die Polizei und das WHK angewiesen. Auf Basis der wenigen für die Zeit nach der Jahrhundertwende überlieferten Personenakten lassen sich keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen zur Gestaltung der Ermittlungspraxis durch diese beiden Stellen ziehen. Allerdings sind den Generalakten des WHK und verschiedenen Artikeln aus den „Blättern“ Anhaltspunkte darüber zu entnehmen, ob und wie sich die Ermittlungstätigkeit durch die erwähnte Kompetenzverlagerung geändert hatte. In den Jahren unmittelbar nach der Jahrhundertwende, als sich das ehrenamtliche Waisenpflegesystem noch im Aufbau befand, griff die Vormundschaftsbehörde zur Aufklärung von Misshandlungs- und Vernachlässigungsfällen anscheinend tatsächlich in starkem Maße auf die Amtshilfe der Polizei zurück.1 Schon 1903 verweigerte die Polizei allerdings die weitere Zusammenarbeit mit der Vormundschaftsbehörde, weil sie zu der Erkenntnis gelangt war, dass sie zu Ermittlungen in dem Umfang, wie sie von der Vormundschaftsbehörde erwartet wurden, rechtlich gar nicht befugt war.2 Infolgedessen war die Vormundschaftsbehörde nun ganz auf das WHK angewiesen, wenn Erkundigungen vor Ort eingezogen werden sollten. Alle Äußerungen, die sich in den Generalakten des WHK und den „Blättern“ zur Ermittlungstätigkeit des WHK fanden, weisen darauf hin, dass sich an der Vorgehensweise der mit der Untersuchung der häuslichen Verhältnisse konkret befassten Personen zunächst nicht viel änderte. Das ist nicht weiter verwun1
Zum Ausbau des Waisenpflegesystems vgl. oben, Abschnitt 3.3.1. STAH 354-5 I 266, Bl. 17 u. 52. Offenbar bezog sich diese Stellungnahme z.T. auch auf die polizeiliche Tätigkeit vor 1900. Die Polizeibehörde war bemüht, ihre Zusammenarbeit im Rahmen von Misshandlungsfällen auf ihren eigentlichen Auftrag als Strafverfolgungsbehörde zurückzufahren. 2
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derlich, denn mit den Waisenpflegern wurden auch weiterhin Ehrenamtliche mit der Ermittlungstätigkeit betraut, die auf ihre schwierige Aufgabe kaum vorbereitet worden waren und im Großen und Ganzen denselben Bevölkerungskreisen entstammten wie die Spezialvormünder.1 Zwar gab es unverkennbar Bemühungen die Ermittlungsarbeit zu systematisieren und in ihrer Qualität zu steigern. Die von Direktor Petersen betriebene „Personalpolitik“, die auf eine Erhöhung des Anteils pädagogisch und sonst wie fachlich vorgebildeter Waisenpfleger abzielte, ging genauso in diese Richtung wie die Versuche, über den Abdruck mustergültiger Pflegerberichte in den „Blättern“ Einfluss auf den Arbeitsstil der Waisenpflege zu nehmen.2 Gleichzeitig aber rissen die Klagen der Vormundschaftsbehörde und der Direktion des WHK über unbrauchbare Ermittlungsberichte und unmotivierte Waisenpfleger nicht ab.3 Anfang 1905 versuchte Petersen in den „Blättern“ mit der Rolle des „Kinderfreundes“ ein neues Leitbild ehrenamtlicher Arbeit zu vermitteln. Er hielt dies für erforderlich, weil viele Waisenpfleger seiner Meinung nach ihren Dienst nur „nach Vorschrift“ versahen, ihren Pflichten als Berichterstatter nur unzureichend genügten und sich im nachhinein wunderten, wenn ihre Stellungsnahmen nicht zu der angeregten Schutzmaßnahmen führten.4 Der Grund für den geringen Arbeitseifer der Waisenpfleger lag auf der Hand. Neben der zeitlichen Inanspruchnahme durch ihren eigentlichen Beruf und der engen Begrenzung der ihnen übertragenen amtlichen Kompetenzen wirkten sich vor allem die konkreten Schwierigkeiten, die ihnen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit begegneten, negativ auf die Arbeitsmotivation aus. Ein Vorfall, der 1903 in den „Blättern“ wiedergegeben wurde, stellte nur die Spitze der möglichen Konfrontationen und Zusammenstöße dar, die sich bei der Ermittlungsarbeit ergeben konnten: Ein Waisenpfleger, der beim Hausbesuch von einem Stiefvater mit „allerlei Redensarten belästigt“ worden war, hatte seine amtliche Autorität dadurch zu unterstreichen versucht, dass er dem Mann erklärte, er sei „nicht zum Vergnügen“, sondern zur Untersuchung des Wohlergehens seiner Kinder gekommen. Daraufhin, so hieß es in den „Blättern“, habe ihn der Stiefvater zum Verlassen der Wohnung aufgefordert und – als der Waisenpfleger dem nicht nachkommen wollte – ihm einen Stoß in die Seite versetzt.5 1
Zur sozialen Herkunft der Waisenpfleger vgl.: oben, Abschnitt 3.3.1.3. Vgl. etwa die Pflegerberichte in: BlHWpfl. 6.1907, Heft 4 u. 6 und 7.1908, Heft 6 3 1903 wies die Vormundschaftsbehörde anlässlich eines konkreten Falls nachlässiger bzw. unsystematischer Berichterstattung das WHK darauf hin, wie wichtig es sei, bestimmte formale Kriterien bei der Abfassung entsprechender Stellungnahmen einzuhalten (STAH 354-5 I, Akte 226, Bl. 17). Direktor Petersen gab diesen Hinweis kurz darauf in den „Blättern“ an die ehrenamtlichen Waisenpfleger weiter (BlHWpfl. 2.1903, Heft 7). 4 BlHWpfl. 4.1905, Heft 1. 5 BlHWpfl. 2.1903, Heft 7. 2
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Die Direktion des WHK zog aus solchen und ähnlichen Vorfällen Konsequenzen, indem sie einerseits dafür sorgte, dass widersetzliche Eltern in Zukunft mit Geldstrafen belegt werden konnten, und andererseits verstärkt dazu überging, die Ermittlungstätigkeit festangestellten Beamten anzuvertrauen.1 Von einer „Professionalisierung“ der Untersuchungstätigkeit konnte allerdings bei einem einzigen festangestellten Ermittlungsbeamten noch kaum die Rede sein. Seine Berichte wiesen übrigens ähnlich gravierende Mängel auf wie die seiner ehrenamtlichen Kollegen.2
5.5.3.2.2 Die Verhandlung von Normen bezüglich Arbeit, Geschlecht und Generationenverhältnis Während es im letzten Abschnitt um die Rekonstruktion der Vorgehensweise der Vormundschaftsbehörde und der von ihr beauftragten Organe bei den Ermittlungen ging, soll im Folgenden näher untersucht werden, wie sich die Auseinandersetzung mit den untersuchten sozialen Sachverhalten inhaltlich gestaltete. Das Ermittlungs- und Beweisverfahren stellte sozusagen die Bühne dar, auf der die ehrenamtlichen Ermittler, die betroffenen Eltern und die kommissarisch abgestellten Richter der Vormundschaftsbehörde um den Geltungsanspruch von Normen bezüglich Arbeit, Geschlecht und Erziehung stritten. Es ging in diesem Stadium des Verfahrens noch nicht um die Subsumption der ermittelten Tatsachen unter die eine oder andere Rechtsnorm.3 Der Kampf um die Wirklichkeitsdeutungen war kein gleichberechtigter Kampf. Schon die angesprochenen organisatorischen und methodischen Fallstricke der Ermittlungstätigkeit deuteten aber darauf hin, dass es für die Eltern nicht unmöglich war, ihre eigene Sichtweise der Dinge in das Verfahren einzubringen. Sie standen keinem methodisch geschulten Ermittler und keiner reibungslos funktionierenden Bürokratie gegenüber, die mit ihren Sprachspielen und routinierten Arbeitsvollzügen den Prozess der Wirklichkeitskonstruktion hermetisch 1
Petersen [1911], S. 105 f. In einem Schreiben der Vormundschaftsbehörde an das Waisenhauskollegium von 1903 hieß es: „Wenn der Ermittlungsbeamte in seinem Bericht vom 5. August erklärt: ‚Das Familienleben soll nicht immer einwandfrei sein. Es soll oft recht laut und roh in der Wohnung hergehen, der Mann soll selten arbeiten,’ so berechtigen solche unverbürgten Gerüchte die Vormundschaftsbehörde nicht zum Einschreiten aus § 1666. Es ist notwendig, daß der Ermittlungsbeamte der Vormundschaftsbehörde die Quellen angibt, aus denen er seine Wissenschaft schöpft.“ STAH 354-5 I, 226, Hervorhebungen im Original. 3 Fungierten Referendare als Spezialvormünder, so verfassten sie gelegentlich regelrechte Rechtsgutachten zu den ihnen übertragenen Fällen. Das entsprach aber nicht ihrem eigentlichen Auftrag. Ein Votum in die eine oder andere Richtung wurde von ihnen verlangt, nicht aber eine rechtliche Auseinandersetzung mit den ermittelten Sachverhalten. 2
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gegen das Eindringen alternativer Deutungen absicherte. Das Studium der Vormundschaftsakten bietet die Möglichkeit, etwas mehr über die Alltagsdeutungen der betroffenen Familien zu erfahren sowie über die Voraussetzungen, unter denen es ihnen gelingen konnte, ihre eigenen Sichtweisen und Interessen durchzusetzen. Den Rahmen der Auseinandersetzungen bildeten die bürgerlichen Normen in Bezug auf Arbeit, Geschlechterverhältnis und Generationenordnung. Es wäre jedoch voreilig anzunehmen, dass die Auseinandersetzungen sich grundsätzlich auf einen Dissens zwischen bürgerlichen und proletarischen Wertvorstellungen zuspitzten. Vielmehr zeigt sich, dass sowohl die Ermittler als auch die Betroffenen zum Großteil auf das gleiche normative Bezugssystem zurückgriffen. Hinzu kommt, dass die behandelten Sachverhalte grundsätzlich mehrdeutig waren und sich einer eindimensionalen normativ-wertenden Zuordnung entzogen. Die gesellschaftlich herrschenden Vorstellungen über Arbeit, Geschlechterverhältnis und Generationenordnungen überlagerten sich komplex. Keine Vorstellung über ein geordnetes kindliches Aufwachsen und ein „normales“ Arbeitsverhalten kam ohne Geschlechterstereotype aus. Genauso unablösbar war die Erziehungsmentalität von damals mit der Vorstellung von Arbeit als einem sittlichen Wert verbunden. Analytisch ist es dennoch sinnvoll, die einzelnen Normkomplexe auseinander zu halten.
„Wäre ich ein verkommener Mensch, würde mich kein Arbeitgeber annehmen“ – Die Verhandlungen der Arbeitshaltung Alle Erkundigungen der häuslichen Verhältnisse, unabhängig davon, von wem sie durchgeführt wurden, zeigten ein besonderes Interesse für die berufliche Tätigkeit der Familienmitglieder und selbstverständlich vor allem für die Beschäftigung des Familienoberhauptes. Zum einen war der materielle Aspekt der Arbeit für die Ermittlungen von Bedeutung. Das Darben der Kinder, die schlechte gesundheitliche Verfassung und die mangelhaften Wohnverhältnisse, ja sogar der unregelmäßige Schulbesuch konnten als Folge des unzureichenden Einkommens der Eltern gewertet werden. Wichtiger aber war für die Untersuchungen der sittliche Aspekt der Arbeit und zwar in doppelter Hinsicht: Genauso, wie aus der Arbeitshaltung der Haushaltsvorstände abgeleitet wurde, ob die Armut der Familie als „unverschuldet“ oder „selbstverschuldet“ gelten konnte und demnach einen Unterstützungsanspruch begründete oder nicht, ließ sich die unzureichende Verpflegung und Erziehung der Kinder letztlich auf die schlechte Arbeitsmoral
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des Haupternährers zurückführen.1 Auf der anderen Seite war die Arbeitshaltung der Eltern für die Voten der ehrenamtlichen Ermittler auch deshalb ausschlaggebend, weil angenommen wurde, dass sie im Sinne des guten bzw. schlechten Vorbildes auf die Kinder einwirkten. Zumal wenn die vermeintliche „Arbeitsscheu“ des Haupternährers mit einem Hang zum Trinken oder anderen sittlichen Ausschweifungen einherging, war dieser Zusammenhang für Zeitgenossen offenbar naheliegend. Entsprechend der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung, die den Vätern die Ernährerrolle und den Müttern die Erledigung der reproduktiven Tätigkeiten zuwies, war es vor allem die Arbeitshaltung der ersteren, die einer genaueren Überprüfung unterzogen wurde. Fiel diese positiv aus, so wurde der Vater in den schriftlichen Stellungnahmen als „ruhiger, nüchterner und fleißiger Arbeiter“ beschrieben.2 An diesem durchaus wörtlich zu nehmenden Ideal des tüchtigen und „nüchternen“ Arbeiters wurden alle Väter gemessen, die in eine Untersuchung der Vormundschaftsbehörde einbezogen wurden. Aus temporärer oder langfristiger Erwerbslosigkeit und gewohnheitsmäßigem Trinken wurde dementsprechend regelmäßig auf den „arbeitsscheuen“ Charakter des Vaters geschlossen. Zu der Erklärung des immerhin schon 52-jährigen Gelegenheitsarbeiters Helmut Prödel – der 1884 wegen des unregelmäßigen Schulbesuchs zweier seiner sieben Kinder ins Visier der Vormundschaftsbehörde geraten war –, er habe sich ein halbes Jahr vergeblich um Arbeit bemüht, bemerkte der mit der Vorermittlung befasste Polizeibeamte lapidar, der Vater „bekümmert sich auch nicht um [Arbeit, J.R.], sondern liegt den Tag über in der Wohnung müßig“, während die Kinder völlig zerlumpt und ungewaschen herumstreunten und seine Frau in den Straßen alte Lumpen, Eisen und Glas aufsammele (1884, Prödel, Abt. II 207, Bl. 1a). Der trunkfällige, arbeitsscheue Vater war ein wirkmächtiger Topos, der in vielen Vormünderberichten anzutreffen ist und der – wie im Vorangegangenen bereits erwähnt – häufig schon von Angehörigen in Stellung gebracht wurde, um ihren Anträgen bei der Vormundschaftsbehörde Nachdruck zu verleihen.3 Einmal in die Welt gesetzt, gelang es den Beschuldigten gewöhnlich nur sehr schwer, diese Problemverortung wieder zu erschüttern. Das galt insbesondere dann, wenn andere Verdachtsmomente wie das Anhalten der Kinder zum Betteln oder die exzessive Anwendung körperlicher Gewalt hinzukamen. Recht hilflos 1
Die vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen schlossen in dieser Hinsicht lückenlos an die Untersuchungspraktiken der Armenfürsorge an. 2 1892, Zunker, Abt. II 4646, Bl. 10, ähnlich auch: 1885, Martens, Abt. II 1016, Bl. 7, 1884, Zawadzki, Abt. II 170, Bl. 8, 1883, Crause, Serie III 2276, Bl. 7. 3 1884, Müller, Abt. II 206, Bl. 3; 1883, Herrling, Serie III 2925, Bl. 7; 1884, Dorndorf, Abt. I 263; Bl. 8.
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wirkten etwa die Rechtfertigungsversuche eines Vaters, dem 1900 wiederum von einem Polizeibeamten attestiert worden war, ein „arbeitsscheuer u. dem Trunke ergebener Mensch“ zu sein. Vom Sekretär der Vormundschaftsbehörde mit den Vorwürfen konfrontiert, entgegnete er, „ich trinke nicht, bin nie betrunken und auch nicht arbeitsscheu. Feste Arbeit habe ich nicht, ich bin Gelegenheitsarbeiter, wenn ich keine Arbeit habe, gehe ich abends in Bordells und Cafés und handele dort mit Schreibpapier, Bleistiften, Wichse etc. Zufolge dieser meiner Beschäftigung kann ich morgens nicht früh aufstehen und liege daher auch manchmal bis zum Mittag im Bett“ (1894, Rosewe, Abt. II 6555, Bl. 7, 9, 10). Wie schwierig es für Menschen in vergleichbar marginalisierten beruflichen Positionen war, sich gegen den Vorwurf von „Trunksucht“ und „Arbeitsscheu“ zur Wehr zu setzen, zeigte auch die Aussage eines verwitweten Gelegenheitsarbeiters, der – vermutlich auf Aufforderung des Sekretärs – selbst zu bestimmen versuchte, was ein „Trunkenbold“ war. „Ich bin kein Trunkenbold, wenn ich auch während der Arbeit etwas Spirituosen genieße. Wäre ich ein verkommener Mensch, würde mich kein Arbeitgeber annehmen. Ich arbeite als Kohlenarbeiter, habe 3 oder 4 Tage in der Woche stets Arbeit und verdiene M. 4 Tagelohn. Ich lebe solide und ordentlich und habe meinen selbständigen Hausstand. Trunkenbold ist nach meiner Ansicht Jemand, der sich arbeitslos umhertreibt und dem fortwährenden Genusse von Getränken huldigt.“ (1901, Milich, Abt. II 6876, Bl. 12)
Ähnlich erfolglos blieben auch die Anstrengungen eines Dachdeckergesellen, der sich kurze Zeit später mit vergleichbaren Anschuldigungen konfrontiert sah und in einem Schreiben an die Vormundschaftsbehörde zu artikulieren versuchte, wie sich die Dinge für ihn darstellten (1901, 1902 und 1912, Wauge, D 157). Er stellte klar, dass er durch eine schwere Erkrankung gezwungen gewesen sei, wiederholt Armenunterstützung in Anspruch zu nehmen. Bis heute könne er, wie jeder Arzt bezeugen könnte, keine schwere Arbeiten verrichten. „Wie kann überhaupt gesagt werden“, empörte er sich in seinem mit orthografischen Fehlern durchsetzten Schreiben, „ich wäre ein Trunkenbold. [D]as ist viel gesagt, ich will gar nicht in abrede stellen das vielleicht am Sontag oder auch woll mal in der Woche wenn wier aufs Land sind, mitunter edwas mer Getrunken wird wie eigentlich sein sollte, das kann man aber immer noch keinen Trunkenbold nennen, ich kann Gott sei dank noch von jedem Meister wo ich gearbeitet habe Zeugnisse vorlegen und ich glaube nicht das die schlecht ausfallen würden.“ Die in den vorangestellten Beispielen zu Tage getretene Tendenz der ermittelnden Instanzen zu einer Individualisierung der Ursachen von Verarmung und Vernachlässigung durch das Abstellen auf Arbeitslosigkeit und abweichende Trinkgewohnheiten darf aber ebenso wenig verallgemeinert werden wie das Un-
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vermögen der Väter, sich dagegen wirksam zur Wehr zu setzen. Die Individualisierung von Armutsursachen stellte kein durchgängiges Deutungsmuster der vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen dar. Vor allem verarmte Handwerker konnten mit einem gewissen Verständnis für ihre schwierige wirtschaftliche Lage rechnen und besaßen auch eine größere Chance, im Verfahrensverlauf alternative Problemwahrnehmungen durchzusetzen. Ein gutes Beispiel für die Rücksichten gegenüber den Angehörigen der traditionellen Gewerbezweige stellt ein früher Vormünderberichte dar, der sich auf die häuslichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines verwitweten Schneiders bezieht, der sich mit der Pflegemutter seiner elfjährigen Tochter überworfen hatte. „Der Eindruck, den ich von dem Vater des Mündel gewonnen habe, ist der, daß er unter schwierigen Verhältnissen sich redlich bemüht, sich und seine Kinder durch seine Arbeit als Schneider zu versorgen. Es entspricht den Verhältnissen ganz, wenn er die persönliche Sorge für die Kinder der Schwester ihrer verstorbenen Mutter überlassen hat. Die aufgeregten Scenen, die er nach der Frau Rohlfs Darstellung in ihrer Wohnung verursacht haben soll und die sie veranlaßt haben, sich an die Behörde zu wenden, erklärten sich allerdings durch den Genuß von Branntwein, den er in seiner früheren Stellung, wo er bis vor nunmehr 3 Wochen gearbeitet hat, während der Arbeitszeit auf Kosten des Meisters getrunken hat, wobei er zu Bedenken giebt, daß er, um die Mittagszeit in der Werkstätte nicht zu versäumen, nichts Ordentliches gegessen haben will. Seitdem er die alte Stellung verlassen hat, trinkt er nach eigener Darstellung und der seines Vermiethers, des Schneiders Jungjohann, Pagen 32 II gar nichts mehr.“ (1883, Crause, Serie III 2776)
Bemerkenswert ist diese vergleichsweise empathische Stellungnahme nicht nur deshalb, weil sie ein Schlaglicht auf die arbeitsbezogenen Trinkgewohnheiten wirft, sondern auch wegen des Aufgreifens der väterlichen Rechtfertigungsstrategien.1 Wie schon das in der Einleitung geschilderte Beispiel des Buchbinders Köhnsen zeigte, waren Handwerker vor Eingriffen in ihre privaten Rechte nicht gänzlich gefeit. Auch im Fall des Schneiders Crause gaben die Spezialvormünder ihre anfängliche Zurückhaltung bald auf und plädierten nunmehr für ein rücksichtsloses Durchgreifen, weil sich der Vater „dennoch als ein total verkommener Mensch erwiesen habe“. Aber es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass sowohl der Buchbinder als auch der Schneider mit ihren Versuchen, im
1 Der Mitvormund betonte in seinem separat verfassten Bericht ebenfalls, dass „die von Crause selbst gemachten Angaben über den Grund seiner zeitweiligen Trunksucht durchaus nicht unglaubwürdig“ seien. (Bl.7). Vgl. auch das Urteil eines Vormundes aus dem Jahre 1894 über einen verarmten Tischlermeister, das in die gleiche Richtung weist. (1894, Koch, Abt. I 6423, Bl. 4)
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Verfahrensverlauf mit ihrer eigenen Sichtweise durchzudringen, erfolgreicher waren als Väter in ungelernten bzw. marginalisierten Berufspositionen. Am Falle Köhnsen lässt sich dies besonders gut veranschaulichen. In der Argumentation des mit der Untersuchung beauftragten Referendars hatte die Begegnung mit dem Vater an seiner Arbeitsstätte eine zentrale Rolle gespielt. Wiederholt, so bekundete der Spezialvormund in seinem Bericht, habe er die Werkstatt des Vaters aufgesucht, diese aber stets verschlossen vorgefunden. Als er eines Nachmittags endlich Zutritt erlangt habe, habe er nur einige mit „Schraubstöcken“ versehene Tische, einen Leimtopf sowie den schlafenden, nicht ansprechbaren, weil augenscheinlich betrunkenen Vater vorgefunden. Diese Begegnung interpretierte der Spezialvormund vor dem Hintergrund der Aussagen Dritter, die den Buchbinder als einen „arbeitsscheuen trunkfälligen Mann“ bezeichnet hatten, und kam zu dem Schluss, dass die „Eltern zweifelsohne in jeder Richtung [einen] schädlichen Einfluss auf die Kinder“ ausübten. In mehrfachen Anläufen versuchten sowohl der Vater als auch die Mutter diese folgenreiche Schlussfolgerung zu entkräften. Sie verwiesen während ihrer mündlichen Vernehmungen auf Auftragsschwankungen, welche die Familie in der Vergangenheit in Not gebracht hätten, stellten klar, dass die zeitweilige Abwesenheit des Vaters vom Arbeitsort auf dessen Mittagspause zurückzuführen sei und versicherten, dass zum Binden von Lotteriebriefen nicht mehr Werkzeug als Leim und Pressen benötigt würde. In seiner schriftlichen Stellungnahme holte der Vater mit sicherem Gespür für die neuralgischen Punkte der Legitimation staatlicher Eingriffe in die Familienerziehung dann zum Gegenschlag aus, indem er den Spezialvormund des Vorurteils, der Unerfahrenheit und „grenzenlosen Gleichgültigkeit in [der] Behandlung von Fragen“ bezichtigte, „die so tief in das innerste Mark des Familienlebens hineingreifen“. Zwar gelang es den Eltern, wie bereits dargestellt, mittelfristig nicht, den Spezialvormund von seinem Antrag abzubringen. Aber immerhin hatten sie erreicht, dass die Vormundschaftsbehörde es nicht bei den Erkundigungen des Spezialvormundes bewenden ließ, sondern noch einmal zehn zum Teil vom Vater selbst benannte Zeugen und Auskunftspersonen vorlud, um sich ein eigenes Bild von der Sache zu verschaffen.1 Betrachtet man den Ausgang beider Fälle, so wird erst recht ersichtlich, dass die elterlichen Anstrengungen nicht umsonst gewesen waren: Schon unmittelbar nach der Abnahme der Kinder des Buchbinders durch die Polizei legte der Spezialvormund ein gutes Wort für die Eltern ein, weil er den Eindruck gewonnen habe, „daß mehr der Mangel und die Noth zu der Vernachlässigung der 1 Ganz ähnlich hatte auch der Schneider Crause durch seine Aussagen bewirkt, dass die Behörde die Untersuchungen an sich zog und den Antrag der Spezialvormünder eingehend prüfte indem sie zahlreiche Zeugen lud (1883, Crause, Serie III).
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Kinder geführt hat, als böser Wille“. Und das vom Vater angerufene Oberlandesgericht, das auch den Spezialvormund eingehend vernommen hatte, stellte klipp und klar fest, die zeitweilige Unfähigkeit des Vaters, seine Kinder zu ernähren, gebe „an sich einen genügenden Grund zur Entfernung desselben von der Vormundschaft“ nicht ab. Auch Crause konnte insofern einen Erfolg verbuchen, als die Vormundschaftsbehörde im Streit mit der Pflegemutter für den Vater Partei ergriff, seine Zuneigung zur Tochter sowie die Anstrengungen, für ihren Unterhalt zu sorgen, ausdrücklich würdigte und in der zeitweiligen Neigung zum Trunke keinen hinreichenden Grund sah, ihn seiner Vormundschaft zu entsetzen. Die Wendungen in den Fällen Köhnsen und Crause zeugen so nicht nur von den beträchtlichen legitimatorischen Unsicherheiten, welche die Eingriffe in die väterlichen Rechte anfangs noch begleiteten. Sie stehen auch exemplarisch für die sozial abgestufte Vorgehensweise der Vormundschaftsbehörde im Umgang mit Vätern, die vom Ideal des „fleißigen, nüchternen Arbeiters“ abwichen, sowie für die gesellschaftlich ungleich verteilten Chancen der Betroffenen, das Absetzungs- und Entzugsverfahren in ihrem Sinne zu beeinflussen. Auch wenn entsprechend der idealisierten Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern die Erkundungen vorwiegend auf die Arbeitsleistung der Väter abstellten, wurde der mütterliche Arbeitseifer durch die ehrenamtlichen Ermittler zuweilen ebenfalls einer recht eingehenden Prüfung unterzogen. Das hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen entsprach in vielen Haushalten die strikte Trennung von produktiven männlichen und reproduktiven weiblichen Tätigkeiten nicht der Realität. Die Mütter waren häufig gezwungen mitzuverdienen oder mussten sogar die Rolle des Haupternährers übernehmen. Witwen mit Kindern konnten in dieser Hinsicht noch mit gewissen gesellschaftlichen Rücksichten rechnen. Anders verhielt es sich dagegen mit ledigen oder getrennt lebenden Müttern, die sich ihr „Schicksal“ nach weitverbreiteter Meinung selbst ausgesucht hatten. Die Vormundschaftsbehörde gab hier zwar Hilfestellungen bei der Eintreibung von Alimentationsansprüchen, zeigte sich aber wenig nachsichtig, wenn es um die Beurteilung der Arbeitshaltung der mütterlichen Alleinverdiener ging. Zum anderen wurden Mütter auch daran gemessen, was sie als Hausfrauen leisteten. In den frühen Untersuchungsberichten fehlte dieser Blickwinkel noch weitgehend.1 Nur in wenigen Fällen stellten die Spezialvormünder einen direkten Zusammenhang zwischen dem Zustand der Wohnung und dem Arbeitseifer der
1 Die „Hausfrau“ war zwar schon in den 1880er und 90er Jahren von der bürgerlichen Frauenbewegung als Objekt der Sozialreform entdeckt worden. Die mit den Ermittlungen in Sorgerechtsfällgen befassten Männer schenkten diesem Aspekt aber zunächst wenig Aufmerksamkeit.
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Mütter her.1 Es überwogen implizite Hinweise. Wenn es in der Wohnung von Witwern schmutzig und unordentlich aussah, wurde dies häufig mit der Abwesenheit der Frau im Hause in Verbindung gebracht – und nicht selten entschuldigt. Oder die Vernachlässigung der „mütterlichen Pflichten“ im Haushalt wurde durch einen Hinweis auf ihr sittlich zweifelhaftes Verhalten zur Sprache gebracht. In einer durchaus typischen Wendung hieß es so z.B. in einem Vormünderbericht aus den 1890er Jahren: „In der Wohnung der Eheleute Rohm sieht es nicht übermäßig sauber und ordentlich aus. Dieselben sollen häufig Abends ausgehen und sehr spät in der Nacht zurückkommen“ (1894, Rohm, Abt. II 6345).2 Bemerkenswerterweise führte eine Wohnung, die nicht den Vorstellungen eines „geordneten Hauswesens“ entsprach, allerdings vor 1900 nicht automatisch zu einer moralischen Herabqualifizierung der Mütter, sondern wurde wohl zutreffender als Ausdruck der „bittersten Armut“ gewertet, in der sich die betreffende Familie befand. Die erste eingehende Erörterung, die der Arbeitshaltung einer Mutter gewidmet war, findet sich in einem Waisenpflegebericht aus dem Jahr 1914, der in den „Blättern“ veröffentlicht wurde. Das Verhalten der Mutter wurde hier am Ideal einer „pflichtbewussten Hausfrau“ gemessen und einer harschen Kritik unterworfen. „Die Frau gefällt sich aber in ihrer Schlampigkeit, geht lieber spazieren, schließt die Kinder stundenlang ein; geht an jedem Donnerstag nach Ohlsdorf [...], ohne zu diesem Gange aus wichtigen, zwingenden Gründen Veranlassung zu haben; sie kennt nicht oder will nicht kennen die Pflichten einer Hausfrau, einer sorgenden Mutter, die in hartem Kampfe um die Existenz tagsüber, ja in die Nacht hinein arbeitet, sich schlicht, aber recht durchschlägt und, wie die Erfahrung lehrt, selbst den arbeitsscheuen Ehemann miternährt. Für die Unlust der Frau zur Arbeit möge folgendes Beispiel dienen: Das Haus X-Straße ist, wie bereits gesagt, ein Neubau, in dem erst einige Wohnungen bezogen sind und der Maler bei den Fußböden die letzte Hand anlegt. Mehr aus Mitleid und um der Frau R. einen Verdienst zuzuwenden, übertrug ihr der Maler die gründliche Reinigung einer im dritten Stock belegenen Wohnung; diese wurde von der Frau R. so liederlich gereinigt abgeliefert, daß sie nochmals an1 Über eine Mutter, deren Ehemann eine langjährige Korrektionshaft in Glücksstadt zu verbüßen hatte, berichtete der ermittelnde Vormund beispielsweise, sie gelte „als eine ordentliche und strebsame Frau auch sieht es in ihrer Wohnung reinlich und gut aus, auch der Arbeitgeber Scharnburg [...] gibt ihr ein gutes Zeugniß“ (1894, Dunker, Abt. I 6273).Vgl. zu dieser Thematik auch: 1894, Rosewe, Abt. II 6555 2 Die Oberschulbehörde begründete 1894 einen Absetzungsantrag u.a. damit, dass „die Mutter [...] den ganzen Tag nicht zu Hause [ist]; in einer Fabrik beschäftigt, kann sie sich nicht um die Kinder bekümmern. Des Abends soll sie Tanzsalons u. ähnliche Lokalitäten besuchen. Den Haushalt führt eine ältere bereits konfirmierte Tochter [...]. In der Wohnung soll es, nach dem Bericht des Schuldieners, außerordentliche schmutzig aussehen u. auch an dem nötigsten Mobiliar fehlen.“ (1894, Helmer, Abt. I 6115, Bl. 3)
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derweitig gereinigt, Frau R. aber von der Zuweisung weiterer Reinigungsarbeiten ausgeschlossen werden mußte.“ 1
Der späte Zeitpunkt dieser Aussage dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass die Inspektion von Wohnungen nach sozialhygienischen Gesichtspunkten erst nach der Jahrhundertwende ins Standardrepertoire der vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen aufgenommen worden war. Daneben könnte aber auch der wachsende Einfluss der Frauen in der Waisenpflege zur verstärkten Beachtung der Hausfrauenrolle beigetragen haben. Dass das Ideal der „Hausfrau und sorgenden Mutter“, die sich, ihre Kinder und selbst ihren Mann durch aufopferungsvolle Arbeit bis tief in die Nacht hinein durchbringt, jedoch erst nach der Jahrhundertwende entstanden sein sollte, ist kaum anzunehmen. Vermutlich war es bis dahin nur keiner ausgiebigen Erörterung für nötig befunden worden, weil es eine fester Bestandteil des unhinterfragten Alltagsverständnisses vom Verhältnis der Geschlechter war. Nicht nur Väter und Mütter wurden von den ehrenamtlichen Ermittlern nach ihrer Arbeitsmoral beurteilt. Ein besonderes Augenmerk der Erkundigungen galt der Übermittlung der Arbeitsdisziplin von der älteren zur jüngeren Generation. Der hohe sittliche Stellenwert der Arbeit gehörte neben der Überzeugung von der Notwendigkeit körperlicher Bestrafung zu den zentralen und von der Bevölkerung allgemein akzeptierten Grundsätzen der Erziehung im 19. Jahrhundert. Deshalb wurde jedes Anzeichen, dass die Kinder dem „schlechten Beispiel“ ihrer Eltern folgten und es an Arbeitsfleiß und Disziplin fehlen ließen, genauestens registriert. Das Denken in polaren Geschlechterstereotypen prägte auch hier die Wirklichkeitsdeutung der Spezialvormünder. Auf eine bündige Formel wurde die Idee der Weitergabe mangelnder Arbeitsdisziplin vom Vater an die Kinder von einem Kaufmann gebracht, der mit einer ausführlichen Stellungnahme den gegen seinen Bruder gerichteten Absetzungsantrag unterstützte. „Werden die Kinder jetzt ihrem Vater überantwortet, so werden sie [...] sich gewöhnen über Moral und Anstand leichtfertig zu denken, und statt das Bewusstsein zu gewinnen, daß, wer leben will auch arbeiten muß, und ein jeder sich nach seiner [Decke, J.R.] zu strecken hat, wird Indolenz und Leichtsinn ihnen eingeimpft werden.“ (1881, Wulff, Serie II 874, Bl. 10)
Bezogen sich die Bedenken in diesem Fall noch auf Kinder beiderlei Geschlechts, so traten in einer wenige Jahre später verfassten Stellungnahme die geschlechtsspezifischen Implikationen der Übertragungsidee bereits deutlich stärker hervor. Ein Spezialvormund zeigte sich besorgt über die Zukunft seines 1
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zwölfjährigen männlichen Mündels, das sich allein bei seinem „arbeitsscheuen“ und „dem Trunke ergebenen“ Vater aufhielt, von dem es nach Überzeugung des Antragstellers – eines Onkels und früheren Pflegevaters – „nur zum Schlechten angehalten“ werde (1884, Müller, Abt. II 206). Bis zu ihrem frühen Tode, so ließ sich der Vormund vernehmen, habe die Mutter die Kinder allein durchgebracht, indem sie grobe häusliche Arbeiten verrichtet habe. Der Vater habe derweil nicht das Geringste zum Unterhalt beigetragen. Jetzt, nach dem Tod der Mutter, müsse der Junge beim Vater in den ärmlichsten Verhältnissen leben, mit ihm ein Bett teilen und sich – wie die Haushälterin des Logiswirtes behauptete – von Brot und Zucker ernähren. Obwohl sich der Junge noch keine größeren Vergehen zu Schulden kommen lassen hatte, war der Vormund überzeugt, dass er unter der „Zucht des Vaters bei Mangel jeder Häuslichkeit“ unweigerlich verwildern werde. Dem so belasteten Vater blieb nichts anderes übrig, als Besserung zu geloben und bezüglich seiner anderen Kinder erfolglos auf sein Herausgaberecht zu pochen. Bei Mädchen wurde die Arbeitshaltung nach erfolgter Schulentlassung ebenfalls besonders sorgfältig beobachtet. Allerdings richtete sich der Blick dabei viel stärker auf das Vorbild der Mütter als auf das der Väter. Offenbar wurde unterstellt, dass sich Mädchen in ihrer Arbeitshaltung eher an ihren Müttern orientierten. Bezeichnenderweise wurden vor allem schulentlassene Mädchen als „gefährdet“ eingestuft, die nicht – wie üblich – in fremden Dienstverhältnissen standen, sondern bei ihren alleinstehenden Müttern lebten. In einem Vormünderbericht von 1894 wurde die mit ihrem Ehemann in Scheidung lebende Marie Michaelsen, die eine gemeinsame Tochter im Alter von 15 Jahren bei sich hatte, nicht nur als zänkisch und „krankhaft aufgeregt“ geschildert (1894, Michaelsen, Abt. II 6246, B. 5). Es wurde auch die Hauswirtin mit der Aussage zitiert, die Mutter „scheine [...] keine Lust zur Arbeit zu haben, wenigstens arbeitet sie fast nie.“ Um den schlechten Einfluss, den die Mutter auf ihre Tochter ausübte, zu demonstrieren, verwies der Spezialvormund auf eine Reihe von Briefen, die in den Scheidungsakten enthalten waren. Die meisten waren von der Mutter verfasst und zeugten nach Auffassung des Vormundes „von einer großen Rohheit der Denkweise“. Es fand sich jedoch auch ein Brief der Tochter darunter, „den diese wohl auf Veranlassung der Mutter geschrieben haben wird, [und] der in dem gleichen rohen und gegen den Vater überaus respectlosen Ton abgefasst ist“. Über die Arbeitshaltung der Tochter bemerkte der Berichterstatter, das Mädchen sei bisher auf einer Reihe von Stellen in Dienst gewesen, habe diese aber immer schon nach kurzer Zeit wieder verlassen. „Soviel ich in Erfahrung bringen konnte“, so brachte er seine diesbezüglichen Erkundigungen auf den Punkt, „scheint dieselbe höchst arbeitsscheu zu sein“.
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Bezeichnend ist nun, wie der Spezialvormund sein Votum, das Mädchen von der Mutter fortzunehmen und gemäß dem väterlichen Antrag im Emilienstift unterzubringen, begründete. Statt von einer direkten Übertragung der „Arbeitsunlust“ der Mutter auf die Tochter auszugehen, stellte er den Zusammenhang gleichsam negativ her, indem er auf die erzieherische Schwäche der Mutter verwies. Er habe, so erklärte er, „die größten Bedenken [...], dieselbe bei der Mutter zu belassen, da dieselbe entschieden nicht die nöthige Strenge und Energie besitzt, welche erforderlich ist, um die Arbeitsscheu der Tochter zu heilen. Sie würde andernfalls nicht gestattet haben, daß die Tochter immer schon nach kurzer Zeit ihre Dienststellen verlässt, um zu ihr zurückzukehren und nichts zu thun“. Besonders missbilligte er den Plan der Mutter, ihre Tochter auf die Gewerbeschule zu schicken, weil das charakterschwache Mädchen dann „einen großen Theil des Tages ohne alle Aufsicht den Gefahren der Großstadt in hohem Maße ausgesetzt sein würde“.1
„ ... und werde unverzüglich Anstalten treffen, um die Ehescheidung einzuleiten“ Die Verhandlung des Geschlechterverhältnisses Neben den divergierenden Auffassungen darüber, was man unter „geregelten Arbeitsverhältnissen“ zu verstehen habe, wurden im Untersuchungsverfahren auch die Toleranzschwellen gegenüber deviantem Sexualverhalten und ganz allgemein gegenüber Abweichungen vom gesellschaftlich etablierten Geschlechterverhältnis verhandelt. Hier waren es eindeutig die Mütter, die im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Was für die Väter „Arbeitsscheu“ und „Trunksucht“ waren, war bei Frauen der Hang zum „liederlichen Lebenswandel“, und hier wie da wurde befürchtet, dass das Verhalten der Eltern über kurz oder lang auf die Töchter und Söhne abfärben würde. Ebenso wie es Mütter gab, die unter anderem wegen ihrer Neigung zum übermäßigen Alkoholkonsum bei der Vormundschaftsbehörde angezeigt worden waren, gab es jedoch auch Väter, die sich gegenüber den Spezialvormündern wegen ihres „liederlichen Lebenswandels“ verantworten mussten. Das Anprangern der Doppelmoral durch radikale Frauenrechtlerinnen und Vertreter der Sittlichkeitsvereine hinderte die Vormundschaftsbehörde nicht daran, das intime Leben der Väter ebenfalls genauer unter die Lupe zu nehmen. So wie „Trunksucht“ und „Arbeitsscheu“ gehörte auch der „liederliche Lebenswandel“ in die Kategorie des „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“, wie sie im § 1666 BGB ausformuliert worden war. 1 Auch bei der ältesten Tochter einer verwitweten Fabrikarbeiterin hatte die Kombination aus Untätigkeit, Aufsichtslosigkeit und „schlechtem Vorbild“ die schlimmsten Befürchtungen für den Werdegang der Minderjährigen hervorgerufen (1894, Helmer, Abt. I 6115).
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Die seit Mitte der 1890er zu beobachtende verstärkte Sensibilisierung gegenüber abweichendem Sexualverhalten von Müttern und Töchtern kann als Ausdruck der hitzigen öffentlichen Debatten im Anschluss an den „Fall Heinze“ gewertet werden.1 Gleichwohl war für die von der Vormundschaftsbehörde geleiteten Untersuchungen eine eher pragmatische Haltung kennzeichnend, die mit der Aufgeregtheit der Vertreter des örtlichen Sittlichkeitsvereins nur wenig zu tun hatte. Dass die moralisch konnotierten Begrifflichkeiten wie „leichtsinnig“, „liederlich“ oder „total verkommen“ in den Personenakten zur Kennzeichnung sexueller Devianz verwendet wurden, steht zu dieser Einschätzung nicht im Widerspruch. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass hinter diesen aus dem heutigen professionellen Sprachgebrauch verbannten Termini eine erstaunlich differenzierte Wahrnehmung über die Grade sexueller Abweichung und der daraus abgeleiteten „Gefährdung“ von Kindern verbarg. Schon im Zusammenhang mit den Erörterungen über die Arbeitshaltung der Mütter zeigte sich, dass der Vorwurf des Nichtstuns und der Vernachlässigung des Haushalts nicht selten Hand in Hand ging mit Zweifeln über die sittliche Integrität der Mütter. Junge Frauen und Mütter, die – wie die Ehefrau und Mutter Rohm oder die verwitwete Fabrikarbeiterin Helmer – ihre Abende statt zu Hause bei den Kindern lieber in den Tanzsalons und Wirtschaften des Viertels zubrachten, wurden gemeinhin als „leichtsinnig“ eingestuft. Im Unterschied zur Anwendung auf Männer, bei denen der Begriff meist auf den lockeren Umgang mit Geld anspielte und soviel wie „sorglos“ oder „verschwenderisch“ bedeutete, hatte er auf junge Frauen gemünzt eine eindeutig sexuelle Komponente. „Leichtsinnig“ meinte den unbedarften oder naiven Umgang mit dem anderen Geschlecht und bezog sich vor allem auf ein Freizeitverhalten, das sich der informellen Sozialkontrolle entzog und keine Rücksichten auf die etwaigen Folgen in Form von ungewollten Schwangerschaften, gesellschaftlicher Ausgrenzung usw. nahm. Der Begriff war eindeutig abwertend gemeint und bezog sich in der Wendung des „leichtsinnigen Lebenswandels“ oder des „leichtsinnigen Frauenzimmers“ tendenziell auf die ganze Person. Ein entsprechendes Verhalten galt als Vorstufe der „Liederlichkeit“ und wurde dementsprechend vor allem an noch sehr jungen Frauen beobachtet. Während Letztere aber Promiskuität voraussetzte, ließ die „Leichtsinnigkeit“ die Möglichkeit offen, das Verhalten der Frauen als Ausdruck 1 Das Ehepaar Heinze war 1891 von einem Berliner Strafgericht wegen des Mordes an einem Nachtwächter verurteilt worden, der sie am Diebstahl des silbernen Zierrats aus einer örtlichen Kirche hatte hindern wollen. Der Prozess sorge seinerzeit v.a. deshalb reichsweit für Aufregung, weil die Richter versäumt hatten, die Öffentlichkeit von der Gerichtsverhandlung auszuschließen. Schenkt man der Kolportage durch die im Gerichtssaal vertretene Klatschpresse Glauben, so war der angeklagte „Zuhälter“ für sein freimütiges Bekenntnis, seine Frau nur aus „professionellen Gründen“ geheiratet zu haben, von seinen Kumpanen lebhaft bejubelt und mit Sekt gefeiert worden. Vgl.: Evans [1976], S. 119.
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ihrer Unwissenheit und mangelnder Erfahrung zu werten, sie also als „Opfer“ zu sehen. Die Fabrikarbeiterin Petzold etwa, deren Fall schon wiederholt zitiert wurde, galt wegen ihrer acht unehelichen Geburten in ihrem Wohnumfeld nicht etwa als „liederlich“, sondern als „leichtsinnig“. Gerade durch diese begriffliche Ambivalenz und Unschärfe ergaben sich aber auch vielfältige Anknüpfungspunkte für pädagogische Maßnahmen. „Leichtsinnige“ Mädchen und junge Frauen waren noch nicht „verloren“, konnten also „gerettet“, „geschützt“ und „gebessert“ werden. Die untersuchten Fälle, in denen die sexuelle Devianz der Mütter – seltener der Väter – im Mittelpunkt stand, lassen sich auf einer Stufenleiter der moralischen Abwertung anordnen, die sich von ledigen oder geschiedenen Frauen (und Männern), die unverheiratet mit einem Mann (einer Frau) zusammenlebten, über solche erstreckte, die bei noch bestehender Ehe bereits ein dauerhaftes intimes Verhältnis eingegangen waren, bis hin zu Frauen und Männern mit häufiger wechselnden bzw. verschiedenen Sexualkontakten. Bei der letzten Kategorie waren in den Augen der ermittelnden Organe und Auskunftspersonen die Übergänge zur Prostitution fließend. Eine Steigerung fand die moralische Abqualifizierung nur noch, wenn der intime Kontakt zu mehreren Männern mit exzessivem Alkoholkonsum einherging. Ob es zur moralischen Verurteilung im Verlauf des Untersuchungsverfahrens kam, hing entscheidend davon ab, wie die Betroffenen mit den Anschuldigungen umgingen und über welche geistigen, finanziellen und sozialen Ressourcen sie verfügten, die Verdächtigungen zu zerstreuen oder zu angepasstem Verhalten zurückzukehren. Allerdings gab es auch rechtliche Gründe, welche die Handlungsoptionen der Betroffenen stark einschränkten. Wenn sich zum Beispiel verehelichte, aber getrennt lebende Frauen (oder Männer) auf ein intimes Verhältnis zum anderen Geschlecht einließen, so sahen sie sich nicht nur schnell dem Doppelverdacht von Ehebruch und „wilder Ehe“ ausgesetzt. Die Möglichkeit einer raschen Legalisierung der Beziehung durch eine Heirat war ihnen meist dadurch verstellt, dass sie sich zuvor erst scheiden lassen mussten – was lange dauern konnte, im Ergebnis ungewiss und zudem relativ kostspielig war. Ein Verfahren gegen eine bereits geschiedene Mutter aus dem Jahr 1884 zeigt, dass Ermittlungen, die dem zweifelhaften „sittlichen“ Ruf von Frauen nachgingen, keineswegs zwangsläufig zu einer moralischen Abqualifizierung durch die männlichen Ermittlungsorgane führten (1884, Schönfeldt, Abt. II 468). Die Mutter dreier noch minderjähriger Kinder, von denen sich zwei in ihrer Obhut befanden, wurde von ihrem Exmann nicht nur bezichtigt, dieselben schlecht zu behandeln, sondern sie auch moralisch verkommen zu lassen, weil sie ein „liederliches Leben“ führe und „eine notorische Läuferin sei, die sich die Nächte in Wirthschaften & und Salons umher[treibe]“. Es half der Mutter zunächst
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nichts, ihrem geschiedenen Mann ihrerseits Ehebruch vorzuwerfen und die Ernsthaftigkeit ihrer Wiederverehelichungsabsichten durch die Beantragung eines entsprechenden Attests bei der Vormundschaftsbehörde zu unterstreichen. Der mit der Untersuchung befasste Spezialvormund stellte in seinem Bericht fest, dass sie schon seit Jahren mit ihrem „Zuhälter“ zusammenlebe und mit diesem auch schon zwei Kinder gezeugt habe. Auch die Aussagen des Vaters bezüglich der schlechten Behandlung der Kinder fand er bei seinen Erkundigungen in der Nachbarschaft bestätigt. Dass die Kinder unter solchen Voraussetzungen sowohl sittlich als auch körperlich verkommen mussten, stand für ihn fest, und da ein armenrechtlicher Unterstützungsbedarf offenbar nicht vorlag, stellte er vorsorglich schon einmal einen Aufnahmeantrag beim Pestalozzi-Stift. Bis hierher lief noch alles auf eine moralische Aburteilung der Mutter hinaus. Der berichterstattende Vormund hatte allerdings nicht mit dem Eigensinn des Gegenvormundes gerechnet, der von einer Aufnahme in die Privatanstalt nichts wissen wollte und für die sich widersetzende Mutter Partei ergriff. Die von ihm angestrengte, umfangreiche Zeugenvernehmung – es wurden durch die Vormundschaftsbehörde insgesamt fast zwanzig Zeugen und Zeuginnen vernommen – ergab, dass die Nachbarn das Verhalten der Mutter nicht einhellig missbilligten. Ihre „Trunksucht“ war vielen ebenso verborgen geblieben wie die angebliche „Misshandlung“ der Kinder. Im Gegenteil kannten die meisten sie nur als durchaus liebevolle, wenn auch ein wenig streitsüchtige Mutter. Selbst am unverheirateten Zusammenleben mit ihrem „Zuhälter“ hatten sie nichts auszusetzen, weil dieser ein „ruhiger, ordentlicher Arbeiter“ sei, der eine feste Anstellung habe, abends regelmäßig von der Arbeit nach Hause zurückkehre und seinen Stiefkindern überdies sehr zugeneigt sei. Einige wussten sogar von den festen Heiratsvorsätzen des Paares, was die „wilde Ehe“ in einem noch harmloseren Licht erscheinen ließ. Die Zeuginnen der Gegenseite hielten die Mutter zwar unisono für eine „ordinäre“, „gemeine“, „jähzornige“ und „putzsüchtige“ Person, die tagsüber verdächtigen Männerbesuch empfange und abends die Tanzlokale frequentiere. Dass sie intim mit anderen Männern als ihrem „Zuhälter“ verkehre, wollte allerdings keine von ihnen bestätigen, und so lehnte die Vormundschaftsbehörde die zwangsweise Abnahme der Kinder mit einem knapp gefassten Beschluss ab.1 Vergleichsweise glimpflich kam zehn Jahre später auch die Witwe Helmer davon, der man – wie oben bereits erwähnt – gleichfalls den Besuch von abendlichen Tanzveranstaltungen vorhielt, und die wie Schönfeldt unverheiratet mit einem Mann zusammenlebte, mit dem sie bereits ein Kind hatte (1894, Helmer, 1 Eine wegen Ehebruchs von ihrem Mann bereits geschiedene Frau, bei der sich zwei noch minderjährige Kinder aufhielten, trat ebenfalls erfolgreich die „Flucht nach vorn“ an, indem sie ihren „Zuhälter“ ehelichte (1885, Martens, Abt. II 1016).
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Abt. I 6115). Auch sie traf auf einen Vormund, der sich ein unabhängiges Urteil zu bilden versuchte und zunächst keinen Grund für eine Abnahme sah, weil die Mutter „ihr Möglichstes thue, um die Kinder gut zu halten und eine Gefahr der Verwahrlosung vorläufig nicht zu bemerken sei“. Der zuständige Armenpfleger, der die Mutter schon durch Unterstützungsentzug zur Abgabe ihrer Kinder hatte zwingen wollen, ließ allerdings nicht locker und stellte eigene Ermittlungen an, deren Ergebnisse er der Vormundschaftsbehörde einen Monate später präsentierte. Von einem früheren Vermieterpaar wollte er erfahren haben, dass „das Leben und Treiben bei der Fabrikarbeiterin Helmer in Hinterhause [...] geradezu empörend gewesen sei. Bei dem Frauenzimmer“, so berichtete er, „liefen die Männer aus und ein‚ wie die Hunde den Hündinnen nachliefen“. Diesen schweren Vorwurf konnte der Vormund nicht ignorieren, und so traf er Vorbereitungen zur Fremdunterbringung der Kinder. Bemerkenswerterweise hatte jedoch nicht nur der Vormund, sondern auch die Mutter die Tragweite der neuen Anschuldigungen erkannt und wusste sogleich, dass sie jetzt nur noch eine Chance besaß, die dauerhafte Trennung von ihren Kindern zu verhindern: Sie musste sich mit dem Vater ihres jüngsten Kindes verehelichen. Über diese neuerliche Wendung der Dinge war der Spezialvormund sichtlich erleichtert, denn er bat die Behörde nur zehn Tage nach der Verkündung des Abnahmebeschlusses, „ob nicht unter diesen Umständen von der Abnahme der Kinder abgesehen werden kann. [...] Vielleicht könnte man ihr die Kinder einstweilen lassen, ich würde ja dann sehen wie sie sich einrichtet & werde später weiter darüber berichten.“ Die Bemühungen der Mutter waren nicht ohne Erfolg. Zwar waren bereits alle Kinder abgeholt worden, als die Behörde die Ausführung ihres Beschlusses suspendierte. Nach der Wiederverheiratung wurde den Eheleuten aber zunächst ihr gemeinsames Kind zurückgegeben und ein halbes Jahr später wurden auch die übrigen Kinder wieder aus der Waisenpflege entlassen.1 War für alle bisher untersuchten Fälle kennzeichnend, dass die spezifische Mischung aus Unabhängigkeitsstreben einerseits und ökonomischem Zwang zur Partnersuche andererseits die geschiedenen oder verwitweten jungen Mütter der Gefahr eines obrigkeitlichen Zugriffs aussetzte, so kam bei noch verheirateten Frauen erschwerend hinzu, dass sie die scharfe gesellschaftliche Ächtung des „Ehebruchs“ zu spüren bekamen. Es ist bezeichnend, dass sich gerade hier die geschlechtsspezifischen Unterschiede im vormundschaftsgerichtlichen Umgang mit sexueller Devianz zu verwischen begannen. Auch getrenntlebende Väter – denen übrigens ebenfalls daran gelegen sein musste, sich mit einer Frau zusam1 Eine andere Mutter, die wegen „Ehebruchs“ von ihrem Mann geschieden war, den sie selbst als „notorischen Trunkenbold“ bezeichnete, sah sich ähnlich massiven Anschuldigung ausgesetzt, konnte die Abnahme ihrer Kinder aber nicht mehr abwenden (1892, Zunker, Abt. II 4646).
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menzutun, um ihre Kinder bei sich behalten zu können – mussten auf der Hut sein, sich nicht durch mehr oder weniger dauerhafte „Seitensprünge“ in Misskredit zu bringen. Gleichwohl blieben Differenzen im Umgang mit getrennt lebenden Männern und Frauen bestehen. So wurden alleinlebende Mütter, welche die Armenunterstützung ausschlugen, sehr viel argwöhnischer beobachtet als Väter in einer vergleichbaren wirtschaftlichen und familiären Lage. Hinzu kam, dass es in den Augen der ermittelnden Spezialvormünder kaum einen sittlichen Unterschied ausmachte, ob eine Frau sich bei noch bestehender Ehe auf andere Männer einließ oder sich für Geld preisgab. Wie geradlinig und unerbittlich die Ermittlungen gegen noch nicht gerichtlich getrennte Ehefrauen und Mütter geführt wurden, die sich relativ unbekümmert und selbstbewusst anderen Männern zuwandten, zeigen die Fälle der Franziska Koops und Mathilde Levy. Die Ermittlungen gegen die Schneiderin Koops hatte die Vormundschaftsbehörde Mitte der 1880er Jahre aufgenommen (1884, Koops, Abt. I 272). Den Anstoß für die Untersuchung hatten wiederholte kleinere Diebstähle ihres 13-jährigen Sohnes gegeben. Aber schon bei seiner ersten Vernehmung hatte ihr Mann, mit dem sie bereits seit Längerem nicht mehr zusammenlebte, sie als „leichtfertige Person“ denunziert und behauptet, ihr den Bruch der Ehe nachweisen zu können. Zunächst ging die Behörde dem Vorwurf nicht weiter nach. Nachdem die Polizeibehörde allerdings zusammen mit dem unregelmäßigen Schulbesuch der zwölfjährigen Tochter meldete, die Mutter würde mit einem Zimmerergesellen zusammenwohnen, wurde sie hellhörig und strengte die Unterbringung der zwei halbwüchsigen Mädchen in der kurz zuvor eröffneten Zwangserziehungsanstalt Ohlsdorf an. Diese Versuche scheiterten, weshalb sich die Behörde gezwungen sah, ihre Strategie zu ändern.1 Unter Androhung der Kindeswegnahme versuchte man die Mutter in der Folgezeit dazu zu bewegen, sich scheiden und ihre „wilde Ehe“ legitimieren zu veranlassen. Gleichzeitig dehnte die Behörde das Mandat des Spezialvormundes aus, um die weitere Entwicklung der Verhältnisse im Auge behalten zu können. Aus den Berichten des ehrenamtlichen Ermittlers sprach zunächst viel Unsicherheit was die moralische Beurteilung des mütterlichen Verhaltens anging: „Daß der Lebenswandel der Frau K. jedenfalls früher nicht ganz zweifelsohne gewesen ist, steht fest. Sie hat noch, wie sie mit ihrem Manne zusammen lebte, anderweitig ein Verhältniß angeknüpft, soll einmal 1882 plötzlich nach London gegangen sei u. w. dgl. mehr. Auch jetzt ist ihre persönlicher Eindruck immerhin etwas zweifelhaft, doch habe ich trotz meiner Bemühungen keine positiven Anhaltspunkte zu einem Urtheil über ihren jetzigen Lebenswandel gewonnen. Daß von Seiten des Man1 Die beiden Mädchen bekamen von ihren Lehrern gute Zeugnisse ausgestellt und auch der Präses der Zwangserziehungsbehörde konnte keine Anzeichen von „Verwahrlosung“ an ihnen feststellen.
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nes und dessen Zuhälterin Wittwe Frau Reicke sehr schlecht über sie gesprochen wird, ist natürlich [...]. Andererseits habe ich doch den Eindruck, daß sie sich viele Mühe um ihre Kinder giebt, und daß diese nicht von ihr fort wollen. In wilder Ehe lebt sie zur Zeit nicht. [...] Um etwas Ordnung in die Verhältnisse zu schaffen, habe ich Frau K. veranlaßt, die Ehescheidungsklage wider aufzunehmen, das Armuthsattest ist nachgesucht. Sie gewinnt dadurch wenigstens die Möglichkeit, sich wieder zu verheirathen, der Ehemann K. will sich dann mit der Reincke verheirathen.“
Eine akute Notwendigkeit, der Mutter ihre Töchter abzunehmen, konnte der Spezialvormund zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen, bat aber die Vormundschaftsbehörde, diskrete Erkundigungen über den mütterlichen Lebenswandels durch die Polizeibehörde einziehen zu lassen. Die Ergebnisse dieser Ermittlungen fielen eindeutiger aus: Die immer noch nicht geschiedene Ehefrau Koops lebte offenbar nicht mehr in „wilder Ehe“ – von einem „Zuhälter“ oder „Bräutigam“ war gar nicht mehr die Rede. Viel schlimmer: Sie schien jetzt einem „liederlichen Lebenswandel“ zuzuneigen und ihr angeblicher Hauptberuf geriet in den Augen des Polizeioffizianten zur Unschuld vortäuschenden Nebensache: „Sowohl in dem Hause Hammerbrookstr. 45 als in der dortigen Nachbarschaft wird von den Bewohnern in überzeugendster Weise angegeben, daß die Koops einen liederlichen oder doch wenigstens mehr als zweideutigen Lebenswandel führt. Besuch von Männern ist vielfach beobachtet worden, außerdem wird allgemein angegeben, daß die Koops allabendlich aufgeputzt die Wohnung verlassen und regelmäßig spät zu Hause gekommen ist; sowie des Morgens sehr lange schläft und ihre Kammerfenster verhängt hält. Während der Tagesstunden soll sich dieselbe vielfach in weit ausgeschnittenen Kleidern am Fenster aufgehalten und durch Gesten und Lachen die Aufmerksamkeit der vorüber gehenden Männer auf sich gelenkt haben. [...] Auch in der Victoriastraße, woselbst die Koops erst seit 3 Wochen wohnt, ist bereits mehrfach Verkehr mit Männern in auffälliger Weise beobachtet worden und ist derselben abseiten des dortigen Vice bereits bezügliche Verweisung hierüber zugegangen. Daß die Koops nebenbei Mäntelnäherei betreibt, auch stets 1 bis 2 Mädchen oder Frauen beschäftigt, darf als festgestellt betrachtet werden.“
Der Spezialvormund ließ sich trotz dieser alarmierenden Nachricht erst einmal Zeit, gelangte dann aber auch zur Überzeugung, dass die Mädchen der Mutter abgenommen und ins Pestalozzi-Stift gebracht werden müssten. In seinem zwei Monate später datierten Bericht erklärte er, dass sich am „liederlichen Lebenswandel“ der Mutter auch nach ihrem nochmaligen Umzug nichts geändert habe. Zur Veranschaulichung fügte er hinzu: „Sie geht immer in den elegantesten schwarzseidenen etc. Kleidern, geschmückt und in auffälliger Frisur und alle, mit ihr in Berührung kommenden Personen sind mehr oder minder von der Verwerflichkeit ihres Lebenswandels überzeugt“.
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Aus der „leichtsinnigen“ Ehefrau, die später des Führens einer „wilden Ehe“ bezichtigt wurde, war im Verlauf der zweieinhalbjährigen Ermittlungen eine „liederliche Weibsperson“ geworden, die sich in den Augen von Nachbarn und Polizeibeamten kaum noch von einer professionellen Prostituierten unterschied. Warum die Mutter in diesem Fall die Ankündigung, ihren „Zuhälter“ zu heiraten, nicht wahrmachte, bleibt im Dunkeln.1 Dass sie es aber unterließ, bestimmte den weiteren Fortgang und das Ergebnis der Untersuchung. Wie der Fall Koops, so dokumentierte auch ein vormundschaftsgerichtliches Ermittlungsverfahren aus dem Jahr 1894, welche kollektiven Bedrohungsgefühle selbständige Frauen auszulösen vermochten, die sich mit ihren Kindern mit unkonventionellen Methoden, aber selbstbewusst durchs Leben schlugen (1894, Levy, Abt. II 6510). Auch bei Mathilde Levy handelte es sich um eine noch verheiratete Frau. Anders als im Falle der Schneiderin hatte sie allerdings gewichtige Gründe, sich nicht scheiden zu lassen: Ihr Ehemann war erst kurze Zeit vor Eröffnung des Verfahrens zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Daneben unterschied die beiden Fälle, dass Mathilde Levy den „Fehler“ gemacht hatte, Armenunterstützung in Anspruch zu nehmen. Dieser Umstand sollte das Untersuchungsverfahren in seiner Dynamik von Anfang an bestimmen, denn der Armenpfleger hatte sie als eine „dreiste“ Frau kennen gelernt, die den „Hals nie voll genug bekommen konnte“ und es zu allem Überfluss auch noch vorzog, auf die Armenunterstützung zu verzichten, um ihre Tochter bei sich behalten zu können. Zwar hatte sie angegeben, sich durch den Verkauf von Tees, Losen und anderen Artikeln des alltäglichen Bedarfs über Wasser zu halten. Der Argwohn, sie habe noch eine andere, weniger harmlose Erwerbsquelle, wurde durch diese Aussage aber eher noch verstärkt. Schwer belastet wurde Mathilde Levy durch die Aussage eines Polizisten, der von Nachbarinnen den Hinweis erhalten hatte, die Mutter würde sich auf unsittliche Weise Geld verdienen. Bei seiner späteren Vernehmung erklärte er, er habe der Sache zunächst keine Beachtung geschenkt und sich erst „aufs vigilieren gelegt“, nachdem er erfuhr, dass der Frau die Armenunterstützung entzogen worden war. Wie im Falle Koops spitzte sich auch das Untersuchungsverfahren gegen die Mutter Levy immer mehr auf die Frage zu, ob sie nur mit einem oder tatsächlich mit mehreren Männern intimen Kontakt hatte und ob die Tochter davon wusste oder nicht. Im Unterschied zu Koops besaß Mathilde Levy allerdings einen wohlhabenden Bruder, der ihr einen Anwalt besorgte. Von diesem auf einen schweren Verfahrensfehler hingewiesen, sah sich die Behörde gezwungen, zahlreiche Zeugen und Auskunftspersonen zu vernehmen, um den Anfangsverdacht 1 Vermutlich hatte sie den Scheidungsprozess nie ernsthaft angestrengt oder dieser hatte einfach zu lange gedauert. Jedenfalls wurde ihre Ehe erst im Sommer des betreffenden Jahres „nach Kompensation beiderseitigen Ehebruches“ wegen „böslichem Verlassen“ ihrerseits geschieden.
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des „unsittlichen Lebenswandels“ zu erhärten.1 In diesem Zusammenhang lud sie auch eine ehemalige Nachbarin vor, die folgende Beobachtung zu Protokoll gab: „Wenige Tage nachdem sie [Frau Levy, J.R.] eingezogen war, hörten meine Kinder und ich des Abends Jemand die Treppe heraufkommen. Mein 14 ähriger Sohn sagte: Mama, da kommt Papa und mit ihm eilte ich nach der Thür um meinem Mann zu öffnen, dadurch kam es, daß wir beide sahen, daß ein uns unbekannter Herr in Frau Levy’s Wohnung hineinging, aber wir sahen ihn nur von hinten, denn Frau Levy hatte ihm schon die Thür geöffnet. Am andern Morgen sagte meine 12jährige Tochter: ‚Sieh Mama, da geht Frau Levy ihr Mann’ und als ich hinsah, sah ich wie Jemand aus unserem Hause kam und quer über die Straße wegging, aber auch diesmal habe ich ihn nur von hinten gesehen. Ich glaube bestimmt, daß dieser Mann derselbe war, den ich am Abend vorher in Frau Levy’s Wohnung habe hineingehen sehen. Die andern Male, in denen ich Männer zu Frau Levy habe gehen sehen, war es am Tage und wenn ich auch nicht gesehen habe, daß dieselben am Tage wieder weggingen, so kann ich doch auch nicht behaupten, daß dieselben über Nacht geblieben sind. Die Bemerkung meiner Kinder ‚Sieh Mama, daß ist Frau Levy ihr Mann’ hat mir veranlaßt, sie nach einiger Zeit zu fragen, ob sie keinen Mann habe, was sie verneinte.“
Noch schwerer als diese doch eher vagen Beobachtungen wogen die Aussagen zweier Nachbarinnen, die behaupteten, Levy habe ihnen mehr oder weniger unumwunden eingestanden, für Geld mit Männern zu verkehren.2 Trotz der Unterstützung durch den Anwalt, der beim Hanseatischen OLG Beschwerde gegen den Abnahmebeschluss der Vormundschaftsbehörde einlegte, gelang es der Mutter nicht mehr, die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen zu zerstreuen. Bemerkenswert ist gleichwohl ihr Versuch, die bezeugten intimen Kontakte während ihrer Vernehmung vor dem Gericht als gewöhnliche Schritte der Eheanbahnung auszugeben. Bei dem Mann, den die Nachbarin gesehen hatte, müsse es sich um ihren Verlobten gehandelt haben. Nach der Scheidung von ihrem Mann, so fuhr sie fort, wolle sie diesen heiraten. Dass es für Personen, gegen welche die Vormundschaftsbehörde wegen des Verdachts eines unsittlichen Lebenswandels ermittelte, eigentlich nur die Alternative von strikter Enthaltsamkeit/Kontaktabbruch und Legalisierung des Verhältnisses gab, zeigte sich auch bei den wenigen Fällen, in denen die Kontrolle
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Vgl. oben S. 535 f. Eine von ihnen zitierte Levy mit dem Ausspruch, sie könne „Herren, die kein Geld hätten, nicht [ge]brauchen“. In die gleiche Richtung gingen die Angaben eines zweiten mit der Sache befassten Schutzmanns, dem von andern Nachbarinnen berichtet worden war, Mathilde Levy habe sich damit gebrüstet „eine gute Nacht gehabt“ zu haben, was heißen sollte, dass sie zahlkräftige Kundschaft gehabt habe.
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auf das Sexualverhalten von Vätern gerichtet war.1 So konnte ein junger, von seinem Vater wegen eines „unsittlichen“ Verhältnisses angezeigter Witwer, von dem bereits die Rede war, den Eingriff in seine väterlichen Rechte nur dadurch abwenden, dass er eine separate Wohnung bezog und sich nur noch tagsüber bei seiner Geliebten aufhielt (1884, Kuhlmann, Abt. I 278).2 Nicht in jedem Fall, einerlei ob er sich auf Mütter oder Väter bezog, vermochte die nachträgliche Heirat die Vormundschaftsbehörde milde zu stimmen.3 Das traf vor allem dann zu, wenn das sittlich zweifelhafte Vorleben eines Partners oder beider Partner schon aktenkundig geworden war und der schlechte Leumund den Betroffenen derartig hartnäckig anhaftete, dass er ihr gesamtes weiteres Leben überschattete. So wurde einem im Neustädter Bordellbezirk lebenden Witwer, der sich bereits wiederverheiratet hatte und nun seine zwölfjährige Tochter zu sich nehmen wollte, von der Vormundschaftsbehörde kurz und bündig eröffnet, seine Tochter müsse in der Kostkinderpflege verbleiben, weil seine zweite Frau nicht geeignet sei, ihre Erziehung zu übernehmen (1884, Muurmann, Abt. II 236). Im Zuge der Ermittlungen hatte sich herausgestellt, dass die Stiefmutter sowohl in ihrer Heimatstadt Köln als auch in Hamburg jahrelang unter Sittenkontrolle gestanden hatte, was sie in den Augen der Behördenvertreter als Pflegemutter ein für alle Mal disqualifizierte.4 Dem schon im Zusammenhang mit dem Anzeigeverhalten erwähnten jüdischen Handlungsreisenden und mehrfachen Familienvater, der nach Überzeugung seiner Verwandten eine intime Beziehung zu einer noch verheirateten Frau unterhielt, gelang es ebenfalls nicht mehr, seinen schlechten Leumund abzuschütteln (1881, Wulff, Serie III 874). Verbissen kämpfte er um die Rückübertragung seiner Rechte, indem er auf seine inzwischen erfolgte Heirat mit der früheren „Zuhälterin“ verwies. Immer wieder sah er sich jedoch mit den alten Vorwürfen konfrontiert, noch zu Lebzeiten seiner ersten Frau völlig ungeniert mit seiner später geehelichten Geliebten verkehrt zu haben. Die Aussagen der von ihm benannten 17 „Entlastungszeugen“, die fast einstimmig beteuerten, von dem Verhältnis des Vaters zwar gewusst, aber nie etwas Anstößiges darin gesehen zu haben, wogen wenig gegen die schweren Anschuldigungen zweier Zeugen der Gegenseite. Während ein früherer Vermieter und Freund erklärte, der Beschuldigte habe ihm seinerzeit den intimen Kontakt mit der zweiten Frau gestanden 1
Vgl. hierzu etwa die Fälle 1894, Dunker, Abt. I 6273 u. 1894, Nieschultz, Abt. II 6775. Zwei Jahre später erschien er in der Poststraße und bat um das Wiederverheiratungsattest, um die inzwischen geschiedene Pflegemutter seiner Kinder ehelichen zu können. 3 Vgl. hierzu: 1901, Milich, Abt. II 6876. 4 Ähnlich kategorisch schloss die Vormundschaftsbehörde auch die Entlassung zweier Mädchen aus der Waisenpflege an ihre zwischenzeitlich verheiratete, bald darauf aber schon wieder verwitwete Mutter aus, die zwölf Jahre lang „unter Kontrolle“ gestanden hatte und im Trampgang ein „Logirhaus minderster Sorte“ betrieb. (1894, Joder, Abt. I 2585, Bl. 6, 11, 30 u. 33) 2
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Abbildung 13: Wohnungsskizze aus einer anwaltlichen Stellungnahme von 1886.1
und ihm von ihrem „schönen weißen Bauch“ vorgeschwärmt, behauptete ein Cousin der Ehefrau, ihn sogar in ihrem Bett angetroffen zu haben. Vergeblich versuchte Simson Wulff über seinen Anwalt, die geschilderten Szenen als harm1 Auf der Grundlage der Skizze erläuterte der Anwalt den Sachverhalt wie folgt: Sein Mandant habe zur angegebenen Zeit in der Wohnung der Witwe Schwencke ein Zimmer besessen, dass er immer benutzt habe, wenn er von seinen Geschäftsreisen zurückkehrt sei (A). Der Cousin habe ihn aber nur zufällig im Bett der Freundin und Bekannten angetroffen (B), weil sein eigenes Zimmer nicht beheizt gewesen sei und er sich, von einer anstrengendenden nächtlichen Reise zurückgekehrt, dort zur Ruhe gelegt habe, nachdem die Witwe und ihre Töchter bereits das Haus verlassen hatten. Keinesfalls habe er also die Nacht bei ihr im Bette zugebracht. Die Vormundschaftsbehörde überzeugte diese Darstellung nicht und so blieb es beim bisherigen Beschluss.
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lose Begebenheiten darzustellen und fertigte zur Verdeutlichung seiner Version der Szene sogar einen Wohnungsgrundriss an (vgl.: Abb. 13). Das besondere Interesse mit dem man in den bisher analysierten Fällen das Sexualleben von Eltern durchleuchtete, lenkt etwas von der Tatsache ab, dass es bei den vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen nicht einfach um die Untersuchung und Ahndung devianten Sexualverhaltens von Erwachsenen ging. Vielmehr sollte in den vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen der Frage nachgespürt werden, inwiefern die Väter und Mütter durch ihr Verhalten das „normale“ Aufwachsen ihrer Kinder gefährdeten. Nur in einigen wenigen Fällen wurde bereits während des Untersuchungsverfahrens zu konkretisieren versucht, worin genau diese „sittliche Gefährdung“ der Kinder bestand. Mädchen im pubertären Alter waren nach zeitgenössischer Auffassung einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, Schaden durch das „schlechte Vorbild“ ihrer Mütter zu nehmen. Diese unterstellte Anfälligkeit bzw. Empfänglichkeit der 10-14-jährigen Mädchen hatte augenscheinlich mit der Befürchtung zu tun, dass Töchter in diesem Alter das Verhalten ihrer Mütter schlicht imitieren könnten. Gleichwohl lag der Hauptaspekt des konstruierten Zusammenhangs nicht auf der direkten Nachahmung. Das Alter spielte vor allem deshalb eine so zentrale Rolle, weil die negative Beeinflussung nach zeitgenössischer Vorstellung nur dann wirksam werden konnte, wenn die Mädchen über eine bestimmte Verstandesreife und ausreichende Erfahrungen verfügten, um die Tragweite und „sittliche Verwerflichkeit“ der mütterlichen Handlungen erfassen zu können. Erst im vorgerückten Alter, wenn junge Frauen bereits mit der Sittenpolizei Bekanntschaft gemacht hatten oder gar den geschlossenen Einrichtungen der „Gefallenenfürsorge“ überstellt worden waren, wurde retrospektiv ein Zusammenhang mit dem „unsittlichen Verhalten“ der Mütter hergestellt.1 Demgegenüber wurde in „Gefährdungsfällen“ das Problem eher darin gesehen, dass die Mütter durch ihr Verhalten ihre Autorität als Erziehungspersonen untergruben und auf diese Weise den Töchtern den notwendigen sittlichen Halt entzogen. Nicht zufällig wurde in den analysierten Fällen wiederholt von der Abscheu berichtet, mit der (nicht nur) weibliche Jugendliche auf die sexuellen Ausschweifungen ihrer Eltern reagierten.2 Ein Immunisierungseffekt wurde daraus gleichwohl nicht abgeleitet, denn die Achtung vor den Eltern galt als Grundvoraussetzung jeder „sittlichen“ Erziehung.
1
Etwa im Fall der 17-jährigen Lydia Joder, die sich seit einem dreiviertel Jahr im Magdalenen-Stift befand, als die Vorsteherin erklärte: „Nach unserer Ansicht [würde es] den Ruin der Lydia Joder bedeuten [...], wenn sie dieser Mutter anvertraut würde. Leider scheint Lydia den Hang zum leichtsinnigen Leben von der Mutter geerbt zu haben.“ (1894, Joder, Abt. I 2585) 2 Vgl. 1884, Levy, Abt. II 6510; 1881, Wulff, Serie III 874; 1894, Joder, Abt. I 2585; 1906, Hansen, Abt. I 5181 u. 1907, Matthies, D 287.
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Für die Klärung der Frage, ob Töchter in sittlicher Hinsicht gefährdet waren, war nicht zuletzt ausschlaggebend, ob sie überhaupt Kenntnis von dem „unsittlichen Treiben“ ihrer Mütter hatten. In den beiden oben wiedergegebenen Fällen Koops und Levy, in denen die Mütter mehr oder weniger unverhohlen der gewerbsmäßigen Unzucht bezichtigt worden waren, wurde diesem Punkt denn auch eine besondere Bedeutung beigemessen. Im Fall Levy nahm eine ehemalige Nachbarin in ihrer kommissarischen Vernehmung zu ihren früheren Äußerungen Stellung, indem sie bemerkte: „Was die 13 jährige Tochter der Frau Levy erzählt habe, habe sie selbst gehört und zwar sei die Veranlassung die folgende gewesen. Sei habe bei ihrer Wohnung einen kleinen Vordergarten. In diesem hätten eines Tages die Erna Levy und ihre 15 jährige Tochter zusammen gesessen und Handarbeiten gemacht; sie, Komparentin, sei im Zimmer gewesen, aber der warmen Luft halber habe das Fenster offen gestanden, und da habe sie mit eigenen Ohren gehört, wie die Levy ihrer Tochter gesagt, daß wenn Herrenbesuche kämen, sie sich unter den Tisch verstecken müsse, was doch auch wohl nur dahin verstanden werden könne, daß sie dies habe thun müssen, wenn Herren in unsittlicher Absicht kamen.“ (1894, Levy, Abt. II 6510)1
So eindringlich hier die negativen Auswirkungen des sexuellen abweichenden Verhaltens der Mütter auf die Töchter auf den Punkt gebracht wurden, so forderte die Behauptung einer „sittlichen Gefährdung“ doch offenbar in besonderem Maße zur Gegenrede heraus. Das dürfte vor allem daran gelegen haben, dass sich diese mit den üblichen Beweismitteln kaum belegen ließ. Maria Michaelsen, die sich zur Durchsetzung der Alimentationsansprüche ihrer 15-jährigen Tochter selbst hilfesuchend an die Vormundschaftsbehörde gewandt hatte, dann aber vom Ehemann, mit dem sie sich im Scheidungsprozess befand, bezichtigt wurde, ihre Kind „ganz zu verderben“, versuchte sich beispielsweise gegen die Untersuchung ihrer Verhältnisse zur Wehr zu setzen, indem sie dem Spezialvormund schrieb: „Hochgeehrter Herr [...] Ich habe mich in meinen Jugendjahren, so wie in meiner Ehe, nie einen unehrenhaften Tadel zu schulden kommen lassen. Ich habe meine Kinder ordentlich und reell erzogen; auch wird kein Tadel in den Schulzeugnissen
1 Ein ganz ähnliches Versteckspiel hatte nach Aussagen einer ehemaligen Vertrauten auch die getrenntlebende Schneiderin Koops veranstaltet: „In der Kielerstraße hätten die Kinder Morgens durch das Zimmer der Mutter gehen müssen: dann habe dieselbe den Herrn Barkling unter die Bettdecke versteckt, aber die Kinder hätten sehr wohl gemerkt, wer er sei, und an die Ausrede der Mutter, daß, sie, Frau Krause, es sei, nicht geglaubt. [...] Damals – und das beweise, wie tief der Eindruck auf das Kind gewesen, – habe die Auguste gesagt, sie könne doch eigentlich gar keine Achtung vor solcher Mutter haben, die jede Nacht mit anderen Herren schlafe.“ (1884, Koops, Abt. I 272)
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meiner Kinder vorhanden sein, ich habe meine Kinder bis hierher gebracht weshalb soll ich sie in Ehren nicht weiter bringen.“ (1894, Michaelsen, Abt. II 6246)1
Durchaus typisch waren auch die Reaktionen der selbstbewussten Franziska Koops. Zu ihrer Ehrenrettung berief sie sich mit einigem Recht auf die Aussagen der Lehrer sowie des Senators und Präses der ZEB, der die Aufnahme ihrer beiden Töchter in der Ohlsdorfer Anstalt mit dem Hinweis abgelehnt hatte, sie zeigten keine Anzeichen von Verwahrlosung.2 Ob sich in solchen Aussagen ein verändertetes Rechtsbewußtssein wiederspiegelte oder sie sogar als Ausdruck der sich ganz allmählich wandelnden Stellung von Frauen in der Öffentlichkeit gewertet werden können, lässt sich kaum mehr entscheiden. Da die abolitionistische Agitation des radikalen Lagers innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung in Hamburg erst kurz vor der Jahrhundertwende einsetzte, ist ein direkter Zusammenhang zwischen öffentlicher Diskussion und individuellem Verhalten in dieser Richtung wenig wahrscheinlich. Naheliegender ist die Annahme, dass sich Frauen, die sich mit ähnlich moralisierenden Urteilen seitens Nachbarschaft und staatlicher Akteure konfrontiert sahen, schon immer wortgewandt zur Wehr zu setzen wußten.3 Ihre Stimmen hinterließen allerdings nur in einer kurzen Phase der historischen Entwicklung Spuren in Akten von Fürsorge- und Strafverfolgungsbehörden. Voraussetzung hierfür war, dass Mütter in den geschilderten prekären Lebenslagen überhaupt als Rechtsträger wahrgenommen und entsprechnd behandelt wurden, und gleichzeitig die Amtssprache noch nicht von pejorative Stereotypen durchsetzt war, 1 Die selbstbewusste Franziska Koops konnte sich zu ihrer Verteidigung sogar mit einigem Recht auf die Aussagen der Lehrer sowie des Senators und Präses der Zwangserziehungsbehörde berufen, der die Aufnahme ihrer beiden Töchter in der Ohlsdorfer Anstalt mit dem Hinweis abgelehnt hatte, sie zeigten keine Anzeichen von „Verwahrlosung“ (1884, Koops, Abt. I 272, 1885). Selbst nachdem – wie wir oben sahen – die Mutter durch die ehemalige Freundin schwer belastet worden war, gab sie nicht gleich auf, sondern erklärte im Verlauf der kommissarischen Vernehmung, sogar die Polizeibehörde könne bezeugen, dass „von einer sittlichen Gefahr für Auguste gar keine Rede sein könne.“ 2 „Sie [Franziska Koops, J.R.] möchte dringend bitten, daß ihr die Kinder nicht genommen, d. h. auch nicht bei anderen Leuten untergebracht würden; daß die Kinder bei ihr im Hause nicht in Gefahr seien, zu verwahrlosen, dafür berufe sie sich auf die Erklärung des Senator Hayn bezw. auf die Zeugnisse der Schullehrer. [...] Sie Selbst arbeite für das Exportgeschäft von Braunschweig und verdient soviel, daß sie ihre Kinder damit zur Schule schicken könne.“ 1884, Koops, Abt. I 272, Protokolleintrag vom 12. Oktober 1885. Selbst nachdem sie von der ehemaligen Freundin schwer belastete worden war, gab die Mutter nicht gleich auf, sondern erklärte anlässlich ihrer kommissarischen Vernehmung, die Polizeibehörde könne bezeugen, dass „von einer sittlichen Gefahr für Auguste gar keine Rede sein könne“. 3 Vgl. hierzu etwa: Kienitz [1995]. Der Widerstand des in Hamburg vergleichsweise stark vertretenen radikalen Flügels der Frauenbewegung gegen die staatliche Verfolgungspraxis hatte sich u.a. daran entzündet, dass es in Frankfurt a.M. Ende der 1890er Jahre wiederholt zu Verhaftungen und anschließenden medizinischen Zwangsuntersuchungen von Frauen gekommen war, deren einziges Pech es war, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein (Deutelmoser/Ebert [1981], S. 148 f.).
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wie dies im vollausgebildeten Wohlfahrtstaat ab den 1920er Jahre zur Regel werden sollte.
„Der Knabe ist ein großer Taugenichts, es muss wirklich etwas Rücksicht darauf genommen werden, wenn die Eltern etwas weit in ihrem Züchtigungsrecht gingen“ – Die Verhandlung des Erziehungsverhaltens Stand bei den Verhandlungen von Arbeits- und Geschlechternormen das Verhalten der Eltern im Vordergrund, so verschob sich die Aufmerksamkeit in Richtung der Kinder, wenn die eigentliche Erziehungstätigkeit der Eltern ins Zentrum der Untersuchungstätigkeit rückte. Die Auseinandersetzungen um das familiale Erziehungsgeschehen nahmen während der Ermittlungen aus naheliegenden Gründen einen sehr breiten Raum ein. Ob positiv in Form der „Misshandlung“ bzw. des „Anhaltens zum Schlechten“ oder negativ als „Vernachlässigung der Erziehung“ oder schließlich – wie oben gezeigt wurde – in Form des mehr oder weniger passiven Vorlebens eines „schlechten Vorbildes“ – in irgendeiner Form spielte das elterliche Erziehungsverhalten in jedem Verfahren eine Rolle. Im Grunde genommen war es im Absetzungs- bzw. Entzugsverfahren für die Beteiligten gar nicht möglich, Aussagen zu machen, die keinen Bezug zum Erziehungsgeschehen hatten. Allerdings muss hinsichtlich der Verhandlungen des im engeren Sinne erzieherischen Handelns, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll, eine Unterscheidung hinsichtlich der Thematisierbarkeit getroffen werden. In Fällen, in denen man den Eltern die Vernachlässigung der Erziehung und Pflege oder die Anleitung zu illegalen oder sittlich zweifelhaften Handlungen wie Betteln, Mundraub, Alkoholkonsum, „Kuppelei“ usw. vorwarf, war es für diese kaum möglich, über den Sachverhalt anders als in Form des Abstreitens und Negierens zu sprechen, weil sie sich andernfalls sofort selbst in Misskredit gebracht hätten. Darin ähnelten die Erörterungen der Erziehungsverhältnisse den Verhandlungen über die vermeintlich laxe Arbeitshaltung der Väter oder das abweichenden Sexualverhalten der Mütter. Ganz anders verhielt es sich bei der Thematisierung von handfesten Erziehungskonflikten. Solange sich die Aussagen der Eltern im Rahmen des gesellschaftlichen Grundkonsenses in Bezug auf die Kindeserziehung bewegten, konnten sie relativ unbefangen über das Großziehen ihrer Söhne und Töchter, die dabei auftretenden Schwierigkeiten und auch die Handhabung des Züchtigungsrechtes sprechen. Zumindest wenn das betreffende Kind schon sein zehntes Lebensjahr überschritten hatte, konnten sich die Eltern sicher sein: Nicht ein „Zuviel“ an Erziehung, sondern ein „Zuwenig“ wurde von den Spezialvormündern und den anderen mit den Ermittlungen betrauten Perso-
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nen als problematisch angesehen. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, in der Darstellung zwischen der vormundschaftsgerichtlichen Verhandlung von Fällen von „Vernachlässigung“ bzw. „Anleitung zum Bösen“ und der Verarbeitung von Erziehungskonflikten zu differenzieren. Die folgende Rekonstruktion der vormundschaftsgerichtlichen Praxis beschränkt sich auf die Reaktionsformen auf Erziehungskonflikte sowie Anzeigen „schlechter Behandlung“. Wenn sich die Vormundschaftsbehörde mit Erziehungskonflikten beschäftigte, so manifestierten sich diese zumeist in einer Kombination aus exzessiver Handhabung des elterlichen Züchtigungsrechtes und dem Davonlaufen der Kinder. Schon von ihrer Struktur her forderten derlei Konflikte fast genauso stark zur Parteinahme heraus wie etwa eheliche Streitigkeiten um das Kind: Die ehrenamtlichen Ermittler konnten nur pro oder kontra Kind argumentieren, ein Mittelweg schien so gut wie ausgeschlossen. Während jedoch bei ehelichen Streitigkeiten um das Kind eine eindeutige, geschlechtsspezifische Tendenz in der Positionierung der Spezialvormünder nicht zu erkennen war1, so lässt sich bei Erziehungskonflikten eine deutliche Neigung zur Parteinahme mit den Eltern feststellen. Dieser Umstand offenbarte sich besonders deutlich in all jenen Fällen, in denen die Ermittlungen auf die Initiative der Eltern zurückgingen oder wenn diese im Verlauf des Verfahrens die Fremdunterbringung ihrer Kinder anregten. Gerade hier zeigte das Konzept der „hülfreichen Hand“ des Staates, also die traditionelle Idee des Ineinandergreifens väterlicher und staatlicher Autorität zur Aufrechterhaltung der Generationenordnung, seine fortgesetzte Wirkmächtigkeit. Der Umstand, dass es sich bei den ehrenamtlichen Ermittlern ausschließlich um Männer und zum überwiegenden Teil wohl auch um Väter handelte, welche die erzieherischen Grundauffassungen der betroffenen Eltern teilten, trug hierzu vermutlich entscheidend bei. Verkompliziert wurde die Positionierung der ehrenamtlichen Ermittler jedoch durch den allmählich aufkommenden „Kinderschutzgedanken“ und die Idee der „kindlichen Unschuld“, da diese Vorstellungen nur schwer mit der ungeprüften Parteinahme für die Eltern zu vereinbaren waren. In dem Maße, in dem das neue Deutungsmuster des „guten Kindes schlechter Eltern“ in Konkurrenz zur alten, in der Jugendfürsorge fest etablierten Auffassung vom „bösen Kind“ trat, in dem Maße auch, in dem sich ein besonderes Verständnis für die Eigenart der Jugendphase entwickelte, offenbarte sich die dilemmatische Struktur der Ermittlungstätigkeit: Die Spezialvormünder und Waisenpfleger mussten sich für die eine oder andere Seite entscheiden. Das normative Bezugssystem, das bisher eine eindeutige Positionierung erleichtert hatte, hatte an Eindeutigkeit verloren. 1 Orientiert man sich an den Personenakten der Vormundschaftsbehörde, so hielt sich das Verständnis für Mütter, die von ihren „trunksüchtigen“, prügelnden Ehemännern im Stich gelassen wurden, und Väter, die von ihren Frauen „betrogen“ worden waren, in etwa die Waage.
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Es waren demnach zwei grundlegende Polarisierungen, welche die Wahrnehmung von Erziehungskonflikten und den Prozess ihrer Verarbeitung im Rahmen der vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen strukturierten: die konkurrierende Auffassung vom „bösen“, besserungsbedürftigen und „guten“, schützenswürdigen Kind sowie die komplementär angelegte Gegenüberstellung vom noch unverdorbenem Kind, das durch das Verhalten seiner „schlechten“ Eltern an Leib und Seele gefährdet erschien. Nur wenn das Kind als „von Natur aus gut“ und „unverdorben“ stilisiert wurde, ließ sich daraus eine Gefährdungssituation konstruieren, die nach einer staatlichen Intervention in die elterlichen Rechte verlangte. Gleichzeitig trug das „gefährdete“ Kind nach zeitgenössischer Auffassung immer schon das Potenzial in sich, sich zum „gefährlichen“ Jugendlichen zu wandeln. In den Verhandlungen über malträtierte und ausgebeutete Minderjährige war deshalb das unvermittelte Umschlagen von einer Überhöhung und Idealisierung „des“ Kindes in seine Verteufelung schon angelegt.1 Ein besonders kontrastreiche und detaillierte Gegenüberstellung der miteinander konkurrierenden Grundauffassungen vom „natürlichen“ Charakter des Kindes findet sich bereits in einer Personenakte aus dem Jahr 1882. Der 13jährige Ferdinand Eggebrecht, um den es dabei ging, hatte wegen eines schweren Gelddiebstahls neun Monate im Gefängnis Fuhlsbüttel zugebracht und während dieser Zeit Anzeichen einer Geistesstörung gezeigt (1882, Eggebrecht, Serie III 1523). Weil sich die Vormundschaftsbehörde über den Charakter dieser Störung und die erforderliche Art der Unterbringung des Kindes nicht schlüssig werden konnte, bat sie das Krankenhauskollegium um eine fachliche Einschätzung des Falles. Das Rückschreiben enthielt zwei Stellungnahmen, die unterschiedlicher kaum ausfallen konnten: die des Gefängnisarztes und die eines Mitglieds des Medizinalbüros, des Leiters der städtischen Irrenanstalt Dr. Reincke. Der Gefängnisarzt ging in seiner Expertise ausführlich auf die sexuell gefärbten Halluzinationen des Jungen während der Haft ein, konstatierte eher beiläufig, dass Ferdinand „wie wohl die meisten Gefangenen und wie namentlich die Jugendlichen, Onanist“ sei, und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass ein Fall von „moralischem Schwachsinn“ vorliege. Er sei sich zwar bei der Entlassung des Jungen nicht sicher gewesen, ob derselbe geistesgestört oder gesund, aber „in einer Cloaque aufgewachsen“ sei. Im Nachhinein meine er aber doch, dass Ersteres zuträfe. Ganz anders schätzte dagegen der Leiter der Irrenanstalt Friedrichsberg den Fall ein. Während der Gefängnisarzt Ferdinand offenbar längere Zeit für einen 1 Vgl.: Bühler-Niederberger [2005], S. 16. Wie Honig [2001] zeigen kann, bestimmt diese historische Konkurrenzstellung der beiden radikal entgegengesetzten Deutungsmöglichkeiten abweichenden Kindesverhalten bis heute die tagespolitischen Debatten um den richtigen Umgang mit Kinderkriminalität und Kindesvernachlässigung.
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Simulanten gehalten hatte, stand für Dr. Reincke von Anfang an fest, dass der Junge die Erscheinungen unmöglich vorgetäuscht haben könne. Seiner Ansicht nach waren die religiös-sexuell konnotierten Erscheinungen typische Folgen der erlittenen Einzelhaft, die sich allerdings bald nach der Entlassung wieder legen würden. Weiter hieß es in seiner Stellungnahme: „Meiner Meinung nach urtheilt Herr Dr. Meyer in dieser Beziehung zu hart. In dem Alter von 13 bis 14 Jahren [zeigt, J.R.] sich bei jedem Knaben unbewußt oder bewußt der erwachende Geschlechtstrieb in Neigung zu den verschiedenartigsten Perversitäten, und ist es fast unvermeidlich, daß die dabei zu Tage tretenden verhältnißmäßig harmlosen Spielereien auf dem Lande, in der großstädtischen Umgebung und in seinem Stande, wo ein Kind nicht ununterbrochen bemuttert werden kann, bald in groben Schmutz ausarten, der aber immer schlimmer aussieht, als er thatsächlich ist, weil in dem Alter den Kindern die eigentliche Reflection über die Dinge und das wahre Verständniß der Sache abgeht. Meiner Meinung nach wird eine große Zahl seiner in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsenen Spielcammeraden in diesem Punkte nicht wesentlich besser sein als er, nur hat er in seiner Krankheit alles das ausgeplappert, was andere geheim halten. Alle Erfahrung spricht auch dafür, daß die große Mehrzahl dieser Kinder nach Vollendung der Entwicklungsjahre sich leicht aus diesen Verhältnissen herausarbeiten und daß eine bleibende Verderbniß der Phantasie und des Gemüthes sich nur unter besonders begünstigenden Einflüssen entwickelt. Als Besonders gefährlich in dieser Richtung sind allseitig alle Anstalten bekannt, in welchen eine größere Anzahl von Knaben vereinigt sind, Pensionate u.s.w. u.s.w. und dürfte in dieser Categorie gewiß auch das Werk- und Armenhaus zu versetzen sein; während umgekehrt verständige und umsichtige Eltern gerade in diesem Punkte mehr leisten können, als die beste Anstalt.“
Im Vergleich zur Einschätzung des Gefängnisarztes muten die allgemeine Charakterisierung der Entwicklungsjahre, die Einsicht in den passageren Charakter jugendlicher Devianz und die (selbst-)kritische Einschätzung der Anstaltserziehung in der Expertise Reinckes geradezu „modern“ an. Seine Äußerung ist früher Beleg dafür zu werten, wie sich unter dem Einfluss psychologischpsychiatrischen Fachwissens die Vorstellung von Kindheit und Jugend zu wandeln begann.1 Gleichwohl bleibt bemerkenswert, dass sich der Friedrichsberger Anstaltsleiter sowohl bei der Erklärung abweichenden Verhaltens als auch in der Frage der Behandlung auf allgemeines Erfahrungswissen berief. Dass von ihm
1 Zum Stand der kriminalanthropologischen Diskussion in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts vgl.: Oberwittler[2000], S. 35 ff. und Lees [2002], S. 133 ff. Dass sich ein Nervenarzt zu einem so frühen Zeitpunkt und noch dazu so differenziert in einem Entzugsfall äußerte, war eher ungewöhnlich. Erst nach dem 1. Weltkrieg gewann der psychiatrische Fachdiskurs einen bestimmenden Einfluss auf die Jugendfürsorge.
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gezeichnete Bild des Jugendlichen dürfte demnach auch dem Alltagsverständnis zahlreicher Zeitgenossen entsprochen haben. Die stilisierende Gegenüberstellung in der zeitgenössischen Rede von den „guten Kindern schlechter Eltern“, die auf das komplementäre Verhältnis von kindlicher Bedürftigkeit und elterlicher Pflichtschuldigkeit verwies, dürfte einer nicht minder weit verbreiteten Vorstellung von sittlich-moralischer Gefährdung entsprochen haben. Auffallend ist aber auch hier, dass es vor allem Fachleute – in diesem Fall die Volksschullehrer – waren, die maßgeblich an der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser kontrastierenden Gegenüberstellung beteiligt waren. Bereits im Fall Führing, der weiter oben im Zusammenhang mit den Ausgangskonflikten zitiert wurde, zeigte sich dieser Einfluss. Aber auch wenn Lehrer von den ehrenamtlichen Ermittlern erst im Rahmen der gerichtlichen Untersuchung als Auskunftspersonen konsultiert wurden, beteiligten sie sich aktiv an der Stilisierung des „unschuldigen Kindes“. Das heißt nicht, dass sich Volksschullehrer immer positiv über ihre Schüler äußerten. Im Gegenteil: Auch wenn Kinder im Verlauf des vormundschaftsgerichtlichen Verfahrens als „ungezogen“ dargestellt wurden, beruhte dies häufig auf der Äußerung eines Pädagogen. Wenn aber in einem Absetzungs- bzw. Entzugsverfahren die „kindliche Unschuld“ hervorgehoben und zur Legitimierung der Eingriffe in die elterlichen Rechte herangezogen wurde, geschah dies fast ausnahmslos aufgrund einer schulischen Stellungnahme. Zumal Lehrerinnen betonten die guten Charaktereigenschaften und Leistungen ihrer Schülerinnen. Besonders prägnant trat dieser Sachverhalt in einem Vormünderbericht aus dem Jahre 1894 hervor: „Über das Verhalten der Mutter zum Kinde wurde mir berichtet, daß das Kind von der Mutter, die überhaupt ein aufgeregtes Wesen habe, oft rohe Schimpfworte zu hören bekomme, und einmal so zerkratzt gewesen sei, daß das Blut an den Backen heruntergelaufen und die Spuren dieser mütterlichen Zärtlichkeit noch längere Zeit sichtbar gewesen seien. – In unerwartet erfreulichem Gegensatze hierzu steht die Schilderung, die mir die Lehrerin des Kindes, Frl. Minna Samson, ABC Straße, von demselben gemacht hat. Erna sei ein fleißiges Mädchen und gäbe in ihrem Verhalten durchaus keinen Grund zu klagen; sie habe auch aus ihrem Ferienaufenthalt in Oldesloe ein gutes Zeugnis mit nach Hause gebracht. Trotzdem halte ich es für geboten zu beantragen, daß das Kind so schnell wie möglich dem mütterlichen Einflusse entzogen wird, da die Gefahr zu verwahrlosen für dasselbe um so größer ist, je älter das Kind unter der Obhut einer solchen Mutter wird.“ (1894, Levy, Abt. II 6510)1 1 Ausgesprochen positive Äußerungen von Lehrerinnen über Schülerinnen fanden sich auch in: 1884, Koops, Abt. I 272; 1885, Klöß, Abt. I 879). Ein Oberlehrer, der etwa zur selben Zeit zu einem Misshandlungsfall Stellung nahm, gab vermutlich ebenfalls das Urteil der Lehrerin des betroffenen Mädchens wieder: „Johanna Henriette Lienau wurde am 19. Dezb. 1883 hier aufgenommen und der
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Das „Trotzdem“, mit dem der Spezialvormund sein Votum einleitete, deutet darauf hin, wie ungewohnt es für ehrenamtliche Ermittler war, für eine zwangsweise Abnahme von Kinder einzutreten, die selbst noch keinerlei Spuren von Verwahrlosung zeigten. Abgesehen davon, dass das Umschlagen der Deutungen vom „gefährdeten“ zum „gefährlichen“ Kind strukturell verankert war, ist darin ein wichtiger Grund zu sehen, weshalb Spezialvormünder und Waisenpfleger begierig jedes Anzeichen kindlicher Devianz festhielten. Sie waren sich ganz offenkundig der Tatsache bewusst, dass sich ein Eingriff auf dieser Grundlage deutlich besser rechtfertigen ließ als auf der Basis negativer Aussagen in Bezug auf die Eltern. Es gab neben den Lehrern allerdings noch eine zweite Partei, die in Misshandlungsfällen ein vitales Interesse daran hatte, das Bild vom „unschuldigen“ Kind zu Fall zu bringen und zur althergebrachten Vorstellung vom „bösen“ Kind zurückzukehren, und das waren die Eltern. Wenn sie ihr Kind als „ungezogen“, „lügnerisch“ und „unbotmäßig“ bezeichneten, so entsprach das nicht nur einer weitverbreiteten Wahrnehmung vom „schlecht veranlagten“ Kind. Es hatte auch einen strategischen Wert, wenn Eltern die körperliche Züchtigung mit dem schlechten Charakter ihres Kindes rechtfertigten, denn dadurch entlasteten sie sich selbst. In zahlreichen Misshandlungsfällen war die aktive Rolle der Eltern bei der Umdeutung kindlichen Verhaltens so offenkundig, dass die im Untersuchungsverfahren angelegte Opposition von ehrenamtlichen Ermittlern und Eltern ganz in den Hintergrund trat und das Kind am Ende nicht mehr als „Opfer“, sondern als „Täter“ der gewaltsamen Übergriffe dastand. Wie radikal sich das Blatt während der Untersuchungen mitunter wendete, illustriert das bereits im Zusammenhang mit den Ausgangskonflikten angeführte Beispiel, das eine im nördlichen St. Pauli lebende Mutter und ihre als Dienstmädchen tätige 16-jährige uneheliche Tochter Sophie betraf (1884, Müller, Abt. II 114). Nach eigener Darstellung war das Mädchen von der Mutter auf der Arbeitsstelle mit einem Spazierstock und mit den Füßen schwer misshandelt worden. Um eine Erklärung ihres Verhaltens gegenüber den ermittelnden Spezialvormündern war die Mutter nicht verlegen. Sie charakterisierte ihre Tochter als ein „verlogenes, nichtsnutziges, trotziges, faules und schmutziges Mädchen“, das aus jeder Dienststelle schon nach kurzer Zeit wieder davonlaufe. Obwohl die Mutter zum Zeitpunkt der Anzeige in „wilder Ehe“ lebte und die Polizeibehörde auch keinen Zweifel daran hatte, dass es sich tatsächlich um einen schweren Fall von Misshandlung handelte, verschob sich die Richtung der [Klasse] Va zugewiesen. Johanna hat durch ihr stilles, bescheidenes Wesen sich die vollste Zufriedenheit ihrer Klassenlehrerin erworben und nie zu einem Tadel Ursache gegeben.“ 1884, Peters, Abt. II 169.
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Ermittlungen schon bald vom Verhalten der Mutter auf die Devianz der Tochter. Nachdem sowohl die ehemalige Pflegemutter, zu welcher Sophie vor den Schlägen ihrer leiblichen Mutter flüchtete, als auch mehrere Verwandte ähnlich negative Charakterisierungen abgaben, schlossen sich die beiden Spezialvormünder ganz dem mütterlichen Urteil an. Einer von ihnen konstatierte in seinem Bericht: „Nach meinen Ermittlungen weiß ich allerdings, daß die Müller auf keiner ihrer zahlreichen Stellen, welche ihr ihre Mutter verschafft hat, bleiben konnte wegen ihrer formidablen Dummheit, Faulheit & Insolenz. Die Müller macht auch schon in ihrer äußeren Erscheinung den Eindruck eines völlig verwahrlosten, halb blödsinnigen Geschöpfes.“
Statt über die Strafverfolgung der Mutter oder eine Beschränkung ihrer Rechte zu räsonieren, votierten die ehrenamtlichen Ermittler nunmehr für die Unterbringung der Jugendlichen in der Besserungsabteilung des „Werk- und Armenhauses“. Die Vormundschaftsbehörde hatte dagegen nichts einzuwenden und schon wenig später erfolgte die Aufnahme Sophies in die Anstalt für ein ganzes Jahr. Entsprechende Umdeutungen im Ermittlungsverfahren unter Mitwirkung der Eltern finden sich in zahlreichen anderen Misshandlungsfällen wieder, die Mädchen und Jungen gleichermaßen betrafen.1 Für den gesamten Untersuchungszeitraum blieb eine bemerkenswerte Zurückhaltung und Nachsicht im Umgang mit misshandelnden Vätern und Müttern für die Ermittlungstätigkeit der Vormundschaftsbehörde kennzeichnend. Dies stand – nach heutigen Maßstäben – nicht nur in einem auffälligen Kontrast zur Schwere der beigebrachten Verlet1 Vgl.: 1882, Palau, Serie III 1558; 1883, Meier, Serie III 2976; 1885, Figge, Abt. I 759; 1884, Zawadzki, Abt. II 170; 1885, Klöss, Abt. I 879; 1894, Bruhn, Abt. I 6136; 1894, Mrongowius, Abt. II 6554; 1894, Rohm, Abt. II 6345. In einem Anfang der 1890er Jahren verhandelten Fall, in dem es um einen 13-jährigen Jungen ging, der seinem Vater und dessen zweiter Frau wiederholt entlaufen war (1892, Führing, Abt. I 4238), konstatierte der hinzugezogene Arzt in seinem Bericht: „Der Knabe Führing hat auf dem Gesäß, an beiden Lenden, am rechten Ellenbogen im Ganzen 10 mit Blut unterlaufene Flecke von Markstück- bis Handtellergröße. An den Beinen sind die Hautverfärbungen streifig.“ Die Vormundschaftsbehörde ließ die Rechtfertigungsversuche der Eltern, wonach ihr Sohn Johann äußerst frech und ungezogen sei zunächst nicht gelten und führte sowohl sein Fortlaufen als auch die festgestellten Wundmale als Ausdruck „schlechter Behandlung“ durch die Eltern zurück. Der zur Aufklärung der häuslichen Verhältnisse bestellt Spezialvormund schützte den Knaben zunächst, indem er ihn in einer Pflegefamilie unterbrachte. Bald aber machte sich der Spezialvormund die Sichtweise der Eltern zu eigen und berichtete der Vormundschaftsbehörde: „Der Knabe sei sonst ein großer Taugenichts und es müsse wirklcih etwas Rücksicht darauf genommen werden, wenn die Eltern vielleicht etwas weit in ihrem Züchtigungsrecht gingen. Denn die Lehrer klagten auch außerordentlich über ihn. Er habe einen unwiderstehlichen Hand zum Umhertreiben und gehe diesem nach.“ Einige Wochen später, nachdem der Knabe durch das Einwerfen von Fensterscheiben erneut auffällig geworden war, fasste der ehrenamtliche Berichterstatter seine Ermittlungen zusammen, indem er schlussfolgerte, dass „die Schuld allein beim Sohne“ liege. Mit seiner Unterstützung wurde Johann schließlich in die Ohlsdorfer Anstalt eingewiesen.
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zungen, sondern auch zur Häufigkeit, mit der in der Poststraße Anzeigen über die „schlechte Behandlung“ von Kindern aus der Bevölkerung eingingen. Die Verbreitung des Phänomens der „schlechten Behandlung“ wurde nicht etwa zum Anlass vermehrter Interventionsbemühungen genommen. Vielmehr wurde sie von den den meisten Ermittlungsorganen und Richtern der Vormundschaftsbehörde als Anzeichen des Verfalls der elterlichen bzw. väterlichen Autorität gewertet. Die Spezialvormünder hatten grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf aktenkundige Misshandlungen von Kindern durch ihre Eltern zu reagieren: Sie konnten die strafrechtliche Verurteilung der Eltern veranlassen oder durch einen Eingriff in das Personensorgerecht die Fremdplatzierung der Kinder bewirken. Die dominante Strategie im Umgang mit Übertretungen des Züchtigungsrechts war zweifellos die strafrechtliche Verfolgung, worauf schon die Art der Mandatierung durch die Vormundschaftsbehörde hindeutete. Die Spezialvormünder wurden vor allem eingesetzt, um die Notwendigkeit zur Stellung eines Strafantrages zu prüfen. Die Frage, ob das betroffene Kind andernorts unterzubringen war und ob zu diesem Zweck auch die elterlichen Rechte eingeschränkt werden mussten, erschien demgegenüber zweitrangig.1 Im Rahmen der 26 eingehender untersuchten Misshandlungsfälle aus der Zeit vor der Jahrhundertwende wurde in immerhin einem guten Drittel Strafanzeige durch die Spezialvormünder bzw. die Vormundschaftsbehörde erstattet. Es kam vor, dass Spezialvormünder mit viel Engagement für eine strafrechtliche Sanktionierung eintraten. Im Falle eines zehnjährigen Mädchens, das vom Vater so heftig geschlagen worden war, dass es zahlreiche blutunterlaufene Striemen auf dem Rücken und dem rechten Oberarm davontrug, erklärte der mit der Überprüfung der Notwendigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung beauftragte Spezialvormund: „Was die erste Frage angeht, so ist es allerdings dringend geboten dem Vater Gelegenheit zu schaffen während einiger hinter Schloß und Riegel zu verbringenden Tage darüber sich klar zu werden, daß die Erziehung eines Menschen nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich bringt. Ich habe die mit den Vorgängen des 11 October d. J. speciell vertrauten Frauen Büss und Friedrich kommen lassen und haben diese die bereits in der Vormundschaftsacte befindlichen Berichte in solcher Weise bestätigt und ergänzt, daß kein Zweifel mehr darüber obwalten kann, daß der Vater Klöss in empörender Weise sein Kind geschimpft und mißhandelt hat.“ (1885, Klöss, Abt. I 879 Bl. 5) 1 Die mit Misshandlungsfällen befassten Spezialvormünder wurden gewöhnlich damit beauftragt zu prüfen, ob strafrechtlich gegen den Vater/die Mutter vorgegangen werden sollte und ggf. einen entsprechenden Strafantrag bei den ordentlichen Gerichten zu stellen. Bezogen auf eventuelle Gesetzesverletzungen der Eltern übernahmen sie somit die rechtliche Vertretung der Mündel.
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Solche leidenschaftlichen Plädoyers blieben gleichwohl die Ausnahme. Viel typischer war auch hier eine zögerlich-abwägende Haltung, die nicht selten mit taktischen Überlegungen begründet wurde. In einem Vormünder-Bericht aus dem Jahre 1893 hieß es etwa: „Der letztere [der Haß der Stiefmutter gegenüber den Stiefkindern, J.R.] würde unter allen Umständen erheblich gesteigert und für die Kinder eine Quelle steter Kränkungen und Nachstellungen sein, wenn gegen die Mutter ein Verfahren wegen Misshandlung eingeleitet und zu diesem Zwecke ein Strafantrag gestellt werden würde. Es erscheint mir aber, abgesehen davon, daß eine Bestrafung nicht sicher vorauszusehen ist, da das Beweismaterial vielleicht nicht genügen wird, bei der Entscheidung über die Frage nach der Stellung des Strafantrages nicht außer Acht gelassen werden zu dürfen, daß die Kinder von einer event. Bestrafung der Mutter nicht nur keinen Nutzen, sondern sehr wahrscheinlich nur Schaden haben würden.“ (1893, Lehmann, Abt. II 5441, Bl. 6)1
Es waren jedoch nicht allein Überlegungen dieser Art, die für die abwägendzögerliche Haltung der Spezialvormünder in Misshandlungsfällen ausschlaggebend waren. Solange die Aussagen von Zeugen uneinheitlich waren und kein ärztliches Gutachten vorlag, das die Spuren der Misshandlung festhielt, neigten die Spezialvormünder dazu, die Aussagen der betroffenen Kinder für stark übertrieben oder sogar erschwindelt zu halten. Tatsächlich widerriefen einige Kinder ihre Aussagen gegenüber der Polizei nachträglich wieder.2 Dabei muss man sich vergegenwärtigen, unter welchen Umständen dies geschah: Die Kinder waren einem massivem Druck seitens ihrer Eltern ausgesetzt und wurden außerdem mit den einschneidenden und wenig verlockenden Konsequenzen konfrontiert, die das Festhalten an ihren Aussagen für sie selbst haben konnte. Die folgende Passage aus einem 1885 erstatteten Vormünderbericht lässt erahnen, unter welch zweifelhaften Umständen die Aussagen der Kinder zustande kamen: „Da die Mutter aber trotz mehrmaliger Aufforderung den Knaben Figge nicht zu mir sistirte, sah ich mich genöthigt, um den Minorennen persönlich zu sprechen, denselben in der von ihm besuchten Volksschule am Nagelsweg aufzusuchen. Der dortige Hauptlehrer, Herr Lüder gestattete mir in entgegenkommender Weise eine Unterredung mit dem Knaben und war das Resultat derselben, nachdem Figge wiederholt sowohl vom Herrn Hauptlehrer Lüder als von mir dringend ermahnt war, die Wahrheit zu sagen: Sein Vater behandele ihn jetzt in durchaus guter Weise, Prügel bekomme er fast gar nicht mehr, nur wenn er ungezogen gewesen sei; auch bekomme er immer satt zu essen; befragt, warum er denn vor ca. 4 Wochen seinem Vater wie1
Vgl. auch 1892, Meyer, Abt. II 4778, Vgl. Hierzu: 1884, Zawadzki, Abt. II 170; 1885, Figge, Abt. I 759, 1893; Bollmann, Abt. I 5531; 1894, Bruhn, Abt. I 6136. 2
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derum weggelaufen sei, erklärte Figge, er habe dies aus Angst vor – wohlverdienten – Schlägen gethan, da er einen ihm wiederholt von seinem Vater gegebenen Auftrag nicht ausgeführt habe; jetzt wolle er aber gern bei seinen Eltern bleiben.“ (1885, Figge, Abt. I 759)1
Nicht alle misshandelten Kinder zogen es vor, bei ihren Eltern zu bleiben. Die elfjährige Anna, die ein gutes Jahr früher von ihrem Vater mehrfach mit Fußtritten und einer zehnriemigen ledernen Peitsche misshandelt worden war, hatte offenbar nichts dagegen, anderswo untergebracht zu werden (1884, Zawadzki, Abt. II 170). Aber auch in ihrem Fall hatte das von den Spezialvormündern abgerungene Schuldeingeständnis dazu geführt, dass eine strafrechtliche Verfolgung des Vaters ausblieb.2 Dass selbst die mit Missbrauchsfällen befassten ordentlichen Gerichte die Strafe danach bemaßen, wie sich die betroffenen Kinder gegenüber den Eltern verhalten hatten, zeigt einer der seltenen Fälle, in denen sich in den Akten neben Angaben über Art und Höhe der strafrechtlichen Sanktion auch Hinweise zur richterlichen Begründung des Strafmaßes fanden. Der Eimsbütteler Steinmetz Friedrich Klöss, von dem schon die Rede war, wurde wegen der von ihm eingestandenen schweren Züchtigungen seiner Tochter zu einer vierzehntägigen Gefängnishaft verurteilt. Die „Rohheit“, mit der er die Tat verübt hatte, war in der Strafzumessung kurzerhand mit dem „unartigen Charakter der Tochter“ verrechnet worden (1885, Klöss, Abt. I 879). Nicht immer kamen Väter und Mütter so glimpflich davon wie Friedrich Klöss. In den zehn für die Zeit vor 1900 untersuchten Misshandlungsfällen, die auf Betreiben der Spezialvormünder bzw. der Vormundschaftsbehörde strafrechtlich verfolgt worden waren, reichte das Strafmaß von einer empfindlichen Geldstrafe in Kombination mit einer Verwarnung bis hin zu einer zweieinhalbmonatigen Gefängnishaft. Ein Misshandlungsfall, der für die Zeit nach der Jahrhundertwende überliefert ist, veranschaulicht, in welchem Verhältnis Tat und Strafe üblicherweise standen: Ein taubstummer Vater hatte seinen fünf Jahre alten Sohn in so „barbarischer Weise“ misshandelt, dass dieser mehrere Monate 1
1884, Zawadzki, Abt. II 170: Während die Vormundschaftsbehörde kurz nach Eingang der Anzeige vorsorglich schon die Staatsanwaltschaft benachrichtigte, weil nach ihrer Einschätzung eine schwere Körperverletzung vorlag, gaben die ermittelnden Spezialvormünder bereits wenig später Entwarnung, indem sie erklärten, es habe sich nicht feststellen lassen, dass die Züchtigungen „besonders gefährlicher Art oder gar unverdient erteilt worden seien“. Anna habe zugeben müssen, dass sie in vielen Fällen die Züchtigungen durch unredliche Handlungen und Lügen selbst veranlasst habe. Die Vormünder zeigten sich überzeugt, dass der Vater seine Tochter nicht etwa aus Rohheit, sondern mit der Absicht, sie zu bessern, geschlagen habe. Da der Vater aber „seine Pflichten in keiner Weise verkennt“, wollten sie auch nichts von einem Strafantrag, geschweige denn von einem Eingriff in seine väterlichen Rechte wissen 2
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stationär behandelt werden musste. Für seine Tat wurde der Mann zu einer Haftstrafe von acht Tagen verurteilt (1902, Krohn, BlHWPfl.). Dass elterliche Misshandlungen Eingriffe in das Personensorgerecht nach sich zogen, kam offenkundig ausgesprochen selten vor. Nur ausnahmsweise sahen sich Spezialvormünder aufgrund von Übertretungen des Züchtigungsrechtes veranlasst, für eine zwangsweise Entfernung des betroffenen Kindes aus dem Elternhaus zu votieren – und wenn es geschah, so war dies meist darauf zurückzuführen, dass im Verlauf der Untersuchungen noch andere Gefährdungsmomente wie „Trunksucht“, Vernachlässigung der Erziehungspflichten oder dergleichen ans Tageslicht gekommen waren.1 In einer Reihe von Ermittlungsverfahren ergab sich die anderweitige Unterbringung gleichwohl wie von selbst, weil die Eltern gar kein Interesse daran bekundeten, ihre Kinder bei sich zu behalten. Die Aufnahme ins Waisenhaus oder auch in die Erziehungs- und Besserungsanstalt Ohlsdorf erfolgte dann im ausdrücklichen oder stillschweigenden Einvernehmen mit den Eltern.2 Selbst wenn Eltern einer besonders schweren Form von Misshandlung überführt und zu einer mehrmonatigen Haft verurteilt worden waren, glaubten manche Spezialvormünder eine Rückkehr der Kinder in den elterlichen Haushalt verantworten zu können.3 Ordnet man alle Aussagen, die im Verlauf der Ermittlungsverfahren zum konkreten Vorgang elterlicher Misshandlungen gemacht wurden, auf einer Matrix an, so zeichnen sich die Umrisse einer politischen Anatomie des Strafens ab, welche die Verarbeitung entsprechender Fälle durch die Vormundschaftsbehörde ganz unabhängig vom kindlichen Verhalten strukturierte.4 Dem Grundsatz folgend, dass Strafen die physischen Kräfte des Kindes nicht beeinträchtigen durften, legte dieses implizite Regelwerk die Grenzen zwischen gesellschaftlich tolerierbaren und inakzeptablen Formen elterlicher Züchtigung hinsichtlich der geistigen Verfassung der Strafenden, der zum Einsatz gelangenden Instrumente sowie der betroffenen Körperteile fest. Die Anatomie des Strafens stimmte im Wesentlichen mit den strafrechtlichen Prinzipien zur Verfolgung von Körperver-
1 Vgl.: 1882, Palau, Serie III 1537; 1884, Dorndorf, Abt. I 263; 1893, Lehmann, Abt. II 5441;894, Koch, Abt. I 6423. 2 1884, Kröger, Abt. I 337; 1884, Müller, Abt. II 114; 1885, Klöss, Abt. I 879; 1893, Bollmann, Abt. I 5531. 3 Ein Jahr, nachdem der Barbier Carl Rohm wegen einer an seiner zweijährigen Tochter verübten Körperverletzung zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt worden war, plädierte der mit der Untersuchung des Falles betraute Stadtmissionar dafür, das Kind bei seinen Eltern zu belassen (1894, Rohm, Abt. II 6245). Den Bedenken der Behördenmitglieder hielt er entgegen, dass die Eltern ihr Kind jetzt besser behandelten und ihre früheren Fehler wieder gut zu machen suchten. Außerdem sei er der Auffassung, dass das Kind „in erster Linie zu den Eltern gehöre“. 4 Vgl.: Foucault [1991], S. 176 f.
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letzungen überein.1 Aber sie ließ sich nicht darauf reduzieren. Vielmehr wurden die unausgesprochenen Regeln in der Interaktion der unterschiedlichen Verfahrensbeteiligten – zwischen Spezialvormündern, Zeugen und nicht zuletzt den Beschuldigten selbst – hervorgebracht und aufrechterhalten. Als ideales Züchtigungsinstrument für Kinder galt eine dünne, lange, leicht elastische Rute. Mitte der 1890 er Jahre erklärte ein Spezialvormund gegenüber der Vormundschaftsbehörde: "Der Stock wurde mir vorgewiesen; es war eine biegsame, frischgeschnittene, dünne Haselnuß- oder Weidengerte, wie sie für Züchtigungen von Kindern angemessen sein dürfte." (1894, Bruhn, Abt. I 6136). Je stärker demnach die von den Eltern verwandten Gegenstände diesem Ideal entsprachen, desto unverdächtiger erschien der Fall.2 Zeugen wie ehrenamtliche Ermittler beurteilten eine elterliche Züchtigung aber nicht allein nach den Eigenschaften der „Werkzeuge“, die zum Einsatz gelangten. Entscheidend war auch die Art ihrer Handhabung und vor allem, auf welche Körperteile geschlagen wurde. So verteidigte ein schon volljähriger Sohn seinen Vater, dem vorgeworfen wurde, den achtjährigen Bruder wegen der versehentlichen Beschädigung einer Standuhr mit Fäusten misshandelt und gegen eine Bettkante geschleudert zu haben, indem er angab, „daß sein Vater seinen Bruder [korrect] mit der flachen Hand einen Schlag gegen den Kopf gegeben habe, wobei dieser gegen das Bett getaumelt sei.“3 Ließen schon Beschaffenheit und Verwendungsweise der Züchtigungsinstrumente Rückschlüsse auf die mehr oder weniger akzeptablen Beweggründe und den Charakter der Eltern zu, so traf dies in noch weit stärkerem Maße auf die 1 Neben den Tatbestandsvoraussetzungen der einschlägigen Paragrafen des RStGB waren das auch die anerkannten Rechtfertigungsgründe und die Prinzipien zur Bestimmung der Schuldfähigkeit. 2 Die Werkzeuge, welche die Eltern für die Züchtigung ihrer Kinder benutzten, waren sehr vielfältig. Neben Schlägen, Kniffen, Stößen und Tritten, die mit bloßen Händen bzw. Füßen beigebracht wurden, gelangten auch mehr oder weniger zufällig zur Hand liegende Gebrauchsgegenstände wie Stiefel, Scheren, Holzscheite und dergleichen mehr zum Einsatz. An der Beschaffenheit der am häufigsten benutzten Gegenstände lässt sich aber ablesen, dass die meisten Eltern ihre Strafinstrumente mit Bedacht auswählten: Taue, Riemen, Stöcke, Knüttel verschiedener Stärken, daneben aber auch Schüreisen und Feuerzangen waren die bevorzugten Züchtigungswerkzeuge. Eher ausnahmsweise gelangten auch spezielle Strafinstrumente wie Peitschen oder Rohrstöcke zum Einsatz, die auch in der Volksschule gebräuchlich waren. Dass die Beschaffenheit des Züchtigungsinstrumentes strafrechtsrelevant war, war anscheinend allen Beteiligten klar: Wurde der Gegenstand wie eine Waffe benutzt, so lag möglicherweise eine qualifizierende Körperverletzung vor, die härter bestraft wurde als eine gewöhnliche. Es ist aus diesem Grund auch nicht verwunderlich, dass in manchen Fällen die ermittelnden staatlichen Organe vergeblich nach den Züchtigungsinstrumenten suchten. 3 Auch einem Vater, der seine Tochter nach Aussagen von Nachbarn mit einer ledernen Peitsche misshandelt hatte, war anscheinend bewusst, dass es nicht unerheblich war, wie er das Züchtigungsinstrument eingesetzt hatte. Bei seiner gerichtlichen Anhörung erklärte er, er habe die Peitsche beim Schlagen nicht etwa am Stiel angefasst, sondern nur an den Kimmen. Sehr heftig, so meinte er, könnten die Schläge deshalb nicht gefallen sein (1884, Zawadzki, Abt. II 170).
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in Mitleidenschaft gezogenen Körperteile und den Grad ihrer Beschädigung zu. Die von den Polizeiärzten konstatierten Verletzungen und ihre anschließende Beurteilung durch die Ermittlungsorgane der Vormundschaftsorgane bildeten das Negativ, vor dessen Hintergrund sich die Konturen des gesellschaftlich erlaubten, abgestuften häuslichen Strafsystems abzeichneten: Als angemessene, spontan zu handhabende Strafform für kleinere kindliche Verfehlungen galt die Ohrfeige, bei wiederholten Unbotmäßigkeiten wurden Rohrstock- oder Rutenschläge auf das bedeckte Gesäß für erforderlich gehalten, und erst als letzte Steigerungsstufe kamen Schläge auf das entblößte Hinterteil bzw. den Rücken der Minderjährigen in Betracht. Alles, was von diesem Muster häuslicher Züchtigung abwich, konnte den Eltern negativ ausgelegt werden, weil es auf den unbeherrschten, wenig planmäßigen und damit „kontraproduktiven“, exzesshaften Gebrauch des elterlichen Züchtigungsrechtes hinwies.1 Obwohl kaum anzunehmen ist, dass die Unterschichtsbevölkerung ihr Handeln bewusst an dem Ideal der wohldosierten, abgestuften und emotionslosen Strafpraxis orientierte, so bestand offenkundig doch ein breiter Konsens in der Ablehnung exzessiver, unbeherrschter Gewaltanwendung in der Erziehung. Am deutlichsten abzulesen ist dies an der großen Zahl von Anzeigen, die bei der Vormundschaftsbehörde über misshandelte Kinder eingingen. Aber auch im Verlauf der vormundschaftsgerichtlichen Ermittlungen wurde immer wieder deutlich, dass Väter und Mütter, die ihre Kinder öffentlich, unter Alkoholeinfluss oder unter Begleitung wüster Schimpftiraden misshandelten, selbst in den unteren Bevölkerungsschichten allgemeine Empörung auslösten. Die Verarbeitung von Erziehungskonflikten und Missbrauchsfällen durch die Vormundschaftsbehörde, so lässt sich zusammenfassend festhalten, war dreifach dimensioniert:
Eine fortgesetzte Bedeutung für die gerichtliche Verarbeitung von Erziehungskonflikten hatte das Konzept der „hülfreichen Hand“ des Staates, also die Idee des Ineinandergreifens elterlicher und staatlicher Strafgewalt. Das Konzept der „hülfreichen Hand“ fand insbesondere dort seinen Niederschlag, wo die Züchtigungen des Vaters von den Vormündern und Behördenmitgliedern als Beitrag zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen
1 Wenn Nachbarn von Schlägen mit gefährlichen Gegenständen auf den Kopf (1884, Böttger, Abt. I 288), oder die Kinder selbst von Fausthieben ins Genick (1885, Figge, Abt. I 759) berichteten, wenn Misshandlungsopfer, wie im oben zitierten Fall Führing, nicht nur auf den Pobacken sondern über den ganzen Körper verteilte Wundmale aufwiesen (1892, Führing, Abt. I 4238, vgl. außerdem: 1884, Müller, Abt. II 114, 1884, Böttger, Abt. I 288; 1885, Klöss, Abt. I 879; 1894, Rohm, Abt. II 6345), so lag auch nach dem Alltagsverständnis der Zeitgenossen ein klarer Regelverstoß gegen das elterliche Züchtigungsrecht vor.
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Ordnung betrachtet und von eine strafrechtlichen Verfolgung des Züchtigers abgesehen wurde. Erfolgte in solchen Fällen dennoch eine Entfernung der Kinder aus dem Elternhaus, so geschah dies zumeist im ausdrücklichen Einverständnis mit dem väterlichen „Gewalthaber“. Die Fremdunterbringung stellte hier keinen Akt der Kapitulation, sondern der Restituierung väterlicher Gewalt dar. Die Verhandlungen von Erziehungskonflikten durch die Vormundschaftsbehörde folgten außerdem den impliziten Regeln einer „politischen Anatomie“ der Züchtigung. Körperliche Züchtigungen wurden weder von der Bevölkerung noch von den Vormündern oder Behördenmitgliedern prinzipiell in Frage gestellt. Es ging vielmehr darum, dort einzugreifen, wo die Handhabung des Züchtigungsrechts der beabsichtigten Steigerung der Körperkräfte zuwiderlief. Die politische Anatomie der Züchtigung legte die Art der Züchtigungsinstrumente und ihre Handhabung ebenso fest wie die Körperteile, auf die sie anzuwenden waren. Vor allem aber definierte sie ein Ideal der geistigen Verfassung, in der die körperliche Züchtigung vorgenommen werden sollte. Vor allem bei Erziehungskonflikten zwischen alleinstehenden Müttern und älteren Kindern kam schließlich die Orientierung der gerichtlichen Reaktionsformen an den polaren Geschlechterstereotypen zum tragen. Wenn der Vater, aus welchen Gründen auch immer, fehlte, so galt die familiale Erziehung als ergänzungsbedürftig. Dies war ein Grundgedanke, der das gesamte Vormundschaftsrecht durchzog und der es den Müttern nicht nur erleichterte, sondern geradezu nahelegte, das Versagen ihrer Erziehung öffentlich einzugestehen, wenn sich heranwachsende Kinder ihren Weisungen widersetzten oder handgreiflich gegen sie wurden. Der Vormund hatte dann die Aufgabe, die Leerstelle des Vaters auszufüllen und die „Überwachung und Erziehung“ des Kindes zu übernehmen.
5.5.4 „Hauptverhandlung“ und Beschluss Dem dreiteiligen „Ermittlungs- und Beweisverfahren“ schloss sich die Beschlussfassung im so genannten Fünf- bzw. (nach 1900) Drei-Mann-Kollegium der Behörde gewöhnlich nahtlos an. Nur in einigen wenigen Fällen wurde vor der gerichtlichen Entscheidung eine regelrechte „Hauptverhandlung“ anberaumt. Zumeist aber verzichtete die Behörde auf diesen verfahrensrechtlich nicht vorgesehenen Schritt und die Richter trafen ihre Entscheidungen auf der Grundlage der Personenakten und gegebenenfalls des mündlichen Berichts desjenigen Mitgliedes, das die kommissarischen Vernehmungen geleitet hatte.
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Die Entscheidungen der Behörde knüpften inhaltlich an die im vorangegangen Abschnitt analysierten Auseinandersetzungen über die Normen in Bezug auf Arbeit, Geschlechterverhältnis und Erziehung an. Erst in dieser Etappe des Verfahrens ging es allerdings darum, „Recht“ anzuwenden, das heißt die ermittelten Sachverhalte und Tatbestände den einschlägigen Rechtsnormen zu- bzw. unterzuordnen. Damit gehörte die Beschlussfassung bereits einem anderen Interaktionszusammenhang an als das „Ermittlungs- und Beweisverfahren“.1 Wollte die Vormundschaftsbehörde sichergehen, dass ihre Beschlüsse auch Bestand hatten, so mussten sie die Grundsatzentscheide der nachgeordneten Instanzen sorgfältig zur Kenntnis nehmen und ihre eigene Entscheidungspraxis darauf abstimmen. Von dem vorangegangenen komplexen Prozess der Wirklichkeitskonstruktion im Verlauf des Untersuchungsverfahrens ließen die schriftlich niedergelegten Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde demgegenüber kaum noch etwas erahnen. Im Folgenden werden die Entscheidungen, welche die Vormundschaftsbehörde bei angenommener „Kindeswohlgefährdung“ traf, eingehender untersucht. Als Grundlage hierfür dienen neben den in den Personenakten aus der Zeit vor 1900 enthaltenen Beschlüssen vor allem Entscheidungen, die nach dem Inkrafttreten des BGB in den „Blättern“ veröffentlicht oder intern vom WHK gesammelt worden waren. Wie bisher ist der Blick zunächst auf die Vorgehensweise der Richter und die formelle Gestalt der Beschlüsse zu richten. Erst im Anschluss werden dann die Beschlüsse nach inhaltlichen Kriterien untersucht. Dabei ist die Frage erkenntnisleitend, wie die kategoriale Zuordnung von Ereignissen zu den unterschiedlichen, gesetzlich vorgegebenen Tatbeständen vonstatten ging.
5.5.4.1 Die „Hauptverhandlungen“ und die formelle Gestaltung der Beschlüsse Einige wenige Beschlüsse, welche die Vormundschaftsbehörde in Missbrauchsund Vernachlässigungsfällen fasste, basierten auf einer „Hauptverhandlung“. Das ist insofern bemerkenswert, als dies verfahrensrechtlich eigentlich nicht vorgesehen war.2 Gewöhnlich wurde – wie in Kapitel 5.3 beschrieben – auch im Sorgerechtsverfahren an der „kommissarischen Verhandlung“ festgehalten. Im Unterschied hierzu wurden in den besagten Fällen die betroffenen Eltern zu1
Vgl. hierzu: Wolff/Müller [1997], S. 30 f. u. 290 f. In drei Verfahren wurde explizit von einer „Hauptverhandlung“ gesprochen. Es handelte sich in allen drei Fällen um Verfahren, die Mitte der 1890er Jahre eingeleitet worden waren (1893, Stroß, Abt. II 5875, 1894, Becker, Abt. I 6432, 1901, Milich, Abt. II 6876). In einem einzigen Fall aus der Zeit nach 1900 wurden die Zeugen und „Beteiligten“ ebenfalls von allen Richtern des beschließenden Drei-Mann-Kollegiums zugleich „vernommen“, ohne dass allerdings von einer Hauptverhandlung die Rede war (1906, Hansen, Abt. I 5181). 2
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sammen mit Zeugen und „Auskunftspersonen“ direkt vor das Fünf- bzw. DreiMann-Kollegium geladen, das auch die Beschlüsse fasste. Die Richter hatten hier also die Gelegenheit, einen persönlichen Eindruck von den Eltern zu gewinnen, in deren Rechte sie durch ihre Entscheidung gegebenenfalls eingreifen würden. Noch wichtiger war jedoch, dass in diesen seltenen Fällen die Eltern auch der Vernehmung der „Belastungszeugen“ beiwohnten. Es war mithin eine direkte Konfrontation der widerstreitenden Positionen und Sichtweisen möglich. Die betroffenen Eltern erhielten die Gelegenheit, sich zu den Anschuldigungen Dritter zu äußern, und umgekehrt konnten die Richter die Reaktionen, die solche Konfrontationen von Zeugen und Beschuldigten auslösten, mit eigenen Augen beobachten.1 In Ansätzen war hier mithin eine Situation geschaffen worden, die den mündlichen Verhandlungen vor den ordentlichen Gerichten glich. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Richter durch ihre Anwesenheit während der „Hauptverhandlungen“ plötzlich zu ganz anderen Urteilen und Ansichten über die verhandelten Sachverhalte gelangten als beim normalen Verfahren. Immerhin aber wurde durch das Einschieben einer Hauptverhandlung die räumliche und personelle Trennung von Vorverfahren und Beschlussfassung überbrückt. Die Richter konnten ihre Entscheide in diesen Fällen auf dem aufbauen, was sie selbst gesehen und gehört hatten.2 Gleichzeitig wird an den Hauptverhandlungen deutlich, dass die vom Präses der Vormundschaftsbehörde Ulrich Moller geübte Kritik am kommissarischen Verfahren nicht ganz folgenlos geblieben war. In der Praxis versuchte man die Schwächen des kommissarischen Verfahrens offenbar ganz pragmatisch auszugleichen. Das war angesichts des sehr beschränkten Zeitbudgets, das den ehrenamtlichen Richtern zur Verfügung stand, beachtlich. Es änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass die betroffenen Eltern einen Anspruch auf die Befolgung eines solchen Verfahrens nicht geltend machen konnten. Nicht nur Moller, sondern auch die betroffenen Väter und Mütter mussten sich damit abfinden, dass ungeachtet der Schwere der der zu gewärtigenden Eingriffe zentrale rechtsstaatliche Prinzipien im vormundschaftsgerichtliche Verfahren nicht galten.3 1 Dies wurde v.a. im Fall Stroß deutlich. Hier hatten die anwesenden Richter laut Protokoll zunächst den Vater, dann den Schulleiter und schließlich einen Polizeioffizianten vernommen (1893, Stroß, Abt. II 5875). Der Vater erhielt Gelegenheit, zu den Vorwürfen des Lehrers, von dem auch die Anzeige ausgegangen war, Stellung zu nehmen. Inhaltlich ging es um den unregelmäßigen Schulbesuch seiner Söhne. 2 Für zwei Verfahren lässt sich belegen, dass die Richter im unmittelbaren Anschluss an die Sitzung ihre Entscheidung trafen. Ob der Beschluss am Ende der Verhandlung den Beteiligten auch verlesen oder wie gewöhnlich mit der Post zugestellt wurde, lässt sich hingegen nicht mehr ermitteln. 3 Einer Mutter, der 1902 wegen „unsittlichen und ehrlosen“ Verhaltens das Personensorgerecht entzogen worden war, wurde dies durch einen höchstrichterlichen Beschluss noch einmal in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Ihre Beschwerde gegen den Entscheid der Vormundschaftsbehörde hatte sie u.a. darauf gestützt, „daß ihr Gelegenheit gegeben werden müsse, den Urheber der sie belasten-
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Bereits im Kontext der Untersuchung des von den Laienrichtern eingebrachten Wissens- und Erfahrungshintergrundes wurden einige Mutmaßungen darüber angestellt, wie die Entscheidungsprozesse im Fünf-Mann- bzw. DreiMann-Kollegium abliefen. In diesem Abschnitt soll nun die Praxis der Rechtssprechung anhand der schriftlich verfassten Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde untersucht werden. Die vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse, die im Zeitraum 1884 bis 1914 gefasst wurden, unterschieden sich sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht deutlich voneinander. Im Folgenden werden zunächst die formale Gestalt der Beschlüsse und ihre Veränderung über die behandelten 30 Jahre hinweg untersucht. Anschließend ist dann näher auf den Inhalt der Beschlüsse einzugehen, wobei die Zeit vor und nach Inkrafttreten des BGB wieder gesondert behandelt werden müssen. Das auffälligste und auch am leichtesten zu erfassende äußere Merkmal der Beschlüsse ist ihre Länge. Von ihr hing ab, wie stark die Beschlüsse auch inhaltlich untergliedert waren. Verallgemeinernd lässt sich sagen: Je kürzer ein Beschluss war, desto undifferenzierter war gewöhnlich seine inhaltliche Gestaltung. Umgekehrt gingen längere Entscheide zumeist mit einer klareren Strukturierung einher. Eine Veränderung der Länge der Beschlüsse kann aus diesem Grund auch auf einen formalen Gestaltwandel hindeuten. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums zeichnete sich hier tatsächlich eine bemerkenswerte Verschiebung ab. Die Länge der Beschlüsse stieg mit der Zeit an, und was noch wichtiger war: Es bildete sich so etwas wie eine Standardlänge für Beschlüsse nach § 1666 BGB heraus. Die extremen Unterschiede in der Länge der Beschlüsse, die für die Zeit vor 1900 noch charakteristisch waren, gab es nach 1900 nicht mehr.1 Dieser Befund ist deshalb bemerkenswert, weil manches darauf hindeutet, dass die Vormundschaftsrichter schon bald nach Inkrafttreten des BGB eine gewisse Routine im Entzugsverfahren entwickelten. Schließlich waren nicht nur die Eingriffsvoraussetzungen reichsrechtlich präzisiert worden, sondern es hatten sich auch die Anträge auf Sorgerechtsentzug schlagartig vermehrt. Eine häufige den Angaben persönlich vor dem Gerichte gegenübertreten zu können“. Das Hanseatische OLG trat dieser Ansicht entgegen, indem es klarstellte, dass es ein Gesetz, nach dem die Vormundschaftsbehörde oder das Landgericht verpflichtet wären, „vernommene Zeugen demjenigen gegenüberzustellen, der durch ihre Aussage belastet wird“ nicht gebe. (1902, L., H.T.M., Entscheid Hamb. AG). 1 Die durchschnittliche Länge der Beschlüsse aus dem 19. Jahrhundert (N=27) betrug rund 240 Wörter. In den Jahren 1900 bis 1914 umfassten die überlieferten Beschlüsse (N=51) demgegenüber etwas mehr als 310 Wörter. Beim kürzesten Beschluss handelte es sich um einen Vierzeiler, der mit knapp 40 Wörtern auskam (1894, Rosewe, Abt. II 6555). Der längste war hingegen eine ausführliche Auseinandersetzung mit rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten, die sich im Entwurf auf mehrere engbeschriebene, handschriftliche Seiten erstreckte und gut 1.000 Wörter umfasste (1884, Köhnsen, Abt. I 291).
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Befassung der Vormundschaftsbehörde mit „Gefährdungsfällen“ musste aber zu „handwerklicher“ Übung führen. Man könnte deshalb erwarten, dass auch die schriftlichen Entscheidungsbegründungen floskelhafter und knapper ausfielen, als dies nach der alten Rechtslage der Fall gewesen war. In die gleiche Richtung weist die Äußerung des angesehenen preußischen Vormundschaftsrichters Paul Köhne, der auf einer Jahresversammlung des DVAW erklärte, dass es nicht erforderlich sei, „daß die Dinge immer besonders ausführlich behandelt werden“.1 Diese Äußerung ist allerdings eher als ein Zeugnis für die weit verbreiteten Haltung unter Vormundschaftsrichtern und Jugendfürsorgevertretern denn als ein Beleg für die tatsächliche Praxis zu werten. Gerade der Kontext, in dem diese Aussage getroffen wurde, zeigt nämlich, dass die Vertreter der kommunalen Armenfürsorge, die für die Unterbringung der von ihren Eltern getrennten Kindern aufkommen mussten, eine solche pragmatische Herangehensweise für problematisch hielten. Und mit dem erweiterten Beschwerderecht, das durch das Reichsgesetz über die „Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FGG) normiert worden war, verfügten sie auch über ein wirksames Mittel, um eine gewisse Gründlichkeit bei der Abfassung der Beschlüsse durchzusetzen. Bezogen auf die Hamburger Verhältnisse bietet sich demnach eine differenziertere Erklärung für die beobachtete Entwicklung an. Zum einen waren die Unsicherheiten und Skrupel, welche die Rechtsanwendung vor 1900 noch entscheidend geprägt hatten und ihren Niederschlag in umständlich formulierten Entscheidungsbegründungen fanden, nach 1900 einer gewissen Routiniertheit gewichen. Vormundschaftsgerichtliche Beschlüsse von 1.000 Worten und mehr waren nach der Jahrhundertwende nicht mehr nötig und – unter dem gesteigerten Arbeitsanfall – wohl auch kaum noch möglich. Auf der anderen Seite stieg die Notwendigkeit, die Beschlüsse sorgfältig auszuarbeiten, weil das FGG den Kreis der Beschwerdeberechtigten deutlich ausgedehnt hatte und immer häufiger auch Behörden den Rechtsweg beschritten, um ihre Interessen durchzusetzen. Der Umstand, dass im Ergebnis die Beschlüsse nach 1900 nicht kürzer, sondern sogar etwas länger wurden, hing vermutlich vor allem damit zusammen, dass selbst ablehnende Beschlüsse im Wege der Beschwerde angegriffen werden konnten und vom WHK auch regelmäßig angegriffen wurden. In einem engen Zusammenhang mit der Länge der Beschlüsse stand ihre Gliederung. Es lassen sich hier zwei Gestaltungstypen unterscheiden:
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Das erste, ältere Muster, war final angelegt und reihte in konditionalen Nebensätzen eine nahezu beliebige Anzahl von Sachverhaltsfeststellungen aneinander, um schließlich am Ende, im Hauptsatz, die Entscheidung der Be-
Stenogr. Berichte DVAW 1903, S. 40.
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hörde wiederzugeben. Da die einzelnen Sachverhaltsfeststellungen jeweils mit einem „da“ eingeleitet wurden, das Ergebnis aber mit einem „daß“, kann hier zur Typisierung vereinfachend von einer „Da-dass“-Struktur gesprochen werden.1 Das zweite, initial angelegte, modernere Muster entsprach im Wesentlichen der Dreiteilung, die sich bei strafrechtlichen Entscheidungen durchgesetzt hatte: Im „Tenor“ genannten Kopf des Beschlusses wurde in sehr knapper Form das Ergebnis der Beschlussfassung festgehalten. Zur eindeutigen Identifizierung des Beschlusses enthielt der Tenor außerdem das Datum des Beschlusses sowie die wichtigsten Angaben zur Person der betroffenen Erziehungsberechtigten, ihrer Kinder und der an der Entscheidung beteiligten Richter. Dem Tenor folgte ein deutlich abgesetzter, mehr oder weniger umfangreicher und unterschiedlich stark strukturierter Begründungsteil. Gelegentlich wurde noch ein separater Tatbestands-Teil zwischen Tenor und Begründung eingeschoben. Gewöhnlich leiteten jedoch Angaben zu den Motiven des Entzugsantrags sowie der Gang und die Ergebnisse der tatbestandlichen Ermittlungen den Begründungsteil ein. Dieser Abschnitt des Beschlusses wurde deshalb häufig mit „Tatbestand und Gründe“ überschrieben.2
Während im 19. Jahrhundert noch ganz eindeutig die „Da-dass“-Struktur vorherrschend war, so wurde sie nach der Jahrhundertwende zunehmend ungebräuchlicher. Zwar ließen sich selbst lange Beschlüsse in die Form eines einzelnen Satzes kleiden. Je komplexer aber der darzustellende Sachverhalt war und je differenzierter auf das Für und Wider einer Entscheidung eingegangen werden musste, desto abenteuerlicher und unverständlicher wurden die grammatikalischen Konstruktionen.3 Die moderne Dreiteilung in „Tenor“, „Tatbestand“ und „Gründe“ ließ sich demgegenüber viel flexibler handhaben und verlieh den Beschlüssen auch insofern eine gewisse Autorität und Würde, als sie die Form der Urteile der ordentlichen Gerichte nachahmte. Gerade auch bei Auseinandersetzungen, die sich der strengen Subsumptionslogik entzogen, war der lockerere Aufbau von Vorteil. Nicht zuletzt aber war die moderne Dreiteilung auch „lesefreundlicher“: Das Wichtigste kam zuerst, und nur derjenige Leser, der wirklich 1 Vgl.: 1903, Wietschenk, D Bl. 16., 1902, N., BlHWpfl. 1904, Mangels, Sammlung, 1906, Hagen, Abt. I 5181, Bl. 64. Ein Beispielsbeschluss diesen Typs ist über den „OnlinePlus“-Service des VSVerlags einzusehen unter: www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/ 2 Ein Beispielsbeschluss diesen Typs ist über den „OnlinePlus“-Service des VS-Verlags einzusehen unter: www.vs-verlag.de/buch/ 0783-531-17625-3/ 3 Am deutlichsten wurde dies an zwei überdurchschnittlich langen Beschlüssen aus den Jahren 1884 und 1904 (1883, Crause, Serie III 3776, unpaginierter Beschluss vom 17.12.1884 u. 1884, Mangels, Sammlung).
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wollte, vertiefte sich in die anschließenden rechtlichen und ermittlungsbezogenen Erörterungen. Die sukzessive Verlängerung der schriftlichen Beschlüsse und der daran gekoppelte Wandel des standardmäßigen Aufbaus bildeten demnach die zwei wichtigsten formalen Veränderungen der Beschlüsse im Verlauf der untersuchten 30 Jahre.
5.5.4.2 Die inhaltliche Ausgestaltung der Beschlüsse Ähnlich markant, wenn auch schwieriger zu erfassen waren die Veränderungen, denen die Beschlüsse auf inhaltlicher und argumentatorischer Ebene unterlagen. Mit dem Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 war auch ein Wechsel des begrifflichen Bezugssystems verbunden gewesen. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „ehrloses und unsittliches Verhalten“ oder „Gefährdung“ und „Missbrauch“, die in Hamburg bisher ungebräuchlich waren, mussten erst mit Inhalt gefüllt und auf ihre praktische Tauglichkeit erprobt werden. Eine wesentliche Neuerung bestand auch darin, dass zur Auslegung der Eingriffsnorm des § 1666 BGB schon bald zahlreiche Hilfsmittel in Form von Rechtskommentaren und Entscheidungssammlungen zur Verfügung standen, während ein solches richterliches Handwerkszeug im 19. Jahrhundert noch nahezu vollständig fehlte.1 Auf der anderen Seite waren natürlich auch die Kontinuitäten in der inhaltlichen Ausgestaltung der Beschlüsse im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht zu übersehen. Obwohl die restriktive Auslegung der Eingriffsnorm nach der Jahrhundertwende einer massenhaften Anwendung gewichen war, wurde weder vor noch nach 1900 bei der Abfassung der Beschlüsse eine strenge Subsumptionstechnik befolgt. In beiden Zeitabschnitten waren die Beschlüsse um logische Konsistenz und argumentatorische Stringenz bemüht; hinsichtlich des Sprachgebrauchs aber hoben sie sich kaum von den Stellungnahmen ab, die Lehrer, Vormünder oder Waisenund Armenpfleger im Vorverfahren abgaben. Die tatbestandlichen Feststellungen waren über die 30 untersuchten Jahre hinweg mit askriptiven Begrifflichkeiten durchsetzt, bei der Konstruktion von „Kausalitäten“ verließen sich die Verfasser ganz offenkundig auf ihren Alltagsverstand und auch die einzelnen Tatbestandsmerkmale wurden kaum je sorgfältig auseinandergehalten.2 Trotz ihrer 1 Eine Ausnahme stellte hier Brandis [1895], S. 552 f. dar, dessen Ausführungen zu den Eingriffstatbestände im Rahmen der allgemeinen Grundsätzen des „elterlichen Mundiums“ allerdings ebenfalls nicht sehr ergiebig waren. 2 Letzteres war offenbar auch für den Umgang der Vormundschaftsrichter mit den Tatbestandsvoraussetzungen der öffentlich-rechtlichen Zwangserziehung kennzeichnend. So beklagte Paul Köhne in einem Kommentar zur Durchfürung des preuß. FEG von 1904, dass die Vormundschaftsrichter „in der Allegirung der Gesetzesvorschriften [...] nicht immer ganz vorsichtig“ seinen, weil sie in ihren
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Verankerung im Bürgerlichen Gesetzbuch stellten die Eingriffe in die elterlichen Rechte während des gesamten ins Auge gefassten Zeitraumes auf die Wiederherstellung der moralischen Ordnung ab. Das galt – mit Abstrichen – auch für die Entscheidungen der nachgeordneten Instanzen. Erst für die letzten Jahre der Untersuchungsperiode sind einige wenige Beschlüsse des Landgerichts als mittlerer Beschwerdeinstanz überliefert, bei denen das „öffentliche Interesse“ in den Hintergrundtrat und das Kindesinteresse zum bestimmenden Gesichtspunkt der Erörterungen wurde.1
5.5.4.2.1 Die Ausdeutung der Tatbestandsvoraussetzungen vor Inkrafttreten des BGB In den Beschlüsse der Jahre 1884 bis 1899 fehlten noch jegliche Anzeichen, die darauf hindeuten, dass die Richter darum bemüht waren, die berichteten Sachverhalte systematisch zu erfassen und einem der rechtlichen Eingriffstatbestände zuzuordnen. Für diese Phase war, wie weiter oben gezeigt wurde, eine sehr restriktive Anwendung des staatlichen Eingriffsrechts kennzeichnend. Zumal die ablehnenden Beschlüsse fielen äußerst knapp aus und boten für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen keinen Raum. Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden näher zu bestimmen, wie die Tatbestandsvoraussetzungen der Hamburger VO in der Praxis ausgelegt wurden. Das Gesetz kannte mit der „Vernachlässigung der Erziehung“ und der „schlechten Behandlung der Kinder“ zwei unabhängige und mit der „Erforderlichkeit“ eine zusätzliche, übergeordnete Eingriffsvoraussetzung. Physische Gewaltanwendung in der Erziehung, das zeichnete sich bereits in der Analyse des Untersuchungsverfahrens ab, reichte auch in den Augen der Richter nur in den seltensten Fällen aus, um für sich genommen einen Eingriff in die elterlichen Rechte zu rechtfertigen. Zumeist begnügten sich die Vormundschaftsbehörde bei festgestellter Übertretung des elterlichen Züchtigungsrechts mit einer „ernstlichen Verwarnung“. Ein sowohl hinsichtlich seiner Form als auch seines Inhalts typischer Beschluss aus dem Jahre 1883 lautete etwa: „B. daß auf den Antrag der Vormünder für dieses Mal von weiteren Schritten gegen den Vater Karl Schmid zwar abzusehen, derselbe aber hiermit zu verwarnen sei sich künftig hin keiner Misshandlungen des Kindes schuldig zu machen.“2
Überweisungsbeschlüssen gleich mehrere Rechtsgründe angaben, die sich genau genommen gar nicht vereinbaren ließen. Köhne [1904], S. 529. 1 Vgl.: 1908, S., Entscheid. Hamb. AG und 1914, Schulz, Sammlung. 2 1883, Schmid, Serie III 2650. Vgl. außerdem: 1885, Thode, Abt. I 938, 1893, Lehmann, Abt. II 5541, 1894, Becker, Abt. I 6432.
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Die äußerst knappe Fassung solcher Beschlüsse ist vor allem darauf zurückzuführen, dass ein Eingriff eben nicht erfolgt war. Wenn nicht in private Rechte interveniert werden musste, so erübrigte sich auch eine umständliche Rechtfertigung der Entscheide. Wegen der reduzierten Form ablehnender Beschlüsse lässt sich auch nur schwer bestimmen, welche Handlungen und Tatsachen die Richter überhaupt in die Kategorie der „schlechten Behandlung“ eingeordnet hätten. So häufig der Begriff auch im Zusammenhang mit körperlicher Misshandlung in den Personenakten anzutreffen war – in den Beschlüssen spielte er so gut wie keine Rolle. Hierin ist einer der wenigen und deshalb umso bezeichnenderen Unterschiede im Sprachgebrauch der Zeugen und ermittelnden Rechtslaien auf der einen und der Richter auf der anderen Seite zu sehen. Der unterschiedliche Stellenwert des Begriffs der „schlechten Behandlung“ in Zeugenaussagen und Beschlüssen war nicht nur seiner rechtlichen Unbrauchbarkeit geschuldet; in ihm drückte sich auch die Kluft in der Problemwahrnehmung der einfachen Bevölkerung und der Vormundschaftsrichter aus. In den Augen der Richter wurden nach landläufiger Meinung offenbar zu viele Kinder für „schlecht behandelt“ gehalten, als dass man sie alle ihren Eltern hätte wegnehmen können. Schon für die Zeit vor 1900 lässt sich allerdings die Tendenz feststellen, alle aktiven Handlungen, die mehr oder weniger bewusst auf eine dauerhafte körperliche oder sittliche Schädigung des Kindes hinausliefen, als missbräuchliche Ausübung der elterlichen Rechte und Pflichten auszulegen. Eine fortgesetzte harte Bestrafung durch Aussetzung oder Einsperrung konnte unter Umständen ebenso gut zur Untermauerung eines Absetzungsbeschlusses dienen wie eine übermäßige Ausnutzung der Körperkräfte des Kindes durch die Übertragung schwerer Hausarbeiten oder die Anleitung zu strafbaren Handlungen wie Betteln, Diebstahl und dergleichen mehr.1 Selbst die Weigerung der Eltern, das Angebot der öffentlichen Waisenpflege in Anspruch zu nehmen, wurde in diesem Sinne ausgelegt. In der Rechtspraxis konturierte sich somit bereits vor 1900 der amorphe Missbrauchstatbestand, der erst mit dem Inkrafttreten des BGB zur rechtlichen Grundlage der Eingriffe werden sollte. Viel häufiger als die „schlechte Behandlung“ durch die Eltern wurde in den Beschlüssen die „Vernachlässigung der Erziehung“ als Grund des staatlichen Eingriffs benannt. Hier bestätigte sich noch einmal der schon früher gewonnene Eindruck, dass das Bürgertum des 19. Jahrhunderts weniger eine uferlose und unbekümmerte Ausübung des elterlicher Züchtigungsrechts für problematisch
1 So wurde ein Absetzungsbeschluss aus dem Jahre 1884 u.a. auf den Umstand gestützt, dass die betroffenen Kinder „bereits gewerbsmäßig betteln, daß zwei der Knaben bereits wegen Diebstahls bestraft sind, während die Eltern wegen Hehlerei in Untersuchung gezogen sind“ (1884, Prödel, Abt. II 207).
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hielt als vielmehr die Nichterfüllung elterlicher Pflichten und das angebliche Schwinden ihres Verantwortungsgefühls. Bei der Auslegung des Vernachlässigungsbegriffs zeigte sich eine ähnliche Unsicherheit wie bei der „schlechten Behandlung“. Offenbar hielten die Richter die Feststellung einer „Vernachlässigung“ der elterlichen Verpflichtungen nur in Ausnahmefällen für hinreichend, einem Vater oder einer Mutter die Kinder abzunehmen. Im Ergebnis wurden die oben genannten Eingriffsvoraussetzungen also nicht alternativ geprüft; die Vormundschaftsbehörde sah sich vielmehr nur dann zur Intervention berechtigt, wenn sich Anhaltspunkte für das Vorliegen beider Tatbestandsmerkmale ergaben.1 Ließen sich nicht genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen beider Tatbestandsvoraussetzungen finden und erschien es deshalb zweifelhaft, ob der Eingriff wirklich „erforderlich“ war, so musste wenigstens die „Vernachlässigung“ eine so gravierende sein, dass sie das Fehlen von Anzeichen „schlechter Behandlung“ ausglich. Am Beispiel des 1884 gegen den Buchbinder Köhnsen ergangenen Beschlusses lässt sich eine solche Verlagerung der Gewichtung exemplarisch nachvollziehen: „Nicht weil ein Fall der Misshandlung oder auch nur der üblen Behandlung der Kinder vorliegt, hat die Beh. so wie erkannt, entschieden, sondern weil das Recht der Eltern, ihre Kinder bei sich zu haben und selbst zu erziehen, dann zurücktreten muß hinter das Interesse der Kinder, wenn die Zustände in der elterl. Wohnung so verkommene sind, daß das Wohl der Kinder gebieterich erheischt, sie denselben zu entreißen.“ (1884, Köhnsen, Abt. I 291, Bl. 9)
Es lassen sich in diesem Zusammenhang drei Techniken zur rhetorischen Steigerung des Vernachlässigungsgrades unterscheiden. Zum einen wurde die Schwere der Pflichtversäumnisse regelmäßig dadurch unterstrichen, dass von „erheblicher“ oder „gröblicher“ Vernachlässigung die Rede war.2 Eine zweite Möglichkeit bestand darin, die „Vernachlässigung“ dem schlechten Charakter eines Elternteils oder beider Eltern zuzuschreiben und sie damit gewissermaßen „auf Dauer“ zu stellen.3 Die dritte Möglichkeit, das Ausmaß elterlicher Pflichtverges1 Gut veranschaulichen lässt sich diese kombinierte Feststellung der Verabsäumung der elterlichen Aufsichts-, Ernährungs- und Erziehungspflichten auf der einen Seite und der inadäquaten Handhabe ihrer Rechte auf der anderen Seite an einem Beschluss aus dem Jahre 1884, in dem es hieß: „Den Eltern aber, welche thatsächlich in solchem Grade bewiesen haben, daß sie zur Erziehung von Kindern ungeeignet sind und die sich obendrein denjenigen Maßregeln widersetzen, die im Interesse der Kinder und zur Besserung ihrer Lage behördlicherseits angeordnet wurden, war die Vormundschaft über die Kinder zu entziehen.“ (1884, Prödel, Abt. II 207, Bl. 13) 2 1882, Palau, Serie III 1558, PE 2507.1882; 1884, Prödel, Abt. II 207, Bl. 13 3 Die mildeste Form der Personifizierung des Vernachlässigungsgrundes bestand noch darin, dass der Mutter oder dem Vater bescheinigt wurde, sie oder er seien „zur Erziehung vollständig ungeeignet“ (Vgl.: 1882, Clemens, Serie III 1537; 1884, Prödel, Abt. II 207; 1894, Rosewe, Abt..II 6555). Sehr
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senheit hervorzuheben, bestand schließlich in einer Ausdifferenzierung des „Vernachlässigungsbegriffs“ selbst. Ähnlich wie bei der „Verwahrlosung“ und dem ins positive gewendeten „Kindeswohlbegriff“ des BGB wurde auch in den Beschlüssen der Hamburger Vormundschaftsbehörde zwischen einer „körperlichen“ und einer „moralischen“ Vernachlässigung unterschieden, und auf Letztere wurde gewöhnlich sehr viel mehr Gewicht gelegt als auf Erstere. Indem die Behördenmitglieder eine Gefährdung von Kindern durch das bloße Vorleben eines sittlich zweifelhaften Beispiels durch die Eltern konstruierten, griffen sie eine Problemwahrnehmung auf, die in Hamburg seit Wichern fest etabliert war. Darüber hinaus dehnten sie den „Vernachlässigungsbegriff“ so weit aus, dass er mühelos auch den Tatbestand des „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“ mit abdeckte, der erst nach dem Inkrafttreten des BGB zur Interventionsgrundlage wurde. So wie das Kriterium der „Erforderlichkeit“ die Eingriffe wegen „schlechter Behandlung“ seitens der Eltern in engen Grenzen hielt, so wurden allerdings auch die Interventionen zugunsten körperlich oder moralisch „vernachlässigter Kinder“ durch zwei ungeschriebene Rechtsgrundsätze beschränkt. Zum einen galt nämlich schon vor 1900 das so genannte Verschuldensprinzip, wonach nur solche Eltern von ihren Rechten entbunden werden konnten, die ihre Kinder schuldhaft vernachlässigt hatten; und zum anderen stellte sich die Frage, ob und in welcher Weise das elterliche Verhalten überhaupt eine „Gefahr“ für die Kinder darstellte. Anders als bei der missbräuchlichen Anwendung elterlicher Rechte, bei der die Zurechnung von Handlung und Wirkung gewöhnlich keinerlei Schwierigkeiten bereitete, ergab sich also bei elterlichen Pflichtversäumnissen ein doppeltes Kausalitätsproblem: Es musste einerseits nachgewiesen werden, dass die Eltern überhaupt etwas „dafür konnten“, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkamen, und andererseits musste festgestellt werden, inwieweit ihr Verhalten eine negative Beeinträchtigung des „Kindeswohls“ nach sich zog. Weder für die Zeit vor noch für die Zeit nach der Jahrhundertwende kann behauptet werden, dass die Vormundschaftsrichter dem Problem der Kausalität in ihren Beschlüssen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Man beviel unverblümter wurden Eltern in anderen Beschlüssen jedoch als „heruntergekommene Menschen“ oder gar als „verkommene, dem Trunke ergebene Individuen“ tituliert (1884, Dorndorf, Abt. I 263; 1893, Stroß, Abt. II 5875). Die Verfasser der Beschlüsse zögerten hier offenbar keinen Moment, die negativen Zuschreibungen der ermittelnden Instanzen zu übernehmen. Dass diese Stilisierung aber einer inhärenten Logik folgte, nach der nur „gänzlich verkommene“ Eltern aus ihren Rechten entsetzt werden durften, lässt sich indirekt einem ablehnenden Beschluss aus dem Jahre 1884 entnehmen. Dort hieß es u.a.: „da aber über die behauptete, gänzliche Verkommenheit des Vater Erhebliches im Uebrigen nicht erwiesen ist, und es zweifelhaft erscheinen muß, ob die bis jetzt erwiesenen Thatsachen genügen, um einem leiblichen Vater die Erziehung seiner Kinder gänzlich zu nehmen.“ (1883, Crause, Serie III 2776).
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gegnete derlei Frage mit dem Alltagsverstand, nach dem es nicht zweifelhaft sein konnte, dass ein Trinker selbst schuld daran war, wenn er seine Arbeit verlor und infolgedessen weder physisch noch psychisch in der Lage war, seinen väterlichen Pflichten nachzukommen.1 Präsent war das Kausalitätsproblem in der Entzugspraxis gleichwohl von Anfang an. Es sei hier daran erinnert, dass das Hanseatische OLG die Vormundschaftsbehörde bereits im Falle Köhnsen gezwungen hatte, ihren Beschluss zurückzunehmen, weil es die Annahme für unbegründet hielt, „daß die Kinder von ihren Eltern moralisch vernachlässigt werden und die Unfähigkeit des Vaters, seine Kinder zu ernähren, an sich einen genügenden Grund zur Entfernung desselben von der Vormundschaft nicht enthält“ (1884, Köhnsen, Abt. I 291, Bl. 14). In einem knapp zehn Jahre später verfassten Beschluss war es dann die Vormundschaftsbehörde selbst, welche die „Gefährdungsfrage“ aufwarf, indem sie die Voraussetzungen erörterte, unter denen sich das moralisch verwerfliche Verhalten eines Kneipenwirtes und seiner Ehefrau negativ auf ihre noch sehr jungen Kinder auswirken würde: „So belastend nun auch die Aussagen dieser Zeugen waren, namentlich wenn hinzugerechnet wird, was außerdem schon aktenkundig gegen den Vater feststand, und so widerlich auch das persönliche Auftreten des Vaters war, so konnte die Beh. sich doch noch nicht entschließen, dem Antrage der Waisenhaus-Direction damals schon zu entsprechen, denn es handelte sich doch immer um einen sehr schweren Eingriff in die natürlichen Rechte des Vaters, und wenn auch das Treiben in der Wirtschaft der Eltern zweifellos ein sehr schlimmes ist, so stand doch nicht fest, daß die kleineren Kinder unvermeidlich mit diesem Treiben in Konnex kommen müßten. Endlich waren die von den Eltern erlittenen Vorstrafen nicht so gravirend, daß deßhalb schon die Erziehungsrechte abgesprochen werden mußten. [...] Die polizeiliche Auskunft hat aber des Weiteren zu Tage gefördert, daß auch diejenigen Kinder, die noch bei den Eltern sich befanden, arg gefährdet sind, und es ist die Pflicht der Beh. auch zum Besten dieser Kinder, die schon mehr oder weniger verwahrlost zu sein scheinen, rettend einzugreifen.“ (1893, Stroß, Abt. II 5875, Bl. 17)
Restriktiv gehandhabt, das zeigt dies Beispiel deutlich, wurden also nicht nur die Eingriffsgesuche, die von Privatpersonen ausgingen, sondern auch jene Anträge, die von den Fürsorgebehörden gestellt wurden. Allerdings hielt sich der daraus resultierende Konflikt zwischen Vormundschaftsbehörde und WHK solange noch in engen Grenzen, wie sich letzteres in der Sicherheit wiegen konnte, dass ihm seine vormundschaftliche Stellung das Recht gab, den Eltern auch ohne vormundschaftsgerichtlichen Eingriff die Herausgabe ihrer Kinder zu verwei-
1 Für ebenso selbstverständlich hielten es die Richter offenbar, dass sexuell abweichendes Verhalten seitens der Eltern zu einer Korrumpierung der sittlichen Empfindungen der Kindern führe.
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gern.1 Bemerkenswert ist an dem zitierten Beschluss außerdem, dass die Vormundschaftsbehörde das Kausalitätsproblem löste, indem sie erste Anzeichen von „Verwahrlosung“ bei den Kindern konstatierte. Schon in einer Entscheidung aus dem Jahre 1884 hatte das Hanseatische OLG einen solchen Ausweg ausdrücklich gebilligt.2 Der Idee einer vorbeugenden Fürsorgeerziehung, wie sie zur damaligen Zeit von den Fürsorgereformern entwickelt wurde, entsprach ein solches Vorgehen aber nur bedingt. Im Grunde genommen lief diese Art der Rechtfertigung nämlich der Zielsetzung der Reformverfechter zuwider, nach der die staatlichen Eingriffe so frühzeitig ansetzen sollten, dass die „Verwahrlosung“ gar nicht erst in Erscheinung treten konnte. 5.5.4.2.2 Die Ausdeutung der Tatbestandsvoraussetzungen nach Inkrafttreten des BGB Wie änderte sich nun die Darstellung und Begründung der vormundschaftsgerichtlichen Entscheide nach dem Inkrafttreten des BGB? Am auffälligsten war, wie bereits erwähnt, die Veränderung der Form der Beschlüsse: Sie wurden länger und an die Stelle der umständlichen „Da-dass“-Struktur trat die moderne Dreigliederung. Inhaltlich war zudem mit der reichsweiten Vereinheitlichung der Eingriffsnorm ein Wechsel des begrifflichen Bezugssystems verbunden gewesen. Die Richter mussten sich, ob sie wollten oder nicht, an den neu eingeführten unbestimmten Rechtsbegriffen „abarbeiten“. Allerdings gab es zunächst anscheinend auch in Hamburg eine kurze Phase der unbekümmerten Rechtsauslegung.3 Exemplarisch steht hierfür ein Beschluss vom November 1900: „Beschluß: Der Vater ist in den letzten Jahren zu wiederholten Malen wegen Bettelns gerichtlich bestraft und wiederholt von der Polizei-Behörde in trunkenem Zustande auf der Straße aufgegriffen worden. Nach dem am 10. Oktober dieses Jahres erstatteten Bericht ist Rosewe ein arbeitsscheuer und dem Trunke ergebener Mensch, welcher deshalb durchaus ungeeignet erscheint, seine Kinder zu erziehen. Er selbst giebt zu, nicht imstande zu sein, die Sorge für die Person seiner Kinder zu übernehmen und ihren Unterhalt zu gewähren. Da somit das körperliche und geistige Wohl seiner Kinder gefährdet erscheint, wenn er die Sorge für die Person derselben ausüben würde, so erscheint es gerechtfertigt,
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Vgl.: Teil 3, S. 389 ff. 1884, Prödel, Abt. II 207. 3 Vgl. zur Anzeigenflut, die das Inkrafttreten des § 1666 BGB in der Hansestadt ausgelöst hatte, oben, S. 516 ff. 2
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ihm auf Grund von § 1666 B.G.B. diese Sorge sowie die Vertretung seiner Kinder zu entziehen und den minderjährigen Kindern desselben einen Pfleger zu bestellen. Für die bereits in Waisenpflege befindlichen Kinder hat das Waisenhauskollegium in Gemäßheit § 75 E.G. die Rechte und Pflichten eines Pflegers.“ (1894, Rosewe, Abt. II 6555, Bl. 11)
Charakteristisch an diesen Ausführungen ist neben der bedenkenlose Übernahme der stereotypen Beschreibung, welche die ermittelnden Organe vom Vater gaben, vor allem die Bereitwilligkeit, schon dort von einer „Gefährdung“ auszugehen, wo der Vater noch nicht einmal den Versuch unternommen hatte, seine Kinder aus der Waisenpflege herauszuholen. Die Richter waren offensichtlich darum bemüht, dem WHK entgegenzukommen, und durch die neue Rechtsgrundlage schien dies zunächst auch viel besser als bisher möglich zu sein. Schon bald sahen sich die Vormundschaftsrichter jedoch gezwungen, sich näher mit den neuen Tatbestandsvoraussetzungen auseinanderzusetzen, denn Beschwerden gegen ihre Beschlüsse ließen nicht lange auf sich warten. Ganz allmählich engten die nachgeordneten Gerichte durch ihre Rechtsauslegung die gewonnenen Spielräume bei der Anwendung des Sorgerechtsentzugs wieder ein. Ob es sich nun um die unabhängigen Tatbestandsvoraussetzungen des „Missbrauchs“, der „Vernachlässigung“ oder des „ehrlosen oder unsittlichen“ Verhaltens handelte oder um die übergeordneten Bedingungen der „Gefährdung“, des „Verschuldens“ und der „Erforderlichkeit“ – all diese Begriffe wurden mit der Zeit präzisiert. Das führte zwar nicht zu einem anhaltenden Rückgang der Entzugszahlen. Es verhinderte aber, wie in Abschnitt 5.4.2 gezeigt werden konnte, ihren uferlosen Anstieg. Auch nach der Jahrhundertwende wurde in der Rechtsanwendung regelmäßig noch ein enger Bezug zwischen den drei unabhängigen Tatbestandsvoraussetzungen hergestellt. Wenn eine Mutter ihre Tochter etwa aus der Waisenpflege reklamierte, obwohl sie nur über ein sehr geringes Einkommen verfügte, außerhäusig tätig war und unter dem Verdacht stand, „gewerbsmäßige Unzucht“ zu treiben, so schienen gleich sämtliche alternative Bedingungen des § 1666 BGB erfüllt zu sein. Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist es jedoch erforderlich, die einzelnen Tatbestandsmerkmale und ihre Anwendung durch die Hamburger Vormundschaftsbehörde gesondert zu behandeln.
Die „missbräuchliche“ Ausübung der Personensorge Den Tatbestand des „Missbrauchs“ des Personensorgerechts im Sinne des § 1666 BGB hielt die Vormundschaftsbehörde vor allem dort für verwirklicht, wo sich Eltern hartnäckig weigerten, ihre Zustimmung zu erzieherischen Maßnahmen zu geben, welche die staatlichen Organe für angezeigt und notwendig erachteten.
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Nicht immer, aber doch in den meisten Fällen handelte es sich dabei um Mütter und Väter, die ihre Kinder aus der Waisenpflege reklamierten und von denen das WHK behauptete, sie seien zur Übernahme der Erziehung nicht geeignet oder in der Lage. Das vorgängige Einleiten staatlicher Erziehungsmaßnahmen wurde hier gewissermaßen zur Bedingung, dass sich Eltern überhaupt eines „Missbrauchs“ schuldig machen konnten. Nur ganz vereinzelt wurden demgegenüber Handlungen als „Missbrauch“ gewertet, die sich direkt auf den erzieherischen Umgang mit den Kindern bezogen.1 Kurz nach der Jahrhundertwende tendierte die Vormundschaftsbehörde noch dazu, fast jedem Antrag des WHK, die elterliche Reklamation eines Kindes durch einen Sorgerechtsentzug zu verhindern, stattzugeben. Dabei dürfte inerseits Bemühen ausschlaggebend gewesen sein, dem WHK zu einen Ersatz für die gesetzliche Anstaltsvormundschaft zu verhelfen; andererseits aber teilten die Richter offenbar auch die Auffassung der Antragstellerin, nach welcher der Ertrag langjähriger staatlicher Erziehungsbemühungen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden durfte, indem man Kinder Eltern zurückgab, deren Erziehungsbefähigung zweifelhaft erschien. Eine erste Korrektur dieser lockeren Handhabe des Missbrauchstatbestandes wurde durch eine Grundsatzentscheidung des Hanseatischen OLG vom Frühjahr 1901 vorgenommen. Das Gericht stellte klar, dass es „dem Gesetze widersprechen würde [...], wenn man von dem Gedanken ausgehen wollte, daß der § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches schon dann zur Anwendung gebracht werden könnte, wenn sich nur herausstellt, daß der Vater dem Kinde nicht die Sorge zu Theil werden läßt, welche andere Kinder derselben Lebensstellung von ihren Vätern erfahren oder welche denselben etwa durch anderweitige Fürsorge, z.B. durch die des Staats zu Theil werden könnte“.2 Es reichte also nicht mehr aus, eine erhebliche Verschlechterung der Erziehungs- und Lebensumstände infolge einer Reklamation zu konstatieren, um die Eltern wegen missbräuchlicher Ausübung ihrer Rechte zu belangen. Weder der Standard, den die Hamburger Waisenpflege erreicht hatte, noch die durchschnittlichen Lebensverhältnisse, die man in Arbeiterfamilien antraf, konnten nach Meinung des OLG als Maßstab zur Bestimmung der erzieherischen Pflichten und ihrer Verabsäumung dienen. Nur 1
So wurde mit einem Beschluss von 1902 gegen einen Vater wegen missbräuchlicher Ausübung des Sorgerechts vorgegangen, weil dieser seinen neunjährigen Sohn auf eine mehrtätige Kneipentour in die südliche Altstadt und ins angrenzende Hammerbrook mitgenommen, ihm Kümmel zu trinken gegeben und seine Kleider gegen Schnaps eingetauscht hatte (1902, Jablonsky, BlHWpfl). 1907 musste sich ein Vater einen gerichtlichen Eingriff in sein Sorgerecht gefallen lassen, weil in seinem Versuch, die jugendliche Tochter von ihrem Freund zu trennen, indem er ihr einen Dienst bei einem lange Zeit stationär-psychiatrisch behandelten Sektenführer verschaffte, ein schuldhafter Missbrauch seiner väterlichen Rechte gesehen wurde. (1908, S., Entscheid. Hamb AG). 2 1901, K., F.J.H., Entscheid. Hamb AG.
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wenn die Eltern ihre Rechte fortgesetzt so anwandten, dass dies die fundamentalsten Bedürfnisse ihrer Kinder auf körperliche und sittliche Integrität verletzte, kam somit ein Sorgerechtsentzug in Frage. Es mussten demnach zum eigenmächtigen Handeln der Eltern und der damit verbundenen Verschlechterung der allgemeinen Lebensumstände noch zusätzliche Merkmale hinzutreten, damit eine Reklamation als „Missbrauch“ gewertet werden konnte. Neben Anhaltspunkten fortgesetzter „Vernachlässigung“ oder sittlich verwerflichen Verhaltens, auf die weiter unten noch zurückzukommen ist, eignete sich hierfür vor allem die Motivierung des elterlichen Herausgabeanspruchs aus eigennützigen Absichten. Wenn Eltern also Mädchen reklamierten, um sie für Haushaltstätigkeiten oder die Beaufsichtigung jüngerer (Stief)Geschwister heranzuziehen, oder es mehr oder weniger offensichtlichtlich auf den Zuverdienst ihrer schulentlassenen Kinder abgesehen hatten, so verstärkte das in den Augen des Gerichts den Verdacht, dass es sich um eine „missbräuchliche“ Ausübung des Personensorgerechte handelte. Im Jahr 1900 entzog die Vormundschaftsbehörde einer Mutter die Personensorge über ihre uneheliche, in Waisenpflege befindliche neunjährige Tochter, weil sie als Begründung ihres Herausgabeanspruches angegeben hatte, das Mädchen zur Pflege und Beaufsichtigung eines kaum halbjährigen Geschwisterkindes einzusetzen. Die Vormundschaftsbehörde sah den Tatbestand des „Missbrauchs“ erfüllt, weil diese Arbeit nach ihrer Auffassung die Körperkräfte des Mädchens überstieg und sein leibliches Wohl gefährde (1900, W., F.H.C.C., Entscheid. Hamb. AG). Zwei Jahre später griff die Vormundschaftsbehörde gegenüber der Mutter eines ungefähr 14jährigen Mädchens zur gleichen Maßregel, weil sie egoistische Motive hinter deren Reklamationsantrag witterte. Zur Begründung hieß es im Beschluss: „Jetzt aber, wo das Mädchen konfirmiert ist, will die Mutter es nach Hamburg nehmen. Dem widersetzt sich nun der zum Vormund bestellte Großvater auf das Entschiedenste, weil das Mädchen bei B. sehr gut aufgehoben sei und weil die Mutter es seines Erachtens nur ausnutzen wolle. [...] Wenn auch die Berichte der Polizeibehörde und des Gemeindewaisenrats die häuslichen Verhältnisse der Eheleute H. als geordnete bezeichnen und Nachteiliges über die Eheleute nicht zu ermitteln gewesen ist, so ist die Vormundschaftsbehörde doch mit dem Vormund der Ansicht, daß das Kind besser noch nicht zu der Mutter nach Hamburg kommt; diese hat sich in allen den Jahren nicht im geringsten um dasselbe gekümmert. [...] Da Sie plötzlich jetzt, wo das Mädchen verdienen kann, dasselbe nach Hamburg nehmen will, liegt daher die Vermutung nahe, daß es weniger die Liebe zu ihrer vorehelichen Tochter, als egoistische Gründe sind, die sie treiben. [...] Es muß demnach als ein Missbrauch der Sorge für die Person des Kindes angesehen werden, wodurch das leibliche Wohl desselben gefährdet wird, daß die Mutter das Kind jetzt, nachdem sie sich Jahre lang nicht im geringsten darum gekümmert hat, aus seiner guten Pflegestelle fort nach Hamburg nehmen will, wo der Aufenthalt gesundheitlich schädlich für sie wirken
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kann. – Es rechtfertigt sich demnach der erlassene Beschluß.“ (1902, Wibker, BlHWpfl.)1
Keiner der beiden Beschlüsse hielt einer Überprüfung durch das Beschwerdegericht stand. Im ersten Fall vertrat das Landgericht die Auffassung, dass es in den sozialen Kreisen, denen die Eltern angehörten, durchaus üblich sei, während der beruflichen Abwesenheit der Mütter insbesondere die heranwachsenden Töchter zur Betreuung jüngerer Geschwister heranzuziehen. Und im zweiten Fall wies es den Verdacht, die Mutter könnte es ausschließlich auf den Verdienst ihrer Tochter abgesehen haben, als bloße Vermutung zurück, der die glaubwürdige Angabe der Mutter entgegenstehe, dass sie ihrer Tochter in der Stadt einen leichteren Dienst verschaffen wolle und sie in Hamburg sehr viel besser ausbilden lassen könne, als dies auf dem Land möglich sei. In jedem Fall, das betonte das Landgericht in beiden zitierten Beschlüssen, sei es erforderlich, dass durch ärztlichen Attest einwandfrei bescheinigt werde, dass die Tätigkeit bzw. der Wohnortwechsel bei dem betreffenden Kind zu einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung führen werde. Wie sich einem späteren Beschluss entnehmen lässt, änderte die schein Vormundschaftsbehörde daraufhin ihre Praxis.2 Bemerkenswert an der Korrektur durch das LG ist neben der Entschiedenheit, mit der es die „Tatbestandsgesinnung“ einforderte, vor allem auch das Verständnis, das es gegenüber den Gepflogenheiten und Lebensumständen der Menschen aus dem Arbeiterstand bekundete. Die Richter des Landgerichts taten sich nicht nur durch Kenntnis und Rücksichtsnahme gegenüber der Arbeitsorganisation im proletarischen Haushalt hervor; sie zogen auch die damals noch vorherrschende Ideologie der gesundheitsfördernden und sittenbildenden Wirkung des Landlebens in Zweifel, auf der die offene Waisenpflege damals basierte.3 1 Auch Eingriffe gegenüber einigen reklamierenden Vätern rechtfertigte die Vormundschaftsbehörde mehr oder weniger explizit damit, dass die Töchter oder Söhne nur zur Erledigung des Haushalts bzw. zur Bestreitung des Lebensunterhaltes benutzt werden sollten. Vgl.: 1901, 1902 u. 1912, Wauge, D 157; 1900, St., A.M., Entscheid. Hamb. AG und 1901, 1903, Wiesiolek, D 153. 2 Vgl.: 1901, 1903, Wiesiolek, D 153, Bl. 10 3 Noch einen Schritt weiter in diese Richtung ging das Landgericht im Jahre 1909, als es einen vierzehn Tage zuvor getroffenen Beschluss der Vorinstanz aufhob, mit dem die Vormundschaftsbehörde einer unehelichen Mutter das Sorgerecht entzog, weil diese gegenüber dem Berufsvormund, d.h. dem Direktor des Waisenhauskollegiums, darauf bestanden hatte, ihren Sohn als Fabrikarbeiter zu beschäftigen, anstatt ihn in die Lehre zu geben. Ein Missbrauch der Personensorge, so stellte das LG in seinem Entscheid klar, könne in einem solchen Widerstreben der Mutter nicht ohne Weiteres gefunden werden, weil sich auch nicht allgemein sagen lasse, „daß das geistige Wohl eines Kindes dadurch vernachlässigt wird, daß es dem Arbeiter- anstatt dem Handwerkerstande zugeführt wird, besonders, wenn, wie vorliegendenfalls, ärmliche Verhältnisse in Frage stehen“. (1909, N., Entscheid. Hamb. AG)
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Auch in den vormundschaftsgerichtlichen Beschlüssen der späteren Jahre, die schwerpunktmäßig oder ausschließlich auf den Tatbestand des „Missbrauchs“ abstellten, spielten Meinungsverschiedenheiten zwischen den betroffenen Eltern und den Akteuren der staatlichen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen über die Erforderlichkeit pädagogischer Maßnahmen noch eine zentrale Rolle.1 Aber wie bei der Auslegung und Anwendung des § 1666 BGB insgesamt, so zeigte sich auch hier eine Tendenz zu einer eingehenderen Beschäftigung mit der individuellen Bedürfnislage der betroffenen Kinder und in der Folge zu einer differenzierteren Anwendung des Rechtseingriffs.2 Als 1907 eine als „hysterisch und unbelehrbar“ typisierte Mutter sich den Plänen ihres Beistandes widersetzte, zwei ihrer Kinder wegen „geistiger Abnormität“ auf eine Schule für Schwachbegabte zu schicken, sah sich die Vormundschaftsbehörde weder befugt, ihr die Personensorge über ihre sämtlichen Kinder zu entziehen, noch diese Rechte in Bezug auf die zwei fraglichen Söhne insgesamt und auf Dauer zu beschneiden. Vielmehr begnügte sie sich damit, das Recht der Schulwahl einem Rechtspfleger zu übertragen (1907, Hartig, BlHWpfl.). Gegen Väter, das bleibt auffällig, ging die Vormundschaftsbehörde offenbar nur vergleichsweise selten wegen missbräuchlicher Ausübung der Personensorge vor. Das kann zum einen daran gelegen haben, dass die Ausübung des väterlichen Herausgaberechts immer noch als unantastbar galt und nur dann als „Missbrauch“ gewertet wurde, wenn die Väter zuvor über einen langen Zeitraum ihre Erziehungs- und Unterhaltspflichten vernachlässigt oder einen „unehrenhaften“ Lebenswandel geführt hatten. Dann aber lag der Schwerpunkt eher auf den beiden anderen Tatbeständen denn auf dem Missbrauch. Es ist allerdings auch denkbar, dass die tendenzielle „Verschonung“ des männlichen Geschlechts in den Beschlüssen vor allem darauf zurückzuführen ist, dass Väter eher durch ihre erzieherische Absenz als durch ein rigides Festhalten an eigenen Erziehungsvorstellungen auffielen. Jedenfalls wurden Übertretungen des elterlichen Züchtigungsrechtes, an denen Väter sicherlich einen großen Anteil hatten, auch nach 1900 vergleichsweise nachsichtig behandelt. Von den knapp hundert EntzugsBeschlüssen, die für den Zeitraum 1900-1914 überliefert sind, betrafen nur ganze drei Entscheide Fälle von fortgesetzter körperlicher Misshandlung.3
1 So wurde 1906 einer Mutter das Personensorgerecht entzogen, weil sie einen unsoliden Lebenswandel führte und ihren Sohn nur unzureichend beaufsichtigte, v.a. aber sich konsequent geweigert hatte, denselben in die Alsterdorfer Anstalten aufnehmen zu lassen (1906, Wölfert, BlHWpfl.). 2 Vgl. hierzu auch den LG-Beschluss in Sachen Schultz in: 1914, Schultz, Sammlung. 3 Vgl.: 1902, Krohn, BlHWpfl; 1903, E., F.C., Entscheid. Hamb. AG und 1906, Tödt, BlHWpfl.
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Die „vernachlässigte“ Erziehung Ähnlich wie beim Tatbestand des Missbrauchs wurde auch die „Vernachlässigung“ der Erziehung häufig in Verbindung mit Reklamationen aus der Waisenpflege geprüft. Aber dieser Zusammenhang war doch erheblich schwächer ausgeprägt als bei den Erörterungen über die richtige Handhabung der elterlichen Rechte. Auch bei der „Vernachlässigung“ gab es die „eindeutigen“ Fälle, das heißt solche, die zwischen der Vormundschaftsbehörde und den Beschwerdegerichten kaum strittig waren. Im Laufe der Jahre schälten sich aber in der Praxis bestimmte zusätzliche Kriterien heraus, die bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals berücksichtigt werden mussten. Außerdem gab es wie beim „Missbrauch“ ganz typische, geschlechtsspezifische Konstellationen, die zu einer positiven Prüfung der Eingriffsvoraussetzung führten. Schließlich griffen auch bei der Auslegung der „Vernachlässigung“ die nachgeordneten Instanzen korrigierend in die Rechtssprechung der Vormundschaftsbehörde ein. Als klassisches Beispiel eines Sorgerechtsentzug wegen schuldhafter „Vernachlässigung“ der Personensorge kann ein Beschluss vom Oktober 1901 gelten: „Der Arbeiter resp. Lumpensammler Johann Nicolaus Weiß lebt von seiner Ehefrau getrennt und hält sich ohne feste Arbeit und ohne festen Wohnsitz bald hier bald dort auf. Er ist dem Trunke ergeben und als ein ganz verkommener Mensch zu betrachten, der jeden sittlichen Halt verloren hat. – Um die 8 aus der Ehe mit seiner Ehefrau stammenden minderjährigen Kinder kümmert er sich seiner eigenen Erklärung nach gar nicht, überlässt sie der Mutter und zahlt keine Alimente, sodaß die Familie der öffentlichen Armenpflege zur Last fällt. Hierdurch beweißt der Vater einen gröbliche Vernachlässigung der ihm als solchem obliegenden Pflichten indem er weder für die Erziehung noch für den Unterhalt der Kinder sorgt. [...] Hierdurch ist als festgestellt anzusehen, daß der Vater die Kinder vernachlässigte und ihre Rechte auf Gewährung des Unterhaltes verletzt hat, daß auch für die Zukunft eine erhebliche Gefährdung des Unterhaltes zu befürchten ist und rechtfertigt sich daher die getroffene Entscheidung.“ (1901, 1903, Weiß, D 159, Bl. 14)
Dass Vätern, die sich ganz von der Familie entfernt und diese mittellos zurückgelassen hatten, neben der Personensorge auch die Vermögenssorge entzogen wurde, kam häufiger vor. Selbstverschuldete Arbeitslosigkeit, Trunksucht und Vergeudung waren eine häufig wiederkehrende Kombination, auf die sich Beschlüsse wegen Vernachlässigung der Personensorge stützten.1 Auch bei Müttern spielte die Missachtung der Unterhaltspflicht zuweilen eine Rolle.2 Im Vorder1
Vgl. den bestätigenden Beschluss des LG in: 1902, M., R.E.G., Entscheid. Hamb. AG. Vgl. den gegen eine Prostituierte ergangene Beschluss aus dem Jahre 1906, der u.a. damit begründet wurde, dass die Mutter die Einkünfte aus ihrem „unsittlichen Gewerbe“ entgegen anderslautender 2
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grund der Argumentation der Vormundschaftsbehörde stand jedoch hier meist eine Verbindung aus unzureichender Beaufsichtigung der Kinder, geduldeten Schulversäumnissen und Achtlosigkeit in Bezug auf die Körperpflege und Bekleidung der Kinder.1 Eine besondere Argumentationsfigur, die zur Untermauerung von Eingriffen in das Personensorgerecht entwickelt worden war, bestand darin, dem Vater die Übertragung der Erziehungsaufgaben an die schlecht beleumundete Ehefrau als „Vernachlässigung“ auszulegen. Auf diese Weise konnte die Vormundschaftsbehörde auch gegen solche Väter einschreiten, die selbst ein „geordnetes Leben“ führten und nichts anderes getan hatten als die meisten andere Väter auch: Sie hatten die Erziehung der Kinder ihren Frauen überlassen. Der Eingriff machte sich hier am Lebenswandel der Mütter fest, aber er richtete sich gegen die sorgeberechtigten Väter. In einem Beschluss vom Oktober 1901 hieß es hierzu: „Die Eheleute Heyer leben seit 1897 getrennt, und die beiden Kinder befinden sich bei der Mutter. Bei dieser sind sie aber nach den angestellten Ermittlungen sehr schlecht aufgehoben. Diese ist dem Trunke ergeben und mehrfach bestraft wegen gewerbsmäßiger Unzucht, Kuppelei, Diebstahls und Unterschlagung. Ihre Wohnung und namentlich das Bettzeug ist höchst unsauber, die Kinder werden total vernachlässtigt. Sie bekommen kein warmes Essen und müssen oft hungern. – Obgleich nun der Vater wusste, wie schlecht die Kinder bei der Mutter aufgehoben waren, hat er sie dieser doch überlassen und zwar deshalb, um Ruhe vor ihr zu haben, wie er ausdrücklich selbst angegeben hat. Hierin muß eine solche Vernachlässigung der Kinder erblickt werden, daß dem Vater die Sorge für die Person derselben nicht länger belassen werden kann, da das geistige und leibliche Wohl derselben dadurch gefährdet werden würde.“ (1901, Heyer, Sammlung)
Handelte es sich um getrennt lebende oder bereits geschiedene Elternpaare, so bereitete dieses Rechtfertigungsmuster offenbar keine nennenswerten Schwierigkeiten.2 Probleme traten erst da auf, wo die Figur auch auf Väter übertragen wurde, die mit ehemaligen Prostituierten zusammenlebten und von ihrem Herausgaberecht gegen das WHK Gebrauch machen wollten. Als die Vormundschaftsbehörde 1902 einem Witwer die Personensorge über seine sieben Kinder Erklärungen nicht zur Bestreitung des kindlichen Unterhalts aufgewandt hatte (1906, Hagen, BlHWpfl.). 1 Vgl.: 1903, 1904, Grantin, Sammlung; 1903, 1904, Kempski, Entscheid. Hamb. AG und 1906, H. BlHWplf, 2 Vgl. die bestätigenden Beschlüsse des LG in den Fällen 1902, K., P.E.O., Entscheid. Hamb. AG; 1903, Sch., A.C.F., Entscheid. Hamb. AG sowie den offenbar nicht angefochtenen Beschluss in Sachen Ziemer (1903, Ziemer, Sammlung.) Ebenso ein in STAH 354-5 I, 226, Bl. 16 kolportierter „Fall Kiel“.
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entzog, weil er nach der Wiederverehelichung mit einer Frau, die in Hamburg und anderswo über 20 Jahre hinweg unter Sittenkontrolle gestanden hatte, seinen zwölfjährigen Sohn aus der Waisenpflege herausnehmen wollte, wurde dieser Beschluss vom Landgericht umgehend wieder aufgehoben. Nach Auffassung des Beschwerdegerichtes stellte die Geltendmachung des väterlichen Herausgabegesuch keinen „Missbrauch“ dar, weil die wesentliche Voraussetzung des „Verschuldens“ fehle.1 An diese Direktive hielt sich die Vormundschaftsbehörde dann in einem ähnlich gelagerten Fall, mit dem sie sich drei Jahre später befassen musste. Inzwischen hatte das Landgericht seinen früher eingenommenen Standpunkt aber wieder revidiert und hob den abweisenden Beschluss der Vorinstanz wieder auf, um seinerseits dem Vater das Personensorgerecht wegen schuldhaften „Missbrauchs“ und schuldhafter „Vernachlässigung“ zu entziehen. Bezeichnenderweise hielt das Landgericht es für erforderlich hervorzuheben, dass der Vater augenscheinlich „im Hause gegenüber seiner Frau keinen Einfluß“ habe.2 Der Beschluss zeigt exemplarisch, wie komplex die von der Vormundschaftsbehörde zu beurteilenden Sachverhalte teilweise waren und wie diffizil die Tatbestandsprüfung durch die Überlagerung von „Missbrauch“, „Vernachlässigung“ und „ehrlosem und unsittlichem Verhalten“ mitunter ausfiel. Meist lagen den Beschlüsse jedoch einfachere Sachverhalte zugrunde, und so schälten sich in der Rechtsprechung mit der Zeit spezifischere Kriterien zur Bestimmung des Tatbestandes der „Vernachlässigung“ heraus. So wurde das nachdrückliche Abstreiten der Vaterschaft ebenso als „Vernachlässigung“ gewertet wie die verweigerte Wiederaufnahme zweier aus der Haft zurückgekehrter Söhne in den elterlichen Haushalt.3 Eine „Vernachlässigung“ galt auch als festgestellt, wenn Eltern ihre „leichtsinnige“ Tochter nicht massiv genug daran hinderten, in Begleitung von Männern bis spät abends auszugehen.4 Eine entsprechend schwerwiegende Pflichtverletzung sah die Vormundschaftsbehörde darin, dass Väter und Mütter sich gegenüber dem „Schulelaufen“ oder kleineren Diebstählen ihrer Kinder unbeteiligt zeigten. Sporadisches Schulelaufen allein genüg1
1902, Riesberg, Sammlung. 1905, Froh, BlHWpfl. Der Vater Froh hatte seine 13-jährige Tochter aus der Waisenpflege zurückverlangt, nachdem er sich mit deren Mutter, von der er zeitweilig getrennt lebte, wieder zusammengetan hatte und dieselbe aus der sittenpolizeilichen Überwachung entlassen worden war. Während die Vormundschaftsbehörde sich nicht zum Eingreifen befugt sah, weil gegen den Vater selbst nichts vorliege und auch der frühere Lebenswandel der Frau zur Rechtfertigung einer Intervention nicht ausreiche, hielt es das Landgericht für ausgeschlossen, dass sich die Mutter in so kurzer Zeit gebessert habe oder der Vater das Kind hinreichend gegen ihren schlechten Einfluss schützen könne. 3 1901, von Bargen, BlHWplf und 1907, K., BlHWpfl. 4 1902, D.A., Entscheid. Hamb. AG. Den dem Beschwerdegericht vorgetragenen Einwand des Vaters, er habe seiner Tochter, um sie zu einem ordentlichen Lebenswandel zurückzuführen, eine Anstellung als Buffetdame verschafft, ließ das Gericht nicht gelten, weil es diese Art von Beschäftigung für ungeeignet hielt. 2
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te allerdings ihrer Auffassung nach nicht, um den Erziehungsberechtigten ihre Rechte zu nehmen.1 Auch wenn sich Eltern bei schwerwiegenden Erkrankungen oder Unfällen ihrer Kinder nicht genug um dieselben kümmerten, konnte dies als Beleg einer „Vernachlässigung“ herangezogen werden. In einem Fall, über den die Vormundschaftsbehörde 1902 zu urteilen hatte, interpretierte sie schließlich die Weigerung einer Mutter, der Waisenhausverwaltung eine Vollmacht zur Unterbringung ihrer Tochter in einer Dienststelle auszustellen, als „Vernachlässigung“. Wie beim Tatbestand des „Missbrauchs“, so war die Vormundschaftsbehörde auch bei den Versuchen, den Tatbestand der „Vernachlässigung“ mit Inhalten zu füllen, nicht auf sich allein gestellt. In mehreren Entscheiden hoben die Beschwerdegerichte wegen „vernachlässigter“ Personensorge ergangene Entzugsbeschlüsse der ersten Instanz wieder auf und korrigierten dadurch die Rechtspraxis der Vormundschaftsbehörde. Der bereits weiter oben zitierte Entscheid des Hanseatischen OLG vom Mai 1901 gab auch in Bezug auf die Ausdeutung und Anwendung des Vernachlässigungsbegriffs die Richtung vor. In seinem Beschluss führte das Gericht aus, dass die Unbestimmtheit des Rechtsbegriffs dadurch bedingt sei, dass „die Beurtheilung der Frage, ob ein Kind von dem Vater in dem Grade vernachlässigt wird, daß sein geistiges oder leibliches Wohl gefährdet erscheint, von den Umständen des einzelnen Falles abhängt“. Zu diesen „Umständen“ zählte das OLG neben vielen anderen Faktoren den Bildungs- und Vermögensstand der Eltern, die „häuslichen Verhältnisse“ und das Alter des Kindes. „An den Vater“ so präzisierte das OLG im Folgenden, „welcher nach seinem Stande, seinem Vermögen und seiner Bildung verpflichtet ist, dem Kinde eine sorgfältige Erziehung zu geben, müssen höhere Anforderungen gestellt werden, als an den Vater, der sich nicht in so günstiger Lage befindet. [...] Hieraus folgt, daß die Prüfung der Fälle, in welchen es sich fragt, ob eine Vernachlässigung des Kindes durch den Vater anzunehmen ist, welche dessen leibliches oder geistiges Wohl gefährdet, auf die Einzelumstände des Falles sich zu erstrecken hat und daß eine Feststellung, welche nicht erkennen läßt, daß dies in ausreichendem Maaße geschehen sei, dem Gesetze nicht genügt“. (1901, K., F.J.H., Entscheid. Hamb. AG) Angewandt auf den zu beurteilenden Einzelfall hieße das aber, dass dem Vater nicht zum Vorwurf gemacht werden könne, dass er seine Frau arbeiten lasse und an der Ausübung ihres „ersten Berufs, für die Kinder und den Hausstand zu sorgen“ hindere. Zu Recht hätten die Eltern geltend gemacht, dass „es ihnen nicht verwehrt werden dürfe, unter einander zu bestimmen, wer von ihnen sich der körperlichen Sorge für die Kinder und der Sorge für die Herbeiführung des Unter1
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halts anzunehmen habe“. Im Klartext hieß das nichts anderes, als dass eine vom Mittelstand abweichende Rollenverteilung der Geschlechter nicht als Indiz für eine angebliche „Vernachlässigung“ herangezogen werden konnte. Dass der Entscheid des OLG die weitere Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs maßgeblich beeinflusste, lässt sich nur indirekt aus einer Reihe späterer LG-Entscheide entnehmen, mit denen Entzugsbeschlüsse wegen der Nichtberücksichtigung der besonderen sozialen Verhältnisse und Verkehrsformen von Unterschichtsangehörigen aufgehoben wurden. Im Fall Wibker gab das LG 1902 etwa der Beschwerde einer Mutter statt, weil es im Unterschied zur Vormundschaftsbehörde deren Erklärung für ihren angeblich „vernachlässigenden“ Umgang mit ihrer vorehelichen, in Waisenpflege befindlichen Tochter für glaubhaft hielt. Die Mutter hatte bei ihrer Vernehmung ausgesagt, sie habe den Kontakt mit ihrer Tochter nur deshalb nicht aufrechterhalten, weil sie mit ihren sieben ehelichen Kindern genug zu tun gehabt habe. Das Landgericht griff dieses Äußerung auf und führte dazu aus: „Daß aber die Mutter sich während der Zeit, als das Kind sich in Waisenpflege und später auf Anordnung des Vormundes bei B. in C. befand, um das Kind wenig bekümmert hat, findet seine Erklärung darin, daß einmal die Mutter ja wusste, daß ihre Tochter bei B. in C. gut aufgehoben sei, und sodann daß es bei ihrer zahlreichen Kinderschar schwer geworden sein mag, sich öfters persönlich um ihr auswärts wohnendes Kind zu bekümmern.“ (1902, Wibker, BlHWpfl.) 1
Die gerichtliche Ausdeutung des Tatbestandes des „unsittlichen und ehrlosen Verhaltens“ Der vielleicht bemerkenswerteste Wandel in der Rechtsauslegung des § 1666 BGB vollzog sich im Zeitraum 1900-1914 bei der dritten unabhängigen Tatbestandsvoraussetzung, dem „ehrlosen und unsittlichen Verhalten“. Der Rechtsbegriff des „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“ war ähnlich unbestimmt und für Ausdeutungen offen wie die Begriffe des „Missbrauchs“ und der „Vernachlässigung“. Mehr noch als diese war er jedoch anfällig für die zeitbedingten Verände1
Mit einer ähnlich verständnisvollen Wendung hatte dasselbe Gericht schon ein paar Monate zuvor einen Entzugsbeschluss aufgehoben, der gegen einen verwitweten Maurer gerichtet war, der sich der Anordnung des Waisenpflegers wiedersetzt hatte, seine beiden Söhne sofort aus einer für schlecht befundenen Pflegestelle zu nehmen und anderswo unterzubringen. Da die sofortige Wegnahme der Kinder zu ihrem eigenen Wohl nicht erforderlich sei, so befand das Landgericht, müsse „dem Vater, zumal derselbe als Maurer nur ein beschränktes Einkommen hat, eine angemessene Frist gewährt werden, sich die Maßregeln, die er im Interesse seiner Kinder ergreifen will, zu überlegen und es kann nicht als Vernachlässigung der Kinder angesehen werden, wenn er sich nicht entschließt, die Kinder aus der bisherigen Pflegestelle fortzunehmen“ (1902, P., W.C.H.F., Entscheid. Hamb. AG).
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rungen auf normativer Ebene. Selbst anhand der untersuchten relativ kurzen Zeitspanne von nur 15 Jahren lässt sich dies belegen. Dass die Vormundschaftsbehörde Eltern ihre Kinder nur aufgrund ihres „schlechten“ sittlichen Beispiels wegnehmen konnte, war – zumindest für Hamburg – das eigentliche Novum des § 1666 BGB. Das heißt nicht, dass die Fürsorgebehörden nicht schon früher bei „ehrlosem und unsittlichem Verhalten“ der Eltern eine Gefährdung der Kinder ausgemacht und entsprechende Maßregeln zu ihrem Schutz getroffen hätten. Die landesrechtlichen Bestimmungen der Vormundschaftsordnung hatten diese Eingriffe aber bisher nur sehr unzureichend abgedeckt und so kam es nach 1900 zu einer Flut von Eingriffen, die mit dem „ehrlosen und unsittlichen Verhalten“ der Eltern begründet wurden. In kaum einem Sorgerechtsentzug fehlte ein Hinweis auf das „schlechte Vorbild“ der Eltern, und in sehr vielen stand die Tatbestandsvoraussetzung sogar im Vordergrund. Wie bereits im Rahmen der Analyse des Vorverfahrens gezeigt werden konnte, war die Beurteilung dessen, was unter einem sittlich „gefährdenden“ Verhalten verstanden wurde, sehr stark vom zeitgenössischen Denken in Geschlechterstereotypen geprägt. Das galt auch für die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde. Das mütterliche Vorbild wurde nach anderen moralischen Gesichtspunkten und Maßstäben bewertet als das der Väter. Überlappungen gab es nur dort, wo – wie bei der „wilden Ehe“ – bestimmte Formen der Paarbeziehung, an der beide Geschlechter gleichermaßen „beteiligt“ waren, als anstößig und sittlich korrumpierend eingestuft wurden. Ganz offensichtlich wurde unmittelbar nach Inkrafttreten des BGB die Tatbestandsvoraussetzung sowohl von der Vormundschaftsbehörde als auch dem Landgericht häufiger bei Müttern als bei Vätern positiv geprüft. In der Rechtsauslegung spiegelte sich die hitzige Debatte zur Prostitutionsbekämpfung wider.1 Vorübergehend wurde der Sorgerechtsentzug als Mittel der Prostitutionsbekämpfung eingesetzt, und zwar in dopptelter Hinsicht: Man „bestrafte“ die Mütter, die der „gewerbsmäßigen Unzucht“ nachgingen oder eine „wilde Ehe“ führten, indem man Ihnen die Kinder wegnahm; und man entfernte insbesondere Mädchen von ihren „liederlichen“ Müttern, um sie vor ihrem „schlechten Beispiel“ zu bewahren.2 1 Zur Geschichte der Hamburger Prostitution und den Versuchen ihrer Bekämpfung im Kaiserreich vgl. Urban [1927], Deutelmoser/Ebert [1981], Küchlin [1992] und Evans [1997a]. 2 Die Sorge, dass weibliche Unterschichtsjugendliche bei entsprechenden häuslichen Verhältnissen ins Prostitutionsmilieu abrutschten, wurde von Zeitgnossen auch mit Zahlenmaterial untermauert: 1901 befanden sich unter den eingezeichneten Prostituierten immerhin 86 Heranwachsende, und sieben Jahre später machten die Minderjährigen unter den wegen „erwerbsmäßiger Unzucht“ aufgegriffenen Frau einen Anteil von über 10% aus (Urban [1927], S. 105).
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Sowohl die Vormundschaftsbehörde als auch das Landgericht schienen zunächst keine Bedenken gegen eine solche Instrumentalisierung des Sorgerechtsentzugs zu haben. Die Zeit der unbekümmerten Rechtsauslegung des „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“ dauerte allerdings nicht lange. Die Korrekturen und Einschränkungen der bisherigen Auslegung des Rechtsbegriffs, die seit 1904 vor allem bei der Frage ansetzten, inwiefern ein als „unsittlich“ eingestufter Lebenswandel der Mütter (oder Väter) überhaupt eine „Gefährdung“ der Kinder darstelle, fielen gerade deshalb besonders ins Gewicht, weil man zuvor nicht eben zimperlich mit der Anwendung der Rechtsbestimmung umgegangen war. In Bezug auf die „wilden Ehen“ kehrte man ganz allmählich wieder zu jenem unaufgeregten, pragmatischen Umgang zurück, der schon die Ermittlungstätigkeit und die darauf basierenden Voten der Spezialvormünder vor 1900 bestimmt hatte. Für die ersten fünf, sechs Jahre nach der Jahrhundertwende sind zahlreiche Entzugsbeschlüsse überliefert, die sich auf den „unsittlichen Lebenswandel“ der Mütter stützten.1 Es ist dabei auffällig, dass nicht einfach ein „unsittliches Verhalten“ konstatiert wurde, wie es dem Wortlaut des § 1666 BGB entsprochen hätte, sondern dass gewöhnlich von einem „unsittlichen Lebenswandel“ die Rede war. Die Vormundschaftsbehörde setzte offenbar voraus, dass es sich um ein habitualisiertes Verhaltensmuster handeln musste, das zu einer Art Charaktereigenschaft der jeweiligen Person geworden war. Entsprechendes galt auch für das „unehrenhafte“ oder „unsittliche“ Verhalten der Väter. Vorstrafen wegen „erwerbsmäßiger Unzucht“ und eine Häufung unehelicher Geburten in Verbindung mit sexuellen Kontakten zu unterschiedlichen Männern galten als die sichersten Belege für das Vorliegen einer „unsittlichen Lebensführung“. Gewöhnlich wurde die „Gefährdung“ dadurch konstruiert, dass den Kindern das freizügige Sexualverhalten ihrer Mütter wegen der räumlichen Enge der Wohnungen nicht verborgen geblieben sein konnte.2 Nur selten gelang es Vormundschaftsbehörde bzw. der Beschwerdeinstanz, mit einer Zeugenaussage eindeutig zu belegen, das die Mütter in Gegenwart ihrer Kinder geschlechtlich verkehrt hatten.3 Am einfachsten war der Nachweis, dass sowohl ein „unsittlichen Verhalten“ als auch eine 1 1902, S., BlHWpfl.; 1901 u. 1903, Weiß, D 159, Bl. 41; 1903, Schaaf, Jugendbehörde I 26; 1905, Brinkmann, BlHWpfl.; 1905, Gebhardt, Sammlung; 1906, H., BlHWpfl.; 1901, 1902 u. 1912, Wauge, D 157, Bl. 98. 2 Vgl.: 1906, Wölfert, BlHWplf.1902, E., C., Entscheid. Hamb. AG; 1902, F.E.W., Entscheid. Hamb. AG. 3 So hieß es in einem Beschluss des Beschwerdegerichts vom November 1901 „Während der Zeuge D. in dem zu solcher Vernehmung angesetzten Termin ausgeblieben ist, hat die Zeugin M. F. ausweise der Protokolle bekundet, daß noch im vorigen Monat die Frau K. mit dem D. in schamlosester Weise in Gegenwart der F. in der Stube und ohne daß sie einmal die Tür zu der nebenliegenden Stube, in der ihre Kinder ruhten, zugemacht, weiderholt geschlechtlich verkehrt hat.“ 1901, K., J.A., Entscheid. Hamb. AG.
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„Gefährdung“ der Kinder vorlagen, immer dort zu erbringen, wo sich die Vormundschaftsbehörde auf ein gerade erst ergangenes strafrechtliches Urteil wegen „Kuppelei“ berufen konnte.1 Die Mütter waren in diesen Fällen schon für schuldig befunden worden, in ihrer Wohnung illegitime sexuelle Kontakte Dritter geduldet zu haben, und nicht selten handelte es sich bei diesen „Dritten“ um die eigenen Kinder. In einem 1905 in den „Blättern“ veröffentlichten Artikel wurde ein solcher Fall geschildert: “Nach dem im Jahre 1902 erfolgten Tode ihres Mannes bewohnte die Mutter mit 10 ihrer Kinder eine Parterrewohnung, die aus 2 Zimmern und 1 Küche bestand. In dem einen Zimmer schlief die Mutter mit den jüngeren Kindern, in dem zweiten, nur durch das erste Zimmer zu erreichenden, schliefen die jetzt mündigen A. und B. und die noch minderjährige D. Die Mutter war als Wagenwäscherin beschäftigt, erhielt aber auch eine Armenunterstützung. – Es ist nun durch das Strafverfahren gegen die Mutter wegen schwerer Kuppelei festgestellt, daß in den Jahren 1903/1904 in dieser Wohnung die traurigsten Verhältnisse herrschten, daß die erwachsenen drei Töchter sich dem liederlichsten Lebenswandel hingaben und ihre Liebhaber mit in die Wohnung brachten, wo sie mit ihnen geschlechtlichen Verkehr hatten. – Von diesem liederlichen Leben ihrer Töchter hat die Mutter offenbar gewusst, denn es ist erwiesen, daß ihr die Anwesenheit aller drei Liebhaber im Zimmer ihrer Töchter sowohl bei Tage wie auch nachts bekannt gewesen ist.“ (1905, Brinkmann, BlHWpfl.)
Bei Vätern war es vor allem der unterstellte Arbeitsunwille in Verbindung mit regelmäßigem exzessivem Alkoholkonsum, der als „unsittliches Verhalten“ nach § 1666 BGB gewertet wurde. Auch hier war die Tendenz unverkennbar, eine Habitualisierung des diskreditierten Verhaltens vorauszusetzen. Regelmäßig griffen die Vormundschaftsrichter die negativen Typisierungen der ermittelnden Instanzen auf und sprachen von „Säufern“, von „unverbesserlichen“ oder „notorischen Trunkenbolden“. Konnten den Vätern gewalttätige Ausschreitungen gegen ihre Freuen und Kinder nachgewiesen werden, so galt auch die „Gefährdung“ gewöhnlich als ausgemacht. In anderen Fällen war es die Kombination aus regelmäßigem Trinken, allgemeinem Desinteresse am Wohlergehen der Kinder und Vernachlässigung der Unterhaltspflicht, die den Ausschlag für den Sorgerechtsentzug gab. Wenn außer dem gewohnheitsmäßigen Trinken der Väter nichts gegen diese vorlag, tat sich die Vormundschaftsbehörde demgegenüber 1 Vgl. hierzu: die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde in: 1905, Brinkmann, BlHWpfl.; 1906, H., BlHWpfl. und 1901, 1902 u. 1912, Wauge, D 157, Bl. 98 sowie die folgenden LG-Beschlüsse: 1902, E., C., Entscheid. Hamb. AG; 1902, F.E.W., Entscheid. Hamb. AG und 1902, und 1903, L., H.T.M., Entscheid. Hamb. AG, Entscheid vom Mai 1903. Ähnlich verhielt es sich in Fällen, in denen die Mütter selbst als Bordellwirtinnen tätig waren, wobei hier allerdings die Trennung von „Arbeitsstätte“ und „Wohnbereich“ eine nicht so leicht zu überwindende Rechtfertigungsschwierigkeit mit sich brachte. (Vgl.: 1902, N., M.A.H. Entscheid. Hamb. AG)
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schwer, ihr Verhalten als „unsittlich“ im Sinne des § 1666 BGB.1 Die Richter erkannten bei solchen Fällen offensichtlich die Schwierigkeit, eine Kausalität zwischen väterlichem Verhalten einerseits und geistiger Verfassung der Kinder andererseits herzustellen. Näher eingegangen wurde in den Beschlüssen auf diese Problematik allerdings nicht. Im Hinblick auf „trunkfällige“ und zu Gewalttätigkeiten neigende Väter erörterte selbst das LG das Kausalitätsproblem nur ganz vereinzelt. In einem bestätigenden Beschluss vom März 1902 führte das Gericht zum Beispiel aus: „Das Beschwerdegericht hat auf Grund der oben wiedergegebenen Ermittelung die Ueberzeugung gewonnen, daß M. ein periodischer Trinker ist und in diesem Zustand zu Excessen gegen seine Frau und seine Kinder neigt. – Damit liegen aber die Voraussetzungen des § 1666, Abs. 1 B.G.B. vor. Es ist als ein unsittliches Verhalten zu bezeichnen, daß M. dem Laster des übermäßigen Alkoholgenusses nicht widersteht und das geistige und leibliche Wohl der Kinder gefährdet. Das geistige Wohl, indem der Anblick und der Verkehr mit dem trunkenen Vater ihre Achtung vor demselben untergraben muß und sie sogar veranlassen kann, dem Beispiel desselben zu folgen, das leibliche Wohl, indem der Vater in seiner Trunkenheit zu Misshandlungen der Kinder schreitet.“ (1902, M., H.C., Entscheid. Hamb. AG)2
Nur sehr selten lag die „Gefährdung“ so offen zu Tage wie in dem weiter oben zitierten Fall des Vaters, der seinen Sohn auf eine mehrtätige Kneipentour mitnahm und ihm statt mit Essen mit Kümmel versorgte.3 Der Beschluss im Fall Jablonsky ist zugleich eines der wenigen Beispiele, in welchem einem Vater „unehrenhaftes“ Verhalten attestiert worden war. Gewöhnlich wurde auch das moralische Fehlverhalten der Väter als „unsittlich“ bezeichnet und nur dann, wenn sie zuvor schon von einem Strafgericht zu Gefängnis oder Zuchthaus in Kombination mit einem mehrjährigen Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt worden waren, machte die Vormundschaftsbehörde von dem Begriff des „ehrlosen“ Verhaltens Gebrauch. Insgesamt sind für den Zeitraum 19001915 drei solcher Fälle überliefert, und in allen waren die Väter wegen „Blutschande“ bzw. wegen „Sittlichkeitsverbrechens“ oder – wie man heute sagen 1
Vgl.: 1903, Kuchenbaecker, Sammlung. Mit im Rausch an Frau und Kindern begangenen Gewalttätigkeiten und dauerndem ehelichem Streit begründete die Vormundschaftsbehörde auch in einem Beschluss von 1902 ihre Entscheidung, dem Vater die elterliche Gewalt zu entziehen: „Der Armenaufseher Andresen wirft ihm vor, daß er seine Familie im höchsten Grade vernachlässige. Auch führt er – in Gegenwart der Kinder – häufig ehelichen Streit herbei; er prügelt dann seine Frau, schimpft sie Hure und Saumensch. Kinder mit so verderbten Zuständen, wie sie Hermann und Friedrich W. gezeigt haben, bei einem derartigen Vater zu belassen, würde heißen, sie einem völligen sittlichen und moralischen Verderben auszusetzen.“ 1901 Wauge, D 157, Bl. 46 ff. 3 1902, Jablonsky, BlHWpfl. 2
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würde – wegen sexuellen Missbrauchs an ihren Töchtern strafrechtlich verurteilt worden.1 In solchen Fällen büßten die Väter ihre Rechte gegenüber den betroffenen Mädchen automatisch ein. Man sprach hier von einem „Verwirken“ der elterlichen Gewalt.2 Zumeist hatte die Vormundschaftsbehörde allerdings keinen Zweifel daran, dass zumindest die übrigen Töchter ebenfalls einer massiven sittlichen „Gefährdung“ ausgesetzt waren und durch Sorgerechtsentzug von ihren Vätern geschützt werden mussten. Der Sorgerechtsentzug wegen verübter „Blutschande“ lässt sich insofern als väterliches Pendant zu der von den Müttern verübten „Kuppelei“ interpretieren. Neben solchen Fällen, in denen die „Gefährdung“ auch nach heutigen Maßstäben kaum zweifelhaft erscheinen würde, gab es allerdings auch zahlreiche sowohl gegen Mütter als auch Väter gerichtete Eingriffe, die sich einzig und allein auf den Umstand stützten, dass dieselben eine „wilde Ehe“ führten.3 Beispielhaft hierfür ist etwa ein im April 1901 ergangener Entzugsbeschluss, der wie folgt gerechtfertigt wurde: „Milich lebt nach seinem eigenen Geständniß mit einer Frauensperson in wilder Ehe. Diese Thatsache genügt allein, um festzustellen, daß das sittliche Wohl seiner beiden Töchter, falls dieselben wieder zu ihm kommen sollten, gefährdet ist. Es bedarf daher keiner weiteren Erörterung, ob nicht auch aus der Thatsache, daß Milich ein Trinker ist, wie die Akten des Waisenhauses ergeben, ein Einschreiten gegen denselben geboten ist. – Da Milich auch seit Jahren nicht für den Unterhalt seiner Kinder gesorgt hat, so rechtfertigt es sich, ihm nicht nur die Sorge für die Person seiner Kinder, sondern auch die Vermögensverwaltung zu entziehen.“ (1901, Milich, Abt. II 6876, Bl. 13)4
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Beschluss vom 8.10.1901: 1894, Suse, Abt. II 6783; 1903, Weiß, D 160; 1907, Matthies, D 287. Außerdem sind für 1900-1914 noch zwei weitere Fälle sexuellen Missbrauchs in den Personenakten der Vormundschaftsbehörde dokumentiert, die jedoch keinen Anlass zu einem Sorgerechtsentzug gaben, entweder, weil es sich bei den betroffenen Kindern um Einzelkinder handelte (vgl.: STAH 232-1 D 278, Bl. 20) oder weil die elterliche Gewalt über die restlichen Kinder wegen unbekanntem Aufenthalts des Vaters nach dessen Haftentlassung an die Mutter übergegangen war. (vgl.: STAH 232-1 D 390). Für die darauffolgenden Jahre enthält die Serie D des Bestandes STAH 232-1 noch drei weitere Fälle von sexuellem Mißbrauch. (Vgl.: STAH 232-1, D 161, D 290., D 406) Alle fünf zitierten Fälle wurden aus dem Sample aus inhaltlichen oder zeitlichen Gründen ausgeschlossen. 2 Die grundlegende Rechtsbestimmung in diesen Fällen war der § 1680 BGB. Zum Wortlaut vgl.: oben, S. 533. 3 Zur historischen Entwicklung dieser Lebensform und ihrer öffentlichen Wahrnehmung mit Bezug auf Hamburg vgl.: Gröwer [1998], [1999] und [2004] (für die Zeit vor der Reichsgründung) und Saul [2000] und [2003] (für die Wilhelminische Zeit). 4 Vgl. außerdem 1904, Timme, Sammlung. Ein Entzugsbeschluss, der sich gegen eine unverehelichte, in „wilder Ehe“ lebende Mutter richtete, findet sich in 1903, Lehmann, Sammlung.
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Gerade gegen die einfache Gleichung, dass das Leben in „wilder Ehe“ schon für sich genommen eine das geistige Kindeswohl gefährdende „unsittliche“ Lebenshaltung der Eltern offenbare, regten sich bei den entscheidenden Gerichten jedoch im Verlauf der Jahre immer mehr Zweifel. Diese Zweifel waren Bestandteil einer grundlegenden Revidierung der extensiven Auslegung der Tatbestandsvoraussetzung des „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“, welche die Jahre unmittelbar nach dem Inkrafttreten des BGB gekennzeichnet hatte. Die Frage der „Gefährdung“ trat dabei mehr und mehr in den Mittelpunkt der Erörterungen. Die vorgenommene Kurskorrektur ging in vier Richtungen:
Zunächst wurde die von einer „wilden Ehe“ ausgehende sittliche „Gefährdung“ auf ein bestimmtes Lebensalter beschränkt. Als „gefährdet“ galten fortan nur noch Kinder, die bereits schulpflichtig waren. Nach oben hin war die Grenze schwieriger zu ziehen, aber auch hier zeichnete sich ab, dass mit Abschluss der Pubertät, das heißt ungefähr mit dem 15. oder 16. Lebensjahr, nicht mehr von einer akuten Gefährdung gesprochen wurde.1 Zusammengefasst hieß das: Die „Gefährdung“ begann, wenn das Kind die Verstandesreife besaß, um zu erkennen, dass das Verhältnis seiner Mutter bzw. seines Vaters ein illegitimes war, und sie endete, wenn die Phase der größten Empfänglichkeit für das elterliche Vorbild und vor allem das elterliche Sexualverhalten als abgeschlossen galt. Eine differenziertere Beurteilung wurde außerdem dem Charakter der illegitimen Beziehung selbst zu teil. Lebte das Paar schon seit Langem zusammen und zog die gemeinsamen Kinder wie ein gewöhnliches Ehepaar im gemeinsamen Haushalt groß, so wurde von einer verhältnismäßig geringen „Gefährdung“ ausgegangen. Bekundeten die Eltern darüber hinaus die Absicht, sich demnächst zu verehelichen und konnten sie sogar gute Gründe dafür anführen, warum dies bisher nicht geschehen war, so standen ihre Chancen gut, dass der Entzugsantrag abgelehnt wurde.2 Die Gerichte hielten
1 Zur Bestimmung der Altersunter- und obergrenze der Gefährdung vgl. insbesondere: 1904, Koops, Sammlung, 1906, H. BlHWpfl. 1902, R., A.J.R., Entscheid. Hamb. AG, 1911, Jedrowski, Sammlung sowie STAH 354-5 I, 226, Bl. 53. Inwiefern die Geschlechter hier unterschiedlich behandelt wurden, lässt sich nicht ganz eindeutig sagen. Es existieren Beschlüsse, in denen betont wird, die Kinder müssten von ihren „unsittlichen“ Müttern entfernt (gehalten) werden, weil sie bereits neun und zehn Jahre alt und Mädchen seien (1906, H. BlHWpfl.). In mehren Fällen wurden jedoch auch Jungen im besagten Alter als sittlich gefährdet eingestuft (1902, Riesberg, Sammlung; 1904, Timme, Sammlung; 1906, Wölfert, BlHWplf.). Im Fall Timme, in welchem dem Vater die Führung einer langjährigen „wilden Ehe“ zur Last gelegt wurde, wurde sogar noch ein knapp 17-jähriger Sohn als sittlich gefährdet eingestuftt. 2 Vgl.: 1902 u. 1903, L., H.T.M., Entscheid. Hamb. AG; 1903; L., H. Entscheid. Hamb. AG; 1903, Lehmann, Sammlung; 1903, 1905, Leonhart, BlHWpfl; 1905, Pries, Sammlung; 1904, 1905, Rahlf, BlHWpfl. und 1905, Gebhardt, Sammlung. Besonders bemerkenswert ist außerdem der Beschluss in
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in solchen Fällen die vorübergehende räumliche Trennung der Wohnungen der „wilden“ Eheleute für ausreichend, um eine „Gefährdung“ abzuwenden.1 Der dritte Punkt bezog sich auf die Beurteilung der Vergangenheit der Mütter oder Väter. Da die Kinder, zugunsten derer die Vormundschaftsbehörde eingriff, nach einhelliger Meinung der Kommentatoren des BGB einer „gegenwärtigen Gefährdung“ ausgesetzt sein mussten, gewann der Abstand, der zwischen den aktenkundig gewordenen sittlichen „Vergehen“ der Eltern und der zu beurteilenden aktuellen häuslichen Situation bestand, für die Abschätzung der Gefährdungslage an Bedeutung. Stand eine Mutter schon seit Jahren nicht mehr unter Sittenkontrolle oder lag der Zeitraum, in welcher sie eine „wilde Ehe“ führte, schon länger zurück, so konnte daraus gewöhnlich keine „Gefährdung“ mehr abgeleitet werden. 2 Schließlich korrigierten die Gerichte ihre anfängliche Haltung auch in Bezug auf Fälle, in denen das WHK einen Rechtsgrund suchte, um den als „unsittlich“ typisierten Eltern die Wiederannäherung an ihre in Waisenpflege befindlichen Kinder zu verweigern. Wollten etwa Mütter, die als Prostituierte tätig waren, bloß ihre Kinder besuchen oder ihren Aufenthalt erfahren, ohne explizit auf ihre Herausgabe zu drängen, so sah weder die Vormundschaftsbehörde noch das Landgericht ausreichende Gründe, um der Mutter das Sorgerecht zu entziehen.3
Bemerkenswert ist, wie sich der Richtungswechsel in der Ausdeutung der Tatbestandsmerkmale des „ehrlosen und unsittlichen Verhaltens“ und der „Gefährdung“ konkret vollzog. In den zur Auslegung des § 1666 BGB erwachsenen Generalakten der Hamburger Jugendbehörde finden sich mehrere Schreiben, in denen die Vormundschaftsbehörde dem WHK und dessen Direktor ihre Rechtsauffassung direkt auseinandersetzte und beide bat, ihr Gesuch noch einmal zu überdenken. Ein Schreiben vom Februar 1905 steht exemplarisch für dieses Bemühen, die Fürsorgebehörde zum Umdenken zu bewegen:
Sachen Jedrowski von 1911, in dem das Führen einer „wilden Ehe“ überhaupt nicht mehr als „Gefährdungsmoment“ im Sinne des § 1666 BGB ausgelegt wurde. (vgl.: 1911, Jedrowski, Sammlung) 1 Vgl.: hierzu die Ausführungen in: 1902, R., A.J.R., Entscheid. Hamb. AG sowie 1903, Lehmann, Sammlung. 2 Vgl. die LG-Beschlüsse in den Fällen: 1902, D.B., Entscheid. Hamb. AG; 1902, R., A.J.R.., Entscheid. Hamb. AG; 1904, Koops, Sammlung; 1904, 1905, Rahlf, BlHWpfl. In Bezug auf Väter außerdem: 1905, Weinowski, BlHWPlf. 3 Ähnliches galt für Prostituierte, die ihrem Gewerbe nicht in Hamburg nachgingen, sodass ihre Kinder keine Kenntnis von ihrer Tätigkeit hatten und infolgedessen auch keinen Schaden nehmen konnten. 1907, Hammer, BlHWpfl.
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„Die verehrliche Direktion hat wiederholt bei uns die Entziehung der Sorge eines Sorgeberechtigten beantragt, wenn dieser einen lockeren Lebenswandel führte, insbesondere wenn er in so genannter wilder Ehe lebte. Die Fälle, in denen bei einem liederlichen Lebenswandel des Sorgeberechtigten das Kind leiblich gefährdet erscheint, sollen ausscheiden aus der Frage, ob der Antrag begründet ist, denn das ist er dann ohne Zweifel. Es handelt sich aber darum, ob eine wilde Ehe in allen Fällen auch die sittliche, die geistige Gefährdung des Kindes zur Folge hat. Unseres Erachtens kann das nicht zugegeben werden bei noch sehr kleinen Kindern ohne jegliche Verstandesreife, also mindestens bis zum Eintritt der Schulpflichtigkeit. Wir meinen daher, es sollte ein Vorgehen gegen den betreffenden Elternteil wegen seines Lebenswandel aus § 1666 B.G.B., wenn es sich nicht um eine Gefährdung des körperlichen Wohles des Kindes handelt, wegen Gefährdung des geistigen Wohles gar nicht erst ins Auge gefaßt werden und möchten daher anheimgeben, in Zukunft dahingehende Anträge nicht eher zu stellen, als die Verstandesreife des Kindes das nicht geboten erscheinen läßt. Und das sollte frühestens mit der Schulpflichtigkeit angenommen werden dürfen.“1
Die Auseinandersetzung ihrer Rechtsauffassung im internen Schriftverkehr war für die Vormundschaftsbehörde allerdings nur eine Möglichkeit, beim WHK auf eine eingehendere Vorprüfung der Entzugsanträge hinzuwirken. Regelmäßig nahmen nämlich auch die Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde selbst die Form einer Rechtsbelehrung an. Der 1911 in Sachen Jedrowski zum gleichen Gegenstand ergangene Beschluss etwa trug nur wenig zur Aufklärung des tatsächlichen Sachverhalts bei, bemühte sich aber umso mehr um eine Klarstellung der ungeschriebenen Rechtsgrundsätze, die für die Vormundschaftsbehörde maßgeblich waren. Zugleich wird an ihm deutlich, dass die Auslegung von „ehrlosem und unsittlichem Verhalten“ und „Gefährung“ mit der Zeit immer enger wurde. „Das fortgesetzte Leben in wilder Ehe kann unter Umständen gewiss ein Grund sein, einer Mutter die Sorge für die Person ihrer minderjährigen Kinder zu entziehen, z.B. 1 STAH 354-5 I 226, Bl. 53. In sichtlich gereiztem Ton fuhr der zweite Vorsitzende der Vormundschaftsbehörde, Brandis, fort : „In der Sache Rudolph – dort. Aktenz: 1904. No. 275 – hat Wohldieselbe wiederum die Entziehung der Sorge einer Mutter beantragt, die angeblich in wilder Ehe lebt und tatsächlich 1 Jahr 2 Monate Zuchthaus verbüßt hat wegen gewerbs- und gewohnheitsmäßiger Hehlerei. Nun ist das Kind, für das der Antrag gestellt ist, noch nicht einmal 1 Jahr alt und eine sittliche Gefährdung danach also ausgeschlossen und eine leibliche Gefährdung nicht ersichtlich, auch von Wohlderselben nicht behauptet. Gleichwohl hat Wohldieselbe nach dem Antrage vom 3. Januar cr. ernste Bedenken, das Kind der Mutter anzuvertrauen. Wir dagegen haben Bedenken, dem Antrage zu entsprechen, weil unseres Erachtens die erforderliche Voraussetzung einer Gefährdung des Kindes nicht gegeben ist. Wohldieselbe ersuchen wir daher um eine gefl. Mitteilung, ob in der Sache Rudolph der Antrag nicht vielleicht zurückgezogen wird und ob Wohldieselbe in Aussicht stellen kann, daß in Zukunft die Stellung ähnlicher Gefährdung der Kinder abhängig gemacht werden soll.“
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wenn es sich um Kinder handelt, die schon so herangewachsen sind, dass die Anstoss nehmen können an dem Lebenswandel ihrer Mutter, oder wenn bei der letzteren noch hinzukommt, dass sie schmutzig, faul trunksüchtig ist, überhaupt ihre Kinder vernachlässigt, oder wenn in der Person des wilden Ehemannes schwerwiegende Bedenken bestehen. – Aber in diesem Falle treffen alle diese Voraussetzungen nicht zu, denn es handelt sich um Kinder von eben 9 und 8 Jahren, und um ein wildes Eheleben, das schon längerer Zeit besteht, das also jetzt den Kindern kaum weder auffällig noch anstössig sein kann. – [...] Als die Mutter in ihre Wohnung zurückkehrte, erlosch die Ueberweisung von selbst und muss die Mutter, sie mag wollen oder nicht, ihre Kinder wieder nehmen, es sei denn, dass ihr die Sorge entzogen wird, und so gewiss es für die Kinder aller Wahrscheinlichkeit nach viel besser wäre, sie blieben in Waisenpflege, so gewiss ist auf der anderen Seite, dass dies bei dem Widerspruch der Mutter nur zu erreichen ist, wenn eine der Voraussetzungen des § 1666 BGB vorliegt. – Da die Vormundschaftsbehörde diese nicht finden kann, wenn der Mutter nichts weiter vorgeworfen wird, als das Leben in wilder Ehe, so muss die Behörde den Antrag ablehnen.“
So bestimmt die Vormundschaftsbehörde in solchen und ähnlichen Beschlüssen aber ihre Rechtsauffassung auch darlegte, im internen Schriftverkehr war es ihr wichtig zu betonen, dass sie selbst die restriktive Rechtsauslegung für bedauerlich hielt, sich aber an die Richtungsentscheide der Beschwerdegerichte gebunden sah.1
Die „Erforderlichkeit“ als übergeordnete Tatbestandsvoraussetzung Tatsächlich ging die beschriebene Kurskorrektur vor allem vom LG und OLG aus. Das zeigte sich schon beim Insistieren des OLG auf einer angemessenen Berücksichtigung der besonderen Lebensverhältnisse und Verkehrsformen der Unterschicht in seinem Beschluss von 1901. Symptomatisch war dabei, dass die Beschwerdegerichte weniger auf eine restriktivere Auslegung der unabhängigen 1 In einem Schreiben der Vormundschaftsbehörde an das Waisenhauskollegium von 1907 hieß es beispielsweise: „So verständlich die Stellungnahme der verehrlichen Direktion ist, und so sehr wir mit ihr sympathisieren, so müssen wir doch Bedenken tragen, auf das Ersuchen einzugehen und bitten die verehrliche Direktion diesen Fall nochmals prüfen zu wollen. [...] Der § 1636 B.G.B. ist allerdings nicht zur Anwendung zu bringen, aber aus diesem Paragraphen läßt sich doch folgern, daß eine absolute Trennung des natürlichen Bandes zwischen Mutter und Kind herbeizuführen, nach Absicht des Gesetzgebers nur in den äußersten Fällen erlaubt sein soll. – Wir bitten dringend, diesen Punkt nie aus dem Auge verlieren zu wollen [...], wenn wir auch wie die verehrliche Direktion fest überzeugt sind, daß das Landgericht einen Standpunkt einnimmt, der im Interesse der Kinder sehr zu bedauern ist.“ A.a.O., Bl. 77. Petersen versuchte die „Zwickmühle“, in der sich die Vormundschaftsbehörde befand, auch seinen Waisenpflegern verständlich zu machen. Vgl.: BlHWPfl.: 3/1904, Heft 5, S. 28 f.
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Tatbestandsvoraussetzungen selbst drängten, als vielmehr bei den übergeordneten Tatbestandsvoraussetzungen ansetzten: dem „Verschulden“, der „Gefährdung“ und eben auch der „Erforderlichkeit“. Da im Zusammenhang mit der Erörterung der alternativen Tatbestandsvoraussetzungen schon auf die Auslegung des „Verschuldensgrundsatzes“ und der „Gefährdung“ eingegangen wurde, muss hier abschließen nur noch die Ausdeutung des Begriffs der „Erforderlichkeit“ thematisiert werden.1 Die „Erforderlichkeit“ hatte insofern unter den übergeordneten Tatbestandsvoraussetzungen einen besonderen Stellenwert, als sie erhebliche Auswirkungen auf die Ausdifferenzierung der vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen hatte. Außerdem korrespondierte die Diskussion über ihre Anwendung in gewisser Hinsicht mit der in Teil 3 erörterten preußischen Debatte über die restriktive Auslegung des § 1 Ziff. 1 des preuß. FEG.2 Vermutlich war es kein Zufall, dass die Auslegung der „Erforderlichkeit“ Anfang 1904, also etwa zur selben Zeit, als die preußische Debatte um den § 1 Ziff. 1 des FEG ihren ersten Höhepunkt erreichte, auch in Hamburg ins Zentrum der Rechtsauseinandersetzungen rückte. Obwohl entsprechende Verweise und Bezugnahmen von Richtern und politischen Vertretern selten sind, spricht sogar manches für die Annahme, dass die Sorge der örtlichen Verfechter der vorbeugenden Zwangserziehung, in Hamburg könnten preußische Verhältnisse Einzug halten und die fortschrittlichen Ansätze der Jugendfürsorge zunichte machen, in der restriktiven Auslegung der „Erforderlichkeit“ des § 1666 BGB durch die Beschwerdegerichte wurzelte.3 Ende 1903 hatte die Vormundschaftsbehörde einem Vater, der längere Zeit seiner Unterhaltspflicht gegenüber Frau und Tochter nicht nachgekommen war und wegen Unterschlagung und versuchten Raubes zwei mehrjährige Haftstrafen abgesessen hatte, die elterliche Gewalt entzogen. Am 25. Januar 1904 hob das Hanseatische OLG auf Beschwerde des Vaters den zuvor vom LG bestätigten Beschluss aus rechtlichen Gründen wieder auf und verwies die Sache zur ander1 In Bezug auf die Auslegung der subjektiven Tatbestandsvoraussetzung des „Verschuldens“ sei hier nur erwähnt, dass der bereits zitierte Beschluss des OLG vom Mai 1901 in Analogie zur rechtlichen Definition der „Fahrlässigkeit“ forderte, das die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt den Maaßstab dafür abgiebt“ ob einem Vater ein Schuldvorwurf aus der nachlässigen Ausübung der Personensorge gemacht werden könne (1901, K., F.J.H., Entscheid. Hamb. AG). Dementsprechend wies die Vormundschaftsbehörde zuweilen Anträge des Waisenhauskollegiums zurück, weil die „Vernachlässigung“ der Kindeserziehung ihrer Meinung nach nicht auf die „Gleichgültigkeit“ sondern auf die gänzliche Mittellosigkeit der Erziehungsberechtigten zurückzuführen war (1903, Schlimme, Sammlung). Wiederholt musste das Landgericht außerdem Beschlüsse der ersten Instanz wieder aufheben, weil die vermeintlich „schuldhafte Vernachlässigung“ auf Krankheit der Eltern – das eine Mal auf Schwindsucht, das andere mal auf einem nervösen Leiden – beruhte (1906, H., BlHWpfl. u. 1907, St., E.J.F., Entscheid. Hamb. AG). 2 Vgl. oben, S. 413 ff. 3 Vgl. oben, S. 394 f.
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weitigen Erledigung an die erste Instanz zurück. Zur Begründung verwies es auf den Wortlaut des § 1666 BGB und führte dazu aus: „Damit ist ausgesprochen, daß über die Maßregeln nicht hinausgegangen werden darf, welche zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Das Landgericht hat aber, ebenso wenig wie die Vormundschaftsbehörde, erwogen, was erforderlich sei, um die Gefahr zu beseitigen, welche nach dem festgestellten Tatbestand dem Kinde droht. Auch ist nicht einzusehen, warum es erforderlich sein sollte, dem Vater bei der festgestellten Sachlage die Vertretung des Kindes in den dessen Person und Vermögen betreffenden Angelegenheiten zu entziehen.“ (1903, R., O.C.E., Entscheid. Hamb. AG)
Kaum sechs Wochen später musste sich dasselbe Gericht erneut mit einer Beschwerde gegen einen vormundschaftsgerichtlichen Beschluss befassen. Mit dem angefochtene Beschluss hatte die Vormundschaftsbehörde einem Pfleger das Personensorgerecht einer Mutter übertragen, die nach einhelliger Auffassung der vorermittelnden Instanzen weder in der Lage war, ihren ärmlichen Haushalt zu führen noch für die angemessene Erziehung und Verpflegung ihrer Kinder zu sorgen. Das Hanseatische OLG hob diesen Beschluss wieder auf und stellte sichtlich gereizt noch einmal klar, welche Implikationen der Begriff der „Erforderlichkeit“ für die Vorgehensweise des Vormundschaftsgerichts hatte. Besondere Beachtung maß es dem Umstand bei, dass die Bestellung eines Pflegers im Falle der Mittellosigkeit der Mutter einem Trennungsbeschluss gleichkomme und ein solcher eben erst nach sorgfältigster Prüfung der Frage ergehen könne, ob die „gefährdeten“ Kinder nicht in weniger eingreifender Weise, beispielsweise durch die Ernennung eines anderen Beistandes, geschützt werden könnten.1 Die beiden zitierten Grundsatzentscheide von Anfang 1904 fanden sowohl bei den vorgeordneten Gerichten als auch beim WHK und seinen ehrenamtlichen Organen große Beachtung.2 Zwar waren vom LG auch bisher schon manche Entzugsbeschlüsse mit dem Hinweis auf fehlende „Erforderlichkeit“ wieder aufgehoben worden.3 Aber mit dem höchstrichterlichen Entscheid erlangte die Verpflichtung zur vorgängigen Prüfung minderschwerer Maßregeln den Stellenwert eines unumstößlichen Prinzips, das vom LG gegenüber der Vormundschaftsbe-
1
1903/1904, Kempski, BlHWpfl. u. Entscheid. Hamb. AG. Bezeichnender Weise handelte es sich bei dem Beistand, mit dem sich die Mutter nach eigenen Bekunden „nicht vertragen“ konnte und dessen Ersetzung das OLG der Vormundschaftsbehörde nahelegte, um einen Pastoren. 2 Zur Reaktion auf die Beschlüsse durch das Waisenhauskollegiums und seinen Direktor vgl. u.a.: BlHWpfl. 3/1904, Heft 5. 3 Vgl. etwa: 1902, P., E.C.W., Entscheid. Hamb. AG.
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hörde und von dieser wiederum gegenüber dem WHK durchzusetzen war.1 Als übergeordnete Tatbestandsvoraussetzung tangierte die Auslegung der „Erforderlichkeit“ überdies die Anwendung sämtlicher unabhängiger Tatbestandsvoraussetzungen. So lässt sich etwa auch der Umstand, dass man in „wilden Ehen“ lebenden Eltern immer häufiger das Personensorgerecht beließ und nur auf die anderweitige Unterbringung der Kinder bis zur erfolgten Eheschließung drängte2, auch als eine Folge der OLG-Entscheide von 1904 werten. Entscheidender war jedoch, dass die Vormundschaftsbehörde nach den Klarstellungen des OLG immer häufiger dazu überging, Eltern nur einzelne Bestandteile ihrer Rechte zu nehmen und auf Pfleger zu übertragen. Anders als in Preußen waren die Beschwerden, welche die OLG-Entscheide veranlasst hatten, nicht von der Allgemeinen Armenanstalt ausgegangen. Und ebenso wichtig ist es festzuhalten, dass der Rückgang der Entzüge, die sie bewirkten, nur von verhältnismäßig kurzer Dauer war. Die OLG-Entscheide brachten es mit sich, dass die Anwendung alternativer Maßregeln gleichsam neu entdeckt wurde: Während die Zahl der zur Abwendung der Gefährdung des Kindeswohls ergriffenen Maßnahmen 1904 bei 341 lag, so schnellte sie in den kommenden Jahren über 403 (1905) und 455 (1905) auf 472 im Jahre 1907 hoch.3 Die Entscheide des Landgerichts hatten also weniger zu einer Eindämmung der vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe geführt als vielmehr zu ihrer Differenzierung. Aber auch diese Entwicklung ist natürlich nicht gering zu schätzen, da sie als erstes Zeichen eines Umdenkprozesseses gewertet werden kann. Zusammenfassend kann zur Rechtsauslegung des § 1666 BGB durch die Hamburger Vormundschaftsbehörde festgehalten werden: Vor 1900 wurde die Auslegung der Eingriffsvoraussetzungen sehr restriktiv gehandhabt. Die Absetzung des väterlichen Vormundes wegen „schlechter Behandlung“ war eine seltene Ausnahmeerscheinung. Es dominierte ganz eindeutig die strafrechtliche Verfolgung. Auch bezüglich der Reklamationsfrage stellte die Vormundschaftsbehörde schnell allgemeine Grundsätze auf. Armut allein, so stellte sie klar, genüge nicht, um Eltern ihre Kinder vorzuenthalten. Es musste vielmehr der Nachweis erbracht sein, dass die Eltern „verkommen“ waren – ein
1 Besonders anschaulich lässt sich dieser Prozess der Durchsetzung des Grundsatzes der „Erforderlichkeit“ von den oberen zu den unteren Instanzen im kurze Zeit später vor dem LG verhandelten Fall Grantin nachvollziehen. (1903, 1904, Grantin, Sammlung.) 2 Vgl.: 1905, Pries, Sammlung 3 Vgl.: Verw.Ber. 1904-1907 u. Grafik 6, S. 462.
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Unterfangen, das die Vormundschaftsbehörde keineswegs auf die leichte Schulter nahm.1 Nach der Beseitigung der bestehenden Rechtsunsicherheiten und der Ausweitung der Eingriffsvoraussetzungen durch das Inkrafttreten des BGB legte die Behörde die unbestimmten Rechtsbegriffe zunächst recht großzügig aus, um dem praktischen Bedürfnis nach einem Ersatz für die landesrechtlichen Grundlagen der Kindeswegnahme zu entsprechen. Schon bald sorgte die Rechtsprechung der Beschwerdegerichte jedoch dafür, dass auch die erste Instanz sich eine engere Definition der Tatbestandsvoraussetzungen zu eigen machte. Die Organe der Waisenpflege neigten beispielsweise dazu, allen Müttern, die in der Vergangenheit einmal unter Sittenkontrolle gestanden hatten oder die in „wilder Ehe“ lebten, ein „unsittliches Verhalten“ im Sinne des § 1666 BGB zu attestieren. Die Vormundschaftsbehörde aber stellte klar, dass eine Gefährdung nicht allein aus dem Vorleben der Mutter abgeleitet werden könne und dass auch das Führen einer „wilden Ehe“ nicht zwangsläufig zum „moralischen Ruin“ der Kinder führen müsse. Es hing nach ihrer Auffassung vielmehr vom Alter und Geschlecht der Kinder sowie von den konkreten Umständen der Verbindung der Eltern ab, ob von der wilden Ehe eine Gefährdung ausging oder nicht.2 Ähnliche Einschränkungen galten auch für den Missbrauchs- und Vernachlässigungsbegriff. Das WHK und sein Direktor neigten anfänglich zur Ansicht, dass das elterliche Verlangen, ein Kind aus der Waisenpflege zurückzuerhalten, schon dann als Missbrauch zu werten sei, wenn das Kind dadurch in wirtschaftlicher Hinsicht deutlich schlechter gestellt würde. Die Rechtsprechung stellte demgegenüber klar, dass die Befürchtung, die Eltern könnten ihr Kinder aus der Waisenpflege reklamieren, allein nicht ausreiche, um den Tatbestand des Missbrauchs zu erfüllen.3 Nicht zuletzt bildeten auch der „Verschuldensgrundsatz“ und die Prüfung der „Gebotenheit“ der Schutzmaßnahmen Barrieren gegen eine ausufernde Anwendung des Sorgerechtsentzugs. Bei schweren Erkrankungen, Einkommensarmut oder Arbeitslosigkeit konnte ein Verschulden nicht generell unterstellt werden, und langsam aber sicher setzte sich auch die Einsicht durch, dass vor dem Eingriff in die Personensorge zunächst mit anderen Mitteln versucht werden sollte, die konstatierte Gefährdung des Kindes abzuwenden.4
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Jahresbericht der Vormundschaftsbehörde für das Jahr 1894 in: STAH 241-1 I, XXI B b 5 Vol. 18 (1894). 2 STAH 354-5 I, 226, Bl. 52 u. 92. 3 STAH 354-5 I, 226, Bl. 77; BlHWpfl. 4/1905, Heft 5, S. 26 f., 6/1907, Heft 3 u. 7/1908, Heft 3; STAH 232-1, D 161, Bl. 16. 4 STAH 354-5 I, 226, Bl. 42, 46.
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5.5.5 Umsetzung der vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse und Rechtsmittelgebrauch Mit der Beschlussfassung war das vormundschaftsgerichtliche Verfahren im Grunde genommen abgeschlossen. Da die Eingriffe in das Personensorgerecht aber in der Regel auf eine Trennung der Kinder von ihren Eltern abzielten, stellt sich die Frage, wie die Wegnahme der Kinder praktisch umgesetzt wurde und wie die Betroffenen auf diese Maßnahme reagierten. Vor 1900 überließ die Vormundschaftsbehörde die Umsetzung ihrer Absetzungsbeschlüsse gewöhnlich den Spezialvormündern. Zum Teil waren sie bereits bei ihrer Bestellung mit einem entsprechenden Mandat versehen worden.1 In anderen Fällen wurde ihr Mandat erst mit dem Beschluss erweitert. Die Vormünder hatten – davon wurde zumindest lange ausgegangen – rechtlich gesehen die gleiche Stellung wie zuvor der Vater und konnten somit auch gegenüber den leiblichen Eltern von ihrem Herausgaberecht Gebrauch machen. Nicht immer war die Umsetzung der Absetzungsbeschlüsse mit größeren Problemen verbunden. Befanden sich die Kinder schon in Waisenpflege, so stellte sich die Frage der Abnahme erst gar nicht. Ähnlich verhielt es sich in Fällen, in denen die Eltern selbst die Fremdunterbringung ihrer Kinder betrieben oder wenig Teilnahme an ihrem Schicksal zeigten. Da vor Inkrafttreten des BGB jedoch in der Regel nur dann ein formelles Absetzungsverfahren eingeleitet wurde, wenn die Väter sich gegen die öffentliche Erziehung sträubten, waren Schwierigkeiten bei der Abholung der Kinder vorhersehbar. Aus diesem Grund griffen Vormünder regelmäßig auf die Amtshilfe der Polizei zurück, um ihren Auftrag zu erfüllen. Die Polizei brachte die Minderjährigen dann gewöhnlich in einer Art Kinderschutzhaus unter, von wo aus sie später in eine gewöhnliche Pflegefamilie oder ins Waisenhaus gegeben wurden.2
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Eine typische Formulierung bei der Bestellung eines Spezialvormundes lautete etwa: „zwecks Prüfung der Frage ob gegen den Vater des Kindes Strafantrag zu stellen ist und wo das Kind in Zukunft unterzubringen, eventuell zur Stellung des Strafantrags und anderweitigen Unterbringung des Kindes“ (1883, Schreck, Serie III 2774) 2 Aus einem Quittungsvermerk, der sich in einer Personenakte fand, geht die polizeiliche Vorgehensweise bei der Abnahme von Kindern hervor: „Bezüglich vorstehendem wurden im Auftrage des Herrn Commiss: Petersen die 5 Kinder des Arbeiters J. H. T. Dorndorf Gestern Abend 8 ¼ per Droschke dem Frl: Wachenhausen zugeführt und hierbei von dem Unterzeichneten M: 3 verausgabt.“ (1884, Dorndorf, Abt. I 263). In diesem Fall war es offenbar die Vormundschaftsbehörde selbst gewesen, welche die polizeiliche Fortnahme der Kinder veranlasste. Wie die Abnahme von Kindern nach der Jahrhundertwende bewerkstelligt wurde, lässt sich aufgrund der schlechteren Quellenlage für diese Zeit nicht mehr genau feststellen. Es ist allerdings anzunehmen, dass man auch zu dieser Zeit noch auf die Unterstützung der Polizei zurückgriff, wenn sich Widerstände von Seiten der Eltern abzeichneten.
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Die Wegnahme der Kindern durch die Polizei war ein Ereignis, dass öffentliches Aufsehen erregte und der Nachbarschaft nicht verborgen bleiben konnte. Auch Polizisten versuchten offenbar, der Konfrontation mit den Eltern aus dem Weg zu gehen. Einige von ihnen passten die Kinder alleine ab, um sie ungestört in öffentliche Obhut zu bringen. So fing ein Polizeioffiziant aus Eppendorf ein Mädchen auf dem Schulweg ab, um es in einer bereitgestellten Droschke direkt ins Waisenhaus zu fahren (1894, Levy, Abt. II 6510). In einem anderen Fall scheuten die ausgeschickten Polizeibeamten davor zurück, sich gewaltsam Zutritt zur Wohnung einer alleinstehenden Frau zu verschaffen, um ein 13-jähriges Mädchen abzuholen (1903, 1904, Kempski, BlHWpfl.). In der Abholung der Kinder von zuhause wurde die ganze Tragweite des rechtlichen Eingriffs sichtbar, und das konnte auch die beauftragten Polizisten nicht unbeteiligt lassen. In welcher Gefühlslage sich viele Eltern befanden, denen man ihre Kinder gegen ihren Willen abnahm, lässt sich zumeist nur erahnen. Nur selten finden sich in den Personenakten der Vormundschaftsbehörde Dokumente, in denen betroffene Väter und Mütter ihre Emotionen in Worte zu fassen versuchten. In einem an die Vormundschaftsbehörde gerichteten Schreiben eines Vaters aus dem Jahre 1885, der sich über mehrere Jahre hinweg vergeblich bemüht hatte, eine Rückübertragung seiner Rechte zu erwirken, hieß es: „Der ganz gehorsamst Unterzeichnete, dem das Wohl und Wehe seiner Kinder am Herzen liegt kann sich bei den vielen Bescheiden der verehrlichen Vormundschaftsbehörde in Vormundschaftssachen nicht beruhigen. – Es ist mir als Laie nicht möglich der verehrlichen Vormundschaftsbehörde die Sache so zu unterbreiten damit sie ohne Weiteres den guten Glauben erzeugt. Ich bin durch die Vorenthaltung meiner Kinder durch die vielen zu den Vormundschaftsacten gelangten mich schmähenden Erklärungen der Vormünder 20 Jahre älter geworden und vollständig ergraut. Ein Vater der seine Kinder lieb hat und sie mit Sorgen empfangen, und dem die Vormundschaft über dieselben genommen, sogar der Umgang mit denselben abgeschnitten wird muß gebrochen werden.“ (1881, Wulff, Serie III 874)
Nicht alle Eltern, denen man die Kinder abnahm, zeigten sich derart niedergeschlagen wie dieser Vater. Die Spannweite der Reaktionen reichte von Gleichgültigkeit über Resignation bis hin zu heftigen emotionalen Ausbrüchen und massivem Widerstand. Dass in den Personenakten vor allem Schilderungen über mütterliche Reaktionen enthalten sind, war nicht etwa nur Ausdruck der besonderen Zuneigung, die sie für ihre Kinder hegten. Die Frauen wurden wegen der rechtlichen Ungleichbehandlung von Müttern und Vätern auch häufig zu Leidtragenden der gegen ihre Männer gerichteten Eingriffe.1 Hinzu kam, dass Mütter 1
Vgl. etwa: 1884, Prödel, Abt. II 207
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vor 1900 auch besonders stark von informellen Eingriffen betroffen waren. Da ihnen im Unterschied zu den Vätern der vormundschaftliche Eingriff nicht durch einen förmlichen Beschluss angekündigt werden musste, traf sie die Fortnahme ihrer Kinder mehr oder weniger unvorbereitet. Besonders deutlich wurde die spezifische Verletzlichkeit der Mütter in diesem Punkt im Fall von Christine Petzold, die erst nach ihrer Rückkehr von der Arbeit auf dem Stadthaus erfuhr, dass die Polizei ihre Tochter bereits aus der Warteschule abgeholt hatte, um sie dem Kostkinderinstitut zu übergeben (1883, Petzold, Serie III 2793). Auf diese Auskunft hin geriet sie, wie es in einer Mitteilung des Stadthauses an die Vormundschaftsbehörde hieß, „in große Aufregung, verfiel schließlich in Krämpfe und mußte dem Kurhause per Krankentransportwagen zugeführt werden“. Eltern, die sich mit dem Eingriff in ihre Rechte und der Fortnahme ihrer Kinder nicht abfinden wollten, entwickelten unterschiedliche Strategien, um sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Wehr zu setzen. Zwei Hauptstrategien lassen sich unterscheiden: die Beschreitung des Rechtswegs und informelle Widerstandshandlungen. Als informelle Widerstandsstrategien können alle Handlungen verstanden werden, die darauf abzielten, die Fortnahme der Kinder zu vereiteln bzw. die einmal fortgenommenen Kinder wieder „zu befreien“. Ein mehrfach erprobter Versuch, die Wegnahme von Kindern zu verhindern, bestand darin, sie zu verstecken. Weiter oben wurde schon der Fall einer Prostituierten erwähnt, die ihre Kinder gemeinschaftlich mit den Kosteltern zu verstecken versuchte, weil das WHK sie an der Kontaktaufnahme mit ihren Töchtern hindern wollte und deshalb schon die Vormundschaftsbehörde eingeschaltet hatte (1894, Joder, Abt. I 2585). Ein Vater, der ebenfalls noch im Vollbesitz seiner Rechte war, aber einen vormundschaftsgerichtlichen Eingriff befürchtete, brachte seine Kinder „in Sicherheit“, indem er sie zu seinem Schwager nach Bremen gab (1883, Spiegel, Serie III 2078). Daneben kam es vor, dass Eltern versuchten, die Polizei dadurch zu beeindrucken und an der Fortnahme ihrer Kinder zu hindern, dass sie mit Gewalt, Selbsttötung und dergleichen mehr drohten. Über eine Frau Kempski, der die Vormundschaftsbehörde 1903 ihre beiden Kinder abgenommen hatte, hieß es etwa, dass sie „eine exzentrische [...] Person sei [...], die sogar erklärt habe, daß sie ihre Kinder lebend nicht hergeben wolle, wenn sie in Waisenpflege genommen werden sollten.“ (1903, 1904, Kempski, BlHWpfl.). In einem anderen Fall ging eine Mutter schließlich so weit, ihre Tochter, die ihr auf Geheiß der Vormundschaftsbehörde abgenommen und im Pestalozzi-Stift untergebracht worden war, am Besuchstag abzufangen und „zu entführen“. (1884, Koops, Abt.I 272). Gerade diese letzte Möglichkeit einer Wiederbemächtigung der Kinder durch Entführung zeigte allerdings, wie riskant die informellen Widerstandsstrategien
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waren: Die Mutter, die sich hartnäckig weigerte, den Aufenthaltsort ihrer Tochter preiszugeben, wurde wegen „Kindesentziehung“ zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt.1 Deutlich aussichtsreicher als solche findungsreichen Versuche, sich den Behörden zu widersetzen, war die Beschreitung des Rechtswegs. Insbesondere nach Inkrafttreten des BGB und FGG versuchten zahlreiche von Sorgerechtsentzügen betroffene Eltern durch Beschwerden beim LG und OLG die Rückgabe ihrer Kinder zu erzwingen, und eine ganze Reihe von ihnen hatte auch Erfolg damit. Das Einlegen einer Beschwerde gegen Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde war ein voraussetzungsreicher Vorgang. Die Eltern mussten nicht unbedingt einen Rechtsbeistand haben, um eine Beschwerde einzureichen, aber sie mussten doch in der Lage sein, sich schriftlich und mündlich so klar auszudrücken, dass ihre Eingabe überhaupt als Beschwerde gewertet und entsprechend weitergeleitet wurde.2 Vor 1900 besaßen außerdem Mütter aus tatsächlichen wie rechtlichen Gründen kaum eine Chance, eine Änderung der Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde zu erwirken. Nur auf dem Wege der Zivilklage gegen die Vormünder oder das WHK konnten sie erreichen, dass ihre Kinder aus der Obhut des Waisenhauses wieder entlassen wurden.3 Mit dem Inkrafttreten des BGB änderte sich die Lage der Mütter merklich. Durch die Klarstellung ihrer rechtlichen Position waren sie jetzt nicht nur verstärkt selbst von vormundschaftsgerichtlichen Maßnahmen betroffen. Sie wurden auch in die Lage versetzt, sich wie die Väter mit Beschwerden beim LG und OLG gegen die Abnahme ihrer Kinder zu wehren. In welchem Umfang und mit welchem Erfolg Väter und Mütter nach 1900 von den ihnen zustehenden Rechtsmitteln Gebrauch machten, geht aus der Aufstellung der für 1900-1914 überlieferten Beschlüsse der zweiten und dritten Instanz in Tabelle 11 hervor. Ein Großteil der überlieferten Entscheide des LG und OLG, so zeigt sich hier, war von Eltern veranlasst worden. Die Mütter waren unter den Beschwerenden in etwa gleich stark vertreten wie die Väter, und nahezu jede zweite Beschwerde führte auch zu einer Aufhebung oder Abänderung des 1 Der Fall wurde auch im Jahresbericht der Pestalozzi-Stiftung von 1890 kommentiert (Vgl.: Göhring [1994], S. 82 u. 120). 2 Das Schreiben, mit dem ein Maurer Mitte der 1880er Jahre die Rückkehr seiner Tochter in seinen Haushalt und die Absetzung der für sie bestellten Vormünder forderte, wurde von der Vormundschaftsbehörde großzügig als Beschwerde ausgelegt und vorsorglich dem OLG übersandt (1884, Muurmann, Abt. II 236). Dagegen protestierte ein anderer Vater zehn Jahre später vergeblich gegen die Abnahme seiner Tochter, weil er seine Eingabe nicht deutlich genug als „Beschwerde“ deklariert hatte (1884, Muurmann, Abt. II 236). 3 Von dieser Möglichkeit machten sie ab Mitte der 1890er Jahre auch verstärkt Gebrauch. Vgl. oben S. 382 u. die beiden Entscheidungen in Beiblatt HGZ 20.1899, Nr. 25; BlHAW 6.1898, Nr. 6.
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Tabelle 11: Überlieferte Beschlüsse der Sorgerechtsverfahren (1900-1914)
Beschwerdeinstanzen
in
angefochtenen Beschlusses. Dieser Befund steht in auffälligem Kontrast zu dem in der Literatur häufig vermittelten Eindruck, Eltern hätten erst gar nicht versucht, gegen die vormundschaftsgerichtlichen Beschlüsse anzugehen.1 Dass dies keineswegs der Fall war und zahlreiche Eltern mit ihren Klagen auch durchaus erfolgreich waren, ist erst jüngst am Beispiel der Zürcher Jugendfürsorge zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt worden und lässt sich auch für Hamburg bestätigen.2 Untersucht man das Beschwerdeverhalten der Eltern genauer, so wird 1
Vgl.: Donzelot [1980], S. 115 f. und in kritischer Absetzung dazu Nijnatten [1991], S. 69 ff. Ramsauer [2000], 83 ff. Bemerkenswertweise wurde dieser Aspekt zuerst von Dickinson [1996], S. 101 hervorgehoben: „Not surpringly, parents often pulled every possible string in order to avoid losing their children, whom they loved and who also often made an important contribution to the 2
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deutlich, dass Mütter sich insbesondere gegen Beschlüsse wandten, die sich auf ihr „sittliches“ Fehlverhalten stützten. Besonders kämpferisch gaben sich zwei alleinstehende Frauen. Die eine, eine ledige, von Schwindsucht geplagte Plätterin (1906, H., BlHWpfl. 1/1907), die wegen ihrer vielen unehelichen Kinder die Aufmerksamkeit der Vormundschaftsbehörde auf sich gezogen hatte, legte Beschwerde beim LG und später beim OLG ein, während die andere, der man ihr intimes Verhältnis zu einem Untermieter zur Last legte, sich sogar zweimal beschwerdeführend an das Landgericht und einmal an die höchste Instanz gewandt hatte (1902/1903, L., H.T.M., AG Entsch.). Weder der einen noch der anderen Mutter gelang es letztlich, ihre Kinder zurückzuerhalten. Dennoch belegen die beiden Beispiele eindrücklich, wie selbstbewusst auch Frauen mit geringem Sozialstatus zuweilen ihre Rechte vertraten. Nicht zuletzt lassen sich auch für die Behauptung, dass die Erfolge derjenigen Eltern, die den Rechtsweg beschritten, über ihren Einzelfall hinaus reichten, indem sie zur Ausdifferenzierung vormundschaftsgerichtlicher Maßnahmen beitrugen, für Hamburg gewichtige Anhaltspunkte finden. Erste Anzeichen dafür, dass die Inanspruchnahme von Rechsmitteln kumulative Effekte zeitigte, ergaben sich aus den Erfolgen privatrechtlicher Klagen im Zusammenhang mit der sogenannten Reklamationsproblematik.1 Das WHK sah sich nach den entsprechenden OLG-Entscheiden gezwungen, die bisher befolgte Praxis informeller Kindeswegnahmen aufzugeben und anstelle dessen einen Entzugsbeschluss durch die Vormundschaftsbehörde herbeizuführen. In anderen Fällen musste sich schlicht zur Kenntnis nehmen, dass Pflegekinder in ihr großstädtischproletarisches Herkunftsmilieu zurückkehrten, sobald sich die Lebenssituation ihrer Eltern stabilisiert hatte. Darüber hinaus zeigt auch die höchstrichterliche Neuauslegung der übergeordneten Tatbestände der „Erforderlichkeit“ und des „Verschuldens“ des § 1666 BGB, dass elterliche Beschwerden weitreichende Folgen für die Weiterentwicklung des vormundschaftsgerichtlichen Kinderschutzes haben konnten. Die Verpflichtung zur Prüfung minder schwerer Schutzmaßnahmen unterhalb von Sorgerechtsentzug und Fremdunterbringung, dürfte in vielen Fällen im Interesse der Eltern und wohl auch so manchem Kind gelegen haben. Wie bei der erzieherischen Erweiterung der strafrechtlichen Sanktionspalette unter dem Motto „Erziehung statt Strafe“, so lässt sich gleichwohl auch bei der Ausdifferenzierung der Schutzmaßnahmen ein Effekt konstatieren, der kaum den Intentionen der einzelnen Eltern entsprochen haben dürfte. familiy incom. They appealed commitments, attempted to pressure local notables, souht allies in positions of authority.” 1 Vgl. oben, Abschnitt 4.3.2. Angesichts der Versuche der Sozialdemokraten, die Thematik zu politisieren, kann man hier mit einigem Recht sogar von kollektiven Strategien der betroffenen Eltern sprechen, Einfluss auf die Gestaltung „interventiver Familienpolitik“ zu nehmen.
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Die minderschweren Schutzmaßnahmen traten nicht anstelle der Sorgerechtsentzüge, sie traten neben sie. Das Netz der vormundschaftsgerichtlichen Schutzmaßnahmen zur Sicherung des „Kindeswohls“ wurde ausgedehnt, die Kontrolle elterlichen Erziehungsverhaltens erweitert.
6 Schluss: Der gesetzliche Schutz „gefährdeter Kinder“ – vom „Kulturstaat“ zum „aktivierenden Staat“
Am Ende des 19. Jahrhundert vollzog sich – nicht nur in Deutschland – ein grundlegender Wandel im Nachdenken über den Staat, die Bestimmung seiner Aufgaben und sein Verhältnis zur Gesellschaft. Diesem Wandel wurde in der vorliegenden Untersuchung anhand eines kleinen, aber markanten Ausschnitts nachgegangen: der Veränderung der Stellung der Erziehungsinstitution Familie im Staatsgefüge. Kaum irgendwo lässt sich diese Entwicklung verdichteter beobachten als anhand der Diskussionen über die staatlichen Eingriffsbefugnisse in die elterlichen Erziehungsrechte, oder präziser formuliert: die Sorgerechtsentzüge auf der Grundlage des § 1666 BGB. Obwohl die Familie als Erziehungsinstitution in der Industrialisierungs- und Urbanisierungsepoche selbst einem starken Strukturwandel unterlag, kann die zeitgenössische Postulierung und Ausübung des staatlichen Erziehungsrechtes nicht als eine schlichte „Reaktion“ auf den sozialen Wandel bzw. als Mittel zur Stärkung einer überlasteten Sozialisationsinstanz verstanden werden; die unscharfen, emotional hoch aufgeladenen Bilder, die sich die Zeitgenossen von „der“ Familie und ihrer Leistungsfähigkeit machten, waren ebenso bedeutsame Faktoren für die Entstehung der öffentlichen Jugendfürsorge und ihre Flankierung durch das öffentliche und private Recht. Wie bei allen langgestreckten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen lassen sich auch bei der Etablierung des Sorgerechtsentzugs verschiedene Entwicklungslinien und Zäsuren unterscheiden: Die hervorstechendste Entwicklungslinie, die nachgezeichnet werden konnte, war die Aufgabe der staatlichen Zurückhaltung gegenüber der elterlichen Erziehungstätigkeit, die für die liberale Ära kennzeichnend gewesen war, und ihr Ersatz durch eine selbstbewusst gestaltete, frühzeitig ansetzende „familiale Interventionspolitik“. Daran gekoppelt war eine Veränderung in der Wahrnehmung devianten Jugendverhaltens: An die Stelle des „bösen Kindes“ trat im Laufe der Zeit das „gefährdete“, „schutzbedürftige“ Kind, und anstatt das abweichende Sozialverhalten von Minderjährigen als Unterform des „menschlichen Sündenfalls“ zu begreifen, wurden die sozialen Umstände, die Wohnverhältnisse, vor allem aber das Verhalten der Erwachsenen für das kindliche Fehlverhalten verantwortlich gemacht. Mit der Erweiterung
J. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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von kurativen Maßregeln der Verhaltenssteuerung um präventive Ansätze der Verhaltensregulierung ging eine Verschiebung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit von der kindlichen zur elterlichen Devianz einher. Und schließlich war mit dieser letzten Entwicklungslinie die Ablösung von Kooperation durch Konfrontation beim Zusammenwirken von elterlicher und staatlicher Autorität in der Kindeserziehung verbunden. Als wichtigste Zäsuren dieses Prozesses konnten neben der innenpolitischen Wende von 1878/79, die zur Durchsetzung eines neuen, auf vermehrte staatliche Lenkung setzenden Sozialpolitikverständnisses führte, die Postulierung eines staatlichen Erziehungsrechts auf den DVAW-Jahresversammlungen von 1884 und 1885 sowie das Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 ausgemacht werden. Mit dem § 1666 BGB kam eine etwa zwanzigjährige Entwicklung zum Abschluss, mit der die öffentliche Jugendfürsorge ihre „moderne“, bis heute gültige Grundform erhielt. Der Sorgerechtsentzug kann insofern als präventiver Schlusspunkt in der Ausbildung der öffentlichen Jugendfürsorge verstanden werden, als er die letzte Konsequenz einer auf Vorbeugung setzenden Herangehensweise darstellte: Allein das Vorliegen einer konkreten Gefährdung des „Kindeswohls“ sollte hier ausreichen, um einen Eingriff in die elterlichen Rechte zu rechtfertigen und eine langjährige öffentliche Ersatzerziehung einzuleiten. Was später kam, war im Wesentlichen Konsolidierung und Ausdifferenzierung der jugendfürsorgerischen Maßnahmen durch gezielte Ausnutzung der generalpräventiven Wirkung der gesetzlichen Zwangsmaßnahmen. Bis hierher bestätigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung die Befunde aus der Forschung über die Entstehung des jugendfürsorgerischen Praxisfeldes im ausgehenden Kaiserreich. Die Untersuchung der privatrechtlich verankerten, präventiven „Zwangserziehung“ und die eingehende Analyse der praktischen Umsetzung dieser Maßnahmen in der zweitgrößten Stadt Deutschlands führten gleichwohl auch zu einigen bedeutenden Differenzierungen und Korrekturen an der Darstellung der Jugendfürsorgegeschichte als einem gerichteten und mehr oder weniger störungsfrei ablaufenden Modernisierungsprozess. Dass die interventionistische Stoßrichtung in der Jugendfürsorgepolitik Deutschlands sich nicht gleichsam „über die Köpfe“ der historischen Akteure hinweg durchsetzte, sondern von bestimmten gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen vorangetrieben wurde – während andere sie bis zuletzt bekämpften –, wurde im Rahmen der Analyse der fürsorge- und rechtspolitischen Debatten zu Zwangserziehung und Sorgerechtsentzug deutlich. Die Opposition gegen die Ausdehnung der staatlichen Eingriffsbefugnisse in die privaten Rechte der Eltern war vielschichtig und hatte ihre Wurzeln in der besonderen politischen und gesellschaftlichen Situation, in der sich Deutschland damals befand. Auf politischer Ebene waren es neben den „Freisinnigen“, die sich aus prinzipiellen Er-
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wägungen gegen den Interventionskurs stemmten, die beiden „Volksparteien“ des 19. Jahrhunderts, das „Zentrum“ und die Sozialdemokratie, die vor dem Hintergrund selbst erfahrener politischer und kultureller Drangsalierung gegen die staatlichen Erziehungseingriffe opponierten. Allen Kritikern des neuen Kurses war gemein, dass es ihnen um eine Problematisierung der absehbaren gesellschaftlichen Folgewirkungen einer unbedarften Ausdehnung staatlicher Kontrollund Machtbefugnisse und zugleich um das Offenhalten von weniger rigiden Alternativen im Umgang mit deviantem Kindes- und Elternverhalten ging. Treibend war dabei die Frage, wie die kulturellen und sozialen Risse, die quer durch die wilhelminische Gesellschaft liefen, gekittet werden könnten. Allzu drastische Maßnahmen hielten die Kritiker des Interventionskurses hier für kontraproduktiv.1 Im Widerstand gegen die staatlichen Eingriffsbefugnisse schwang aber auch ein grundlegendes Misstrauen mit, ob auf Seiten der staatlichen Institutionen und Akteure mit genügend Augenmaß und Zurückhaltung zu rechnen sei. Insbesondere die Sozialisten, aber auch die „Zentrums“-Vertreter hatten begründete Zweifel an der politischen und kulturellen Neutralität der Staatsbürokratie und der von ihr erdachten staatlichen Erziehungsmaßnahmen. Sie befürchteten, dass die vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe zu gezielter politischer oder konfessioneller Einflussnahme missbraucht werden könnten. Es ist unübersehbar, dass das interventionistische Lager ungeachtet mancher Rückschläge und Niederlagen in den letzten zwei Dekaden des 19. Jahrhunderts an Boden gewann. Das härtere staatliche Durchgreifen wurde als „Gebot der Stunde“ verstanden und jeder, der kritisch dazu Stellung bezog, setzte sich dem Verdacht aus, die Zeichen der Zeit verkannt zu haben oder ein unverbesserlicher Prinzipienreiter zu sein.2 Im Streit um den richtigen Umgang mit jugendlicher Devianz und vermeintlich nachlassendem elterlichen Verantwortungsbewusstsein ging es immer auch um die Frage, inwieweit es angezeigt war, bei den ersten Anzeichen gesellschaftlicher Anomie, wie sie in der ansteigenden Jugendkriminalitätsrate gesehen wurde, durch Ad-hoc-Maßnahmen Entschlossenheit zu demonstrieren und rechtsstaatliche Bedenken hintanzustellen, oder ob es gerade in solchen Situationen darauf ankam, diese tendenziell übers Ziel hinausschießenden Reaktionen zu verhindern, weil sie die Fundamente der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaat untergrüben. Es ging – verkürzt gesagt – um das Aufbrechen des latent schon immer vorhandenen, durch die innenpolitischen Wende von
1 Das zeigte sich z.B. an der Problematisierung der ausgedehnten landesrechtlichen Zwangserziehungsgesetze als klassenspezifische „Ausnahmegesetze“. Vgl. oben S. 379 f. 2 Bezeichnend sind in dieser Hinsicht der herablassende Tonfall und die Selbstsicherheit, mit denen die „Männer der Praxis“ Skeptikern wie dem Berliner Stadtsyndikus Eberty entgegentraten.
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1878/79 erneut aufbrechenden Konflikts zwischen Anhängern des „Normen-“ und Befürwortern des „Maßnahmenstaates“.1 Bemerkenswerterweise spielten moralische Argumente, die sich auf die „kindliche Unschuld“ stützten, in den damaligen gesetzgeberischen und fachpolitischen Auseinandersetzung noch kaum eine Rolle. Das hatte zum einen damit zu tun, dass das Bild, dass sich das Bürgertum von den Kindern der Unterschicht machte, frei von jeder Sentimentalität war. Das Hauptproblem der Kindesvernachlässigung wurde im Fehlen elterlicher Aufsicht, Zucht und Strenge gesehen. Außerdem bezogen sich die Interventionen in ihrer Mehrheit auf Schul- und nicht auf Kleinkinder. Noch wichtiger aber war offenbar, dass Rührseligkeit kein Medium war, mit dem man Ende der 1890er Jahre Sozialpolitik betrieb, weil sich die Wirkung moralischer Appelle nicht zuverlässig vorherbestimmen ließ. Mitleid mit den armen, ausgenutzten und vernachlässigten Kindern konnte ebenso gut zu einer Ablehnung „gnadenloser“ Staatseingriffe führen wie zur Forderung nach stärkerem öffentlichen Engagement.2 Trotz der deutlichen Fortschritte, die der Ausbau der staatlichen Jugendfürsorge machte, hatten die Staatsskeptiker den Interventionisten vor allem in den gesetzgeberischen Verhandlungen auf Reichs- und Landesebene manches Zugeständnis abringen können. Weder die Resolution des DVAW von 1885 noch das Hamburger Zwangserziehungsgesetz (ZEG) von 1887 und schon gar nicht der § 1666 des BGB konnten von den Verfechtern des staatlichen Interventionsgedankens als eindeutige Erfolge verbucht werden. Die getroffenen Vereinbarungen trugen Kompromisscharakter und bildeten das historische Kräfteverhältnis der unterschiedlichen Lager in der zur Entscheidung stehenden Frage ab. Am eindeutigsten traf dies auf die letztgültige Fassung der Eingriffsnorm des BGB 1 Vgl. zur historischen Herleitung und theoretischen Konzeptualisierung des Konflikts zwischen „Normen-“ und „Maßnahmenstaat“: Fraenkel [1984], S. 199 ff. 2 Erinnert sei hier an die Argumentation Belmontes gegen eine Einbeziehung der „guten Kinder schlechter Eltern“ in das Hamburger ZEG von 1887. Dass der gezielte Einsatz von Mitleid gefährlich, weil in seinen Auswirkungen unberechenbar war, kam auch in einer Äußerung Zacharias’ von 1907 zum Ausdruck: „Aber für mich ist die dringende Besorgnis entstanden, daß [...] sich die Richter in Hamburg ungeheuer schwer von dem Gedanken lösen werden, daß es unrichtig sei, ein Kind in Zwangserziehung zu geben, das noch brav ist. Da spielt das Mitleid eine große Rolle! Man kann es einem Manne, der noch nicht so in die Verhältnisse der Zwangserziehung eingedrungen ist, nicht verdenken, wenn er meint, die Zwangserziehung sei ein Übel und das arme Kind, das noch brav ist, müsse davor bewahrt werden, während die richtige Meinung ist, daß man das Kind retten soll, und daß man zur Rettung des Kindes an die Zwangserziehung denken soll.“ Stenogr. Berichte Bürgerschaft 1907, 24. Sitzung, S. 626. Hieran wird deutlich, dass der von Bühler-Niederberger [2005a] beschriebene Wirkmechanismus der „Macht der Unschuld“ selbst ein historisches Produkt war. Um mit der „kindlichen Unschuld“ erfolgreich operieren zu können, musste sich erst einmal ein entsprechender gesellschaftlicher „Resonanzboden“ entwickeln. Erst nachdem sich eine gefühlsbetonter, die Verletzlichkeit von kleinen Kindern hervorhebender Umgang mit Minderjährigen breit durchgesetzt hatte, ließ sich aus dem Mitleid politisches Kapital schlagen.
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zu. Den Anti-Interventionisten war es zwar nicht gelungen, die weit gefassten Zwangserziehungsgesetze von Ländern wie Baden, Hessen oder auch Hamburg zu Fall zu bringen. Aber sie hatten durchsetzen können, dass die verfahrensrechtlichen Bestimmungen und die Rechtsmittel gegen vormundschaftsgerichtliche Trennungs- und Entzugsbeschlüsse erheblich erweitert wurden. Durch die Aufrechterhaltung des „Verschuldensprinzips“ hatten sie darüber hinaus eine wirksame rechtliche Schranke gegen eine ausufernde Anwendung der staatlichen Eingriffsbefugnisse errichtet. Die praktische Bedeutung dieses Grundsatzes kann nicht allein daran gemessen werden, ob es den Interventionsgegnern mit ihm gelungen war, die Ausdehnung der justiziellen Sozialkontrolle auf „gute Kinder schlechter Eltern“ überhaupt abzuwenden. Vielmehr muss sie danach beurteilt werden, ob und inwieweit der „Verschuldensgrundsatz“ die Umsetzung des eigentlichen Zieles der Staatsinterventionisten, also die ursachenunabhänigige Substitution familialer Sozialisationsleistungen, erschwert hat. Zwar sollte sich in Preußen zunächst die unzureichend geklärte Kostenfrage als Haupthindernis einer ausgedehnten Anwendung des § 1666 BGB erweisen. Aber in der Rechtssprechung der Oberlandesgerichte zeichnete sich schon bald ab, dass das „Verschuldensprinzip“ ebenfalls einen wirksamen Schutz gegen eine bedenkenlose Anwendung des Eingriffs darstellte. Wenn die „Vernachlässigung“ der Erziehung auf dauerhafter Erkrankung oder wirtschaftlicher Not beruhte, so konnten die Vormundschaftsgerichte nicht zum letzten Mittel der Kindeswegnahme greifen. Die veränderte Auffassung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, vor allem aber der grundlegende Dissens, der die zeitgenössischen Diskussionen um die vorbeugende Zwangserziehung bestimmte, spiegelte sich auch in der konkreten Fürsorge- und Rechtspraxis wider. Dem neuen Staatsverständnis, welches in den öffentlichen Fürsorgemaßnahmen zum Ausdruck gelangte, entsprach ein tiefgreifender Einstellungs- und Mentalitätswandel auf Seiten der Bevölkerung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war für das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung im Bereich der Jugendfürsorge noch eine Haltung der Kooperation bestimmend gewesen. Nach dem Konzept der „hülfreichen Hand“ fand die elterliche Gewalt ihre Erweiterung und Entsprechung in der staatlichen Autorität gegenüber der heranwachsenden Generation – und umgekehrt. Diese Konzeption des elterlich-staatlichen Zusammenwirkens war nicht nur theoretisch-ideeller Natur. Sie wurde auch gelebt und praktiziert.1 Dort, wo Eltern den Gehorsam ihrer Kinder nicht mehr mit eigenen Mitteln durchsetzen konnten, sollte ihnen tatkräftige obrigkeitliche Unterstützung bei der Disziplinierung des Nachwuchses 1 Schon am Sprachgebrauch zeigte sich, dass die Familie als ein „Staat im Kleinen“ verstanden wurde. Vater und Mutter übten die „elterliche Gewalt“ aus, sie „regierten“ ihre Kinder, man sprach von „häuslicher Zucht“ usw.
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zuteil werden. Die staatlichen wie privatwohltätigen Disziplinierungsbemühungen zielten nicht darauf ab, die väterliche Gewalt zu ersetzen. Sie sollten diese vielmehr restituieren und stärken. Dass nach dieser Vorstellung auch tatsächlich verfahren wurde, ließ sich für Hamburg am Beispiel der Einweisungspraxis in die „Strafschule“ des Werk- und Armenhauses und ihre Nachfolgeeinrichtungen zeigen. Das heißt natürlich nicht, dass das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Fürsorgeempfängern „partnerschaftlich“ und frei von Zwang war. Aber dieser Zwang stütze sich im Wesentlichen auf die persönliche Autorität der Armenpfleger oder Anstaltsvorstände und blieb eingebunden in lebensweltliche Bezüge. Solange außerdem die Finanzverhältnisse der halböffentlichen Wohltätigkeitsstiftungen prekär waren, hielt sich die Tendenz, den Eltern öffentliche oder privatwohltätige Erziehungsmaßnahmen aufzuzwingen, in engen Grenzen. Spätestens seit Anfang der 1880er Jahre wurde die Tragfähigkeit des Konzeptes der „hülfreichen Hand“ brüchig. Die folgenden zwei Jahrzehnte waren dadurch geprägt, dass die alten, auf Kooperation basierenden Jugendfürsorgepraktiken sowohl von Seiten der Obrigkeit als auch der Fürsorgeadressaten zunehmend in Frage gestellt wurden. Immer noch gab es zahlreiche Eltern, die wegen auftretender familialer Krisen oder massiver Erziehungskonflikte die Fremdunterbringung ihrer Kinder betrieben und dabei bereitwillig auf staatliche Unterstützung zurückgriffen. In dem Maße aber, wie die Fremdunterbringung am bürgerlichen Moratoriumskonzept ausgerichtet und in die Länge gezogen wurden, trat die Frage auf, wie es um die Freiwilligkeit und den Konsens in den Erziehungs- bzw. Disziplinierungsabsichten bestellt war. Die öffentlichen und privaten Erziehungsziele traten immer weiter auseinander. Während sich die öffentliche Erziehung als Investition in die Zukunft verstand und auf Beharrlichkeit und ausdauernde Zucht setzte, zielte die elterliche Inanspruchnahme öffentlicher Fürsorgeeinrichtungen auf eine möglichst rasche Stabilisierung der (proletarischen) Familienökonomie und die Widerherstellung kindlicher Subordination. Die öffentliche Jugendfürsorge war immer weniger bereit und in der Lage, kurze Überbrückungslösungen oder schockartige Bestrafungen, wie sie den Eltern vorschwebten, „zur Verfügung“ zu stellen. Die Vertreter des Staates misstrauten der Lauterkeit der elterlichen Motive bei der erzieherischen Inanspruchnahme öffentlicher Maßnahmen und glaubten eine Neigung zur Abschiebung elterlicher Verantwortung ausmachen zu können. Umgekehrt schwand auch auf Seiten der Fürsorgeadressaten das Vertrauen in das erzieherische Unterstützungsversprechen des Staates. Die Eltern mussten nicht nur die Erfahrung machen, dass sie keinen wirklichen Einfluss mehr auf die Gestaltung und Dauer der Fremdunterbringung hatten; im Zuge des Wandels in den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen abweichenden Kindes- und Jugendverhalten gerieten sie auch zunehmend selbst in den Fokus der behördlichen Ermittlungen. Man setzte sie dem Verdacht aus, die
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eigentlichen Verursacher der Schwierigkeiten zu sein, mit denen sie an die Behörden herangetreten waren. Am sichtbarsten war die Konkurrenzstellung der elterlichen und staatlichen Erziehungsabsichten bei den vormundschaftsgerichtlichen Eingriffen in das elterliche Sorgerecht. Der Sorgerechtsentzug brach mit der Vorstellung eines Hand-in-Hand-Arbeitens elterlicher und staatlicher Autorität. Mit ihm wurde die implizite oder explizite Behauptung aufgestellt, dass die Eltern nicht gewillt oder in der Lage waren, ihre Kinder „ordnungsgemäß“ zu erziehen. Gleichzeitig wurde mit ihm das staatliche Vorrecht geltend gemacht zu definieren, was eine „ordnungsgemäße Erziehung“ überhaupt ausmache. Es ist bezeichnend, dass die Eingriffe in die elterliche Erziehung zunächst dort an praktischer Bedeutung gewannen, wo die Eltern ihre einmal gegebene Zustimmung zur öffentlichen Erziehung widerriefen. Ebenso charakteristisch war für die zwei Dekaden vor der Jahrhundertwende allerdings, dass der Sorgerechtsentzug ultima ratio blieb und nur selten Anwendung fand. Ein allzu offener Konfrontationskurs wurde nach Möglichkeit vermieden. Das hing nicht nur mit moralischen Skrupeln zusammen, sondern war vor allem dem Umstand geschuldet, dass – zumindest in Hamburg – die rechtliche Absicherung der Eingriffe problematisch und der Ausgang einer Überprüfung im Beschwerdeverfahren ungewiss war. Das Inkrafttreten des BGB mit seinem § 1666 im Jahre 1900 brachte eine entscheidende Veränderung im Verhältnis von Fürsorgeadressaten und staatlichen Behörden mit sich. Die große Zahl der Anzeigen, die in den Folgejahren aus der Bevölkerung beim WHK und der Vormundschaftsbehörde wegen Kindesvernachlässigung und –misshandlung einging, zeugte davon, dass die Sorge um die „guten Kinder schlechter Eltern“ ins öffentliche Bewusstsein gedrungen war. Systematisch nachgegangen werden konnte solchen Anzeigen allerdings nur, weil gleichzeitig die neue Institution des Gemeindewaisenrats (GWR) ins Leben gerufen worden war, der sich in Hamburg auf ein weitverzweigtes Netz an ehrenamtlichen Waisenpflegern stützen konnte. Die praktischen Auswirkungen, welche die reichsrechtliche Klarstellung der staatlichen Eingriffsbefugnisse und der zugleich erfolgte Ausbau der Gerichtshilfeinstitutionen auf das Verhältnis von Fürsorgebehörden und Fürsorgeadressaten hatten, waren weniger eindeutig, als man zunächst vermuten würde. § 1666 BGB und die auf ihn bezogenen weiteren Bestimmungen des BGB hatten zwar zu einer Ausdehnung justizförmiger Sozialkontrolle geführt. Gleichzeitig aber war den informellen Eingriffspraktiken, die sich auf die Institution der Anstaltsvormundschaft gestützt hatten, die rechtliche Grundlage entzogen worden. Mit anderen Worten: Die reichsrechtliche Vereinheitlichung der Eingriffsnorm etablierte nicht von heute auf morgen eine völlig neue Maßnahme zum Schutz „gefährdeter“, noch nicht „verwahrloster“ Kinder. Was sich gewandelt hatte, waren vor allem die Modalitäten der
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staatlichen Eingriffe. Statt auf administrativem Wege wurden den Eltern ihre Kinder jetzt auf gerichtlichem Wege abgenommen. Die Auswirkungen, die dieser Wechsel der Eingriffsmodalitäten für das Verhältnis von Fürsorgeadressaten zu Fürsorgebehörden hatte, waren ambivalent. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass die von Donzelot formulierte These, die Vormundschafts- und Jugendgerichte des beginnenden 20. Jahrhunderts hätten zur institutionellen Verankerung eines „Vormundschaftskomplexes“ geführt, der die Angehörigen der Kinder zu Mitangeklagten stempelte und sie in ein unentrinnbares Machtgefüge von Sozial- und Fürsorgeexperten einspannte, jedenfalls für Hamburg im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einseitig ist. Tatsächlich war die Rechtsstellung von Eltern im Sorgerechtsentzugsverfahren verglichen mit derjenigen von Angeklagten im Strafverfahren relativ schlecht. Selbst Zeitgenossen hielten das „kommissarische Verfahren“, das in Hamburg über den gesamten untersuchten Zeitraum hinweg beibehalten wurde, unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten für bedenklich.1 Vergleicht man die Position der Eltern allerdings mit derjenigen, die sie im Rahmen der informellen, administrativen Eingriffe und auch nach den landesrechtlichen Bestimmungen vor 1900 hatten, so stellten die verfahrensrechtlichen Regelungen des BGB und FGG eine bedeutende Verbesserung dar. Ein dauerhafter Eingriff in die elterlichen Rechte und eine Wegnahme von Kindern mussten jetzt immer auf einem formellen Beschluss der Vormundschaftsbehörde beruhen. Anders als das WHK, das in früheren Tagen die Abnahme von Kindern nur auf seine überlegene amtlich Stellung und seine Rechte als Anstaltsvormund stützte, ohne den Eltern Rechenschaft über die Gründe seiner Handlungen abzulegen, war die Vormundschaftsbehörde nun gezwungen, die Gründe der Schutzmaßnahme darzulegen. Gegen die Beschlüsse war außerdem ein klar geregeltes, dreigliedriges Beschwerdeverfahren möglich, das die Eltern auch regelmäßig in Anspruch nahmen. Hinzu kam, dass besonders in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des BGB von einer amtlichen und gerichtlichen Routine im Umgang mit den „guten Kindern schlechter Eltern“ keine Rede sein konnte. Die genauen Verfahrensabläufe, die fachlichen Gesichtspunkte, an denen sich die waisenrätlichen Ermittlungen orientieren sollten und die Ausdeutung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 1666 BGB – dies alles war am Anfang noch unklar und eröffnete den betroffenen Eltern manche Handlungsspielräume. Die beteiligten Behörden – Armenanstalt, Vormundschaftsbehörde und WHK – brachten ganz unterschiedliche Interessen und fachliche Gesichtspunkte in die Ausgestaltung des Verfahrens ein. Auf diese Weise konnten sich überraschende neue Allianzen zwischen den ein1
Vgl. die oben, S. 453 zitierten Äußerungen des Präses der Vormundschaftsbehörde Ulrich Moller.
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zelnen Verfahrensbeteiligten und involvierten Behörden ergeben. Der in der umfassenden Anwendung des Sorgerechtsentzugs angelegte Konfrontationskurs führte nicht nur dazu, dass die Interessensüberschneidungen zwischen den betroffenen Eltern und ihren Kindern gegenüber den alten Allianzen der Erwachsenen in den Vordergrund traten. Schon vor 1900 kam den Eltern, deren Erziehungsbefähigung vom WHK und der Vormundschaftsbehörde angezweifelt wurde, zugute, dass die Armenbehörde auf eine möglichst rasche Entlassung von Minderjährigen aus der öffentlichen Waisenpflege drängte. Auch die Parteinahme der ehrenamtlichen Ermittlungsorgane war wenig zuverlässig. Die Waisenpfleger des WHK konnten ihre Arbeit nicht ausschließlich an fachlichen Vorgaben orientieren, sondern mussten auch ihr Ansehen im Quartier im Auge behalten.1 Nicht zuletzt zeichnete sich bei den Richtern der Beschwerdeinstanzen so etwas wie Verständnis für die schwierige Lage ab, in der sich die Eltern zumeist befanden. Eltern, die gegen Entzugsbeschlüsse der Vormundschaftsbehörde rechtlich vorgingen, hatten durchaus Chancen, mit ihren Beschwerden bei Richtern des LG und OLG auf offene Ohren zu stoßen. Das lag nicht nur an der in der höheren Richterschaft immer noch weitverbreiteten liberalen Grundhaltung und ihrer vermeintlichen „Praxisferne“. Zum Teil konnten die Richter der Beschwerdeinstanzen aufgrund ihrer von unmittelbarem Handlungsdruck entlasteten Situation auch das komplexe Bedingungsgefüge, das zum Scheitern familialer Sozialisationsprozesse führte, besser überblicken als die Vertreter der vorgeschalteten Instanzen. Aus ihrer Position heraus ließen sich zudem die negativen Folgewirkungen einer an bürgerlichen Erziehungsvorstellungen orientierten Interventionspraxis vergleichsweise nüchtern billanzieren. Im Kontrast zur Vorstellung des „Vormundschaftskomplexes“ steht insbesondere das selbstbewusste Handeln der Eltern. Die Väter und Mütter, deren Erziehungsverhalten von den Behörden und Gerichten „unter die Lupe“ genommen wurde, verhielten sich nicht wie passive, wehrlose Objekte der vormundschaftsgerichtlichen Eingriffe. Die Personenakten der Vormundschaftsbehörde, die aus den Jahren 1884-1914 erhalten geblieben sind, vermitteln ein lebendiges Bild von den unterschiedlichen Reaktionen und Einstellungen der betroffenen Eltern, ihrem Widerspruchsgeist und ausgeprägten Selbstbewusstsein. Obwohl das Ver1
Ein allzu unnachsichtiges Vorgehen gegen in der Nachbarschaft lebende arme Leute konnte für sie unangenehme Folgen haben. Bei Spezialvormündern bzw. Waisenpflegern, die eine gewisse professionelle Vorbildung in ihre Tätigkeit einbrachten, kam noch hinzu, dass sie den Konfrontationskurs der Behörden unter Umständen sogar aus berufsethischen oder fachlichen Gründen für bedenklich hielten. So stellte sich z.B. heraus, dass die Stadtmissionare der „Inneren Mission“, von denen man hätte erwarten können, dass sie die Vormundschaftsbehörde zur Durchsetzung der eigenen sittlichen Werte in Anspruch nehmen würden, gegenüber dem gerichtlichen Vorgehen eine auffällige Reserve an den Tag legten. Ihr Handeln zielte ganz offensichtlich noch immer vorwiegend darauf ab, die patriachale Familienstruktur zu stabilisieren.
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hältnis zwischen Richtern, Behördenvertretern und Eltern asymmetrisch war, nutzten viele Eltern die ihnen verbleibenden Handlungsspielräume gekonnt aus, um ihre abweichende Sichtweise der Dinge darzulegen und den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Sie legten gegen die ergangenen Entzugsbeschlüsse Rechtsmittel ein oder wehrten sich gegen die Eingriffe durch eigenmächtige Aktionen des Versteckens oder der „Befreiung“ ihrer Kinder. Man kann in der dokumentierten Willensstärke und Entschlossenheit der Eltern einfach nur den Ausdruck der Schwere der Eingriffe sehen. Nicht zum geringsten Teil spiegelte sich in ihnen jedoch auch das Selbstbewusstsein der unteren Bevölkerungsschichten wider, das in Hamburg durch Ereignisse wie den Waisenhausskandal von 1885/86 oder das Staatsversagen im Cholerajahr 1892 entscheidend bestärkt worden war. Die Eltern begriffen sich zunehmend als Rechtssubjekte. Sie wollten ernst genommen werden, scheuten nicht mehr davor zurück, ihre anderslautende Meinung gegenüber Behördenvertretern zu artikulieren und traten staatlichen Maßnahmen, die sie für ungerechtfertigt hielten, entschlossen entgegen. Überblickt man die Ergebnisse aus der Untersuchung der Hamburger Rechtspraxis, so stellt sich die Frage, inwieweit sich diese auch auf andere deutsche Großstädte und Staaten übertragen lassen. Auf das Problem der Repräsentativität des Hamburger Fallbeispiels konnte in der vorliegenden Untersuchung nicht detaillierter eingegangen werden. Da über die Praxis des Sorgerechtsentzugs in anderen deutschen Großstädten bislang nur wenig bekannt ist, wäre hierzu eine komparativ angelegte Studie erforderlich. Gleichwohl gibt die vorliegende Untersuchung Anhaltspunkte für die Einschätzung des allgemeinen Stellenwerts der Hamburger Jugendfürsorge im Kontext des Deutschen Reiches. So ließ sich zeigen, dass die besondere präventive Stoßrichtung, welche die Vertreter der Hamburger öffentlichen Jugendfürsorge als einer Art Markenzeichen ihrer Tätigkeit verstanden, tatsächlich ein hervorstechendes Kennzeichen des staatlichen Umgangs mit armen und/oder devianten Minderjährigen in der Hansestadt darstellte. Im Vergleich etwa zu Berlin besaß die vorbeugende, zivilrechtlich verankerte öffentliche Ersatzerziehung in Hamburg sowohl in quantitativer als auch in organisatorischer Hinsicht einen sehr viel höheren Stellenwert. Während in der Reichshauptstadt die „guten Kinder schlechter Eltern“ vor dem ersten Weltkrieg weniger als ein Zwanzigstel aller „Fürsorgezöglinge“ ausmachten, betrug ihr Anteil an den gerichtlich fremduntergebrachten Kindern in Hamburg bereits mehr als zwei Fünftel.1 Oder anders ausgedrückt: Die Beobachtung des erzieherischen Fehlverhaltens der Eltern durch die staatlichen Behörden und der daraus sich ergebende Konfrontationskurs war in Hamburg ausgeprägter bzw. weiter vorange1 Vgl. oben, S. 481 Tabelle 10 u. Stat. Jahrbuch Preußen 11.1913, S. 510; STAH 354-2, A 3, Jahresbericht des Waisenhauskollegiums für das Jahr 1911.
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schritten als in Berlin und vermutlich auch in vielen anderen Großstädten des Reiches.1 Die besondere Bedeutung, die der vorbeugenden Zwangserziehung in Hamburg zukam, war zum einen Ausdruck der weit vorangeschrittenen Zentralisierung und Verstaatlichung der Jugendfürsorgetätigkeit. Während in anderen deutschen Metropolen sich noch vorwiegend die privatwohltätige Jugendfürsorge um die „gefährdeten Kinder“ kümmerte, wurde in Hamburg fast jede Tätigkeit, welche die Ausübung eines gewissen Maßes an Zwang erforderte, als „hoheitliche Aufgabe“ verstanden und dem WHK bzw. in späteren Jahren der „Behörde für öffentliche Jugendfürsorge“ übertragen. Dass dies so ungehindert vonstatten gehen konnte, war Ausdruck der besonderen lokalen Verhältnisse sowie der politisch-konstitutionellen Traditionen, die den Stadtstaat an der Elbe prägten. In Hamburg war aufgrund der Identität von Staat und Kommune ein Kostenstreit, wie er in Preußen um die „künstliche Hilfsbedürftigkeit“ geführt wurde, undenkbar. In jedem Fall mussten die Kosten der öffentlichen Ersatzerziehung vom Staat, das heißt aus Steuereinnahmen beglichen werden. War über die Notwendigkeit und Richtigkeit vorbeugender öffentlicher Erziehungsmaßnahmen erst einmal eine klare politische Richtungsentscheidung herbeigeführt, so gab es keinen Anlass mehr für Querelen um die Finanzen. Hinzu kam, dass auch der latente Konflikt „Normen-“ versus „Maßnahmenstaat“, der für den Disput zwischen Interventionisten und Antiinterventionisten auf Reichsebene eine entscheidende Rolle spielte, in Hamburg nie einen vergleichbaren Stellenwert besaß. Die Ausdehnung staatlicher Eingriffsbefugnisse in die „natürlichen“ Rechte der Eltern wurde weniger als ein Wiederbelebungsversuch polizeistaatlicher Traditionen verstanden. Sie wurde vielmehr als eine folgendschwere Verwischung der althergebrachten Trennlinie von ehrenhafter Waisenpflege und unehrenhafter Zwangsfürsorge problematisiert. In Hamburg waren Liberalismus und Pragmatismus stets eng verbunden gewesen. Wenn es darauf ankam, den eigenen Bedenken gegen die vermehrte Staatstätigkeit auf jugendfürsorgerischen Gebiet Nachdruck zu verleihen, so zögerte man im Stadtstaat zwar nicht, die um die rechtsstaatlichen Grundlagen des Reiches besorgten preußischen „Freisinnigen“ zu zitieren.2 Einen Rückfall in vorrevolutionäre Zeiten musste das Hamburger Bürgertum aber nicht befürchten. Die festgestellte Vorrangstellung Hamburgs im Bereich präventiver staatlicher Jugendfürsorgetätigkeit hatte für die weitere Ausgestaltung des Praxisfeldes durchaus widersprüchliche Folgen. Zum einen wurde in Hamburg früher als an1
Vgl. zur Situation in Frankfurt a.M. etwa: Hubert [2005], S. 72 ff. Der wichtigste Hamburger Widersacher gegen die Einführung der vorbeugenden Zwangserziehung , Salomon Belmonte, schloss sich in seinen öffentlichen Stellungnahmen ausdrücklich den Positionen des Berliner Stadtabgeordneten Eberty an. Vgl. oben S. 366. 2
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dernorts der Konfrontationskurs gegen „pflichtvergessene“ Eltern durchgesetzt. Abgefedert oder verschleiert wurde dieser höchstens durch die Einspannung der ehrenamtlichen Waisenpfleger, die in gewisser Weise die traditionelle Hamburger Fürsorgetradition fortsetzten. Dass aber auch die Waisenpfleger als staatliche Organe verstanden wurden, die ihre Aufträge notfalls mit physischer Gewalt durchsetzen mussten, wurde an den Äußerungen des zweiten Direktors des WHK Johannes Petersen ebenso unmissverständlich deutlich wie an den Strafbestimmungen des ZEG von 1907.1 Eine solche Konfrontation musste das Misstrauen zwischen Fürsorgeadressaten und staatlichen Behörden vertiefen und die Basis der bisher vorherrschenden kooperativen Unterstützungsformen vollends erschüttern. Der privatwohltätige Jugendschutz versuchte sich zwar als Alternative zur harten staatlichen Gangart zu präsentieren, wurde aber vom übermächtigen WHK und seinem Direktor schnell in die Schranken verwiesen. Auf der anderen Seite begünstigte die systematische Einbeziehung der „guten Kinder schlechter Eltern“ in die staatliche Zwangserziehung und die damit verbundene Abkehr von der konditionalen Verwaltungslogik auch eine verstärkte Ausdifferenzierung, Individualisierung und Pädagogisierung der öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen. Das nahm den staatlichen Jugendfürsorgemaßnahmen, die auf den Ausgleich von Sozialisationsdefiziten gerichtet waren, den bisher vorherrschenden Straf- und Zwangscharakter. Diese Veränderungen wurden offenbar von weiten Teilen der Hamburger Bevölkerung begrüßt und unterstützt.2 Schließlich führte die Hamburger Vorrangstellung auf dem Gebiet des staatlichen Jugendschutzes auch dazu, dass die Grundwidersprüche der modernen öffentlichen Jugendfürsorge, wie sie etwa im Umgang mit dem Problem der „Unerziehbaren“ oder im Bereich der „ergänzenden“ Jungendfürsorge im Widerspruch von Kontrolle und Hilfe zum Ausdruck kamen, in Hamburg früher als andernorts sichtbar wurden. In der Folge traten nicht nur die ersten Krisensymptome umfassender staatlicher Jugendfürsorgetätigkeit besonders frühzeitig in Erscheinung; aus den zutage tretenden Schwierigkeiten konnten sich auch „positive“ Lerneffekte ergeben, die zur Adaption reformpädagogischer Konzepte und der Wiederbelebung kooperativer Unterstützungsformen führten. Neben der Frage nach der räumlichen Übertragbarkeit der am Hamburger Fallbeispiel gewonnenen Befunde drängt sich erneut die Frage nach den Bezü1 Petersen verglich die Aufgabenverteilung zwischen ehrenamtlicher Waisenpflege und Behördenzentrale mit derjenigen von Patrouillen und Generalstab beim Heer. Vgl.: Petersen [1912b], S. 40 f. u. oben, S. 214, Anm. 1. § 14 des Hamburger ZEG drohte allen Eltern, die der Ermittlungstätigkeit der Waisenpfleger Widerstand entgegensetzten, mit empfindlichen Geld- oder sogar Haftstrafen. Vgl. §§ 10-14 des „Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige vom 11. September 1907“ in: Gesetzsammlung FHH, 44/1907, S. 231-234. 2 Selbst die Sozialdemokraten hatten an dem neuen System abgesehen von den in Ohlsdorf üblichen „Körperstrafen“ anscheinend nichts grundlegendes auszusetzen. Vgl. oben, S. 248.
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gen zur Gegenwart auf. Ein direkter Vergleich der heutigen und damaligen Situation ist durch den grundlegenden Wandel der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Verlauf der letzten hundert Jahre verstellt. Will man dennoch einen Vergleich wagen, so deutet zunächst manches darauf hin, dass sich die Situationen am Anfang des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts spiegelbildlich zueinander verhalten. Während damals der Staat und die großstädtischen Kommunen immer weitere Bereiche der sozialen Daseinsvorsorge an sich zogen, gibt es gegenwärtig vielfältige Anzeichen dafür, dass sich die staatlichen Instanzen aus dem Bereich der Sozial- und Jugendpolitik zurückziehen und eine Wiedervergesellschaftung erzieherischer Problembewältigung betreiben. Kommunen und Länder konkurrieren derzeit nicht mehr um den Ausbau, sondern um den Abbau der sozialen Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Eine solche Betrachtungsweise verkennt allerdings, dass die gegenwärtige Umsteuerung in der Sozialpolitik nicht einfach auf einen Rückzug des Staates hinausläuft. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf den Wechsel der staatlichen Leitkonzepte. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Interventionen zugunsten „gefährdeter Kindern“ als Krönung einer evolutionären Entwicklung verstanden wurden, die vom „Wohlfahrtsstaat“ des 18. über den „Rechtsstaat“ des 19. hin zum „Kulturstaat“ des 20. Jahrhunderts führte1, orientiert sich die Sozialpolitik der Gegenwart am Leitkonzept des „aktivierenden Staates“, das die früher propagierte Idee vom „schlanken Staates“ ablöste.2 Hinzu kommt, dass auf einem eher allgemeinen Niveau die gesellschaftlichen Situation oder besser gesagt: die gesellschaftlichen Stimmungslage heute und damals doch zahlreiche Übereinstimmungen aufweist. Wie vor hundert Jahren, so befinden wir uns auch gegenwärtig wieder in einer Phase beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, der von einer Zunahme wirtschaftlicher Verflechtungen, erhöhter Mobilität und massiven Individualisierungsschüben geprägt ist. Dieser Wandel geht einher mit einem Prozess verschärfter sozialer Marginalisierung und räumlicher Ausgrenzung derjenigen Bevölkerungsteile, die aus persönlichen oder strukturellen Gründen mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht Schritt halten können. Vor diesem Hintergrund tritt die Frage nach den Vorraussetzungen sozialer Integration und sozialen Zusammenhalts erneut in den Vordergrund der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen. Für diese neue Thematisierung der „sozialen Frage“ ist kennzeichnend, dass sie gewöhnlich aus einer diffusen Stimmungslage der Unsicherheit und Angst heraus er1
Mohrmann [1934], S. 80 Das Leitkonzept des „aktivierenden Sozialstaats“ wurde während der rot-grünen Regierungskoalition in den Jahren 1998-2005 ausformuliert. Vgl. dazu in kritischer Perspektive: Dahme/Wohlfahrt [2002]. 2
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folgt. Besonders deutlich wird dies an der öffentlichen Debatte über die Familie als Normvermittlungsinstanz und „Motor“ gesellschaftlicher Integration. Die Bilder über den Zustand des Familienleben sind gegenwärtig ähnlich unscharf und verzerrt wie während des Kaiserreichs. Fast ausnahmslos werden die Defizite der familialen Erziehung in der „neuen Unterschicht“ debattiert. Es lässt sich eine zunehmende Moralisierung der Auseinandersetzung mit den Sozialisationsbedingungen marginalisierter Bevölkerungskreise beobachten, die gepaart ist mit dem Bemühen um symbolische Abgrenzung und Distinktion. Wie es für Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher Verunsicherungen typisch ist, wird parallel zur Problematisierung der Familie und ihrer Sozialisationsleistungen auch das Verhalten „der“ Jugend einmal mehr zum Krisenphänomen erklärt. Das gilt in doppelter Hinsicht: Die Minderjährigen und ihr Verhalten werden in der öffentlichen Auseinandersetzung als Seismographen der anomischen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft betrachtet. In diesem Zusammenhang gelten vor allem aggressives Jugendverhalten und das vermeintliche oder tatsächliche Ansteigen der Jugendkriminalität als Alarmsignale, die zu einem entschiedenen Gegensteuern auffordern. Gleichzeitig bilden Minderjährige auch den Kristallisationspunkt einer Verunsicherung über die Verbindlichkeit und Gültigkeit humaner Werte in einer zunehmend komplexer werdenden, durchökonomisierten Welt. In diesem Zusammenhang wird von Sozialpolitikern und Wohlfahrtsverbänden die Außerkraftsetzung der elementarsten Empfindungen von Empathie und Mitleid gegenüber „unschuldigen“, „wehrlosen“ Kindern thematisiert und eine neue „Kultur des Hinschauens“ verlangt.1 Beide Ebenen der Problematisierung werden derzeit wieder zum Anlass genommen, eine neue, stärker auf Konfrontation denn auf Kooperation setzende staatliche Umgangsweise mit „problematischen“ Sozialisationsverläufen einzufordern. Es existieren vielfache Bestrebungen, die darauf hinauslaufen, durch polizeiliche, administrative und pädagogische Maßnahmen sowohl gegenüber devianten Minderjährigen als auch „nachlässigen“ Eltern staatliche Entschlossenheit zu demonstrieren.2 Dabei werden lückenlose Kontrolle und präventive Zugriffe 1 Die doppelte Problematisierung kindlichen Verhaltens führt dazu, dass das in der öffentlichen Auseinandersetzung gezeichnete Bild vom Kind regelmäßig zwischen Dämonisierung und Überhöhung changiert. Vgl. hierzu: Honig [2001]. 22 In diesem Zusammenhang wurden auch die Bestimmungen des § 1666 BGB erneut einer Revision unterzogen: Durch Aufnahme eines Katalogs unterschiedlicher familiengerichtlicher Schutzmaßnahmen in den Gesetzestext sollen Richter ermuntert werden, früher als bisher in die elterliche Erziehung einzugreifen. Das „Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ ist am 12.7.2008 in Kraft getreten. Mit der Novellierung des § 1666 BGB ist eine bemerkenswerte (Rück-)Verlagerung der Kompetenzen von den Jugendämtern auf die Gerichte verbunden, deren praktische Wirkung sich erst in den kommenden Jahren herausstellen wird. Kritisch hierzu aus verfassungsrechtlicher Sicht: Wapler [2009].
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von zahlreichen Politikern und manchen Fachvertretern wieder als erfolgsversprechende Konzepte öffentlichen Handelns propagiert. Die Frage nach dem komplexen gesellschaftlichen Bedingungsgefüge, das zur seelischen, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung von Kindern beiträgt, tritt dabei in den Hintergrund. Kaum erörtert wird außerdem die Frage, wie sich die Forderung nach einem entschlosseneren staatlichen Vorgehen mit den Bemühungen der Kommunen vereinbaren lässt, ihre Haushalte zu konsolidieren. Die aus Fürsorgegeschichte und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen bekannten Folgeprobleme einer verstärkten Staatstätigkeit im Bereich der Jugendfürsorge bleiben weitgehend unbeachtet, und entsprechend uneindeutig sind die allgemeinen Vorstellungen darüber, wie es gelingen kann, Kinder, die familiengerichtlich von ihren Eltern getrennt wurden, auf ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben vorzubereiten. Angesichts der aufgezeigten historischen Parallelen gewinnt man den Eindruck, dass das staatliche Engagement zugunsten „gefährdeter“ und „verwahrloster“ Kinder in längeren Wellenbewegungen verläuft. Diese Wellen folgen zum Teil den wirtschaftlichen Konjunkturzyklen; aber sie besitzen auch ihren eigenen Rhythmus. Richard Krugmann hat – mit Blick auf die US-amerikanische Entwicklung - als einer der ersten auf diese zyklische Dynamik von Kinderschutzprogrammen hingewiesen.1 Der betreffende Diskurs unterliegt bestimmten Konjunkturen und „Moden“. Es gibt Themen und Fragestellungen, die nur von vorübergehender Bedeutung waren. Von „Fortschritten“ im Sinne gerichteter, unilinearer Prozesse kann nur selten gesprochen werden. Kinderschutzpolitiken erschöpfen sich regelmäßig in symbolischen, kurzfristigen und meist reaktiven Maßnahmen. Selten sind sie von substanzieller Bedeutung. Gewöhnlich sind sie der „wahrgenommenen Krise des Augenblicks“ geschuldet.2 Ob die Maßnahmen allgemein zu beobachtende gesellschaftliche Trends – wie der allmähliche Rückgang von Gewalttätigkeiten in der Familie – überhaupt nennenswert zu beeinflussen vermögen und ob auf längere Sicht eher die positiven oder die negativen Seiten „interventiver Familienpolitiken“ überwiegen, lässt sich nur aus einiger Distanz einschätzen. Eine zyklische Geschichte des Kinderschutzes könnte für die aktuelle Debatte in mehrfacher Hinsicht ertragreich sein: Zum ist sie geeignet, den Blick für die gesellschaftlichen Prozesse zu schärfen, in die der Ausbau der konkreten Schutzprogramme eingebunden ist (ökonomischer, sozialer, politischer Wandel). Instruktiv ist das Krugmannsche Bild außerdem, weil es die Chance eröffnet, bestimmte historische Abschnitte miteinander zu vergleichen, mithin eine historisch-komparative Perspektive stark zu machen. Dem Wandel staatlicher Leit1 2
Krugmann [1999] A.a.O., S. 963. Übersetzung: J.R.
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konzepte scheint dabei eine tragende Rolle zuzukommen. Schließlich könnte die zyklische Betrachtungsweise hilfreich sein, um die konkreten politischen, administrativen und fachlichen Voraussetzungen substanzieller Verbesserungen - im Sinne einer Überwindung der „Pathologien der Moderne“ – im Bereich des Kinderschutzes zu bestimmen. Bislang ist eine zyklische Geschichte des Kinderschutzes ein Desiderat der Forschung. Sie ist nur als breitangelegte Sekundäranalyse denkbar, die auf einer Vielzahl mehrperspektivisch ansetzender lokalgeschichtlicher Fallstudien aufruhen muss. Hierzu einen Beitrag zu leisten war Ziel der vorliegenden Untersuchung.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1
Archivalien
Alle genutzten Archivalien stammen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg. Es wurden folgende Teilbestände und Akten ausgewertet:
111-1 Senat Cl. VII, Lit. Cc No. 16 Vol. 14, (1904: Aufnahme von Minderjährigen in Erziehungsanstalt Ohlsdorf auf Antrag der gesetzlichen Vertreter) Cl. VII, Lit. Cc No. 16 Vol. 19 (1907. Behörde für Zwangserziehung. Eingabe des Vereins zum Schutze der Kinder vor Ausnutzung und Misshandlung) Cl. VII, Lit. Lb No. 35 Vol. 10, Fasc. I, II u. III (1824-1832: Akte, betr. die mittels Ratsund Bürgerschluss vom 11. Juli 1931 erlassenen VO. Kritik der Verhältnisse und Vorschläge zu einer Neuordnung durch H. Hudtwalcker.) Cl. VII, Lit. Lb No. 35 Vol. 13 (1833-1843: Jahresberichte der Vormundschaftsdeputation an das Obergericht) Cl. VII, Lit. Qc No. 3 Vol 52, Fasc 5 (1874-1877-1887: Waisenhaus: Personalia, generalia et specialia: Waisenvater Schultz, Anstalts-Arzt Dr. Fischer, Buchhalter Nohr, Krankenwärterin Alms und Zöglingen) Cl. VII Lit. Qc Nr. 3 Vol. 54 (Akta betreffend die Verwaltung des Waisenhauses und die Anstellung eines Directors an demselben, Einsetzung einer VermittelungsDeputation) Cl. VII Lit. Q c Nr. 3 Vol. 55 Fasc. 1 (Anstellung des Waisenhausdirektors Stalmann 1889 und dessen Tod 1900)
121-3 I Bürgerschaft I C 875 (1868-1870, 1886 bis 1890: Erziehungssystem im Waisenhaus infolge schwerer Vergehen des Personals notwedige Neuorganisation des Waisenhauses und Anstellung eines Direktors, Familienerziehung für Waisenhauszöglinge) C 892 (1900: Erlass eines Gesetzes über die Zwangserziehung Minderjähriger) C 893 (1905-1907 (1909): Erlaß von Gesetzen über die Zwangserziehung Minderjähriger, über die öffentliche Fürsorge für sie, über das Armenwesen und über die Oberaufsicht über milde Stiftungen)
J. Richter, „Gute Kinder schlechter Eltern“, DOI 10.1007/978-3-531-92783-1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
638
Quellen- und Literaturverzeichnis
131-15 Senatskanzlei, Personalakten, C 290
232-1 Vormundschaftsbehörde A I a, Bände 14-68 (1831-1899: Vormünderprotokolle)
(Detaillierte Quellen- und sonstige angaben zu den ausgewerteten Personenakten sind über den „OnlinePlus“-Service des Verlags im Internet einzusehen: www.vs-verlag.de/buch/ 978-3-531-17625-3/)
241-1 I Justizverwaltung I I Aa 1 Vol. 10 (1894-1895: Hamburgische Kommission für das Bürgerliche Gesetzbuch, Protokolle der Kommission) I Cd 2 Vol. 2 (1880-1884: Akte betreffend Gesetz vom 14. Dezember 1883, betr. Abänderung der Vormundschaftsordnung und des Gesetzes, betr. die nichtstreitige Gerichtsbarkeit, vom 25. Juli 1879) I Cd 2 Vol. 6 (1883-87: Zwangserziehungsgesetz vom 6. April 1887) I Cd 2 Vol. 7 (1898-1908: Akte betreffend 1. ZEG vom 11. September 1907 und 2. Gesetz über die öffentliche Fürsorge für Minderjährige vom 11. September 1907) I Cd 2 Vol. 8 a (1885 bis 1921: Vormundschafts- und sonstige Fürsorgesachen Varia) IV A 1 Vol.1 (1887-1916: Akte betreffend ehemaliges Postgebäude in der Poststraße) VII Da Vol. 1 (1880-1918: Vormundschaftsbehörde, Vormundschaftsamt Generalia) VII Db Vol. 1 (1887- 1928: Akte betreffend Vormundschaftsbehörde, Vormundschaftsamt, Organisation) XXI B b 5 Vol. 1 B a 2, Vol. 18, 20, 23-26, 29, 30, 32, 38 (1880-1914: Jahresberichte der Vormundschaftsbehörde)
241-2 Justizverwaltung – Personalakten A 348 Personalakte Ulrich Philipp Moller A 797 Personalakte Carl Friedrich Brandis
331-3 Politische Polizei S 2837-6 Band 4 (Bürgerschaftswahlen 1898 – Sozialdemokraten)
Quellen- und Literaturverzeichnis
639
351-2 II, Allgemeine Armenanstalt II Band 347 (1897: Gutachten des Bezirksvorstehers Dr. Hermann Joachim in Waisenpflegesachen Kleinschmidt-Harms ...)
354-2 Erziehungsanstalt Ohlsdorf A 1 Nr.1 (1887-1888: Protokolle der Behörde für Zwangserziehung) A 2 (1880-1886: Jahresberichte 1880-1886) A 3 (1887-1913: Jahresberichte 1887-1913) A 9 (1887-1905: Vormundschaftliche Funktion der Behörde für Zwangserziehung) A 10 (1887-1907: Ausführung, Anwendung und Auslegung des Gesetzes, betreffend die Zwangserziehung verwahrloster jugendlicher Personen vom 6.4.1887) A 12 (1890-1911: Errichtung eines Zwangserziehungshauses) B 12 (1893: Berichtigung von Presseberichten über die Anstalt) C 18 (1885-1910: Aufnahmeprotokoll der Erziehungs- und Besserungsanstalt Ohlsdorf)
354-5 I Jugendbehörde I 23 (1898-1923: Die vormundschaftliche Stellung des Waisenhauskollegiums und seines Direktors seit Inkrafttretens des BGB) 24 (1899-1900: Geschäftsordnung des Gemeindewaisenrates) 26 (1901-1921: Örtliche und Sachliche Zuständigkeit des Waisenhauskollegiums, später Behörde für öffentliche Jugendfürsorge in Vormundschaftssachen) 27 (1901-1903: Neuorganisation des Gemeindewaisenrates und seiner Geschäftsordnung) 226 (1899-1920: Anwendung und Auslegung des § 1666 BGB) 472 (1908-1925: Beschlüsse des Oberlandesgerichts in Angelegenheiten der Zwangserziehung) 474 (1908-1926: Beschlüsse des Landgerichts in Zwangserziehungsangelegenheiten)
361-2 I Oberschulbehörde I D 5 Band 13 (1883: Sektion für das Volksschulwesen, Sektionsprotokolle 1883)
611-20/13 Verein 'Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V.' in Hamburg
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Quellen- und Literaturverzeichnis
7 (1910-1913: Anlagen zu den Protokollen der Arbeitsausschüsse)
2
Gedruckte Quellen
(Die in Klammern gesetzten Jahreszahlen geben das Erscheinungsjahr, die ohne Klammern das Berichtsjahr an. Angaben zum Erscheinungsverlauf beziehen sich nur auf den Zeitabschnitte, für die die Periodika als Quellen herangezogen wurden.) 2.1
Amtliche Veröffentlichungen
a) Hamburg Blätter für das Hamburgische Armenwesen, amtl. Organ der Hamburger Armenanstalt hrsg. vom Armenkollegium der Stadt Hamburg, Hamburg: Lütcke & Wulff, 1. 1893 - 29. 1921, 3. Zit.: BlHAW. Blätter für die hamburgische Waisenpflege und Jugendfürsorge, amtl. Organ des Hamburger Waisenhauskollegiums, Hamburg: 1. 1902 – 8. 1909 (fortgesetzt uunter dem Titel: Blätter für die Hamburgische Öffentliche Jugendfürsorge, Behörde für Öffentliche Jugendfürsorge, Hamburg: 9. 1910 – 22. 1923. Zit.: BlHWpfl. im Text auch: „Blätter ...“. Hamburger Adressbuch – Wirtschafts- und Firmenhandbuch, Hamburg: Hermann: 1888 – 1899; 114. 1900 –156. 1943. Zit.: HAB Hamburgische Rath- und Bürgerschlüsse, Hamburg: 1. 1801/25 (1828) – 1859 (1860), Zit.: Hbg. Rath- u. Bürgerschlüsse. Hamburgisches Staatshandbuch, amtl. Ausgabe, Hamburg: Lütcke & Wulff, 1897-1929. (zuvor: Hamburgischer Staat-Kalender, amtl. Ausgabe, Hamburg: u.a. Lütcke & Wulff, 1726 – 1896) Zit.: Hbg. StaHB Jahresberichte der Verwaltungsbehörden der freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg: Lütcke & Wulff, 1877 (1878) – 1927 (1928?) (1914-1924 nicht ersch.). Zit.: VerwBer. Protokolle und Ausschussberichte der Bürgerschaft, Hamburg: 1859/60-1921. Zit.: Prot. u. Ausschussb. Statistik des Hamburgischen Staats, hrsg. vom Statistischen Bureau der Steuerdeputation, Hamburg: Meißner, 1. 1867 – 31. 1821. Zit.: Stat. Hbg. Staats Statistische Mitteilungen über den Hamburgischen Staat, Hamburg: 1. 1910 – 32. 1933 (?). Zit.: Stat. Mitteilungen Stenographische Berichte der Bürgerschaft, Hamburg: 1899-1933 (März). Zit.: Stenogr. Berichte Bürgerschaft
Quellen- und Literaturverzeichnis
641
Verhandlungen zwischen Senat und Bürgerschaft, Hamburg: Lütcke & Wulff, 1859 (1860) - 1933. Zit.: Verh. Senat/Bürgerschaft.
b) Preußen und Reich Statistik des Deutschen Reiches – Kriminalstatistik, Verl. Für Sozialpolitik, Wirtschaft u. Statistik P. Schmidt, N.F. 45 (1890) – N.F. 284 (1914). Zit.: Reichskriminalstatistik Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat, Statistisches Bureau Preußen, Berlin: 1. 1903 (1904) – 30. 1934. Zit.: Stat. Jahrbuch Preußen Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, Preuß. Abgeordnetenhaus, Berlin: 4. 1855/58 – 22. 1913/18. Zit.: Verh. Pr. Abgeordnetenhaus Verhandlungen des Reichstages – Stenografische Berichte, Reichstag, Berlin: Verl. Der Buchdr. der Norddt. Allg. Zeitung, 1. 1871/73 – 11. 1903/06. Zit.: Verh. Reichstag
2.2
Einzelne Verordnungen sowie Gesetzes- und Entscheidungssammlungen
Entscheidungen in bei den hamburgischen Amtsgerichten anhängig gewordenen Grundbuchsachen, in Vormundschaftssachen und anderen Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (...), zusammengestellt beim Amtsgericht Hamburg: 1. 1900 – 10. 1929 Abgekürzt: Entsch. AG Gesetzsammlung der Freien und Hansestadt Hamburg, amtl. Ausgabe, Hamburg, 1. 1866 - 57. 1920 (1921). Zit.: Gesetzsammlung FHH Geschäfts-Ordnung für die Waisenpfleger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg. Hamburg: Lütcke & Wulff 1900. Geschäfts-Ordnung für die Waisenpfleger und deren Helferinnen in der Stadt Hamburg. Hamburg: Lütcke & Wulff 1902. Hanseatische Gerichtszeitung – Beiblatt: civilrechtliche Fälle, Hamburg: Meißner: 1. 1880 – 48. 1927. Zit.: Beiblatt HGZ Rechtsprechung der Oberlandesgerichte auf dem Gebiete des Zivilrechts, hrsg. von B. Mugdan und. R. Falkmann, Leipzig: Veit & Co. (später Berlin: de Gruyter), 1. 1900 – 46. 1928. Zit.: Rechtspr. OLG Zivilrecht Sammlung der Verordnungen der Freyen Hansestadt Hamburg, bearbeitet von J.M. Lappenberg, Hamburg: Meißner, 1. 1814 (1815)- 33. 1865 (1866). Zit.: Lappenberg
(Die zitierten zeitgenössischen Rechtskommentare sind im Verzeichnis „Sekundärliteratur vor 1945“ aufgenommen. Später nachgedruckte oder neu herausge-
642
Quellen- und Literaturverzeichnis
gebene Gesetzeswerke und Materialien finden sich im Verzeichnis „Sekundärliteratur nach 1945“)
2.3
Sonstige Periodika – Veröffentlichungen von Verbänden, privatwohltätigen Organisationen usw.
Bericht über die Verhandlungen des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages vom ..., Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag, Hannover u.a.: 1912 – 1914 (1915). (zuvor: Bericht über die Tagung des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages, Hannover, 1906). Zit.: Verh. AFET Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg, Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses, 1. (1850) – 33. (1882. Zit.: Fliegende Blätter Jahresberichte des Hamburger Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit, Hamburg 1. 1891 – 7. 1897 (?). Jahresberichte der Kinder-Anstalt des Rauhen Hauses, Hamburg: 18. 1851 (1852) – 26. 1859 (1860); 34. 1867 (1868). (zuvor: Jahresbericht des Verwaltungs-Raths der Rettungs-Anstalt für Sittlich Verwahrloste Kinder in Hamburg, Hamburg, 1. 1833/34 (1935) – 4. 1837/38 (1838); Jahresbericht über die Hamburger Rettungs-Anstalt für Sittlich Verwahrloste Kinder im Rauhen Hause zu Horn, Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses, 5. 1839 – 13. 1846 (1847) und Zusammengefasster Jahres-Bericht über die Kinder-Anstalt des Rauhen Hauses, Hamburg: 14./17. 1847/51 (1851); Nachf.: Nachricht über das Rauhe Haus, Hamburg: Agentur des Rauhen Hauses 35.38.1868-1871 (1872).) Zit.: Jahresbericht Kinderanstalt RH Jahrbuch der Fürsorge, hrsg. im Auftrag des Instituts für Gemeinwohl und des Archivs Deutscher Berufsvormünder, Dresden: Böhmert (später: Berlin: Springer), 1. 1906 7. 1913 (1914). Zit.: JdF Jahrbuch des Vereins Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V. für das Jahr ..., Kinderschutz und Jugendwohlfahrt e.V., Hamburg: 1910 (1911), 1912 (1913) 1933(1934). Die Jugendfürsorge, Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge, Berlin: Verl. der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge e.V., 1. 1900 – 16. 1915. Zit.: Die Jugendfürsorge Mitteilungen aus der Arbeit der Hamburger Stadtmission, Hamburg: Rauhes Haus, 1. 1893 –21. 1902. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der ... Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in ..., Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, Leipzig: Duncker & Humblot, 1882ff. Zit.: Stenogr. Berichte DVAW Zentralblatt für Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung, Organ des Archivs Deutscher Berufsvormünder, des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages und
Quellen- und Literaturverzeichnis
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des Deutschen Kinderschutzverbandes, Berlin: Heymann, 1. 1909/10 – 15. 1923/24. Zit.: ZBfVJF
(Das Verzeichnis enthält ausschließlich Titel und Reihen, die systematisch ausgewertet wurden. Auf eine Auflistung zum Erscheinungsverlauf, zur Herausgeberschaft usw. der zitierten Tageszeitungen wurde verzichtet. Hintergrundinformationen finden sich, so weit als nötig, im Text)
3 3.1
Sekundärliteratur Literatur vor 1945
Altona [1903] Altona: Fürsorgeerziehung und Kammergericht in: Die Jugendfürsorge, 2/1903, S. 82-92. Amsinck [1801] Wilhelm Amsinck: Eines freien deutschen Mannes freymüthige Betrachtungen über kriegerische Maaßregeln zur Hemmung des handels und deren verderbliche Folgen. Hamburg: 1801. Appelius [1892] Hugo Appelius: Die Behandlung jugendlicher Verbrecher und verwahrloster Kinder. Bericht der von der Internationalen Criminalistischen Vereinigung gewählten Commission in: Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit. Berlin: J. Guttentag 1892. Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg [1890] Architekten- und IngenieurVerein zu Hamburg (Hrsg.): Hamburg und seine Bauten, unter Berücksichtigung der Nachbarstädte Altona und Wandsbek. Hamburg: Selbstverlag 1890. Armenkollegium [1903] Armenkollegium (Hrsg.): Das öffentliche Armenwesen in Hamburg während der Jahre 1893-1902. Darstellung seiner Reorganisation und weiteren Entwicklung. Hamburg: Lütcke & Wulff 1903. Armenkollegium [1909] Armenkollegium (Hrsg.): Handbuch der Wohltätigkeit in Hamburg. Hamburg: Selbstverlag. Aschrott [1892] P.F. Aschrott: Die Behandlung der verwahrlosten und verbrecherischen Jugend und Vorschläge zur Reform. Berlin: Otto Liebmann 1892. Asher [1865] Heinrich Asher: Das Gängeviertel und die Möglichkeit, dasselbe zu durchbrechen. Hamburg: 1865. Baasch [1930] Ernst Baasch: Geschichte des Hamburgischen Zeitungswesens. Hamburg: Friedrichsen, de Gryter & Co 1930. Barenthin [1912] H. Barenthin: Kinderschutz-Kommission der sozialdemokr. Partei und der Gewerkschaftskommission von Berlin und Umgegend. Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 1. Juli 1911 bis zum 30. Juni 1912. Berlin: Vorwärts 1912.
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Baernreither [1905] Joseph Maria Bärnreither: Jugendfürsorge und Strafrecht in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Beitrag zur Erziehungspolitik unserer Zeit. Leipzig: Dunker und Humblot 1905. Baernreither [1908] Joseph Maria Bärnreither: Über Jugendgerichte in: Die Jugendfürsorge, 8/1908, S. 465-482. Baumeister [1856] Hermann Baumeister: Das Privatrecht der freien und Hansestadt Hamburg. Zweiter Band: Familienrecht, Erbrecht. Hamburg: Hoffmann und Campe 1856. Berger [1912] L. Berger: Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Beruf und Fruchtbarkeit unter besonderer Berücksichtigung des Königreichs Preussen in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts, 52/1912 , S. 225258. Berner [1901] Karl Gustav Heinrich Berner: Schlesische Landsleute. Leipzig: P. Schimmelwitz 1901. Blinckmann [1930] Theodor Blinckmann: Die öffentliche Volksschule in Hamburg in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Hamburg: Hartung 1930. Boese [1939] Franz Boese: Geschichte des Vereins für Sozialpolitik 1872-1932. Berlin: Duncker und Humblot 1939. Boschau [1915] Wilhelm Boschau: Das preußische Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900 mit der Änderung des Gesetzes vom 7. Juli 1915 nebst seiner Ausführung ergangenen Bestimmungen. Berlin: Franz Vahlen 1915. Brandis [1895] Otto Brandis: Die Hamburger Praxis in Civilsachen. Systematisch geordnete Rechtssätze aus den veröffentlichten Urtheilen Hamburgischer Gerichte. Hamburg: Meißner 1895. Brentano [1881] Lujo Brentano: Der Arbeiter-Versicherungszwang seine Voraussetzungen und seine Folgen. Berlin: Habel 1881. Classen [1914] Walther Classen: Das stadtgeborene Geschlecht und seine Zukunft. Leipzig: Eger 1914. Classen [1915] Walther Classen: Großstadtheimat. Beobachtungen zur Naturgeschichte des Großstadtvolkes. Hamburg: C. Boysen 1915. Classen [1932] Walther Classen: Sechzehn Jahre im Arbeiterquartier Zit. nach: Walther Classen: Ein Hamburger Pädagoge zwischen Tradition und Moderne. Hertzberg: Bautz 2001. Crasemann [1912] Edgar Crasemann: Der Umfang einer öffentlichen Berufsvormundschaft in: ZBfVJF, 4/1912, S. 157-160. Föhring [1883] Heinrich Föhring: Die Reform und der heutige Stand des Gefängniswesens in Hamburg. Hamburg: Hoffmann und Campe 1883. Hertz [1918] Wilhelm Hertz: Vorschläge zum künftigen Jugendstrafrecht in: Schriften des Ausschusses für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. Berlin: o.V. 1918.
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Bildnachweis
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Abb. 1: „Brauerknechtsgraben“. S/w-Fotografie (Postkarte), 1907. V. Plagemann (Hg.): Industriekultur in Hamburg. Des Deutschen Reiches Tor zur Welt. München 1984, S. 245. Abb. 2: „Brutstätten der Cholera in Hamburg“. Stich (Fotografie), 1893. „Über Land und Meer. Allgemeine Illustrirte Zeitung“ 1893, S. 142. Pictura Paedagogica Online Hildesheim: http://www.bbf.dipf.de/cgiopac/bil.pl?t_direct=x&f_IDN=b0080679hild Abb. 3: Hammerbroker Schlitzsbauten. S/w-Fotografie, um 1920. Hinrichsen [1983], S. 139 Abb. 4. Das „Rauhe Haus“. Kollorierte Tuschezeichnung (?) undatiert. Grolle [1998], Abb. 3, Bildteil II. Abb. 5. Hamburger Waisenhaus um 1910. S/w-Fotografie um 1910. Petersen [1911], Tafel II. Abb. 6: Karrikatur „Hamburger Waisenkinder-Sprüchlein – modernen Verhältnissen angepasst“. S/w-Stich aus der „Reform“ vom 9.10.1886. STAH Z 900-706 Reform 1886. Abb. 7: Salomon Abendana Belmonte. Stich (Zeitungsnachruf) unbek. Herkunft, 1888. STAH PL 215 Be 335. Abb. 8: Wilhelm Amsinck. S/w-Fotografie (Tusche), um 1800. Bernhard Koerner (Hrsg.): Geneologisches Handbuch Bürgerlicher Familien, ein deutsches Geschlechterbuch. Band 18. Görlitz: C.A. Starke: 1910. Abb. 9: Martin Hieronymus Hudtwalcker. Stich, 1864. STAH PL 215/Hu 42, 43, 44. Abb. 10: Albrecht Ohly. Retouchierte s/w-Fotografie, undat. Stadtarchiv Darmstadt. Abb. 11: Gustav Eberty. Retouchierte s/w-Fotografie, undat. Stadt-Museum Berlin, Inv.-Nr.: IV 80/801 V. Abb. 12: „Alte Post“ / Vormundschaftsbehörde. S/w-Fotografie, um 1900. STAH Plankammer, 131-6/189/1900.001 Abb. 13: Wohnungsskizze aus anwaltlischer Stellungnahme. Federzeichnung, 1886. STAH 232-1, Vormundschaftsbehörde, Serie III 874, Bl. 54.