Dieter Roth Empirische Wahlforschung
Dieter Roth
Empirische Wahlforschung Ursprung, Theorien, Instrumente und Method...
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Dieter Roth Empirische Wahlforschung
Dieter Roth
Empirische Wahlforschung Ursprung, Theorien, Instrumente und Methoden 2., aktualisierte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 1998 2. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15786-3
Vorwort
Dies ist die aktualisierte Ausgabe eines Lehrbuchs über empirische Wahlforschung, geschrieben für Studenten, Journalisten und politisch Interessierte. Die Wahlforschung – misst man sie an der Nachfrage ihrer Ergebnisse – hat im letzten Jahrzehnt weiter an Bedeutung gewonnen. Auch die Veröffentlichungen aus diesem Bereich sind deutlich gestiegen. Wer wissen will wie die oft zitierten und auch kritisierten oder bezweifelten Ergebnisse der empirischen Wahlforschung zustande kommen, kann sich in diesem Buch informieren. Es werden die gängigen Theorien zur Erklärung von Wahlverhalten dargestellt und die Techniken der Datenerhebung und der Analyse beschrieben, die benutzt werden, um die Fragen in diesem Bereich zu beantworten. Insbesondere wird aber auf die vielen Fehlermöglichkeiten auf dem Weg zu gültigen Ergebnissen hingewiesen und auf die Begrenztheit der möglichen Aussagen. Das Buch ist eine praxisorientierte Einführung in die empirische Wahlforschung. Es hat auch in der aktualisierten Form nicht den Anspruch, alle diskutierten Probleme des Faches abzudecken. Für die nicht behandelten Themen habe ich mich bemüht, Hinweise zu geben, wo man weitersuchen kann. Zum Zeitpunkt der Erstausgabe dieses Buches hat es eine Lücke ausgefüllt. Inzwischen sind viele methodischen Fragen von anderen Autoren aufgegriffen und behandelt worden. Trotzdem scheint eine Einführung noch eine Berechtigung zu haben, denn es besteht Nachfrage. Die meisten Beispiele wurden erneuert. Dabei griff ich – wie zuvor – auf die Datenbestände der Forschungsgruppe Wahlen e.V. zurück. Mit den Mitarbeitern dort habe ich einzelne Aspekte immer wieder diskutiert. Für diese Unterstützung bedanke ich mich, wie auch für die kritischen Kommentare von Studenten und Kollegen. Dossenheim, im Januar 2008
Dieter Roth
Inhaltsverzeichnis
VORWORT
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EINLEITUNG
11
KAPITEL 1: DIE ANFÄNGE EMPIRISCHER WAHLFORSCHUNG Wahlstatistik 1.1 1.1.1 Wahlstatistik in Deutschland 1.1.2 Erste wahlstatistische Analysen in Deutschland 1.2 Die Wahlgeographie (géographie électorale) André Siegfrieds 1.3 Verfeinerte Analysen aggregierter Daten 1.4 Von der Aggregat- zur Individualdatenanalyse 1.5 Bibliographie
17 17 19 21 23 25 27
KAPITEL 2: THEORETISCHE ERKLÄRUNGSMODELLE FÜR WAHLVERHALTEN 2.1 Die soziologischen oder sozialstrukturellen Ansätze 2.2 Der sozialpsychologische Ansatz 2.3 Rational-Choice-Ansätze („rationales“ Wahlverhalten) 2.4 Bibliographie
29 42 51 56
KAPITEL 3: INSTRUMENTE UND METHODEN DER WAHLFORSCHUNG Stichproben 3.1 3.1.1 Die Grundgesamtheit 3.1.1.1 Die Grundgesamtheit bei exit polls 3.1.1.2 Die Grundgesamtheit bei Telefonbefragungen 3.1.2 Auswahlverfahren 3.1.2.1 Quotenstichprobe 3.1.2.2 Zufallsstichprobe
61 64 66 66 68 68 71
8
3.2
3.3 3.4
Inhaltsverzeichnis 3.1.3 Stichprobenprobleme und ihre Korrekturmöglichkeiten 3.1.3.1 Realisierung von Stichproben 3.1.3.2 Korrekturmöglichkeiten Datenerhebung in der Wahlforschung 3.2.2 Erhebung von Individualdaten 3.2.2.1 Das Interview 3.2.2.2 Frage und Fragebogen Datenanalyse 3.3.1 Messen 3.3.2 Die einzelnen Phasen der Datenanalyse Bibliographie
KAPITEL 4: WAHLFORSCHUNG IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Wahlstudien der fünfziger Jahre 4.1 4.1.1 Die erste Regionalstudie 4.1.2 Studien zu den ersten Bundestagswahlkämpfen 1953 und 1957 4.1.3 Wahlsoziologische Analysen der Bundestagswahlen 1953 und 1957 4.1.4 Weitere frühe Wahlstudien 4.2 Die „Kölner Wahlstudie“ zur Bundestagswahl 1961 4.3 Die bundesrepublikanische Wahlforschung 1965-1990 4.3.1 Die Etablierung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin mit vielen Facetten 4.3.2 Einschlägige Publikationen der bundesdeutschen Wahlforschung bis 1990 4.4 Entwicklungen seit 1990 4.5 Bibliographie KAPITEL 5: EMPIRISCHE WAHLFORSCHUNG IN ANDEREN EUROPÄISCHEN LÄNDERN 5.1 Großbritannien 5.2 Frankreich 5.3 Niederlande 5.4 Norwegen
84 84 88 91 96 96 102 132 133 135 145
149 149 149 150 151 153 154 155 155 159 160 163
171 172 175 180 184
Inhaltsverzeichnis 5.5
Bibliographie 5.5.1 Überblicksdarstellungen 5.5.2 Großbritannien 5.5.3 Frankreich 5.5.4 Niederlande 5.5.5 Norwegen
9 190 190 190 191 192 193
ANHANG: WAHLSYSTEME DER BUNDESREPUBLIK
195
SACHREGISTER
211
Einleitung
Wahlforschung ist zunächst einmal eine akademische Disziplin, bei der es darum geht, mit nachvollziehbaren Verfahren den Prozess des Wählens aufzuklären. Die beteiligten Wahlforscher arbeiten in der Regel theoriegeleitet, nutzen die Methoden der empirischen Sozialforschung und unterziehen sich der Kritik der Fachwelt, die ihre eigenen Fachtermini und Kommunikationsgewohnheiten hat. Nichtsdestotrotz erscheinen die Ergebnisse der Wahlforschung einem relativ breiten Publikum zugänglich, denn durch die Popularisierung in den Medien hat die Wahlforschung insbesondere im Vorfeld von Wahlen und an Wahltagen eine große Verbreitung gefunden. Obwohl die Ergebnisse der Wahlforschung oft mit Prognosen in Verbindung gebracht werden, sind die Fragestellungen der Wahlforscher vor allem retrospektiv: Wer hat wen gewählt und warum? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind und die Funktionsweise von Wahlen in einem spezifischen demokratischen System ausreichend dargelegt werden kann,1 ist Platz für die weitere Frage, ob etwas und gegebenenfalls was daraus für die Zukunft abgeleitet werden kann. Zunächst aber verlangt die Hauptfrage der Wahlforscher eine beschreibende und eine erklärende Antwort. Diese Antworten werden sinnvollerweise auf empirischer Basis gegeben. Beschrieben und erklärt werden soll das Wahlverhalten von Individuen oder Gruppen von Individuen. Damit ist die Datenbasis festgelegt: Es müssen Individualdaten oder Gruppendaten vorhanden sein oder erhoben werden. Erst die Entwicklung von Techniken, die die Erhebung von Individual- oder Gruppendaten in großem Umfang möglich gemacht haben, führte zu wichtigen Entwicklungsschritten in der empirischen Wahlforschung. In der Pionierzeit der Wahlforschung konnten nur Daten offizieller Zählungen für die Analyse benutzt werden, wie in Kapitel 1 dargelegt wird. Diese Daten hat man, um dem Ziel der Individual- oder Gruppendaten möglichst nahezukommen, in der kleinstverfügbaren Aggregierung genutzt. Solche Ergebnisse kleinräumiger Einheiten wurden mit anderen Daten, die man über das Aggregat 1
Siehe hierzu den Anhang dieses Buchs (Wahlsysteme in der Bundesrepublik Deutschland).
D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Einleitung
bzw. die Gebietseinheit hatte, zum Beispiel Zensusdaten, in Beziehung gesetzt. Dies ergab dann die sogenannte sozialökologische Analyse, aus der man Schlüsse auf das Verhalten der Wähler gezogen hat. Die sozialökologische Analyse ist eine wichtige Analyseform, weil sie auch soziale Kontexte erfasst, sie bleibt aber letztlich eine Beschreibung der Verhaltensweisen von Aggregaten. Sie ist mit dem Makel behaftet, dass von diesen Aggregaten, die in der Regel nicht homogen sind, nicht auf individuelles Verhalten geschlossen werden kann. Darüber hinaus beantwortet die ökologische Analyse nicht oder zumindest sehr ungenügend die Frage nach dem „Warum“ einer Entscheidung. Natürlich können aus der längerfristigen Beobachtung von Aggregaten, deren Veränderungen und deren Wahlergebnissen Hypothesen über die Ursachen der Entscheidungen aufgestellt werden. Zur Überprüfung dieser Hypothesen eignen sich Aggregatdatenanalysen aber nicht. Andererseits können für historische Zeiträume wahlanalytische Befunde nur auf der Basis von Aggregatdaten erarbeitet werden, weil es Individualdaten für diese Zeiträume nicht gibt. Erst die Möglichkeit, eine Vielzahl von individuellen Entscheidungen und deren Determinanten in repräsentativen Stichproben zu erfassen, führte dazu, sich der Frage „Wer wählt wen?“ immer präziser und schließlich auch dem „Warum“ zu nähern. Die Interviewtechnik in der Repräsentativ-Befragung wurde eine wichtige Stütze der empirischen Wahlforschung. Die Fortschritte in der Datenverarbeitung und der Telekommunikation machen den schnellen Zugang zu solchen Zusammenhängen möglich, und die Veränderungen in der Massenkommunikation führten schließlich zu einer relativ großen Verbreitung der Ergebnisse empirischer Wahlforschung. Empirische Wahlforschung hat eine Vielzahl von Voraussetzungen. Technik und Theorie sind dabei vielfach verwoben. So ist es beispielsweise eine wichtige Frage, wie man bei begrenzter Zeit und mit knappen Mitteln die Vielzahl der Wähler auf analysierbare Größenordnungen reduzieren und zu generalisierbaren Aussagen kommen kann, d. h. zunächst sind stichprobentheoretische Probleme zu bewältigen. Dann aber sind Hypothesen zu operationalisieren, in Fragen umzusetzen oder andere Formen der Verhaltensmessung zu finden. Als nächster Schritt ist sauberes Handwerk gefragt: Eine optimale Realisierung der Stichprobe in sorgfältiger Feldarbeit. Schließlich müssen die Ergebnisse in ein Verhaltensmodell integriert werden, d. h. es müssen Ursachen und Wirkungen getrennt werden, um letztlich zu Wahrscheinlichkeitsaussagen zu kommen, was wen wie stark bedingt. Davon handelt dieses Buch, vor allem in Kapitel 3, wobei keinesfalls vollständige oder abschließende Antworten gegeben werden, sondern hauptsächlich auf die vielen Fallen und Fehlermöglichkeiten empirischen Arbeitens hingewiesen wird.
Einleitung
13
Auch sind die in Kapitel 2 dargestellten Verhaltensmodelle nicht als starre Operationalisierungsanweisungen zu verstehen. In die jeweilige Theorie muss der institutionelle Rahmen einbezogen werden, innerhalb dessen Wahlen stattfinden, und die gesellschaftlichen Bedingungen sowie die daraus resultierenden Werte und Attitüden oder anders ausgedrückt: die politische Kultur der entsprechenden Wahleinheit (Nation, Region, Kommune). Alle Aussagen, zu denen man schließlich kommt, sind naturgemäß Wahrscheinlichkeitsaussagen, die immer wieder an der Realität gemessen werden müssen und bei einem solchen Vergleich auch scheitern können. Dies ist der typische Charakter empirischer Theorien. Aber die empirische Wahlforschung deckt nicht nur das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft ab, auch die Öffentlichkeit ist interessiert an einer umfassenden Ergebnisdarstellung und möglicherweise auch an einer Analyse der Ergebnisse. Vor allem aber möchten die Parteien eine Erfolgskontrolle ihres Tuns haben bzw. aus der Analyse von Wahlen erkennen, wie sie ihre eigenen Erfolgschancen verbessern können; deshalb hat Wahlforschung eine Reihe von sehr unterschiedlichen Interessenten. Alle Ereignisse von gesellschaftlicher Relevanz unterliegen der Neugierde der Wissenschaft. Dass Wahlen von großer gesellschaftlicher Relevanz sind, darf man annehmen. In demokratisch organisierten Gesellschaften sind die Entscheidungen der Wähler nun mal die Grundlage der politischen Machtverteilung. Der Wähler ist also der Souverän. Das wissenschaftliche Interesse konzentriert sich in diesem Fall darauf, Richtung und Ausmaß von Verhaltenskomponenten und die Beständigkeit der Zusammenhänge festzustellen, schließlich aber auch die Möglichkeit zu ergründen, aus diesen Erkenntnissen zukünftiges Verhalten abzuleiten. Eine besondere Legitimation der Wahlforscher könnte darin bestehen, dass ihre Arbeit dazu dient, überprüfbar zu machen, ob die Ziele, die durch den Wahlvorgang beabsichtigt sind, nämlich die gewaltfreie Umsetzung des Volkswillens in ein Machtkonstrukt, tatsächlich erreicht werden, ohne dass substantielle Rechte des einzelnen oder von Gruppen vernachlässigt werden. Dies heißt, dass der Wahlvorgang nicht nur an den bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen gemessen wird, sondern darüber hinaus diese Wahlgesetze oder Wahlordnungen auch einer kritischen Prüfung im Hinblick auf das Erreichen des Gesamtziels unterliegen. Doch diese Problematik wird hier ausgeklammert. Es gibt noch einen recht egoistischen Grund der Sozialwissenschaft dafür, dass Wählerverhalten ein besonders gut erforschtes Gebiet darstellt: Die regelmäßige Wiederkehr von Wahlen, die saubere (offizielle) Datenerhebung und die nahezu sofortige Verfügbarkeit der Daten eignen sich besonders gut zur Überprüfung von wissenschaftlichen Konzepten und Theorien.
14
Einleitung
In allen Demokratien finden Wahlen besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Wähler und Gewählte wollen möglichst schnell und umfassend über die Ergebnisse der Wahl informiert werden. Die Medien haben zu allen Zeiten diese Aufgabe übernommen. Im Zeitalter verstärkter Konkurrenz zwischen den Medien, besonders aber der elektronischen Medien untereinander, haben die großen Fernsehsender in allen Ländern, in denen Wahlen durchgeführt werden, besondere Berichtskonzepte für Wahlen entwickelt. Diese orientieren sich keineswegs nur an der Wiedergabe der Auszählungsergebnisse durch die offiziellen Stellen, sondern versuchen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt in leicht verständlicher Form Prognosen, Hochrechnungen und auch Analysen des Wahlergebnisses zu veröffentlichen. Nur in Zusammenarbeit mit Wahlforschern können derartige Informationsangebote gemacht werden. Die Medien, insbesondere das Fernsehen, treten also als Nachfrager von Erkenntnissen der Wahlforschung auf. In der Bundesrepublik haben sie in den letzten 40 Jahren erhebliche Summen für das Sammeln und Aufbereiten wahlrelevanter Daten aufgebracht, die dann in der Regel den Wissenschaftlern wieder zur Verfügung stehen. Als aktuelles Medium ist das Fernsehen nur am Wahltag und unmittelbar davor oder danach an den Ergebnissen der Wahlforschung interessiert, die Wissenschaft hat aber ein zeitunabhängiges Interesse an den Daten. Durch den Konkurrenzkampf der Fernsehsender untereinander um die schnellsten und exaktesten Informationen wurden in den letzten Jahren immer wieder Instrumente der Wahlforschung neu oder zumindest weiter entwickelt, die dann unabhängig von der Nutzung am Wahltag durchaus wertvolle Bausteine für eine Gesamtinformation über den Wahlvorgang darstellen, zum Beispiel die sogenannten exit polls. Nicht nur an Wahltagen lassen sich die Einschätzungen der Parteien und der Politiker gut verkaufen, auch zwischen den Wahlen interessiert sich zumindest ein Teil der Öffentlichkeit für die „Stärke“ der Parteien, die Beurteilung der Politik durch die wahlberechtigte Bevölkerung und deren eventuelle Konsequenzen für zukünftige Wahlen. Deshalb verbreiten die Printmedien und das Fernsehen in regelmäßigen Zeitabständen Informationen über die Einstellungen der Wahlberechtigten gegenüber den Parteien, den Politikern und oft auch Beurteilungen über anstehende politische Probleme und Lösungsvorschläge. Für diese Art von Informationen werden in der Regel Erkenntnisse der Wahlforschung herangezogen. Großes Interesse an den Erkenntnissen der Wahlforschung haben die Parteien und die ihnen nahestehenden (Interessen-)Gruppen. Sie werden das Wissen um die Ursachen der Wahlentscheidung zur Optimierung ihrer Strategien des höchsten Wahlerfolgs einsetzen, denn schließlich ist es erklärtes und auch legitimes Ziel der Parteien, politische Macht zu erlangen und zu erhalten.
Einleitung
15
Das Wissen um die Ursachen einer Entscheidung birgt auch immer die Chance der Beeinflussung oder Manipulation dieser Entscheidung in sich. Dies machen sich die Parteien in der Wahlwerbung zunutze. Aus der Wahlforschung wissen sie, wer ihnen nahe steht, wie sie diese Wähler mobilisieren oder stabilisieren und wen sie noch erreichen können. Darin ist zunächst nichts Verwerfliches zu sehen, denn die Freiheit des Wahlvorgangs gilt für beide, den Wähler und den Wahlbewerber. Trotzdem werden Parteien oder ihnen nahestehende Gruppen als Auftraggeber von Wahlforschung besonders kritisch gesehen. Bevor die Medien verstärkt „unabhängige“ Wahlforschung nachgefragt haben, waren in der Tat die Parteien oder deren Vorfeldorganisationen oft im Besitz von Umfrageergebnissen, die sie gezielt für ihre Interessen einsetzen konnten, zum Teil auch zielgerichtet veröffentlicht haben, um bestimmte Diskussionen zu entfachen oder abzufangen. Das starke Interesse der Medien an der Veröffentlichung solcher möglichst aktueller Daten aus Konkurrenzgründen und die partielle Inflation solcher Veröffentlichungen vor Wahlen hat den „Manipulationsspielraum“ von Parteien stark eingeschränkt. Trotzdem sind die Erkenntnisse der Wahlforschung für die Parteien interessant geblieben. Während sich die Nutzung der Daten durch die Medien oftmals an der Oberfläche bewegt, nicht zuletzt weil die Aktualität im Vordergrund steht, fragen Parteien eher nach grundsätzlicheren Diagnosen des Wahlkörpers oder nach tiefergehenden Analysen der Gründe für Veränderungen.
Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
Die empirische Wahlforschung fängt mit den Erfolgen der demokratischen Bewegung im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts an. Demokratie und damit auch Wahlen setzen sich in einer ganzen Reihe von Ländern durch. Von nun an findet man in offiziellen Statistiken auch Wahlergebnisse, je nach Land allerdings in unterschiedlichem Umfang und auf unterschiedlichem Niveau. Diese Wahlstatistiken bilden die Grundlage für erste Wahlanalysen auf Aggregatdatenbasis. Die Wahlgeographie André Siegfrieds (1913), die im Allgemeinen als Beginn der Wahlforschung angesehen wird, ist ohne die Wahlstatistik nicht denkbar. Auch statistisch-korrelative Analysen, wie die von Stuart A. Rice (1928) oder Rudolf Heberle (1933; 1945; 1963), basieren auf veröffentlichten Wahlergebnissen und anderen offiziellen Statistiken. Erst durch die Umfrageforschung, die ab den vierziger Jahren in größerem Maße in den Dienst der Wahlforschung gestellt wird, löst sich die empirische Wahlforschung in ihren Analysen zunehmend von der Verwertung von Wahlstatistiken.
1.1 Wahlstatistik Eine differenzierte Erfassung von Wahlergebnissen gab es schon frühzeitig, vor allem in den skandinavischen Ländern und in Deutschland (vgl. Rokkan/Meyriat 1969). Beispielhaft soll an dieser Stelle die Entwicklung der Wahlstatistik und der wahlstatistischen Analysen in Deutschland bis zur Gründung der Bundesrepublik betrachtet werden. Ein umfassender Vergleich wahlstatistischer Analysen in Europa und den USA bis Mitte der dreißiger Jahre findet sich bei Herbert Tingsten (1937). 1.1.1 Wahlstatistik in Deutschland Mit der fortschreitenden Parlamentarisierung ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfuhren Wahlen in einer ganzen Reihe deutscher Staaten das Interesse der Öffentlichkeit und der Wissenschaft. Die Wahlergebnisse waren je nach Land D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
unterschiedlich ausführlich dokumentiert und bisweilen auch kommentiert. In den größeren deutschen Staaten gab es Wahlstatistiken, die teilweise bis vor die Reichsgründung zurückreichen. Mit der ersten Reichstagswahl im Jahr 1871 gewann die gesamtdeutsche Wahlstatistik große Bedeutung. Die Wahlstatistik der Weimarer Republik und die der Bundesrepublik Deutschland knüpften an die im Kaiserreich begonnene Tradition an. In Preußen gab es seit 1849 wahlstatistische Veröffentlichungen. Ernst Bock (1919: 40) charakterisiert die Publikationen bis 1866 jedoch als „verhältnismäßig dürftig“. Allein die Arbeiten aus der sogenannten Konfliktzeit (186163) sind etwas ergiebiger (vgl. Diederich 1976: 17). Die für die Wahlen dieser Jahre veröffentlichten Ergebnistabellen umfassen sowohl die Wahlberechtigten und Wähler, als auch deren Einteilung in die drei Steuerklassen auf Wahlkreisebene. Ferner geben sie Auskunft über die Anzahl der Einwohner, der Urwahlbezirke, der gewählten Wahlmänner und Abgeordneten (vgl. Engel 1865: 42 f.). Es sind zwar keine Ergebnistabellen im eigentlichen Sinn, doch liefern sie bereits eine ganze Reihe von statistischen Informationen für die einzelnen Wahlkreise Preußens. Ernst Engel, der Leiter des Königlich Preußischen Statistischen Bureau von 1860 bis 1882, hat bereits 1865 (71 ff.) vorgeschlagen, eine „Statistik der politischen Eigenschaften der Bevölkerung“ für Wahlen zu erstellen, die auch die „Parteistellung“ der Urwähler2 beinhalten sollte. Zunächst blieb es bei diesen Anregungen. Von 1867 bis 1888 gab es in Preußen kaum noch wahlstatistische Veröffentlichungen. Ab 1893 wurden die Ergebnisse der Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus regelmäßig, wenn auch in knapper Form veröffentlicht. Die preußische Wahlstatistik beinhaltete nun auch die Zahl der absoluten Stimmen und der Stimmenanteile für die einzelnen Kandidaten. Von 1898 an wurde ferner die „Parteistellung der Urwähler“ angegeben, ab 1903 kamen auch Angaben zum Abstimmungsverhalten der Wahlmänner hinzu (vgl. Bock 1919: 37-54; Diederich 1976: 17 f.). In Bayern prägte der Vorstand des Königlich Bayerischen Statistischen Bureau, Georg von Mayr, die ersten wahlstatistischen Veröffentlichungen. Von 1869 an wurde die bayerische Wahlstatistik – mit Ausnahme der Wahlen des Jahres 1875 – regelmäßig publiziert. Zusätzlich zu einer tabellarischen Dokumentation sind die Wahlen zur Abgeordnetenkammer in einem Textteil kommentiert (Bock 1919: 54-59). Bei den preußischen Wahlstatistiken hingegen fehlen Textteile gänzlich. Trotzdem ist die bayerische Wahlstatistik eher eine 2
Das preußische Abgeordnetenhaus wurde indirekt gewählt. Die Wahlberechtigten (Urwähler) wählten je nach Steuerklasse („Dreiklassenwahlrecht“) eine gleiche Anzahl von Wahlmännern. Diese wählten wiederum die preußischen Abgeordneten.
Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
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Beschreibung der Ergebnisse als eine Analyse, denn eine politische Statistik im Sinne Engels lehnte Mayr ab (Diederich 1976: 20). Stärker als die frühen wahlstatistischen Veröffentlichungen kleinerer deutscher Staaten interessiert die Reichsstatistik. Diese knüpft in Form und Inhalt an die preußische Wahlstatistik an. Ab 1871 sind die Ergebnisse sämtlicher Reichstagswahlen, die ja bereits nach dem allgemeinen (Männer-)Wahlrecht durchgeführt wurden, in Tabellenform dokumentiert. Bis 1881 waren die einzelnen Bundesstaaten für die Zusammenstellung der Ergebnisse in ihrem Gebiet zuständig, danach das Kaiserlich Statistische Amt. Den Ergebnistabellen sind von Anfang an die Bevölkerungszahl, die Anzahl der Wähler, gültige und ungültige Stimmen sowie die auf die einzelnen Parteien entfallenen Stimmen auf Wahlkreisebene zu entnehmen. Besonders erwähnenswert ist die 1898 eingeführte Differenzierung nach Ortsgrößenklassen, die fortan eine Mitberücksichtigung sozioökonomischer Strukturen bei der Analyse ermöglicht (Diederich 1976: 11-15). Die Novemberrevolution des Jahres 1918 brachte auch den Frauen das Wahlrecht und bescherte den Wahlstatistikern die Möglichkeit zu repräsentativen Sonderauszählungen. In einer ganzen Reihe von Wahlkreisen konnten fortan die Wahlbeteiligung und die Stimmenverteilung auf die einzelnen Parteien nach Alter und Geschlecht getrennt ausgewiesen werden (Tingsten 1937: 37-65). Für sämtliche Wahlen der Weimarer Republik sind repräsentative Sonderauszählungen einzelner Gebiete verfügbar, in größerem Ausmaß allerdings erst ab 1924. Bei einigen Wahlen wurde auch der Versuch unternommen, die Wahlbeteiligung hinsichtlich des Sozialstatus zu differenzieren. Dieser Versuch ist sicherlich verdienstvoll, doch muss man die hinter diesen teils kuriosen Ergebnissen stehende, nicht näher erklärte Methodik in Frage stellen (Tingsten 1937: 141-43). Die Erkenntnisse aus der Weimarer Repräsentativstatistik ähnelten denjenigen anderer westlicher Ländern sehr (vgl. ebd.: 229-31). Die Wahlbeteiligung wuchs mit zunehmendem Alter bis zur Gruppe der 40- bis 50jährigen, bei den Älteren ging sie wieder deutlich zurück. Die Wahlbeteiligung der Frauen lag – zum Teil deutlich – unter derjenigen der Männer. Was die parteipolitische Präferenz in der Weimarer Republik betrifft, so konnten deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt werden. Frauen wählten sehr viel häufiger das Zentrum und konservative Parteien, Männer hingegen sehr viel häufiger die SPD oder radikale Parteien (NSDAP, Kommunisten) (vgl. Bremme 1956: 68-77). 1.1.2 Erste wahlstatistische Analysen in Deutschland Schon Ernst Engel (1865: 71-76) zog aus der preußischen Wahlstatistik politische Schlussfolgerungen. Seine Kritik richtete sich gegen das preußische Drei-
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Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
klassenwahlrecht, das nachweislich zu einer Verzerrung zwischen dem Wählerwillen der Urwähler insgesamt und der Verteilung der Abgeordnetenmandate führte. Die Verfügbarkeit wahlstatistischen Datenmaterials ermöglichte aber auch einer ganzen Reihe von Staats- und Gesellschaftswissenschaftlern eine Zweitverwertung. Die beiden immer wiederkehrenden Themenkomplexe waren Nichtwähler sowie der Zusammenhang zwischen Konfession und Wahlverhalten. Eugen Würzburger hat sich bereits 1907 des Phänomens der „Partei der Nichtwähler„ angenommen. Neben einer Quantifizierung der Nichtwähler bei den Reichstagswahlen 1903 und 1907 fragte er auch nach den möglichen Ursachen der Wahlenthaltung. Würzburger (1907: 382 f.) stellte eine überaus brauchbare Liste von Gründen für die Nichtwahl zusammen. Der Befragung3 einer ganzen Reihe von Nichtwählern in Dresden zufolge, waren über die Hälfte der Nichtwähler bei der Reichstagswahl 1903 tatsächlich verhindert. Wichtig war Würzburger auch festzuhalten, dass Nichtwähler nicht ausschließlich einer politischen Richtung zuzuordnen sind. In einer Modellrechnung für die Reichstagswahl 1903 zeigt er, dass durch die Wahlbeteiligung der Nichtwähler in neun der 48 Wahlkreise ein anderer Wahlkreissieger möglich gewesen wäre. In seiner Dissertation aus dem Jahr 1912 untersuchte Alois Klöcker (1913) den Zusammenhang zwischen Konfession und sozialdemokratischer Wählerschaft. Er stellte fest, dass die SPD bei der Reichstagswahl 1907 in Wahlkreisen mit einem hohen katholischen Bevölkerungsanteil deutlich schlechter als in überwiegend evangelischen Wahlkreisen abschnitt. Klöcker kam auf der Grundlage wahlstatistischer Daten zum Ergebnis, dass Nicht-Katholiken mehr als doppelt so oft die Sozialdemokraten gewählt haben müssen als Katholiken. Hermann Mulert (1932) bestätigte zwanzig Jahre später die Ergebnisse Klöckers: Der Stimmenanteil der Protestanten für linke Parteien bei der Reichstagswahl 1930 war sowohl relativ als auch absolut deutlich höher als der der Katholiken. Johannes Schauff setzte sich intensiv mit dem Wahlverhalten deutscher Katholiken auseinander. Thema seiner Arbeit aus dem Jahr 1928 war jedoch nicht die SPD, sondern die Zentrumspartei. Schauff suchte vor allem eine Antwort auf die Frage, welche Katholiken die Zentrumspartei sowie die Bayerische Volkspartei wählten und welche nicht. Seine Prämisse, dass die Wähler dieser beiden Parteien fast ausschließlich katholisch waren, erleichterte die Analyse erheblich.4 Nur so war es unter Zuhilfenahme der Wahlstatistik möglich, die Zentrum- und die Nicht-Zentrum-Wähler unter den (katholischen) Wählern zu quantifizieren, 3
Es handelte sich hierbei jedoch nicht um eine repräsentative Befragung. Schauff (1928: 70) ging davon aus, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit bei dieser Vorgehensweise gering ist. Die Zahl der nicht-katholischen Zentrum-Wähler habe etwa 2 Prozent betragen.
4
Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
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sowie Hausse- und Baissezonen der Zentrum-Wähler näher zu betrachten. Das wohl instruktivste Ergebnis der durch viele Tabellen und Abbildungen unterstützten Analyse Schauffs ist der festgestellte positive Zusammenhang zwischen Kirchenbindung und der Wahl des Zentrums. Als Indikator für „Bekenntnistreue“ benutzte er den Anteil derjenigen Katholiken, die gemäß des Kirchlichen Handbuchs für das katholische Deutschland im Jahr 1924 an der Osterkommunion teilgenommen hatten. Schauff (1928: 137-142) gelang es zu zeigen, dass „Zentrumsfreudigkeit […] ein deutliches Symptom der Kirchenfreudigkeit [ist] und umgekehrt“. Implizit bedienten sich Klöcker und Schauff bei ihrer Hypothesenbildung bereits des erst viele Jahre später formulierten sozialstrukturellen Erklärungsansatzes für Wahlverhalten (siehe Kapitel 2.1).
1.2 Die Wahlgeographie (géographie électorale) André Siegfrieds Der französische Geograph André Siegfried führte mit seinen Analysen des Wahlverhaltens in Westfrankreich (1913) und im Département Ardèche (1949) eine neuartige Methode ein, die vor allem die Wahlforschung Frankreichs nachhaltig prägte. Siegfried vertrat die Ansicht, dass es genauso wie es geographische Regionen und Klimazonen gibt, auch politische Regionen und Klimazonen geben muss: „... il y a des régions politiques comme il y a des régions géologiques ou économiques, et des climats politiques comme il y a des climats naturels“ (Siegfried 1913: v). Ausgehend von der Ausstattung eines Natur- und Kulturraums schloss Siegfried auf politisches Verhalten. Neben Geologie, Geomorphologie, Bodenbeschaffenheit und klimatischen Faktoren bezog Siegfried auch historisch- und sozialgeographische Faktoren wie Bevölkerungsverteilung, Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur sowie die politische Geographie in die Analyse mit ein. Die geographischen Wahlanalysen waren stets auf bestimmte Regionen beschränkt. Nur so vermochte Siegfried (1913: vii f.) eine ausreichende Berücksichtigung der physio- und anthropogeographischen Strukturen für die Wahlanalyse zu gewährleisten. Wie Diederich (1965: 19) treffend bemerkt, untersuchte Siegfried überwiegend ländliche Gebiete, die durch wirtschafts- und sozialstrukturelle Kontinuität gekennzeichnet waren. Die Naturraumausstattung bestimmte hier in sehr viel größerem Maße die Wirtschafts- und Sozialstruktur als in städtischen oder stärker industrialisierten Gebieten. Dadurch lag der Rückschluss vom Wahlverhalten auf die regionalen geographischen Bedingungen sehr viel näher, auch wenn er nicht unproblematischer war als in sehr stark dem gesellschaftlichen Wandel unterworfenen Gebieten.
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Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
André Siegfried war sich durchaus der Bedeutung sozialstruktureller und sozialpsychologischer Einflüsse auf das Wahlverhalten bewusst. Die Besitzverhältnisse und die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen (z.B. die Konfessionszugehörigkeit) spielten für ihn bereits 1913 eine überaus wichtige Rolle für die Erklärung von Wahlverhalten. Auch von Gruppendruck und sozialer Kontrolle bei der Wahlentscheidung ist bei Siegfried (1913: ix f.) bereits die Rede: „Dans les grandes villes, le vote est à peu près secret, d’où réduction au minimum des pressions électorales. Mais dans les petites communes, l’urne guère de mystère: le grand propriétaire, le mairie, l’instituteur, le curé ont plus d’un moyen de connaître le bulletin qu’on dépose ou qu’on va déposer.“ Das Problematische der géographie électorale ist die direkte Rückführung politischen Verhaltens auf die Geographie. Jedes Gebiet besitzt nach Siegfried (1949: 10) einen geographischen und einen politischen Charakter („personalité politique“). Das Département Ardèche ist nach Siegfried (ebd.: 23 ff.) vor allem durch das Vorkommen der Esskastanie in der Hangzone (300 m bis zwischen 800 und 1000 m ü. NN) gekennzeichnet, die das Tiefland (bis 300 m ü. NN) und das Bergland sowohl trennt als auch verbindet. Tief- und Bergland bilden für Siegfried zwei Extreme – geografisch und politisch. In den Berggebieten lebt die Bevölkerung weit verstreut, ist religiös und nur geringen sozioökonomischen Veränderungen unterworfen: sie wählt überwiegend „rechte“ Parteien. Im Tiefland bestehen eine höhere Bevölkerungsdichte, mehr Verkehrs- und Kommunikationswege, und es findet ein größerer sozioökonomischer Wandel statt: die Bevölkerung wählt mehrheitlich „linke“ Parteien (ebd.: 38 f.; 112 f.). Ausnahmen und Instabilitäten führt Siegfried auf Veränderungen in der Sozialstruktur oder auf die Grenzlage eines Gebietes zwischen den Meinungszonen zurück (ebd.: 113 ff.). Diese kurze Zusammenfassung zeigt, dass Siegfried keineswegs eine politische Prädisposition des einzelnen durch physiogeographische Faktoren postulierte. Dadurch jedoch, dass er immer wieder auf Parallelen zwischen geologischen sowie physiogeographischen Faktoren einerseits und Wahlverhalten andererseits hinwies, hat er einem Geodeterminismus nur unzureichend vorgebeugt (Diederich 1965: 19). Als weiterer Kritikpunkt wird die Zusammenfassung des recht ausdifferenzierten französischen Parteiensystems in eine „linke“ und eine „rechte“ Strömung vorgebracht (Kaltefleiter/Nißen 1980: 79 f.). Insbesondere der Wandel des Parteiensystems (z.B. das Aufkommen neuer Parteien) bliebe in Siegfrieds Längsschnittanalysen unberücksichtigt. Diese Kritik erscheint aus deutscher Sicht und ex post sicherlich berechtigt, doch trägt sie der bis zur Französischen Revolution zurückreichenden Tradition des Landes und seiner Wissenschaftler, Politik in Links-Rechts-Dimensionen zu betrachten (siehe S. 177 ff.), keine Rechnung.
Kapitel 1: Die Anfänge empirischer Wahlforschung
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Das Vorgehen Siegfrieds, so kuriose Ergebnisse es im Einzelfall haben mag, ist keinesfalls abwegig. Die topographische Lage, die Fruchtbarkeit des Bodens und günstiges Klima beeinflussen unbestreitbar die agrarwirtschaftlichen Erfolgschancen in einem Gebiet. Dies kann zu wirtschaftlichem Erfolg und Wohlstand in diesem Gebiet führen und damit indirekt auch die politische Einstellung beeinflussen. Allein durch Naturfaktoren lassen sich jedoch weder die Sozial- und Wirtschaftsstruktur eines Gebiets, noch die politischen Präferenzen dessen Bewohner schlüssig erklären. Dies gilt heute in gleichem Maße wie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Zudem spielt heute, im Vergleich zu 1913, die Landwirtschaft eine sozioökonomisch zu vernachlässigende Rolle. Die Arbeiten Siegfrieds zeugen vor allem von einem sehr hohen regionalgeographischen Wissensstand, der in wahlgeographischen Analysen von Schülern Siegfrieds (z.B. Franςois Goguel) nicht wieder erreicht wurde. Sukzessive ist man auch in der französischen Wahlforschung von der reinen Wahlgeographie abgerückt (Diederich 1965: 17). Aus der géographie électorale wurde die sociologie électorale (Wahlsoziologie). Der Bezug zur Geographie erfolgte zunehmend nicht mehr aus inhaltlichen Gründen, sondern zu illustrativen Zwecken. Mit der Weiterentwicklung der Computertechnologie kam es in jüngster Zeit zu einer Renaissance der einst sehr aufwendigen wahlgeographischen Illustration. Sinnvoll angewandt, kann Kartenmaterial auch heute noch Ergebnisse der Wahlforschung optisch ansprechend vermitteln. Mit der Siegfriedschen Wahlgeographie haben diese Illustrationen jedoch nur noch wenig gemein.
1.3 Verfeinerte Analysen aggregierter Daten In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts fanden statistisch-korrelative Verfahren Eingang in die Wahlforschung. Die Wahlforschung bedient sich auch heute noch dieser Analyseverfahren, wenn für eine Wahl oder ein bestimmtes Gebiet keine Individualdaten (Umfragen), sondern nur Wahl- und Sozialstatistiken zur Auswertung zur Verfügung stehen (vgl. Kap. 3: Aggregatdaten). Dies gilt insbesondere für die wahlsoziologisch-historische Wahlforschung (vgl. z.B. Beiträge in Lipset/Rokkan 1967). Eine ganze Reihe von Wahlforschern verknüpfte in Analysen ab den dreißiger Jahren die wahlgeographische mit der statistisch-korrelativen Methode. Vor allem Rudolf Heberle (1978) förderte in den USA und in Deutschland diese „Wahlökologie“. Als erster demonstrierte der Amerikaner Stuart A. Rice (1928) die Nützlichkeit statistisch-korrelativer Verfahren für die Wahlforschung. Rice wandte in achtzehn, inhaltlich oft sehr unterschiedlichen Studien, die sich in seinem Buch Quantitative Methods in Politics finden, eine ganze Reihe statistischer Analyse-
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verfahren an. Neben dem augenscheinlichen Vergleich tabellarisch aufbereiteter statistischer Daten bediente er sich immer wieder der Korrelationsrechnung (siehe Kapitel 3). Auf Grundlage der nach Geschlecht getrennt ausgezählten Stimmen in 102 counties (Bezirken) des Bundesstaates Illinois bei der Präsidentschaftswahl 1920 belegte Rice (1928: 179), dass Frauen überall häufiger den Kandidaten der Republikanischen Partei gewählt hatten als Männer und dass dieser Abstand in allen Bezirken fast identisch war (Pearsons r=0.964). Dieser sogenannte gender gap (Geschlechtsunterschied) ist bis heute ein immer wiederkehrendes Thema in der US-amerikanischen Wahlforschung geblieben. Mit Hilfe von Zeitreihen versuchte Rice (1928: 280-93) ferner, politische Konjunkturzyklen im Bundesstaat New Jersey auszumachen. Diese Übertragung wirtschaftswissenschaftlicher Vorgehensweisen auf das Feld der Politik blieb im Ergebnis zwar dürftig, sie wirkte jedoch als Initialzündung für eine ganze Reihe ähnlicher Versuche (z.B. Bean 1940). Ferner ließ sich Stuart A. Rice offenbar auch von der géographie électorale inspirieren. Durch eine Analyse der Stimmenanteile für den Kandidaten der Progressiven Partei, La Follette, in vier angrenzenden Bundesstaaten des Mittleren Westens der USA, stellte Rice (1928: 154) fest, dass es ein bestimmtes geographisches Muster der Erfolge dieses Kandidaten gab. Ausgehend von einem regionalen Zentrum (definiert durch die räumliche Mitte der Bezirke mit den höchsten Stimmenanteilen) setzte er die Stimmenanteile der einzelnen Bezirke mit deren Entfernung vom regionalen Zentrum des jeweiligen Bundesstaates in Beziehung. Rice (1928: 154) maß eine negative Korrelation zwischen der Entfernung des jeweiligen Bezirks vom regionalen Zentrum und dem Stimmenanteil für La Follette. Darüber hinaus stellte er fest, dass die Stimmenanteile in nebeneinander liegenden Bezirken stets ähnlich hoch ausfielen. Umso mehr glichen sie sich, wenn intensiver Kontakt der Menschen zwischen jeweils angrenzenden counties bestand. Rice (1928: 155) kam zu dem Schluss, dass Grenzen zwischen Bundesstaaten die Ausbreitung politischer Einstellungen behindern, während Transport- und Kommunikationswege die Ausbreitung fördern. Die Berechnungen von Rice sind ein unzureichender Beweis für seine weitreichenden Schlussfolgerungen (vgl. Heberle 1951: 243-48; Diederich 1965: 71). Der methodische Beitrag seiner Analysen für die Wahlforschung ist jedoch als bedeutend einzustufen (Rossi 1959: 8-15). Viele nachfolgende Wahlstudien bedienten sich der von Stuart A. Rice erstmals für die Wahlforschung verwendeten Methoden, insbesondere der Korrelationsrechnung (z.B. Litchfield 1941; Gosnell 1942). Vielfach wurden dabei statistisch-korrelative mit wahlgeographischen Methoden verknüpft (z.B. Gosnell 1942; Keys monumentales Werk Southern Politics in State and Nation, 1949).
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In der deutschen Wahlforschung war Rudolf Heberle der erste, der Wahlen mit Hilfe verfeinerter statistischer Analyseverfahren untersucht hat. Von André Siegfrieds géographie électorale beeindruckt, verknüpfte auch Heberle die wahlgeographische mit der statistisch-korrelativen Analysemethode (vgl. Heberle 1951: 222). Durch die Machtergreifung Hitlers konnte Heberle die 1934 fertig gestellte soziologische Untersuchung über die politische Willensbildung in Schleswig-Holstein nur in Form einer kurzen Zusammenfassung in der kleinen volkskundlich-soziografischen Zeitschrift „Volksspiegel“ veröffentlichen. Im politischen Exil in den USA publizierte er 1945 eine kürzere, englische Ausgabe. Erst 1963 erschien die ursprüngliche Fassung mit nur wenigen Änderungen in der Bundesrepublik. „Wäre die Arbeit 1934 veröffentlicht worden, hätte sie bahnbrechend sein können, denn damals steckte die soziographische Behandlung politischer Parteien und Bewegungen noch in den Anfängen“, schreibt Heberle (1963: 8) im Vorwort zu seiner deutschen Ausgabe. Rudolf Heberle bediente sich tatsächlich in der deutschen Wahlforschung zuvor nicht angewandter Methoden. Das Herzstück der Arbeit ist das dritte von insgesamt sechs Kapiteln, in dem der Autor der Frage „Welche sozialen Schichten neigen welchen Parteien zu?“ nachgeht. Heberle (1963: 105-117) benutzte die Methode der statistischen Zusammenhangsanalyse, wobei er Schleswig-Holstein in 30 territoriale Einheiten aufteilte und Rangkorrelationen zwischen sozioökonomischen Merkmalen und Stimmenanteilen für die einzelnen Parteien bei den Reichstagswahlen 1921 und 1932 errechnete. Die NSDAP wird infolge dieser Aggregatdatenanalyse als Partei charakterisiert, die vor allem von Mittelschichten in Stadt und Land sowie von den landwirtschaftlichen Arbeitern unterstützt wurde. Hohe Stimmenanteile der SPD und der KPD korrelierten hingegen stark mit dem Anteil der Lohnarbeiter, insbesondere in Industrie und Handwerk (Heberle 1963: 108-114). Erst als in den vierziger Jahren in den USA die Wahlforscher die Vorteile von Umfragen für ihre Fragestellung erkannten, begann die Analyse aggregierter Daten in der Wahlforschung an Bedeutung zu verlieren. Bis in die sechziger Jahre hinein war die Umfrageforschung allerdings in vielen Ländern kaum institutionalisiert und methodisch noch nicht allzu weit entwickelt. Statistisch-korrelative Analyseverfahren aggregierter Daten fanden deshalb noch längere Zeit in der Wahlforschung Anwendung.
1.4 Von der Aggregat- zur Individualdatenanalyse Von aggregierten Daten kann man, so ausgefeilte Analysemethoden auch angewandt werden, nicht auf individuelles Verhalten schließen (Robinson 1950).
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Hierzu bedarf es direkter Informationen über oder besser noch von den Individuen selbst. In der empirischen Wahlforschung haben seit den beiden berühmten Wahlstudien der vierziger und frühen fünfziger Jahre, die im nächsten Kapitel behandelt werden, Befragungen von Individuen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Schon in den zwanziger Jahren wurde in den USA die Befragung als Instrument der Wahlforschung eingesetzt. Die ersten waren Charles E. Merriam und Harold F. Gosnell (1924) von der University of Chicago, die 1923 mittels einer Befragung von Nichtwählern bei der Bürgermeisterwahl in Chicago den Gründen für die Nichtwahl nachgingen. Die Ergebnisse waren höchst interessant und konnten in einer (methodisch verbesserten) Nachfolgestudie anlässlich der Präsidentschaftswahl 1924 weitgehend bestätigt werden (vgl. Merriam/Gosnell 1949: 452 ff.; vgl. Diederich 1965: 88-91). Merriam und Gosnell (1924: 251) fanden unter anderem heraus, dass dreimal mehr Bürger sich gar nicht erst in die Wählerverzeichnisse eingetragen hatten als registered voters nicht zur Wahl gingen.5 Besonders in den reicheren Wohngegenden stieß diese lokale Wahl auf deutlich weniger Interesse als die Präsidentschaftswahl drei Jahre zuvor. Der Anteil von Frauen unter den Nichtwählern war doppelt so hoch wie der von Männern. Ein Grund hierfür fanden die beiden Wissenschaftler in der generellen Ablehnung des Frauenwahlrechts bei 8 % aller Nichtwähler (ebd.: 40). Darunter befanden sich im Übrigen auch viele Frauen, deren Ehemänner ihnen verboten hatten, wählen zu gehen. Weit mehr registrierte Wähler konnten krankheitsbedingt oder aufgrund meist geschäftlich bedingter Abwesenheit aus der Stadt nicht an der Wahl teilnehmen als nicht registrierte Wähler. Letztere gaben als Hauptgrund für ihre Wahlenthaltung meist eine generelle Gleichgültigkeit gegenüber Wahlen an. Für knapp die Hälfte aller 6000 befragten Nichtwähler waren Gleichgültigkeit (25 %), Krankheit (12 %) oder Abwesenheit (11 %) Grund, an der Wahl nicht teilzunehmen (ebd.: 40). Immerhin 8 % beteuerten, eigentlich vorgehabt zu haben, wählen zu gehen, dann aber aus ganz verschiedenen Gründen doch nicht gewählt zu haben (vgl. ebd.: 175). Unwissenheit über die zur Wahl stehenden Kandidaten oder das Prozedere der Wahl (7 %) und die Angst vor Lohn- oder Arbeitsplatzverlust (6 %) komplettieren die Liste der wichtigsten Gründe für die Nichtwahl. Alles in allem erhellt die Untersuchung der beiden Chicagoer Wahlforscher erstmals umfassend die verschiedenen Motive für das Nichtwählen. Besonders interessant im Hinblick auf die späteren Ergebnisse der Wahlforscher um Paul F. 5
In den USA erfolgt der Eintrag in die Wählerverzeichnisse nicht wie in Deutschland automatisch, sondern durch die Wahlberechtigten selbst innerhalb einer festgesetzten Frist.
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Lazarsfeld ist die Feststellung von Merriam und Gosnell (1924: 28 f.), dass bestimmte Parteianhänger offenbar aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialstrukturellen Untergruppen in Konflikte verstrickt sind. Damit hätten die Chicagoer Wahlforscher, urteilt Nils Diederich (1965: 91), das Konzept der cross-pressures bereits vorweggenommen. Doch dazu mehr im nächsten Kapitel. Neben der Chicagoer Untersuchung gilt die Wiederholungsbefragung (panel) von Studenten des Dartmouth College, die Stuart A. Rice (1928) anlässlich der Präsidentschaftswahl im Oktober und November 1924 durchgeführt hatte, als bahnbrechend für die Wahlforschung. Rice, der auch noch andere Befragungen von Studenten durchführte, war es durch die Panel-Technik möglich, Einstellungsänderungen von Studenten in den letzten 27 Tagen eines Präsidentschaftswahlkampfs zu messen. Dazu wurden sie unter anderem gefragt, welchen der drei Präsidentschaftskandidaten sie an erster und welchen sie an zweiter Stelle präferierten. Ferner wurde auf einer achtstufigen Links-Rechts-Skala (von radikal über liberal und konservativ bis reaktionär) ihr persönlicher politischer Standort ermittelt. Von 340 im Oktober und im November interviewten Studenten wechselten 44 (12,9 %) ihre Erst- und 34 (9,9 %) ihre Zweitpräferenz. Es waren vor allem Liberale, die ihre Erstpräferenz im Laufe des Wahlkampfs wechselten. Auch die Zweitpräferenz änderte sich unter den Liberalen etwas häufiger als unter den Konservativen, deren Präferenz in über 80 % der Fälle stabil blieb (Rice 1928: 278). Radikal und reaktionär eingestellte Studenten bildeten vernachlässigbare Minderheiten (zusammen 0,4 %), so dass Rice nicht weiter auf diese Gruppen einging. Bis heute arbeitet man in der Wahlforschung gerne mit der Panel-Technik. Nur sie kann Aufschluss darüber geben, welche Individuen in einem bestimmten Zeitraum ihre politischen Einstellungen und Wahlabsichten in welche Richtung wechseln. Nur durch Erkenntnisse aus Wiederholungsbefragungen ist beispielsweise die Erstellung verlässlicher Wählerwanderungsbilanzen möglich. PanelStudien sind allerdings mit einer Vielzahl von erhebungstechnischen Problemen behaftet, deren Lösung sehr zeit- und kostenintensiv ist.
1.5 Bibliographie BEAN, Louis H. (1940): Ballot Behavior. A Study of Presidential Elections, Washington. BOCK, Ernst (1919): Wahlstatistik (Ein Beitrag zur politischen Statistik), Diss. HalleWittenberg, Halle-Saale. BREMME, Gabriele (1956): Die politische Rolle der Frau in Deutschland, Göttingen. DIEDERICH, Nils (1965): Empirische Wahlforschung. Konzeptionen und Methoden im internationalen Vergleich, Köln/Opladen. – (1969): Germany, in: ROKKAN/MEYRIAT (1969), S. 128-162.
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Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten6 Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
Ohne theoretisches Fundament gibt es kein sinnvolles empirisches Arbeiten, das wurde bereits in Kapitel 1 deutlich. Aber es gibt nicht die Theorie des Wahlverhaltens, weil es auch nicht die Theorie menschlichen Verhaltens gibt. Will man Verhalten erklären und nicht nur beschreiben, so ist der Entscheidungsprozeß davor – mit einer Vielfalt von Einflussfaktoren, kurz- und langfristigen, emotionalen und rationalen, bewussten und unbewussten – zu beleuchten. Es haben sich drei unterschiedliche Ansätze zur Erklärung von Wahlverhalten herausgebildet, nicht völlig unterschiedlich, zum Teil aufeinander aufbauend und zeitlich in klarer Folge, aber mit deutlich verschiedenen Schwerpunkten: das soziologische Modell zur Erklärung von Wahlverhalten, das sozialpsychologische Erklärungsmodell und das Modell des rationalen Wählers.
2.1 Die soziologischen oder sozialstrukturellen Ansätze Die soziologischen oder genauer sozialstrukturellen Ansätze zur Erklärung von Wahlverhalten gliedert man sinnvoller Weise in das mikrosoziologische und das makrosoziologische Erklärungsmodell. Ersteres ist hauptsächlich mit dem Namen des Soziologen Paul F. Lazarsfeld und denen seiner Mitarbeiter Bernard Berelson und Hazel Gaudet an der Columbia University verbunden ist und wird daher auch die Columbia School genannt. Der makrosoziologische Erklärungsansatz von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan, baut auf den Erkenntnissen von Lazarsfeld auf. Sie betrachten Wahlverhalten auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene und bieten dabei letztlich eine Erklärung für die Entstehung der Parteiensysteme in Westeuropa an. Die Grundlage des mikrosoziologischen Erklärungsmodells ist die Theorie der sozialen Kreise, die Ende des 19ten Jahrhunderts von Georg Simmel (1890) formuliert wurde. Danach ist jeder Mensch in mehrere soziale Kreise eingebunden, also Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz usw. Paul F. Lazarsfeld hat diese 6
Eine frühere, kürzere Fassung dieses Kapitels erschien 1998 im Olzog-Verlag (Roth/Wüst 1998).
D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Überlegungen für den Wähler übernommen. Dieser lebt also in einem bestimmten Kontext. Sein ökonomischer Status, seine Religion, sein Wohnort, sein Beruf und das Alter definieren die sozialen Kreise, die Einfluss auf seine Entscheidung gewinnen. Jeder soziale Kreis hat seine eigene Norm, deren Einhaltung mit Integration belohnt wird. Allerdings übt dieser Kontext durch Anpassungsdruck auch eine Kontrolle auf das Verhalten des Individuums aus, weil der einzelne mit seiner sozialen Umwelt in einem möglichst spannungsfreien Verhältnis leben möchte (vgl. Lazarsfeld et al. 1944, 1968: 148). Empirisch bezogen sich Paul Lazarsfeld et al. sowohl auf die Erkenntnisse der Wahlgeographie von André Siegfried (1913; 1949) als auch auf Ergebnisse von Rice (1928), der herausfand, dass politische Ideen sich am schnellsten entlang von großen Verkehrsverbindungen ausbreiten. Die eigene empirische Basis schufen die Forscher jedoch durch die berühmte Panel-Studie in Erie County im Bundesstaat Ohio. Hierzu wurden 600, nach dem Quota-Verfahren ausgewählte Wahlberechtigte aus Erie County im Präsidentschaftswahlkampf 1940 von Mai bis November insgesamt sieben Mal interviewt. Erie County wurde u.a. deshalb ausgewählt, weil dort die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen bis dato nur unwesentlich vom nationalen Gesamtergebnis abwichen. Trotzdem war sich die Columbia School durchaus darüber im klaren, dass es ein „typical American county“ nicht geben kann und somit allzu große Rückschlüsse auf die gesamte USA auf der Grundlage der Ergebnisse in Erie County nicht möglich sind (vgl. Lazarsfeld et al. 1968: 3). Die ursprüngliche Intention der Wahlforscher um Lazarsfeld war es, den Wechsel politischer Einstellungen und Wahlabsichten im Laufe des Präsidentschaftswahlkampfs zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurden Befragte, die ihre Einstellungen oder Absichten während des Wahlkampfs änderten, mit der weit größeren Gruppe politisch konstanter Personen verglichen (ebd.: X). Es zeigte sich, dass sowohl bei den sogenannten Wechslern als auch bei den sogenannten Konstanten die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen weitgehend politisch homogenes Verhalten erzeugt. Dies konnte insbesondere beim Wahlverhalten nachgewiesen werden: „voting is essentially a group experience“ (ebd.: 137). Änderungen des Wahlverhaltens eines Individuums erfolgten weitgehend in Richtung auf die politische Prädisposition des sozialen Umfeldes. Der stärkste Einfluss ging dabei von der Familie sowie dem engeren Freundeskreis des einzelnen aus. Im Vorfeld einer Wahl wurden nach den Erkenntnissen der Forscher einzelne Mitglieder regelrecht auf die Prädisposition der Gruppe eingeschworen („thus are party voters born“, ebd.: 142). Um die Determiniertheit des Wahlverhaltens durch die soziale Gruppe, der das Individuum angehört, zu unterstreichen, entwickelte die Columbia School einem Index der politischen Prädisposition, dem ein hoher Prognosewert zuge-
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schrieben wurde. Es handelt sich dabei aber lediglich um eine Kombination von drei Charakteristika, nämlich dem sozioökonomischen Status, der Religionszugehörigkeit und der Wohngegend. Aufgrund der hohen Übereinstimmung von sozialstrukturell bedingter politischer Prädisposition und der getroffenen Wahlentscheidung kamen die Autoren schließlich zum vielzitierten Ergebnis: „A person thinks politically as he is socially. Social characteristics determine political preference“ (ebd.: 27). Weitergehende empirische Studien von Berelson et al. (1954) bestätigten, dass der einzelne versucht, sein soziales Umfeld möglichst homogen zu erhalten, um Konflikte zu vermeiden. Die Autoren glaubten sogar, Anhaltspunkte dafür gefunden zu haben, dass Freunde und Bekannte danach ausgesucht werden, ob sie die gleichen politischen Haltungen haben oder nicht. Dies führt schließlich dazu, dass auch den bevorzugten Kandidaten passende Standpunkte zugeschrieben werden und politische Informationen nur selektiv wahrgenommen werden, um diese Harmonie nicht zu stören. Für die Wahlforschung hat, so Berelson, die Theorie der kognitiven Dissonanz, die Festinger 1957 formulierte, schon vorweggenommen. Die im Columbia-Modell suggerierte Homogenität der sozialen Kreise findet sich nur selten in modernen Gesellschaften, die ja durch starke soziale und räumliche Mobilität gekennzeichnet sind, die wiederum tendenziell zur Auflösung von Bindungen führt. Diese Zugehörigkeit zu mehreren, teilweise auch entgegengesetzten sozialen Kräftefeldern, die auf den einzelnen wirken, wird als cross pressure bezeichnet. Solche Inkonsistenzen führen zumindest zu einer Verzögerung der Wahlentscheidung, möglicherweise aber auch zu Wahlenthaltung und einem Rückgang des politischen Interesses bei den Betroffenen. Auch in den späteren Studien der Columbia School wurden die Wirkungen der politischen Prädisposition und von cross-pressure-Situationen immer wieder bestätigt. Die Anwendung des Modells in anderen Ländern, auch in Deutschland, hat die grundsätzlich starke Beeinflussung des politischen Verhaltens des einzelnen durch sozialstrukturelle Faktoren oder Eigenschaften bis in die jüngste Zeit immer wieder gezeigt. Kritisch gegenüber dem Columbia-Modell wurde vermerkt, dass die Autoren keine wirkliche Erklärung ihrer Beobachtungen anbieten (vgl. Falter/Schumann/Winkler 1990: 7). Diesen Vorwurf kann man dem Konfliktlinienmodell von Lipset und Rokkan sicherlich nicht machen. Der makrosoziologische Ansatz von Lipset und Rokkan geht von grundsätzlichen Konflikten in einer Gesellschaft aus, die es in einer Demokratie im Gleichgewicht zu halten gilt. Die Autoren beziehen sich dabei auf Talcott Parsons’ Klassifikation sozialer Systeme. Gesellschaftliche Systeme haben danach sowohl eine funktionale als auch eine territoriale Dimension, die in einem Vierfelderschema als Achsen dargestellt werden können (Abbildung 2.1). Auf der
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territorialen Achse stehen sich Nation (als Zentrum) und Region (als Peripherie) gegenüber. Die Enden der funktionalen Achse bilden Ökonomie und Ideologie (vgl. Lipset/Rokkan 1967: 9 f.). Idealtypische Konflikte in diesem Modell wären der Konflikt über die Kontrolle des politischen Systems am oberen Ende, lokale Oppositionen gegen die dominanten nationalen Eliten am unteren Ende der territorialen Achse, sowie ökonomische Konflikte über Ressourcen, Produkte und Gewinne am linken Ende und typische ideologische Freund-Feind-Konflikte am rechten Ende der funktionalen Achse (ebd.: 10 f.). Territoriale Konflikte verstehen Lipset und Rokkan als Ergebnis der Nationenbildung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in Europa. Sie liegen zeitlich vor den Konflikten auf der funktionalen Ebene, die Produkte der industriellen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts sind. Abbildung 2.1: Das Konfliktlinienmodell nach Lipset und Rokkan
Die europäische Geschichte seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts kann nach Ansicht der Autoren weitgehend als eine Folge des Zusammenwirkens dieser
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beiden revolutionären Änderungen angesehen werden (ebd.: 14 f.). Die erste wichtige Erkenntnis war, wie Stein Rokkan 1980 nochmals darlegte, dass die grundsätzlichen Spaltungen, die in allen Gesellschaften in Europa zu finden waren, in unterschiedlicher Weise und Kombination die Grundlage für die Herausbildung nationaler Parteiensysteme bildeten. Deshalb galt es, ein allgemeines Modell zu finden, das den Übergang von der „Struktur der Spaltungen über das System der Parteien bis hin zu den Verteilungen individueller Verhaltensweisen“ ermöglicht (Rokkan 1980: 120). Vier solcher grundlegenden Spaltungen, die cleavages oder Konfliktlinien genannt werden, lassen sich herausarbeiten. Zwei davon sind dominant kulturelle/ideologische, zwei weitere sind dominant ökonomische cleavages. Sie sind alle Ausdruck des Protests gegen die etablierte nationale Elite und ihre kulturelle Hegemonie und repräsentieren gleichzeitig eine breite Welle der Emanzipation und Mobilisierung (Lipset/Rokkan 1967: 23). Dabei tendiert auf beiden Seiten des Vierfelderschemas jeweils eine Spaltung zum Zentrum der territorialen Achse, die andere zur Peripherie. Die vier Hauptkonflikte sind: 1. 2. 3. 4.
Der Konflikt zwischen herrschender, zentraler Elite und abhängigen ethnischen, sprachlichen oder religiösen Bevölkerungsgruppen in den Regionen. Der Konflikt zwischen säkularisierendem Machtanspruch des Staates und den historisch erworbenen Privilegien der Kirche. Der Konflikt zwischen agrarischen und kommerziell-industriellen Interessen. Der Konflikt zwischen besitzender Klasse und Arbeiterklasse.
Mit der Weberschen Klassendefinition können die Konflikte am ökonomischen Ende der funktionalen Achse auch als Konflikt der Erwerbsklassen, also zwischen abhängig Beschäftigten und Unternehmern bzw. als Konflikt der Besitzklassen, also zwischen primärem und sekundärem Sektor beschrieben werden (vgl. Emmert/Roth 1995: 123). Zeitlich parallel zu den Spannungen, die sich aus dem Modernisierungsprozess der westlichen Industriegesellschaften ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ergeben haben, entstanden Parteien. Deren Genese muss man sich so vorstellen: Die in gesellschaftliche Konflikte involvierten Individuen bilden Gruppen um gemeinsame Interessen. Diese Interessengruppen suchen Partner, um sich auf den verschiedenen Ebenen der politischen Entscheidungsprozesse, insbesondere auf der nationalen Ebene, erfolgreich artikulieren und auch durchsetzen zu können. Als solche Partner fungieren Parteieliten, die in Mobilisierungsphasen Koalitionen mit einem Konfliktpartner eingehen, um politische Macht zu erlangen (Pappi 1977: 195).
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Weil es sich bei den geschilderten Konflikten um wenige grundsätzliche gesellschaftliche Gegensätze handelt, ist die Zahl der Parteien gering und die Dauerhaftigkeit der Koalitionen mit den makrosozialen Gruppen hoch. So wird die hohe Persistenz westlicher Parteiensysteme erklärt und der geringe Spielraum für die Etablierung neuer Parteien begründet. Hinzu kommt, dass für neue Parteien eine Reihe zusätzlicher systemimmanenter Hürden bestehen, die eigentlich nur in revolutionären Phasen überwunden werden können. So müssen neue Parteien ihren potentiellen Wählern beweisen,
dass die artikulierte Kritik als berechtigt anzusehen ist und von den Regierenden nicht einfach als „verschwörerischer Protest“ abgetan werden kann (Legitimationsschwelle), dass sie einen Status erreichen können, der ihnen gleiche Chancen in der Auseinandersetzung mit anderen einräumt (Integrationsschwelle), dass sie selbst stark genug sind, um auf der politischen Entscheidungsebene mitzuwirken, ohne sich älteren Gruppierungen anschließen zu müssen (Repräsentationsschwelle), dass sie Systemhürden in Bezug auf die Mehrheitsregeln überwinden können, bzw. dass ihr Wahlerfolg genügt, um größere strukturelle Veränderungen im nationalen System durchzusetzen (Mehrheitsschwelle).
Zu diesen von Lipset und Rokkan (1967: 27) angeführten Schwellen, mit denen die Autoren eine Typologie der Bedingungen für die Entwicklung von Parteiensystemen aufstellen, gibt es in der Regel noch Hindernisse im nationalen Wahlrecht, die oft für neue Parteien schwer zu überwinden sind. Man denke nur an unterschiedliche Mehrheits- und Verhältniswahlrechtsformen, Sperrklauseln wie z. B. die 5%-Hürde in Deutschland oder andere, vom Repräsentationsprinzip abweichende Verfahren der Umrechnung von Wählerstimmen in Parlamentssitze. Natürlich könnten auch die „alten Parteien“ auf die Kritik und Forderungen neuer Bewegungen rechtzeitig eingehen und somit die Gründung neuer Parteien überflüssig machen. Dies ist aber nicht die „normale Reaktion“ von etablierten Parteien. Wie mehrfach nachgewiesen, sind diese Großorganisationen von großer Schwerfälligkeit und zusätzlich zu den theoretischen Gründen in der Regel personell und strukturell inflexibel. Die Parteiensysteme in den westlichen Industrienationen weisen somit eine hohe Dauerhaftigkeit auf, die Lipset und Rokkan zu der vielzitierten Äußerung brachte, dass es sich um eingefrorene Parteiensysteme handele und deshalb auch die Parteiensysteme der sechziger Jahre mit nur wenigen Ausnahmen die Konfliktlinien der zwanziger Jahre reflektierten (Lipset/Rokkan 1967: 50).
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Zwar stellt die Bundesrepublik Deutschland hierfür eine dieser Ausnahmen dar, denn das Parteiensystem der Weimarer Republik wurde in wichtigen Teilen nicht übernommen, aber insgesamt können die Erkenntnisse von Lipset und Rokkan auf die Wahlen der Bundesrepublik sehr wohl angewandt werden. Alle Analysen seit den fünfziger Jahren zeigen zwei dominierende Konfliktlinien: Den Klassenkonflikt, der eher die SPD begünstigt, und den konfessionellen Konflikt, von dem eher die Unionsparteien profitieren. Die Ursprünge des konfessionellen Konflikts reichen zurück bis zur Reformation. Wenige Jahre nach der Gründung des deutschen Nationalstaats erfuhr der Konflikt in Form der Auseinandersetzungen zwischen Bismarck und dem Katholizismus im Kulturkampf des Kaiserreichs eine Zuspitzung, aus der die Katholiken politisch gestärkt hervorgingen. Sie konnten diese gute Ausgangsposition während der Weimarer Republik in der explizit katholisch orientierten Zentrumspartei noch ausbauen. Allerdings änderten sich die Bedingungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich. Durch die Flüchtlingsströme aus dem Osten kam es zu einem völlig anderen Verhältnis der Konfessionen zueinander – sowohl quantitativ als auch qualitativ. Die neu gegründeten Unionsparteien verstanden sich viel eher als christlich ausgerichtete Parteien denn als Vertreter des „Katholischen Sozialismus“. So wandte sich die CDU als christliche Volkspartei sogar gezielt an den protestantischen Bevölkerungsteil der Bundesrepublik (Mielke 1991: 145). Aus der konfessionellen Konfliktlinie, die ursprünglich zwischen Katholiken und Protestanten verlief, entwickelte sich eine religiöse Konfliktlinie (Pappi 1985: 269), also eine Spannungslinie zwischen kirchlich gebundenen oder religiös orientierten Wählern einerseits und wenig gebundenen, religiös abstinenten Wählern andererseits. Trotzdem weist diese religiöse Konfliktlinie bei den Wahlen in der Bundesrepublik eine hohe Stabilität auf, und dies gilt bis hin zu den jüngsten Wahlen. Der Klassenkonflikt als Folge fortschreitender Industrialisierung im neunzehnten Jahrhundert ist die Wiege der SPD. Sozialdemokraten waren die parteipolitischen Vertreter der wachsenden Gruppe der Industriearbeiter, und diese Koalition zwischen einer makrosoziologischen Gruppe und der Partei war und ist bis heute stabil geblieben. Verstärkt wurde die Bindung der Arbeiter an die SPD immer durch eine zusätzliche organisatorische Anbindung des einzelnen an eine Gewerkschaft. Auch das gilt heute noch. Die Bedeutung beider Trennungslinien, der religiösen wie der Klassen-Konfliktlinie, für das Wahlverhalten in der Bundesrepublik ist ungebrochen, wenn auch die Kerngruppen der klassischen Klientel für beide Volksparteien kleiner geworden sind. Das Parteiensystem der Bundesrepublik ist auch noch in den neunziger Jahren von diesen beiden Grundkonflikten geprägt, wobei die beiden großen Partei-
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en ideologisch nicht in einem klaren Gegensatz stehen, denn der SPD mit einer eher gewerkschaftlich beeinflussten, die Arbeiterschaft bevorzugenden Wirtschaftshaltung steht „nicht eine primär ökonomisch konservative Partei gegenüber ..., sondern eine religiös traditionelle Partei“, wie Pappi bereits 1977 festgestellt hat. Auch diese Feststellung kann bis in die Gegenwart hinein bestätigt werden (Pappi 1977: 196; 1986: 382). Aus der Markt- und Konsumforschung der frühen achtziger Jahre stammende Lebensstil-Modelle werden neuerdings als eigener Erklärungsansatz des Wahlverhaltens angeboten (z.B. Eith/Mielke 1994: 295-299). Zwar ist der Versuch sicherlich verdienstvoll, der abnehmenden Erklärungskraft des sozialstrukturellen Ansatzes als Folge abnehmender Bindungskräfte gesellschaftlicher Großgruppen wie Gewerkschaften oder Kirchen durch die Konstruktion neuer, subjektiver Bindungen zu Lebensstilgruppen zu begegnen, doch bleibt der Erkenntnisgewinn dieser konstruierten Gruppenbindungen für die Wahlanalyse gering. Die verschiedenen Einwände wurden bereits zusammengetragen (vgl. Müller-Rommel/Poguntke 1990), so dass es an dieser Stelle genügt festzustellen, dass die Lebensstil-Modelle allenfalls als Versuche zu werten sind, dem unbestreitbaren gesellschaftlichen Wandel in Form eines subjektiven, sozialstrukturellen Modells konzeptionell zu begegnen. Die sozialstrukturellen Determinanten des Wahlverhaltens können auch in stark mobilen Gesellschaften, wie die der jüngeren Bundesrepublik, immer noch klar nachgewiesen werden. Die gesellschaftlichen Trennungslinien Kapital/Arbeit und religiös/nicht religiös haben von ihrer Trennschärfe im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik nur wenig verloren. Allerdings sind die spezifischen Milieus, in denen die entsprechenden Bindungen verankert sind, deutlich kleiner geworden. Die Operationalisierung des sozialstrukturellen Status erfolgt normalerweise über die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Berufsgruppen. Diese haben sich seit den Gründungsjahren der Bundesrepublik stark verändert. Zu Beginn der fünfziger Jahre war die klar dominierende Berufsgruppe die der Arbeiter (51 %), während es 2005 die Gruppe der Angestellten und Beamten (57 %) ist, die 1950 nur 21 % der Berufstätigen ausmachte. Die Arbeiter umfassen zu Beginn des 21ten Jahrhunderts lediglich 33% der Berufstätigen, während der Anteil der Selbständigen, der 1950 noch 28 % betrug, inzwischen auf 11 % gesunken ist. Solch eine starke Umstrukturierung musste zu deutlichen Veränderungen der Wahlergebnisse führen.
Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten Tabelle 2.1:
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Berufsstruktur seit 1950 (in % der Erwerbstätigen) Arbeiter
Angestellte /Beamte
Selbständige
1950 1961 1970 1987 1990 (West) 1994 (West) 1998 (West) 2001 (West)
51.0 48.1 46.6 39.6 37.4 34.7 33.0 31.7
20.6 29.9 38.4 50.1 51.8 54.1 55.3 58.0
28.3 22.0 16.0 10.3 10.8 11.2 11.7 10.3
1994 (Ost) 1998 (Ost) 2001 (Ost)
41.5 40.0 38.6
51.3 51.4 52.7
7.2 8.6 8.7
1994 (Gesamt) 1998 (Gesamt) 2001 (Gesamt) 2005 (Gesamt)
36.0 34.3 32.9 31.3
53.5 54.6 57.1 56.8
10.5 11.1 10.0 10.8
Quelle: Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes.
Tabelle 2.2 zeigt die relativ stabilen Anteile der Parteien in den Berufsgruppen und die hohe Stabilität in den Kerngruppen in der alten Bundesrepublik bis 1990. Sie macht darüber hinaus deutlich, dass der Grundsockel der Wählerschaft beider Volksparteien, der Anteil ihrer treuesten Wähler, während dieser Zeit kleiner geworden ist. Bei der Bundestagswahl 1990 erzielte die SPD im Westen der Bundesrepublik bei den Arbeitern ein Zweitstimmenergebnis von 47 %, bei ihren Stammwählern, den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, kam sie auf 58%. Damit kann sie nicht ganz an ihre Ergebnisse in diesen Gruppen aus den sechziger und siebziger Jahren anschließen. Einen vergleichbaren Rückgang zeigt die Union bei den Katholiken. Ebenfalls auf die alte Bundesrepublik bezogen erhielt die CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1990 einen Stimmenanteil von 55 % unter den Katholiken insgesamt sowie 78 % unter den stark kirchlich gebundenen Katholiken. Der sozialstrukturelle Erklärungsansatz funktioniert also bis dahin noch einiger Maßen. Nach 1990 nimmt die Bindungskraft beider Volksparteien in ihren traditionellen Unterstützergruppen, den Arbeitern einerseits und den Katholiken andererseits, weiter ab, wie aus Tabelle 2.3. ersichtlich ist. Die Entwicklung ist zwar
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Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
nicht dramatisch aber in ihrer Tendenz klar erkennbar. Und dies gilt auch für die Kerngruppen der beiden großen Parteien, die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter (für die SPD) und die stark kirchlich gebundenen Katholiken (für die CDU/CSU). Die quantitativen Veränderungen in den Berufsgruppen haben sich auf die Bedeutung der Gruppe der Arbeiter für die SPD und der Gruppe der Katholiken für die CDU/CSU stark ausgewirkt. Aus den Tabellen 2.2 und 2.3 ist zu entnehmen, dass der Anteil der Arbeiter an der Wählerschaft der SPD von 39 % bei der Bundestagswahl 1976 auf 30 % bei der Bundestagswahl 2005 zurückgegangen ist. Vergleichbar verhält es sich mit der Bedeutung der Katholiken für die Unionsparteien. Machten die Katholiken 1976 noch 64 % der Unionswählerschaft aus, so waren es 2005 nur noch 48 %. Abbildung 2.2: Kernklientel der großen Parteien bei den Bundestagswahlen 1969-2005 (Auswahl: Westdeutschland, in Prozent)
50 40 30
Anteil der kirchengebundenen Katholiken an allen CDU/CSU-Wählern
20 10
Anteil der gewerkschaftlich gebundenen Arbeiter an allen SPD-Wählern
0 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 Quelle: Roth/Wüst 2006: 55.
Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten Tabelle 2.2:
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Wahlentscheidung in sozialstrukturellen Gruppen, Westdeutschland, 1976-1990 (Prozentanteile)
CDU/CSU SPD FDP Grüne CDU/CSU SPD FDP Grüne CDU/CSU SPD FDP Grüne CDU/CSU SPD FDP Grüne insgesamt nur gewerkschaftlich gebundene CDU/CSU SPD FDP Grüne CDU/CSU SPD FDP Grüne insgesamt nur stark kirchengebundene
Angestellte und Beamte 1987 1983 1980 1976 45 54 43 46 34 35 42 43 9 5 13 11 10 7 2 Selbständige 1990 1987 1983 1980 1976 57 59 65 68 71 18 11 19 17 22 18 21 12 14 7 5 8 4 0 Arbeiter 1990 1987 1983 1980 1976 39 36 43 32 40 47 52 53 56 55 6 6 2 11 4 3 6 1 0 gewerkschaftlich gebundene Arbeiter 1990 1987 1983 1980 1976 30 24 25 32 24 58 64 68 62 68 5 3 0 11 2 2 8 0 0 Anteil der Arbeiter an der Wählerschaft der SPD 1990 1987 1983 1980 1976 25 43 45 37 39 16 18 19 14 13 Katholiken 1990 1987 1983 1980 1976 56 55 65 56 63 27 30 25 35 31 9 7 5 7 5 5 6 6 2 stark kirchengebunde Katholiken 1990 1987 1983 1980 1976 79 70 78 74 84 12 19 16 19 13 5 6 3 7 3 2 4 3 0 Anteil der Katholiken an der Wählerschaft der CDU/CSU 1990 1987 1983 1980 1976 50 61 56 61 64 23 29 25 31 36 1990 44 35 12 5
Quelle: Nachwahlbefragungen (1976-1987) und Befragungen am Wahltag (1990) der Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim.
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Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
Der Blick auf die Kernwählerschaft beider Volksparteien in Westdeutschland zeigt ein ähnliches Bild: der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter an der Wählerschaft der Sozialdemokraten betrug 13 % bei der Bundestagswahl 1976. Er stieg danach leicht an bis 1983, ging aber seit dieser Zeit zurück auf 9% im Wahljahr 2005. Die Katholiken mit starker Kirchenbindung stellten 1976 36% der Unionswählerschaft. Dieser Anteil ging bis 1990 auf 23% zurück und liegt 2005 bei 12%.7 Tabelle 2.3:
Wahlentscheidung in sozialstrukturellen Gruppen, Gesamtdeutschland, 1990-2005 (Prozentanteile)
CDU/CSU SPD FDP Grüne PDS (Linke) CDU/CSU SPD FDP Grüne PDS (Linke) CDU/CSU SPD FDP Grüne PDS (Linke) CDU/CSU SPD FDP Grüne PDS (Linke) Insgesamt nur gewerkschaftlich gebundene
Angestellte und Beamte 2002 1998 1994 1990 36 33 39 41 40 41 36 34 7 7 8 12 11 9 9 6 4 6 5 3 Selbständige 2005 2002 1998 1994 1990 41 51 44 52 55 23 21 22 18 19 20 13 15 15 18 10 11 10 8 4 5 3 4 3 1 Arbeiter 2005 2002 1998 1994 1990 32 37 30 37 41 37 44 48 45 40 8 7 3 4 7 5 4 3 5 3 12 4 6 5 2 8 gewerkschaftlich gebundene Arbeiter 2005 2002 1998 1994 1990 22 29 19 27 29 54 56 66 60 58 5 6 2 2 5 6 5 3 5 2 8 1 2 1 Anteil der Arbeiter an der Wählerschaft der SPD 2005 2002 1998 1994 1990 30 34 28 31 25 9 11 11 13 16 2005 35 35 9 10 8
7 Die häufigen Kirchgänger haben sich bei den Katholiken von 1953 bis 1990 nahezu halbiert (von 60% auf 32%) und danach bis 2005 nochmals auf 24% reduziert. Quellen: ZA 145,556,426,635,823, 2391,2546,3160,3849,3497. 8 Nur Wahlgebiet West.
Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
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Tabelle 2.3 (Fortsetzung) CDU/CSU SPD FDP Grüne PDS (Linke) CDU/CSU SPD FDP Grüne PDS (Linke)
insgesamt nur stark kirchengebundene
Katholiken9 2005 2002 1998 1994 48 53 47 52 28 30 36 31 10 7 6 7 7 8 6 6 4 1 1 1 stark kirchengebundene Katholiken10 2005 2002 1998 1994 72 73 70 74 15 16 20 14 8 4 5 6 3 5 3 2 1 0 0 0
1990 55 28 8 4 1990 78 12 5 2 -
Anteil der Katholiken an der Wählerschaft der CDU/CSU 2005 2002 1998 1994 1990 44 44 43 43 50 12 12 15 18 23
Quelle: Befragungen am Wahltag (1990-2005) der Forschungsgruppe Wahlen e.V., Mannheim.
Nichtsdestotrotz können beide Volksparteien noch immer auf einen hohen Anteil letztlich sozialstrukturell gebundener Stammwähler zurückgreifen, denn die mit der Verfolgung der ursprünglichen Interessen der Kerngruppen verbundenen Ideologien wirken über die Sozialisation oder aufgrund fehlender ideologischer Alternativen fort (Roth/Wüst 2006, Kornelius/Roth 2007). Sie zwingen die Parteien auch heute noch bei Kernkonflikten in der Gesellschaft, wie beispielsweise dem Sozialabbau (Stichwort: Hartz IV) oder der Abtreibung, relativ starre und oftmals nur für Teile ihrer Klientel repräsentative Haltungen einzunehmen. Die Entwicklung der letzten vierzig Jahre zeigt allerdings, dass der Anteil der Stammwählerschaft beider großer Parteien rückläufig ist. Will man grob quantifizieren, so bewegen sie sich von einem Wähleranteil von einst drei Viertel auf mittlerweile gut die Hälfte zu. Immer mehr Wähler müssen demnach von Wahl zu Wahl neu gewonnen werden. Insgesamt gesehen wird bei den sozialstrukturellen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten sehr deutlich, dass sie konstantes Wahlverhalten sehr wohl erklären können, sowohl weil die strukturellen Außenbedingungen für den einzelnen sich nur langsam verändern, als auch wegen der hohen Stabilität der Parteiensysteme, die sich wiederum durch die Dauerhaftigkeit der Grundkonflikte
9
Nur Wahlgebiet West. Nur Wahlgebiet West.
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Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
begründen. Die Ursachen des individuellen Parteienwechsels bleiben aber mit der sozialstrukturellen Theorie weitgehend ungeklärt.
2.2 Der sozialpsychologische Ansatz Während die Wahlforscher der Columbia School Wahlverhalten überwiegend auf den gesellschaftlichen Kontext zurückführten, in den der einzelne Wähler eingebettet ist, stand für eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern an der University of Michigan in Ann Arbor das Individuum selbst stärker im Mittelpunkt des Interesses. Die individuelle Wahrnehmung und Einschätzung von Kandidaten und Sachthemen (kurzfristige Einflüsse) trägt nach Ansicht der Ann Arbor School maßgeblich zur Wahlentscheidung bei, während die „psychologische Mitgliedschaft“ in einer Partei, gemessen in Form der Variable Parteiidentifikation, als Summe verschiedenster längerfristiger Einflüsse ebenfalls in die Wahlentscheidung einfließt. Die individuelle Wahlentscheidung ist somit nicht primär sozialstrukturell determiniert, sondern das Ergebnis verschiedener lang- und kurzfristiger Einflüsse auf das Individuum. Angus Campbell, Gerald Gurin und Warren E. Miller vom Institute for Social Research entwickelten das Konzept ihres sozialpsychologischen Erklärungsmodells für Wahlverhalten im Zusammenhang mit den US-Präsidentschaftswahlen 1948 und 1952 (Campbell et al.: The Voter Decides, 1954). Um Ergebnisse ihrer Untersuchungen anlässlich der Kongresswahlen 1954 und der Präsidentschaftswahl 1956 erweitert, erschien wenige Jahre später das Hauptwerk der Wahlforscher aus Ann Arbor: The American Voter (Campbell et al. 1960). Zur Überprüfung ihres ursprünglichen Konzepts und dessen Verfeinerung führte Campbells Team landesweite Umfragen derselben Wahlberechtigten vor und nach den jeweiligen Präsidentschaftswahlen durch.11 Somit waren – im Unterschied zur Regionalstudie Lazarsfelds – erstmals Rückschlüsse auf das Wahlverhalten in den USA insgesamt möglich. Die Auswahl der Befragten erfolgte nicht nach dem Quota- sondern nach dem wenige Jahre zuvor erstmals angewandten Zufallsverfahren. Mit der Determinanten-Trias Parteiidentifikation, Kandidatenorientierung sowie der Orientierung an Sachthemen (issues), versucht der sozialpsychologische Erklärungsansatz die kurzfristige Wahlentscheidung zu erklären, während er einzelnen, zeitlich vorgelagerten Faktoren (z.B. der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen) unmittelbaren Einfluss auf das Wahlverhalten ab11
Anlässlich der Kongresswahlen 1954 wurde nur eine einmalige Befragung durchgeführt.
Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
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spricht. In Form der Variable Parteiidentifikation (PI), dem Herzstück des Ansatzes, soll die Summe der für das Individuum persönlich und politisch relevanten, vorgelagerten Faktoren gemessen werden. Die PI als eine Art psychologischer Parteimitgliedschaft ist demzufolge als Destillat eines Kausalitätstrichters (funnel of causality) zu verstehen, in den als vorgelagerte Faktoren die persönlichen Erfahrungen und politischen Orientierungen des bisherigen Lebens eingeflossen sind (vgl. Campbell et al. 1960: 24-32). Die Identifikation mit einer bestimmten Partei geht selten mit der formalen Parteimitgliedschaft eines Individuums einher.12 Deshalb wird die psychologische Parteimitgliedschaft auch affektive Parteiorientierung genannt, ein Begriff, der auf die Bezeichnung „Mitgliedschaft“ völlig verzichtet. Die PI überträgt sich häufig von Eltern auf ihre Kinder (ebd.: 146-48). Mit zunehmendem Alter wird sie im Allgemeinen stabiler und intensiver. Die PI ist eine dauerhafte Orientierung, die sich nicht von Wahl zu Wahl ändert. Treten allerdings größere persönliche Veränderungen (z.B. Heirat, Berufs- oder Ortswechsel) oder außerordentliche politische Ereignisse (wie ökonomische Krisen oder Kriege) ein, dann kann sich auch die Parteiidentifikation ändern (ebd.: 149-60). Die Operationalisierung des PI-Konzepts erfolgte in Form einer zweistufigen Frage. Zunächst wurden bekennende Anhänger der Demokratischen Partei von denjenigen der Republikanischen Partei und von bekennenden Unabhängigen getrennt. Im zweiten Schritt fragte man die Anhänger der Demokraten und die der Republikaner, ob sie sich einen starken oder einen nicht so starken Parteianhänger nennen würden. Die Unabhängigen wurden gefragt, welchen der beiden Parteien sie näher stehen. Aus diesen Fragen entwickelten die Wahlforscher um Campbell eine PI-Skala mit den folgenden sieben Ausprägungen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
starke Identifikateure der Demokraten schwache Identifikateure der Demokraten unabhängige Demokraten Unabhängige unabhängige Republikaner schwache Identifikateure der Republikaner starke Identifikateure der Republikaner
In Beziehung zur Wahlabsicht der Befragten bei Präsidentschaftswahlen gesetzt, ergab sich ein starker Zusammenhang zwischen der Intensität der PI und der 12 Diese Feststellung trifft für die USA, in der Parteien nicht viel mehr als Wahlvereine sind, stärker zu als für Parteiendemokratien wie beispielsweise die Bundesrepublik, aber auch hier ist der Anteil der Parteimitglieder an der Zahl der Wahlberechtigten gering (4 bis 5 Prozent).
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Kapitel 2: Theoretische Erklärungsmodelle für Wahlverhalten
Wahlabsicht für den Kandidaten derjenigen Partei, mit der das Individuum sich identifizierte (Campbell et al. 1954: 109; 1960: 136-42). Die PI wird, greift man noch einmal auf das Bild des Trichters zurück, sehr spät, an einer bereits sehr engen Stelle des Kausalitätstrichters gemessen. In zeitlicher Nähe zu einer Wahl wird die gemessene PI bereits von kurzfristigen Einflüssen, der Kandidaten- und issue-Orientierung des Individuums, beeinflusst. Andererseits wirkt die Identifikation mit einer Partei häufig als eine Art Filter bei der Wahrnehmung und Einschätzung kurzfristiger Einflüsse (vgl. Abbildung 2.3, S. 47). Insofern lässt sich die Variable Parteiidentifikation als sozialpsychologisches Äquivalent zu Lazarsfeld Index politischer Prädisposition verstehen (vgl. Bürklin 1988: 55). Die Konzeptionalisierung kurzfristiger Einflüsse ist indes eine Innovation der Michigan School, die in den sozialstrukturellen Ansätzen keine Entsprechung findet. Sowohl bei der issue- als auch bei der Kandidatenorientierung wird im sozialpsychologischen Ansatz zwischen Stärke, Richtung und Intensität der Orientierung unterschieden (vgl. Campbell et al. 1954: 112-43). Sachthemen haben nur dann Einfluss auf das individuelle Wahlverhalten, wenn sie drei Grundbedingungen erfüllen: sie müssen vom Wähler zunächst wahrgenommen, dann als wichtig erachtet werden, und schließlich muss der Wähler eine positive oder negative Zuordnung seiner eigenen Einstellung zum Problemlösungskonzept zumindest einer Partei treffen können (vgl. Campbell et al. 1960: 170). Die Operationalisierung des issue-Konzepts erfolgte in zwei Stufen. Zunächst wurden Fragen zu sieben vorgegebenen Themen im Wahlkampf gestellt. Die Auswahl der Themen erfolgte so, dass sowohl innen- als auch außenpolitische Themen abgedeckt wurden, sowohl länger- als auch kurzfristige parteiliche Differenzen und ideologische wie auch ökonomische Gegensätze berücksichtigt wurden (Campbell et al. 1954: 116). Für die weitere Analyse wurde die Anzahl der issues auf vier reduziert. Im zweiten Schritt wurde zwischen Stärke einerseits sowie Richtung und Intensität der Issueorientierung andererseits unterschieden. Hierfür wurden die Antworten der Befragten zu jedem Thema in pro-demokratische, pro-republikanische und neutrale Positionen eingeteilt (Skalierung mit drei Ausprägungen). Abhängig davon, wie oft der Befragte keine neutrale Position einnahm, wurde die Stärke seiner Issueorientierung ermittelt: wer höchstens einmal neutral blieb, fiel in die Kategorie stark, zwei neutrale Antworten führten zur Einstufung in die Kategorie mäßig und mehr als zwei neutrale Positionen waren gleichbedeutend mit einer schwachen Issueorientierung des Befragten (ebd.: 122 f.). Die Differenzierung nach Richtung und Intensität der Issueorientierung erfolgte durch eine 5-Punkte-Skalierung. Nahm der Befragte neben bis zu drei neutralen Positionen nur Positionen einer Partei ein, dann erhielt er, je nachdem zugunsten welcher Partei die Issueorientierung ausfiel, einen der Extrem-
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werte 1 oder 5. Überwogen lediglich die Positionen zugunsten einer Partei, erhielt der Befragte, wiederum je nach nachdem, welche der beiden Parteien er bei den Sachthemen eher präferierte, den Wert 2 oder 4. Nahm der Befragte gar keine oder gleich viele Positionen der einen und der anderen Partei ein, erhielt er den Wert 3 (ebd.: 123). Die Ausprägungen auf beiden Skalen wiesen einen Zusammenhang mit der Stärke politischer Partizipation und der Richtung der Wahlentscheidung auf. Als Quintessenz kann man festhalten: Je stärker der Wähler bestimmte Sachthemen wahrnimmt und als wichtig erachtet, desto eher nimmt er an einer Wahl teil; je deutlicher die Einstellungen eines Wählers zugunsten der Lösungsvorschläge einer Partei ausfallen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er diese Partei auch wählt. Seit den späten siebziger Jahren ist man in der Wahlforschung dazu übergegangen, bei Sachthemen zwischen position issues und valence issues zu unterscheiden (Stokes 1966: 21; Klingemann 1973: 230). Handelt es sich um ein Thema, zu dem die Parteien ganz verschiedene Positionen einnehmen, also die Politikziele gegensätzlich sind, wie beispielsweise beim Thema Abtreibung oder der Atomenergiefrage, dann spricht man von einem position issue. Sind Wichtigkeit und Lösungsnotwendigkeit eines Themas hingegen unumstritten, also die Politikziele identisch aber die Lösungsansätze unterschiedlich, wie beispielsweise bei der Erhaltung der Preisstabilität oder der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, dann handelt es sich um ein valence issue. Es wird in der Regel davon ausgegangen, dass position issues für die Wahlentscheidung von größerer Bedeutung sind als valence issues (Bürklin 1988: 60). Trotzdem werden position issues von den Parteien in Wahlkämpfen oft gemieden, weil die Risiken der Polarisierung auch in der eigenen Anhängerschaft, zumindest bei den großen Parteien, als sehr hoch eingeschätzt werden. Bei der Kandidatenorientierung ging Campbells Team ähnlich vor wie bei der Issueorientierung und kam zu vergleichbaren Ergebnissen. Bei vier offenen Fragen vor der Wahl konnten die Wahlberechtigten zunächst Gründe angeben, warum sie den demokratischen bzw. den republikanischen Kandidaten zu wählen oder nicht zu wählen beabsichtigten. Aus der Anzahl aller Gründe zugunsten und zuungunsten beider Kandidaten wurde ein 5-Punkte-Index erstellt. Dieser reichte von starker Kandidatenorientierung (Wert: 1) bei der Nennung von insgesamt mindestens vier Gründen bis zu schwacher Kandidatenorientierung (Wert: 5) bei der Nennung keines einzigen Grundes (Campbell et al. 1954: 137-39). Mit Hilfe einer weiteren 5-Punkte-Skalierung wurden die positiven Antworten für die beiden Kandidaten in Beziehung gesetzt und damit die Richtung und Intensität der Kandidatenorientierung ermittelt.
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Auch bei der Kandidatenorientierung gilt: Je häufiger der Wähler zu den verschiedenen Kandidaten Stellung bezieht, desto eher nimmt er an einer Wahl teil; je deutlicher die Einstellungen eines Wählers zugunsten des Kandidaten einer bestimmten Partei ausfallen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er diesen Kandidaten auch wählt. Kandidatenpräferenz und Issueorientierung schienen den Wahlforschern aus Ann Arbor größeren Veränderungen und Fluktuationen unterworfen zu sein als die PI (Campbell et al. 1954: 183). Deshalb sind Campbell und seine Mitarbeiter bereits 1960 dazu übergegangen, unter der PI eine stabile, psychologische Parteibindung zu verstehen, die von den kurzfristigen Einflussfaktoren nicht mehr tangiert wird (Campbell et al. 1960: 121 ff.).13 Abbildung 2.3 auf Seite 47 trägt dieser Modifikation durch die unterschiedliche Färbung der Wirkungspfeile Rechnung. Sind Kandidaten- und Issueorientierung mit der Parteiidentifikation deckungsgleich, dann spricht man mit Philip E. Converse (1966) von einer Normalwahl (normal vote), bei der die Wahlentscheidung des einzelnen entsprechend seiner Parteiidentifikation erfolgt (vgl. auch Falter/Rattinger 1983). Unterscheiden sich die kurzfristigen Orientierungen von der längerfristigen Parteiidentifikation, beispielsweise in Form einer (kurzfristigen) Präferenz des Wählers für den Kandidaten der Partei A bei einer (längerfristigen) Identifikation mit Partei B, dann ist die Wahlentscheidung keineswegs so einfach zu bestimmen. Die Lage des eben beschriebenen Wählers ist vergleichbar mit einer crosspressure-Situation im Modell der Columbia School. Im Unterschied zum mikrosoziologischen Ansatz bleiben als Ergebnis einer solchen cross-pressure-Situation jedoch nicht nur die Nichtwahl übrig, denn unter Berücksichtigung aller drei Einflussfaktoren des Modells lässt sich die Wahlabsicht dieses Wählers mitunter doch noch bestimmen. Allerdings werden auch im sozialpsychologischen Modell im Konflikt stehende Einflussfaktoren in einen ursächlichen Zusammenhang mit Nichtwahl, Unschlüssigkeit der Wahl und der Stimmabgabe für verschiedene Parteien oder Kandidaten bei derselben Wahl (divided vote) gebracht (Campbell et al. 1954: 183) – ein schlechtes Urteil über den vermeintlich aufgeklärten, mündigen Bürger. Insgesamt gesehen kann der sozialpsychologische Ansatz als wichtige Ergänzung zu den sozialstrukturellen Erklärungsmodellen für Wahlverhalten gewertet werden. So ist die Berücksichtigung kurzfristiger Einflussfaktoren auf das Wahlverhalten vor allem für die Erklärung wechselnden Wahlverhaltens unverzichtbar. Kritik haben den Sozialwissenschaftlern aus Michigan vor allem das 13
Vgl. hierzu auch Bürklin (1988: 56 f.).
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Problem der Gewichtung der drei Einflussfaktoren und das Parteiidentifikationskonzept eingebracht. Wie Campbell, Gurin und Miller (1954: 183 f.) selbst zugeben, ändert sich die Erklärungskraft der einzelnen Determinanten von Wahl zu Wahl. Aus diesem Grund sind exakte Wahlprognosen allein auf der Grundlage der drei Erklärungsfaktoren des Ann-Arbor-Modells nicht möglich. Abbildung 2.3: Das sozialpsychologische Erklärungsmodell für Wahlverhalten Kausalitätstrichter
vorgelagerte Faktoren, z.B. Sozialstruktur
Parteiidentifikation
Kandidatenorientierung
Issueorientierung
Wahlentscheidung Determinanten-Trias Quelle: Modifiziert nach Bürklin (1988: 56 f.).
Hauptkritikpunkt am Konstrukt Parteiidentifikation war und ist die Annahme, dass die PI langfristig stabil ist und deshalb weit stärker andere Erklärungsfaktoren beeinflusst als umgekehrt. Bereits in den späten fünfziger Jahren sind in den
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USA hohe Fluktuationen bei der PI beobachtet worden, so dass zumindest an der richtigen Operationalisierung des Konzepts berechtigte Zweifel angebracht sind (vgl. Popkin et al. 1976: 791). Auch sogenannte nicht-rekursive Modelle, die der PI wieder eine stärkere Abhängigkeit von anderen Faktoren zuschreiben, tragen diesem Kritikpunkt nur bedingt Rechnung (vgl. Bürklin 1988: 58-60; Fiorina 1981: 176-90). Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Übertragbarkeit des PIKonzepts auf die Bundesrepublik wurde auch immer wieder die Validität der deutschen PI-Frage bezweifelt (Zolnhöfer 1965; Berger 1972; Gluchowski 1983).14 Misst die Frage tatsächlich das, was sie messen soll, nämlich eine längerfristige, affektive Parteibindung? Wie Küchler (1990: 426-29) zeigen konnte, dürften hier Zweifel angemeldet sein, denn beispielsweise wechselten 1986/87 in einer Wiederholungsbefragung vor der Bundestagswahl binnen weniger Monate rund 20 Prozent der Befragten ihre PI. Abbildung 2.4 auf Seite 49 demonstriert, dass die PI mit Ausnahme des Jahres 1987 (die Wahl fand im Januar statt) in allen Bundestagswahljahren seit 1976 starken Veränderungen unterlag. Die Zahl derjenigen, die sich mit einer bestimmten Partei stark identifizieren nahm in jenen Jahren stark zu, die Zahl derjenigen, die sich nur schwach oder mit keiner Partei identifizierten, nahm parallel dazu zum Teil deutlich ab. Ohne Zweifel sind diese Effekte das Ergebnis der (Re-)Aktivierung von Parteibindungen durch den jeweiligen Wahlkampf. Die wenige Monate vor oder nach einer Bundestagswahl gemessene PI ist deshalb mehr als nur die explizit langfristig stabile Parteiidentifikation aus dem Ann-Arbor-Modell, denn kurzfristige Einflussfaktoren, wie die Kandidaten- und Issueorientierung, beeinflussen die Antwort der Wahlberechtigten auf die PI-Frage. Diese Effekte geben Anlass zur Vorsicht im Umgang mit dem PI-Konzept, doch sollten sie nicht dazu führen, aufgrund der Zweifel an einer adäquaten Operationalisierung des Einflussfaktors Parteiidentifikation in Deutschland, ein ganzes theoretisches Konzept zu verwerfen (vgl. Küchler 1986: 201 f.). Schließlich schlossen auch die Wahlforscher der Ann Arbor School Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Erklärungsfaktoren ursprünglich nicht aus (vgl. Campbell et al. 1954: 97).
14
Die US-amerikanische Formulierung lautet: „Generally speaking, do you think of yourself as a Republican, a Democrat, an Independent, or what?“, während im Deutschen die PI seit 1972 mit folgender Frage erhoben wird: „Viele Leute in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher?“
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Abbildung 2.4: Parteiidentifikation 1976-2006 (nur Westdeutschland) Partei Identifikation West Deutschland 1976 - 2006 50
starke PI
BTW
40
30
schwache PI
20
keine PI 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006
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Forschungsgruppe Wahlen: Politbarometer-Kumulation 1976-2005
Was Abbildung 2.4 jedoch auch zeigt, ist der kontinuierliche Rückgang des Anteils von Wahlberechtigten, die sich überhaupt mit einer Partei identifizieren, sowie die Abnahme der Intensität der PI unter den Identifikateuren bis Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. 1976 identifizierten sich 85 % mit einer politischen Partei, mehr als die Hälfte davon stark. Zwanzig Jahre später ist der Anteil der Identifikateure auf 67 % gesunken, wobei der Anteil der starken nun deutlich unter dem der schwachen Identifikateure liegt. In den letzten 10 Jahren ist die Zahl der Nichtidentifikateure nahezu konstant, die starken und die schwachen Identifikateure etwa gleich. Insgesamt gibt es 2006 etwa drei gleich große Gruppen. Im vorhergehenden Unterkapitel wurde die abnehmende Bedeutung politischer Vorfeldorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften für das Wahlverhalten in der Bundesrepublik beschrieben. Da die Sozialstruktur zu den vorgelagerten Faktoren zählt, die in den Kausalitätstrichter einfließen und als deren Destillat die PI entsteht, ist eine Parallelität zwischen Abnahme sozialstruktureller Bindungskräfte und dem Rückgang der PI zwangsläufig. Die PI hängt ganz entscheidend von dem ab, was ihr vorgelagert ist. Nehmen sozialstrukturelle Bindungskräfte ab, muss dies nach dem Ann-Arbor-Modell Effekte auf Stärke und Intensität der PI haben. Insofern lässt sich die Gültigkeit des PI-Konzepts auch mit Hilfe des sozialstrukturellen Ansatzes demonstrieren. Eine Kurzanalyse der Bundestagswahl 2005 verdeutlicht die Wichtigkeit der Determinanten-Trias bei der Erklärung von Wahlverhalten in der Bundesre-
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publik. Trotz des allgemeinen Rückgangs der PI konnten die CDU/CSU 72%, die SPD 69% sowie die Grünen noch 46 % ihrer Wähler bei dieser Wahl aus eigenen Identifikateuren gewinnen. Bei der FDP waren es allerdings nur 25 %. 32 % der FDP-Wähler identifizierten sich mit keiner Partei, 44 % mit einer anderen Partei, vornehmlich der CDU/CSU. Das bedeutet, dass die FDP bei einer Normalwahl im Converseschen Sinne, also ohne die Unterstützung von taktischen Wählern unter den CDU/CSU-Anhängern, bei der Bundestagswahl 2005, zwar nicht wie bei früheren Bundestagswahlen an der 5 %-Hürde gescheitert wäre (vgl. Norpoth/Roth 1996: 221-24), aber ein sehr viel schlechteres Ergebnis gehabt hätte. Eine neue Situation ergab sich für die PDS. In der Wahlgemeinschaft mit der WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit) zur Linken.PDS war sie sehr viel erfolgreicher als bei früheren Bundestagswahlen, aber ihr Anteil von Wählern mit eigener P.I. musste dabei deutlich zurückgehen (42 %). Insbesondere für schwach oder überhaupt nicht an Parteien gebundene Wähler sind die kurzfristigen Einflussfaktoren, issues und Kandidaten, für die Wahlentscheidung besonders wichtig. Issues werden in der deutschen Wahlforschung sinnvoller Weise in den folgenden zwei Stufen operationalisiert: in Form der relativen Wichtigkeit von Problemen und als Problemlösungskompetenzen. So wurde von den Wahlberechtigten in der Woche vor der Bundestagswahl 2005, wie schon seit 1994 die hohe Arbeitslosigkeit als das mit Abstand wichtigste Problem erachtet. Die Kompetenz zur Lösung des Problems wurde im Gegensatz zu früheren Bundestagswahlen eher einer unionsgeführten Regierung als einer SPD-geführten Regierung zugeschrieben. Bei den Themen Renten und Steuern (Rang 4 und 5 auf der Liste der wichtigsten Probleme) trauten die Wähler den beiden großen Parteien gleich viel bzw. gleich wenig zu. Das gilt auch für die Bereiche Gesundheit und Familie. Bei Wirtschaft und Finanzen wurde den Unionsparteien die höhere Kompetenz eingeräumt. Insgesamt gesehen war also die Bilanz bei den Problemlösungskompetenzen in vielen Bereichen ausgeglichen, aber die ökonomische Kompetenz lag eindeutig bei der Union. Die SPD konnte deshalb die Wahl nicht mehr gewinnen, andererseits war das Vertrauen in die Lösungskompetenz der CDU/CSU nicht so eindeutig, dass es für einen klaren Sieg gereicht hätte, zumal wir davon ausgehen können, dass die ökonomische Kompetenz nicht mehr das gleiche Gewicht bei Wahlen hat wie vor 1998 (Roth/Wüst 2006: 57). Die kleinen Parteien profitierten in dieser Situation aus der Schwäche der großen, obwohl den kleinen Parteien (mit Ausnahme der Grünen und auch hier nur, was deren Kernkompetenz in Umweltfragen angeht), keine wirkliche Durchsetzungsfähigkeit zugeordnet wird, höchstens Korrekturmöglichkeiten in Koalitionen.
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Ein weiterer Grund für das Wahlergebnis 2005, das letztlich nur die Regierungsbildung in Form einer großen Koalition zuließ, hieß Gerhard Schröder. Er war aus der Sicht der Wähler ein erfolgreicher Kanzler und die Mehrheit der Wähler wünschte ihn auch weiterhin als Regierungschef. Sein Vorsprung vor der Herausforderin Angela Merkel wuchs im Laufe des Wahlkampfes und war keineswegs nur auf seine Überzeugungsleistungen im 2002 erstmals eingeführten und auch 2005 durchgeführten sog. Duell der Kanzlerkandidaten im Fernsehen zurückzuführen. Gerhard Schröder führte gegenüber Angela Merkel auch in den meisten wichtigen politischen Führungseigenschaften und zwar nicht nur in den sog. soft skills wie Sympathie oder Siegertyp-Image, sondern auch was Durchsetzungsfähigkeit, Sachverstand, Führungsfähigkeit einer Regierung oder die Durchsetzung deutscher Interessen angeht (Roth/Wüst 2006: 64). Ohne Zweifel verhinderte Gerhard Schröder, ähnlich wie bereits 2002 ein deutlich schlechteres Ergebnis für die SPD. Dieses Beispiel einer Anwendung des sozialpsychologischen Ansatzes für die Analyse der Bundestagswahl 2005 zeigt dreierlei: Erstens ist die Bedeutung des sozialpsychologischen Ansatzes für die Wahlanalyse groß. Zweitens ist die Vielfalt der Analysemöglichkeiten ungleich größer als bei den anderen Ansätzen. Schließlich erfuhr der sozialpsychologische Ansatz in der Praxis eine ganze Reihe, auch länderspezifischer Modifizierungen, ohne dass dabei auch nur eines der Kernelemente des Ann-Arbor-Modells aufgegeben wurde.
2.3 Rational-Choice-Ansätze („rationales“ Wahlverhalten) Das individuelle Kosten-Nutzen-Kalkül steht im Zentrum der verschiedenen theoretischen Ansätze rationalen Wahlverhaltens. Nicht die sozialstrukturelle Determiniertheit oder eine starke Parteibindung des einzelnen sind entsprechend der Rational-Choice-Ansätze wahlentscheidend, sondern das rationale Urteil mündiger Bürger. V. O. Key, der Anfang der sechziger Jahre den beiden vorherrschenden Erklärungsansätzen für Wahlverhalten eine Herabsetzung menschlicher Rationalität vorwirft, bringt diese Sichtweise in der Einleitung zu seinem Buch The Responsible Electorate pointiert zum Ausdruck: „The perverse and unorthodox argument of this little book is that voters are not fools.“ (Key 1966: 7). Keys Ansatz zufolge entscheidet sich der einzelne Wähler retrospektiv, indem er beurteilt, ob die Arbeit der in Regierungsverantwortung befindlichen Partei während der letzten Legislaturperiode zusammengenommen gut oder schlecht für ihn selbst und das eigene Land gewesen ist. In dieses Urteil fließt auch die Bewertung weiter zurückliegender Regierungen ein. Ist das Ergebnis der Leistungsbeurteilung der gegenwärtigen Regierung (auch im Vergleich zu ihren
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Vorgängerregierungen) positiv, erfolgt eine Wiederwahl. Fällt das Urteil negativ aus, wird die Regierung abgewählt (Key 1966: 61). Die Wahlentscheidung des rationalen Wählers orientiert sich am perzipierten und antizipierten Ergebnis der Politik bestimmter Parteien oder Kandidaten. Während in Keys Modell nur die Summe aller Leistungen der Regierung wahlentscheidend ist, differenzieren die folgenden Modelle nach einzelnen Politikfeldern (Fiorina 1981: 12 f.). Insofern lassen sich letztere als spezifische Weiterentwicklungen eines Astes des sozialpsychologischen Ansatzes verstehen: der Issueorientierung und der Beurteilung der Problemlösungskompetenz einzelner Parteien und Kandidaten. Die Beschränkung auf das sogenannte issue voting fällt in den einzelnen Modellen rationalen Wahlverhaltens allerdings unterschiedlich eng aus. Der Klassiker unter den Rational-Choice-Ansätzen, nicht nur für die Wahlforschung, ist Anthony Downs’ ökonomische Theorie der Demokratie (1957). In seinem Portrait des homo oeconomicus rückt er als erster und wohl am konsequentesten von den Erklärungsansätzen der Columbia und der Michigan School ab. Der rationale Wähler nach Downs (1968: 26) verfolgt nur seine eigenen Interessen bzw. ordnet andere Interessen im Zweifelsfall immer seinen Interessen unter. Dies ist das sogenannte Eigennutz-Axiom. Zwar meint Downs, dass es nicht nur Egoisten gibt, „nicht einmal in der Politik“, aber er kommt zu dem Schluss, dass diese „heroischen Gestalten“ zahlenmäßig vernachlässigt werden können (ebd.: 27). Menschen handeln egoistisch, indem sie vor allem ihr materielles Wohlergehen maximieren, also ihr Einkommen oder ihr Vermögen. Auf Wahlverhalten bezogen heißt das: der rationale Wähler wählt die Partei, die für ihn den größten Nutzen verspricht. Er ist nicht vornehmlich am politischen Konzept einer Partei interessiert, sondern am größtmöglichen Vorteil, den er von der Regierung dieser Partei im Vergleich zu anderen Parteien hat. Um diesen Vorteil, den Downs „Nutzeneinkommen“ nennt, abwägen oder genauer berechnen zu können, braucht der Wähler Informationen über das Handeln der Parteien in der Vergangenheit und über ihr mögliches Verhalten in der Zukunft. Eigentlich benötigt er sogar vollständige Informationen. Das ist das eigentliche Problem in der Downsschen Theorie. Mit vollständigen Informationen sind die Entscheidungsalternativen einfach zu formulieren: Man wählt die Partei, von deren Machtausübung man den größten Nutzen hat, oder man wählt nicht, wenn der Nutzen bei den vorhandenen Alternativen gleich wäre. In der Realität werden aber in der Regel vollständige Informationen nicht vorliegen oder nur mit großem ökonomischem Aufwand zu beschaffen sein. Deshalb muss der Wähler normalerweise unter „Ungewissheit“ entscheiden. Es gibt für ihn jedoch verschiedene Möglichkeiten, diese Ungewissheit zu begrenzen. Eine Möglichkeit besteht darin, eine Informationsbeschaffung über die für
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ihn wichtigen Problemfelder unter Wahrung rationalen Verhaltens vorzunehmen, d. h. die dabei auftretenden Kosten dürfen den möglichen Nutzen der zusätzlichen Information nicht übersteigen. Um dies zu erreichen, versucht der Wähler einen Großteil der Kosten des Sammelns, der Auswahl, der Übermittlung, der Analyse und der Bewertung auf andere abzuwälzen. Er bedient sich dabei der Medien, der Interessengruppen und sogar der Parteien selbst, um dann zu entscheiden. Stellt er allerdings eine große Übereinstimmung seiner Ziele mit den Zielen einer Gruppe oder einer Schicht fest, also eine ideologische Gebundenheit, so kann er ohne weitere Prüfung die Vertretung seiner Interessen der Partei übertragen, die für diese Gruppe spricht. Das ist die zweite Möglichkeit, Ungewissheit rational zu begrenzen. Dabei kommt Downs den Begründungen von Lipset und Rokkan ziemlich nahe. Nach Downs ist es für den einfachen Wähler irrational, politisch gut informiert zu sein, denn die daraus resultierenden Erträge rechtfertigen nicht, was sie an knappen Mitteln kosten, zum Beispiel Zeit. Deshalb machen sich viele Wähler nicht die Mühe, ihre „wahren Ansichten“ überhaupt festzustellen, um sich dann ihren Interessen gemäß zu entscheiden. Sie akzeptieren eine Arbeitsteilung in der Gesellschaft und folgen den politischen Spezialisten oder aber sie wählen überhaupt nicht. So handelt der rationale Wähler, wenn er keinen Ertrag aus seiner Wahl erkennen kann, also keine Partei gegenüber einer anderen bevorzugen kann und auch keinen langfristigen Partizipationswert sieht. Die Einführung des langfristigen Partizipationswertes in die Theorie, den Downs mit der grundsätzlich positiv zu bewertenden Regierungsform der Demokratie begründet, hilft, die Angriffe auf das Modell zu mildern. Die hohen Wahlbeteiligungsraten in der Bundesrepublik bei gleichzeitig geringem Informationsstand der Wähler, zum Beispiel in den siebziger Jahren, während derer die Theorie hauptsächlich diskutiert wurde, konnten jedoch nicht erklärt werden. Der Wahlbeteiligungsrückgang in den achtziger und neunziger Jahren und die verschiedenen Protestwahlphasen in Deutschland zu dieser Zeit finden schon eher eine Erklärung mit Hilfe der Downsschen Theorie. Franz Urban Pappi (1990: 38-40) hat den rationalen Protestwähler beschrieben, der eine kleine radikale Partei wählt, die kaum eine Machtchance hat, aber sehr wohl die großen Parteien zur Veränderung ihrer Politik zwingt, um ein Anwachsen der Extreme zu verhindern. Somit hat der Protestwähler, der in der Regel eher den Volksparteien nahe steht, durch sein abweichendes Handeln sein Ziel einer neuen Politik „seiner Partei“ erreicht. Sein Handeln war also rational. In abgeschwächter Form gilt dies auch für Wahlabstinenz als Ausdruck des Protestes gegenüber dem Handeln der Parteien (ausführlicher: Roth/Wüst 2007). In Morris P. Fiorinas (1981) Weiterentwicklung der Ansätze Keys und Downs’ zum Modell retrospektiver Wahlentscheidung wird deutlich, dass sich
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Theorien rationalen Wahlverhaltens besonders gut in Kombination mit dem sozialpsychologischen Ansatz zur Erklärung von Wahlverhalten eignen. Fiorinas Ansatz berücksichtigt nämlich nicht nur retrospektives und prospektives Wählen (Key bzw. Downs), sondern auch das Herzstück des Ann-Arbor-Modells, das Konstrukt der Parteiidentifikation. Letztere wird allerdings als ein stark von retrospektiven Einflüssen abhängiges Element konzipiert, das durch neue politische Erfahrungen der Veränderung unterliegt. Deshalb unterscheidet Fiorina nicht nur bei den Rational-Choice-Komponenten zwischen Vergangenheit und Zukunft, sondern splittert die PI in eine zurückliegende und eine gegenwärtige PI auf (vgl. Abbildung 2.5). Das Modell versteht sich allerdings hauptsächlich als Weiterentwicklung des Keyschen und des Downsschen Modells, deren Kernelemente die traditionell-retrospektive und die prospektive Wahlentscheidung sind (Fiorina 1981: 12-15). Abbildung 2.5: Fiorinas Modell der retrospektiven Wahlentscheidung Retrospektive Beurteilungen
Zukünftige Erwartungen Gegenwärtige PI
Zurückliegende PI
Quelle: Fiorina (1981).
Dem grundsätzlichen Zweifel am Downsschen Modell, dass nämlich Marktverhalten ohne weiteres auf politisches Verhalten übertragen werden kann, haben Geoffrey Brennan und Loren Lomasky (1993) in ihrer Theorie des expressiven Wahlverhaltens Rechnung getragen. Die einzelne Wählerstimme sei nur in Einzelfällen wirklich entscheidend, ansonsten weder für das Ergebnis von Relevanz, noch für das Individuum selbst von direktem Nutzen (Brennan/Lomasky 1993: 19 f.). Gerade deshalb ließen sich hohe Wahlbeteiligungen schlecht in Einklang mit dem Downsschen Modell des rationalen Wählers bringen. Die Entscheidung zu wählen kann man nach Brennan und Lomasky auch als Ausdruck eines tieferen Interesses, am Wahlakt selbst teilzunehmen („intrinsisch“), verstehen. Zu einem nicht zu unterschätzenden Anteil ist die individuelle Wahlentscheidung demnach expressiv und nicht instrumentell motiviert (ebd.: 32 f.). Beispielhaft lässt sich das Wählen mit dem Anfeuern eines Sportlers oder einer Mannschaft
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durch ihre Anhänger vergleichen, obwohl ein Zusammenhang zwischen diesem Anfeuern und dem sportlichen Erfolg nicht notwendigerweise besteht. Auch die zentralen Elemente rationalen Wahlverhaltens lassen sich bei der Bundestagswahl 2005 demonstrieren. Bei der Analyse der Issueorientierung hatte sich gezeigt, dass die hohe Arbeitslosigkeit bei dieser Wahl das mit Abstand wichtigste Problem war, dessen Lösung die Wähler eher einer CDU/CSUgeführten Regierung zutrauten. Andererseits verlor dieses Problem durch überlagernde aktuelle Probleme ähnlich wie 2002 an Brisanz. Hierzu dürfte auch das individuelle Kalkül der Wähler hinsichtlich dieses Problemfeldes beigetragen haben. Dadurch rückt der „rationale Wähler“ ins Zentrum der Erklärung: 48% der Bundesbürger bezeichneten in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen vor der Wahl ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut, nur 12% als schlecht. 74 % der Berufstätigen im Westen und 57% im Osten gaben ferner an, dass sie ihren Arbeitsplatz als gesichert erachten. Aus welchem ökonomisch-rationalen Motiv heraus hätten diese, in der Mehrheit zufriedenen Wähler ein Interesse an der Abwahl der bisherigen Regierung haben sollen? Der Rational-Choice-Ansatz hilft uns aber auch, das spezifische Wahlverhalten in den neuen Bundesländern zu verstehen. Bei zwei Ergebnissen der Bundestagswahl 2005 weichen der Osten und der Westen besonders stark voneinander ab: beim Wahlverhalten der Arbeiter und der Unterstützung der Linke.PDS. Während die Arbeiter im Westen mehr oder weniger dem gewohnten sozialstrukturellen Muster folgten (SPD stärkste Partei, bei einem Verlust von 5 Prozentpunkten), verlor die SPD im Osten 11 Prozentpunkte und ist damit bei den Arbeitern gleich stark wie die Linke/PDS, die sich um 14 Prozentpunkte auf 29% verbesserte. Dieses Ergebnis kann nur als das Produkt rationalen Wahlverhaltens gedeutet werden, wie es bereits bei der ersten freien Wahl in der DDR im März 1990 der Fall war: die Arbeiter, die unter dem SED-Regime ökonomisch besonders enttäuscht worden waren, wählten nun diejenige Partei, die am klarsten eine Systemalternative zur SED verkörperte und aus ihrer Sicht am ehesten der Garant für wirtschaftliche Prosperität war, in diesem Fall die CDU (vgl. Roth 1990a). Jetzt sehen sie in der SPD, der sie sich in der Zwischenzeit mehrheitlich genähert hatten (2002: 40 %, was eine Art „strukturelle Normalisierung“ war), nicht mehr ihre Interessen vertreten und wählen die neue Linke. Dies war ein Protestwahlverhalten auf der linken Seite des politischen Spektrums, das auf der rechten Seite in den neunziger Jahren wohl bekannt war (der ‚rationale Protestwähler’ im Sinne Pappis, siehe oben).
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Zur Überprüfung von Theorien brauchen wir möglichst sauber erhobene Daten. Dies zu erreichen bedarf es eines nicht endenden Bemühens, die besten Verfahren zu finden, die zum einen die Heterogenität der Wahlberechtigten widerspiegeln (Stichprobenverfahren), es dann ermöglichen, die Wahlberechtigten erfolgreich zu kontaktieren (Erhebungsverfahren) und schließlich von den Befragten möglichst „wahre“ Informationen über ihre Verhaltensabsichten, Meinungen, Einstellungen und vieles mehr zu erhalten (Fragen und Fragebogen). Große Entwicklungsschritte gab es in der Wahlforschung immer dann, wenn neue Instrumente zur Erhebung von Daten und neue Methoden der Analyse entdeckt wurden. Die Qualität von Analysen aufgrund zwingend erscheinender theoretischer Erklärungsansätze steht und fällt mit der Qualität der Daten. Die vielen damit verbundenen Probleme werden in diesem Kapitel behandelt.
3.1 Stichproben Im wirklichen Leben stellt sich oft die Frage, wie man ein umfassendes Bild der verschiedenen Elemente einer Gesamtheit bekommen kann, ohne alle Einzelmerkmale sichten oder zählen zu müssen. Dieses Problem mussten auch die Kaufleute der mittelalterlichen Hansestädte lösen, wenn dort Schiffe mit Ladungen aus fremden Ländern anlegten. Deshalb entnahm man zum Beispiel einer Kaffeeladung eine Probe zur Feststellung der Qualität, indem man zufällig einen Teil der Kaffeesäcke mit einer Art zugespitztem langen Löffel anstach. Diese „Stichproben“ wurden nebeneinander gelegt. Sie waren, wenn sie zufällig und in ausreichend hoher Zahl entnommen worden waren, ein verkleinertes Abbild der gesamten Ladung, und man konnte jetzt über den Preis verhandeln. Verkäufer und Käufer haben sich unter ökonomischen Aspekten, nämlich Zeit und Machbarkeit, auf ein Verfahren geeinigt, das über das zu bestimmende Gut hohe Transparenz bei relativ geringen Kosten bot. Eine vorbildliche Vorgehensweise, die man auch in den Sozialwissenschaften anwendet. Ein vielzitiertes Beispiel für den Durchbruch von Stichproben bei Befragungen im Vorfeld von Präsidentschaftswahlen in den USA ist die Auswahl von D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Wählern nach dem Quotenverfahren durch George Gallup im Jahre 1936. Diese Quotenstichprobe von nur 1.500 Befragten wurde berühmt, weil zum gleichen Zeitpunkt der „Literary Digest“ eine Probeabstimmung unter rund 10 Millionen Amerikanern versuchte, von denen sich immerhin 2,4 Millionen beteiligten. Während bei dieser simulierten Abstimmung der Republikaner Landon mit großem Vorsprung als Sieger hervorging, gewann tatsächlich der Demokrat Roosevelt die Wahl, wie es von Gallup aufgrund seiner kleinen Stichprobe richtig prognostiziert worden war. Sein Institut hatte sich von diesem Zeitpunkt an etabliert. Der „Literary Digest“ ist ein Jahr danach von der Bildfläche verschwunden (Converse 1987: 121). In Gallups Stichprobe waren die Wähler nach mehreren Kriterien, wie Region, Alter, Geschlecht und sozialem Status, so vertreten, wie dies auch insgesamt in der amerikanischen Wählerschaft der Fall war. Die Stichprobe war also ein gutes Abbild der Gesamtheit der Wähler. Dagegen hatte der „Literary Digest“ viele Amerikaner mit höherem sozialen Status angeschrieben, weil das seine Leser waren, also zum Beispiel Telefon- und Autobesitzer. Zwischen Auswahlgesamtheit (Leser) und angestrebter Grundgesamtheit (Wahlberechtigte) bestand bereits ein erheblicher Unterschied, und da hauptsächlich politisch Interessierte geantwortet hatten, war die Auswahl, obwohl mehr als tausendmal größer als diejenige Gallups, total schief. Das Beispiel lehrt uns, dass es nicht auf die Anzahl der Informationen ankommt, die gesammelt werden, sondern auf deren repräsentative Verteilung, die durch eine Stichprobe erreicht werden kann. Diese Stichprobe muss allerdings nach den Regeln der Kunst erhoben und erfüllt werden, was der Inhalt des ersten Teils dieses Kapitels ist. 1936 war aber nicht das einzige Mal, dass Gallup die Diskussion um Stichproben befruchtete. Zwölf Jahre später leistete er sich eine vielbeachtete Fehlprognose im Rennen Dewey gegen Truman bei einem zugegebenermaßen knappen Wahlausgang. Nicht Dewey siegte, wie von Gallup vorausgesagt wurde und wie es die gutgläubigen Tageszeitungen am nächsten Tag meldeten, sondern Truman wurde als Präsident wiedergewählt. Dieses Ereignis führte zu der Erkenntnis, dass die Genauigkeit des verkleinerten Abbilds erhöht werden musste oder man zumindest Berechnungskriterien für die Fehlerabweichungen von Stichproben brauchte, was schließlich zur Infragestellung von Quotenstichproben führte und zu einer bis heute nicht völlig abgeschlossenen Diskussion, welche Stichprobenverfahren optimal für die Feststellung von Parteianteilen sind.
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Im Folgenden werden nicht Stichproben allgemein, sondern nur die für die Wahlforschung relevanten Stichprobenverfahren behandelt.15 Stichproben werden in der Wahlforschung für die Erhebung von Individualdaten und von Aggregatdaten gebraucht. Bei den Individualdaten handelt es sich um Erhebungen von Informationen über Einzelpersonen vor den Wahlen, am Wahltag selber oder auch nach den Wahlen. Diese können prinzipiell „face to face“, also in einem persönlichen Kontakt von Interviewer und Interviewtem (von Angesicht zu Angesicht) erfasst werden, oder aber per Telefon. Welches Verfahren man wählt, wird in der Regel unter zeitökonomischen und methodischen Aspekten entschieden. Schriftliche Befragungen scheiden für die Wahlforschung unter den genannten Aspekten in der Regel aus. Aggregatdaten werden zur Erstellung von Hochrechnungen sowie für die sogenannte repräsentative Wahlstatistik gebraucht. Für beide Zielsetzungen gilt wieder, dass sie unter strengen Zeit- und ökonomischen Ersparnisanforderungen stehen, die nur unter Nutzung von Stichproben erfüllt werden können. Die Hochrechnung versucht, aufgrund einer kleinen Zahl ausgewählter Stimm- oder Wahlbezirksergebnisse (den kleinsten Auszählungseinheiten) das Endergebnis vorauszuschätzen. Die repräsentative Wahlstatistik gibt Auskunft über Wahlbeteiligung und Stimmverhalten in fünf Alters- und den beiden Geschlechtsgruppen (vgl. S. 81 ff.). Nur unter Verwendung von Stichproben können die jeweiligen Ziele erreicht werden. Neben den spezifischen Anforderungen an Stichproben müssen alle zunächst einmal gewisse Voraussetzungen erfüllen, um die wichtigste aller Forderungen, die Repräsentativität16, zu erreichen. So ist eine Stichprobe nur dann repräsentativ, wenn in ihr die Heterogenität der Elemente der Grundgesamtheit wiederkehrt, und zwar in genau demselben Verhältnis, wie sie dort vertreten sind. Die Stichprobe muss das verkleinerte Abbild der Gesamtheit sein. Dies bedingt, dass der Aufbau der Grundgesamtheit und die Struktur ihrer Elemente bekannt sind und darüber hinaus ein Verfahren zur Verfügung steht, das sicherstellt, dass jedes Element der Grundgesamtheit eine angebbare, von Null verschiedene Chance hat, ausgewählt zu werden.17 Das ist nur über die Zufallsauswahl möglich („equal probability of selection method“; Kish 1965: 21). Das 15 Zur Stichprobentheorie und Anwendung siehe u. a. Schnell/Hill/Esser (1995: 251-295); Friedrichs (1985: 123-147); Gabler/Hoffmeyer-Zlotnik (1997). 16 Der Begriff „Repräsentativität“ wird auch oft zur Darstellung anderer Sachverhalte verwendet (vgl. Schnell et al. 1995: 286). Repräsentativität wird in diesem Buch jedoch wie im Text erläutert verstanden. 17 Im günstigsten Fall hat jedes Element der Grundgesamtheit dieselbe Chance, ausgewählt zu werden.
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
praktische Vorgehen bei der Stichprobenauswahl wird von diesen Voraussetzungen bestimmt. 3.1.1 Die Grundgesamtheit Die Zielsetzung sei eine repräsentative Befragung der Wahlberechtigten vor der Wahl. Die Grundgesamtheit ist damit vermeintlich exakt bestimmt: die Wahlberechtigten zu einem bestimmten Zeitpunkt, also zum Beispiel zum Befragungszeitpunkt, oder aber die Wahlberechtigten zum Zeitpunkt der Wahl. Bereits diese Differenzierung zeigt die praktischen Probleme bei der Festlegung der Grenzen der Grundgesamtheit auf. Die Wahlberechtigten zum Zeitpunkt der Befragung wären alle über 18jährigen Deutschen im Wahlgebiet ebenso wie die sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Wahlgebiet befindenden, aber wahlberechtigten Bürger; praktisch gesprochen: alle, die kurzfristig im Ausland sind, im Urlaub oder beruflich oder längerfristig dort sind, wie zum Beispiel Botschaftsangehörige oder Soldaten. Wenn also ein bestimmter Teil der Grundgesamtheit nicht mehr mit den vorgesehenen Mitteln der Befragung erreichbar ist, muss entschieden werden, ob die Untersuchung überhaupt durchgeführt werden kann, also zum Beispiel während der Hauptferienzeiten, oder aber die Aussagen wegen mangelnder Repräsentation stark eingeschränkt werden müssen. Die Probleme der Definition der Wahlberechtigten für den Zeitpunkt der Wahl sind andere: Wer wird zum Zeitpunkt der Befragung bis zum Zeitpunkt der Wahl noch wahlberechtigt qua Alter oder Zuzug, und wer fällt aus dem Kreis der Wahlberechtigten durch Wegzug oder Tod heraus? Diese Probleme sind rein quantitativ zu Zeiten besonderer Wanderungsbewegungen, wie zum Beispiel 1989/90 von Ost nach West oder aufgrund von Kriegseinflüssen, keineswegs banal. Bereits die Veränderungen der Grundgesamtheit durch den Lebenszyklus (wer kommt dazu, wer ist nicht mehr dazuzurechnen?) sind quantitativ (steigende Lebenserwartung) und qualitativ (jüngere Wähler zeigen anderes Partizipations- und Abstimmungsverhalten als ältere Wähler) nicht unerheblich. Es ist deshalb von praktischem Nutzen, die Definition der Grundgesamtheit möglichst nicht zu kompliziert zu machen: „The simpler the universe definition, the easier and less costly to find the sample“ (Sudman 1976: 14). Angesichts solcher Definitionsschwierigkeiten sollte man zwischen der angestrebten Grundgesamtheit, der Auswahlgesamtheit und der Inferenzpopulation unterscheiden (Schnell et al. 1995: 257-259). In unserem Beispiel ist die angestrebte Grundgesamtheit die Wahlberechtigten einer bestimmten Wahlebene (also zum Beispiel Wahlberechtigte zur Bundestagswahl, zur Landtagswahl, zur
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Kommunalwahl oder zur Europawahl), über die nach der Befragung Aussagen gemacht werden sollen. Die Auswahlgesamtheit dagegen sind alle Wahlberechtigten, die aufgrund des angewandten Auswahlverfahrens wirklich eine Chance haben, in die Stichprobe zu kommen, also bei einer face-to-face-Befragung zum Beispiel alle Wahlberechtigten, die in der Feldzeit zu Hause erreichbar sind, oder bei einer telefonischen Befragung alle, die in Haushalten mit Telefonanschluß wohnen und in der Feldzeit unter ihrem Anschluss erreichbar sind. Die Inferenzpopulation ist schließlich die Menge der Wahlberechtigten, die bei der Realisierung der Stichprobe tatsächlich erreicht wurden. Es muss nun in der praktischen Arbeit das Ziel sein, die Differenzen zwischen diesen drei Gesamtheiten zu minimieren, d. h. die Ausschöpfungsquote der Stichprobe muss möglichst hoch sein, die Auswahlgrundlage möglichst aktuell und vollständig. Letzteres ist leicht nachzuvollziehen, wenn man sich als nahezu ideale Auswahlgrundlage ein Wahlberechtigtenregister vorstellt, das à jour ist. Tatsächlich wird man jedoch wegen bestehender Datenschutzbestimmungen oder des Umfangs des Registers (zum Beispiel auf Bundesebene) kaum an solche idealen Auswahlgrundlagen herankommen. Bereits das Registrieren von Wahlberechtigten in einem in seinen Grenzen bekannten Wahlbezirk durch Ablaufen und Aufschreiben von Namen und Adressen (wie man es bei geschichteten Zufallsstichproben verwendet) ist mit großen Schwierigkeiten verbunden, und die so erhobenen Auswahldaten altern schnell. In der Regel wird man deshalb mit fehlerhaften Gesamtheiten rechnen müssen, also mit Auswahlgesamtheiten, die eine „undercoverage“ oder auch eine „overcoverage“ haben. „Undercoverage“ bedeutet, dass Elemente in der genutzten Gesamtheit fehlen, diese also keine Chance haben, in die Auswahl zu gelangen. Als „overcoverage“ bezeichnet man den Umstand, dass Elemente in der Gesamtheit enthalten sind, die nicht das Auswahlkriterium erfüllen, oder aber doppelt oder sogar mehrfach enthalten sind, was ihre Chance, in die Auswahl zu kommen, erhöht. Grundgesamtheiten zu definieren ist also ein Optimierungsproblem, kein Maximierungsproblem. Aber die Qualität der Stichprobe wächst mit der Annäherung an die vollständige bzw. zweifelsfrei erreichbare Gesamtheit. Dabei sind so banale Dinge wie jahreszeitlich bedingte An- oder Abwesenheit der zu befragenden Person zu beachten oder auch noch viel differenzierter die – oft statusabhängige – unterschiedliche Erreichbarkeit von Menschen unterschiedlicher Mobilität an den verschiedenen Wochentagen. Praktisch führt dies zu bestimmten Mindestfeldzeiten oder – negativ ausgedrückt – zu Vorbehalten gegenüber sogenannten Blitzbefragungen, in denen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse innerhalb von Stunden danach gemessen werden sollen, obwohl möglicherweise nur Teile der definierten Auswahlgesamtheit erreicht werden können.
66 3.1.1.1
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung Die Grundgesamtheit bei exit polls
Viele der angeführten Probleme der Definition der Grundgesamtheit bei Befragungen vor und auch nach der Wahl fallen bei den sogenannten exit polls (Befragung vor Wahllokalen am Wahltag; siehe Kasten auf Seite 82/83) weg. Dafür kommt ein neues Problem hinzu, die fehlenden Briefwähler. Aber zumindest die Grundgesamtheit der Urnenwähler ist klar definiert: Es sind alle, die ihren Stimmzettel in ihrem Wahllokal abgeben. Nicht wahlberechtigte Begleitpersonen (Kinder oder Hilfspersonen) können in der Regel leicht erkannt und ausgeschieden werden. Der Interviewer muss nun nur noch genau seinen Verfahrensregeln folgen, also zum Beispiel während der gesamten Öffnungszeit des Wahllokals in konstanter Schrittweite von einer per Zufall festgelegten Startperson durch Abzählen aus der Gesamtzahl aller zu befragenden bzw. zu kontaktierenden Wähler nacheinander seine Befragungs-, d.h. Zielpersonen auswählen. Dies muss in allen in der Stichprobe enthaltenen Stimmbezirken gleich durchgeführt werden, wobei die Schrittweite mit der Größe des Stimmbezirks variieren kann. Exit polls zeigen eine hohe Präzision bei der Feststellung von Wähleranteilen, die unter anderem auf die zweifelsfreie und leicht erreichbare Grundgesamtheit zurückzuführen ist. Allerdings können exit polls qua definitionem keine Briefwähler enthalten. Auch die repräsentative Wahlstatistik kann sich aus dem gleichen Grund wie der exit poll nur auf die Urnenwähler als Grundgesamtheit stützen. Auf der Bundesebene sind seit der Bundestagswahl 2002 auch Briefwähler enthalten.18 Alle Aussagen aus der repräsentativen Wahlstatistik für Wahlen davor gelten jedoch nur für Urnenwähler. 3.1.1.2
Die Grundgesamtheit bei Telefonbefragungen
Eine Besonderheit der Definition der Grundgesamtheit tritt bei Telefonstichproben auf. Auch bei Telefonumfragen ist es das Ziel, über Wahlberechtigte Aussagen machen zu können. Dies geschieht über eine zweistufige Auswahl: die erste Stufe ist der Haushalt, der telefonisch erreichbar ist, die zweite Stufe die Zielperson im Haushalt. Auf beiden Auswahlstufen wird ein Zufallskriterium für die Auswahl benutzt. Zunächst gibt es bei der Nutzung des Telefonbuchs oder der auf CD gespeicherten Telefonnummern als Grundgesamtheit Probleme des un18 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Wahl zum 15. Bundestag am 22. September 2002, Heft 4, Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach dem Alter, Anhang S. 96, „Aufgrund des 1. Gesetzes zur Änderung des WstatG sind für die Bundestagswahl 2002 erstmals auch ausgewählte Briefwahlbezirke in die repräsentative Wahlstatistik einbezogen worden.“
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der- und des overcoverage. 95% Telefondichte gelten gemeinhin als „Vollversorgung“, ein Wert, der etwa 1990 in Westdeutschland erreicht wurde und seit Anfang des 21ten Jahrhunderts auch in Ostdeutschland. Durch die Sozialtarife der Bundespost wurde das Argument der schichtspezifischen Verteilung von Telefonen in Haushalten weitgehend hinfällig (Schulte 1997: 155). Ab 95% Telefondichte gilt das Telefonbuch als keine schlechtere Grundlage zur Rekrutierung einer Stichprobe als die Informationen von Einwohnerbehörden (Frey 1990: 36). Allerdings ist das Telefonbuch von Geschäftsanschlüssen und Mehrfacheintragungen zu bereinigen. Problematischer waren zu Beginn der 90er Jahre fehlende Telefonanschlüsse in Ostdeutschland, die zum Teil auch noch regional ungleich verteilt waren. Regionale Ungleichheiten in der Telefonausstattung können durch disproportionale Auswahl gelöst werden, sofern die Struktur der Unterdeckung bekannt ist. Dagegen sind Unterschiede im sozialen Status zwischen Haushalten mit und ohne Telefonanschluß, die in den Jahren unmittelbar nach der deutschen Einheit offensichtlich waren, kaum auszugleichen, bestenfalls durch Adjustierungen der Befragungsergebnisse, d.h. Angleichung an die Sollzahlen. Um überhaupt Korrekturen anbringen zu können, sind immer hochaktuelle Daten notwendig, die bei ständigen Veränderungen oder möglichen ungleichen Zuwächsen nur schwer erhältlich sind. Andererseits treten bei der Modernisierung des Telefonnetzes durch ISDN-Anschlüsse overcoverage-Effekte auf, zum Beispiel Mehrfachanschlüsse der Haushalte, die die Wahrscheinlichkeit von deren Auswahl erhöhen. Ein weiteres Problem besteht in der ansteigenden exklusiven Nutzung von Mobilfunktelefonen (Handys) als Ersatz für das übliche Festnetztelefon. Im Jahre 2003 waren dies etwa 5,5 % aller Haushalte in Deutschland (Häder/Glemser 2006, S. 164). Im Osten deutlich mehr als im Westen. Ob diese Entwicklung, die sich bis 2006 leicht verstärkt hat, bereits als kritisch für die Ziehung von Telefonstichproben zu betrachten ist, wird kontrovers diskutiert (Glemser 2007 S. 10ff.). In (telefon-)strukturschwachen Ländern spielen Mobilfunktelefone eine so große Rolle, dass das Handy-Verzeichnis in die Auswahlgesamtheit einbezogen werden sollte, anschließend jedoch die Stichprobe vom overcoverage wieder befreit werden muss (z.B. in Norwegen). Darüber hinaus führt die Erleichterung des Nichteintrags in das Telefonbuch (seit 1992 ist der Eintrag neuer Anschlüsse frei wählbar) durch die Existenz sogenannter „Geheimnummern“ zu einer fehlerhaften Auswahlgesamtheit (undercoverage) von nicht unerheblichem Ausmaß. In der zweiten Jahreshälfte 1997 waren in Deutschland im Westen ca. 15 % und im Osten ca. 30 % der Telefonhaushalte nicht in die Telefonverzeichnisse eingetragen. Inzwischen dürfte der Anteil insgesamt bei 25% liegen (Häder/Glemser 2006, S. 150). Diesem Problem wird in der Umfragepraxis durch Schlussziffernverfahren begegnet, bei
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denen die letzte oder die letzten beiden Stellen der Telefonnummern entweder ausgetauscht (RLD = randomize last digit) oder verändert (z.B. Addition einer Zahl = add a digit) werden. Unter der derzeit noch gültigen Prämisse, dass sich die Grundstruktur eingetragener und nicht eingetragener Nummern nicht systematisch unterscheidet, erhält man durch dieses Verfahren eine neue Stichprobe, deren Struktur zwar mit derjenigen der alten, sogenannten Mutterstichprobe19 identisch ist, die jedoch auch die nicht eingetragenen Nummern gemäß ihrem tatsächlichen Anteil enthält. Zwar handelt man sich durch diese Vorgehensweise neue Firmenanschlüsse oder nicht vergebene Nummern ein, doch sind dies neutrale Ausfälle, welche die Qualität der Stichprobe nicht beeinträchtigen (vgl. Jung 1990: 392). 3.1.2 Auswahlverfahren In der Wahlforschung kann man nur Auswahlverfahren einsetzen, die sicherstellen, dass alle Elemente eine bekannte Chance haben, die größer als Null ist, in die Auswahl zu gelangen. Wir müssen also Zufallsverfahren wählen. Dabei ist Zufall nicht gleichbedeutend mit Willkür. Willkür ist planloses Vorgehen wie zum Beispiel die Auswahl von Zielpersonen in einer Fußgängerzone, um eine Meinung zu einem aktuellen Problem oder sogar etwas über deren mögliches Wahlverhalten zu erfahren. Bei einer solchen Vorgehensweise ist weder die Grundgesamtheit definiert, noch kann die Chance angegeben werden, die jeder hat, in die Auswahl zu gelangen. Solche Verfahren sind zur Illustration eines Themas durch einen Fernsehreport vielleicht zu vertreten, nicht aber zur Sammlung wissenschaftlich verwertbarer Daten. 3.1.2.1
Quotenstichprobe
Ein weiteres Verfahren, das zwar nicht planlos ist und deshalb auch nicht willkürlich, aber unseren Anforderungen nicht genügt, ist die bewusste Auswahl, deren bekannteste Form die Quotenstichprobe ist. Die bewusste Auswahl von Zielpersonen wird zwar in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Psychologie, sinnvoll eingesetzt (Friedrichs 1985: 133), aber für die Wahlforschung sind Quotenverfahren nicht geeignet, da sie keinen statistisch gesicherten
19
„Mutterstichprobe“ deshalb, weil diese Stichprobe die Grundlage für weitere (Tochter-)Stichproben ist, die durch die wiederholte Anwendung von Schlussziffernverfahren aus der Mutterstichprobe generiert werden können.
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Schluss auf die Grundgesamtheit zulassen und auch die Fehlerbereiche der Stichprobe nicht exakt berechenbar sind. Bei der Quotenstichprobe zäumt man sozusagen das Pferd von hinten auf. Man versucht, die repräsentative Zusammensetzung der Stichprobe dadurch zu sichern, dass man durch die Ausgabe von Quoten für die Interviewer nur Personen befragt, die insgesamt die Verhältnisse in der Gesamtheit widerspiegeln. Voraussetzung ist die Kenntnis der Zusammensetzung der Grundgesamtheit aus anderen Untersuchungen, zum Beispiel aus den Zensusdaten. Auf dieser Grundlage setzt man dann die Quoten fest. Die Quotenanweisung von Allensbach arbeitet zum Beispiel mit zum Teil kombinierten Quotenmerkmalen: Region/Gemeindegröße, Alter/Geschlecht und Berufsstatus/Berufstätigkeit. Als Beispiel einer Quotenvorgabe: Zwei von fünf Interviews am Wohnort sollen mit männlichen Zielpersonen durchgeführt werden, drei mit weiblichen. Bei den männlichen Zielpersonen soll einer zwischen 30 und 44 Jahren und einer über 60 Jahre sein. Es sollen Berufstätige sein, davon ein Selbständiger oder auch ein mithelfender Angehöriger, ein zweiter Angestellter oder Beamter, aber es kann auch ein Soldat sein. Bei den weiblichen Befragten soll eine unter 30 Jahren sein, eine zwischen 45 und 59 Jahren und eine über 60 Jahre. Eine zu Befragende soll berufstätig sein, als Arbeiterin und zwei nicht berufstätig oder arbeitslos, davon eine früher als Angestellte oder Beamtin und eine soll selbständig gearbeitet haben (vgl. Noelle-Neumann 1996: 257).
Alle anderen nicht durch die Quote gesteuerten Merkmale fallen nach NoelleNeumann (1996: 256) mehr oder weniger automatisch an, allerdings nur, wenn „die Interviewer bei ihrem Bemühen, die aufgegebenen Quoten zu erfüllen, praktisch zu einer Zufallsauswahl von Befragten veranlasst werden“. Damit ist eine Hauptschwachstelle neben den stichprobentheoretischen Einwänden offengelegt. Man ist weitgehend von der „korrekten“ Vorgehensweise des Interviewers abhängig oder anders ausgedrückt, der Einfluss des Interviewers ist groß und weitgehend unkontrollierbar. Da dem Interviewer ein Stückpreis (pro erfolgreich durchgeführtem Interview) bezahlt wird und man ökonomisches Vorgehen der Interviewer unterstellen darf, sind Fälschungen Tür und Tor geöffnet (vgl. Diekmann 1995: 343 ff.). Die Quotenstichprobe ist in der kommerziellen Meinungsforschung eine noch immer recht häufig zu findende Auswahl, weil sie in der Regel deutlich billiger ist als die reine Zufallsauswahl. Noelle-Neumann behauptet, das Quotenverfahren sei bei der Ermittlung von Parteistärken dem Zufallsverfahren überle-
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
gen.20 Doch gibt es in der empirischen Wahlforschung – deren Anspruch allerdings über die Messung von Parteistärken hinausgeht – seit vielen Jahren keine Primärdatenerhebungen mehr, die Quotenstichproben verwenden.21 Exkurs: Schneeballverfahren Ein weiteres bewusstes Auswahlverfahren, das man oft zum Erreichen seltener oder kleiner Populationen anwendet, ist das Schneeballverfahren, bei dem man von einer Person der gesuchten Gruppe ausgeht und von dieser Person weitere Zielpersonen benennen lässt. Dieses Verfahren ist einfach und billig, genügt aber nicht den Anforderungen der Zufallsauswahl. Die Frage ist, ob sich dieses Verfahren mit einer Zufallsauswahl kombinieren lässt. Das Problem sei zum Beispiel, dass man im Zusammenhang mit der Herabsetzung des Wahlalters nur 16- und 17jährige befragen will. Diese Gruppe aus der Bevölkerung mit Hilfe eines screening-Verfahrens22 aus einer großen Zufallsstichprobe herauszufiltern ist kosten- und zeitaufwendig. Denkbar wäre mit einer etwas kleineren Stichprobe – aber eben einer echten Zufallsstichprobe – zu beginnen und dann nach dem Schneeballverfahren weitere Personen als Zielpersonen zu rekrutieren, die in einer klar definierten Beziehung zur Befragungsperson stehen, also zum Beispiel Mitschüler gleichen Alters, gleichen sozialen Status oder mit gleichen Interessen. Das Ziel wäre eine Vervielfachung der Zufallsstichprobe zu erreichen, ohne das aufwendige screening-Verfahren einsetzten zu müssen, aber mit den gleichen screening-Merkmalen zu arbeiten. Dabei gibt es sicherlich einige praktische Probleme und auch Datenschutzprobleme, denn die Adressen oder Telefonnummern der Zielpersonen müssen ja erfasst werden. Die Frage ist auch, inwieweit noch statistische Fehlerrechnungen angestellt werden können, wenn die reine Zufallsstichprobe verlassen wird. Darüber hinaus bleibt die Frage, inwieweit sich die Ergebnisse einer solchen Auswahl von einer reinen Zufallsauswahl unterscheiden. Dies wäre empirisch zu überprüfen.
20
Sie belegt dies mit einem Experiment aus dem Jahre 1958 in Schleswig Holstein, bei dem allerdings die zur Beurteilung so notwendigen Angaben wie Fallzahlen oder exakter Zeitraum der Befragung fehlen (Noelle-Neumann 1996: 266). 21 Zur (theoretischen) Kritik an Quotenverfahren s.a. Wendt 1960; Koolwijk 1974; King 1983. 22 Als screening bezeichnet man alle systematischen Vorgehensweisen, aus Stichproben Subpopulationen auszuwählen, in der Regel durch ein Auswahlgespräch vor Beginn der eigentlichen Befragung.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung 3.1.2.2
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Zufallsstichprobe
Nur die Zufallsstichprobe erfüllt die Voraussetzung, dass alle Elemente einer Grundgesamtheit eine gleiche oder aber zumindest eine von Null abweichende und genau angebbare Wahrscheinlichkeit haben, ausgewählt zu werden. Nur bei der Erfüllung dieser Bedingung kann von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit geschlossen werden, aber vor allem auch die Sicherheit angegeben werden, mit welcher der erhobene Merkmalswert in der Stichprobe dem wahren Wert in der Gesamtheit entspricht bzw. wie stark er innerhalb eines angebbaren Fehleroder Vertrauensintervalls schwankt. Das Vertrauensintervall, innerhalb dessen der wirkliche Wert liegt, kann berechnet werden und ist abhängig von der Stichprobengröße, der Häufigkeit des Auftretens des Wertes in der Stichprobe und einem gewählten Sicherheitsniveau oder Sicherheitsgrad. In der Praxis ist auch dies ein Optimierungsproblem. Man kann den Sicherheitsgrad möglichst hoch wählen, dann vergrößert sich das Fehlerintervall, bzw. man muss größere Stichproben ziehen, wenn man den Fehler konstant halten will. Oder aber man möchte die Fehlerbereiche möglichst gering halten, dann muss man mit einem geringeren Sicherheitsniveau auskommen oder aber wiederum die Stichprobengröße erweitern. Wie ist der Zusammenhang genau? Ziel sei die Berechnung des Fehlerintervalls bei einer Stichprobe von 1.000 Personen und deren Präferenz für eine bestimmte Partei, zum Beispiel für die CDU/CSU. Der Stichprobenwert für die Partei sei 0,4 oder 40%. Zunächst muss entschieden werden, mit welchem Sicherheitsgrad die Aussage gemacht werden soll. Dabei kann man zum Beispiel die Angebote aus der (theoretischen) Mathematik nach dem Modell der Normalverteilung von Stichproben mit einer Streuung von einer oder mehreren Standardabweichungen nutzen (vgl. Abbildung auf Seite 73). Das sieht so aus: Es werden theoretisch unendlich viele Stichproben von jeweils 1.000 Personen gezogen und für jede der Stichprobenwert für die CDU ermittelt. Die meisten dieser Werte werden in der Nähe von 0,4 liegen, und alle Messungen zusammen werden eine Normalverteilung um den wahren Wert ergeben. Die Häufigkeit des Auftretens eines Stichprobenwertes kann dann anhand der Streuung der Stichprobenverteilung ermittelt werden, dem sogenannten Standardfehler, d. h. man schließt zunächst vom wahren Wert auf die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Stichprobenwertes und kehrt dann diese Erkenntnis um (Umkehrschluss), um von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit zu schließen.
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Der Standardfehler wird berechnet nach der Formel: p(1 − p) N
,
wobei p der ermittelte Stichprobenwert ist und N die Stichprobengröße. Der Sicherheitsgrad ist der Flächenanteil unter der Gaußschen Normalverteilung, den man nun mit Hilfe einer oder mehrerer Standardabweichungen festlegt, also zum Beispiel entsprechen plus/minus 1,96 Standardabweichungen einem Sicherheitsgrad von 95% und plus/minus 2,58 Standardabweichungen einem Sicherheitsgrad von 99%. Die in der Wahlforschung üblichen Sicherheitsgrade sind 95% und in der Regel sind die Stichprobengrößen auch entsprechend (zwischen 1.000 und 2.000 Befragten). Das Fehlerintervall wird dann wie folgt berechnet: Fehlerintervall = Sicherheitsgrad • Standardfehler Bei 95% gewünschter Wahrscheinlichkeit (= Sicherheitsgrad), dass der wahre Wert innerhalb des Intervalls liegt, und einem Stichprobenwert von 0,4 (40%) gilt für eine Stichprobe von 1.000 Personen: Fehlerintervall = ±1,96 •
0,4 (1 − 0,4) 1000 = ±0,0303641
Das Fehlerintervall beträgt also rund 3 Prozentpunkte nach oben und unten. Der wahre Wert liegt bei dem gemessenen Wert von 40% mit 95% Sicherheit zwischen 37% und 43%. Standardabweichungen und Vertrauensbereiche für gemessene Stichprobenwerte in Abhängigkeit von der Stichprobengröße sind in vielen Statistiklehrbüchern zu finden. Aus der Berechnung des Standardfehlers wird deutlich, dass der Vertrauensbereich umgekehrt proportional zur Wurzel der Stichprobengröße ist, d. h. aber, dass man die Stichprobengröße vervierfachen muss, um das Fehlerintervall zu halbieren. Zur Berechnung von Stichprobengrößen stellt man die Formel einfach um. Um zum Beispiel zu einer „sicheren Aussage“ über den Erfolg einer kleinen Partei zum Überspringen der 5%-Klausel zu kommen oder bei einer großen Partei zum Erreichen der absoluten Mehrheit, setzt man das Fehlerintervall, den Sicherheitsgrad und den erwarteten Stichprobenwert und erhält als einzig nicht definierten Wert die Stichprobengröße.
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Die vorgelegte Fehlerberechnung gilt für eine einfache Zufallsauswahl und berücksichtigt nur den reinen Stichprobenfehler, lässt also alle anderen Fehlermöglichkeiten bei Befragungen, auf die noch eingegangen werden muss, außer acht. Was aber deutlich wird, ist die Tatsache, dass mit der Größe der Stichprobe zufällige Abweichungen immer bedeutungsloser werden und die Wahrscheinlichkeit wächst, dass die Struktur der Gesamtheit erreicht wird. Abbildung 3.1: Die Gaußsche Normalverteilung23 auf dem früheren Zehnmarkschein
23
Modell einer reinen Zufallsverteilung nach Carl Friedrich Gauß. Vgl. zur Normalverteilung und der Gaußschen Formel Kromrey (1998: 273 ff.) sowie Zöfel (1985: 79 ff.).
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Was hält uns aber davon ab, einfach immer mit großen Stichproben zu arbeiten? Wie das Eingangsbeispiel gezeigt hat, geht es in der Praxis immer um die zeitliche und ökonomische Machbarkeit bei Stichproben. Die Größe einer Stichprobe wird vielfach dadurch bestimmt, inwieweit ein Ergebnis zum Untersuchungsgegenstand in einer vorgegebenen, meist kurzen Untersuchungszeit zu vertretbaren Kosten erreicht werden kann. Wenn also eine kleine Partei eine Stichprobengröße von 15.000 bräuchte, um zu einer einigermaßen sicheren Aussage über ihre Chance für einen Erfolg kurz vor einer Wahl zu kommen (5%Hürde), so scheitert dieses Vorhaben in der Regel aus zwei Gründen: Kosten und Zeit. Gerade eine kleine Partei wird kaum imstande sein, die erheblichen Kosten einer solchen Befragung zu übernehmen, und darüber hinaus ist eine solche Untersuchung aus Kapazitätsgründen kaum in einer vertretbaren Zeit durchzuführen und aus methodischen Gründen auch nicht in einer längeren Feldzeit. Sobald nämlich die Feldzeit ausgedehnt wird, verändern sich möglicherweise die Stichprobenwerte durch kurzfristige politische Einflüsse und stellen dann die Berechnungsgrundlage wieder in Frage. Wir müssen uns also andere Verfahren finden, um die Präzision von Befragungen zu erhöhen. Die Definition der Grundgesamtheit ist, wie in Kapitel 3.1.1 dargestellt, bei Umfragen der wahlberechtigten Bevölkerung in einem Bundesland oder in der Bundesrepublik insgesamt nicht ohne Probleme. Für eine offene und gleichzeitig sehr mobile Gesellschaft treten selbst dann Probleme auf, die Forderungen nach der „gleichen Chance“ für jeden einzelnen in die Stichprobe zu gelangen, zu erfüllen, wenn man über eine so dichte Kommunikationsstruktur verfügt wie in Deutschland. Während die Ziehung von Zufallsstichproben bei kleinen, klar definierten Gesamtheiten kein großes Problem ist, „verliert die Theorie der Zufallsstichprobe in der Praxis schnell ihren Glanz“, behauptet Diekmann (1994: 355) in bezug auf allgemeine Bevölkerungsumfragen. Dies scheint mir jedoch eine sehr pessimistische Sicht, wie zu zeigen sein wird. Zunächst muss man Stichproben für face-to-face-Interviews und solche für Telefoninterviews unterscheiden. Stichproben für face-to-face-Befragungen
Versucht man Wahlberechtigte im face-to-face-Interview zu kontaktieren, was bis in die späten achtziger Jahre eine sinnvolle Vorgehensweise war, so sucht man die zu Befragenden möglichst dort, wo die Wahlentscheidungen getroffen werden, in den Stimm- oder Wahlbezirken. Die kleinste Einheit, in denen offizielle Wahlergebnisse anfallen, die zur Qualitätskontrolle von Stichproben benutzt werden können, ist der Stimm- oder Wahlbezirk. Insgesamt gibt es derzeit
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fast 90.000 Stimmbezirke in Deutschland. Von diesen Stimmbezirken sind die genaue regionale Zuordnung, die Stimmbezirksgrenzen, die Zahl der Wahlberechtigten, die Zahl der Wähler, die Zahl der gültigen Stimmen und die Ergebnisse für die einzelnen Parteien aus den letzten Wahlen bekannt. Man verfügt damit über eine Vielzahl wertvoller Schichtungskriterien. Bei Stichproben aus Grundgesamtheiten mit großer Streuung (Bevölkerung oder Wahlberechtigte) kann man durch Schichtung größere Genauigkeit erreichen und durch Klumpung infolge mehrstufiger Auswahl auch Erhebungskosten (Reisekosten) sparen. Strebt man zum Beispiel eine genaue regionale Verteilung der Stichprobe an, dann ordnet oder schichtet man die Grundgesamtheit nach einem regionalen Merkmal. Da aber auch Wahlverhalten interessiert, ordnet man zusätzlich auch nach diesem Merkmal, zum Beispiel nach Anteilen einer Partei oder nach der Kombination von zwei Parteien. Mit der Schichtung erreicht man eine bessere Abbildung der Streuung der Grundgesamtheit in der Stichprobe und damit eine Qualitätsverbesserung. Aus der so geschichteten Gesamtheit der Stimmbezirke (z.B. erstes Kriterium Nord-Süd, zweites Kriterium auf- oder absteigende Parteianteile) zieht man in konstanten Schritten eine (oder mehrere) Flächenstichprobe(n) mit einer bestimmten Anzahl von Stimmbezirken, deren Qualität am Gesamtergebnis und deren Struktur über ein Streuungsmaß gemessen werden kann. Diese sample points sind der Ausgangspunkt der nächsten Stufe des Auswahlverfahrens. Die Kostenersparnis tritt dadurch auf, dass die Interviews nicht mehr im ganzen Land durchgeführt werden müssen, sondern nur noch in den sample points. Die neue Gesamtheit umfasst nun alle Wahlberechtigten in dieser Auswahl von Stimmbezirken. Sie können über offizielle Listen erfasst werden, aus denen man dann eine Zufallsstichprobe zieht. Eine zweite Möglichkeit ist: man erfasst alle Haushalte durch Ablaufen und Notieren der Adressen (address random) und zieht aus diesen gesammelten Daten eine Zufallsstichprobe. Innerhalb des Haushalts wählt man die Befragungsperson nach einem weiteren Zufallskriterium, zum Beispiel dem Schwedenschlüssel oder der last birthday-Methode aus.24 Man kann das letzte Verfahren auch verkürzen, wenn man beim random routeVerfahren keine Adressen mehr aufnimmt, sondern die Zielperson direkt vor Ort nach einem Zufallsverfahren auswählt. Mit jeder Vereinfachung begibt man sich
24
Der Schwedenschlüssel ist eine Kombination von Zufallsziffern. Nachdem der Interviewer die Zahl der im Haushalt wohnenden Zielpersonen ermittelt hat, bekommt er durch den Schwedenschlüssel die zur Haushaltsgröße ausgeloste Zielperson als Zahl vorgegeben, z.B. die zweitälteste Zielperson. Bei der last birthday-Methode wird die (wahlberechtigte) Person im Haushalt ausgewählt, die als letzte Geburtstag hatte.
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jedoch stärker in die kaum kontrollierbare Verantwortung des Interviewers, die vorgegebenen Regeln tatsächlich zu befolgen. Die drei Stufen der Auswahl sind also: 1. 2.
3.
Auswahl der Sample Points durch ein geschichtetes Zufallsverfahren, bei voller Kontrolle durch das erhebende Institut. Auswahl eines Haushalts im Sample Point durch eine Zufallsauswahl aus (1) den offiziellen Haushaltsadressen oder (2) den gesammelten Adressen oder (3) durch random walk direkt. Bereits bei (2) kann das Eigeninteresse der Interviewer die Auswahl verzerren, das bei (3) noch problematischer wird. Auswahl der Zielperson nach einem Zufallskriterium. Auch hier sind Konflikte zwischen Interviewer- und Institutsinteressen programmiert. Der Entscheidungsspielraum für den Interviewer ist relativ groß, die Kontrollmöglichkeiten für das Institut sind begrenzt.
In der Marktforschung werden noch immer große Teile der Interviews face-toface durchgeführt; in der Regel nach einem Stichprobenplan, dem sogenannten ADM-Design. ADM ist die Arbeitsgemeinschaft deutscher Marktforschungsinstitute, die für ihre Mitglieder zu bestimmten Zeiten auf Vorrat Stichproben zieht. Alle größeren Marktforschungsinstitute sind Mitglieder des ADM. Jedes Institut bekommt seine eigenen Sample Points, die das Ergebnis einer Flächenstichprobe sind, wie oben beschrieben. Das ADM-Verfahren wurde von dem Mathematiker Friedrich Wendt entwickelt.25 Qualitätsprobleme gibt es weniger bei der ersten Stufe der Auswahl der Sample Points als bei den weiteren Stufen, die in der Verantwortung der einzelnen Institute bzw. deren Interviewer liegen. „Im Feld fließt Blut“ ist eine alte Institutsweisheit, aber man sollte wissen, wie viel fließt. Ein Ausschöpfungs- und Kostenvergleich verschiedener Stichprobenverfahren für face-to-face-Interviews wurde vom Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) zwischen dem ALLBUS 1992, dem Wohlfahrtssurvey 1993 und dem ALLBUS 1994 vorgenommen (Koch 1997). Bei den drei Studien wurden auf verschiedenen Auswahlstufen unterschiedliche Verfahren eingesetzt. Die Unterschiede bei der zweiten Auswahlstufe sind von besonderem Interesse:
25
Bedauerlicherweise fehlt im heutigen ADM-System die Schichtung der Wahlbezirke nach Parteianteilen. Eine ausführliche Beschreibung des ADM-Vorgehens findet sich bei Hoffmeyer-Zlotnik (1997), zur Kritik siehe auch Diekmann 2001, S. 355ff.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung 1992 1993 1994
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Das standard-random-Verfahren Das klassische random- route-Verfahren Personenadressen aus den Einwohnermelderegistern einer Gemeindestichprobe (die ähnlich wie die sample points gezogen wurde).
Beim standard- random-Verfahren wird den Interviewern die Zahl der zu realisierenden Interviews vorgegeben und ebenso der abzuschreitende Weg von einem Startpunkt aus, allerdings ohne definitives Ende. Beim klassischen randomroute-Verfahren wird dem Interviewer eine feste Zahl von Haushaltsadressen vorgegeben, die alle anzulaufen sind. Die Ausschöpfungsquoten der beiden ALLBUS-Befragungen waren ähnlich hoch bzw. ähnlich niedrig. Die Feldzeiten differierten stark, weil die Vorgabe von Befragungsadressen mit größerer geographischer Streuung zu einer längeren Feldzeit führt. Die Ausschöpfungsquote des ALLBUS 1994 muss allerdings als aussagekräftiger eingestuft werden als die des ALLBUS 1992, weil das Einhalten der Regeln bei vorgegebenen Adressen besser überwacht werden kann. Der Wohlfahrtssurvey hatte eine um rund 10 Prozentpunkte höhere Ausschöpfungsquote als die ALLBUS-Studien. Die Kostenunterschiede der drei Vorgehensweisen sind erheblich. Das standard-random-Verfahren ist am billigsten (100%), die Adressenvorgabe am teuersten (+25%), das klassische random- route-Verfahren liegt dazwischen (+10%). Den heutigen Anforderungen an Umfragen als Ausgangsmaterial der Wahlforschung kann keines der angegebenen Verfahren wirklich genügen. Feldzeiten von mindestens sechs bis maximal 15 Wochen sind dem Untersuchungsgegenstand der Wahlforschung nicht angemessen. Die Ausschöpfungsquoten sind im Verhältnis zur Feldzeit und zur Zahl der realisierten Interviews niedrig. Die Interview-Zeit selbst ist meist zu lang, was insbesondere für die angewandte Wahlforschung nicht ideal und wegen nachlassender Aufmerksamkeit der Befragten bei langen Fragebögen auch problematisch ist. Stichproben für Telefonbefragungen
Wie bei den meisten face-to-face-Stichproben werden bei Telefonstichproben zunächst Haushalte und dann Befragungspersonen zufällig ausgewählt. Anders als beim ADM-Verfahren kann die Haushalts-Telefonstichprobe jedoch dann einstufig gezogen werden, wenn die Gesamtheit der Telefonhaushalte in Telefonbüchern bzw. auf CD gespeichert ist (s. Kap. Grundgesamtheit 3.1.1). Zur Qualitätsverbesserung wird man auch hier die Gesamtheit zum Beispiel nach einem regionalen Merkmal schichten, was allerdings kein banales Problem ist (Schulte 1997: 153). Wichtig ist die Aktualität des Grundmaterials; allerdings
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
wird man auch hier Nutzenerwägungen anstellen. Wenn die gezogene Stichprobe nur als „Mutterstichprobe“ (wie zum Beispiel beim RLD-Verfahren) genutzt wird, man also zunächst nur die Struktur der endgültigen Stichprobe festlegt, ist die Aktualität nur dann von großer Bedeutung, wenn sich die Telefonstruktur ändert, also zum Beispiel, wenn wegen einer veränderten Gebührenordnung eine starke Nachfrage nach Zweitanschlüssen auftritt. Grundsätzlich gilt, dass die Bedingungen der Vergabe von Telefonnummern an die Haushalte bekannt sein und in die Art der Stichprobenauswahl aufgenommen werden müssen. Je nach Land oder Region variieren so beispielsweise die Telefondichte und der Anteil der nicht eingetragenen Telefonnummern. In Deutschland ist wegen der hohen Telefondichte (dies gilt zunächst nur für den Westen, aber nach Angaben der Telekom im Jahre 2001 wohl auch für den Osten) die Stichprobenauswahl als „reine Listenauswahl“ ohne grundsätzliche Probleme möglich. Praktische Probleme gibt es allerdings, eine reine Zufallsauswahl ohne den uneingeschränkten EDV-Zugriff auf alle Telefonnummern zu verwirklichen. Diese Beschränkungen verschlechtern zumindest theoretisch die Qualität der Stichprobe (Schulte 1997: 151). Allerdings scheinen diese Vorbehalte verhältnismäßig gering im Vergleich zu denen zu sein, die gegenüber face-to-face-Stichproben in der beschriebenen Form zu machen sind. Bis hierher wurde nur die Auswahl des Haushalts über Telefon beschrieben. Um zur Zielperson zu gelangen, wendet man innerhalb des Haushalts, sofern es sich um einen Mehrpersonenhaushalt handelt, wiederum ein Zufallskriterium an, ähnlich wie bei der face-to-face-Befragung, also zum Beispiel die last birthdayoder die next- birthday-Methode. Stichproben für Hochrechnungen
Die Ziehung von Stichproben aus aggregierten Daten unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der für Individuen. Die Grundgesamtheit für Hochrechnungsstichproben sind zunächst alle Wahlbezirke, in denen am Wahltag Ergebnisse anfallen. Da diese Auszählungen nach der Wahl publiziert werden, ist die Stichprobenziehung auf der Basis der Vorwahl im Prinzip einfach. Man wird auch hier zu einer Zufallsauswahl mit einer oder mehreren Schichtungen zur Qualitätsverbesserung greifen. Als Schichtungen liegen ein regionales Kriterium nahe, zum Beispiel die Bundesländer, und ein inhaltliches, in der Wahlforschung die Ordnung nach Parteianteilen. Anders als bei den bisher behandelten Stichprobenverfahren handelt es sich bei der Stichprobe für eine Hochrechnung um ein einstufiges Verfahren.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
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HOCHRECHNUNG Bei der Hochrechnung von Wahlergebnissen schließt man vom Wahlverhalten in Teilmengen auf das Wahlverhalten in der Gesamtheit. Als Teilmengen benutzt man Ergebnisse der kleinstmöglichen Auszählungseinheiten, das sind die Stimm- oder Wahlbezirke. Aus allen Bezirken wird eine Stichprobe gezogen, die ein verkleinertes Abbild der Gesamtheit darstellt (siehe Kap. 3.1). Im einfachsten Fall, der freien Hochrechnung, steht dieses Stichprobenergebnis für das Gesamtergebnis innerhalb eines angebbaren Fehlerintervalls. Der praktische Einsatz der Hochrechnung am Wahlabend hat allerdings das Ziel, möglichst früh und möglichst genau über den Ausgang der Wahl zu informieren. Man wird deshalb nicht warten können, bis die Stichprobe voll ist. Die Aufgabe ist also, aus Teilstichproben auf das Endergebnis zu schließen. Damit wird nicht nur das Fehlerintervall größer, sondern auch die Gefahr, frühe, nicht zufällig einlaufende Daten überzuinterpretieren. Kleine Stimmbezirke melden früher als große, kleine Stimmbezirke gibt es aber häufiger auf dem Lande, große eher in der Stadt. Man wird deshalb versuchen, andere mit dem Wahlverhalten in Zusammenhang stehende Daten oder Eigenschaften des Stimmbezirks, die bereits vorhanden sind, einzubeziehen. Dies können strukturelle Daten sein oder Verhaltensdaten. Geschieht das, so spricht man von einer gebundenen Hochrechnung. Der beste Prädiktor für zukünftiges Wahlverhalten ist bisheriges Wahlverhalten. Deshalb bindet man das neue Ergebnis der Stichprobe an das alte Ergebnis und rechnet nur die Differenz, das veränderte Verhalten, hoch. In der Formel sieht das (vereinfacht) so aus: YN = YS + b (XA - XS) YN = neuer (hochgerechneter) Wert für eine Partei in % YS = Stichprobenwert für diese Partei in % XA = altes Wahlergebnis für diese Partei in % XS = altes Ergebnis des Stichprobenanteils in % b = 0 => freie Hochrechnung b = 1 => Differenzenschätzung b =
Ys
=> Verhältnisschätzung
Xs
b gesetzt
=> Regressionsschätzung
Eine erfolgreiche Hochrechnung hängt nicht nur von der richtigen Formel ab, die im übrigen je nach Datenmenge oder Dateneinlauf wechselt, sondern vor allem von einer peinlichst genauen Datensammlung, einer optimalen Organisation des Datenflusses, einer sicheren Datenverarbeitung und dem Fingerspitzengefühl erfahrener Wahlforscher.
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Hochrechnungen haben ihren Reiz in ihrer möglichst frühen Publikation, deshalb wird man auch versuchen, an schnell vorliegende Einzelergebnisse zu gelangen. Dies sind die Ergebnisse der Urnenwahlbezirke. Briefwahlbezirke fallen wegen ihrer Größe und wegen des in der Regel zusätzlichen Zählaufwands zeitlich später an. Bei der Ergebnisdarstellung werden sie meist größeren Einheiten, zum Beispiel Gemeindeergebnissen oder Kreisergebnissen, zugeschlagen, was ihre spätere Auffindbarkeit erschwert. Die Stichprobe wird deshalb aus den Urnenwahlbezirken gezogen, und auch die Hochrechnung erfolgt zunächst einmal nur für Urnenwähler. Insgesamt gab es 2005 in Deutschland 88.757 Wahlbezirke. Davon waren 12.679 Briefwahlbezirke. Die Gesamtheit der Wahlbezirke kann im Vorfeld schon von anderen „störenden Elementen“ bereinigt werden, die – insbesondere in der frühen Phase des Wahlabends – zu Verzerrungen der Hochrechnung führen könnten: zum Beispiel Anstaltsbezirke, in denen sich meist nicht nur die Zusammensetzung der Wahlberechtigten im Vergleich zur Vorwahl völlig verändert hat, sondern auch das Wahlverhalten häufig stark von anderen Wahlbezirken abweicht, oder besonders kleine Wahlbezirke, die früh ausgezählt sind und dann überproportionale Effekte bewirken könnten. Aus der Grundgesamtheit entsteht vor der Stichprobenziehung somit eine Auswahlgesamtheit. Wenn man mit gebundenen Hochrechnungsmodellen arbeitet (siehe Kasten auf Seite 79), wird man die Urstichprobe bereinigen müssen. Dabei werden Wahlbezirke, deren Zuschnitt oder Anzahl der Wahlberechtigten sich gegenüber der Vorwahl stark verändert hat, durch möglichst unveränderte, aber strukturell und räumlich ähnliche Bezirke ersetzt. Alle Veränderungen in der Stichprobe können mit den vorhandenen genauen Daten zur Grundgesamtheit bestens kontrolliert werden. Die Größe der Stichprobe ist ein reines Kosten-Nutzen-Problem unter bestimmten Sicherheitskriterien. Wenn Aussagen über bestimmte Teilgebiete gemacht werden sollen, dann muss die Stichprobe größer werden. Mit der Größe der Stichprobe wächst natürlich auch die Sicherheit der Aussage, insgesamt allerdings in ökonomisch unvorteilhafter Weise, wie bei Stichproben für Individualdaten auch. Optimierung ist deshalb erforderlich. Die Größe der Stichprobe hängt auch von der Homogenität bzw. Heterogenität der regionalen Einheit ab: je heterogener zum Beispiel ein Land ist, desto größer muss die Stichprobe sein, um alle unterschiedlichen Strukturen adäquat zu spiegeln. Die Stichprobengrößen schwanken deshalb deutlich. Bei Länderwahlen zwischen 100 und 250 Stimm- bzw. Wahlbezirken, bei Bundestagswahlen zwischen 400 und 600, mit Unterschieden je nach Institut.
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Stichproben für Repräsentativstatistiken
In den Bundesländern gibt es spätestens seit 1957 die sogenannte Repräsentativstatistik für Bundestagswahlen, Länderwahlen, zum Teil auch für Kommunalwahlen und seit 1979 ebenso für Europawahlen. Auf gesetzlicher Grundlage werden dabei in ausgewählten Wahlbezirken Wahlzettel so gekennzeichnet,26 dass nach Männern und Frauen und in fünf Altersgruppen ausgezählt werden kann. Die Stichproben hierzu werden nach dem Zufallsprinzip gezogen. Die Größe der Stichprobe in den einzelnen Ländern ist unterschiedlich, sie richtet sich danach, inwieweit auch noch für kleinere Parteien aussagekräftige Landesergebnisse festgestellt werden sollen. Die Auswahlsätze, z.B. für die Bundestagswahl 2005, lagen zwischen 1,4% (Hamburg) und 5,5% (Berlin und Saarland). Die Stichprobe umfasste bundesweit 2.867 Wahlbezirke zur Feststellung der Stimmabgabe für die Parteien. Sie wurden als repräsentativ für die rund 76.000 Urnenwahlbezirke und etwa 12.700 Briefwahlbezirke angesehen. Die Stichprobe ist insgesamt sehr groß, sie umfasst 2,2 Millionen von 61,9 Millionen Wahlberechtigten oder 1,7 Millionen der 48 Millionen Wähler. Die Fehlerintervalle sind dementsprechend klein. Zum Beispiel liegt bei einem gemessenen Wert von 41,7% für die CDU/CSU bei den über 60jährigen Männern der wahre Wert mit einer Sicherheit von 95% zwischen 41,3% und 42,1%. Zur Wahrung des Wahlgeheimnisses werden nur Wahlbezirke mit einer bestimmten Mindestgröße in die Stichprobe aufgenommen. Die Stimmabgabe einzelner Wähler darf nicht erkennbar sein. Darüber hinaus dürfen keine Einzelergebnisse von Wahlbezirken veröffentlicht werden. Es erfolgt auch hier eine Einschränkung der Gesamtheit vor der Stichprobenziehung, die verständlich ist, aber stichprobentheoretisch nicht tadellos. Neben dem Stimmverhalten werden in der Repräsentativstatistik auch Aussagen über die Wahlbeteiligung gemacht, und zwar getrennt nach Geschlecht und Altersgruppen. 2005 wurde dazu eine Stichprobe von 2.541 Wahlbezirken benutzt. In den Wählerverzeichnissen dieser Auswahlbezirke werden die dortigen Angaben über die Vornamen (Geschlecht) und den Geburtstag für die Auswertung benutzt. Die Repräsentativstatistik der Bundestagswahlen 1994 und 1998 wurde aus kaum nachzuvollziehenden Befürchtungen der verantwortlichen Stellen im aufsichtsführenden Bundesinnenministerium vor Konflikten mit Datenschützern und unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit ausgesetzt. Wertvolles Analysematerial wurde nicht erhoben. Teilweise konnte dieser Mangel durch die 26
Siehe hierzu Statistisches Bundesamt (2006, S. 20 ff.).
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
exit polls, die für die Fernsehanstalten durchgeführt wurden, behoben werden, allerdings können mit exit poll-Daten keine Aussagen zur Wahlbeteiligung gemacht werden. Seit 2002 gibt es die Repräsentativstatistik in verbesserter Form (Briefwähler werden einbezogen) wieder (siehe Fußnote 18). Stichproben für exit polls Exit polls sind mündliche oder schriftliche Befragungen von Wählern vor den Wahllokalen unmittelbar nach dem Wahlakt (siehe Kasten). Diese Art der Erhebung von individuellen Wählerentscheidungen hat eine lange Tradition in England und in den Vereinigten Staaten. Die Stichprobe hierzu wird in der ersten Stufe wie eine Hochrechnungsstichprobe gezogen. Innerhalb des ausgewählten Wahlbezirks wählt man die Zielpersonen, von einem zufällig gewählten Startpunkt ausgehend in konstanten Schritten aus. Diese Vorgehensweise kann über die gesamte Dauer der Öffnung des Wahllokals gehen oder für zuvor festgelegte Zeiträume. Die durchführenden Institute27 gehen dabei aus Kostengründen unterschiedlich vor. Stichprobentheoretisch muss die zweite Stufe der Auswahl nach einem Zufallskriterium erfolgen. Die Schrittweite kann je nach Größe des Wahlbezirks variieren. Diese Entscheidungen wird man ebenfalls unter Zeit- und Kostenabwägungen treffen. Insgesamt können bei solchen exit polls relativ hohe Fallzahlen erreicht werden und die erzielten Ergebnisse dann mit einiger Sicherheit weiter nach demographischen Variablen, die man bei der Befragung miterhebt, differenziert werden. EXIT POLL Befragungen von Wählern, wenn sie das Wahllokal verlassen (exit polls), haben in England und den USA eine längere Tradition als in Deutschland (vgl. Levy 1983; Broughton 1995: 9 f.; Worcester 1980: 563 f.). Sie werden dort vor allem zu Analysezwecken genutzt. Bei Präsidentschaftswahlen in den USA beruhen inzwischen fast alle Aussagen am Wahlabend auf solchen Exit-Poll-Daten, die von einer gemeinsamen Einrichtung der fünf großen Fernsehanstalten ABC, CBS, NBC, CNN und FOXNEWS erhoben werden. In der Bundesrepublik wurde das Instrument in den späten 70er Jahren bei einigen Landtagswahlen mit großem Erfolg getestet, dann aber auf Beschluss der Intendanten der ARD und des ZDF mit der Begründung auf Eis gelegt, einem Missbrauch der Daten während des Wahltags vorbeugen zu wollen (vgl. Schultze 1980). Seit Anfang 1990 sind jedoch Ergebnisse aus Befragungen am Wahltag fester Bestandteil der 27
siehe hierzu auch: Hilmer und Hofrichter (2001: 443 ff.).
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Wahlsendungen, nachdem ein Veröffentlichungsverbot vor 18.00 Uhr in die Wahl∗ gesetze der Länder und des Bundes aufgenommen worden war. Die Daten aus exit polls werden für die Prognose nach Schließung der Wahllokale und zur detaillierten Beschreibung des Wahlergebnisses nach Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Religionszugehörigkeit und/oder Kirchennähe, Gewerkschaftsmitgliedschaft etc., den klassischen Indikatoren des sozialstrukturellen Erklärungsansatzes für Wahlverhalten benutzt. Die Vorteile des exit polls gegenüber Umfragen vor der Wahl sind (vgl. Wüst 2002): – Leichtere und direkte Kontaktaufnahme mit den Zielpersonen. – Es werden Wähler befragt und nicht wie in Umfragen Wahlberechtigte. Die hohe Unsicherheit der tatsächlichen Wahlbeteiligung bei Vorwahl-Befragungen (Abfrage eines sozial erwünschten Verhaltens) ist ausgeräumt. – Die unmittelbare Nähe zum Wahlakt führt zu hoher Übereinstimmung zwischen tatsächlichem und abgefragtem Wahlverhalten. – Hohe Fallzahlen bei vertretbaren Kosten. Doch auch bei exit polls gibt es einige Probleme. So können, ähnlich wie bei der Repräsentativ-Statistik, nur Aussagen über Urnenwähler gemacht werden, was bei hohen Anteilen von Briefwählern, wie zum Beispiel in Stadtstaaten, zum Problem werden kann. Der Fragebogen muss (zumindest in Deutschland) relativ kurz sein, da er von den Zielpersonen selbst ausgefüllt wird. Dies geschieht, um die Anonymität der Befragung zu unterstreichen und aus der Überlegung heraus, die Zahl der Interviews zu maximieren, um auch über zahlenmäßig kleinere Teilgruppen Aussagen machen zu können. In der Praxis ist die Befragung am Wahltag ein anspruchsvolles logistisches Vorhaben. Dabei gilt es, wie bei allen Umfragen, im Vorfeld der Untersuchung möglichst viele potentielle Fehlerquellen zu erkennen und zu beseitigen. Die Qualität der Daten hängt vor allem von der genauen Einhaltung des Stichprobenplans und der guten Atmosphäre bei der Ansprache der Zielpersonen ab. Aber auch der Zeitpunkt, der genaue Einsatz der Korrespondenten, ihre sachgerechte Schulung, die schnelle und vollständige Übermittlung der erhobenen Daten müssen organisiert werden bis hin zur Ankündigung bei den Wahlvorständen, zu Schlechtwettervorbereitungen und vielfältigen BackupSystemen. Mit dem Einsatz von exit polls in westlichen Demokratien sind Wahlforscher und Journalisten dem Ziel, präzise und schnell zu informieren ein großes Stück nähergekommen. In jungen Demokratien kann das Instrument zumindest zur ersten Information der Öffentlichkeit über den Wahlausgang eingesetzt werden (wie z.B. in Russland) und dient dann unter Umständen sogar als Kontrollinstrument bei befürchteten Wahlfälschungen. ∗
Die Ergänzung des § 32 Bundeswahlgesetz erfolgte bereits am 20.7.1979 und galt zum ersten Mal für die Bundestagswahl 1980.
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3.1.3 Stichprobenprobleme und ihre Korrekturmöglichkeiten 3.1.3.1 Realisierung von Stichproben
Da die Fehlerberechnungen von Zufallsstichproben nur für voll und fehlerfrei realisierte Stichproben gelten, muss es Ziel jeder Untersuchung sein, jede Stichprobeneinheit (Zielperson) auch tatsächlich zu erreichen und in die Untersuchung einzubeziehen (zu interviewen). Der Erfolg solchen Strebens wird Ausschöpfungsquote der Stichprobe genannt. Für die Berechnung dieser Quote gibt es, zumindest in Deutschland, keine allgemein verbindlichen Regeln. In den USA gibt es für die Definition der Antwortrate immerhin eine Empfehlung des Council of American Survey Research Organisations, deren Umsetzung in die Praxis jedoch nicht ohne Probleme ist (Schnell 1997: 19). Das Problem dabei ist die unterschiedliche Beurteilung, welche der nicht erreichten Zielpersonen man als stichprobenneutrale Ausfälle klassifiziert und welche als systematische und deshalb die Qualität der Stichprobe beeinflussende Ausfälle angesehen werden. In der Literatur werden diese Fragen unter non-response abgehandelt, wobei man gemeinhin davon ausgeht, dass wir es mit einem Problem steigender Ausfälle bei Bevölkerungsumfragen zu tun haben, das entweder durch Gewichtungsverfahren korrigiert werden kann oder nicht. In der weiteren Konsequenz führt dies zur Abkehr von quantitativer Forschung, zumindest aber zur Infragestellung bisheriger Verfahren von Zufallsstichproben (Schnell 1997: 12). Viele Verfechter des Quotaverfahrens argumentieren in dieser Weise. Sinnvoll ist es, zur Beantwortung dieser Frage empirisch vorzugehen. Dies ist aber offensichtlich nicht einfach. Es macht keinen Sinn, bei den Instituten Ausschöpfungsquoten im Zeitverlauf abzufragen, weil diese v.a. aufgrund unterschiedlicher Berechnungsverfahren nicht vergleichbar sind. Feldberichte, die näheren Aufschluss über unterschiedliche Qualität der Feldarbeit zuließen, wird man von den Instituten nicht bekommen, weil diese Information in der Regel als Betriebsgeheimnis angesehen wird. Unter nonresponse wird hier nicht das Fehlen einiger Antworten in einem Interview (item nonresponse) verstanden. Solche missing cases können entweder aus dem Bestand erhobener Daten geschätzt werden, oder es sind explizit Verweigerungen auf eine bestimmte Frage, die dann als solche behandelt werden müssen. Ab einem bestimmten Anteil an Verweigerungen sollte die Frage bzw. Frageformulierung überdacht werden (s. Kap. 3.2). Unter nonresponse verstehen wir den Totalausfall eines Interviews der Bruttostichprobe,
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entweder weil der Haushalt oder die Zielperson nicht erreichbar waren oder weil die Kontakt- oder Zielperson die Auskunft verweigert hat.
Diese Grobkategorisierung hilft allerdings noch nicht, eine klare Unterscheidung zwischen stichprobenneutralen und nicht-neutralen Ausfällen zu treffen. Neutrale Ausfälle
In der Wahlforschung, in der nur Wahlberechtigte in Privathaushalten befragt werden, gehören sowohl nicht-private als auch nicht-deutsche Haushalte nicht zur Stichprobe. Neben Geschäfts- und Faxanschlüssen zählen zu den nichtprivaten Anschlüssen auch Ansagen der Telekom (z.B. „kein Anschluss unter dieser Nummer“) oder Telefonzellen, die bei Telefonstichproben aufgrund des Schlussziffernverfahrens durchaus in die Stichprobe gelangen können. In der Regel können die nicht zur Stichprobe gehörenden Nummern entweder sofort (Fax, Ansage der Telekom) oder im Laufe des Kontaktgesprächs ausgeschieden werden. Es handelt sich um neutrale Ausfälle, um die der Stichprobenansatz (Brutto) bereinigt wird. Neutrale Ausfälle spielen somit bei der Berechnung der Ausschöpfungsquote keine Rolle. Bei face-to-face-Befragungen zählen zu neutralen Ausfällen auch nicht gefundene Straßen und Häuser, nicht bewohnte Häuser und Wohnungen und verzogene oder verstorbene Zielpersonen. Problematisch sind Ausfälle, die durch erkrankte Interviewer entstehen oder dadurch, dass Interviewer einen Auftrag ablehnen. Dadurch fallen Klumpen von in der Regel sechs bis zehn Interviews, im schlimmsten Fall ein ganzer sample point aus. Dies kann bei einer gewissen Homogenität der Zielpersonen in einem sample point zu Verzerrungen der Stichprobe führen; der Ausfall ist dann alles andere als „neutral“. Insgesamt ist der Spielraum für die Interviewer in face-to-face-Befragungen bei der Festlegung der Nichtzugehörigkeit zur Stichprobe ungleich größer als bei Telefonbefragungen. Diese Möglichkeiten werden natürlich auch von Interviewern genutzt, um ihre Leistungen beim Institut besser erscheinen zu lassen. Viele Nichterreichte werden deshalb in der Kategorie „neutrale Ausfälle“ landen. Das sind Betrügereien, die Institute nicht wirklich oder nur unter unverhältnismäßig hohen Kosten kontrollieren können. Haushalt nicht erreicht: neutraler oder systematischer Ausfall?
In die Kategorie „nicht erreicht“ gehören bei Telefoninterviews alle Freizeichen, Besetztzeichen und privaten Anrufbeantworter: trotz wiederholter Versuche konnte mit keiner Person des Haushalts ein Kontakt hergestellt werden. Der Aus-
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
fall kann neutral sein, wenn z.B. bei sämtlichen Kontaktversuchen zufällig kein Haushaltsmitglied zuhause war oder das Freizeichen gar kein „echtes“ Freizeichen war. Bei der Verwendung des RLD-Verfahrens wird beispielsweise der Anteil der Freizeichen eher überschätzt, weil sich hinter vielen angerufenen Nummern gar kein Anschluss verbirgt. Eine Bereinigung der Stichprobe könnte jedoch nur ansatzweise durch eine Anteilsschätzung auf Grundlage der Ergebnisse experimenteller Nacherhebungen von Nichtkontakten (meist über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten) erfolgen.28 Nicht-neutrale, also systematische Ausfälle sind nicht erreichte Haushalte dann, wenn die Haushaltsperson(en) aus bestimmten Gründen in der Feldzeit generell nicht zuhause ist (sind), weil sie zu dieser Zeit z.B. immer arbeiten, unterwegs sind oder den Anrufbeantworter (und neuerdings auch ISDN-Displays) als eine Art „Pförtner“ gebrauchen, um den Haushalt gegen Kontakte mit Fremden abzuschirmen. Ein gutes Umfrageinstitut wird versuchen, den Anteil systematischer Ausfälle unter den nicht erreichten Haushalten so gering wie möglich zu halten, indem wiederholt und zu verschieden Tageszeiten versucht wird, mit den entsprechenden Haushalten einen Kontakt herzustellen. Trotzdem wird man einen Teil der nicht erreichten Haushalte den systematischen und nicht den neutralen Ausfällen zurechnen müssen. Systematische Ausfälle
Zu Ausfällen, die klar den systematischen Ausfällen zuzuordnen sind, gehören alle Arten von Verweigerungen des Interviews. Dazu zählt zum einen die Verweigerung der Auskunft durch die Kontaktperson im Haushalt, zum anderen die Verweigerung der Zielperson selbst. Weiterhin sind zu den systematischen Ausfällen die Haushaltskontakte zu rechnen, bei denen die Zielperson zwar ermittelt wurde, mit dieser während der Feldzeit jedoch kein Kontakt hergestellt werden konnte, ferner alle Abbrüche von Interviews sowie alle nicht eingehaltenen Terminabsprachen. Die unterschiedliche Handhabung der Festlegung stichprobenneutraler Ausfälle zwischen verschiedenen Instituten, vor allem die unterschiedlichen Möglichkeiten der Definition dieser Ausfälle bei unterschiedlichen Erhebungsmodi (Telefon oder face-to-face), macht es kaum möglich, die Hypothese von den steigenden Ausfällen bei Bevölkerungsumfragen seriös zu beantworten. Veränderungen können sowohl auf ein verändertes Bemühen der erhebenden Institute 28
Siehe hierzu: Stögbauer (1997: 9ff.). Das dort beschriebene Experiment zeigt, dass 50% der während der Feldzeit Nichterreichbaren auch innerhalb eines weiteren halben Jahres nicht erreichbar waren.
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zurückzuführen sein als auch durch andere Definitionen der Ausfälle. In der umfangreichsten und sorgfältigsten Studie hierzu kommt Schnell (1997) zu dem Schluss, dass ein Großteil der Unsicherheit bei der Beantwortung dieser Frage darauf zurückzuführen ist, dass den nonresponse-Problemen von Seiten der Institute nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird und die Gründe für das Ausmaß der Ausfälle undokumentiert bleiben. Verweigerungen scheinen bei face-to-face-Interviews zuzunehmen, nicht aber bei Telefoninterviews. Die These „Verweigerungen werden durch stabile Dispositionen der Befragten verursacht“ wird verworfen (Schnell 1997: 213). Vielmehr geht ein Großteil der Verweigerungen auf vorübergehende situative Einflüsse zurück, die letztlich über erhebungstechnische Maßnahmen geregelt werden können, die allerdings sehr flexibel sein müssen. Tabelle 3.1: 1. 2. 3. 4. 5.
Ausschöpfungsberechnung beim Politbarometer September 2005
Alle benutzten Telefonnummern davon nicht zur Stichprobe verbleiben echtes Brutto davon kein Kontakt zum Haushalt verbleiben Brutto mit Haushaltskontakt
7316 3047 4269 707 3562
(100,0 %) 41,6 % (von 1) (100,0 %) 16,6 % (von 3) 100,0 %
702 289 375 47 357 (214)
19,7 % 8,1 % 10,5% 1,3 % 10,1 % (6,0 %)
1792
50,3 % 42,0 %
Ausfälle: 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Kontaktperson im HH verweigert Auskunft Zielperson in Feldzeit nicht erreichbar Zielperson verweigert Abbruch Sonstige Ausfälle davon Termin nicht eingehalten Realisierte Interviews (Ausschöpfungsquoten)29
(von 5) (von 3)
Etwas anders verhält es sich mit den schwer erreichbaren Zielpersonen, bei denen es aufgrund längerer Abwesenheit – wegen ihres Lebensstils oder wegen beruflich bedingter Abwesenheit – nicht zum Interview kommt. Auch hier gilt natürlich zunächst mit flexiblen Mitteln zu reagieren, um die Erreichbarkeit zu erhöhen, zum Beispiel mit der Erweiterung der Befragungszeiten, was wiederum 29
Die Ausschöpfungsquote im Westen betrug 53,3% bzw. 43,5%, im Osten betrug sie 46,4% bzw. 39,8%.
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beim Telefoninterview eher gelingt als beim face-to-face-Interview. Statistische Korrekturverfahren können die auftretenden Fehler nur bedingt ausgleichen. Das liegt an der grundsätzlichen Überlegung, dass durch Gewichtungen nur dann „richtige“ Verhältnisse erreicht werden können, wenn die im Interview Erreichten die „wahre“ Struktur der entsprechenden Subgruppe widerspiegeln. Das heißt: Wenn man zum Beispiel eine ausreichend große Anzahl von Schichtarbeitern erreicht, so ist die Kompensation der zur Erhebungszeit Schicht Arbeitenden durch Gewichtung der zur Erhebungszeit nicht arbeitenden Schicht auf die tatsächliche Größe der Gruppe der Schichtarbeiter kein großes Problem. Betrachtet man dagegen Urlaubsreisende, die sich in der Regel nicht gleichmäßig über das ganze Jahr verteilen, hat man in den Hauptferienmonaten ein Problem, dem man nur schwer durch Gewichtung begegnen kann. Dennoch sollten die Größenordnungen der möglichen Verzerrungen genau betrachtet werden, was durchaus möglich ist (Schnell 1997: 237). 3.1.3.2 Korrekturmöglichkeiten
Mit Hilfe von Gewichtungsvariablen kann jedem einzelnen Interview für die Auswertung ein bestimmtes Gewicht zugewiesen werden. Die in der Wahlforschung am häufigsten angewandten Gewichtungsverfahren sind die Transformationsgewichtung, die sozialstrukturelle Gewichtung und die recall-Gewichtung. Während eine Transformationsgewichtung je nach Stichprobenverfahren unverzichtbar ist, handelt es sich bei der sozialstrukturellen Gewichtung um keineswegs immer unproblematische Kosmetik und bei der recall-Gewichtung um eine methodisch kaum zu rechtfertigende Veränderung des Datensatzes. Eine Transformations- oder Haushaltsgewichtung des Datensatzes ist dann nötig, wenn sich die Auswahlgesamtheit von der Grundgesamtheit systematisch unterscheidet. Dies trifft in der Regel auf Telefonumfragen zu. Die Auswahlgesamtheit setzt sich hier nämlich nicht aus allen wahlberechtigten Deutschen zusammen, über die man bestimmte Aussagen treffen will, sondern aus Telefonhaushalten, in denen jedoch der überwiegende Teil der wahlberechtigten Deutschen lebt. Die Telefonstichprobe wird aus den (deutschen) Privathaushalten gezogen, aus denen wiederum eine wahlberechtigte Person zufällig ausgewählt wird. Bei diesem Verfahren gibt es nun unterschiedliche Inklusionswahrscheinlichkeiten, das heißt, dass die Chance, befragt zu werden, von der Haushaltsgröße und der Anzahl der Telefonnummern, über die der Haushalt erreicht werden kann, abhängt.
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Ein Beispiel: die Chancen, dass ein Haushalt mit einem Wahlberechtigten, ein Haushalt mit drei Wahlberechtigten oder ein Haushalt mit fünf Wahlberechtigten in die Stichprobe gelangt, ist dann gleich groß, wenn jeder Haushalt (was üblich ist) über genau eine Telefonnummer erreichbar ist. Die Chancen der einzelnen Personen, die in den jeweiligen Haushalten leben, befragt zu werden, unterscheiden sich jedoch ganz erheblich. Im Haushalt, in dem lediglich ein Wahlberechtigter lebt, beträgt die Inklusionswahrscheinlichkeit 1, in den anderen beiden Haushalten jedoch 1/3 bzw. 1/5. Da keine Aussagen über Haushalte, sondern über die in den einzelnen Haushalten lebenden Wahlberechtigten getroffen werden sollen, muss ein Chancenausgleich in Form einer Transformationsgewichtung von einer Haushalts- in eine Wahlberechtigten-Stichprobe vorgenommen werden. Hierzu erhält zunächst jeder Befragte ein Gewicht, das der Anzahl der Wahlberechtigten im Haushalt entspricht (in unserem Beispiel 1, 3 und 5). Damit sind die unterschiedlichen Inklusionswahrscheinlichkeiten korrigiert (und betragen nun alle 1), aber die Befragtenzahl insgesamt ist viel zu hoch. In einem zweiten Schritt werden deshalb alle Gewichte mit dem Quotienten aus ursprünglicher Befragtenzahl und hochgewichteter Befragtenzahl multipliziert. Die Gewichte reduzieren sich somit proportional auf etwa 0,7 für Haushalte mit einem Wahlberechtigten und 3,5 für Haushalte mit fünf Wahlberechtigten.
Von der Transformationsgewichtung ist die sozialstrukturelle Gewichtung zu unterscheiden, mit der versucht wird, Verzerrungen aufgrund von Ausfällen mit Hilfe der Anpassung der Sozialstruktur der Umfrage an verfügbare Sollzahlen anzupassen. Kommt es bei der Realisierung der Stichprobe zu zufälligen Ausfällen, so sind diese dann unproblematisch, wenn die Bruttostichprobe groß genug ist, d.h. eine Mindestanzahl realisierter Interviews übrigbleibt. Über Korrekturen des Datensatzes sollte man sich nur hinsichtlich systematischer Ausfälle Gedanken machen. Bei der sozialstrukturellen Gewichtung werden Einzelmerkmale oder Kombinationen von Merkmalen wie Ortsgröße, Alter, Geschlecht, Familienstand, sozialer Status und andere verwendet.30 Wenn also eine besonders mobile Gruppe, wie zum Beispiel die 18- bis 29jährigen Männer, in der Stichprobe nicht ausreichend oder als Gegenbeispiel die über 60jährigen Männer zu häufig erreicht werden, dann werden die einzelnen Individuen mit einem von 1 abweichenden Gewicht versehen. Mit dieser Art von Gewichtung passt man die in der Umfrage ermittelte Gruppengröße an die aus offiziellen Daten bekannte Größe an. Während das Heruntergewichten einzelner Gruppen (Gewichte unter 1) unproblematisch ist, weil der Charakter der Gruppe erhalten bleibt, ist das Heraufgewichten bestimmter Gruppen (Gewichte über 1) mitunter problematisch, denn 30
Zur Kritik siehe Schnell (1997: 245ff.), Diekmann (1994: 365).
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nicht erreichte Zielpersonen werden durch erreichte, deren Charakter sich sehr wohl von dem der nicht erreichten unterscheiden kann, ersetzt. Der verantwortungsbewusste Forscher muss sich, um beim Beispiel zu bleiben, fragen, ob die nicht erreichten 18- bis 29jährigen, gerade weil sie oft aushäusig sind, bei dem zu untersuchenden Gegenstand andere Einstellungen entwickeln als die leichter Erreichbaren im gleichen Alter. Wenn dieser Verdacht besteht, kann das inhaltliche Ziel, den Zusammenhang von Alter und einer speziellen Attitüde festzustellen, wegen der Verzerrung der Stichprobe nicht erreicht und auch durch Gewichtung nicht ausgeglichen werden. Eine besonders umstrittene Form der Gewichtung wird mit der Wahlforschung in Verbindung gebracht: die sogenannte recall-Gewichtung, die auch politische Gewichtung genannt wird. Sie wird in der Literatur als Gewichtung aufgrund einer empirischen Hypothese abgehandelt (Diekmann 1995: 365). Diese Gewichtungsmethode wird von einigen Instituten angewandt (die allerdings nicht hauptsächlich Wahlforschung betreiben, sondern Prognosen oder prognoseähnliche Aussagen zu Wahlen machen), um die Präzision ihrer Umfrageinstrumente zu demonstrieren. Der recall-Gewichtung liegt die schlichte Überlegung zugrunde, dass mögliche Abweichungen der Antworten auf die Wahlabsichtsfrage und dem tatsächlichen Wahlausgang auf Verzerrungen der Stichprobe zurückzuführen sind. Deshalb stellt man zusätzlich zur sogenannten Sonntagsfrage die Frage nach dem Wahlverhalten bei der letzten Wahl. Die summierte Abweichung der erhaltenen Werte vom tatsächlichen Ergebnis der letzten Wahl benutzt man als Gewichtungskriterium für die Wahlabsicht. Wird also eine Partei bei der Rückerinnerung unterschätzt, so erhält sie ein entsprechend höheres Gewicht, und umgekehrt, liegt eine Partei beim recall über ihrem alten Ergebnis, so wird ihr jetziger gemessener „Erfolg“ entsprechend nach unten gewichtet. Zur schlichten Annahme einer solchen Operation gehört auch der naive Glaube, dass mit der recall-Frage das tatsächliche Verhalten der Zielpersonen in der Vergangenheit fehlerfrei oder zumindest nur mit zufälligen Fehlern behaftet erfasst werden könnte. Aus einer Vielzahl von Gründen kann aber davon nicht ausgegangen werden. Eine ganze Reihe von Befragten erinnert sich objektiv nicht an ihr früheres Wahlverhalten. Es handelt sich dabei hauptsächlich um politisch wenig oder gar nicht Interessierte, die jedoch aus Pflichtgefühl zur Wahl gehen. Diese Zahlen sollten nicht unterschätzt werden. Umfragen zeigen immer wieder, dass die Mehrheit unter den Wahlberechtigten kaum oder gar nicht an Politik interessiert ist, aber zwei Drittel aus dieser Gruppe bei Bundestagswahlen trotzdem wählen. Die Häufigkeit der Wahlen in Deutschland auf den verschiedenen Parlamentsebenen, also Kommunal-, Landes-, Bundestags- oder Europawahlen, möglicher-
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weise auch noch Bürgermeister- oder Landratswahlen, kann zu Unsicherheiten und Verwechslungen führen. Man kann nicht davon ausgehen, dass die dabei auftretenden Fehler zufällig verteilt sind. Ein weiterer Grund für die fehlerhafte Erfassung der recall-Frage ist der Wunsch, kognitive Dissonanzen bei einer so wichtigen Entscheidung wie der Wahlentscheidung zu vermeiden. Panel-Befragungen, also wiederholte Befragungen der gleichen Personen in einem zeitlichen Abstand, haben gezeigt, dass beim Wechsel der Wahlabsicht häufig und zum Teil sogar in der Mehrzahl der Fälle auch der recall in die gleiche Richtung, nämlich in Richtung der derzeit präferierten Partei(en), verändert wurde. Das innere Gleichgewicht bleibt dem Befragten somit erhalten. Es gibt keine Notwendigkeit der Rechtfertigung eines veränderten Verhaltens. Der tatsächliche Wechsel wird dabei unterschätzt. Dies mag jedoch zu Zeiten eines potentiell stärkeren Wechsels, d.h. also in einer Atmosphäre, in der zum Beispiel die Regierung besonderer Kritik ausgesetzt ist, völlig anders sein. Die Tendenz zum Wechsel wird dann eher überschätzt. In jedem Fall muss die Interpretation des gemessenen recalls mit größter Vorsicht vorgenommen werden. Der recall eignet sich deshalb keinesfalls als Ausgangspunkt für Gewichtungen. Ein Beispiel falscher Rückerinnerung sind die gemessenen Zahlen für die FDP. Der inhaltliche Grund dafür ist die bei mehreren Bundestagswahlen der Vergangenheit beobachtete Unterstützung der Liberalen durch unionsnahe Wähler am Wahltag selbst. Da es sich dabei um taktisches Wahlverhalten zum Beispiel zur Erhaltung der Koalition handelt, also um einen kurzfristigen Wechsel des Wahlverhaltens, kehren diese Wähler danach sofort wieder in die politisch heimatlichen Gefilde zurück, nämlich zur Union. Erst kurz vor der nächsten Wahl zeigt sich möglicherweise wieder eine ähnliche Bewegung wie bei der Vorwahl, wenn dies zur Stabilisierung der Machtverhältnisse notwendig ist. Diese taktischen Wähler sind in der Regel politisch hochinformierte und politisch sehr interessierte Wähler. Beim recall geben sie aber sehr oft ihre tatsächliche Parteipräferenz an, nicht die aus taktischen Erwägungen gewählte Partei. Fazit: Gewichtungen können nur unter Vorbehalt und unter bestimmten Voraussetzungen zur Korrektur von Stichprobenfehlern verwendet werden (vgl. Diekmann 2006: 13 ff.).
3.2 Datenerhebung in der Wahlforschung Bei der Beantwortung der Frage, welche Daten in der Wahlforschung wie erhoben werden sollen, erinnert man sich sinnvoller Weise an die Grundfrage der empirischen Wahlforschung: Wer wählt wen und warum? Das heißt: man braucht beschreibende und erklärende Daten.
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Beschreibende Daten liegen in Form einer genauen Auszählung der Stimmen für die einzelnen Kandidaten und Parteien vor. Diese Auszählung ist eine hoheitliche Aufgabe. Die Ergebnisse dienen der Wahlforschung, je nach Fragestellung, als Ausgangs- oder Endpunkt der Forschung. Wahlergebnisse werden kleinräumig erfasst. Die kleinste Erfassungseinheit ist der Stimmbezirk oder Wahlbezirk. Die Ergebnisse können dann zum Wahlkreisergebnis oder zum Gemeindeergebnis aggregiert werden oder zu noch größeren regionalen Einheiten, wie Regierungsbezirken, Landesteilen, Bundesländern oder der Bundesrepublik insgesamt zusammengefasst werden. Für die einzelnen Aggregatebenen liegen möglicherweise andere beschreibende Daten aus offiziellen Statistiken vor, wie Alters-, Konfessions- oder Berufsstruktur, Daten aus Wohnungszählungen, ökonomische Verhaltens- oder Entwicklungsdaten usw. Diese Daten können mit den Wahlergebnissen in Beziehung gebracht werden, sofern man über entsprechende theoretische Ansätze verfügt. Den Versuch, das Wahlverhalten in regionalen Begrenzungen mit Hilfe von solchen beschreibenden Variablen zu erklären, nennt man Aggregatdatenanalyse. Die Grenzen solcher Analysen liegen auf der Hand. Es kann immer nur das Verhalten im Aggregat beschrieben, bestenfalls Hypothesen über Ursachen für dieses Verhalten aufgestellt, aber nie auf die Gründe für das Verhalten einzelner geschlossen werden (Campbell et al. 1954: 1). Exkurs: Aggregatdatenanalyse
Die Aggregatdatenanalyse geht davon aus, dass das Verhalten des einzelnen sehr stark durch seine unmittelbare Umwelt geprägt wird. Sie wird deshalb auch ökologische oder quantitativ ökologische Analyse genannt, weil die Ökologie die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt beschreibt. Bereits in den Anfängen der Wahlforschung wurde die Beobachtung gemacht, dass eine einheitlich geprägte soziale Umwelt auch zu sehr einheitlichem politischen Verhalten der Menschen in diesen Gebieten führte. Dies war sowohl die Erkenntnis der „géographie électorale“ in ländlichen Gebieten Frankreichs, mit unterschiedlichen, aber charakteristischen Prägungen einzelner Landschaften und entsprechendem Verhalten der Menschen dort, als auch die Erfahrung der Abhängigkeit des Wahlverhaltens zum Beispiel von Arbeitern in Deutschland, je nachdem, ob sie sich in einem homogenen Kontext bewegten, also zum Beispiel in Arbeitersiedlungen wohnten oder in heterogenem Kontext, wie in der ländlichen Umgebung eines Industriezentrums (vgl. z.B. Bick 1985: 203 ff.). Der Austausch und die Aggregierung von Interessen können in einem homogenen Umfeld viel leich-
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ter erfolgen als im heterogenen Kontext. Interessen werden sich im homogenen Umfeld schneller verfestigen und organisieren. Die Aggregatdatenanalyse ist der Versuch, erklärende Hinweise auf das Verhalten von Individuen zu erhalten, ohne dem Individuum klar zuzuordnende Daten zu besitzen. Um diesem Ziel nahe zukommen, wird der Analytiker versuchen, möglichst kleinräumige Aggregate zu nutzen, also die größtmögliche Annäherung an die Individuen zu erreichen. Die Grenzen hierbei sind durch gesetzliche und verwaltungstechnische Rahmenbedingungen gesetzt. Die kleinste Auszählungseinheit für Wahlergebnisse ist nun einmal der Stimmbezirk oder der Wahlbezirk. Die praktische Schwierigkeit für den Analytiker besteht darin, für diese räumliche Einheit entsprechende beschreibende Daten aus offiziellen Zählungen oder Erhebungen zu finden. Wenn man zum Beispiel den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Wahlverhalten auf der Aggregatebene beschreiben will, die Arbeitslosenzahlen aber nur auf der Arbeitsamtsebene anfallen, die mit der Wahlbezirksebene natürlich nicht übereinstimmt, so hat man ein Problem. Dies kann möglicherweise durch Aggregierung von mehreren Stimmbezirken auf den Arbeitsamtsbezirk annähernd gelöst werden, aber man entfernt sich dabei vom erklärten Ziel der kleinräumigen Analyse: Je höher die Aggregierung, desto niedriger wird der Aussagewert über den Zusammenhang der Beobachtungen. Die Bezirke für Wohnungs- und Berufszählungen stimmen ebenfalls mit den Stimmbezirksgrenzen nicht überein. Dies gilt auch für fast alle ökonomischen und sozialen Statusdaten, die in ökologischen Wahlanalysen Verwendung finden. Dieses Problem wird von Nutzern der Aggregatdatenanalyse manchmal umgangen, indem man das Aggregationsniveau erhöht bzw. eine Hypothese wählt, die von vornherein nur einen Zusammenhang auf einer hohen Aggregationsebene postuliert, wie zum Beispiel die Abhängigkeit von Wahlverhalten von der Höhe der Investitions- oder Wachstumsrate (Kirchgässner 1983). Während für historische Analysen in der Regel keine andere Vorgehensweise möglich ist, als die Aggregatdatenanalyse zu nutzen, gilt für Überprüfungen jüngerer Zusammenhänge, dass sie als Scheinkorrelationen angesehen werden müssen, wenn sie auf individueller Ebene nicht nachvollziehbar sind (vgl. Roth 1985; Falter 1985). Ein Beispiel einer frühen sinnvollen und gelungenen Aggregatdatenanalyse ist die im Kapitel 1 erwähnte Arbeit von Rudolf Heberle über „Landbevölkerung und Nationalsozialismus“. Nach einer differenzierten theoretischen Begründung setzt Heberle NSDAP-Anteile in 30 Regionen mit einer Reihe sozioökonomischer Variablen in Beziehung. Dazu benutzt er vorhandene Daten, zum Beispiel zur Betriebsgröße oder zur Betriebsstruktur, die Zahl der Lohnarbeiter, die Kapitalstruktur bzw. die Verschuldungsquote etc. Aber auch früheres politisches Verhalten aus vorangegangenen Wahlen benutzt er zur Bildung einer poli-
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tischen Traditionsvariablen. Heberle hatte zudem eigene, qualitative Individualdaten erhoben, denn er führte während Wanderungen durch das Land zahlreiche Gespräche mit verschiedensten Teilen der schleswig-holsteinischen Landbevölkerung. Diese Daten konnte er zwar nicht quantifizieren, aber sie verhalfen ihm zu einer eindrucksvollen Gesamtschau der Probleme. Zusammen mit Ergebnissen aus Kreuztabellierungen seiner Aggregatdaten kam er zum Schluss, dass die ökonomische Verunsicherung und die fehlende Zukunftsperspektive größerer Teile der schleswig-holsteinischen Bevölkerung eine wichtige Rolle für die Unterstützung der NSDAP spielten und die Anfälligkeit für radikale politische Parolen dort am größten war, wo keine ökonomischen Reserven oder schwache traditionelle politische oder berufsständige Bindungen waren. Wilhelm Bürklin (1988: 35) vertritt zwar die Ansicht, dass Heberles Analysen „eher illustrativnacherzählenden Charakter haben und entsprechend der eingesetzten Verfahren auch keine Aussagen über die Stärke dieser Effekte erlauben“, aber er muss darüber hinaus feststellen, dass der theoretischen Perspektive der Studie über den Einfluss des sozialen Kontextes auf politisches Verhalten „theorieleitende Bedeutung“ zukommt. In den durch Heberles Studie angeregten Nachfolgestudien (Doggan/Rokkan 1969) veränderten die dargestellten statistischen Zusammenhänge immer mehr ihren Charakter von einer illustrativen zu einer analytischen Beschreibung. Dies ist die wichtigste Funktion, die Aggregatdatenanalysen in der Wahlforschung auch heute noch zukommt, nämlich die Funktion der Hypothesenbildung. Die Beispiele eher problematischer Anwendung der Aggregatdatenanalyse kommen aus dem Bereich der politischen Ökonomie. Die hochinteressante Frage des Zusammenhangs von ökonomischen Variablen und Wahlverhalten wird zeitweise auch von Ökonomen und Ökonometrikern behandelt, wobei in der Regel mittel- oder langfristige Analysen mit Hilfe von Zeitreihen im Mittelpunkt stehen. Es geht dabei um die Erklärung der Abhängigkeit des Wahlverhaltens zum Beispiel von Arbeitslosigkeit oder wirtschaftlicher Prosperität als globale Entwicklungen und möglicherweise auch noch um zeitverzögerte Effekte solcher Erscheinungen. Gearbeitet wird dabei mit hochaggregierten Daten und oftmals auch unterschiedlichen Schätzverfahren, die genauso oft zu sehr widersprüchlichen Ergebnissen führen (Jung 1985). Die Probleme sind vielfältig. Die Vergleichbarkeit der Daten leidet oft unter der Verschiedenheit der Erhebungsmethoden, zum Beispiel bei der Messung der Arbeitslosigkeit sowohl im nationalen als auch im internationalen Vergleich über die Zeit. Oft ist die Aggregationsgrundlage verschieden, z. B. werden regionale Einheiten durch Gebietsreformen verändert. Manchmal sind auch Zweifel an der Vollständigkeit der Datenerhebung angebracht, wie zum Beispiel die letzte Volkszählung (1987) gezeigt hat. Auch die Klassifizierung, d. h. die eindeutige
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Zuordnung der gefundenen Merkmale zu einer Antwortkategorie im Fragebogen, bereitete in der Praxis nicht unerhebliche Probleme, welche die Verwendbarkeit dieser Daten für Zeitvergleiche einschränkt. Die großzügige Operationalisierung der abhängigen Variablen Wahlverhalten bei den politik-ökonomischen Studien mit Wahlergebnissen oder auch nur Popularitätswerten von Parteien, Regierungen oder Politikern (z.B. Kirchgässner 1986) deutet eher auf die Zielrichtung hin, bestimmte Verfahren der ökonomischen Forschung oder der Ökonometrie einer Funktionsprüfung unterziehen zu wollen, als auf eine tiefere Reflexion des ja theoretisch nicht gerade unbearbeiteten Bereichs der Determinanten des Wahlverhaltens. Ein Beispiel dafür, wie die Wahl der Aggregationsebene den vermeintlichen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Wahlverhalten auf den Kopf stellt, ist die Auseinandersetzung zwischen Falter et al. (1983) und Frey/Weck (1981). Letztere haben auf der Basis einer Aggregatdatenanalyse, wobei sie auf höchstem Aggregationsniveau Arbeitslosenquote und NSDAP-Wähler über einen Zeitraum von 1928 bis 1933 in Beziehung setzten, einen fast perfekten Zusammenhang zwischen diesen Merkmalen festgestellt und daraus den Schluss gezogen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen individueller Arbeitslosigkeit und der Wahl der NSDAP gab. Zunächst muss diese Interpretation, die vielleicht ganz plausibel klingt, als ökologischer Fehlschluss zurückgewiesen werden, weil aufgrund der Beobachtung im Aggregat nicht auf individuelles Verhalten geschlossen werden kann. Darüber hinaus aber haben Falter et al. gezeigt, dass bereits eine Disaggregierung dieser Daten von der gesamten Reichsebene auf die Ebene der 13 Arbeitsamtsbezirke nur noch zu einem ganz schwachen Zusammenhang führt und die weitere Auffächerung auf die Stadt- und Landkreise (865 Einheiten) einen negativen Zusammenhang ergibt. Demnach „... war die NSDAP tendenziell dort erfolgreicher, wo die Arbeitslosigkeit niedriger als im Reichsdurchschnitt lag und umgekehrt“ (Falter et al. 1983: 549). Das heißt nicht, dass die Arbeitslosigkeit bei der NSDAP-Wahl keine Rolle gespielt hat, aber dass der häufig postulierte, unmittelbare Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und NSDAP-Wahl empirisch nicht fundiert ist. Vielmehr kamen Falter et al. zu einem mittelbaren Modell des Einflusses der Erwerbslosigkeit auf das Wahlverhalten (Falter et al. 1983: 551).31
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Zu den grundsätzlichen Problemen der Aggregatdatenanalyse, aber auch den möglichen Anwendungsgebieten, vgl. Bürklin (1988: 37 ff.).
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3.2.2 Erhebung von Individualdaten
Sofern es die Umstände erlauben, wird man angesichts der Probleme mit Aggregatdaten versuchen, beschreibende und erklärende Variablen auf der Individualdatenebene zu erheben, um dem „Warum“ der Wahlentscheidung näher zu kommen. Die beschreibenden Daten sind Informationen zum Verhalten bzw. zum beabsichtigten Verhalten und Angaben zur Person und deren Lebensumständen (Demographie). Die erklärenden Daten sind solche über Einstellungen und Motivationen, Wissen und Beurteilungen von Sachverhalten oder Wissen und Beurteilungen von Handelnden, zum Beispiel Parteien oder Personen. Die Stichprobentechnik und die Nutzung moderner Kommunikationsmittel machen es möglich, in vertretbarer Zeit und bei vertretbarem Mittelaufwand solche Individualdaten zu erfassen, mit denen man viel eher das Wahlverhalten einzelner oder von Gruppen erklären kann. Der sogenannte „Königsweg der empirischen Sozialforschung“ hierzu ist der Einsatz des standardisierten Interviews (König 1952) als einer Möglichkeit vergleichbare, verallgemeinerbare und valide Daten zu erheben. Andere Verfahren, wie wenig oder teilstrukturierte Interviews, setzt man in der Regel zur Hypothesengenerierung ein. 3.2.2.1
Das Interview
Das Interview als Gespräch erscheint auf den ersten Blick ein leichtes Verfahren der Datengewinnung zu sein, weil es keine besonderen Ansprüche an die Beteiligten zu stellen scheint. Bei näherer Betrachtung gibt es jedoch gerade beim Interview sehr viele Fehlermöglichkeiten und Probleme, welche die Qualität der Daten einschränken können. Sie betreffen sowohl die beiden Gesprächspartner, also Interviewer und Befragte, als auch die Mittel des Gesprächs, nämlich Frage und Antwort. Alle diese, die Qualität der Daten möglicherweise einschränkenden Umstände während eines Interviews, müssen genau erkannt werden, um mögliche Fehlerquellen schon im Ansatz ausschalten zu können. Die Sprache
Das Medium des Interviews ist die Sprache. Dies gilt sowohl für das schriftliche als auch für das mündliche Interview und vor allem für dessen wichtige Unterform, das Telefoninterview. Die Sprache ist keinesfalls ein eindeutiges, zweifelsfreies Instrument der Verständigung. Die Sprache ist nicht nur regional, sondern vor allem auch in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft unterschiedlich. Daneben gibt es in Deutschland so etwas wie eine offizielle Sprache. Gemeint ist damit nicht das „Hochdeutsch“, sondern die vor allem durch Juristen geprägte
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Verwaltungssprache, die zum Beispiel im Umgang mit Behörden benutzt wird. Ferner gibt es eine Umgangssprache mit verschiedenen Ausprägungen, zum Beispiel in den verschiedenen Generationen oder noch differenzierter in den verschiedenen Altersgruppen. Um Verständigungsschwierigkeiten beim Interview zu minimieren, muss man deshalb eine Sprache wählen, die möglichst alle verstehen, man muss: „eine Sprache sprechen“. Das ist keinesfalls banal, sondern eine hohe Anforderung, denn die Sprache darf niemanden überfordern, aber auch niemanden unterfordern. Das Ziel im Interview ist, durch eine adäquate Verbalisierung des abzufragenden Objektbereichs im Kopf jedes einzelnen Befragten das gleiche Bild vom Objekt zu erzeugen. Erst dann kann im naturwissenschaftlichen Sinn begonnen werden, die verschiedenen Haltungen oder Auswertungen zum Objekt zu messen und damit vergleichbar zu machen. Bevor man zur Verbalisierung eines Problems kommt, muss dieses zunächst auf seinen wirklichen Kern reduziert werden. Das heißt, es muss zum Beispiel überprüft werden, ob das Problem mehrdimensional ist und wenn ja, welche Dimension zunächst abgefragt werden soll. Es kann immer nur eine Dimension erfragt werden, weil sonst auch bei gelungenster Übersetzungsleistung des Problems in Worte nicht das gleiche Bild bei den Befragten zu erreichen ist. In der Praxis ist die reduktive Diskussion des Problems eine äußerst wichtige und voranalytische Aufgabe, denn in der Regel sind Probleme komplex, und der Auftraggeber oder Forscher ist sich dessen zunächst nicht immer bewusst. Das gilt für die meisten Einstellungsfragen, aber auch für Fragen zum Verhalten oder zum beabsichtigten Verhalten und zum Teil auch für Faktenfragen. Für den Fragesteller gilt die Maxime: Reduktion der Komplexität auf klare, eindimensionale Sachverhalte. Es muss auch geprüft werden, ob es das Problem überhaupt gibt, bzw. ob das Problem zumindest für die Befragten existent ist. Das heißt, ob sie die Chance hatten, mit dem Problem konfrontiert zu werden oder über es zu reflektieren. Wenn dies nicht der Fall ist, erhebt man sog. non-attitudes, also Nichteinstellungen. Befragte sind bei guter Interviewatmosphäre in der Regel freundlich. Sie geben auch dann eine Antwort, wenn sie möglicherweise nicht über das Problem nachgedacht haben. So erhobene Einstellungen sind jedoch für den Befragten völlig unverbindlich und deshalb auch unbrauchbar für irgendeine Art der Analyse, denn bei weiterer Information oder weiterer Reflexion kann sich die Attitüde schnell und grundlegend ändern. Im Zweifelsfall muss deshalb zunächst Wissen über das Problem oder die Relevanz des Problems erhoben werden. Ist das Problem eingeengt, so muss es möglichst schlicht verbalisiert werden. Das heißt die Sprache muss einfach und absolut zielorientiert sein. Einfach heißt:
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung keine komplizierten Sätze keine Fremdworte keine Mehrfachbedingungen keine mehrdeutigen Begriffe
kurz: keine Akademiker- oder gehobene Mittelschichtsprache, sondern eher Formulierungen aus der Alltagssprache. Einfache Sätze heißt: Keine Schachtelsätze mit mehreren Rückbezügen, sondern kurze Folgen von Subjekt, Prädikat, Objekt. Nur ein Begriff oder genauer eine Dimension eines Begriffes kann umgesetzt werden und zwar in deutscher Sprache. Fremdworte, auch wenn sie in aller Munde sind, sollten nicht verwendet werden, denn was die verschiedenen Bildungsschichten mit diesen Fremdworten inhaltlich verbinden, ist in der Regel nicht geklärt. Ein Ausweg besteht darin, dass man ein Fremdwort zunächst übersetzt oder definiert, zum Beispiel „Koalition“ als das Zusammen-Regieren zweier oder mehrerer Parteien und danach das Wort „Koalition“ als kürzeren Ausdruck in der Frage benutzt. Ziel muss aber bleiben, solche Auswege zu vermeiden. Ein einfache Sprache verbietet mehrere Bedingungen in einem Satz. Deshalb heißt die berühmte Sonntagsfrage nicht: „Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre und Sie zur Wahl gingen, was würden Sie wählen?“ Sondern: „Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre, würden Sie zur Wahl gehen,“ und danach als neue Frage: „Welche Partei würden Sie wählen?“ Eine einfache Sprache erlaubt auch keine Begriffe, die unterschiedlich verstanden werden können, wie zum Beispiel Sicherheit des Arbeitsplatzes. Mit diesem Begriff kann sowohl die Sicherheit vor Unfällen am Arbeitsplatz gemeint sein als auch ein dauerhafter Arbeitsplatz. Und selbst wenn bei einer bestimmten öffentlichen Diskussion des Problems die Mehrheit unter der Sicherheit des Arbeitsplatzes einen dauerhaften Arbeitsplatz verstehen würde, wird man diesen Ausdruck nicht verwenden, sondern möglicherweise je nach Situation von der Erhaltung oder der Schaffung von Arbeitsplätzen sprechen. Im ersten Fall wird man aber den Ausdruck „Sicherheit am Arbeitsplatz“ verwenden. Die Gefahr, nicht verstanden zu werden, zwingt zu Formulierungen, die eher der Alltagssprache ähneln und dabei durchaus nicht immer grammatikalisch korrekt sein müssen. Man wird möglicherweise auch Füllworte und Wiederholungen nutzen, um Eindeutigkeit in der Beschreibung des Sachverhalts zu erreichen. Trotzdem muss die Sprache zielorientiert sein. Sie muss versuchen, den Kern des Problems klar und ohne Schnörkel anzusprechen und allen Ballast zu vermeiden. Sie muss durch Klarheit und Einfachheit überzeugen.
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Die Interviewsituation
Die Interviewsituationen in den beiden Formen des mündlichen Interviews, im face-to-face- und im Telefoninterview, sind trotz einiger Gemeinsamkeiten sehr unterschiedlich. Ziel ist es zunächst, in beiden Fällen die Atmosphäre eines guten Gesprächs zu erzeugen, um mögliche Vorbehalte des Interviewten auszuräumen. Das Gespräch sollte offen und partnerschaftlich geführt werden. Es soll das Gefühl erzeugt werden, dass beide Beteiligten aus dem Frage- und Antwortspiel etwas gewinnen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn von der Anlage des Interviews her handelt es sich eher um eine ungleiche soziale Beziehung, den aktiven Teil des Fragestellers und den eher passiven Teil des Antwortgebers. Eine Kommunikation über Inhalte, die über die starre Frageformulierung hinausgeht, ist wegen der angestrebten Gleichheit der abgegebenen Stimuli nicht erwünscht, denn wir sprechen hier über das standardisierte voll strukturierte Interview. Selbst die Gestik bzw. die Stimme des Interviewers darf bei der Fragestellung nicht über eine allgemeine, freundlich ermunternde Grundhaltung hinausgehen, damit die Qualität der zu erhebenden Daten nicht beeinträchtigt wird. Beim Telefoninterview wird dies eher gelingen als beim face-to-face-Interview, da die Kommunikation nur über die Stimme erfolgt und viele ablenkende Einflüsse, die face-toface auftreten können, von vornherein ausgeschlossen sind. Solche störenden Einflüsse können Sympathien oder Antipathien sein, die durch äußere Kennzeichen wie Kleidung, Haarschnitt, Größe, Alter etc. hervorgerufen werden oder perzipierte Statusunterschiede zwischen Befragtem und Interviewer, die zu Hemmungen, zu Zurückhaltungen oder sogar zu Zurückweisungen führen. So ist zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Interviewer von Befragten mit niedrigem Bildungsstatus oder geringem Selbstbewusstsein als der „besser Informierte“ oder „Sachverständigere“ angesehen wird und dadurch Angst vor „falschen Antworten“ entsteht. Diese Anpassung an die perzipierte Meinung des Interviewers, also eine Art Fehlerminimierungsstrategie, führt oft zu einer generellen Zustimmungstendenz, d. h. den Fragen wird zugestimmt, ohne dass ein inhaltlicher Bezug hergestellt wird oder der Befragte versucht, die sozial erwünschte Antwort herauszufinden und gibt sie, um möglichst ohne große Komplikationen aus der Situation herauszukommen. Das Telefoninterview ist in dieser Hinsicht neutraler, distanzierter und deshalb weniger anfällig für solche Störungen. Es ist das ehrlichere Interview, auch weil die Kontrolle über den Ablauf des Gesprächs nicht nur ex post, sondern auch während des Interviews erfolgen kann und dann schnell entsprechende Konsequenzen gezogen werden können.
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Für die Interviewsituation, insbesondere für die Kontaktphase, müssen Interviewer besonders geschult werden. Der erste Kontakt ist vielfach entscheidend dafür, ob das Interview zustande kommt und ob genügend Vertrauen aufgebaut werden kann, um zu ehrlichen Antworten im weiteren Verlauf des Interviews zu gelangen. Insgesamt ist der Interviewer ein äußerst wichtiger Faktor bei der Erhebung valider Daten. Er muss auf der einen Seite Kompetenz bei der Erledigung der Aufgabe ausstrahlen, also sicher und bestimmt auftreten können, und auf der anderen Seite eine möglichst neutrale unbeeinflussende Rolle bei der Durchführung des Interviews spielen. Er muss zu einer klaren und flüssigen Artikulation der (vorgegebenen) Fragen fähig sein und gleichzeitig aktiv zuhören können, d. h. über die Antwortkategorien hinaus dem Befragten das Gefühl geben, dass er sehr genau zuhört, eventuell durch bestätigende Äußerungen wie „hm“, „aha“ oder „ich verstehe“, ohne zu beeinflussen. Er muss deutlich machen, dass er die Antwort der Befragten und auch deren Wortwahl ernst nimmt, ohne die Strukturierung des Fragebogens zu verlassen und ohne dem Interviewten Raum zu lassen, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Die Aufgaben des Interviewers sind komplex. Deshalb bedarf es einer guten und ausführlichen Schulung und einer immer wiederkehrenden Vertiefung der Lehrinhalte des Interviews (vgl. Friedrichs 1985: 215 ff.). Im Telefoninterview ist die Stimme des Interviewers von großer Bedeutung. Es muss eine offene, klare, sympathische Stimmlage sein, die durchaus eine regionale Färbung haben kann, aber keinen starken Dialekt erkennen lassen darf. Eine „junge“ Stimme ist in der Regel sehr vorteilhaft für das telefonische Interview. Die Stimme muss neugierig machen, mehr zu erfahren. Es muss eine angenehme Stimme sein, die den Wunsch erzeugt, sie länger zu hören. Bei der Rekrutierung von Interviewern ist die „Telefonstimme“ deshalb das erste wichtige Auswahlkriterium. Studenten erfüllen sehr oft die Anforderungen an Telefoninterviewer: die Artikulationsfähigkeit ist in der Regel recht gut, die Stimme jung, die Lernfähigkeit hoch, um Einzelheiten der Untersuchung schnell zu verstehen und diese adäquat umzusetzen. Für das face-to-face-Interview eignen sich Studenten nur mit Einschränkungen. Zusätzliche Anforderungen an diese Interviewertätigkeit sind: Seriosität im Auftreten, was sich in äußeren Attributen ausdrückt, wie Kleidung, ein gewisses Alter sowie eine gewisse Unauffälligkeit oder Unaufdringlichkeit der Person und hohes Pflichtbewusstsein in der Abwicklung des Interviews. Die sog. Feldarbeit des face-to-face-Interviews ist ungleich schwieriger zu kontrollieren als die zentrale Durchführung von Telefoninterviews. Da auch die Bezahlung in beiden Fällen in der Regel unterschiedlich ist (beim Telefoninterview nach Zeit, beim face-to-face-Interview nach Stück, d. h. pro erfolgreich durchgeführtem Interview), wenden sich die positiven Eigenschaften der Lernfähigkeit von Studenten
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und eine gewisse ökonomische Orientierung oftmals gegen das beauftragende Institut, weil zur Maximierung individueller Ziele möglicherweise die Auswahlkriterien zur Stichprobe nicht mehr genau eingehalten werden oder Interviews selbst ausgefüllt werden, was schlicht zu unbrauchbaren Daten führt. Der Prototyp des idealen face-to-face-Interviewers ist deshalb die pflichtbewusste, seriöse, gut, aber nicht aufdringlich gekleidete, freundlich und offen auftretende Person mittleren Alters, der man nicht die Tür vor der Nase zuschlagen kann, ohne sich wirklich schlecht zu fühlen. Insbesondere für das face-to-face-Interview gibt es neben den genannten allgemeinen Verzerrungen, wie zum Beispiel der Erhebung von non-attitudes oder den beschriebenen Intervieweffekten auf der Grundlage von Antipathie oder Sympathie, einige kritische Bedingungen, welche die Qualität der Daten herabsetzen können. Dazu gehört die Anwesenheit von dritten Personen beim Interview sowie das Hineinschauen oder Mitlesen der zu Befragenden in den Fragebogen. Die Anwesenheit Dritter, insbesondere die enger Familienmitglieder, kann die Antworten auf Einstellungsfragen und sogar Faktenfragen stark verändern, zum Beispiel die Anpassung der Meinung der Ehefrau als Befragte an die des anwesenden Ehemanns (vgl. Friedrichs 1985: 219). Der häusliche Friede ist allemal wichtiger als die ehrliche Beantwortung von Fragen eines Interviewers. Auch die Kenntnis von Antwortkategorien, die über die vorgelesenen hinausgehen, durch Mitlesen im Fragebogen, verändern das Antwortverhalten in Richtung der Nutzung sogenannter „grauer Kategorien“, darunter versteht man Antwortmöglichkeiten, die nicht vorgelesen werden (in der Regel eher neutrale Antwortkategorien), aber im Fragebogen und Codeplan stehen. Untersuchungen der Forschungsgruppe Wahlen haben gezeigt, dass durch die Anwesenheit eines Interviewers vor Ort und damit als Folge direkter sozialer Interaktion der Anteil der „weiß nicht“ -Antworten im Vergleich zu einem zeitund wortgleich durchgeführten Telefoninterview stark zurückgeht. Dies deutet darauf hin, dass das Anpassungsverhalten oder auch die Angst vor dem „weiß nicht“ bei physischer Präsenz des Fragestellers ungleich größer ist als beim distanzierteren und anonymeren Telefoninterview. Das auf den ersten Blick positivere Ergebnis des face-to-face-Interviews erweist sich demnach bei näherem Hinsehen als Trugbild. Darüber hinaus führt die Durchführung vieler Interviews bei jedem Interviewer zu bestimmten Lerneffekten, die das Antwortverhalten von Befragten bei unklaren Antwortvorgaben, langen Frageblöcken oder fragenspezifischen Schwierigkeiten betreffen. Diese Lerneffekte verleiten dazu, bei bestimmten Fragen oder Frageblöcken von der vorgegebenen Struktur des Fragebogens abzuweichen, was bis zu einem selbständigen Ausfüllen der Fragebögen reichen
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kann. Diese Gefahr ist beim face-to-face-Interview ungleich größer als beim zentral und kontrolliert durchgeführten Telefoninterview. Weitere Verzerrungen von Antworten können durch die Nennung des Auftraggebers einer Studie auftreten, also zum Beispiel der Name Shell während der Brent-Spar-Affäre. Solche „Sponsor-Effekte“ sollten möglichst vermieden werden. Ein Großteil der möglichen, die Daten beeinflussenden Fehler, kann durch die Frageformulierung selbst oder durch die Positionierung im Fragebogen verursacht sein. In welchem Umfang bei Beginn eines Interviews Informationen über Inhalt, Länge und Auftraggeber der Untersuchung gegeben werden sollen, ist umstritten (Frey et al. 1990: 119 ff.). Einerseits muss eine Atmosphäre der Seriosität und des Vertrauens hergestellt werden, wozu bestimmte Informationen über den Interviewer (Name), das erhebende Institut (Name, Bereich) und das Thema unausweichlich sind. Andererseits darf jedoch nicht zuviel über den Untersuchungsgegenstand (zum Beispiel Politik) gesagt werden, um ablehnende Reaktionen zu vermeiden. Das Ziel, insbesondere bei bevölkerungsrepräsentativen Befragungen, muss die optimale Erfüllung der Stichprobe sein, d. h. aber auch nicht zu viel Rücksicht auf persönliche Dispositionen des Befragten zum Zeitpunkt des Interviews nehmen zu können. Andererseits wird bei grober Verletzung der Fairness-Standards nicht die notwendige Vertrauensatmosphäre zur erfolgreichen Durchführung des Interviews bestehen. Die Vorphase oder Überzeugungsphase vor der eigentlichen Frage-Antwort-Situation ist deshalb besonders kritisch und bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit bei der Schulung der Interviewer. Neben den genannten Kriterien der Sprache und Stimme des Interviewers, insbesondere bei der Telefonbefragung, müssen vertrauensbildende Voraussetzungen wie die Bekanntheit und die Seriosität des Erhebungsinstituts gegeben sein und es müssen Angaben über die Anonymität der Befragung, die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung, Freiwilligkeit der Teilnahme, Zufälligkeit der Auswahl, die Zugänglichkeit der Untersuchungsergebnisse bzw. deren Veröffentlichung etc. parat sein, und es muss vor allem der Nutzen der Teilnahme vermittelt werden. Durch briefliche oder telefonische Vorab-Informationen kann die Bereitschaft zur Teilnahme gesteigert werden (Dillman 1978). Ob der dabei auftretende Zeit- und Kostenaufwand in einem vertretbaren Verhältnis zur Qualitätsverbesserung steht, ist offen. 3.2.2.2
Frage und Fragebogen
Eine Frage ist die Operationalisierung einer Hypothese. Diese ist Teil eines theoretischen Modells über den Zusammenhang von abhängigen und unabhängigen
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Variablen. Variable sind Eigenschaftsdimensionen der Untersuchungsobjekte Wähler oder Wahlberechtigte in bestimmten Ausprägungen. Sie müssen in differenzierter und messbarer Form vorliegen und entstehen als strukturierte oder normierte Antworten auf Fragen des Interviewers in einer Befragung. Damit sind sie Daten, die eine Überprüfung von Hypothesen möglich machen. Die Frageformulierung wird häufig als Kunst bezeichnet, ein guter Fragebogen als ein Kunstwerk (Payne 1951). Dem ist prinzipiell nicht zu widersprechen, insbesondere unter der ganzheitlichen Sicht von Frage und Fragebogen. Trotzdem kann man sich bei der Formulierung von Fragen heute bereits auf ein relativ umfangreiches Regelwerk stützen, das auf der Basis von empirischen Studien und Experimenten entstanden ist (Frey et al. 1990: 114 mit weiterführender Literatur). Es ist allerdings ratsam, diese „Regeln“ nicht blind anzuwenden, sondern hauptsächlich als ernstzunehmende Hinweise zu betrachten, die auf die spezielle Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung ausgerichtet sein müssen und die Eigenheit des Themas beachten. Frage und Fragebogen sind immer ein Ganzes (Labaw 1980). Das Instrument und die Kommunikation müssen zusammen entwickelt werden und in sich stimmig sein. Wenn auch nachfolgend die Frageformulierung und die Abfolge der Fragen getrennt behandelt werden, so sind beide jedoch als ein Konstrukt zu verstehen. Die erste Grundregel für die Frageformulierung ist, dass nicht alles erfragbar ist, was der Laie als erfragbar betrachtet. Dies gilt insbesondere für das Erfassen von Verhalten oder Verhaltensabsichten, einem zentralen Bereich der Wahlforschung. Die beste Messung von Verhalten ist das kontrollierte Beobachten, die zweitbeste ist die Abfrage unmittelbar nach dem Verhaltensakt, die bei weitem fehleranfälligste ist die Messung von beabsichtigtem Verhalten, v.a. weit vor einem Ereignis. Da dies in der Regel die erwünschte Information ist, müssen viele Informationen in der Wahlforschung analytisch erarbeitet werden und können nicht über eine Abfrage gewonnen werden. Und dies gilt nicht nur für die Wahlforschung. Weil Verhalten oder zukünftiges Verhalten nur schwer zu erfragen ist, versucht man die Bedingungen des Verhaltens zu erfragen. Das sind, wie wir aus der Theorie wissen, Einstellungen und Eigenschaften des Individuums. Wir finden in wahlsoziologischen Untersuchungen deshalb drei Arten von Fragen: Fragen zum Verhalten, Fragen zu Einstellungen, Meinungen, Haltungen und Bewertungen und Fragen zu Eigenschaften, in der Regel strukturelle Eigenschaften oder Kontextbedingungen.
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3.2.2.2.1 Verhaltensfragen Die größte Gefahr bei der Formulierung von Fragen zum Verhalten besteht darin, dass man Antworten zu sozial erwünschtem Verhalten provoziert (Esser 1984, Koschnick 1984). Neben der bereits erwähnten Verzerrung von Daten in der Interviewsituation, bei der zum Beispiel durch die Dominanz des Interviewers Anpassungsverhalten des Befragten erzeugt wird, der Interviewte dieser Einzelperson gegenüber also möglichst nicht unangenehm auffallen möchte bzw. Angst vor abweichendem Verhalten hat, kennt man die kulturelle (soziale) Erwünschtheit eines Verhaltens. Als Beispiel sei hier zunächst die Frage nach der Wahlbeteiligung genannt. Die Beteiligung an einer Wahl wird in vielen Demokratien, insbesondere in jüngeren Demokratien – und dazu zählt auch noch die Bundesrepublik -, als Bürgerpflicht angesehen. In der Tat sind die Wahlbeteiligungsraten in Deutschland mit rund 80% bei Bundestagswahlen nach wie vor sehr hoch. Bei 90%iger Wahlbeteiligung oder darüber (wie in den siebziger Jahren in der alten Bundesrepublik oder bei der ersten freien Wahl in der DDR im März 1990) muss man sogar von einer totalen Beteiligung ausgehen, denn die verbleibenden Anteile der Wahlberechtigten sind kaum zur Stimmabgabe zu bewegen, entweder weil sie zu alt und zu gebrechlich sind, irgendwelchen antidemokratischen Minderheiten angehören oder es sich einfach um Verwaltungsfehler handelt (Lavies 1973: 3153).32 Trotzdem messen wir bei Fragen nach der Wahlbeteiligung, insbesondere auf der Landesebene, weit überhöhte Werte im Vergleich zur tatsächlichen Beteiligung bei der entsprechenden Wahl. Der Grund hierfür ist ganz einfach die Abfrage eines sozial bzw. kulturell erwünschten Verhaltens, gegen das man ungern verstoßen möchte. Sich als „Nicht-Wähler“ zu outen ist entweder eine besonders mutige oder inzwischen auch bewusste Äußerung. Um aber die Hürde für das Bekennen zu abweichendem Verhalten möglichst niedrig zu halten, wird man in der Frageformulierung versuchen, den Nichtwählern oder potentiellen Nichtwählern entgegenzukommen. Eine Möglichkeit besteht darin, abweichendes Verhalten zu enttabuisieren, zum Beispiel mit der Frageeinleitung:
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Einige Wahlberechtigte tauchen beispielsweise doppelt auf oder bereits Verstorbene sind nicht ausgetragen.
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Es gibt ja gute Gründe, nicht zur Wahl zu gehen. Wie ist es bei Ihnen: Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl (Landtagswahl etc.) wäre, würden Sie dann zur Wahl gehen? - Ja - Nein - weiß nicht - verweigert
Eine zweite Möglichkeit besteht darin, den Grad der Entschlossenheit abzufragen, also zum Beispiel: Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würden Sie dann... -
auf jeden Fall zur Wahl gehen? wahrscheinlich zur Wahl gehen? wahrscheinlich nicht zur Wahl gehen? oder auf keinen Fall zur Wahl gehen? - weiß nicht - verweigert
Eine dritte Möglichkeit besteht in einer Nachfrage nach der Sicherheit des Entschlusses und eine vierte Möglichkeit in der Kombination der hier vorgestellten enttabuisierten Frage mit der Abfrage des Entschlossenheitsgrades. Trotzdem ergibt keine der Varianten eine einigermaßen verlässliche Messung der Wahlbeteiligung, insbesondere bei Wahlen niedrigerer Ordnung, den Landtagswahlen, Kommunalwahlen und Wahlen zum Europaparlament. Dagegen hat ein allerdings aufwendiges Instrument, bei dem nach der persönlichen Wichtigkeit der verschiedenen Parlamentsebenen im Vergleich gefragt wird, über mehrere Jahre hinweg die „richtigen“ Beteiligungswerte erbracht. Dabei wurde bewusst die Messung eines zukünftigen Verhaltens durch eine Messung auf der Einstellungs- bzw. Bewertungsebene ersetzt. Wie wichtig sind für Sie die Entscheidungen der verschiedenen Parlamente? Sind die Entscheidungen, die im Gemeinderat bzw. Stadtrat getroffen werden, für Sie persönlich ... -
sehr wichtig wichtig weniger wichtig oder unwichtig - weiß nicht - verweigert
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Sind die Entscheidungen, die im Landtag getroffen werden, für Sie persönlich ... -
sehr wichtig wichtig weniger wichtig oder unwichtig - weiß nicht - verweigert
Sind die Entscheidungen, die im Bundestag getroffen werden, für Sie persönlich ... Sind die Entscheidungen, die im Europaparlament getroffen werden, für Sie persönlich ... [Antwortkategorien analog Landtag]
Die summierten Antworten „sehr wichtig“ und „wichtig“ ergaben kurz vor sämtlichen Europawahlen seit 1979 ziemlich genau die tatsächliche Wahlbeteiligung bei diesen Wahlen und für die anderen Wahlebenen jeweils sehr gute Annäherungen. In die gleiche Problematik wie die Wahlbeteiligung fällt auch die „kulturelle“ Tabuisierung von extremen Parteien als negative, also Nicht-Erwünschtheit eines Verhaltens. Rechtsextreme und zum Teil auch linksextreme Parteien werden mit der sogenannten Sonntagsfrage unterschätzt, wobei das Ausmaß dieser Unterschätzung von der allgemeinen Stimmung gegenüber diesen Parteien zum Zeitpunkt der Messung abhängt. Wenn also in einer Atmosphäre stärkerer allgemeiner Fremdenfeindlichkeit gemessen wird, ist die Tabuisierung rechtsextremer Parteien geringer, und die erhobenen Daten sind „richtiger“ als zu Zeiten geringerer Fremdenfeindlichkeit. Um aus den erhobenen Daten analytisch brauchbare Daten machen zu können, müssen zusätzliche Informationen über Einstellungen oder Stimmungen erfasst werden. Die Erfahrung der nicht vollständigen Erfassung der Wähler extremer Parteien ist keinesfalls nur ein deutsches Problem, sondern tritt auch in anderen europäischen Ländern auf, zum Beispiel schon immer in Frankreich bei der Ermittlung der Stimmenanteile für die Kommunisten. Eine ebenfalls problematische Verhaltensfrage in der Wahlforschung ist die sogenannte recall- oder Rückerinnerungsfrage an früheres Wahlverhalten. In der Regel trifft man in der Summe aller durchgeführten Interviews das alte Wahlergebnis nicht. Nun wäre es irreführend, wenn man die Abweichung als Effekt eines Stichprobenfehlers ansehen würde. Zur Erklärung der Differenzen zum tatsächlich zurückliegenden Wahlverhalten müssen vielmehr verschiedene Feh-
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lerquellen herangezogen werden, die in Kapitel 3.1 beschrieben sind. Der Wert der Antworten auf die Rückerinnerungsfrage wird damit sehr in Frage gestellt. Wechselbetrachtungen auf der Basis von Wahlabsicht und recall stehen deshalb auf tönernen Füßen (Laemmerhold 1983). Eine andere Frage zum Verhalten, die in der Wahlforschung als Operationalisierung der Kirchennähe verwendet wird, die Häufigkeit des Kirchgangs, ist dagegen relativ unproblematisch, wobei den unterschiedlichen Kirchgangsgewohnheiten von Katholiken und Protestanten Rechnung getragen werden muss bzw. der unterschiedlichen Zahl der angebotenen Messen bzw. Gottesdienste durch die verschiedenen Kirchen. Die Genauigkeit der Messung steht bei der im folgenden vorgestellten Frage nicht im Vordergrund. Man versucht mit ihr eine ordinale Messung zu erreichen, d. h. die Antworten können als Rangordnung (als größer/kleiner oder häufiger/weniger häufig) interpretiert werden, wobei es beim Forschenden liegt, die Unterteilungen des Messniveaus zu definieren oder einer Konvention zu folgen. Wie oft gehen Sie im allgemeinen zur Kirche? Gehen Sie... -
jeden Sonntag, fast jeden Sonntag, ab und zu, einmal im Jahr seltener oder nie? - verweigert
Der Untersuchende wird dann je nach Fragestellungen und Analyseabsicht, nehmen wir an, er möchte eine trichotome Variable bilden, die Ausprägung der Kirchennähe der evangelischen Befragten möglicherweise anders definieren als die der katholischen Befragten. Man kann Kirchennähe empirisch auch völlig anders erfassen, zum Beispiel als ideologische Übereinstimmung des Befragten mit Leitsätzen oder Glaubenssätzen einer Kirche. Dabei würde man den Weg über eine Attitüdenmessung gehen, bzw. die (abgestufte) Akzeptanz oder Ablehnung inhaltlicher Aussagen abfragen. Eine Frage zum Verhalten, die gleichzeitig auch eine Attitüdenkomponente einschließt, ist die Erfassung des politischen Interesses der Befragten. Mit der Frage, „Einmal ganz allgemein gesprochen, interessieren Sie sich für Politik?“, wird mit einiger Sicherheit auch sozial (kulturell) erwünschtes Verhalten abgefragt. Die Begründung ist dabei weitgehend identisch mit der bei abgefragter Wahlbeteiligung. Ein aktiver, politisch interessierter Mitbürger ist das Ideal.
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Weil das so ist, sollte man das Ergebnis vor der Einbeziehung in die Analyse validieren. Die Validierung der erfassten Antworten kann auf zwei Arten geschehen: Man gibt denjenigen, die angeben sich für Politik zu interessieren, die Möglichkeit, die Stärke des Interesses abgestuft wiederzugeben, was dazu führen kann, dass einige zunächst Interessierte bei der Nachfrage als Nichtinteressierte wieder auszuscheiden (Angabe: nicht so stark interessiert). Oder aber man gibt den Befragten von vornherein mit einer einstufigen Abfrage die Möglichkeit, die Stärke ihres politischen Interesses anzugeben. Eine Außenvalidierung würde darin bestehen, über die Intensität der Aufnahme politischer Informationen, zum Beispiel bei der Mediennutzung oder der Diskussion politischer Themen mit Freunden, Verwandten oder am Arbeitsplatz, ein Kriterium zur Beurteilung der Stärke des politischen Interesses zu finden. Jemand, der sich als politisch interessiert bezeichnet, politische Informationen aber kaum oder nur gelegentlich wahrnimmt, ist anders zu beurteilen als ein politisch Interessierter, der sich regelmäßig aus mehreren Quellen informiert. Auch hier zeigt sich, dass das Abfragen von Verhalten eher schwierig ist und die gewählte Antwortkategorie bei einer einzigen Frage nicht überinterpretiert werden sollte. Wie stark interessieren Sie sich für Politik? -
sehr stark, stark, etwas, kaum oder oder gar nicht? - verweigert
Die das höchste öffentliche Interesse hervorrufende Verhaltensfrage ist die sogenannte Sonntagsfrage, die Frage nach der Wahlabsicht. In der Regel folgt sie im Anschluss an die Frage nach der Beteiligung an der Wahl. Sie wird in etwas unterschiedlicher Form benutzt. Um die jeweilige Formulierung wurde in der Vergangenheit heftig gestritten. Macht man sich klar, dass sie, zumindest zwischen Wahlen, nur eine von mehreren Möglichkeiten der Messung der Parteinähe ist, so erscheint der Streit müßig. Mit der Wahlabsichtsfrage kann die jeweilige Stimmung gegenüber den Parteien zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr gut gemessen werden, nicht aber deren Wahlergebnis zum Zeitpunkt X oder sogar zu einem weit in der Zukunft liegenden Zeitpunkt. Das liegt nicht an der Frageformulierung, sondern an den Determinanten des Wahlverhaltens, die nur zu einem Teil aus aktuellen Stimmungseinflüssen bestehen (vgl. Kap. 2). Man würde einen großen Teil der Wähler völlig überfordern, wenn man annähme, dass diese die Einflussfaktoren auf
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ihre Entscheidung zu allen verschiedenen Zeitpunkten entsprechend reflektieren oder sogar mögliche zukünftige Einflüsse einbeziehen. Die Wahlabsichtsfrage kann ex definitione kein Verhalten messen, und selbst beabsichtigtes Verhalten nur zum Teil, weil der Wähler in wahlfreien Zeiten insbesondere situative Faktoren weitgehend ausblendet. Zu diesen situativen Faktoren gehören der Wahlkampf, insbesondere seine mobilisierenden Momente, die Konzentration auf Veränderung oder Wechsel, die politische Diskussion mit Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen, der konkrete Zeitraum für die Entscheidung usw. Die geäußerte „Entscheidung“ für eine Partei in einer Umfrage bleibt zumindest für den Teil der parteilich wenig oder nicht gebundenen Wähler und die potentiellen Wechselwähler ohne Verbindlichkeit. Sie reflektiert lediglich die zeitlich begrenzte, relative Nähe zu einer Partei zum Zeitpunkt der Befragung. Die gleiche Frage gewinnt in der Zeit unmittelbar vor einer Wahl eine andere Bedeutung, und dann kommt es durchaus auch auf deren Formulierung an. Um die Hürden für eine „ehrliche“ Beantwortung möglichst niedrig zu halten, wurden verschiedene Ausprägungen der Wahlabsichtsfrage empirisch überprüft. Bereits in den sechziger Jahren versuchte man die sogenannte Wahlsimulation. Man übergab den Befragten einen Wahlzettel (dem wirklichen Abstimmungsformular nachgebildet) und forderte ihn auf, (möglichst unbeobachtet) den Kandidaten seiner Wahl und die Partei seiner Wahl einzukreuzen. Der Wahlzettel kam in ein Kuvert, das Kuvert wurde verschlossen und in eine „Wahlurne“ (einen Pappkarton) geworfen oder an das Interview angeheftet. Dieser ganze Vorgang sollte eine möglichst lebensechte Wahl simulieren und dem Befragten das Gefühl der Anonymität der Entscheidung vermitteln. Das „Wahlgeheimnis“ sollte gewahrt bleiben. Das Verfahren war aufwendig und der Erfolg gering. Weder wurden die Wahlbeteiligungsraten getroffen, noch konnten damit die Anteile der Parteien zuverlässig ermittelt werden. Der Aufforderungscharakter in der Interviewsituation, „sich an der Wahl zu beteiligen“, war hoch, die zugesicherte Anonymität offensichtlich nicht ausreichend glaubwürdig, zumindest für Teile der Befragten. Ein weiteres Verfahren zur Reduzierung der Hemmschwelle, eine Wahlabsicht zu nennen, bestand darin, dem Befragten eine Liste mit den Namen der Parteien bzw. denen der Kandidaten auszuhändigen, wobei jedem Namen eine Zahl oder ein Buchstabe zugerechnet war. Der Befragte antwortete dann nicht mit dem Namen der Partei oder des Kandidaten, sondern nur mit einer Zahl oder einem Buchstaben. Auch diese Form der Abfrage brachte nicht den großen Durchbruch zu „richtigen“ Ergebnissen. Die heutige Frageformulierung, wie sie in einem Telefoninterview benutzt wird, steht unmittelbar nach der Frage der Wahlbeteiligung und lautet:
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Und welche Partei würden Sie dann wählen? -
die CDU (in Bayern CSU vorlesen), die SPD, die Grünen, die FDP, die Linke, die NPD, die Grauen (Panther), die Ökologisch-Demokratische Partei, oder eine andere Partei? - verweigert
In den letzten Wochen vor der Wahl, wenn man annehmen kann, dass durch die Aktivitäten der Parteien die Bedeutung von Erst- und Zweitstimme stärker ins Bewusstsein der Wahlberechtigten gedrungen ist,33 wird die Frage modifiziert in eine getrennte Abfrage der Wahlabsicht bei Erst- und Zweitstimme. Die größte Präzision der Messung des Wahlverhaltens erreicht man jedoch beim sogenannten exit poll unmittelbar nach dem Wahlakt mit der Frage: „Welche Partei haben Sie gerade bei der ...-Wahl gewählt?“ (siehe Kasten exit poll auf Seite 83). Auch hier treten Abweichungen in den Antworten zum tatsächlichen Verhalten bei tabuisierten Parteien (rechtsextreme und manchmal auch linksextreme Parteien) auf, die korrigiert werden müssen. Diese Korrekturen werden mit Gewichtungsfaktoren vorgenommen, die auf Erfahrungswerten beruhen. Die für die Analyse sehr brauchbaren Daten aus exit polls lassen allerdings nur eine Untersuchung der Urnenwähler zu. 3.2.2.2.2 Fragen zu Meinungen, Einstellungen und Bewertungen Wenn es auch der Wahlforschung nur schwer gelingt, Verhalten oder Verhaltensabsichten mit Hilfe von Fragen und Antworten einigermaßen exakt zu messen, so bleibt ihr doch wenigstens das Vorfeld von Verhaltensentscheidungen mit Fragen zu ergründen. Man unterscheidet dabei zwischen Einstellungen, die sich in der Regel aufgrund von Erfahrungen bilden und deshalb zeitstabiler sind, und Meinungen, die in der Regel zu aktuellen Themen bestehen, oftmals informationsabhängig sind und weniger zeitstabil. Logischerweise kann eine Meinung zu einer Einstellung werden, aber nicht umgekehrt. Wohl aber können sich Mei33 Untersuchungen zur Kenntnis der Bedeutung von Erst- und Zweitstimmen haben gezeigt, dass diese zwischen den Wahlen korrekt nur bei etwa einem Drittel der Wahlberechtigten vorhanden ist. Kurz vor der Wahl liegt diese Kenntnis dann bei ca. 50% (Messungen aus dem Jahr 1994).
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nungen ohne größere zusätzliche Informationen auf der Basis einer (Grund-) Einstellung bilden oder von ihr ableiten lassen. Als weitere wichtige vorgelagerte Disposition der Entscheidung für eine Partei oder einen Kandidaten betrachtet man Bewertungen, also Leistungsbeurteilungen oder relevante Eigenschaftsmessungen. Meinungsfragen
Ein Beispiel für eine Meinungsfrage zu einem immer wieder aktuellen Thema ist: Glauben Sie, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union – alles in allem gesehen – der deutschen Bevölkerung... -
eher Vorteile bringt, dass sie eher Nachteile bringt, oder dass sich Vor- und Nachteile ausgleichen? - weiß nicht - verweigert
Die Frage kann auch bei völlig unterschiedlichem Informationsstand der Befragten beantwortet werden. Sie erfüllt also das Kriterium einer fairen Frage ohne Über- oder Unterforderung. Sie ist eher eine Stimmungsfrage. Es werden keine Expertenantworten erwartet, sondern eher Antworten, die als Reflexion der öffentlichen politischen Debatte über die EU interpretiert werden können. Die Frage eignet sich als Zeitreihenfrage, um Stimmungsveränderungen aufzuspüren, behandelt aber nur summarisch die Haltung zu einer konkreten politischen Struktur. Die Frage erfüllt die formale Ausgeglichenheit des positiven und negativen Beantwortungsastes mit einer inhaltlich gerechtfertigten Mittel- bzw. Ausgeglichenheitsposition. Eine aus den Antworten gebildete Variable hätte drei inhaltliche Ausprägungen und eine ‘weiß nicht’ – bzw. Antwortverweigerungskategorie. Letztere erreichte zum Beispiel im Politbarometer 2/98 oder auch 6/07 eine Größenordnung von knapp 6 %, was ein weiterer empirischer Hinweis darauf ist, dass es sich um eine „brauchbare“ Frage handelt. Um das Thema „Europäische Union“ als Ganzes zu behandeln, genügt eine solche summarische Meinungserhebung natürlich nicht. Sie müsste um Perzeptionen der Auswirkungen auf den Befragten persönlich (z.B. Arbeitslosigkeit, Preise, Folgen der EU-Gesetzgebung) und um eine zeitliche Perspektive erweitert werden. Vor allem müsste die Wahrnehmung der Mitgliedschaft und damit ihre (sektorale) Relevanz für die einzelnen, eventuell auch im Vergleich zu anderen politischen Ebenen (Land, Bund, NATO, UNO) erhoben werden, um den
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Stellenwert, den die EU-Mitgliedschaft für den Einzelnen hat, abschätzen zu können und schließlich die Interessenvertretung durch einzelne Parteien oder alternative Regierungen im Rahmen der EU-Mitgliedschaft. Ein Großteil des Einflussfaktors ‘aktuelle Politik’ kann nur über Meinungsfragen erfasst werden. Bei der Operationalisierung dieser möglichen kurzfristigen Einflüsse haben sich bestimmte Routinen herausgebildet. Das folgende Beispiel ist eine Standardfrage aus dem Politbarometer. Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem in Deutschland? (Beispiel aus dem Juni 2007) - Arbeitslosigkeit/Arbeitsplätze/Ausbildungsplätze - Ausländer, Zuwanderung, Integration, Asyl - Renten/Alte/Alterssicherung - Streit in der Regierung/Koalition - Gesundheitswesen/-reform/Pflegeversicherung - Hartz IV - Kürzungen von Sozialleistungen - Lebenshaltungskosten/Preise/Benzinpreise/Inflation - EU/Europa - Türkeibeitritt zur EU - Löhne/Arbeitszeitregelung - Tarifstreit/Streik/Gewerkschaften - Bürokratie - Steuern, Steuererhöh., Kürz. Steuervergünstigungen - Wirtschaftsaufschwung/-lage - Staatsverschuldung - dt. Einheit: Probleme/Finanzierung/Abwanderung - Parteien-/Politikverdruss/-affären - Pessimismus/Jammern/Perspektivlosigkeit - Rechtsradikale/Rechtsextreme/NPD/Antisemitismus - Landwirtschaft/Lebensmittel allgemein - Umweltschutz/Klima/Klimawandel - Atomkraftwerke/Atomtransport - Mieten/Wohnungsmarkt - Verkehrsprobleme/Straßenbau/Maut - Islam/Islamismus - Terrorismus/Anschläge - Atomstreit (Iran/Nordkorea) - Irak/Entführungen im Irak - Bundeswehr-Auslandseinsätze/Afghanistan - Frieden/Entspannung - Israel/Palästina/Naher Osten - Schule/Bildung/PISA - Familie/Kinder/Jugend - Nichtraucherschutz/Rauchverbot - soziales Gefälle/Arm-Reich/„Unterschicht“ - Moral/Werte - Sonstige Probleme (!!!Notieren!!!)
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Mit einer offenen Frage mit Feldvercodung34 werden die aktuell die Wähler bewegenden Themen erfasst. Die Antworten geben in der Regel die öffentliche Diskussion in den Medien wieder bzw. die daraus abgeleiteten Ängste und Hoffnungen der Befragten, zum Beispiel Arbeitslosigkeit/Arbeitsplätze, Rechtsradikalismus, Alterssicherung/Renten, Steuerdebatte, Wirtschaftslage/Wirtschaftsaufschwung usw. Diese oft ungerichteten Probleme (man kann nicht sofort Zustimmung oder Ablehnung erkennen) werden in konkrete politische Aufgaben umformuliert und hierzu die Lösungskompetenzen von Politikern, Parteien oder Regierungen erfragt: Welche Partei ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, neue Arbeitsplätze zu schaffen? - CDU - CSU - CDU/CSU - SPD - Bündnis90/Grüne - FDP - die Linke - NPD/Republikaner/DVU - sonstige - keine - verweigert
Unabhängig davon wird die persönliche Wichtigkeit dieser Themen erfragt oder die Betroffenheit in anderer Form, zum Beispiel: Und ist der EURO für Sie persönlich ... -
ein sehr wichtiges Thema, ein wichtiges Thema, nicht so wichtig oder überhaupt nicht wichtig? - verweigert
34
Bei einer offenen Frage werden keine Antwortvorgaben gemacht. Um die Auswertung zu erleichtern, hat der Interviewer vorcodierte Antwortkategorien, denen er die Antworten zuordnen kann, aber nicht muss. In Zweifelsfällen hat der Interviewer die Optionen beim Befragten nachzufragen, ob das genannte Problem nach dessen Ansicht in eine bestimmte, vorgegebene Antwortkategorie passt, oder er kann es unter „sonstiges Problem“ aufschreiben bzw. eingeben. Alle „sonstigen Probleme“ werden schon im Laufe der Feldzeit von Hand vercodet, d. h. einer vorhandenen Kategorie zugeordnet, zu einer neuen Kategorie zusammengefasst oder in der Kategorie „sonstiges Problem“ belassen.
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Oder: Gibt es unter den Menschen, die Ihnen nahe stehen, jemanden, der arbeitslos ist? - Ja - Nein - verweigert
-> Filter über nächste Frage
Und gibt es unter den Menschen, die Ihnen nahe stehen, jemanden, dessen Arbeitsplatz gefährdet ist? - Ja - Nein - verweigert
Als weiteres Beispiel: Fühlen Sie sich durch Kriminalität bei uns bedroht? - Ja - Nein - verweigert
Wenn konkrete Lösungen diskutiert werden, können auch diese mit oder ohne Nennung der dahinterstehenden Parteien oder Politiker abgefragt werden. Ein erstes Beispiel: Zum Thema Mindestlohn: In der Bauwirtschaft ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass alle Arbeitskräfte als Mindestlohn den niedrigsten Tariflohn erhalten müssen. Sind Sie ...... - dafür, dass auch in anderen Branchen alle Arbeitskräfte als Mindestlohn den niedrigsten Tariflohn erhalten sollen oder - sind Sie dagegen ? - weiß nicht - verweigert
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Ein weiteres Beispiel: Letztes Wochenende haben sich die Linke.PDS und die WASG unter dem Namen „die Linke“ zu einer gemeinsamen Partei zusammengeschlossen. Glauben Sie, dass die Linke bei Wahlen auch in West Deutschland ... -
dauerhaft mehr als 5% erreichen wird oder glauben Sie das nicht? - weiß nicht - verweigert
Beide Fragen artikulierten damals hochaktuelle Themen, denen große Aufmerksamkeit geschenkt wurde und die Betroffenheit auslösten. Selbst wenn ein konkreter Vorschlag in seinen Einzelheiten nicht bekannt ist, wird er im Kern der Frage plakativ dargestellt, und er berührt in der Regel eine Grunddimension der politischen Auseinandersetzung. Die große Mehrheit der Befragten ist deshalb nicht überfordert. Das Ergebnis dieser Fragen sind dichotome Variablen, die für weitere Analysen gut einsetzbar sind. Einstellungsfragen
Eine in der Wahlforschung oft eingesetzte Einstellungsfrage ist die differenzierte Abfrage der Haltung gegenüber Parteien mit Hilfe eines Skalometers. Die entsprechende Politbarometer-Frage lautet: Und nun noch etwas genauer zu den Parteien. Stellen Sie sich einmal ein Thermometer vor, das aber lediglich von +5 bis -5 geht, mit einem Nullpunkt dazwischen. Sagen Sie mir bitte mit diesem Thermometer, was Sie von den einzelnen Parteien halten. '+5' bedeutet, dass Sie sehr viel von der Partei halten. '-5' bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von der Partei halten. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abgestuft sagen. Was halten Sie von ... -
der SPD? der CDU? der CSU? der FDP? den Grünen? der Linken?
-5 -5 -5 -5 -5 -5
-4 -4 -4 -4 -4 -4
-3 -3 -3 -3 -3 -3
-2 -2 -2 -2 -2 -2
-1 -1 -1 -1 -1 -1
0 0 0 0 0 0
1 1 1 1 1 1
2 2 2 2 2 2
3 3 3 3 3 3
4 4 4 4 4 4
5 5 5 5 5 5
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Die Übersetzung für das Telefoninterview benutzt den Ausdruck „Thermometer“. Damit wird das Thermometer als Anleihe aus der Alltagserfahrung und als Hilfe anstelle des optischen Skalometers beim face-to-face-Interview eingesetzt. Die wichtigste Funktion des Thermometers ist dabei für diejenigen unter den Befragten, die keine Erfahrung mit negativen Zahlen haben (und das ist ein Großteil der älteren Befragten mit formal niedrigem Bildungsgrad), etwas anderes „Erfahrbares“ an diese Stelle zu setzen, nämlich „unter 0 Grad“, d. h. kalt als Assoziation eines negativen Gefühls. Bei der Umstellung der face-to-face-Befragungen der Forschungsgruppe Wahlen auf Telefoninterviews im Jahre 1987 wurde diese Übersetzung als die empirisch beste Annäherung an die optisch unterstützte Nutzung des Skalometers von +5 bis -5 festgestellt. Dabei ging es um die Erhaltung jahrelanger Zeitreihen. Die +5/-5-Skala ist eine elfstufige Skala mit einem neutralen Mittelpunkt und symmetrischen Ästen, deren Enden verbalisiert sind. Die Zwischenabstände werden zunächst als gleich angesehen, was natürlich bestritten werden kann. Die Benutzung von Zahlen als Antwortkategorien bringt die Einstellungsfrage in die Nähe einer Bewertungsfrage. Der Übergang ist fließend. In die Beantwortung können sowohl allgemeine, nicht weiter differenzierbare Sympathien oder Antipathien gegenüber den Parteien eingehen, also eher emotionale Beurteilungskriterien, als auch rationale Elemente wie Leistungsbeurteilungen der Partei oder perzipierte Interessensvertretungen. Für die Analyse ist diese Unterscheidung zunächst sekundär. Wohl aber spielt die Möglichkeit eine wichtige Rolle, durch die quasi metrische Messung relativ klare Distanzen von der präferierten Partei bis zur Zweitpräferenz oder im negativen Bereich die Stärke der Ablehnung politischer Gegner feststellen zu können. Die Skalometer-Frage misst deshalb eine wichtige Facette der Parteinähe. Die gleiche Skalometer- oder Thermometer-Frage wird zur Beurteilung von Politikern benutzt. Sie wird oft als Sympathiefrage bezeichnet, obwohl auch hier nicht nur emotionale, sondern auch rationale Beurteilungskriterien in die „Benotung“ eingehen können. Die Frageformulierung „... was Sie von einigen führenden Politikern halten ...“ spricht diese Mischung der Beurteilungskriterien bewusst an.
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Bitte sagen Sie mir wieder mit dem Thermometer von +5 bis -5, was Sie von einigen führenden Politikern halten. '+5' bedeutet, dass Sie sehr viel von dem Politiker halten. '-5' bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von ihm halten. Wenn Ihnen ein Politiker unbekannt ist, brauchen Sie ihn auch nicht einzustufen. Was halten Sie von ... !!! Reihenfolge rotiert !!! -
Kurt Beck Ursula von der Leyen Angela Merkel Franz Müntefering Wolfgang Schäuble Ulla Schmidt Peer Steinbrück Frank-W. Steinmeier Edmund Stoiber Guido Westerwelle
-5 -5 -5 -5 -5 -5 -5 -5 -5 -5
-4 -4 -4 -4 -4 -4 -4 -4 -4 -4
-3 -3 -3 -3 -3 -3 -3 -3 -3 -3
-2 -2 -2 -2 -2 -2 -2 -2 -2 -2
-1 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2
3 3 3 3 3 3 3 3 3 3
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Die Frage erhebt gleichzeitig den sogenannten „Unbekanntheitsgrad“ der angegebenen Politiker. Dabei ist dieser Unbekanntheitsgrad so zu interpretieren, dass beim Befragten nicht genügend Informationen über den genannten Politiker vorhanden sind, die für ihn eine Beurteilung zulassen würden. Das ist für den eventuellen Einfluss auf das Wahlverhalten das entscheidende Kriterium. Der Unbekanntheitsgrad misst nicht unbedingt, dass der Name des Politikers unbekannt ist, er kann aber auch das bedeuten. Um Reihenfolgeeffekte auszuschließen, wird die Abfolge der abzufragenden Politiker von Interview zu Interview variiert. Eine weitere Einstellungsfrage ist die Links-Rechts-Einstufung, die als politische und gesellschaftliche Grunddimension nicht nur politische Orientierungen in Deutschland empirisch fassbar macht, sondern auch europäische Vergleiche zulässt, da links-rechts in den meisten europäischen Demokratien als eine Kategorie politischer Einordnung auftritt und genutzt wird. In verschiedenen Ländern ist sie sogar stabiler als die Zuordnung zu Parteien (vgl. Butler/Stokes 1969: 200 f.; Fuchs/Klingemann 1989 mit weiterführender Literatur). Links-Rechts-Selbsteinstufungen oder Standortbeschreibungen von Parteien können in face-to-face-Interviews mit einer in der Regel elfstufigen Skala von links nach rechts optisch sehr gut unterstützt werden. Die Frageformulierung lautete im face-to-face-Politbarometer früher:
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Wenn von Politik die Rede ist, hört man immer wieder die Begriffe „links“ und „rechts“. Wir hätten gerne von Ihnen gewusst, ob Sie sich selbst eher links oder eher rechts einstufen? Bitte markieren Sie auf dieser Skala, wo Sie sich selbst einstufen. !!! Fragebogen übergeben und ankreuzen lassen !!!
links
rechts
Diese starke Anlehnung an die Alltagserfahrung mit der optischen Hilfe entfällt am Telefon. Bei der Umsetzung der Links-Rechts-Skala ins Telefoninterview wurde deshalb ein zweistufiger Weg (1. Richtung, 2. Intensität) beschritten. Diese zweistufige Abfrage kann bei der Datenaufbereitung in eine Skala von 0 bis 10 umgesetzt werden, d. h. die Werte 1 bis 5 des linken Astes erhalten die Werte 4 bis 0, die des rechten Astes die Werte 6 bis 10. Denjenigen, die in der ersten Fragestufe die Mitte wählten, wird der Wert 5 zugewiesen. Die zweistufige Telefonversion lautet: Wenn von Politik die Rede ist, hört man immer wieder die Begriffe „links“ und „rechts“. Wir hätten gerne von Ihnen gewusst, ob Sie sich selbst eher links oder eher rechts einstufen? - eher links - Mitte/weder - noch - eher rechts - verweigert Stellen Sie sich bitte einmal ein Thermometer vor, das dieses Mal aber nur von 1 bis 5 geht. 5 bedeutet sehr links und 1 bedeutet wenig links. Wo würden Sie sich einstufen? -1 -2 -3 -4 -5 - verweigert Stellen Sie sich bitte noch einmal ein Thermometer vor, das dieses Mal aber nur von 1 bis 5 geht. 5 bedeutet sehr rechts und 1 bedeutet wenig rechts.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
119
Wo würden Sie sich einstufen? -1 -2 -3 -4 -5 - verweigert
Die einstufige Umsetzung ist die direkte Abfrage mit einer Skala von 0 bis 10 (11 Ausprägungen), die nach einigen erfolgreichen methodischen (split-half-) Tests seit Anfang 1997 im Politbarometer verwendet wird: Wenn von Politik die Rede ist, hört man immer wieder die Begriffe „links“ und „rechts“. Wir hätten gerne von Ihnen gewusst, ob Sie sich selbst eher links oder eher rechts einstufen. Stellen Sie sich dazu bitte noch einmal ein Thermometer vor, das diesmal aber nur von 0 bis 10 geht. 0 bedeutet sehr links, 10 bedeutet sehr rechts. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung abgestuft sagen. Wo würden Sie sich einstufen? 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
- verweigert
Wie Abbildung 3.2.1 demonstriert, erbringt der empirische Vergleich beider Frageformen im Telefoninterview zwar keine Abweichungen der Mittelwerte, aber eine andere Verteilung über die einzelnen Skalenwerte: Es fällt auf, dass der Anteil derer, welche die Mitte (Wert 5) wählen, bei der einstufigen Abfrage größer ist als bei der zweistufigen Version. Andererseits werden die Werte 2 und 8 bei der zweistufigen Abfrage deutlich häufiger gewählt. Dies ist das Resultat einer generellen Tendenz von Befragten, die Mitte zu wählen. Bei der zweistufigen Abfrage ist dieser Effekt folglich zweimal (beim Skalenwert 3 jedes Astes) zu beobachten.
120
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung Links-Rechts-Selbsteinstufung am Telefon
Abbildung 3.2.1: 50
1996 (2stufig)
1997 (einstufig)
40 30 20 10 0
0
1
2
sehr links
3
4
5
6
Mitte
7
8
9
10 sehr rechts
Quelle: Wüst (1998); Datenbasis: PB-Kumulationen 1996; 1997.
Eine weitere typische Einstellungsfrage ist die Frage nach der Parteiidentifikation. In der „derzeit gültigen“ Version (vgl. Kapitel 2.2) werden die Merkmale einer Einstellungsfrage im Fragetext direkt angesprochen: die Zeitdimension und die Erfahrungskomponente. Teil 1 der PI-Frage: In Deutschland neigen viele Leute längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie – ganz allgemein gesprochen – einer bestimmten Partei zu? Wenn ja, welcher? - SPD - CDU - CDU/CSU - CSU - Bündnis 90/Grüne - FDP - die Linke - NPD, DVU, Republikaner, - andere - nein - weiß nicht - verweigert
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
121
Teil 2 der PI-Frage (Stärke der Parteineigung): Wie stark oder wie schwach neigen Sie – alles zusammengenommen – dieser Partei zu? -
sehr stark, ziemlich stark, mäßig, ziemlich schwach, sehr schwach? - verweigert
In beiden Teilen der Einstellungsfrage werden Hinweise für eine summarische Betrachtung gegeben, „- ganz allgemein gesprochen -“ „- alles zusammen genommen -“. Sie sollen Detailerörterungen (Zeitverlust) verhindern, und gleichzeitig dem Befragten vermitteln, dass nicht seine Seele bloßgelegt wird, sondern nur seine, allerdings durch Erfahrung begründete Neigung erfragt wird, ohne dass er jede Einzelheit seines bisherigen Verhaltens rekapitulieren muss. Bewertungsfragen
Eine eindeutige Bewertungsfrage ist die Leistungsbeurteilung von Regierung und Opposition sowie deren Partnern bzw. zuzuordnenden Teilen. Die globale Leistungsbeurteilung von Regierung und Opposition gibt als Zeitreihe guten Aufschluss über die Chancen der Machterhaltung der Regierung oder der Machtgewinnung durch die Opposition. Die Frage ist internationaler Standard in Befragungen mit wahlsoziologischem Hintergrund. Ihre Formulierung hängt von den landesspezifischen Gegebenheiten ab. Sind Sie mit den Leistungen der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD eher zufrieden oder eher unzufrieden? Bitte beschreiben Sie es wieder mit dem Thermometer von +5 bis -5. '+5' bedeutet, dass Sie mit den Leistungen der Regierung in Berlin voll und ganz zufrieden sind. '-5' bedeutet, dass Sie mit den Leistungen der Regierung vollständig unzufrieden sind. Auch hier können Sie mit den Werten dazwischen Ihre Meinung abgestuft sagen. -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie mit den Leistungen der einzelnen Partner in dieser Regierung? Wie ist das also mit .... der CDU/CSU in der Regierung ? -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
122
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie mit den Leistungen der SPD in der Regierung ? -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie mit den Leistungen der FDP in der Opposition ? -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie mit den Leistungen der Linken in der Opposition? -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie mit den Leistungen der Grünen in der Opposition ? -5
-4
-3
-2
-1
0
1
2
3
4
5
Eine weitere Bewertungsfrage ist die Zuordnung von politisch wichtigen Eigenschaften oder Führungseigenschaften zu den Kandidaten. Bei dieser sogenannten Profilfrage werden entweder Kandidaten gegenübergestellt (Beispiel 1), oder die einzelnen Eigenschaften werden mit einem Skalenwert gemessen und dann mit dem Wert des „idealen“ Kandidaten verglichen (Beispiel 2). Die Ergebnisse sind sowohl sehr anschaulich und deshalb für die Darstellung in den Medien geeignet, können aber auch sehr gut in mehrdimensionalen Analysen Verwendung finden. Beispiel 1 aus dem Politbarometer 6/2005: Wer ist Ihrer Meinung nach glaubwürdiger ... -
Angela Merkel, Gerhard Schröder oder sehen Sie da keinen großen Unterschied? - kenne Merkel nicht -> Filter über die nächsten Fragen - kenne Schröder nicht -> Filter über die nächsten Fragen - verweigert
Und wer ist tatkräftiger ... -
Angela Merkel, Gerhard Schröder oder sehen Sie da keinen großen Unterschied? - verweigert
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
123
Und wer ist sympathischer ... Und wer ist verantwortungsbewusster ... Und wer ist eher ein Siegertyp ... Und wer kann eher die zukünftigen Probleme Deutschlands lösen ... [Antwortkategorien analog der ersten beiden Fragen]
Beispiel 2 aus dem Politbarometer 3/1980 (face-to-face): Wir haben hier einige Eigenschaften aufgeschrieben, die ein Bundeskanzler haben kann. Rechts und links von den Kästchen stehen immer genau gegensätzliche Eigenschaften. Bitte beschreiben Sie einmal, welche Eigenschaften Helmut Schmidt Ihrer Meinung nach hat. Kreuzen Sie dabei dasjenige Kästchen an, das am besten zu Helmut Schmidt passt. 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
verantwortungsbewusst
leichtfertig überheblich
bescheiden
zögernd
tatkräftig
konservativ
modern
unglaubwürdig
glaubwürdig sachlich, ruhig
unbeherrscht
Und welche Eigenschaften hat Franz-Josef Strauß? 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
verantwortungsbewusst
leichtfertig usw. wie bei Schmidt
Und welche Eigenschaften sollte ein idealer Bundeskanzler haben? 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
verantwortungsbewusst
Leichtfertig usw. wie bei Schmidt
124
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung Kanzlerprofile im Vergleich (PB 3/1980)
Abbildung 3.2.2:
verantwortungsbewußt
leichtfertig
glaubwürdig
unglaubwürdig
zögernd
tatkräftig Strauß sachlich, ruhig
unbeherrscht Schmidt
bescheiden
überheblich
konservativ
"Idealer" Kanzler 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11
modern
Es ist unschwer zu erkennen, dass die zuletzt dargestellte Fragesequenz zum einen deutlich aufwendiger ist als die erste, zum anderen face-to-face weitaus leichter zu erheben ist. Nimmt man den großen Erhebungsaufwand in Kauf, lassen sich regelrechte Kanzlerprofile und nicht nur Eigenschaftsvergleiche erstellen, wie Abbildung 3.2.2 eindrucksvoll zeigt. Ohne Begleittext wird durch einen Blick auf die Grafik sofort deutlich, welcher der beiden Kandidaten dem „idealen“ Kanzler näher kommt und wie weit der jeweilige Kandidat das Ideal jeweils verfehlt. 3.2.2.2.3 Fragen zu Eigenschaften des Befragten Demographische Eigenschaftsfragen und Kontexterfassungen sind äußerst wichtige Fragen zur Generierung von Kreuzvariablen bzw. Eingangsvariablen für weiterführende Analysen. Unabhängig davon, welche theoretischen Ansätze zur Überprüfung der Zusammenhänge herangezogen werden, die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen, der Besitz bestimmter Eigenschaften, das Vorhandensein bestimmter Lebensumstände oder auch nur der geografische oder Stadt-Land-Kontext des einzelnen Befragten sind wichtige Hintergrundinformationen, die erfasst werden müssen. Für viele dieser Fragen gibt es Konventionen. Dennoch ist auch bei der Erfassung der Demografie immer wieder zu überlegen, ob die, vielleicht aus der
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
125
Literatur entnommene Fragestellung den Zielsetzungen der Untersuchung entspricht. Als Beispiel sei die Alterserfassung genannt. Die Frage nach dem Alter erscheint auf den ersten Blick einfach. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Eitelkeiten groß sind und deshalb bei Altersangaben viel geflunkert wird. Ist die Altersvariable eine sehr wichtige Variable und sollen die Abgrenzungen möglichst exakt sein, wird man zweistufig abfragen: In welchem Jahr sind Sie geboren? Und als zweite Frage: Und in welchem Monat haben Sie Geburtstag? Die Frage nach dem Geburtsjahr hat Vorteile gegenüber der offenen Frage nach dem Alter. Sie beinhaltet zunächst einen Überraschungseffekt. Wenn man schon sein Alter „schönt“, wird man das bei den Lebensjahren tun. Das Geburtsjahr zu verändern, bedarf einer besonderen Täuschungsenergie, weil das Geburtsjahr einen eher offiziellen Anstrich hat. Es wird oft in Formularen abgefragt und ist bei vielen offiziellen Angelegenheiten wichtig. Die Hemmungen, bei einer Abfrage daran etwas zu ändern, sind sehr viel größer als bei einfachen Altersangaben. Die Frage nach dem Geburtsmonat, die man stellen muss, wenn man eine möglichst exakte Abgrenzung der Altersgruppen treffen will, bereitet schon etwas mehr Schwierigkeiten. Es dürften vor allem datenschutzrechtliche Bedenken sein, die dazu führen, dass über ein Zehntel der Befragten in Westdeutschland eine Angabe auf diese Frage verweigert. Bei der direkten Frage nach dem Alter, „Wie alt sind Sie?“, gibt es zwar weniger Verweigerungen, jedoch mehr Falschangaben. Deshalb bevorzugt man auch Altersgruppenangaben, zum Beispiel in Fünfjahresschritten mit möglicherweise feineren Differenzierungen am Anfang und gröberen am Ende. In face-toface-Interviews, bei denen man mit Listenvorlagen arbeiten kann, lässt sich eine Abfrage nach Altersgruppen leichter realisieren als in Telefoninterviews, wo diese Möglichkeit entfällt. Die Abfrage nach Altersgruppen wird etwas ehrlicher beantwortet, denn sie hat einen geringeren Offenbarungscharakter. Die Kategorien der Abfrage werden letztlich durch die Fragestellungen der Untersuchung und durch das theoretische Konzept bestimmt. Bei der Formulierung der Antwortvorgaben ist darauf zu achten, dass sie auch dem Begriffsfeld des Befragten und den Abgrenzungen seiner Erfahrungswelt entsprechen. Außerdem ist auf Reihenfolgeeffekte der Antwortkategorien zu achten, zum Beispiel ob die neutrale Antwort in der Mitte steht (wenn es eine inhaltliche Kategorie ist) oder am Ende (wenn sie eher die Ausfluchtantwort darstellt). Bildungsstatus oder Berufszugehörigkeit fragt man möglichst detailliert ab. Zusammenfassungen können je nach Zielsetzungen der Analyse immer gemacht werden, Differenzierungen sind anschließend an die Datenerhebung nicht mehr möglich. Der Schulabschluss wird wie folgt abgefragt:
126
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Welchen Schulabschluss haben Sie selbst? - Hauptschulabschluss (=Volksschule) (Ost: frühere 8-klassige Schule) -> Filter über nächste Frage - Mittlere Reife/Realschulabschluss (=Fach-/Handelsschulabschluss oder sonstiger mittlerer Abschluss) (Ost: frühere 10-klassige polytechnische Oberschule POS) -> Filter über nächste Frage - Abitur/Hochschulreife/Fachhochschulreife (Ost: frühere 12-klassige erweiterte Oberschule/EOS) -> Filter über nächste Frage - kein Schulabschluss -> Filter über nächste Frage - noch in der Schule -> Filter über Fragenblock - verweigert Haben Sie ein abgeschlossenes Studium an einer Universität, Hochschule oder Fachhochschule? - ja - nein - verweigert
Wer noch zur Schule geht wird gefragt: Welchen Schulabschluss streben sie an? - Hauptschulabschluss - Mittlere Reife/Realschulabschluss - Abitur/Hochschulreife/Fachhochschulreife
Danach werden alle diejenigen, die zur Zeit berufstätig, arbeitslos oder in Ruhestand sind, nach ihrer beruflichen Stellung wie folgt gefragt: Sind (Rentner/Arbeitslose: Waren) Sie ... - Arbeiter/-in, - Facharbeiter/-in, - Meister/-in, - Angestellte/-r, - Beamter/Beamtin, - Richter - Soldat
-> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über die nächste Frage -> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über beide nächsten Fragen
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung - Landwirt/-in (selbständig), - Selbständig? - Hausfrau/ Hausmann - verweigert
127
-> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über beide nächsten Fragen -> Filter über beide nächsten Fragen
Ist/War das eher ... - eine einfache, - eine gehobene oder - eine leitende Tätigkeit? - verweigert
-> Filter über die nächste Frage -> Filter über die nächste Frage -> Filter über die nächste Frage -> Filter über die nächste Frage
Gehören/Gehörten Sie zum ... - einfachen Dienst, - mittleren Dienst, - gehobenen Dienst oder - höheren Dienst? - verweigert
Die gleichen Fragen kann man auch über den Hauptverdiener stellen, was für manche theoretischen Konzepte (Haushaltsvorstandskonzept) sinnvoll ist. Die Abfrage von ökonomischem Status in direkter Form als Einkommen/ Lohn/Verdienst ist sehr problematisch, zumindest im deutschen Kontext. Während es in den USA kaum Probleme gibt, Jahreseinkommen in Dollar abzufragen, ist die Höhe des Jahreseinkommens in Deutschland bei vielen Lohn- und Gehaltsempfängern eine im Interview nicht abfragbare Größe. Das Jahreseinkommen ist ohnehin oft unbekannt, weil in Monatseinkommen gerechnet wird oder in noch kürzeren Zeitperioden. Das Einkommen ist unbestimmt, weil es Brutto-, Netto-, verfügbares – oder Familieneinkommen sein kann. Vor allem erscheint diese Frage vielen als ein Eindringen in den Privatbereich, der schutzbedürftig ist. Auch die Vorgabe von Einkommensklassen kann das Grundproblem der Frage nur mildern und nicht lösen.35 Für die Wahlforschung ist die Höhe des Einkommens keine elementare Frage. Eine ökonomische Statusvariable kann ohne größere Probleme auch aus den vorhandenen Daten über Bildung 35
Siehe das bei Friedrichs (1985) geschilderte Beispiel der Validitätsprüfung der Einkommensfrage durch das Statistische Bundesamt (Wirtschaft und Statistik, Heft 3, 1973), bei dem nur etwa die Hälfte der Befragten richtige Antworten gab, obwohl Einkommensklassen abgefragt wurden.
128
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
und Beruf konstruiert werden. Für die Marktforschung sind allerdings differenzierte Angaben über die Kaufkraft von Haushalten wichtig. 3.2.2.2.4 Anlage des Fragebogens (Makro- und Mikroplanung des Interviews) Wie in jedem Gespräch, wird man im Interview sein Anliegen erst vorbereiten und nicht mit dem Problem ins Haus fallen. Darüber hinaus wird man überlegen, in welcher Reihenfolge man die Themen der Untersuchung anspricht, denn es gibt natürlich Beeinflussungen der Probleme untereinander, sogenannte Reihenfolgeeffekte, die durch geschickte Anordnung vermieden werden können. Reihenfolgeeffekte gibt es sowohl bei der Anordnung ganzer Themenbereiche, man nennt sie dann Plazierungseffekte (Scheuch 1973), bei der Abfolge einzelner Fragen, das nennt man Ausstrahlungseffekte (halo effect), als auch – wie bereits erwähnt – bei der Anordnung von Antwortkategorien geschlossener Fragen. Bevor man jedoch zu diesen Einzelaspekten des Fragebogenaufbaus kommt, muss man grundsätzliche Probleme klären, wie das Gesamtvolumen der Befragung und die Hierarchie der Wichtigkeit einzelner Fragekomplexe. Fragebögen haben Zeitbegrenzungen. Gemeinhin geht man davon aus, dass face-toface-Befragungen länger sein können als Telefonbefragungen. Diese pauschale Annahme ist jedoch nur zum Teil richtig. Zunächst ist der Zeitbedarf für Interviews gleichen Umfangs am Telefon geringer als im face-to-face-Interview. Die Zeiteinsparung beträgt beim Politbarometer ein Fünftel bis ein Drittel. Sie wird durch die andere Technik erreicht. Telefonfragen sind in der Regel kürzer als face-to-face-Fragen. Daneben ist die Filterführung im CATI-Interview (computer-assisted telephone interviewing) sehr ausgefeilt und schließt unnötige Fragen besser und schneller aus. Der Befragte glaubt am Telefon auch, weniger Zeit für die Beantwortung der Fragen zu haben: er antwortet schneller, spontaner. Zu weiteren Zeiteinsparungen führt der Wegfall zeitkonsumierender Ablenkungen beim face-to-face-Interview. Ermüdungserscheinungen wie das Halten des Telefonhörers oder die unbequemere Haltung beim Telefonieren im Vergleich zu einer bequemen Sitzposition bei face-to-face-Interviews führen sicherlich zunächst zu potentiell kürzeren Befragungszeiten. Experimente haben allerdings ergeben, dass das Interesse am Thema für die maximal zumutbare Interviewlänge entscheidend ist. Bei einem Interview über Einzelaspekte eines Hobbys des Befragten (z. B. über Autos bei Männern) ist die Befragungszeit, unabhängig von der Art des Interviews, nahezu unendlich. Aber selbst bei Lebensverlaufsstudien am Telefon konnten Befragungszeiten bis 90 Minuten und mehr ohne Probleme erzielt werden (Brückner 1985; 1993).
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
129
Bei Bevölkerungsumfragen über politische Themen oder Wahlverhalten wird man nach den Erfahrungen der Forschungsgruppe Wahlen einen Zeitraum von durchschnittlich 20 Minuten besser nicht überschreiten, denn diese Themen liegen bei der großen Mehrheit der Befragten keinesfalls auf den vorderen Plätzen des Interesses. Bei der Hierarchie der Wichtigkeit der Fragenkomplexe wird man sich von der Theorie leiten lassen. In der Wahlforschung erachtet man die abhängige Variable Wahlverhalten als besonders wichtig und wird sie deshalb möglichst früh und unbeeinflusst erheben. Die Wahlabsicht ist neben den anderen Aspekten der Parteinähe sicherlich die wichtigste Frage zur Operationalisierung der abhängigen Variablen Wahlverhalten. Empirische Untersuchungen über die Platzierungen der Wahlabsichtsfrage im Fragebogen haben zu eindeutigen Befunden geführt (Gibowski 1973). Die Wahlabsichtsfrage wird als Konsequenz unmittelbar nach einer ersten inhaltlichen Aufwärmfrage gestellt. Danach folgt die Rückerinnerungsfrage, eine eventuelle Koalitionsfrage und die weiteren Aspekte der Parteinähe, Skalometerbeurteilung der Parteien, Leistungsbeurteilung von Regierungen oder Opposition, Politikerbeurteilung und Rangordnungen der Parteien. Nach diesem massiven Block von Parteienbeurteilungen, auch mit Hilfe von Skalen, braucht der Befragte eine Erholungsphase mit Einzelfragen, die sein Interesse weiter wach halten. Dazu gehören zum Beispiel der Wunsch nach einem Wechsel der Regierung oder die Frage, wen man lieber als Bundeskanzler hätte, wer der bessere Kanzlerkandidat innerhalb der beiden Volksparteien wäre usw. Die didaktische Führung des Befragten durch das Interview ist sehr wichtig. Weil die Zeit begrenzt ist, wird man bestimmte Komplexe, wie zum Beispiel Relevanz von issues oder Kompetenzen zur Lösung von Problemen, in Paketform (auch Batterie genannt) abfragen, um möglichst viele Einzelthemen in möglichst geringer Zeit erfassen zu können. Solche Abfragen müssen immer durch interessante Einzelfragen aufgelockert werden, d. h. man wechselt hauptsächlich die Frageform, offen/geschlossen oder lang/kurz. Die Leitlinie muss sein, dass der Fragebogen immer interessant bleibt, damit kein Abfall im Aufmerksamkeitsgrad bei der Beantwortung der einzelnen Fragen und damit auch kein Abfall der Datenqualität eintritt. Zur Makroplanung des Interviews gehören neben der genauen Vorbereitung der Kontaktphase (siehe Interviewsituation) die Überlegungen zur Einleitung des Interviews. Die Anfangsfragen des Interviews müssen leicht und schnell beantwortbar sein, sollen zum Thema hinführen, ohne zu anspruchsvoll zu sein. Am Anfang des Interviews soll aber auch der Befragte selbst zu Wort kommen, er soll seine Stimme hören, so soll die Einseitigkeit der Abfrage-/Antwortsituation etwas überwunden werden, die Aktivität des Befragten soll gefordert werden.
130
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Dies geschieht im Politbarometer zum Beispiel damit, dass nach zwei kurzen eher technischen Fragen nach dem Bundesland, in dem der Befragte wahlberechtigt ist (Hinleitung zum Thema), und der ungefähren Größe des Wohnorts (Kontext) die offene Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland (s.o.) gestellt wird. Mit dieser Frage wird nicht nur die Zielperson ins Gespräch einbezogen, sondern auch die Wichtigkeit ihrer Meinung unterstrichen. Mit einer Nachfrage („Und was ist ein weiteres wichtiges Problem?“) soll der möglichen Vielfalt der Probleme Rechnung getragen werden, ohne dabei in die zu vermeidende Abfrage von Wissen zu verfallen. Wissensfragen können im Interview sehr abschrecken und sollten deshalb sparsam eingesetzt werden. Sie können als Vorfrage oder Filterfrage benutzt werden, müssen dann aber sehr ‘freundlich’ formuliert werden wie zum Beispiel „... Haben Sie davon gehört?“ oder „... Wissen Sie etwas darüber?“, um möglichst keinen sozialen Druck aufkommen zu lassen, der das Interview beeinträchtigen könnte. Die offene Frage nach den wichtigen politischen Problemen erfüllt also zwei Funktionen: die geschilderte Aufgabe der Einbeziehung des Befragten in das Gespräch und die inhaltliche Aufgabe der Messung der politischen Agenda, so wie sie in der wahlberechtigten Bevölkerung wahrgenommen wird. Um Ermüdungseffekte und Interviewabbrüche zu vermeiden, muss man neben der Hierarchie der Wichtigkeiten auch noch eine Hierarchie der Abhängigkeiten der verschiedenen Fragekomplexe aufstellen. Will man zum Beispiel etwas über die Eigenschaften eines bestimmten Politikers wissen, ist es sinnvoll, dem Befragten zu Beginn der Fragesequenz zu ermöglichen zu sagen, dass er den Politiker überhaupt nicht kennt und nicht erst, nachdem man ihn mit vielen detaillierten Fragen zu dieser Person traktiert hat. Wenn die Hierarchie der Abhängigkeiten zu keinen klaren Erkenntnissen führt, kann man den Übergang von einem zum anderen Themenkomplex abpuffern. Diese Versuche, mit Ablenkungs- oder Pufferfragen zu neutralisieren, gelingen nicht immer und erfahren auch immer wieder Kritik. Zur Erleichterung der Gesprächsführung und insbesondere als Hilfe für den Befragten sollten die Übergänge zu anderen Fragekomplexen explizit kenntlich gemacht werden („... Und nun zu einem anderen Thema“). In die Makroplanung des Interviews gehört auch, dass demographische Daten am Ende des Interviews zu erfassen sind. Selbst wenn die Versuchung groß ist, demographische Variablen schon früh zu erheben, um besser filtern zu können, sollte man dieser Versuchung widerstehen. Erst wenn durch die Atmosphäre des Interviews Vertrauen zwischen den Gesprächspartnern aufgebaut wurde, können die sogenannten Statistikfragen zur Person ohne den potentiell bedrohli-
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
131
chen Charakter, den sie zu Anfang hätten, erhoben werden (Sudman/Bradburn 1982: 208). Ein weiterer Aspekt der Makroplanung sind die vielen technischen Vereinfachungen von Fragefolgen (zum Beispiel automatische Filterführung), die durch computergestützte Interviews (CATI oder CAPI=computer-assisted personal interviewing) möglich werden. Dies gilt sowohl für den Aufbau des Fragebogens als auch für die zuverlässige Aufnahme der Daten und die Generierung des Datenfiles. Die Bedeutung der befragungstechnischen Bedingungen, zu denen auch die Aufmachung des Fragebogens oder die zweifelsfreien Anweisungen an die Interviewer gehören, für die Qualität der Daten wird oft und gerade von Wissenschaftlern, die diese Instrumente nicht ständig einsetzen, unterschätzt. Bei der Mikroplanung ist zu berücksichtigen, dass praktisch jede Frage für die nächste Frage eine Art Bezugsrahmen darstellt. Jede Frage strahlt auf die Folgefrage(n) aus. Der Befragte versucht immer, einen Zusammenhang zu sehen, und er bemüht sich in der Regel, in seinen Antworten widerspruchsfrei zu bleiben (Scheuch 1973: 91). Da die zu beleuchtenden Sachverhalte oftmals mit einer einzigen Frage kaum zu erheben sind, nutzt man den Umstand der Ausstrahlung einer Frage zur sogenannten Trichterung (funneling). Man führt mit einer allgemeinen Frage in das Thema ein, man setzt einen Kontext und fragt mit spezielleren Fragen die Einzelaspekte des Themas ab. Die Abhängigkeiten von einzelnen Fragen sind oft ohne empirische Überprüfung nur schwer zu entscheiden. Man wird deshalb immer versuchen, den sichereren Weg zu gehen und bei vermuteten gegenseitigen Einflüssen die Frage zu trennen oder mit anderen Themenbereichen zu neutralisieren. Wenn dies nicht möglich ist, kann man die Effekte über einen sogenannten split-half-Test kontrollieren: Man teilt die Gesamtheit der Fragebögen in zwei gleich große, zufällig ermittelte Hälften, in denen jeweils eine Fragefolge läuft. Auch die Reihenfolge der Antwortvorgaben bei geschlossenen Fragen kann das Antwortverhalten stark beeinflussen. So ist bei dichotomen Fragen zunächst zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die beiden Antwortkategorien vorgegeben werden. In vielen Fällen wird die Entscheidung allerdings durch „den üblichen Sprachgebrauch“ eingeengt. So wird man in der Frageformulierung z.B. eher von „Vor- oder Nachteilen“ einer bestimmten Entwicklung sprechen als umgekehrt. Entsprechend wird man dann auch zuerst die Vorteile und dann die Nachteile abfragen. Ist die Frage trichotom und hat eine Mittelkategorie, so ist die Entscheidung zu treffen, ob diese Mittelkategorie auch in der Mitte abgefragt wird – was in der Regel die Häufigkeit der Nennungen erhöht – oder als dritte Kategorie, also am Ende, wo sie von den Befragten unter Umständen als „weiß nicht“- oder „unent-
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
schieden“-Kategorie benutzt wird. Jedenfalls ist zu klären, ob die Antwort als inhaltliche Mittelkategorie gewollt ist oder als Ausflucht-Antwort akzeptiert wird. Dies führt zu völlig unterschiedlichen Bewertungen in der Analyse. Eine weitere wichtige Festlegung ist die Zahl der Antwortkategorien bei geschlossenen Fragen. Bei mehr als fünf möglichen Antworten treten, insbesondere im Telefoninterview, häufig Memorisierungsprobleme auf, die dazu führen, dass die letztgenannten Antwortmöglichkeiten häufiger genutzt werden als die erstgenannten (sog. recency effects, vgl. Schwarz et al. 1991). Da eine Randomisierung der Antwortreihenfolge, die solche Antwortmuster neutralisieren könnte, nicht immer möglich ist, ist eine Beschränkung auf in der Regel fünf Antwortvorgaben sinnvoll. In Zweifelsfällen muss die Frage einem intensiven pretest unterzogen werden.
3.3 Datenanalyse Die Analyse umfasst sowohl die sachgerechte und geordnete Darstellung der empirisch erhobenen Daten als auch die Interpretation dieser Daten vor dem Hintergrund bereits bestehender Erkenntnisse oder Theorien. Die sachgerechte Darstellung der Daten besteht in der nachvollziehbaren Präsentation der Zusammenhänge von abhängigen und unabhängigen Variablen. Dabei geht es zum einen um die Richtung des Zusammenhangs und zum anderen um die Aussage über die Stärke des Zusammenhangs mit Hilfe von statistischen Maßzahlen. Die Interpretation des erhobenen Zahlenmaterials stellt den „Rückbezug zur Fragestellung“ her (Kromrey 1998: 389), die ja im Idealfall als Hypothese auf der Basis einer bestimmten Theorie formuliert wurde. Tatsächlich ist die Analyse in der Wahl- und Sozialforschung in der Regel eher ein iterativer Prozess. Man erkennt in den Daten eine bestimmte wiederkehrende Ordnung und versucht, diese Zusammenhänge deutlich sichtbar zu machen oder sogar zweifelsfrei zu machen, indem man zusätzliche Variablen berücksichtigt, Variablen verfeinert oder neu konstruiert, evtl. auch die Hypothesen modifiziert. Dabei setzt man statistische Methoden als Hilfsmittel ein. Hier gilt allgemein, aber insbesondere für die Wahlforschung, dass Analysemethoden der Qualität der Daten entsprechen müssen. In den vorhergehenden Kapiteln über Stichproben, Frageformulierung und Datenerhebung wurde auf eine Vielzahl von Fehlermöglichkeiten hingewiesen. Viele dieser Fehler gibt es nicht nur theoretisch, sondern sie sind tatsächlich im Datensatz vorzufinden. Bei der ad-hoc-Interpretation von Daten ist deshalb Vorsicht geboten. Darüber hinaus ist genau zu prüfen, ob die erhobenen Daten tatsächlich die Eigenschaften besitzen, die eine statistische Analysemethode im
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Einzelfall verlangt. Daten sind geduldig. Sie schreien nicht, wenn sie mit höherrangigen Methoden malträtiert werden. So oder so kommen immer Resultate zustande, aber zum Teil sind sie nicht mehr als statistische Artefakte (Schnell et al. 1995: 135; Kromrey 1998: 199-201). 3.3.1 Messen
Voraussetzung für die Verwendung statistischer Methoden ist die Messbarkeit der Merkmale der Untersuchungsobjekte. Messen heißt dabei, dass die strukturtreue Abbildung eines Sachverhalts erreicht und diese in Zahlen oder Codes, also Messwerten ausgedrückt wird. Diese Messwerte sind von unterschiedlicher Qualität. Angestrebt wird ein möglichst hohes Messniveau, um möglichst anspruchsvolle statistische Analyseverfahren einsetzen zu können. Gemeinhin werden vier verschiedene Messniveaus unterschieden (Stevens 1946 nach Schnell et al. 1995: 132). Es handelt sich dabei um eine mehr oder weniger vereinbarte Klassifikation der Beziehungen von Objekten bzw. deren Messwerten zueinander. Eine nominale Messung, auch Nominalskala genannt, heißt, dass jedem Objekt genau eine Klasse zugeordnet wird. Ein Beispiel ist die Erfassung des Merkmals „Religionszugehörigkeit“. Die Ausprägungen sind zum Beispiel katholisch, evangelisch, jüdisch, andere, keine Religionszugehörigkeit, keine Angabe. Gleiche Merkmalsausprägungen erhalten gleiche Ziffern oder andere Codes, zum Beispiel Buchstaben. Jedes Objekt kann nur einer Klasse zugeordnet werden. Das nächsthöhere Messniveau ist die ordinale Messung. Dabei werden nicht nur gleiche Ausprägungen eines Merkmals gleichen Klassen zugeordnet, sondern die Klassen können auch ranggeordnet werden. So wird die Häufigkeit des Kirchgangs mit den Ausprägungen jeden Sonntag, fast jeden Sonntag, ab und zu, einmal im Jahr, seltener oder nie ? erfasst. Dabei schließt die höhere Kategorie jeweils die nachfolgende ein, d. h. es liegt eine eindeutige Rangordnung vor. Das meistgebrauchte Beispiel einer Ordinalskala sind Schulnoten. Dabei soll man zwar davon ausgehen können, dass eine „Zwei“ besser als eine „Vier“ ist, aber sie ist nicht doppelt so gut, denn die Abstände zwischen den Noten müssen nicht gleich sein. Die Intervallskala erfordert genau diese Notwendigkeit zusätzlich zu den Erfordernissen nominaler und ordinaler Messung. Die Abstände (Intervalle) zwischen zwei beliebig aufeinanderfolgenden Objekten (Ausprägungen) müssen jeweils gleich groß sein. Das gebräuchlichste Beispiel für Intervallskalen sind Temperaturmessungen, zum Beispiel in Celsius. Die in der Wahlforschung be-
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
nutzten „Skalometer +5 bis -5“ bzw. „Thermometer“ sind ein Versuch, zu einem derartig hohen Messniveau zu kommen. Das höchste Messniveau ist die Ratio-Skala. Sie setzt zusätzlich zur Unterscheidungs- und Rangordnungsmöglichkeit und der Möglichkeit gleicher Intervalle einen „natürlichen“ Nullpunkt voraus, womit die Interpretation von Quotienten von Messwerten sinnvoll wird. Beispiele hierfür sind Altersmessungen oder Einkommensgrößen. Mit dem Messniveau steigt der Informationsgehalt einer Messung, was einen größeren Einsatz mathematisch-statistischer Verfahren erlaubt (vgl. Friedrichs 1985: 99). Um sozialwissenschaftlich messen zu können, muss eine Verbindung zwischen der begrifflichen Ebene und der beobachtbaren Ebene geschaffen werden. Man nennt das Operationalisierung. Will man zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen sozialem Status und Wahlverhalten überprüfen, so wird man nach einem oder mehreren Indikatoren für den sozialen Status einer Person suchen. Das sind beobachtbare oder abfragbare Sachverhalte, die allein oder in Kombination für eine theoretisch abgeleitete Rangordnung von Individuen in einer Gesellschaft stehen. Das kann zum Beispiel die formale Bildung, die Berufsgruppenzugehörigkeit, das Einkommen oder eine Selbsteinstufung des Befragten in vorgegebene soziale Schichten sein. Das heißt, man misst in der Regel nicht die für einen Zusammenhang verwendeten Begriffe, sondern nur Indikatoren, die mit den Begriffen eng zusammenhängen. Für die Beurteilung der Qualität der Messung gibt es zwei Gütekriterien: die Zuverlässigkeit der Messung (Reliabilität) und die Gültigkeit der Messung (Validität). Unter Reliabilität versteht man das Ausmaß gleicher Messwerte, die bei wiederholten Messungen des Sachverhalts erreicht werden. Ist das Ausmaß hoch, dann ist die Zuverlässigkeit der Messung gegeben. Treten Abweichungen auf, so muss überprüft werden, ob es sich dabei um einfache Messfehler handelt oder ob völlig verschiedene Messwerte ermittelt wurden, die auf Fehler des Messinstruments hindeuten. Überprüfungen können mit parallelen Tests oder mit der Splithalf-Methode gemacht werden. Die Validität eines Messinstruments sagt etwas darüber aus, ob das Messinstrument das misst, was es messen soll. Allein gleiche Ergebnisse bei wiederholten Messungen sagen noch nichts über die Validität eines Instruments aus. Nach Schnell et al. (1995: 145) ist ein Instrument um so valider, „je weniger systematische Fehler die Messung beeinflussen“. Diese Fehler können mit Korrelationen zu anderen beobachtbaren Variablen überprüft werden (empirische Validität). Dabei können diese Variablen aus der gleichen Untersuchung stammen. Die Validität eines Instruments kann auch über ein Außenkriterium geprüft werden,
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
135
von dem man weiß, dass es in einem engen Zusammenhang mit dem zu messenden Merkmal steht (Scheuch 1967). Sie kann schließlich auch durch unabhängige Messungen überprüft werden. Ein Beispiel wurde schon erwähnt: In einer Stichprobe des Statistischen Bundesamtes (1973: 195) wurde im Interview das Haushaltseinkommen in Größenklassen abgefragt und anschließend durch die Angaben in den Haushaltsbüchern des gleichen Monats überprüft. Bei nur 52% der Haushalte wurde Übereinstimmung erzielt, in 37% der Fälle wurde das Einkommen zu niedrig angegeben, in 11% zu hoch. Die Einkommensfrage ist also (zumindest in Deutschland) nicht besonders valide. Andere Validitätsprüfungen laufen über Extremgruppenanalysen oder über die Vorhersagequalität der gemessenen Werte (vgl. Bürklin 1995). Die meisten Instrumente der Wahlforschung sind Standardinstrumente. Probleme der Reliabilität und der Validität sind deshalb in der Regel relativ gering. 3.3.2 Die einzelnen Phasen der Datenanalyse Die Randauszählung
Die ersten Informationen über die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung gewinnt man über die Randauszählung. Sie ist die zahlenmäßige Darstellung der Häufigkeiten jeder besetzten Antwortkategorie der Variablen eines Datensatzes. Die Darstellung erfolgt in absoluten Zahlen oder in Prozentwerten. Ein Beispiel aus dem Politbarometer vom März 1998: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, würden Sie dann zur Wahl gehen? Und welche Partei würden Sie wählen?“
1.288 Personen wurden bundesweit befragt. 76 Personen gaben an, nicht wählen zu wollen. 124 Befragte wussten entweder nicht, ob sie zur Wahl gehen wollten, oder sie wollten keine Partei nennen. 1.088 Befragte entschieden sich für eine Partei; sie werden in Analogie zu einer tatsächlichen Wahl als „gültige Stimmen“ bezeichnet. Absolut sprachen sich 329 Befragte für die Unionsparteien aus, 556 wollten sich im Falle einer Wahl für die SPD entscheiden, 54 für die Grünen, 39 für die FDP, 26 für die PDS usw. Je nachdem, ob man auf die Wahlberechtigten oder die „gültigen Stimmen“ prozentuiert, ergeben sich für die CDU/CSU Anteile von 25,6% oder 30,3%, für die SPD 43,2% bzw. 51,2%. Entsprechendes gilt für die anderen Parteien.
136 Tabelle 3.3.2.1: Wahlabsicht (Partei) CDU/CSU SPD Bündnis90/Grüne FDP PDS REP GRAUE ÖDP andere Partei weiß nicht würde nicht wählen Anzahl Befragte (n)
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung Wahlabsicht
1
329
25,6
Prozent „gültige Stimmen“ 30,3
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
556 94 39 26 18 4 5 17 124 76 1288
43,2 7,3 3,0 2,0 1,4 0,3 0,4 1,3 9,6 5,9 100,0
51,2 8,7 3,5 2,4 1,6 0,3 0,5 1,5 100,0
Code
absolut
Prozent
Diese beschreibende Darstellung gibt einen ersten Überblick über die sogenannte Wahlabsicht, die allerdings wegen des noch weit in der Zukunft liegenden Wahltermins nur ein Stimmungsbild von den Parteien rund 200 Tage vor der Wahl darstellt. Für Journalisten mögen diese Informationen schon einen gewissen Wert besitzen. Wahlanalytiker geben sich mit einer solchen Deskription nicht zufrieden. Sie interessieren zum Beispiel Unterteilungen nach bestimmten strukturellen Subgruppen. Der nächste Schritt der Analyse wird also sein, die Wahlabsicht mit bestimmten strukturellen Variablen zu kreuzen, um die Verteilungen in Untergruppen bzw. die Zusammenhänge zwischen der Wahlabsicht und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialstrukturellen Gruppe zu sehen. Die Kreuztabelle
Bei der Kreuzung zweier Variablen (bivariate Kreuz- oder Kontingenztabelle) werden Häufigkeiten oder andere deskriptive Maße wie zum Beispiel Skalenmittelwerte in Beziehung gesetzt, wobei man üblicherweise die abhängige Variable in die Zeilen stellt (Rand) und die unabhängige Variable in die Spalten (Kopf). Als Beispiel werden hier die Wahlabsichten in den beiden Geschlechtsgruppen dargestellt, da wir annehmen, dass die Geschlechtszugehörigkeit die Wahlabsicht beeinflusst.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung Tabelle 3.3.2.2:
Wahlabsicht nach Geschlecht Prozentwerte
Wahlabsicht (Partei) CDU/CSU SPD Bündnis90/Grüne FDP PDS REP GRAUE ÖDP andere Partei weiß nicht würde nicht wählen
137
männlich 24,7 47,4 7,5 3,0 2,7 1,2 0,7 1,4 7,0 4,4
weiblich 26,4 39,4 7,1 3,0 1,4 1,6 0,5 0,2 1,2 11,9 7,3
Prozentwerte „gültige Stimmen“ männlich 27,8 53,5 8,5 3,3 3,1 1,4 2,4 2,4 2,4 -
weiblich 32,7 48,9 8,8 3,7 1,7 1,9 2,3 2,3 2,3 -
Tabelle 3.3.2.2 zeigt im Vergleich zu Tabelle 3.3.2.1 zunächst, dass Frauen deutlich häufiger als Männer angeben, nicht wählen zu wollen oder nicht zu wissen, welche Partei sie wählen würden. Betrachtet man nun die Anteile für die einzelnen Parteien, findet man bei den Frauen höhere Anteile für die Unionsparteien, die bei der Prozentuierung auf die „gültigen Stimmen“ sehr viel größer sind als bei der Prozentuierung auf die Wahlberechtigten. Genau die gegenteilige Feststellung machen wir bei der SPD. Hier geben die Männer in stärkerem Maße an, die Sozialdemokraten wählen zu wollen, und die Differenzen sind bei der Prozentuierung auf die „gültigen Stimmen“ kleiner als bei der auf Wahlberechtigte. Ursache ist die unterschiedliche Anzahl der „weiß nicht“- und „Nichtwahl“Angaben bei Männern und Frauen. Bei den Grünen führt dies dazu, dass sie je nach Prozentuierung in einem Fall etwas stärker von Männern, im anderen Fall leicht stärker von Frauen unterstützt werden. Das Beispiel macht deutlich, dass die Fragestellung bzw. hier der Gruppenbezug eine wichtige Vorentscheidung für die Analyse ist. Im übrigen zeigt die Tabelle Differenzen zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Parteien, die als ein einfaches Zusammenhangsmaß interpretiert werden können. Allerdings wird man prüfen, ob dieser Zusammenhang bzw. die auftretenden Häufigkeiten in der Stichprobe wirklich signifikant sind und nicht etwa zufällig. Als Signifikanzmaß wird häufig der Chiquadrat-Test benutzt (Schnell et al. 1995: 410). Der Chiquadrat-Wert wird als statistische Maßzahl in allen Standard-Auswertungsprogrammen mitgeliefert. Nach einer Konvention in
138
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
den Sozialwissenschaften (in den Naturwissenschaften hat man in der Regel strengere Maßstäbe) gilt ein Signifikanzniveau von 0,05 als ausreichend, d. h. wenn in weniger als 5% aller denkbaren Stichproben die gleiche Verteilung zweier in Beziehung gesetzter Variablen auftritt, ist die Beziehung nicht mehr zufällig, sondern überzufällig, also signifikant. Mittelwertdifferenzen werden mit dem sogenannten „T-Test“ auf Signifikanz überprüft (Schnell et al. 1995: 413). Die Signifikanz eines Ergebnisses sagt nichts über die Stärke des Zusammenhangs von abhängiger und unabhängiger Variable aus, sondern schließt lediglich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit die Zufälligkeit des Ergebnisses aus. Die Mehrfachkreuzung
Da die Wahl einer Partei eine komplexe Entscheidung darstellt, muss man in den Sozialwissenschaften nahezu immer mehrere Variablen zur Erklärung heranziehen. Zeigt die Kreuztabelle 3.3.2.2 einen einfachen Zusammenhang von Geschlecht und Wahlverhalten, insbesondere bei den Unionsparteien und der SPD, so ergibt eine Zweifachkreuzung von Geschlecht und Alter (Tabelle 3.3.2.3) etwas mehr Aufschluss über mögliche Kausalitäten für die festgestellten Unterschiede: Tabelle 3.3.2.3:
Wahlabsicht nach Alter und Geschlecht (in Prozent; Auswahl: „gültige Stimmen“)36
Geschlecht
Männer
Frauen
Altersgruppe
bis 35
35-59
60+
bis 35
35-59
60+
n (=1087)
174
237
126
141
230
179
CDU/CSU SPD Bündnis 90/Grüne FDP PDS REP andere Partei
26 48 14 3 2 1 6
23 61 8 2 4 2 0
39 48 2 6 3 2 2
18 55 18 4 2 3
33 49 8 4 1 1 3
44 44 2 6 3 1
36
Um nicht eine Präzision vorzutäuschen, die es in der Aufteilung der 1.087 Fälle gar nicht geben kann, wurden die Prozentsätze auf- bzw. abgerundet.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
139
Die Gegenüberstellung der Wahlabsichten von Männern und Frauen in drei Altersgruppen lässt Zweifel aufkommen, ob in erster Linie die Geschlechtszugehörigkeit das Wahlverhalten in der postulierten Form beeinflusst. Zumindest bei den bis 35jährigen ist der Zusammenhang zwischen Geschlecht und beabsichtigter Parteiwahl für Union oder SPD umgekehrt wie in den höheren Altersgruppen. Außerdem sind die Prozentdifferenzen als einfaches Zusammenhangsmaß unterschiedlich stark. Sie sind besonders hoch in den mittleren Altersgruppen. Auch ist der Zusammenhang zwischen Alter und Parteiwahl bei den Frauen stetig, bei den Männern nicht. Hinzu kommt, dass die Gruppenstärken unterschiedlich sind. Die Gruppe der über 60jährigen Frauen ist wegen der höheren Lebenserwartung deutlich stärker als die der Männer, die Gruppe der unter 35jährigen Männer etwas stärker als die der gleichaltrigen Frauen. Rein quantitativ wird also der im Durchschnitt größere Erfolg der Unionsparteien bei den Frauen vor allem durch den hohen Wert der CDU/CSU bei der großen Gruppe der über 60jährigen Frauen erreicht, der 14 Prozentpunkte über dem Durchschnittswert aller Befragten liegt, während der Erfolg der Union bei der erheblich kleineren Gruppe der über 60jährigen Männer nur neun Prozentpunkte über dem Durchschnittswert liegt. Bei den Frauen ist offensichtlich das Alter die dominierende Einflussgröße. Nicht nur für die Union, sondern auch für die SPD und die Grünen ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Alter der Frauen und ihrer Parteipräferenz zu erkennen, während bei den Männern das gleiche nur für die Grünen gilt. Bei allen übrigen Parteien sind wir bei den gegebenen Fallzahlen und Zellenbesetzungen in nicht mehr aussagefähigen Bereichen. Bei einer Dichotomisierung der Parteivariablen zur Reduktion von Komplexität in rot-grün und schwarz-gelb (andere Parteien nicht berücksichtigt) liest sich das Politbarometer-Ergebnis vom März 1998 wie folgt: Tabelle 3.3.2.4:
Wahlabsicht (politische Lager) nach Alter und Geschlecht (in Prozent; Auswahl „gültige Stimmen“)37 Männer
Wahlabsicht (pol. Lager) schwarz-gelb rot-grün
37
bis 35 30 62
Frauen
35-59
60 +
bis 35
35-39
25 69
44 49
18 74
37 57
60+ 50 46
Aufgrund der vorherigen Rundungen können die hier ausgewiesenen Prozentwerte von den addierten aus Tabelle 3.3.2.3 abweichen (sog. Rundungsfehler).
140
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Der analytisch beschreibende Satz dazu wäre: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe und die Absicht, eine damalige Regierungspartei oder eine der beiden Oppositionsparteien SPD oder Grüne wählen zu wollen, stehen bei Frauen in einem deutlichen Zusammenhang: je älter die Frauen, desto eher entscheiden sie sich für eine der Regierungsparteien, je jünger die Frauen, desto eher beabsichtigen sie, die Oppositionsparteien zu wählen. Die stärkste Unterstützung finden SPD und Grüne damals bei den Männern mittleren Alters. In der jüngeren Altersgruppe der Männer wird rot-grün doppelt so häufig bevorzugt wie eine der Regierungsparteien, bei den Frauen dieses Alters aber viermal so häufig etc. Was nun wirklich die unterschiedlichen Wahlabsichten bei den über 60jährigen Frauen bedingt, wissen wir damit aber noch nicht. Die Gründe könnten struktureller Art sein (sozialstrukturelle Theorie) oder in bestimmten politischen Problembereichen liegen, die von den Parteien unterschiedlich gut abgedeckt werden (sozialpsychologische Theorie), oder sie könnten in bestimmten ökonomischen Erwartungen oder Sicherheiten, für welche die Parteien stehen (ökonomische Theorie), zu finden sein. Bei der Suche nach charakteristischen Abweichungen der über 60jährigen, vor allem der Frauen, stößt man im Vergleich zu den anderen Altersgruppen zunächst auf eine ziemlich andere Verteilung in bezug auf den Bildungsstatus. Tabelle 3.3.2.5:
Schulbildung nach Alter und Geschlecht (in Prozent) Männer
Schulbildung Volksschule mittlere Reife Hochschulreife
bis 35
35-59
18 36 46
41 26 33
Frauen 60 + 55 22 22
bis 35
35-39
60+
17 42 40
36 45 19
74 26 10
Die Hypothese wäre also, dass der abweichende Bildungsstatus in den verschiedenen Altersgruppen ursächlich für die anderen Wahlabsichten ist. Eine Überprüfung könnte mit Hilfe einer Dreifachkreuzung vorgenommen werden. Allerdings sind dabei die Zellenbesetzungen in der März-Stichprobe des Politbarometer 1998 so klein, dass sie keine zuverlässigen Aussagen zulassen.38 Ein Ausweg besteht in der Nutzung einer größeren Stichprobe oder einer Kumulation mehrerer Stichproben. 38
Allgemein gelten Fallzahlen < 30 als problematisch. Sind einzelne Zellen einer Kreuztabelle geringer besetzt, dann kann eine Interpretation – wenn überhaupt – nur unter Vorbehalt erfolgen.
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
141
In der Annahme, dass es sich bei den Zusammenhängen um solche grundsätzlicher Art handelt und diese weniger von zeitlichen Stimmungsveränderungen gegenüber den Parteien abhängen, betrachten wir die kumulierten (=zusammengefassten) Daten aller Politbarometer des Jahres 1997 (n=10.476 „gültige Stimmen“). Die Zweifachkreuzung Wahlabsicht nach Geschlecht und Bildung zeigt bei Frauen deutliche Zusammenhänge von steigender Bildung und geringerer Wahlbereitschaft für die beiden Volksparteien sowie einen sehr starken Zusammenhang in der umgekehrten Richtung zugunsten der Grünen. Tabelle 3.3.2.6:
Wahlabsicht nach Geschlecht und Schulbildung (in Prozent; Auswahl „gültige Stimmen“) Männer
Befragte (n=10.476) CDU/CSU SPD Grüne
Frauen
Volksschule
Mittlere Reife
Hochschulreife
Volks- Mittlere schule Reife
HochschulReife
1971
1505
1667
2180
1902
1241
33 50 5
35 40 10
34 34 17
41 45 6
36 39 14
30 32 26
Bei Männern sehen wir keinen Zusammenhang zwischen Bildungsstatus und Wahlabsicht für die CDU/CSU, deutlich abnehmende Präferenzen für die SPD mit steigender formaler Bildung und umgekehrt zunehmende Wahlbereitschaft für die Grünen bei steigender Bildung. In der Dreifachkreuzung betrachten wir nun die dargestellten Zusammenhänge in drei Altersgruppen (Tabelle 3.3.2.7). Der negative Zusammenhang zwischen Bildung und Wahlabsicht für die Unionsparteien bei Frauen wird mit zunehmendem Alter immer schwächer bzw. hebt sich auf. Er bleibt aber für die SPD in allen drei Altersgruppen bestehen und ebenso in umgekehrter Richtung für die Grünen. Bei den Männern ist zumindest in der höchsten Altersgruppe ein Zusammenhang zwischen steigendem Bildungsstatus und Unionspräferenz zu erkennen und ein deutlicher Zusammenhang in umgekehrter Richtung für die SPD, während sich für die Grünen in den verschiedenen Bildungsgruppen nichts ändert. Dagegen gibt es hinsichtlich der Präferenz für die Grünen und die SPD in den beiden anderen Altersgruppen jeweils klare Abhängigkeiten vom Bildungsstatus, und zwar in entgegengesetzter Richtung: mit steigendem Status zugunsten der Grünen, mit niedrigerem Status zugunsten der SPD. Bei den Männern in der jungen und mittleren Altersklasse gibt es einen derartig steten Zusammenhang zwischen Bildung und Unionswahlabsicht nicht.
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Tabelle 3.3.2.7:
Wahlabsicht nach Alter, Geschlecht und Schulbildung (in Prozent; Auswahl „gültige Stimmen“) Männer
Alter bis 35 Jahre 35-59 Jahre 60 Jahre u. älter
Wahlabsicht CDU/CSU SPD Grüne CDU/CSU SPD Grüne CDU/CSU SPD Grüne
Volksschule 26 53 10 31 52 6 41 47 3
Mittlere Reife 33 38 14 35 43 10 44 37 4
Frauen HSReife 32 33 22 30 37 18 51 29 4
Volksschule 36 47 9 34 49 8 48 42 3
Mittlere Reife 28 44 18 34 40 16 51 31 5
HSReife 26 32 30 27 35 27 50 24 10
Die Dreifachkreuzung hat also ein sehr differenziertes Bild ergeben. Die Ursprungshypothese, dass die Geschlechtszugehörigkeit die Wahlabsicht in der Weise beeinflusst, dass Frauen eher die Unionsparteien bevorzugen, kann offensichtlich nicht aufrecht erhalten werden. Bereits die Einbeziehung der Altersvariablen führt zur Umkehrung der These für die jüngeren Befragten. Führt man zusätzlich die Bildungsvariable ein, so gilt die Ursprungsthese nur noch für Frauen mit höchstem Bildungsabschluss „Volkschule“ in allen Altersgruppen und für Frauen mit mittlerem Bildungsstatus bei den über 60jährigen. In allen anderen Gruppen muss die These verworfen werden, d. h. Frauen haben dort deutlicher als Männer die Absicht, SPD bzw. SPD und Grüne zu unterstützen. Generalisiert heißt das: Mit steigendem Bildungsstatus wählen Frauen stärker links als Männer. Der höhere Durchschnittswert der Unionsparteien bei Frauen wird nur erreicht, weil Frauen mit einfachem Bildungsstatus stärker unionsnah sind als Männer in der gleichen Gruppe und weil die stärkere Nähe zur Union bei den über 60jährigen besonders deutlich und diese Gruppe besonders stark ist. Analysen mit Kreuztabellen sind leicht nachvollziehbar und eignen sich in einfachen Formen selbst für die Darstellung in den Medien. Trotzdem ist der Aufwand, wie an dem Beispiel gezeigt wurde, erheblich. Eine Weiterentwicklung und gleichzeitig eine Vereinfachung der Kreuztabellenanalyse stellen die sogenannten „log-linearen“ Modelle dar, mit denen man versucht, die beobachteten Häufigkeiten in Kreuztabellen durch eine lineare Gleichung darzustellen, in der die Auswirkungen der Beziehungen der Variablen in den Zeilen und Spalten möglichst genau festgehalten werden (vgl. z.B. Falter/Gehring 1998).
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
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Regression und Korrelation
Im Gegensatz zur Tabellenanalyse, in der Gruppen dargestellt werden und die bei jedem Messniveau angewendet werden kann – was für die Ergebnisse der Wahlforschung sehr wichtig ist –, verlangen Regressionsmodelle mindestens intervallskalierte Daten. Dabei setzt man jeden Messwert einer unabhängigen Variablen (X) zu dem entsprechenden Messwert der abhängigen Variablen (Y) in Beziehung. Die lineare Regression ist dadurch definiert, dass mit zunehmendem X auch Y kontinuierlich und proportional zu- oder abnimmt. Eine praktische Anwendung findet die lineare Regression bei der Hochrechnung von Wahlergebnissen am Wahlabend. Dabei werden neue Wahlergebnisse einer Partei aus Stimmbezirken mit den alten Wahlergebnissen dieser Partei in diesen Stimmbezirken verglichen. Aus den sich ergebenden Differenzen, die ein Streudiagramm darstellen, wird die beste Schätzlinie ausgewählt, d. h. die Gerade, welche die Abstände zwischen den Messwerten minimiert. Diese Gerade hat eine bestimmte positive oder negative Neigung und erlaubt damit aufgrund des Ausgangswertes und der begrenzt vorliegenden neuen Daten auf die Größe des Endwertes = Endergebnisses zu schließen. Sehr viele Fragestellungen in den Sozialwissenschaften und auch in der Wahlforschung haben eine derartige Form. Man will wissen, wie sich eine abhängige Variable verändert, wenn man eine unabhängige Variable um eine bestimmte Einheit vergrößert oder verkleinert. Gesucht wird in der Regel nach dem besten Prädiktor, also der Gleichung der Regressionsgeraden, mit der aus den Werten der beobachtbaren Variablen die abhängige, noch nicht beobachtbare Variable geschätzt werden kann. Der Koeffizient, der die Stärke der Beziehung zwischen abhängiger und unabhängiger Variable im Regressionsmodell ausdrückt, ist der sogenannte Produkt-Moment-Korrelationskoeffizient R oder auch Pearson’s R (nach Karl Pearson) genannt, der von -1 bis +1 geht. Nur die Abweichung von 0 kann interpretiert werden; +/-1 ist die perfekte positive oder negative Beziehung.39 Um die Qualität der Regressionsgeraden beurteilen zu können, muss man ein Maß für die Abweichungen von beobachteten und vorhergesagten Werten der abhängigen Variablen, der sogenannten „Residuen“ haben. Die Varianz der Residuen muss möglichst gering sein, dann ist die Regressionsgerade besonders geeignet, die abhängige Variable vorauszusagen. Das dabei verwendete Maß ist das sogenannte Bestimmtheitsmaß, der Determinationskoeffizient R2, der wiederum von 0 bis 1 geht (Kromrey 1998: 487 ff.; Schnell et al. 1995: 418). 39
Siehe auch: Schumann 2000, S. 215ff.
144
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
Bei einer multiplen Regression geht es um den Einfluss mehrerer unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variable. Auch dabei verwendet man, um die Größe des jeweiligen Einflusses zu messen, einen Regressionskoeffizienten, der angibt, um welche Größe sich die abhängige Variable verändert, wenn man die unabhängigen Variablen unter Konstanthaltung aller übrigen unabhängigen Variablen variiert.40 Weitere Verfahren der Datenanalyse
Es gibt inzwischen eine Reihe von Weiterentwicklungen in der Analyse empirischer Daten, die auf Regressionen, multiplen Regressionen bzw. Korrelationen beruhen. Diese Verfahren werden insbesondere dann angewandt, wenn die Daten das angeforderte Messniveau nicht erreichen. Eine dieser Analysetechniken ist die „logistische Regression“. Die Vorstellung eines sogenannten Logit-Modells, wobei die abhängige Variable die Wahl einer politischen Partei ist, finden wir bei Dieter Urban (1990). Eine Anwendung dieses Verfahrens findet man bei Emmert/Roth (1995). Dabei werden in einem nach dem klassischen wahlsoziologischen Erklärungsansatz entworfenen Konfliktlinienmodell von Stein Rokkan und Seymour Martin Lipset folgende Variablen in die Modellanalyse aufgenommen:
die Konfession sowie die Kirchgangshäufigkeit als Indikatoren der konfessionell-religiösen Konfliktlinie, die Berufsgruppenzugehörigkeit und Gewerkschaftsmitgliedschaft als Ausdruck des Klassenkonflikts, Ortsgröße und regionale Einteilung anhand der Bundesländer zur Kontrolle von Stadt-Land-Unterschieden und Nord-Süd-Gefälle, das Alter der Befragten, Einstellung zum Sozialismus und Zufriedenheit mit der Demokratie als Indikatoren ideologischer Grundüberzeugungen, die Beurteilung der Entwicklung der deutschen Einheit, der subjektiven Einschätzung der Arbeitsplatzsicherheit und der eigenen wirtschaftlichen Lage als Ausdruck am materiellen Wohlergehen orientierter rationaler Einstellungsmuster.
Es wurde im weiteren der Versuch gemacht, nicht den Einfluss bestimmter Faktoren auf das Wahlverhalten insgesamt zu messen, sondern herauszufinden, welche sozialstrukturellen Positionen und individuellen Einstellungen sich beson40
Näheres dazu bei Backhaus et.al (2003), S. 45ff .
Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
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ders positiv oder auch negativ auf die Wahlabsicht einer ganz bestimmten Partei auswirkten. Dieses ist nur möglich, weil der Einfluss der anderen Modellvariablen durch logistische Regressionsmodelle bei der Berechnung der einzelnen Koeffizienten kontrolliert wird (vgl. auch Arminger/Küsters 1986). Wie schon Urban (1990: 36) klar formuliert hat, geht es dabei um die Grundfragen bei der Analyse von Wahlverhalten: „Von welchen Einflussfaktoren wird die Wahl einer bestimmten Partei beeinflusst?“ und weiter: „Wie bedeutsam sind alle relevanten Einflussfaktoren, wenn man sie untereinander vergleicht?“
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Kapitel 3: Instrumente und Methoden der Wahlforschung
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Kapitel 4: Wahlforschung in der Bundesrepublik Deutschland Kapitel 4: Wahlforschung in der Bundesrepublik Deutschland
4.1 Wahlstudien der fünfziger Jahre 4.1.1 Die erste Regionalstudie
Anlässlich der Berliner Wahlen am 3. Dezember 1950 wurde die erste größere Wahlstudie in der Bundesrepublik publiziert. Stephanie Münkes „Wahlkampf und Machtverschiebung“ ist unter Mitarbeit von Arkadij R. L. Gurland an der FU Berlin entstanden und erschien 1952 als erster Band der Schriftenreihe des dortigen Instituts für Politische Wissenschaft. Der größte Teil des Buches behandelt die Vorgeschichte der Wahlen, die Berliner Parteien und den von ihnen geführten Wahlkampf. Aus wahlsoziologischer Sicht sind jedoch weniger die parteisoziologischen Kapitel oder diejenigen, die den Wahlkampf behandeln interessant, sondern die Ergebnisanalyse in den beiden letzten Kapiteln. Neben einer Dokumentation und Kurzkommentierung der Ergebnisse der Wahlen des Jahres 1950 und den Veränderungen im Vergleich zu den Wahlen der Jahre 1948 und 1946 auf Wahlkreis- und Stimmbezirksebene berücksichtigen die Ergebniskapitel – erstmals in der Nachkriegsgeschichte – auch Umfragedaten. Bevor die Ergebnisse der Umfrage in die Analyse einflossen, bediente sich Stephanie Münke (1952: 194-199) der statistischen Zusammenhangsanalyse, die bereits bei Heberle (1934; 1945; 1963) Anwendung gefunden hatte. Gegenstand der Korrelationsrechnungen Münkes ist der jeweilige Zusammenhang zwischen Parteistärke und Sozialstruktur in den 12 Berliner Wahlkreisen. Genauer gesagt, untersuchte sie die Parteianteile der SPD, CDU und FDP in ihrer (vermuteten) Abhängigkeit von den Bevölkerungsanteilen der Arbeiter, Angestellten und Selbständigen. Zumindest für die SPD ließ sich ein positiver und für die FDP ein negativer Zusammenhang zwischen Parteianteilen und den Arbeiteranteilen nachweisen, während für die CDU keine Aussage über die Parteistärke in Abhängigkeit von der Sozialstruktur möglich war. Über diese Korrelationsrechnungen hinaus stellte Münke keine Berechnungen an – das hohe Aggregationsniveau (Wahlkreisebene) hätte weitergehende Aussagen ohnedies nicht zugelassen. In das Schlusskapitel flossen die Ergebnisse einer in der zweiten Oktoberhälfte 1950 vom Berliner Institut für Meinungsforschung (BIM) unter 600 zufälD. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Kapitel 4: Wahlforschung in der Bundesrepublik Deutschland
lig ausgewählten Westberlinern durchgeführten Umfrage ein. Zu Recht macht Münke (1952: 206, Fn. 7) auf die (recht großen) Fehlerbereiche der Umfrage aufmerksam41; über die Stichprobe oder das Auswahlverfahren erfährt der Leser indes so gut wie nichts. Problematisch erscheint auch der Vergleich zwischen der im Oktober 1950 geäußerten Wahlabsicht und dem tatsächlichen Wahlergebnis. Hierbei kommt es – erwartungsgemäß – zu beträchtlichen Unterschieden, die Münke (1952: 207 f.) auf Wahlkampfeffekte zurückführt. Nachfolgend (208212) stellt die Autorin in Schaubildern die Wahlergebnisse für die drei größten Parteien den Umfrageergebnissen einschließlich ihrer Fehlerbereiche auf Wahlkreisebene gegenüber. Teilweise im Widerspruch zu den von ihr zuvor expressis verbis als Wahlkampfeffekte charakterisierten Abweichungen suggeriert Münke nun visuell, die Abweichungen seien gar nicht so groß gewesen, wie der Vergleich der Wahlabsicht mit dem Gesamtergebnis nahe legt. Abgesehen von diesen Ungereimtheiten stellt die Arbeit von Stephanie Münke insofern eine Pionierleistung der empirischen Wahlforschung in der Bundesrepublik dar, als erstmals das wichtige Instrument der Umfrageforschung Eingang in eine Wahlanalyse fand. 4.1.2 Studien zu den ersten Bundestagswahlkämpfen 1953 und 1957
In Anlehnung an britische Wahlkampfstudien (vgl. Kapitel 5) erschien 1957 ein Aufsatz von Klaus Schütz zum Bundestagswahlkampf 1953 und 1960 eine Monographie von Uwe W. Kitzinger zum Bundestagswahlkampf 1957. Ein guter Einblick in die beiden letztgenannten Wahlkampfstudien findet sich bei Nils Diederich (1965: 148-154), so dass an dieser Stelle lediglich kurz auf die Methodik dieser Wahlkampfstudien eingegangen wird. Selbstironisch typisiert Kitzinger (1960: 5) seine Wahlstudie als „neanderthaler Art. ... Sie bietet also nicht mehr, und will auch nicht mehr bringen, als die ganz persönlichen Eindrücke eines einzelnen Beobachters, bekräftigt und modifiziert durch Diskussionen mit anderen, die mit verschiedenen Gebieten des ‘Schlachtfeldes’ besser vertraut waren. Und sie behandelt nicht die Substanz der
41
Münkes Kritik (1952: 206, Fn. 7) an der „leichtgläubigen, kritiklosen Presse“ hat bis heute nicht an Aktualität verloren: „Unerfreulicherweise sind die meisten nach 1945 in Deutschland bekanntgegebenen Ergebnisse von Meinungsforschungserhebungen ohne Angaben über die statistischen Unsicherheitsgrenzen in die Öffentlichkeit getragen worden. Auf diese Weise publizierte Ergebnisse sind wissenschaftlich wertlos und tun der Sache einen bösen Dienst.“
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Streitfragen, sondern vor allem den Stil, in dem das politische Leben während einiger Monate schicksalswichtiger deutscher Geschichte geführt wurde.“
Gerade im letzten Teilsatz des Zitats wird der zeitgeschichtliche Ansatz der Studie deutlich. Kitzinger und sein Team werteten vor allem die persönlichen Eindrücke ihrer Wahlkampfreisen aus (vgl. Diederich 1965: 148 f.). Dabei gelang es, die Aktivitäten der einzelnen Parteien und die Stimmung in der Bevölkerung in den verschiedenen Regionen subjektiv zu erfassen. Darüber hinaus dienten Experteninterviews dazu, die Motive und Einschätzungen der politischen sowie der nichtpolitischen Eliten zu beleuchten. Alles in allem wird der Wahlkampf bei Kitzinger als Monolog der Parteien gegenüber den Wählern gesehen, während er für Schütz ein interaktiver Prozess ist (Diederich 1965: 149). Der Ansatz von Klaus Schütz ist stärker politologisch als zeitgeschichtlich. Der Autor bildete sich sein Urteil nicht auf Grundlage von Wahlkampfreisen, sondern neben Experteninterviews durch die Auswertung von Presseberichten und Propagandamaterial der einzelnen Parteien (vgl. Diederich 1965: 148). Der Aufbau beider Arbeiten ist insofern ähnlich, als er sich deutlich von „modernen“ Wahlstudien unterscheidet (Kitzinger 1960: 5). Aus heutiger Sicht muss man den Wahlkampfanalysen der sechziger Jahre zumindest attestieren, versucht zu haben, eine in Großbritannien begonnene Tradition der Wahlkampfanalyse in Deutschland fortzuführen. Ein wichtiger Grund für die Anwendung dieser Methode ist sicherlich, dass Umfragen zu dieser Zeit weder in ausreichender Quantität noch Qualität verfügbar waren. Darüber hinaus hat man damals die Personenkomponente bei Bundestagswahlen (Erststimme) in Anlehnung an die Erfahrungen der Wahlkampfbeobachtung in Großbritannien wohl überbewertet. Auch in den sechziger Jahren fanden Wahlkampfanalysen noch ihren Platz in Sammelbänden zu Bundestagswahlen (Scheuch/Wildenmann 1968a). Mit dem Bedeutungszuwachs wahlsoziologischer Untersuchungen wurden sie in den Folgejahren immer unwichtiger. Durch den Anstieg potentieller Wechselwähler sowie das Aufkommen des privaten Rundfunks und Fernsehens erfreuen sich Wahlkampfanalysen in den neunziger Jahren wieder größeren Interesses. 4.1.3 Wahlsoziologische Analysen der Bundestagswahlen 1953 und 1957
Die wahlsoziologischen Untersuchungen der zweiten und dritten Bundestagswahl basierten größtenteils noch auf der Wahl- bzw. der Repräsentativstatistik des Statistischen Bundesamtes. Bereits Wolfgang Hirsch-Weber (1957) bezog jedoch Umfragedaten in seine Analyse mit ein, um diejenigen Lücken, welche die Wahlstatistik nicht zu füllen imstande ist, zu verkleinern. In seiner Studie zur
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Kapitel 4: Wahlforschung in der Bundesrepublik Deutschland
Bundestagswahl 1953 wurden daher die Ergebnisse politischer Meinungsumfragen verwendet, um den vermuteten Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit des einzelnen Wählers zu bestimmten sozialstrukturellen (Unter-)Gruppen und seiner Wahlentscheidung zu überprüfen. Zu diesem Zweck kreuzte HirschWeber in Tabellenform unter anderem die Konfessionszugehörigkeit, den Bildungsgrad und die Berufsgruppenzugehörigkeit mit der geäußerten Wahlabsicht. Wolfgang Hirsch-Weber wertete die Datensätze von vier Umfragen aus. Wie Günter Herzig im Anhang des Sammelbandes von Hirsch-Weber/Schütz (1957) erläutert, handelt es sich hierbei um drei EMNID-Umfragen, die unter jeweils 2000 nach dem Quota-Verfahren ausgewählten Bundesbürgern im Juli und August 1953 durchgeführt, sowie um eine DIVO-Umfrage, deren Daten unter 663 nach dem Zufallsverfahren ausgewählten Bundesbürgern Ende August/Anfang September 1953 erhoben worden waren. Je nach Zweck verwendete HirschWeber alle oder einzelne dieser empirischen Studien, da nicht in jeder Umfrage die gleiche Frage bzw. die gleiche Frageform verwendet wurde.42 Im von Erwin Faul 1960 herausgegebenen Sammelband zur Bundestagswahl 1957 spielen die Ergebnisse politischer Umfragen eine noch größere Rolle. Fauls vielversprechend als „Soziologie der westdeutschen Wählerschaft“ betitelter, 180 Seiten langer Aufsatz erweist sich als Konglomerat wahlstatistischer Ergebnisse und politischer Meinungsumfragen (Faul 1960a). Hierbei greift Faul vor allem auf die Arbeiten von Erich Reigrotzki (1956) und Friedrich Tennstädt (1957) zurück, denen ihrerseits Umfragen aus den Jahren 1950 bis 1956 zugrunde lagen. Reigrotzki verwendete für seine soziologische Abhandlung eine von DIVO und dem IfD gemeinsam im Sommer 1953 nach dem Zufallsverfahren unter 3246 Bundesbürgern durchgeführte Umfrage, während Tennstädt vom IfD 1950, 1953 und 1956 nach dem Quotaverfahren unter zweimal 2000 und einmal 6000 Bundesbürgern erhobene Umfragedaten auswertete. Erwin Faul verlor sich etwas in der Masse des von ihm zur Analyse herangezogenen Materials und wurde damit seinem Anspruch nur unzureichend gerecht. Darüber hinaus neigte er zur Überinterpretation: „Während Hirsch-Weber niemals versuchte, Schlüsse aus dem Material zu erzwingen, wo sie nicht zu halten waren, ließ sich Faul verleiten, durch Spekulationen empirische Belege zu ersetzen“ (Diederich 1965: 167). Zusammengenommen erscheint der Aufsatz Erwin Fauls zwar vielfältiger und materialreicher als derjenige Wolfgang HirschWebers, doch erlangt letzterer gerade durch seine Beschränkung eine größere Solidität. 42
Wo jedoch direkte Vergleiche möglich sind, ergeben sich zwischen den Ergebnissen verschiedener Umfragen nur geringe Abweichungen.
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4.1.4 Weitere frühe Wahlstudien
Von den nicht unmittelbar anlässlich von Bundestagswahlen veröffentlichten Wahlstudien ist die Arbeit von Gabriele Bremme (1956) zur politischen Rolle der Frau in Deutschland besonders interessant. Die Autorin trug unter anderem die Ergebnisse der Wahlstatistik der Weimarer Republik und der Bundesrepublik unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten zusammen. Zur erweiterten Analyse zog Bremme Umfragen des UNESCO-Instituts in Köln und des IfD heran. Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Studie gehört, dass Frauen stärker zu konservativen und ‘christlichen’ Parteien neigen als Männer, aber auch, dass manche sozialstrukturellen Faktoren (wie z. B. der Familienstand) größeren Einfluss auf das Wahlverhalten zu haben scheinen als die Geschlechtszugehörigkeit. Kurt L. Shell und Nils Diederich setzten 1960 die von Stephanie Münke begonnene Analyse der Berliner Wahlen für die Jahre 1954 und 1958 fort, obwohl sie sich selbst nicht in der Tradition Münkes sahen (Shell/Diederich 1960: 241, Fn. 1). Die Autoren beschäftigten sich vor allem mit dem Wahlkampf, wobei sie in stärkerem Maße als Münke die Ergebnisse der Meinungsumfragen von Dezember 1957 bis November 1958 berücksichtigten. Eine statistische Zusammenhangsanalyse bietet ihr Beitrag jedoch nicht. Eine ganze Reihe von Wahlstudien der fünfziger und sechziger Jahre beschäftigte sich in Regionalstudien mit der Aufarbeitung der Wahlen bis 1933 und der Wahlen der ersten Nachkriegsjahre. So hat beispielsweise Günther Franz (1953) „die politischen Wahlen in Niedersachsen 1867-1949“ auf Wahlkreisebene dokumentiert und in deskriptiver Weise die Ergebnisse der Wahlstatistik und der Sonderauszählungen analysiert. Über drei Viertel des Buches bestehen aus Ergebnistabellen, -diagrammen und -karten. Verfeinerte Analyseverfahren wie bei Heberle (1963) oder Münke (1952) finden sich indes weder bei Franz noch bei der breiter angelegten nationalen Studie „Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik“ von Alfred Milatz (1968). So nützlich diese und die vielen anderen sozialhistorischen Wahlstudien dieser Zeit auch heute noch sind, sie blieben für die empirische Wahlforschung wenig instruktiv.43 Andere frühe Bundestagswahlstudien brachten für die deutsche Wahlforschung ebenfalls keine Innovationen. Der Vollständigkeit halber sei auf sie an dieser Stelle noch hingewiesen. Ein überwiegend deskriptives Bändchen zur Bundestagswahl 1953, das auch Vergleiche zur Vorwahl 1949 anstellt, wurde 1953 von Christian-Claus Baer und Erwin Faul unter dem Titel „Das deutsche Wahlwunder“ herausgegeben. Der wohl interessanteste Aufsatz hierin stammt 43
Ausführliche bibliographische Hinweise zu diesen historischen Wahlstudien finden sich bei Vogel/ Nohlen/Schultze (1971: 450 f.) und Diederich (1965: 144, Fn. 2; 215-217).
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von Gabriele Bremme („Die Frau als Wählerin und Gewählte“), die drei Jahre später jedoch eine weit umfassendere Arbeit zum Frauenwahlverhalten publizierte (s.o.). Anlässlich der Bundestagswahl 1961 erschien ein Aufsatz von Samuel H. Barnes et al. (1962), deren Fokus allerdings weniger das Wahlverhalten als die Entwicklung des deutschen Parteiensystems war. Schließlich ist noch die Arbeit von Bernhard Vogel und Peter Haungs (1965) zu nennen, die man eine historisch-geographische Wahlkampfstudie nennen könnte, da sie sich beinahe ausschließlich mit dem Bundestagswahlkreis 177 (Stadt- und Landkreis Heidelberg) beschäftigte.
4.2 Die „Kölner Wahlstudie“ zur Bundestagswahl 1961 Der Soziologe Erwin K. Scheuch und der Politologe Rudolf Wildenmann, die Anfang der sechziger Jahre beide an der Universität Köln lehrten,44 beschritten in der von ihnen geleiteten Bundestagswahlstudie 1961 neue Wege in der deutschen Wahlforschung. Obwohl auch die älteren Analysemethoden (Wahlkampf, Regionalstudien) ihren Platz in der erstmals 1965 veröffentlichten Untersuchung fanden, standen die zentralen wahlsoziologischen Fragen „wer wählt wen und warum?“ stärker im Vordergrund als je zuvor bei einer deutschen Wahlstudie. In der Intention der beteiligten Soziologen und Politikwissenschaftler war die Wahlstudie 1961 jedoch mehr als die Untersuchung eines bestimmten Ereignisses, sondern eher eine Prozessanalyse und hätte, so die Herausgeber, auch „Wahlen im politischen System“ heißen können. Sie sollte eine Analyse des tatsächlichen Funktionierens eines politischen Systems sein, beobachtet beim Akt der Zuteilung legitimer und faktischer Macht. Die Studie war also klar empirisch orientiert und grenzte sich deutlich von der normativ oder historisch orientierten politikwissenschaftlichen Forschung ab. Themenschwerpunkt der Wahlstudie 1961 war, die Bedingungen des Machtwechsels in einem demokratischen System wie der Bundesrepublik zu ergründen. Dazu gehörte, die Einflüsse und die quantitativen Auswirkungen von Wahlkämpfen und des Wahlsystems auf das Ergebnis der Wahl festzustellen, ferner die Analyse der Wechselwähler. Mit anderen Worten, es wurde der Frage der Stabilität und Reagibilität des Systems nachgegangen. Letztlich suchten die Autoren aber nach den Determinanten des Wählerverhaltens, und sie bedienten sich dabei, wenn auch nicht immer explizit, der in den USA damals diskutierten unterschiedlichen Erklärungsansätze (vgl. Kapitel 44
Während Scheuch als Professor für Soziologie in Köln blieb, nahm Wildenmann 1964 eine Professur für Politikwissenschaft an der Universität Mannheim an.
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2). Gerade die Frage der Übertragbarkeit des US-amerikanischen Konzepts der party identification auf die Bundesrepublik läutete eine jahrelange Diskussion über die Brauchbarkeit der im Ausland entwickelten Analysekonzepte ein (Zolnhöfer 1965). Der Anspruch der Autoren, eine Prozessanalyse zu betreiben, also die „Interrelation“ der Elemente des politischen Systems der Bundesrepublik offen zu legen, führte zu einem umfangreichen „Forschungsprogramm“ mit einer Vielzahl methodischer Vorgehensweisen. Das Programm beinhaltete deshalb neben der Untersuchung der Wähler die Untersuchung der Parteien und der in den sechziger Jahren stark diskutierten Interessengruppen. Es zielte darauf, deren tatsächliches Verhalten zu erfassen und deren Funktion im Gesamtsystem zu ergründen. Diesen „strukturell/funktionalen Ansatz“ (was geschieht und welche Wirkung hat das) wandten die Autoren auch auf die Massenmedien an. All diese Programmpunkte versuchten sie sowohl auf der nationalen als auch auf der lokalen Ebene zu überprüfen. Auch hier folgten sie, was Theorie und Methode angeht, eher den amerikanischen Vorbildern. Sie bedienten sich repräsentativer Umfragen auf Bundes- und Länderebene, erstmals sogenannter Panel-Untersuchungen in Regionen (vgl. Kapitel 3), Befragungen von Politikern, Interessenvertretern und Journalisten, Inhaltsanalysen von Print- und elektronischen Medien und Beobachtungen der Reaktionen von Individuen auf bestimmte politische Stimuli. Ziel der Autoren der Wahlstudie 1961 war zunächst einmal die Demonstration des strukturell/funktionalen Ansatzes, den sie als neu im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und auch den USA sahen. Darüber hinaus hofften sie zu einer größeren Einsicht in die Zusammenhänge zwischen institutionellen Regelungen und dem Verhalten der Mitglieder des Gemeinwesens beitragen zu können. Angeregt durch die Bundestagswahlstudie 1961 erschienen in den Folgejahren mehrere weitere wahlsoziologische Monographien (u. a. Kaase 1967; Klingemann 1969; Pappi 1970; Falter 1973).
4.3 Die bundesrepublikanische Wahlforschung 1965-1990 4.3.1 Die Etablierung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin mit vielen Facetten
Bereits die Forscher der Kölner Wahlstudie hatten sich keinesfalls auf eine theoretische Vorgehensweise beschränkt, sondern versucht, die verschiedenen vorhandenen Ansätze auf ihre Anwendbarkeit in der damaligen Bundesrepublik zu überprüfen. Für die späteren Studien gilt um so mehr, dass man immer bestrebt war, die verschiedenen Elemente, insbesondere die der strukturellen und sozial-
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psychologischen Erklärungsversuche für Wahlverhalten zu kombinieren oder als integrierten Ansatz zu verwenden (siehe auch Küchler 1986). Sowohl in der akademischen, als auch in der nichtakademischen Wahlforschung kann diese Vorgehensweise beobachtet werden, wenn es auch nie wieder eine vergleichbar komplexe Studie wie die 61er Wahlstudie gab. Empirische Wahlforschung besteht aber nicht nur aus Primärdatenerhebung, obwohl daran in einer historischen Betrachtung die Fortschritte des Fachs sehr gut nachgezeichnet werden können, sondern auch in der kritischen analytischen Reflexion dessen, was als Erklärung für konstantes oder wechselndes Verhalten angeboten wird, und mit welchen Verfahren man zu diesen Erkenntnissen kommt. Ein Beispiel dafür ist die lange und immer wieder aufflammende Diskussion in der bundesrepublikanischen Wahlforschung um die Übertragbarkeit des Konzepts der Parteiidentifikation auf deutsche Verhältnisse. Bereits in der Kölner Wahlstudie hat Zolnhöfer (1965) eine Anwendung der Parteiidentifikation versucht, aber über die gesamten sechziger und siebziger Jahre blieb das Konzept in einer kritischen Diskussion (Kaase 1976, Berger 1977, Falter 1977, Gluchowski 1983). Anfang der achtziger Jahre schien die Operationalisierung der Parteiidentifikation mit einer Formulierung, die Anfang der siebziger Jahre von Frank Dishaw gefunden wurde (Kaase 1994), gelungen und anerkannt zu sein.45 Nicht unerheblich für diesen vorläufigen Burgfrieden waren die zumindest plausibel klingenden Ergebnisse einer Normalwahlanalyse von Jürgen W. Falter und Hans Rattinger (1983) zur Bundestagswahl von 1980, mit der die Autoren versuchten, das Konzept von Converse (1966) auf die Bundesrepublik zu übertragen. Aber diese Akzeptanz währte nicht lange. Manfred Küchler bestritt auf der Grundlage von Daten aus der Panel-Studie zur Bundestagswahl 1987, dass der Parteiidentifikation neben der Wahlintention eine eigene Erklärungskraft zukommt (Küchler 1990: 427; vgl. Kapitel 2.2). Ein zweites Beispiel im Bereich der Operationalisierung ist die weniger bekannte Entwicklung der Wahlabsichtsfrage, also der allseits bekannten Sonntagsfrage, ihre Umsetzung und ihre Positionierung im Fragebogen (Gibowski 1973). Auch diese Diskussion hält partiell immer noch an, wenn z. B. das Institut für Demoskopie in Allensbach nach wie vor darauf besteht, dass nur die Abfrage von Erst- und Zweitstimme zu richtigen Ergebnissen führt. Wie in den frühen Wahlstudien am Lehrstuhl Wildenmann in Mannheim nachgewiesen werden konnte, führten aber bereits unterschiedliche Techniken wie 45
Siehe Kapitel 2.2, Fn. 10. Diese mehrstufige Form der Parteiidentifikationsfrage benutzt im übrigen auch die Forschungsgruppe Wahlen in all ihren Studien.
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die sogenannte Simulation des Wahlaktes (mit Wahlzettel und Wahlurne), die Abfrage der Wahlabsicht mit übergebenen Listen, bei denen alternativ nur den Parteien zugeordnete Nummern oder aber Parteinamen angekreuzt bzw. dem Interviewer mitgeteilt wurden, oder die offene Abfrage der Wahlabsicht
zu unterschiedlichen Ergebnissen und deutlich unterschiedlicher Bereitschaft der Befragten, überhaupt zu antworten. Eine einheitliche Abfrage ist noch immer nicht gefunden,46 obwohl die stärkere Nutzung von Telefoninterviews die Anzahl der Variationen der Sonntagsfrage begrenzt hat. Ein wichtiger Schritt zur Institutionalisierung empirischer Wahlforschung in Deutschland war das steigende Interesse der Medien, insbesondere des Fernsehens, an der schnellen Darstellung und Analyse der Wahlergebnisse. Als dramaturgisches Mittel zur Steigerung des öffentlichen Interesses und damit Einschaltquoten, benutzte man Hochrechnungen (siehe Kapitel 3). Spannend dabei war vor allem der Wettkampf der beiden Fernsehanstalten, ARD und ZDF, um die schnellste und präziseste Hochrechnung der Wahlergebnisse. Erstmals bei der Bundestagswahl 1965 auf der Basis von Wahlkreisen und ziemlich spät ausgestrahlt (kurz vor 21:00 Uhr), wurde es im Laufe der Jahre zu einem festen Bestandteil des Wahlabends, verbunden mit einem Rennen um die ersten aussagekräftigen Zahlen zu immer früheren Zeitpunkten, weil inzwischen auf Stimmbezirksebene gerechnet wurde.47 Auch heute noch findet diese Auseinandersetzung hauptsächlich zwischen den beiden öffentlich-rechtlichen Anstalten statt. Inzwischen wird allerdings zusätzlich zu den Hochrechnungen mit der Schließung der Wahllokale um Punkt 18:00 Uhr eine häufig ziemlich genaue Prognose ausgestrahlt, die auf einem exit poll, einer Befragung von Wählern vor dem Wahllokal nach Abschluss des Wahlakts, beruht. Das Interesse des Fernsehens an der Wahlforschung führte dazu, dass das Instrumentarium und die Häufigkeit der Datenerhebung stark ausgebaut wurden. Diese Arbeiten wurden hauptsächlich von zwei Wahlforschungsinstituten wahrgenommen. Das Institut für angewandte Sozialforschung (Infas) in Bad Godesberg, geleitet von Klaus Liepelt, einem Schüler Warren Millers (University of Michi46
Vgl. Kap. 3.2.2.2.1. Im Jahre 1972 wurde die erste Hochrechnung des ZDF um ca. 19:00 Uhr veröffentlicht (Die durchschnittliche Abweichung zwischen den hochgerechneten Prozentanteilen für die einzelnen Parteien und deren tatsächlichem Ergebnis betrug um 19:45 Uhr 0,3 Prozentpunkte); 1980, 18:29 Uhr (Fehlerabweichung 0,48); 1987, 18:25 Uhr (Fehlerabweichung 0,28); 1994, 18:12 Uhr (Fehlerabweichung 0,13).
47
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gan), stellte von 1965 bis 1996 Hochrechnungen und Analysen für die ARD bereit. Die aus dieser Arbeit erwachsenen umfangreichen Datenbestände wurden allerdings nie der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur freien Nutzung zur Verfügung gestellt. Rudolf Wildenmann, Max Kaase und Uwe Schleth, die alle ‘Mitglieder’ der 61er Wahlstudie waren, begründeten nach der Berufung Wildenmanns nach Mannheim dort ein neues Zentrum für empirische Wahlforschung. Von 1965 an berieten Wildenmann und sein Team das zwei Jahre zuvor gegründete ZDF und erstellten bei Bundestagswahlen und Landtagswahlen Hochrechnungen und Analysen für den Sender. 36 Bundesstudien und mehrere Länderstudien wurden bis 1972 unter Wildenmanns Leitung durchgeführt. Nach dem wahlfreien Jahr 1973 gründeten 1974 drei wissenschaftliche Mitarbeiter aus dem Wahlforschungsteam – Manfred Berger, Wolfgang Gibowski und Dieter Roth – den eingetragenen Verein „Forschungsgruppe Wahlen“ (FGW), der seit dieser Zeit bei allen Landtags-, Bundestags- und Europawahlen für das ZDF den wissenschaftlichen Teil des Wahlabends bestreitet. Darüber hinaus hat die FGW die sozialwissenschaftliche Beratung bei vielen weiteren Sendungen des ZDF übernommen, einschließlich der Berichterstattung über wichtige Wahlen im Ausland. Vor allem aber erhebt die Forschungsgruppe seit 1977 die Daten des monatlichen Politbarometers, analysiert diese und verantwortet deren Interpretation. Insgesamt hat die Forschungsgruppe Wahlen seit 1974 weit über 600 bundesweite Studien und ca. 200 Länderstudien durchgeführt und zu sämtlichen Wahlen auf Landes-, Bundes- und Europaebene Dokumentationen und Analysen erstellt („Berichte der Forschungsgruppe Wahlen“, 128 Ausgaben bis Mai 2007), die vielfach Grundlage weitergehender Publikationen waren und sind. Das Primärdatenmaterial ist im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln gelagert und steht Wissenschaftlern und Studenten zu Sekundäranalysen zur Verfügung. Das Zentralarchiv wurde 1960 von Günter Schmölders gegründet, später von Erwin K. Scheuch geleitet und stellt heute seine umfangreichen Bestände über politische Einstellungen und politisches Verhalten national und international zur Verfügung. Das Zentralarchiv beherbergt auch Wahlstudien des sozialwissenschaftlichen Instituts der Konrad-AdenauerStiftung, die im Auftrag der CDU durchgeführt wurden, und Studien, die unter der Leitung von Werner Kaltefleiter (Kiel) zu Bundestagswahlen erstellt wurden (näheres siehe Kaase/Klingemann 1994). Neben diesen verschiedenen Einzelstudien gab es seit Anfang der siebziger Jahre Bemühungen, ähnlich wie in den USA, zu einer institutionalisierten „Deutschen Wahlstudie“ zu kommen. Die akademischen Wahlforscher aus Mannheim – Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann, Manfred Küchler und Franz Pappi – nutzten eigene Ressourcen und solche der Forschungsgruppe Wahlen, um ge-
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meinsam seit 1976 bei allen Bundestagswahlen ein Datenset zu erstellen, das in der Regel ein Drei-Wellen-Panel, eine Nachwahlstudie und seit 1980 auch monatliche Daten des Politbarometers enthielt. Dieses „German Election Data Project“ steht über das Interuniversity Consortium for Political and Social Research (ICPSR) in Ann Arbor der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Analyse deutscher Wahlen zur Verfügung und wurde inzwischen auch durch Umfragedaten zu älteren Bundestagswahlen ergänzt. 4.3.2 Einschlägige Publikationen der bundesdeutschen Wahlforschung bis 1990
Die Zusammenarbeit bei der Konzeption der Studien und auf der Ebene der Datenerhebung führte auch zu gemeinsamen Publikationen, die zunehmend für alle sich dem Fachbereich zuordnenden Wissenschaftler offen waren. Die Wahlen von 1972 und 1976 wurden im Rahmen der Politischen Vierteljahresschrift (PVS 1973; 1977) von einer Reihe von Autoren behandelt. Bereits 1977 sprengte die Anzahl der Abhandlungen den Rahmen der PVS. Alle Wahlen seit 1980 sind deshalb in den sogenannten „Blauen Bänden“ aus unterschiedlichster Sicht analysiert und dokumentiert (Kaase/Klingemann 1983; Klingemann/Kaase1986; Kaase/Klingemann 1990; Klingemann/Kaase 1994; Kaase/Klingemann 1998, Klingemann/Kaase 2001; Falter/Gabriel/Weßels 2005). Der inhaltliche Aufbau der Blauen Bände ist, zum Leidwesen vieler Studenten, uneinheitlich. Dieses strukturelle Defizit ermöglichte jedoch bisher die Berücksichtigung einer großen Bandbreite von Beiträgen trotz einer, auf den ersten Blick schwer ersichtlichen Beibehaltung der Beschäftigung mit bestimmten Kernfragen der Wahlforschung. Dadurch zeugen die Blauen Bände (zusammen mit den Ausgaben der PVS 1973 und 1977) seit Anfang der siebziger Jahre sowohl von Konstanz als auch vom Wandel in der bundesdeutschen Wahlforschung. Schwerpunkte der Veröffentlichungen in den siebziger Jahren waren die Auseinandersetzungen mit den vorherrschenden theoretischen Ansätzen der USamerikanischen Wahlforschung: es wurde vor allem versucht, Elemente dieser Ansätze auf Wahlen in der Bundesrepublik zu übertragen, anzuwenden und zu überprüfen (z. B. Berger 1973, 1977; Falter 1977; Hildebrand/Dalton 1977; Klingemann 1973; Klingemann/Taylor 1977; Norpoth 1977; Pappi 1973; Roth 1973). Daneben wurden methodische Probleme diskutiert (z. B. Gibowski 1973, Hippler 1977, Radke 1977, Schulte 1977) und die Einflüsse der Kommunikation auf Wählermeinungen und Wahlverhalten untersucht (Kaase 1977a, NoelleNeumann 1977, Schönbach 1977). Bereits in den siebziger Jahren wurde der
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Stand der wahlsoziologischen Forschung kritisch betrachtet (Kaase 1973; Küchler 1977; Meyer 1977) und eine stärkere Einbettung der Individualdatenanalyse in die Untersuchung von Gruppenprozessen und damit eigentlich eine Rückkehr zur Gesamtprozessanalyse gefordert. Das wissenschaftliche Interesse am Themenkomplex Wahlen und Massenkommunikation blieb auch in den achtziger Jahren bestehen (Feist/Liepelt 1986; Kirchgässner 1986; Noelle-Neumann 1983; Norpoth/Baker 1983; Sarcinelli 1986). Die Methodendiskussion jedoch wurde mit der Warnung vor einem allzu sorglosen Umgang mit Wählerwanderungsbilanzen (Küchler 1983; Laemmerhold 1983) bereits Anfang der achtziger Jahre vorläufig beendet. Neben der Beschäftigung mit der Beziehung zwischen ökonomischer Lage und Wahlverhalten (z. B. Schmidt 1983; Rattinger 1983) bilden wahlsoziologische Längsschnittanalysen die Schwerpunkte der beiden ersten Blauen Bände (z. B. Dalton 1986; Klingemann 1983; Pappi 1986). Besondere Aufmerksamkeit erlangten die Versuche von Jürgen W. Falter und Hans Rattinger (1983; 1986), die von Converse (1966) in der Theorie vorgestellte und später in den USA durchgeführte Normalwahlanalyse (normal vote analysis) auch in der Bundesrepublik zu realisieren. Im Großen und Ganzen gelang die Übertragung der Normalwahlanalyse und führte sowohl für die Bundestagswahl 1980 als auch für die Bundestagswahl 1983 zu „fruchtbaren und plausiblen Ergebnissen“ (Falter/Rattinger 1983: 418). Bei beiden Wahlen zeigte sich, dass längerfristige Faktoren (in Form der Parteiidentifikation; vgl. Kapitel 2) auf das Wahlverhalten der Bundesbürger größeren Einfluss haben als kurzfristige Faktoren (Personen und Sachthemen). Je nach Wahl erwiesen sich unter den Kurzzeiteinflüssen allerdings die Personenkomponenten (1980) oder die Sachthemen (1983) als wichtiger.
4.4 Entwicklungen seit 1990 Zu Beginn der neunziger Jahre gab es – nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der ersten gesamtdeutschen Wahl – thematisch zunächst ein nahezu natürliches Interesse an den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden im west- und ostdeutschen Wahlverhalten. Dies hat sich wiederum sehr deutlich in den Beiträgen zum Blauen Band (Klingemann/Kaase1994) niedergeschlagen (Kaase/Klingemann 1994a; Eckstein/Pappi 1994; Küchler 1994; Norpoth 1994; Feist/Liepelt 1994; Pfetsch/Voltmer 1994). Darüber hinaus wurden vor allem die Nichtwähler (einmal mehr) als Thema entdeckt (Feist 1992, 1994a, 1994b; Roth 1992; Hoffmann-Jaberg/Roth 1994; Falter/Schumann 1993, 1994; Armingeon 1994; Eilfort 1994; Kleinhenz 1995; Krimmel 1997, Kaase/Bauer-Kaase 1998) und Protestwahlverhalten gewann an
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Interesse (Pappi 1990; Roth 1990; Heitmeyer 1992; Backes/Jesse 1993; Leggewie 1993; Stöss 1993; Falter 1994; Kowalsky/Schröder 1994; Roth/Schäfer 1994, Küchler 1998, Schumann 1998). Beide Themenschwerpunkte sind im Zusammenhang mit einer neuen Welle von Parteien- und Politikerverdrossenheit, die insbesondere in den Jahren 1992 und 1993 zu starken Veränderungen der Wahlbeteiligung und zum zeitweiligen Erstarken von Parteien am rechten Rand führten, zu sehen. Die Themen Nichtwähler, Wechselwähler und Protestwähler bleiben aber auch in den Jahren nach der Jahrhundertwende aktuell (Roth/Wüst 2007). In den Blauen Bänden aus Anlass der Bundestagswahlen 1994 und 1998 findet man zunächst Analysen zu spezifischen Aspekten der jeweiligen Wahl, aber auch immer längerfristige Vergleiche unter aktuellen Fragestellungen, sowie die Grundsatzfragen des Faches und relevante Beiträge zur deutschen Wahlforschung auch von anderen Disziplinen. Insbesondere der Einfluss der Massenmedien auf das Wahlverhalten nimmt einen zunehmend größeren Raum in den Beiträgen ein. Im Vorwort des Blauen Bandes zur Wahl 1998 übergeben die bisherigen Herausgeber Kaase und Klingemann das Staffelholz an die neuen Herausgeber Falter, Gabriel und Wessels, die keine neuen Konzepte vorschlagen aber „den einen oder anderen eigenen Akzent“ setzen wollen. Im September 2000 erschien der von Markus Klein, Wolfgang Jagodzinski, Ekkehard Mochmann und Dieter Ohr herausgegebene Band „50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland“, der die Beiträge einer Expertentagung vom November 1999 in Köln zusammenfasst. Er beschäftigt sich mit der Entwicklung und dem Forschungsstand der empirischen Wahlforschung seit Gründung der Bundesrepublik und versucht die Zukunftsaufgaben herauszuarbeiten. Zunächst liefert Max Kaase dazu einen aufschlussreichen globalen Bericht. Neben zwei Beiträgen zum Parteienwettbewerb und zum Parteiensystem der Bundesrepublik, gibt es mehrere empirische Analysen des Wählerverhaltens in vornehmlich längsschnittlicher Betrachtung mit durchaus bekannten Themenstellungen, die mit gängigen Theorien angegangen werden. In einem eigenen Kapitel werden Zusammenhänge von Wahlverhalten und Medien thematisiert. Die Zukunftsperspektiven fallen dort eher bescheiden aus. Allerdings werden die Bemühungen um eine eigene ‚Deutsche Nationale Wahlstudie’ dargestellt, die erst 2007 in die Gründung eines Vereins „Deutsche Gesellschaft für Wahlforschung“ mit Sitz in Mannheim führten. Die starken politischen Veränderungen in den 90er Jahren, gekrönt vom ersten durch die Wähler herbeigeführten Regierungswechsel auf Bundesebene 1998, haben neben den Blauen Bänden zu einer Reihe von Veröffentlichungen geführt, die sich über die Wahlanalyse hinaus mit grundlegenden Fragen des Wahlverhaltens und dessen Wandel befassen. Strukturelle und konjunkturelle
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Veränderungen werden zur Erklärung der im Vergleich zur alten Bundesrepublik heftigen Bewegungen in der Parteienlandschaft herangezogen. Insbesondere ist hier eine Veröffentlichung des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der DVPW (Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft) zu nennen: Die Republik auf dem Weg zur Normalität? (van Deth u.a. 2000). Was die theoretischen Erklärungsansätze betrifft, so fand auch in den neunziger Jahren eine Diskussion über eine mögliche Erweiterung oder Neuformulierung des Cleavage-Modells statt. Ökologie, Materialismus/Postmaterialismus, der Geschlechterkonflikt oder der Generationenkonflikt wurden als „neue“ Cleavages angeboten, aber keines davon hält der Überprüfung nach Lipset und Rokkan stand (Raschke/Schmitt-Beck 1994, Falter/Schoen 2005, Bieber 2005, Falter/Gehring 1998). Manche glauben auch eine gewisse Renaissance des RationalChoice-Ansatzes zu erkennen, zumindest aber eine Schwerpunktverlagerung bei der Nutzung der bekannten Ansätze festzustellen. Ob tatsächlich schon von einem Paradigmenwechsel vom sozialpsychologischen Ansatz der Michigan-Schule zum Rational-Choice-Ansatz gesprochen werden kann, wie Kühnel/Fuchs (1998) dies tun, bleibt dahingestellt. Tatsache ist, dass viele Autoren Elemente des Rational-Choice-Ansatzes zur Erklärung des Phänomens Wahlverhalten in den neunziger Jahren heranziehen (Fuchs/Kühnel 1994; Kaase/Bauer-Kaase 1998; Thurner/Pappi 1998; Zelle 1998, Arzheimer/Klein 2000) oder aber beide Ansätze wohl begründet zusammen diskutieren (Roller 1998; Schmitt 1998). Interessant ist, dass die empirische Überprüfung beider Ansätze oft mit den gleichen Indikatoren und zum Teil sogar mit den gleichen Operationalisierungen versucht wird. Der Grund ist naheliegend: Es muss auf vorhandenes Datenmaterial zurückgegriffen werden, zum einen weil die meisten Wahlforscher nicht die Möglichkeit haben, eigene Felduntersuchungen durchzuführen, zum anderen weil man für längerfristige Vergleiche bei identischen Operationalisierungen bleiben muss. In der bundesrepublikanischen Wahlforschung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts bleiben aber weiterhin die folgenden (und meist alten) Fragen interessant: Wie verändern sich die Gewichte der einzelnen Einflussfaktoren Parteibindung, Problemorientierung und Kandidatenpräferenzen unter den veränderten Bedingungen eines nun größeren Deutschlands, fortschreitenden Veränderungen in der Sozialstruktur und in den Medien, einer Entideologisierung der Parteien, verstärkter Verflechtungen in Europa und einer Globalisierung der Märkte sowie der Kommunikation. Und auch für das beginnende 21.Jahrhundert haben diese Fragen sich nicht grundsätzlich geändert. Im Blauen Band zur Bundestagswahl 2002 (Falter u.a. 2005) tauchen sie alle wieder auf und werden vorsichtig beantwortet. Charlotte Kellermann und Hans Rattinger kommen in ihrem Beitrag dort über die Veränderungen der Einflussstärke von Parteiidentifikation,
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Kandidatenorientierung und Sachfragenkompetenz zwischen 1994 und 2002 zu dem Schluss, dass es weniger Stabilität der Determinantenmuster gibt aber keinen eindeutigen oder sogar einheitlichen Trend. Der oft diskutierte Personalisierungstrend, lässt sich auch nach anderen Studien (Gabriel/Neller in: Falter u.a. 2005) nicht zweifelsfrei nachweisen, aber es gibt Hinweise, dass Kandidatenorientierungen häufig wichtiger für Veränderungen der Wahlentscheidungen werden. Auch Untersuchungen zu den sog. TV-Duellen vor der Wahl 2002 (Maier/ Faas und auch Klein/Pötschke in Falter u.a. 2005) gehen davon aus, dass die Kandidatenpräferenz erheblich zum Gesamturteil beitragen. Wie Andreas Wüst und Philip Stöver (2007: 29) in einem Literaturbericht feststellen, haben sozialstrukturelle Faktoren für die Wahlentscheidung europaweit abgenommen, aber „es gibt keine klaren empirischen Belege dafür, dass im Gegenzug kurzfristige Faktoren für die Wahlentscheidung wichtiger geworden wären“ (Personen, Themen). „Politisierung und Polarisierung von Themen und auch Konfliktlinien“ seien je nach Wahl die ersetzenden wichtigen Einflussgrößen. Mit anderen Worten heißt das, der Wahlkampf wird für die Parteien wichtiger denn je. Ein längerfristiges Modell kann diese Situation nur sehr bedingt einfangen, oder wie Jacques Thomassen (2005: 265 ff.) es ausdrückt: „electoral behaviour is primarily political behaviour that is shaped by the supply side of politics at least as much as by autonomous processes in society”.
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Kapitel 5: Empirische Wahlforschung in anderen europäischen Ländern Kapitel 5: Empirische Wahlforschung in anderen europäischen Ländern
Die in Kapitel 2 dargestellten theoretischen Ansätze der Columbia- und Michigan-Schule hatten nicht nur in Deutschland großen Einfluss auf die Entwicklung der Wahlforschung, sondern auch in allen anderen europäischen Demokratien. Zunächst wurden in einigen Ländern nach dem Vorbild der Columbia School Wahlstudien in Angriff genommen (z. B. in Großbritannien und in den Niederlanden). Sehr bald dominierten jedoch die Einflüsse der Michigan School, vor allem weil das dortige Survey Research Center und später das ICPR (International Center for Political Research) in Ann Arbor zu einer Art Mekka der politischen Verhaltensforschung wurde. Viele europäische Wahlforscher zog es, zumindest in den sechziger und siebziger Jahren, in die Ann Arbor Summer School, in der keine geringeren als Angus Campbell, Philipp Converse, Warren Miller und Donald Stokes lehrten. Neben den theoretischen Ansätzen wurden dort auch die Techniken der Datenerhebung und der Datenanalyse vermittelt. Die beim Vergleich der beiden Theorieansätze oft artikulierte Gegensätzlichkeit stand in den sechziger Jahren nicht im Vordergrund. In dieser Zeit galt es vor allem, die hohe Stabilität von Parteiensystemen und von individuellem Wahlverhalten zu erklären, und das konnte man mit beiden Ansätzen, weil sie langfristige Vorprägungen oder Dispositionen als erklärende Variablen anboten: soziale Hintergrundvariablen oder die Parteiidentifikation. Erst mit dem Aufweichen dieser traditionellen Bindungen und der zunehmenden Wechselbereitschaft unter den Wählern traten die kurzfristigen Einflussfaktoren stärker in den Vordergrund, und diese boten eher Vertreter der Michigan School an. Auch rational choice-Ansätze gewannen damit wieder Anhänger, weil man wegen des allgemein gestiegenen Bildungsniveaus den Wählern eher zutraute, eine Partei, die ihre Interessen am besten vertritt, zu erkennen und zu wählen. In diesem Kapitel geht es zunächst um die Entwicklung der Wahlforschung in einigen ausgewählten europäischen Ländern, wobei die Auswahl bewusst erfolgte. In jedem der behandelten Länder gab es, bedingt durch das Parteiensystem oder andere Einflüsse der politischen Kultur, besondere Anpassungsprobleme der originär anglo-amerikanischen Ansätze zur Erklärung von Wahlverhalten. Gleichzeitig gab es aber auch Forschungsergebnisse, welche die Diskussion D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Kapitel 5: Empirische Wahlforschung in anderen europäischen Ländern
der Modelle sehr befruchteten, wie z.B. das makrosoziologische Modell durch Erkenntnisse in Norwegen oder das PI-Konzept durch die Erfahrungen in Frankreich und Holland.48
5.1 Großbritannien49 Die Wurzeln der empirischen Wahlforschung in Großbritannien finden sich in den sogenannten „Wahlkampfstudien“ am Nuffield College zu Ende des Zweiten Weltkriegs. Insbesondere die Wahlstudien der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre verdienen allerdings kaum den Zusatz „empirisch“, denn sie waren und verstanden sich vor allem als Beiträge zur zeitgeschichtlichen Forschung (vgl. Diederich 1965: 116 ff.). In ihnen werden die innenpolitischen Entwicklungen seit den jeweils vorangegangenen Wahlen, der Verlauf des Wahlkampfs allgemein und in ausgewählten Wahlkreisen dargestellt. Grundlagen für diese Beschreibungen bildeten vor allem Wahlprogramme, die Berichterstattung in Presse und Rundfunk sowie die Vor-Ort-Beobachtung in ausgewählten Wahlkreisen.50 Die rein deskriptiven, frühen Wahlstudien am Nuffield College lassen sich zwar als „Fallstudien ersten Ranges“ (ebd.: 142 f.) klassifizieren, die Ursachen der individuellen Wahlentscheidung bleiben bei ihnen jedoch zum größten Teil im Dunkeln. Auch Ergebnisse aus Meinungsumfragen, die ab den fünfziger Jahren Eingang in die britischen Wahlstudien fanden, änderten zunächst nicht viel an ihrem zeitgeschichtlich-deskriptiven Charakter. Im Laufe der fünfziger Jahre wurden zwar verstärkt theoretische und methodische Ansätze der Columbia School in die Wahlstudien integriert (Benney et al. 1956, Milney/McKenzie 1954; 1958), doch historische sowie institutionelle Ansätze blieben die Kernbestandteile. Neben (neuen) Individualdatenanalysen blieben in Großbritannien bis in die achtziger Jahre hinein auch Aggregatdatenanalysen von großer Bedeutung (Johnston 1985). Charakteristisch für die britischen Wahlstudien ist, dass der Zusammenhang von Klassenstruktur und Wahlverhalten stark im Vordergrund steht. Auch normative Fragen, inwieweit Wahlen und Wähler die demokratische Entwicklung sicherstellen können, wurden wiederholt behandelt.
48
Die Ausführungen sind stark an die Länderstudien bei Thomassen (1994) angelehnt. Siehe hierzu v.a. Curtice (1994). Aufgrund des Wahlsystems (Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen) bot sich die Beobachtung des Wahlkampfs in einzelnen Wahlkreisen in Großbritannien besonders an.
49 50
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Die ersten Studien waren Fallstudien und, wie in den USA, auf kleine überschaubare Einheiten (Wahlkreise) begrenzt. Sie fokussierten Wahlkämpfe, und es wurden nicht nur die Einstellungen der Wahlberechtigten, sondern auch soziale und politische Kontextinformationen erhoben. Auch die Rolle der Medien als Informationsquelle wurde versucht zu erfassen. Die Ergebnisse waren überraschend: Drei Viertel der Wahlentscheidung ging auf Familientradition und sozialen Status zurück. Beides war eng mit den langfristigen Erscheinungsbildern der Parteien verknüpft.51 Die Wahlentscheidung lag zumeist weit im voraus fest, der Wahlkampf schien kaum Veränderungen zu bringen. Viele Wahlkampfaussagen werden vom Wähler offenbar nicht aufgenommen, wenn sie seinen politischen Grundüberzeugungen widersprechen. Für den kleinen Teil der nicht festgelegten Wähler stellte man eher niedriges Interesse und geringe Informiertheit fest. Die Studien ließen Zweifel an der Rolle des Wahlkampfs als Informations- und Entscheidungshilfe aufkommen und unterstrichen die Wichtigkeit des Klasseneinflusses für das Wahlverhalten. Nicht so klar war, warum die Labour Party in Folge Wahlen verlor, obwohl die Arbeiter zu jener Zeit die dominierende Klasse waren. Die Wahlkampfstudien schienen diese Fragen nicht beantworten zu können. Bereits damals tauchte die These der Verbürgerlichung der Arbeiterschaft auf, die aber empirisch nicht belegt werden konnte (Goldthorpe et al. 1968). In den sechziger und siebziger Jahren dominierte in der Wahlforschung Großbritanniens der Einfluss der Michigan School. Donald Stokes, Co-Autor des „American Voter“, führte mit David Butler die ersten landesweiten Studien und Panels durch (Butler/Stokes 1969; 1974). Wahlen wurden nicht nur in ihrer Wahlkampfphase untersucht, sondern während der ganzen Legislaturperiode. Das Konzept der Parteiidentifikation wurde in seinen Grundzügen auf England übertragen. Es erhielt zwar einen anderen Namen: partisan self image, aber es blieb das Herzstück der längerfristigen Erklärung von Wahlverhalten. Wechsel wurde hauptsächlich als ein eher kurzfristiges Phänomen analysiert. Parteiwechsler kehrten – entsprechend ihrer langfristigen Parteibindung – nach der Wahl in der Regel zu ihrer angestammten Partei zurück. Parteinähe wurde, wie in den USA, häufig von den Eltern an die Kinder übertragen. Verstärkt wurde dieser Prozess durch die Existenz homogener Klassenmilieus, der klassengestützten Politik der Parteien und durch entsprechende soziale Kontexte im erweiterten Sinn. Andere Teile des Michigan-Konzepts, wie kurzfristige Einflüsse, die möglicherweise Wechsel erklären, blieben für die britische Wahlforschung von geringerer Bedeutung. 51
Neben Conservatives und Labour konnten andere Parteien bis in die siebziger Jahre in England maximal 10% der Stimmen erreichen.
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Eine Neuentwicklung gab es zu Beginn der siebziger Jahre. Das stabile Parteiensystem der fünfziger und sechziger Jahre, das zu einer Teilung der Stimmen und der Macht zwischen der Labour Partei und den Konservativen geführt hatte, schien aufzubrechen. Die Wahlkampfstudien der Wahlen von 1970 und 1974 zeigten dramatische Veränderungen im Laufe des Wahlkampfs (Crewe 1972; 1976). Die Liberalen gewannen 1974 fast ein Fünftel der Stimmen, in Schottland erreichten die Nationalisten einen Stimmenanteil von 30%. Die alten Modelle der Klassenwahl mussten überdacht werden. Butler und Stokes versuchten ihr Modell mit dem Hinweis auf allmählichen sozialen Wandel zu retten; sie verwiesen auf die Einführung des Fernsehens als politische Informationsquelle und die Annäherung der beiden großen Parteien in ihren sozialen Komponenten. Diese neue Entwicklung hatte nicht nur die neu ins Wahlalter eintretende Generation erfasst, sondern die Gesellschaft insgesamt. Butler und Stokes gingen davon aus, dass der Klassenzusammenhalt rückläufig war (class dealignment thesis), andere Autoren beobachteten einen deutlichen Rückgang der Parteiidentifikation (partisan dealignment thesis) (Crewe 1977; 1984; 1985). Die Loyalität gegenüber einer Partei sank, die Wechselbereitschaft und die Bereitschaft zur Wahl einer dritten Partei stieg an. Als Erklärung suchten die Verfechter der class dealignment-These nach neuen cleavages, zum Beispiel einer neuen Trennungslinie zwischen öffentlichem und privatem Sektor (Dunleavy 1980) oder einem Nord-Süd-Cleavage (Curtice/Steed 1982; 1986; 1988). Die Verfechter der partisan dealignment-These suchten nach neuen Motivationsgründen, und damit näherte man sich dem „rationalen Wähler“, der sich aufgrund von Problemen, die ihn betreffen, und auf der Grundlage von Problemlösungsvorschlägen entscheidet. Die Diskussion darüber wurde in den achtziger Jahren zum Teil heftig geführt (z.B. Heath et al. 1985), aber es kamen Zweifel auf, ob sich die Dinge wirklich so stark verändert hatten oder ob dieses neue Bild nicht dadurch entstanden war, dass die entsprechenden Daten in den sechziger Jahren nicht erhoben worden waren (Heath et al. 1991). Die Suche nach neuen Motivationen bewegt die britischen Wahlforscher nach wie vor. Dabei scheint die Rolle der Medien wenig erforscht. Die Vermutungen über ihren großen Einfluss wurden sowohl nach der unerwarteten Wiederwahl der konservativen Regierung 1992 als auch nach dem klaren Sieg von New Labour 1997 laut. Man geht vor allem davon aus, dass die politisch weniger interessierte Hälfte der Wählerschaft stark durch die Medien beeinflusst sein könnte (Jowell et al. 1993). Im Zusammenhang mit der ziemlich einheitlichen Fehlprognose der kommerziellen Umfrageinstitute bei der Wahl von 1992 wurde auch die These eines last minute swing belebt, doch wurde diese durch die Er-
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gebnisse eines Panels zwischen den Wahlen, das auch während des Wahlkampfs lief, nicht bestätigt (Heath et al. 1993). Wenig Aufmerksamkeit wurde in der britischen Forschung dem Einfluss von politischen Führungspersönlichkeiten auf die Wahlentscheidung gewidmet, obwohl diese in der Berichterstattung der Medien über politische Ereignisse eine herausragende Rolle spielen. Was festgestellt werden konnte, ist eine hohe Interkorrelation von Parteienbeurteilung und Beurteilung der Parteiführer (Rose/ McAllister 1990).
5.2 Frankreich52 Die französische Wahlforschung hat eine weit zurückreichende Tradition. André Siegfried begründete die ökologische Form der Darstellung von Wahlergebnissen der „géographie électorale“ im Jahr 1913 (vgl. Kapitel 1). Obwohl die Begrenzungen einer solchen Vorgehensweise offensichtlich sind, werden verfeinerte Formen dieser Aggregatdatenanalyse bis in die Gegenwart benutzt. In den 80er Jahren hat die géographie électorale sogar einen gewissen Aufschwung erlebt (Bon/Cheyland 1988). Auch die Nutzung von Umfragen bei der Erklärung politischer Entscheidungen hat in Frankreich früh begonnen. Bereits 1938 gründete Jean Stoetzel, der an der Columbia University mit George Gallup in Kontakt gekommen war, das „Institut Français d’Opinion Publique“ (IFOP) zur Gesellschaftsbeobachtung und deren soziologischer Analyse (Stoetzel/Girard 1979). Die erste landesweite Studie wurde 1938 zum Münchner Abkommen durchgeführt. 1945 hat IFOP eine erste, treffende Voraussage über das Ergebnis der Volksabstimmung in Frankreich abgegeben und zu den Wahlen der Jahre 1946, 1951 und 1956 von den Medien und Politikern wenig beachtete, hauptsächlich beschreibende Analysen geliefert (vgl. Ysmal 1994: 367). Durch Unterstützung der 1950 gegründeten Vereinigung für Politische Wissenschaft Frankreichs begann IFOP 1956 als erstes Umfrageinstitut eine Zusammenarbeit mit der akademischen Wahlforschung. Die erste landesweite Wahlstudie, die aus öffentlichen und Stiftungsmitteln finanziert wurde, war ein Panel mit rund 3.000 Befragten (Dupeaux/Girard/Stoetzel 1960). Es handelte sich um eine recht umfangreiche Studie, die viele sozialstrukturelle Informationen erhob, und zudem Fragen nach Parteinähe, zur Partei- und Kandidatenorientierung und zu politischen Problemen beinhaltete. Ziel war es, die sozialen und politischen Ein52
Siehe hierzu v.a. Ysmal (1994).
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flussfaktoren von Wahlentscheidungen zu ergründen. Obwohl Ähnlichkeiten im Aufbau zu amerikanischen Studien vorhanden waren, lag das Schwergewicht der Datenerhebung, der französischen Tradition folgend, auf soziodemografischen Daten. Primäres Ziel der Autoren war es nicht, ein französisches Modell des Wahlverhaltens zu entwickeln, sondern die Reaktion der Franzosen in einer Zeit großer politischer Veränderungen (Übergang von der Vierten zur Fünften Republik, de Gaulles Wiederwahl, Algerienkrieg) zu erfassen. Die Einflüsse der amerikanischen Wahlforschung waren eher gering, und die Daten wurden weit unter Wert analysiert (Ysmal 1994: 368). In den sechziger Jahren gab es zwar einige Studien, und das Interesse an Umfragen als Standardinstrument für die Analyse von Wahlen nahm zu, die wichtigsten Studien aber wurden von den Amerikanern Philip Converse and Roy Pierce (1986) mit Hilfe amerikanischer Stiftungsmittel durchgeführt. In Frankreich gab es zwei weitere große Studien im Abstand von zehn Jahren, 1978 und 1988, auf die noch eingegangen wird. Eine Eigenheit der Wahlforschung in Frankreich ist, neben ihrer traditionellen ökologischen Orientierung, die starke Verwobenheit von kommerzieller Datenerhebung mit der akademischen Forschung einzelner Wissenschaftler. So wurde die erste regionale IFOP-Wahlstudie aus dem Jahr 1956 von der nationalen Stiftung für Politische Wissenschaft publiziert (Stoetzel/Hassner 1957). Bei vielen weiteren Studien gab es entweder direkte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Umfrageinstituten oder zumindest die Beratung durch Politikwissenschaftler, die diese Studien mitprägten (Lindon/Weill 1974). Während die unabhängig erhobenen Daten der akademischen Wahlforschung im Vergleich zum Vorbild USA oder auch zu anderen europäischen Ländern eher ärmlich erscheinen, ist die nichtakademische Wahlforschung in Frankreich besonders umfangreich und bewegt sich auf hohem Niveau. So wurden zum Beispiel im Jahr 1988 anlässlich der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 900 Umfragen mit politischem Inhalt durchgeführt. In den achtziger Jahren gab es fünf bedeutende Institute, die Umfragen zu den Wahlen durchführten (Ysmal 1994: 383). Die Auftraggeber waren in der Regel Medien. Der Aufbau der Studien variiert, aber in der Regel wurden außer sozialstrukturellen Informationen auch die Parteiidentifikation, Links-RechtsEinstellungen, Beurteilungen von Parteien, Kandidaten und politischen Problemen und weitere Indikatoren für die Motivation der Wahlentscheidung erhoben. Viele der Studien wurden nach bewährtem Muster und unter ziemlichem Zeitdruck durchgeführt. Der Möglichkeit, zur Theorienbildung in der Wahlforschung beizutragen, war dabei deutliche Grenzen gesetzt. Bei unterschiedlichen Datenquellen und recht unterschiedlichem Design ist es schwer, von einem französischen Modell zur Erklärung von Wahlverhalten zu
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sprechen. Andererseits verbindet die akademischen und die kommerziell tätigen Wahlforscher in Frankreich eine sehr ähnliche Ausbildung, oft an den gleichen Schulen, was schließlich doch zu einer Art gemeinsamem Modell der Wahlforschung führt. Das französische Modell
Die Unterschiede zwischen den politischen Strukturen Frankreichs und denen anderer Länder, vor allem im Hinblick auf die Parteien, sind so groß, dass eine Übertragung fremder Modelle wenig Erfolg für die Erklärung der Vorgänge in Frankreich verspricht. Aufgrund der spezifischen ökologischen Orientierung lag der Schwerpunkt der Betrachtung in Frankreich eher auf Langzeitorientierungen und der Stabilität von Wahlentscheidungen als auf kurzfristigen Einflüssen und Veränderungen. Das französische Modell hat, vereinfacht dargestellt, drei Hauptkomponenten: Herzstück ist die Links-Rechts-Orientierung, welche die Rolle der Parteiidentifikation des Michigan Modells übernimmt. Als Langzeitkomponente wird Links-Rechts durch die soziale Klasse bestimmt, aber nicht direkt, sondern vermittelt über Religion als „Weltanschauung“, ein mehr oder weniger konsistentes Glaubenssystem, das nicht nur politische Inhalte kontrolliert, sondern auch das Leben insgesamt (Ysmal 1994: 371 f.). Das französische Parteiensystem ist seit der Dritten Republik sehr instabil und fraktioniert. Einige Parteien sind verschwunden, neue gegründet worden, andere haben den Namen gewechselt (Ysmal 1989). Es kommt bis in die jüngste Zeit immer wieder zu Allianzen zwischen Parteien, und für viele Wähler existiert beim Wahlgang die Partei, die sie das letzte Mal gewählt haben, nicht mehr oder in anderer Form. Das wirklich Konstante in der politischen Orientierung der Wähler in Frankreich ist eine Links-Rechts-Identifikation als Teil der französischen politischen Kultur. Aber selbst diese ist allein nicht mehr in der Lage, den politischen Raum zufriedenstellend abzubilden (Cautrès/Mayer 2004)53. In den sechziger Jahren fanden Deutsch, Linden und Weill (1966) mit einer SiebenPunkte-Skala von extrem links nach extrem rechts heraus, dass 90% der Franzosen sich und auch ihre Familie mühelos auf dieser Skala einordnen können. Spätere Studien haben diese Ergebnisse immer wieder bestätigt (Michelat/Simon 1977, Michelat 1990). Wie die Parteiidentifikation in den USA oder das partisan self image in England wird die Links-Rechts-Orientierung in Frankreich von den Eltern auf die Kinder übertragen und spielt eine äußerst wichtige Rolle bei der Einschätzung von Kandidaten und politischen Problemen. André Siegfrieds 53
Zur neueren Entwicklung in Frankreich siehe Lewis-Beck (2004) für eine Außensicht und Cautrès/ Mayer (2004) für eine Innensicht.
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tempéraments politiques wurden damit als Hauptfaktor bei der Bestimmung der Wahlentscheidung auch für die Gegenwart bestätigt. Bis zur Mitte der siebziger Jahre konnte der Klasseneinfluss in Frankreich noch klar nachgewiesen werden (Michelat/Simon 1977). Danach war ein geschlossenes Klassenmodell entweder nicht mehr zutreffend oder die Erhebungsmethoden der Klassenzugehörigkeit waren inadäquat. Die Verknüpfung mit dem religiösen Faktor galt aber zu allen Zeiten. André Siegfrieds Feststellung einer klerikalen-antiklerikalen Trennungslinie in den dreißiger Jahren galt auch für die siebziger und achtziger Jahre, und sie gilt noch immer. Dieses religiöse cleavage wird heute durch religiöse Katholiken einerseits und Atheisten und nichtreligiöse Katholiken andererseits gebildet. Die Klassenzugehörigkeit wurde immer über diesen religiösen Filter wahrgenommen. Ein Arbeiter und Katholik, der seinen Glauben praktiziert, wird sich auf der Links-Rechts-Skala immer weiter rechts einordnen als ein seinen Glauben nicht praktizierender, katholischer Arbeiter. Religiöse Bindung bleibt deshalb der am meisten erklärende Faktor bei Wahlentscheidungen in Frankreich (Michelat/Simon 1985). Es stellte sich die Frage, welche der offensichtlichen Veränderungen im Wahlverhalten und im Erfolg oder Misserfolg der wechselnden Parteien durch dieses traditionelle Modell erklärt werden konnten. Die Antwort: keine. Dies war auch nicht die Intention. Nicht weil der nicht funktionierende Recall (Wahlrückerinnerung) es verhinderte, sondern weil die intellektuellen Zielrichtungen andere waren, wurde der Wechsel unterschätzt oder als nicht besonders wichtig erachtet. Langfristige Veränderungen waren interessant, nicht kurzfristige. Die Veränderungen zugunsten der Linken in den siebziger Jahren wurden durch grundlegende soziale, kulturelle und politische Systemmodifikationen erklärt, wie zum Beispiel durch Verstädterungstendenzen, Wachstum der mittleren Einkommen, Rückgang der Kirchenbindung (Capdevielle et al. 1981). Ein kultureller Liberalismus (libéralisme culturel) hat den religiösen Konservatismus verdrängt, der die Hauptstütze rechter Parteien bei der Wahl war. Diese Veränderungen betrafen vor allem Franzosen mit mittlerem Einkommen, die neuen Werthaltungen gegenüber aufgeschlossen waren (Grunberg/Schweisguth 1981). Kurzfristigen Wechsel im Wahlkampf untersuchte Roland Cayrol (1985) bei der Präsidentschaftswahl 1981 mit Paneldaten von Louis Harris France. Er bestätigte dabei eine 1973 von Linden und Weil aufgestellte Hypothese auf der Basis von SOFRES-Daten, nach der sozioökonomische Variablen und LinksRechts-Identifikation einen Großteil (75%) der Variation erklärten. Deren Modell hatte sowohl längerfristige Attitüden eingeschlossen als auch kurzfristige Komponenten, wie die Beurteilung von Parteien, Kandidaten und deren Problemlösungskompetenzen. Cayrol fand heraus, dass die den Kandidaten zugeschriebenen Qualitäten und Lösungskompetenzen für bestimmte Probleme die
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Wahlentscheidung maßgeblich geprägt haben. Er stellte vor allem fest, dass der Wechsel während des dreimonatigen Wahlkampfs hoch war (39%) und dieser Wechsel geschah, obwohl sich weder die Links-Rechts-Orientierung, noch die soziale Klassenzugehörigkeit oder die religiöse Anbindung geändert hatten. In den achtziger Jahren nahm die Wechselbereitschaft noch zu, und sie war auf den verschiedenen Wahlebenen unterschiedlich hoch; zum Beispiel wechselten die Parlamentsmehrheiten hin und her, trotzdem blieb Mitterand bei den Präsidentschaftswahlen erfolgreich. Die Kommunisten verloren zwischenzeitlich ihre einflussreiche Stellung im Parteiensystem und neue Parteien, die lange Zeit kaum Erfolg hatten, wie der Front National oder die Grünen, erlebten einen Aufschwung. Die Daten, sowohl die der offiziellen als auch die der nichtakademischen Erhebungen, zeigen einen deutlichen Wandel der Wechselbereitschaft der Franzosen. Während in den sechziger und siebziger Jahren der Parteiwechsel hauptsächlich innerhalb des linken oder rechten Lagers stattfand, ist er seit den achtziger Jahren lagerübergreifend. Diese Entwicklung kann mit den alten Modellen nicht mehr erklärt werden, aber aus Mangel an relevanten Daten gibt es auch keine alternativen Modelle. Die 1988 durchgeführte Studie (Cevipof 1990) hat Kontextvariablen im Fragebogen, die eine entsprechende Klärung hätten bieten können, keinen Raum gewährt. Abbildung 5.2: Das französische Modell Prädisposition des Wählers (soziale Klasse, Religion, Links-Rechts-Orientierung) Bestandteile des Wählermarktes Wahltyp (kommunale oder nationale Ebene, Präsidentschaftswahl oder Parlamentswahl, Europawahl) Kandidaten (Ansehen, Persönlichkeit, Kompetenz) Regierungsfähigkeit der Parteien Parteienstandpunkte Probleme
Wahlentscheidung
Strategien und Motivation des Wählers Quelle: Ysmal (1994: 380).
Einen recht brauchbaren Erklärungsansatz für die verschiedenen Wahlebenen des französischen politischen Systems bietet Lancelot (1985) an. Er besteht aus drei Einflussfaktorenbündeln: den Prädispositionen des Wählers, den Bestandteilen des Wählermarktes und den Strategien und Motivationen der Wähler.
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Das alte französische Modell geht demnach nur noch als ein Faktorenbündel ein und keinesfalls als das wichtigste. Bei den Bestandteilen des Wählermarktes kommt neben den aus anderen Modellen bekannten Einflussvariablen vor allem dem Wahltyp eine besondere Bedeutung zu. Dabei geht es nicht nur um den unterschiedlichen Umfang der Macht, der bei den entsprechenden Wahlen verteilt wird, sondern auch um die unterschiedlichen Wahlsysteme, die dabei zum Einsatz kommen. Das Mehrheitssystem bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, ein proportionales System für die verschiedenen Departements bei Regionalwahlen, ein nationales Proportionalsystem mit einer Minoritätsklausel bei Europawahlen und sowohl ein Mehrheits- als auch ein Proportionalsystem in den Städten. Lancelot (1980) hatte bereits gezeigt, dass die Wählerschaft sehr wohl auf die Möglichkeiten der verschiedenen Systeme reagiert und bei Verhältniswahlrecht eher politischen Stimmungen folgt, während sie beim Mehrheitswahlrecht eher unter Nutzengesichtspunkten entscheidet. Die Strategien und Motivationen werden besonders bei einem zweiten Wahlgang wichtig. Individuelle Strategien können oft kurzfristigen Wechsel bei Wahlen erklären. Entsprechend instabil ist dann auch die neue Mehrheit, zum Beispiel wurde 1980 Mitterrand gewählt, aber 1982 gab es einen Sieg der Rechten. Auch in Frankreich wird darüber diskutiert, ob die bisherigen Erklärungsmodelle die Wirklichkeit abbilden, ob die zunehmende Wechselbereitschaft über einen neuen Wählertypus zu erklären ist, der ganz anders als in früheren Zeiten ein eher gut informierter sich rational entscheidender Wähler ist, ob die kurzfristigen Einflüsse inzwischen dominieren oder ob die Medien vieles verändern. Diese Fragen lassen sich nur auf der Grundlage konsequenter empirischer Arbeit beantworten.
5.3 Niederlande54 Obwohl es in den Niederlanden erste Wahlanalysen auf der Grundlage von Aggregatdaten schon um die Jahrhundertwende gab, fiel der eigentliche Startschuss infolge erdrutschartiger politischer Veränderungen bei den Provinzwahlen 1966 und den Parlamentswahlen 1967. Bereits 1955 wurde in einem Vorort Amsterdams eine Fallstudie durchgeführt, deren Design dem Ansatz der Columbia School entsprach; die überwiegend deskriptive Analyse dieser Daten erfolgte jedoch kaum theoriegeleitet. Die junge akademische Disziplin der Politischen Wissenschaft und die politisch interessierte Öffentlichkeit in den Niederlanden 54
Siehe hierzu v.a. van der Eijk/Niemöller (1994).
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begannen sich erst Mitte der sechziger Jahre für Wahlstudien zu interessieren. Auch die Medien erkannten den zunehmenden Nachrichtenwert von Ergebnissen der Wahlforschung, und wurden selbst Auftraggeber von Wahlstudien. In relativ kurzer Zeit wurden in Holland zehn Wahluntersuchungen durchgeführt, zum Teil lokale Studien, aber auch landesweite Untersuchungen. Die zwei wichtigsten in dieser Zeit waren die Studie zur Parlamentswahl von 1967, die von der Freien Universität Amsterdam durchgeführt wurde, und die Studie zur Provinzwahl 1970, die von einem Team aus Wissenschaftlern der Universität von Tilburg und der University of Michigan verantwortet wurde. Die 67er Studie hatte die Intention, Wahlentscheidungen nicht auf der Basis von soziologischen und Identifikationsfaktoren zu untersuchen, sondern herauszufinden, ob die Wähler bestimmte politische Zielvorstellungen realisieren wollten und wenn ja, dann wie. Die Ergebnisse, die teilweise erst viele Jahre später veröffentlicht wurden, zeigen, dass das Verhältnis von Wählern und Parteien nicht durch bestimmte Politikinhalte begründet wird, sondern auf den allgemeinen politischen Prinzipien beruht, für die Parteien stehen und welche die Wähler teilen. Ob und inwieweit dies auch das Verhalten der Wähler beeinflusst, blieb unbeantwortet (van der Eijk/Niemöller 1994: 326). Die 70er Studie folgte dem Konzept der Michigan School. Die Befragten wurden in den beiden Folgejahren erneut befragt (Panel-Technik). Wichtige Elemente des Michigan Konzepts, wie Parteiidentifikation und Problemorientierung, versuchte man, auf die holländische Situation zu projizieren (Thomassen 1976). Eine weitere Studie, die zwar keine Wahluntersuchung war, die aber im Prinzip einen wahlsoziologischen Ansatz verfolgte und die niederländische Wahlforschung befruchtete, wurde 1968 von Arend Lijphard veröffentlicht. In ihr wird Wahlverhalten zum einen durch unterschiedliche religiöse Bindungen, zum anderen (für nichtreligiöse Wähler) durch Klassenzugehörigkeit erklärt. Darüber hinaus werden diese Variablen mit „subkulturellen cleavages“ verbunden, die als bestimmend für das soziale und politische Leben angesehen werden. Zu Beginn der siebziger Jahre taten sich die Wahlforscher in Holland zusammen und gründeten eine nationale Arbeitsgruppe für Wahlstudien. Eine gemeinsame Datenerhebung sollte zu einer Optimierung der Ressourcen führen, wobei face-to-face-Interviews mit landesweiten repräsentativen Stichproben geplant wurden, angelegt als Panel-Befragungen vor und nach der Wahl. Da es zu dieser Zeit keine dominante Theorie zur Erklärung von Wahlverhalten gab, gingen sowohl Elemente des sozialstrukturellen und des sozialpsychologischen Ansatzes als auch rationale Ansätze in die Planung ein. Dem Vorteil der Vielfalt stand der Nachteil der Begrenzung der Daten zur tieferen Analyse einzelner Vorgehensweisen gegenüber.
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In der landesweiten Studie des Jahres 1971 findet man Fragen, die Wahlstudien aus Schweden, England, Deutschland und den USA entnommen wurden. Auch die Civic-Culture-Studie (Almond/Verba 1963) fand ihren Niederschlag in dieser Untersuchung. Der Einfluss der Michigan School ist unübersehbar, andererseits führte die Beschäftigung mit anderen westeuropäischen Wahlstudien zu der Erkenntnis, dass diese Ansätze auf die spezifische holländische Situation angepasst werden müssen. Parteiidentifikation, Problembeurteilung und Parteienkompetenz zur Problemlösung spielten eine wichtige Rolle, die Kandidatenorientierung dagegen stand nie im Vordergrund. Die Erkenntnisse aus den eigenen Studien der späten sechziger Jahre fanden dagegen kaum Eingang in die 71er Wahlstudie, da deren Datenaufbereitung noch nicht abgeschlossen war. Das Ziel der Ressourcenbündelung und des Sammelns von relevanten Daten auf hohem methodologischem Niveau ist in den siebziger Jahren gelungen. Die Daten wurden in der Regel schnell und gut dokumentiert zur Verfügung gestellt, und jeder Interessierte hatte die Möglichkeit des Zugriffs. Zwar wurden diese Daten für die Ausbildung von Studenten häufig genutzt, die meisten auf Grundlage der Daten erschienenen Publikationen wandten sich jedoch eher an ein allgemeines Publikum oder interessierte Laien als an Wahlspezialisten. Eines der besten Werke über empirische Wahlforschung in dieser Dekade bezog sich nicht auf die Daten der nationalen Wahlstudie, sondern auf Informationen aus spezifischen Untersuchungen und Experimenten (Bronner/de Hoog 1978). In den achtziger Jahren wurde die nationale Wahlstudie reorganisiert, denn man wollte die Fehler der siebziger Jahre vermeiden. Die wechselnde Verantwortung wurde zugunsten einer zentralen Leitung bei der Universität von Amsterdam abgeschafft. Der Fragebogen wurde von nun an von einem Expertenteam erarbeitet. Nur noch unmittelbar relevante und theoretisch begründbare Themen wurden aufgenommen. Die Vergleichbarkeit mit früheren Studien konnte dennoch aufrecht erhalten werden. Die Publikationen, die in den achtziger Jahren auf der Basis dieser Daten erschienen, waren sehr viel tiefergehender als alle Studien zuvor. Sie befassten sich nicht nur mit der Entwicklung des Wählerverhaltens in dieser Zeit. Offensichtlich war, dass die Erklärungen der sechziger und siebziger Jahre für den Wandel, der bereits Mitte der sechziger Jahre auftrat und sich danach deutlich verstärkte, kaum aufrecht erhalten werden konnten. Der Einfluss von cleavages schien zu schwinden, die Stabilität des Verhaltens war in Gefahr und damit auch die Systemstabilität. Es stellte sich die Frage, ob Wechsel im Wählerverhalten überhaupt noch zu erklären war, oder ob er mehr oder weniger zufällig geschah. Zwei unterschiedliche Erklärungsrichtungen bildeten sich in den Niederlanden hierzu heraus, die sogar örtlich zu unterscheiden sind: Die Vertreter eines Erklärungsansatzes für Wählerwechsel auf der Grundlage längerfristig wirkender Faktoren, die hauptsächlich an der Universität von Amsterdam
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zu finden sind, und die Vertreter eines auf kurzfristig wirkenden Faktoren beruhenden Ansatzes, die sich hauptsächlich an der Universität in Leiden gruppiert haben. Die Amsterdamer interpretieren die Veränderungen im Wählerverhalten sowohl als Prozess des de-alignment als auch des re-alignment. Dealignment bezieht sich auf das Nachlassen der Bedeutung gesellschaftlicher Trennungslinien (cleavages) für das Wahlverhalten – Trennungslinien, die bis dahin als strukturelle Basis für konstante, voraussagbare Entscheidungen der Wähler wirkten, und auch zu konstanten Ergebnissen führten. Diese Anbindungen haben sich nach Meinung der Vertreter des Langzeiteinfluss-Faktoren-Modells nicht nur abgeschwächt, sondern sind zu einem großen Teil durch andere Bindungen an die Parteien ersetzt worden, die sich auf substantielle politische Ideale der Wähler beziehen, und die weitgehend durch deren Positionen im Links-Rechts-Schema erfasst werden können. Die Wahlentscheidung für eine Partei kann dann vornehmlich als ein Versuch angesehen werden, diese eher ideologische Position zu maximieren oder zu optimieren. Links/Rechts ist danach die dominierende politische Dimension in den Niederlanden. Die Wähler können sich selbst und die Parteien in diese Dimension einordnen. Die hohe Korrelation zwischen eigener Position und der der gewählten Partei auf der Links-Rechts-Skala wird als strenger Hinweis auf zielgerichtetes Verhalten verstanden oder sie wird als rationales Verhalten im Sinne der Distanzminimierung zwischen eigenen Vorstellungen und denen, welche die potentielle Macht haben sie durchzusetzen, verstanden. Dies bedeutet, dass die Angebotsseite eine zentrale Rolle für die Erklärung von (wechselndem) Wahlverhalten spielt und daher Veränderungen der Programmatik und ideologischer Positionen von Parteien besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde (van der Eijk/Niemöller 1983, 1985, 1987, 1992; Anker 1992; Tillie 1989). Der zweite Ansatz, der kurzfristige Faktoren im Mittelpunkt sieht, betrachtet die Veränderungen seit Mitte der sechziger Jahre als eine Entwicklung der Abkoppelung von alten strukturellen Bindungen (dealignment), aber bestreitet die neue Anbindung (realignment). Die starke Übereinstimmung von eigenen und fremden (Partei-)Positionen auf der Links-Rechts-Dimension wird zum Teil als zunehmend rationales Verhalten der Wähler betrachtet, zum Teil als tautologisch angesehen und zum Teil als bedeutungslos eingestuft, weil Links-Rechts viele Interpretationen zulässt. Die Leidener Schule vertritt die Ansicht, dass Parteien nicht entsprechend ihrer Positionen auf wenigen politischen Dimensionen in das Links-Rechts-Schema eingeordnet werden können. Die Erklärung von Wahlverhalten sollte deshalb sowohl auf der Basis bestehender Bindungen, zum Beispiel religiöser oder Klassenbindungen erfolgen, als auch kurzfristige Einflussfaktoren einschließen, wie die Popularität von Politikern, den Einfluss von
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Umfrageergebnissen vor der Wahl, die Bewertung der ökonomischen Lage oder spezifischer Probleme, deren Lösungen anstehen. Wechselndes Wahlverhalten wird demnach nicht primär als politisch motivierte Veränderung betrachtet, sondern hauptsächlich als unsystematisch auftretende Differenzen in einem Set von kurzfristigen Einflussfaktoren, die sich von Wahl zu Wahl ändern (Irwin 1980, Andeweg 1982, Irwin/Dittrich 1984, Irwin/von Holsteyn 1989). Insgesamt wird die empirische Wahlforschung in Holland durch das Wahlsystem stark beeinflusst. Das Verhältniswahlsystem – praktisch ohne Mindestklausel – hat zu einer Vielzahl von Parteien geführt, von denen viele auch im Parlament vertreten sind. Die praktische Arbeit der Wahlforscher wird dadurch sehr stark beeinträchtigt. Eine Reduktion der Parteien auf die im Parlament vertretenen (9-12) oder auf die größten unter ihnen (4-6) hat viele Nachteile, wenn man zum Beispiel eine Hypothese des problemorientierten Wählens oder der Distanzminimierung überprüfen will. Ein zweiter, die Forschung erschwerender Faktor ist die große Vielfalt der Konfessionen in den Niederlanden und deren häufig bestehende, enge Bindungen an Parteien. Diese spezifischen Aspekte führen zur Notwendigkeit von Koalitionsregierungen und entsprechenden Überlegungen im Vorfeld von Wahlen, die wiederum die Möglichkeiten von strategischem oder taktischem Wählen erhöhen. Das Interesse der Parteien, Politiker und Medien an den Ergebnissen der Wahlforschung ist insbesondere in Zeiten starker Veränderungen groß. Es gibt ohne Zweifel nachvollziehbare Einflüsse der Erkenntnisse der Wahlforschung auf das Verhalten der Parteien (van Praag 1991) oder einzelner Politiker. So ließ sich zum Beispiel der populäre ehemalige Parteiführer der D66, von Mierlo, nach dem Niedergang der Partei erst wieder an deren Spitze wählen, nachdem er eine Potentialuntersuchung mit wissenschaftlicher Unterstützung hatte durchführen lassen, die Hinweise lieferte, dass die potentiellen Wähler der D66 eine sichtbarere und entschlossenere Führung der Partei wünschten.
5.4 Norwegen55 Der Anfang empirischer Wahlforschung in Norwegen weist deutliche Rückgriffe auf die amerikanischen Schulen (Columbia und Michigan) auf. Eine anlässlich der Parlamentswahl 1953 geplante Studie, die letztendlich nicht durchgeführt wurde, war ganz nach dem Vorbild des People’s Choice konzipiert. Die erste 55
Siehe hierzu Valen/Aardal (1994).
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verwirklichte Wahlstudie war die zur Wahl der „Storting 1957“ (Parlamentswahl), die dem Michigan-Ansatz folgte. Dies lag sowohl daran, dass The Voter Decides (1954) inzwischen die wissenschaftliche Diskussion prägte, aber auch daran, dass ein reger Austausch zwischen amerikanischen und norwegischen Politikwissenschaftlern bestand.56 Die 57er Wahlstudie war landesweit und als Panel vor und nach der Wahl angelegt. Zusätzlich wurden in Stavanger (im Südwesten Norwegens) Wähler und lokale Parteiführer befragt und ein Aggregatdatenarchiv für Gemeinden und ein Datenarchiv über die Rekrutierung von Parteimitarbeitern, Kandidaten und Abgeordneten angelegt. Die Stavanger-Untersuchung war als norwegisches Äquivalent zu einer 1956 in Detroit und Umgebung durchgeführten Studie angedacht (Valen/Katz 1964). Die norwegischen Wahlforscher waren sich bewusst, dass das amerikanische Konzept nicht einfach übertragen werden konnte, sondern die bestehenden Unterschiede der politischen Kultur, der sozialen Struktur und der politischen Institutionen berücksichtigt werden mussten. Außerdem sollte eine Parlamentswahl untersucht werden und keine Präsidentschaftswahl. Trotzdem erschien das Basiskonzept anwendbar. Das Hauptziel bestand darin, die politischen Implikationen des ökonomischen und sozialen Wandlungsprozesses zu ergründen, sowohl im Hinblick auf die Parteien als auch auf die Wähler. Man betrachtete diese Entwicklung als eine ideologiereduzierende Bewegung und wollte ihre integrations- und konsensbildende Wirkung erfassen (Rokkan/ Valen 1957). Tatsächlich war die Wahl von 1957 die letzte einer Reihe stabiler Wahlen. Danach nahm wechselndes Wahlverhalten deutlich zu und wurde nach 1970 noch stärker. Gleichzeitig wurden die anliegenden Probleme zunehmend kontrovers zwischen den Parteien diskutiert. Entsprechend stand nicht mehr Stabilität im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Dynamik der Entwicklung und der Wechsel. Es gab offizielle Wahlstudien zu allen Parlamentswahlen in Norwegen von 1957 bis 1993, mit Ausnahme der Wahl von 1961. 1965 und 1969 waren die Studien jeweils ein Panel vor und eines nach der Wahl. Das Sample von 1965 wurde 1969 und 1973 wieder befragt. Seit 1977 verwendet man eine rollierende Stichprobe, bei der jeweils die Hälfte der Befragten auch bei der nächsten Wahl interviewt wird. Aus dieser Vielzahl von Daten entstand eine Reihe von Publikationen. Es waren nicht einfach „nur“ Wahlanalysen, sondern sie befassten sich in 56
Praktisch alle akademischen norwegischen Wahlforscher haben ihre Ausbildung in Michigan erhalten. Bereits 1954 war Stein Rokkan am Survey Research Center, 1956-57 war Henry Valen dort, im Gegenzug kam Angus Campell 1958-59 nach Oslo und auch Warren Miller und Philipp Converse besuchten wiederholt das Osloer Institut (Valen/Aardal 1994: 289).
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der Regel mit meist kontroversen spezifischen Problemen, zum Teil auch mit grundsätzlichen Entwicklungen wie politischer Partizipation, dem Niedergang der Klassenidentifikation, politischem Wandel bzw. dem steigenden Anteil von Wechselwählern und schließlich dem cleavage-Konzept. In den sechziger Jahren gab es eine Reihe von Analysen auf Aggregatdatenbasis, die letztlich initiativ für die Formulierung der strukturellen cleavages waren. Es handelte sich dabei um Analysen zur politischen Integration, die durch die Beobachtung ausgelöst wurden, dass die politische Partizipation an der Peripherie des Landes sehr viel niedriger war als im Zentrum. Dabei wurden Wahlbeteiligungsdaten, Parteimitgliedschaften und Daten über die Rekrutierung politischer Führung benutzt (Rokkan/Valen 1962). In einem weiteren Artikel beschäftigten sich die gleichen Autoren (1964) mit den regionalen Unterschieden in der Unterstützung bestimmter Parteien, die sich zum Teil bis in die Gründungsjahre dieser Parteien nachvollziehen ließen. Es zeigte sich eine durchgehende geographische Dimension in der norwegischen Politik, nämlich zwei sich unterscheidende periphere Gebiete, der kulturell oppositionelle Südwesten und der polarisierte Norden im Gegensatz zum zentralen Osten. Die Analyse, die sich sowohl auf eine Aggregat- als auch auf eine Individualdatenbasis stützte, zeigte deshalb auch viel größere regionale Unterschiede im Wahlverhalten in den ländlichen als in den städtischen Kommunen. Angeregt durch diese Ergebnisse stellten die Autoren für die Entwicklung der Parteien in Norwegen ein Modell auf, das von sechs strukturellen Cleavages ausging: dem territorialen Zentrum – Peripherie-Konflikt, drei kulturellen Konflikten, die auf drei Gegenkulturen in Norwegen beruhen, der neu-norwegischen Sprachbewegung, der Anti-Alkohol-Bewegung und der laizistischen Religionsbewegung im Gegensatz zu den korrespondierenden städtischen Kulturen; und schließlich zwei ökonomischen Trennungslinien, dem Arbeitsmarktkonflikt und dem Konflikt auf dem Warenmarkt (Rokkan/Valen 1964). Dieses Konfliktlinienmodell wurde von Lipset und Rokkan 1967 in dem zum Klassiker gewordenen Einführungskapitel zu „Party Systems and Voter Alignments“ für die vergleichende Analyse weiter verfeinert. Sie erklären das Entstehen der politischen Trennungslinien als das Ergebnis eines historischen Prozesses mit drei großen Ereignissen: der Reformation, den nationalen Revolutionen und der industriellen Revolution (Kap. 2.1). Weil aber einzelne Länder von diesen Ereignissen sehr unterschiedlich betroffen waren, muss auch die Cleavage-Struktur jeweils unterschiedlich sein. Die Autoren gingen davon aus, dass sich in den meisten Gesellschaften die Struktur der Trennungslinien während der Phase der Industrialisierung herausgebildet hat, dass jedoch auch andere Einflüsse die Parteiensysteme beeinflusst haben, wie der Institutionenrahmen, in dem die Parteien sich bewegen, und insbesondere das Wahlsystem.
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Eine weitere, die politische Forschung stark beeinflussende Arbeit war der Beitrag Stein Rokkans in dem von Robert Dahl herausgegebenem Buch „Political Opposition in Western Democracies“ (1966). Ausgehend von den empirischen Befunden in Norwegen stellte Rokkan die These auf, dass Entscheidungen in einer modernen Demokratie auf zwei Ebenen fallen: zunächst auf der bekannten Ebene der Wahlentscheidungen und der politischen Repräsentation, legitimiert durch Wahlentscheidungen (numerical democratic channel) und einer zweiten Ebene, in der eine Vielzahl von sozialen und industriellen Organisationen ihre Wünsche gegenüber den Regierungsentscheidungen deutlich machen und durchzusetzen versuchen (corporate channel). In den späteren Publikationen Rokkans, in denen es immer um den Einfluss von politischen Institutionen und historischen Traditionen auf Wahlverhalten ging und letztlich um das große vergleichende Thema des nation building, bezog er sich wiederholt auf die Ergebnisse der Wahlforschung in Norwegen. Weitere Autoren befassten sich auf der Grundlage der norwegischen Wahlstudien mit dem Thema politische Partizipation. Martinussen (1976) benutzte Daten wie politisches Interesse, Informationslevel, Eingebundenheit in Kommunikationsnetzwerke, politische Erfahrung, politische Selbstsicherheit und zeitliche Verfügbarkeit. Er kam zu dem Schluss, dass viele Formen der politischen Partizipation von einer aktiven Minderheit dominiert werden und eine schiefe Verteilung politischer Ressourcen in den einzelnen sozialen Gruppen die politische Partizipation stark begrenzt. Dies wird insgesamt zu einer Verfestigung bestehender Muster sozialer Stratifikation führen. Lafferty (1981) bestreitet diese Thesen auf der Basis eigener Daten und der von Martinussen benutzten und kommt zu dem Ergebnis, dass das System pluralistisch und egalitär sei. Hellevik (1983) glaubt, dass die Kontroverse zumindest zum Teil auf einem methodischen Artefakt beruht. Er weist darauf hin, dass bei der geringen Zahl von Aktivisten landesweite Wahlstudien nicht die beste Methode zur Klärung dieser Frage darstellen. Rose und Waldahl (1983) benutzten Paneldaten der Jahre 1965, 1969 und 1973 und kamen zu dem Schluss, dass Bürgerbeteiligung in Norwegen eine stärkere Basis hat als erwartet. Sie verwarfen die These einer kumulativen, streng hierarchischen Überlappung politischer Involviertheit. Die siebziger Jahre waren in Norwegen bestimmt durch starken politischen Wandel und hohe Wechselwähleranteile. Die heftigste politische Kontroverse war die Diskussion über eine Mitgliedschaft Norwegens in der Europäischen Gemeinschaft. Im Zeitraum von 1961 bis 1963 und nochmals 1967 war diese Frage Bestandteil der politischen Agenda. 1970 entschloss sich das Parlament, den Antrag zur Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft zu erneuern. 1972 fiel dieses Vorhaben in einer Volksabstimmung durch, obwohl ein Großteil der Eliten und der Zeitungen die Mitgliedschaft unterstützten. Auch waren die bei-
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den großen Parteien (Arbeiter und Konservative) dafür, aber sie hatten es offenbar versäumt, ihre traditionelle Rolle der Prägung und Artikulation des Volkswillens zu übernehmen. Der Wahlkampf wurde durch zwei Großorganisationen für und gegen die Europäische Gemeinschaft bestritten, die quer durch die Anhängerschaften der Parteien Unterstützung fanden. Es war ein Aufeinandertreffen von direkter und indirekter Demokratie (Hellevik/Gleditsch 1973). Für die Wahlforschung war die EG-Kontroverse eine große Herausforderung. Auf der Basis von Paneldaten und einer Umfrage zum Referendum sollte die Frage untersucht werden, ob die Haltung gegenüber der EG auf strukturellen cleavages basiert (Valen 1973; 1976, Pierce et al. 1983). Das Herz der Opposition gegen die Europäische Gemeinschaft bestand aus einer „rot-grünen“ Allianz von städtischen Radikalen, Farmern und Fischern und den Anhängern der drei Gegenkulturen. Auch die territoriale Zentrum-Peripherie Trennungslinie war sichtbar. Ein großer Teil der Konflikte spielte sich innerhalb der Parteien ab, was auch deren Fähigkeit lähmte, die öffentliche Meinung zu organisieren. Zwei der älteren Parteien spalteten sich nach dem Referendum (Liberale und Arbeiter), eine neue rechte Protestpartei hatte Erfolg. Ein Großteil der Wählerschaft wechselte die Seiten (Valen/Martinussen 1977). Zwei weitere Themen trugen zu den politischen Turbulenzen der siebziger Jahre bei: die Frage der Abtreibung und das aufkommende Umweltbewusstsein. Das Abtreibungsthema hatte eine moralisch-religiöse Dimension in der norwegischen Politik wiederbelebt, die erheblichen Einfluss auf die Wahlen von 1969 bis 1977 hatte. Die Umweltproblematik lief wie die beiden anderen genannten Themen quer zu den traditionellen Parteilinien und hat die Wechselbereitschaft in Norwegen entsprechend erhöht, wie das in anderen westlichen Demokratien auch der Fall war. Die Erkenntnisse aus diesen Analysen sind einmal die Abhängigkeit politischer Veränderungen vom Ausmaß und der Geschwindigkeit sozialen und ökonomischen Wandels. Weil cleavages die Wählerbasis für konkurrierende Parteien bilden, drücken sie auch die Beziehung zwischen Politik und Sozialstruktur aus. Deshalb können politische Präferenzen innerhalb bestimmter Gruppen, die durch entsprechende cleavages definiert werden, wechseln, also zum Beispiel innerhalb bestimmter Berufsgruppen oder kultureller Gruppen. Der Wechsel kann auch auf Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft (zum Beispiel Rückgang der Arbeiterschaft oder der landwirtschaftlichen Bevölkerung) beruhen (Valen 1981, Lane et al. 1993). Wichtiger erscheint jedoch, die Verbindung von Sozialstruktur und den zur Diskussion stehenden Themen festzustellen, d. h. inwieweit die sich wandelnden Problemdimensionen die zugrunde liegenden strukturellen Trennungslinien reflektieren.
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Auf der Basis der Wahlstudien legte Henry Valen 1981 eine Analyse des Wählerwechsels über 20 Jahre vor (1957 bis 1977). Die Analyse bestätigt den allmählichen Rückgang des Einflusses sozialstruktureller Hintergrundvariablen auf das Wahlverhalten, zeigt aber auch, dass, sobald man cleavages in das Modell einführt, diese einen beträchtlichen Teil der Varianz des Wählens erklären. Danach gab es in neueren Studien nochmals ein Anwachsen des Wählerwechsels, das 1989 seinen Höhepunkt erreichte (40% Wechsel gegenüber der Vorwahl, Valen et al. 1990). Valen bestätigt nochmals, dass ein Großteil des Wechsels die Konsequenz des sich vollziehenden sozialen und ökonomischen Wandels ist, aber gleichzeitig die Beziehung zwischen Sozialstruktur und Wahlverhalten schwächer wird. Kohortenanalysen zeigen eine deutlich höhere Stabilität in den höheren Altersgruppen, während die Nachkriegskohorten für einen Großteil des Wechsels verantwortlich sind. Die Ursachen für den Wechsel werden im größeren Betroffensein dieser Kohorten von ökonomischem Wandel und in den diesen Prozess begleitendenden Problemen gesehen. Nach einer Rezession im Jahre 1986 konnten die Parteien ihre Versprechungen aus dem Wahlkampf von 1985 nicht halten. Hinzu kam, dass die relative Stabilität parlamentarischer Mehrheiten, die seit den sechziger Jahren und trotz starker Wählerverschiebungen immer zu alternativen Regierungen – von einer Minderheitenregierung der Arbeiterpartei und einer sozialistischen Mehrheit im Parlament einerseits – oder einer bürgerlichen Koalition andererseits – führte, nicht mehr weiterbestand. Der Grund war darin zu finden, dass die rechtspopulistische Fortschrittspartei mit zunächst nur zwei Sitzen das Zünglein an der Waage spielte. Diese offene Situation führte zu großen Unsicherheiten und schließlich zu starken Angriffen auf die Politiker, die durch die Massenmedien artikuliert wurden (Aardal/Valen 1989). Obwohl sich die ökonomische Situation nach 1987 verbesserte, blieb das Misstrauen gegenüber den Regierenden hoch, zumal neue Probleme wie Immigration und hohe Arbeitslosigkeit hinzukamen. Nachdem die rechtsgerichtete Progresspartei 1989 22 Sitze gewann, wurde die Situation noch problematischer. Eine erweiterte bürgerliche Koalition kam nicht zustande, weil – wie die Daten der Umfragen nahe legen – die Wähler der bürgerlichen Mitte den Abstand zwischen ihnen und der Progresspartei als zu groß ansahen, und zwar nicht den Abstand auf der LinksRechts-Achse, sondern auf den Achsen zweier Trennungslinien: der ökonomischen und der moralisch-religiösen. Die Parteiführer der bürgerlichen Parteien wären bei Verhandlungen mit der Rechtspartei das Risiko starker Einbrüche in ihr Elektorat eingegangen (Aardal 1990, Valen 1990). Dieses Beispiel unterstreicht nochmals die große Bedeutung von cleavages in der norwegischen Politik.
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Kapitel 5: Empirische Wahlforschung in anderen europäischen Ländern
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Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
Die Bundesrepublik Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie. Darunter versteht man, dass die wahlberechtigte Bevölkerung Vertreter ihrer Interessen (Abgeordnete) in einer bestimmten Anzahl und für einen bestimmten Zeitraum bestellt. Diese bilden zusammen ein Parlament. Aus dem Parlament heraus wird die Regierung und die Opposition gebildet. Die Methode oder Technik zur Bestimmung der Abgeordneten ist die Wahl. Damit eine Wahl demokratisch genannt werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen oder Prinzipien erfüllt sein. Diese sind im Grundgesetz Art. 38 Absatz 1 festgelegt. Danach muss die Wahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein. Dieses bedeutet im einzelnen: Allgemein:
Grundsätzlich haben alle Staatsbürger das Recht zu wählen oder gewählt zu werden (aktives und passives Stimmrecht). Dieses Recht zu wählen ist unabhängig vom Geschlecht, von der Rasse, von der Sprache, von der Religion, vom Besitz oder der politischen Überzeugung. Einschränkungen darf es nur aufgrund gesetzlicher Vorschriften im Hinblick auf ein Mindestalter, den Wohnsitz (z.B. im Wahlgebiet) oder die geistige Zurechnungsfähigkeit des Wahlberechtigten geben. Unmittelbar:
Die Wähler bestimmen selbst und direkt ihre Vertreter (Mandatsträger). Die Abgeordneten werden nicht über Mittelsmänner oder Zwischengremien ausgewählt. Frei:
Es muss die Möglichkeit der Auswahl gegeben sein, d.h. der Wähler muss zwischen mehreren Personen- oder Sachangeboten auswählen können. Die Auswahl
D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
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Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
zwischen diesen Alternativen muß frei sein, sie darf keinem Zwang oder Druck unterliegen, sonst hätte der Wähler ja keine Wahl. Gleich:
Das Stimmgewicht der Wahlberechtigten ist gleich und darf nicht nach irgendwelchen Kriterien wie Einkommen, Steuerleistungen, Besitz, Bildung etc. differenziert werden. Es gilt der Grundsatz: „one man one vote“. Jeder hat das gleiche Stimmrecht. In Deutschland gibt es dieses allgemeine und gleiche Wahlrecht erst seit 1919 (Einführung des Frauenwahlrechtes). Geheim:
Dieses Prinzip verlangt, dass die Wahl für niemanden als den Wähler selbst erkennbar ist, d.h. es müssen Stimmzettel zur Stimmabgabe benutzt werden, die in Wahlkabinen ausgefüllt werden und/oder ähnliche Vorsichtsmaßnahmen gewährleistet sein, um das individuelle Wahlgeheimnis zu wahren. Die geheime Wahl steht im Gegensatz zur offenen Wahl, die z.B. durch Handzeichen oder Zurufe erfolgt. Diese Grundsätze gelten für alle Wahlen auf den verschiedenen Ebenen des Regierungssystems der Bundesrepublik: auf der Gemeindeebene, auf der Landesebene, der Bundesebene und der Europaebene.
Ziele der Wahl Mit der Wahl soll die politische Elite bestimmt werden, die im weitesten Sinn die politische Führung im Lande übernehmen soll. Diese politische Elite soll die verschiedenen Interessen der Gesellschaft repräsentieren. Die Parteien sind Organisationen, die diese Interessen bündeln. Sie reduzieren die Vielfalt der Möglichkeiten der Interessenvertretung auf wenige Alternativen. Sie stehen dabei miteinander in Konkurrenz um die beste Lösung der anstehenden Probleme. Der Wähler gibt im Wahlakt sein Urteil darüber ab, wem er das Vertrauen in die Fähigkeit zur Lösung der Probleme ausspricht, oder wem er ganz einfach die Vertretung seiner Interessen überträgt. Die Wahl hat also zunächst eine Legitimationsfunktion für die Gewählten, d. h. die Abgeordneten in einem Parlament erhalten durch die Wahl für einen bestimmten Zeitraum einen Auftrag für politisches Handeln. Die Wahl hat darüber hinaus eine Repräsentations- und Integrationsfunktion für die Wählenden, d. h. die stimmberechtigten Bürger wollen sich durch die Personen oder Parteien,
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denen sie ihr Vertrauen aussprechen, vertreten sehen und sie zeigen durch ihre Beteiligung an der Wahl ihren Willen zur Integration in das Gemeinwesen. Die Wahl hat darüber hinaus die praktische Funktion der gleichzeitigen Auswahl von Regierenden und der sie kontrollierenden Opposition. Regierung und Parlamentsmehrheit üben dabei die politischen Führungsfunktionen aus. Demgegenüber steht die Opposition, der alle nicht an der Regierung beteiligten Parteien bzw. Abgeordneten im Parlament angehören. Theoretisch gemeinsam mit allen Parlamentariern, in der Regel aber allein, kontrolliert die Opposition das Handeln der Regierung. Wenn die Opposition im Parlament und in der Öffentlichkeit die Regierung überzeugend kritisiert und sich als Alternative darstellen kann, hat sie vor allem auch über Gewinne bei anderen Wahlen große Chancen, die Entscheidungen der Regierung zu beeinflussen oder aber die Regierung abzulösen. Die direkte Kontrollfunktion hat der Wähler bei der Wahl selbst: Er bestätigt die Regierenden oder aber er wählt sie ab. Da die Vielzahl der Wahlen zeitlich relativ gestreut ist, ergeben sich für den Wähler öfter Möglichkeiten, Zeichen seiner Kontrolle zu setzen.
Wahlsysteme Wenn die Ziele der Wahl definiert sind, muss das Wahlsystem so ausgestaltet sein, dass diese Ziele möglichst ohne größere Konflikte erreicht werden: Das Wahlsystem muss zweckmäßig sein. Das Wahlsystem regelt, wie Wählerstimmen in Mandate übersetzt werden. Dabei sind vier Entscheidungsebenen zu berücksichtigen: Es müssen Wahlkreise festgelegt werden, es muss die Art der Kandidatur (Listen- oder Einzelkandidatur) bestimmt werden, es muss das Verfahren der Stimmgebung (Einzelstimme, Mehrstimme, kumulieren, panaschieren, usw.) festgelegt werden und ebenso die Stimmenverrechnung (Sperrklausel, Auszählverfahren). Über all diese Regelungen kann das Wahlergebnis entscheidend beeinflusst werden. Wahlsysteme haben zwei Hauptziele: 1. 2.
Die Erstellung von regierungsfähigen Mehrheiten und ein möglichst genaues Abbild der Gesellschaft im Parlament zu erreichen.
Je nachdem, welches dieser Ziele im Vordergrund steht, wird man sich entweder für ein Mehrheitswahlsystem zur Herstellung von regierungsfähigen Mehrheiten
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Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
entscheiden oder für ein Verhältniswahlsystem, das die verschiedensten Interessen in einer Gesellschaft repräsentiert.58 Beim Mehrheitswahlsystem wird in der Regel das Land in eine bestimmte Anzahl von Wahlkreisen eingeteilt. Der Kandidat oder die Partei, die in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erreicht, bekommt das Mandat. Die nicht erfolgreiche Partei bzw. der unterlegene Kandidat geht leer aus. Beim Verhältniswahlsystem erhält jede Partei so viele Mandate, wie sie ihrem prozentualen Anteil an den Wählerstimmen entsprechen. Das heißt, die politische Repräsentation entspricht idealer Weise exakt der Verteilung der Stimmen auf die verschiedenen Parteien. Unzweifelhaft ist, dass Wahlsysteme mit stärkeren Mehrheitswahlelementen eine stärkere manipulative Wirkung auf die Entscheidung der Wähler haben als solche mit vorherrschenden Verhältniswahlelementen. Die Wahlsysteme in der Bundesrepublik Deutschland auf den verschiedenen Wahlebenen sind alle Verhältniswahlsysteme, in der Regel mit Zugangsbeschränkungen (Sperrklausel). Das Wahlsystem bei Bundestagswahlen ist die sogenannte „personalisierte Verhältniswahl“. Das Wahlsystem der Bundesrepublik ist nicht im Grundgesetz geregelt (in vielen westlichen Demokratien ist das Wahlsystem Teil der Verfassung), sondern durch ein eigenes Bundeswahlgesetz (1949), das in der Zwischenzeit mehrmals im Hinblick auf Einzelregelungen der Wahlkreiseinteilung, der Wahlbewerbung, der Stimmgebung und der Stimmverrechnung verändert wurde. Dem ersten Bundeswahlgesetz war eine rege Diskussion im Parlamentarischen Rat vorausgegangen, wobei die Vertreter der CDU/CSU für eine relative Mehrheitswahl eintraten, die anderen Parteien, vor allem die SPD, mit dem Hinweis auf die negativen Erfahrungen mit dem Mehrheitswahlsystem im Kaiserreich für ein Verhältniswahlsystem votierten. Der Kompromiss bestand in einem Wahlsystem, das Elemente der Verhältnis- und Mehrheitswahl enthält, das einer möglichen Parteienzersplitterung aber entgegenwirken sollte.
Die personalisierte Verhältniswahl in der Bundesrepublik Die Bundesrepublik Deutschland ist derzeit bei Bundestagswahlen in 299 Wahlkreise aufgeteilt und diese in insgesamt rund 90.000 Wahlbezirke.59 Die Wahlbe58 Die Klassifikation von Wahlsystemen nach Mehrheitswahl- und Verhältniswahl ist zwar die gebräuchlichste, aber in der Wissenschaft als Klassifikationsschema durchaus umstritten, siehe hierzu Nohlen (1990: 97 ff.). 59 Etwa 80.000 Urnen- und 10.000 Briefwahlbezirke.
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zirke sind die kleinste Auszähleinheit; in ihnen (den Wahllokalen) gibt der Wähler seine Stimme ab. 1949 gab es zunächst 242 Wahlkreise, seit 1965 248, nach der ersten gesamtdeutschen Wahl 328 Wahlkreise, seit der Parlamentsverkleinerung 2002 und Neuaufteilung 299 Wahlkreise. Bei den Wahlkreisen handelt es sich um „Einer-Wahlkreise“, weil nur ein Kandidat gewählt wird. Bei der Wahlkreiseinteilung muss auf Übereinstimmung mit politischen Grenzen geachtet werden, es soll die landsmannschaftliche Geschlossenheit des Wahlkreises erhalten sein und eine möglichst gleiche Bevölkerungszahl. Wenn sich die Bevölkerungszahl von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der anderen Wahlkreise um mehr als ein Drittel nach oben oder nach unten entfernt hat, muss der Wahlkreis neu zugeschnitten werden. Insgesamt werden jedoch mindestens 598 Sitze für den Bundestag verteilt, also weitere 299 Sitze über Landeslisten der Parteien gewählt. Jeder Wähler hat somit zwei Stimmen: Mit der Erststimme wählt er einen Direktkandidaten in seinem Wahlkreis, mit der Zweitstimme wählt er eine starre Parteiliste, die für jedes der 16 Bundesländer aufgestellt wird. Starre Parteiliste heißt: er hat dabei keine Möglichkeit, die Reihenfolge der Kandidaten zu verändern. 1990 gab es infolge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Ausnahmeregelung zwei Wahlgebiete, nämlich Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, BadenWürttemberg, Bayern, Saarland und West-Berlin als westliches Wahlgebiet und Ost-Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen als östliches Wahlgebiet. Die Ausnahmeregelung bei der Bundestagswahl 1990 erstreckte sich auch darauf, dass die Sperrklausel getrennt angewandt wurde. Das heißt also, dass alle diejenigen Parteien an der Sitzverteilung teilnahmen, die im jeweiligen Wahlgebiet mindestens 5% der abgegebenen gültigen Zweitstimmen oder drei Direktmandate erreicht haben. Im östlichen Wahlgebiet konnten Parteien und andere politische Vereinigungen gemeinsame Wahlvorschläge einreichen (Listenvereinigungen). Alle Landeslisten derselben Partei galten als verbundene Listen. Diese Regelungen waren für die Sitzverteilung von besonderer Wichtigkeit, denn sie bewirkten, dass die PDS in den Bundestag einzog, die Grünen/West aber nicht. Bündnis 90/Grüne als Listenvereinigung im östlichen Wahlgebiet hatten dort 6% der Stimmen erreicht und zogen danach mit acht Abgeordneten in den Bundestag ein. Die Grünen im westlichen Wahlgebiet scheiterten mit 4,8% an der 5%-Hürde und waren im Bundestag nicht vertreten, weil sie sich mit den Grünen im Osten vor der Bundestagswahl nicht vereinigt hatten. Als vereinigte Partei hätten die Grünen allein im westlichen Wahlgebiet mit ihrem Zweitstimmenergebnis 26 Sitze erreicht und damit auch die rechnerischen Möglichkeiten von Koalitionen total verändert. Während – ohne Einbeziehung der PDS – nur
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die regierende Koalition von CDU/CSU und FDP möglich war, wäre bei einer Vertretung der Grünen im Bundestag rechnerisch auch eine „Ampelkoalition“ von SPD, FDP und Grünen mit einer eigenen Mehrheit zur Wahl des Kanzlers möglich gewesen. Durch das Scheitern der Grünen wurde auch der politische Aktionsspielraum für die FDP eingeengt. Die PDS erreichte im östlichen Wahlgebiet 11,1% der Zweitstimmen, im westlichen Wahlgebiet 0,3%. Sie zog mit 17 Abgeordneten in den Bundestag, zwei davon aufgrund der Stimmengewinne, die sie im Westen erreicht hatte, weil sie als eine Partei im östlichen und westlichen Wahlgebiet antrat. Die Listen galten als verbunden, und sie musste nur in einem Wahlgebiet die 5%-Hürde überschreiten, um im Bundestag vertreten zu sein. Bei der Sitzberechnung wurden alle Stimmen, die sie in beiden Wahlgebieten erreicht hatte, berücksichtigt. Bei der Bundestagswahl 1994 erreichte die PDS im östlichen Wahlgebiet 19,8% der Zweitstimmen, im westlichen Wahlgebiet 1,0%. Insgesamt erreichte sie 4,4% der Zweitstimmen und wäre damit an der 5%-Hürde gescheitert, hätte sie nicht vier Direktmandate in Berlin gewonnen und damit die Sperrklausel außer Kraft gesetzt. Insgesamt bekam die PDS 30 Mandate. 1998 übersprang die PDS gesamtdeutsch zum ersten Mal die 5%-Hürde. Sie erreichte 5,1% der Zweitstimmen (Ostdeutschland 21,6%, Westdeutschland 1,2%) und 36 Mandate. 2002 verfehlte sie jedoch mit 4,0 % den Einzug und war nur mit zwei Direktmandaten aus Berlin im Bundestag vertreten. Für die Berechnung der Mandate der einzelnen Parteien ist ausschließlich ihr Zweitstimmenanteil auf Bundesebene maßgebend. Das entscheidende Element für die Mandatsverteilung ist also der Proporz. Allein die Zahl der Zweitstimmen entscheidet, wie viele Mandate jede Partei im Bundestag erhält. Die Erststimme entscheidet nur bei der Hälfte der Abgeordneten, wer in den Bundestag einzieht. Viele Direktkandidaten in den Wahlkreisen sind jedoch über die Landesliste abgesichert, das heißt, sie haben einen „sicheren“ Listenplatz durch die Parteigremien bekommen, so dass auch unterlegene Kandidaten dann später doch im Parlament sitzen. An der Verteilung der 598 Sitze nehmen nur Parteien teil, die mindestens 5% der abgegebenen gültigen Zweitstimmen im Bundesgebiet erreicht haben oder drei Direktmandate. Die Sitze werden nach dem Verfahren der mathematischen Proportion, nach der Methode Hare-Niemeyer (bis 1983 d'Hondt) verteilt: Zahl der Sitze = pro Partei
Gesamtsitzzahl x Zweitstimmen der Partei Gesamtzahl der Zweitstimmen
Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
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In einem zweiten Schritt werden – wiederum nach der Methode Hare-Niemeyer – die auf die beteiligten Landeslisten entfallenden Mandate ermittelt. In einem dritten Schritt werden von der so für jede Landesliste ermittelten Abgeordnetenzahl die im Land errungenen Direktmandate abgezogen. Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt. Die Festlegungen über die Stimmenverrechnungen geben vor, dass eine Partei, die mehr Direktmandate erreicht als ihr nach der Zweitstimmenverteilung zustehen, diese Mandate als „Überhangmandate“ behält, ohne dass ein Ausgleich bei den anderen Parteien erfolgt. (In den meisten Landeswahlgesetzen gibt es noch die Regelung der „Ausgleichsmandate“). Bei der Bundestagswahl 1994 gab es für die CDU 12 Überhangmandate, jeweils drei in Thüringen und Sachsen sowie jeweils zwei in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt. Für die SPD gab es vier Überhangmandate, drei in Brandenburg und eines in Bremen. Der Bundestag hatte somit tatsächlich 672 Abgeordnete anstelle der 656 vorgesehenen. Die höchste Zahl von Überhangmandaten (16) gab es jedoch 2005. Die permanente Diskussion über die Größe des Parlaments war nach der Bundestagswahl 1994 erneut entflammt. Am 15. November 1996 wurde beschlossen, den Bundestag ab der übernächsten Wahlperiode, also mit der Wahl im Jahr 2002, auf 598 Sitze (299 Direktmandate) zu verkleinern (BGBl. I 58, S. 1712 ff.). Trotz einer Reihe wissenschaftlicher Kontroversen über die Auswirkungen von Wahlsystemen auf das Ergebnis einer Wahl besteht Einigkeit darüber, dass Verhältniswahlsysteme die Übersetzung des Wahlergebnisses in politische Macht weniger stark verändern als Mehrheitswahlsysteme, dass aber die einzelnen nachfolgend erläuterten Regelungen, auch die das Verhältniswahlsystem betreffenden, durchaus größeren Einfluss auf die Entwicklungen eines politischen Systems haben können.
Auswirkungen der personalisierten Verhältniswahl auf das Wahlergebnis und das politische System 1.
Die 5%-Sperrklausel ist die Wahlrechtsregelung, welche die größten Auswirkungen auf eine stärkere Konzentration der Parteien in der Bundesrepublik hatte. Sie beeinträchtigt ohne Zweifel das Repräsentationsprinzip, aber es wurde höchstrichterlich festgestellt, dass eine Sperrklausel von 5% mit
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Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik dem Grundsatz der Verhältniswahl vereinbar ist60. Das Ziel der Funktionsfähigkeit eines parlamentarischen Systems wurde bei dieser Entscheidung höher bewertet als das Ziel einer ausgeglichenen Repräsentation. Die 5%-Hürde wurde mit dem Ziel eingeführt, eine Zersplitterung des Parteiensystems einzudämmen. Die Geschichte der Bundesrepublik hat aber gezeigt, dass unter dieser Regelung sowohl eine Entwicklung zu einer Konzentration des Parteiensystems bis in die späten siebziger Jahre zu beobachten ist, als auch eine Dekonzentration seit Beginn der achtziger Jahre. Im Prinzip hat sich jedoch der bipolare Charakter des bundesrepublikanischen Parteiensystems nur geringfügig verändert. Den beiden Volksparteien, die noch in den 70er Jahren mehr als 90% an Zweitstimmen auf sich vereinigen konnten, zu Beginn der 80er Jahre noch mehr als 87%, aber seitdem deutlich zurückfallen (1987: 81,3%; 1990: 77,3%; 1994: 77,8%; 1998:76%; 2002: 77%; 2005: 69,4 %) entsprechen jetzt zwei politische Lager: das Lager rechts der Mitte aus CDU/CSU und FDP und das Lager links der Mitte von SPD und Grünen. Darüber hinaus gab es die PDS als Regionalpartei des Ostens, die auf der Bundesebene bis 2002 als reine Oppositionspartei fungierte61, weil sie als Nachfolgepartei der SED als nicht koalitionsfähig galt. Erst 2005 hatte sie nach der Kooperation mit der WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit) und der Umbenennung in „Linkspartei.PDS“62 auch im Westen Zuspruch (4,0 %). Nach ihrem Scheitern 2002 war die Zukunft der PDS offen. Sie erfüllte zwar nach wie vor die Funktionen der Protestpartei gegen ungleiche ökonomische Entwicklungen in Ost und West sowie der Interessenvertretung der „Verlierer der Einheit“ und sie blieb auch die ideologischen Heimat für die Überzeugten des alten DDRRegimes, aber letztere Gruppen wurden immer kleiner. Erst der Protest gegen die Arbeitsmarktregelungen der „Agenda 2010“ (insbesondere „Hartz IV“) und die Zusammenarbeit mit der von Gewerkschaftlern unterstützten WASG verhalf ihr zu einer neuen Blüte, weitgehend zu Lasten der SPD. Protest äußert sich aber auch zum Teil in der Unterstützung von extremen rechten Parteien63, wobei der Parteiname für die Wähler von untergeordneter Bedeutung ist. Charakteristisch für die Parteien am rechten Rand, z. B. für die Republikaner, die NPD oder für die Deutsche Volksunion, ist der nur geringe Anteil tatsächlicher Anhänger und der in Erfolgszeiten hohe Anteil
60
Sammlung der amtl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 1, S. 208ff, hier 249. D.h. ohne Chance der potentiellen Machteilnahme. 62 Parteitagsbeschluss vom 17.7.2005, wobei der Zusatz „PDS“ für den Wahlkampf im Westen auch wegbleiben konnte 63 Vgl. hierzu die Einteilung von Winkler (2001). 61
Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
2.
3.
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203
instabiler Protestwähler, die sich sehr leicht auch wieder anderen Parteien zuwenden oder in die Wahlenthaltung gehen. Protestwahlverhalten ist auf den weniger wichtig eingeschätzten Ebenen des Wahlgeschehens stärker zu beobachten, z. B. auf der Europawahlebene. Wenn Wahlen nicht so wichtig eingeschätzt werden, ist auch die Hürde, von der angestammten Parteilinie abzuweichen, niedriger als bei Wahlen, die als sehr wichtig eingeschätzt werden wie z. B. Bundestagswahlen. An den Erfolgen von rechtsradikalen Parteien seit 1989 waren jüngere Wähler bei einzelnen Wahlen (z. B. Berlin 1989, Baden-Württemberg 1992 und 1996, Sachsen-Anhalt 1998, Sachsen 2004) überproportional beteiligt, bei bundesweiten Wahlen (Europawahl und Bundestagswahl) wählten die Jüngeren eher durchschnittlich häufig die Rechtsaußenparteien; ein Indiz für die labile Position der äußersten Rechten. Aber nicht die Jüngeren generell wählen stärker den rechten Rand, sondern vor allem jüngere männliche Wähler mit geringem Berufs- oder Bildungsstatus, während die extreme Rechte unter Abiturienten fast überhaupt keine Unterstützung findet.64 Eine wichtige Veränderung in den Einstellungen der Wähler im Hinblick auf die Machtverteilung, ist die zunehmende Ablehnung absoluter Mehrheiten der großen Parteien65 und damit die höhere Akzeptanz von Koalitionsregierungen. Dies führt auch vermehrt zu taktischem Wahlverhalten und begünstigt kleinere Parteien als Koalitionspartner. Die Möglichkeit des Wahlsystems zum Stimmen-Splitting von Erst- und Zweitstimmen wird verstärkt von den Wählern der kleinen Parteien wahrgenommen, wobei in der Vergangenheit der jeweilige „Koalitionspartner“ bei der Erststimme profitiert hat. Bei hohem politischen Interesse und gesicherter Kenntnis der Wirkung von Erst- und Zweitstimme beobachten wir in zunehmendem Umfang taktisches Wählen. Allerdings sind die Kenntnisse über das Wahlsystem und seine Wirkungsweise nicht gerade umfassend. Nur ein Drittel der Wahlberechtigten im Westen und etwa ein Viertel im Osten kannten bislang die Bedeutung der Erst- und Zweitstimme des Bundeswahlrechts. Durch Informationen, vor allem in den Medien, in der Zeit vor der Bundestagswahl, erhöhte sich in der Vergangenheit dieser Kenntnisstand auf etwa die Hälfte der Wahlberechtigten in Ost und West. Auch unter den Wählern, die vom Stimmen-Splitting Gebrauch machen, muss für einen
Quellen: Repräsentativstatistiken der Statistischen Landesämter; Befragungen der FGW am Wahltag. 65 1980: 34%, 1983: 35%, 1987: 47%, 1990: 51%, 1994: 70%. Quelle: Forschungsgruppe Wahlen 1980-1994, repräsentative Umfragen vor den Bundestagswahlen. Die Frage wurde danach nicht mehr gestellt, da absolute Mehrheiten nicht mehr wahrscheinlich waren.
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Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik bestimmten Anteil angenommen werden, dass sie dieses gegen ihre eigentliche Intention einsetzen. Eine quantitative Auswirkung dieser „Fehler“ liegt im Bereich von 4% bis 5% (vgl. Schmitt-Beck 1993). Die Wahlchancen der politischen Parteien können durch die Einteilung der Wahlkreise stark beeinflusst werden. Sehr häufig hat die politische Opposition in der Vergangenheit Wahlkreiseinteilungen kritisiert. So bestanden z. B. im Kaiserreich durch völlig unterschiedliche Größen von Wahlkreisen in Stadt und Land sehr große Benachteiligungen der deutschen Sozialdemokratie. Dabei mussten die Sozialdemokraten, die in den Großstädten besonders stark waren, wesentlich mehr Stimmen erzielen, um ein Mandat zu bekommen als die konservativen Parteien auf dem Land. Die Extreme lagen zu der Zeit so weit auseinander, dass der kleinste Wahlkreis nur 18.800 Wahlberechtigte hatte, der größte aber 220.000 (Nohlen 1990: 60). Auch bei der Bundestagswahl 1994 gab es noch ziemlich große Unterschiede in der Größe der Wahlkreise, so hatte z. B. der Wahlkreis Rastatt 252.192 Wahlberechtigte, während Rostock-Land 123.633 hatte, obwohl die Wahlkreise nicht mehr als 25% von der mittleren Größe nach oben und unten abweichen sollen. Selbst 2005 weicht der kleinste Wahlkreis (Deggendorf, 154154 Wahlberechtigte) noch mehr als 25% vom Mittelwert ab, der größte Wahlkreis (Potsdam, Potsdam-Mittelmark II, Teltow-Fläming II, 254100 Wahlberechtigte) bleibt nur kurz unter der Grenze. Eine Wahlkreiseinteilung kann nicht absolut sein, denn Bevölkerungsbewegungen müssen zu einer Anpassung der Wahlkreise an die veränderten Verhältnisse führen, aber sie muss von Wahl zu Wahl korrigiert werden. Bei Wahlkreisänderungen versuchen regierende Parteien oft durch den Zuschnitt der Wahlkreise die sozialstrukturelle Streuung der Wählerschaft zu ihren Gunsten auszunutzen. Dieses Verfahren nennt man „gerrymandering“, genannt nach einem Mr. Gerry, der sich in Boston einen sicheren Wahlkreis zurechtschnitt, der die Form eines Salamanders hatte. Bei den Bundestagswahlen hat der Wähler neben der Wahl des Kandidaten mit der Erststimme, mit der Zweitstimme nur die Wahl einer starren Liste. Das heißt, die Reihenfolge der Kandidaten ist durch die Parteien vorgegeben.66 Der Wähler kann die Reihenfolge nicht ändern. Bei einzelnen Wahlen zu Länderparlamenten gibt es allerdings andere Listenformen, in denen die Reihenfolge geändert werden kann, z.B. in Bayern. Bei der starren Parteiliste entscheiden allein die Parteigremien über die Reihenfolge der Kandidaten, die Abgeordneten sind somit sehr stark von ihrer
Siehe zu dieser Problematik Arnim (2003).
Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
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Partei abhängig. Bei der Auswahl geht es offensichtlich nicht immer demokratisch zu, wie das Verfassungsgericht in Hamburg in einer Entscheidung über die Bürgerschaftswahl 1991 festgestellt hat. Als Folge musste diese Wahl wiederholt werden. Bei Verhältniswahlverfahren bzw. Proportionalverfahren muss ein Verrechnungsverfahren zur Umwandlung der Wählerstimmen in Mandate festgelegt werden. Bis zum Jahre 1983 galt bei Bundestagswahlen das Höchstzahlverfahren nach d'Hondt, ein belgischer Mathematikprofessor, der dieses Verrechnungsverfahren Ende des vorigen Jahrhunderts entwickelte. Dabei werden die Stimmenzahlen der Parteien durch 1, 2, 3, 4 etc. dividiert, und es entstehen dabei sogenannte „Höchstzahlen“ für die einzelnen Parteien. Die Mandate werden dann in der Folge dieser Höchstzahlen verteilt. Die Methode d'Hondt begünstigt unter Umständen die größeren Parteien etwas stärker. Durch die Wahlgesetzänderung in der Bundesrepublik von 1985 wurde das d'Hondt'sche System durch das der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer ersetzt. Wie bereits ausgeführt, werden die gültigen Stimmen für die Parteien jeweils mit der Zahl der zu vergebenden Mandate multipliziert und das Ergebnis durch die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen dividiert. Die Parteien erhalten so viele Mandate wie ganze Zahlen entstehen, die Restmandate werden nach der Höhe der resultierenden Zahlenbruchteile hinter dem Komma vergeben. Das System der mathematischen Proportion ist für kleine Parteien günstiger als das d'Hondt'sche Verfahren. Auszählverfahren oder Überhangmandate haben bisher in ihren Auswirkungen auf das Wahlergebnis kaum eine Rolle gespielt. Bei engen Mehrheitsverhältnissen werden jedoch auch diese Einflüsse diskutiert. So gab es nach der Bundestagswahl 1994 einige Kritik an der Ergebnisverzerrung durch Überhangmandate. Die Stabilität der CDU/CSU-FDP-Regierung, die den Zweitstimmenanteilen entsprechend einen Vorsprung von zwei Mandaten besaß, erhöhte sich durch Überhangmandate für die Unionsparteien erheblich. Während die Union zwölf Überhangmandate errang, entfielen auf die SPD lediglich vier. Dadurch erhöhte sich der Sitzvorsprung der Regierungsparteien von zwei auf zehn. Umgekehrt erhielt die SPD 1998 alle Überhangmandate (insgesamt 13), womit sich der Vorsprung der Regierungsparteien vor allen Oppositionsparteien zusammen von 8 auf 21 Mandate erhöhte.
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Die Wahlsysteme auf der Landesebene67 Der Föderalismus in der Bundesrepublik ist im Grundgesetz festgeschrieben, darüber hinaus ist in Artikel 28 des Grundgesetzes festgelegt, dass das Volk eine Vertretung in den Ländern, Kreisen und Gemeinden haben muss, die wiederum aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sein muss. In den verschiedenen Bundesländern gibt es trotz vieler kleinerer Eigenheiten nur zwei Typen von Verhältniswahlsystemen, den der personalisierten Verhältniswahl (ähnlich wie auf Bundesebene) und den der einfachen Verhältniswahl. Letzteren gibt es nur noch in Bremen und im Saarland, wo nach Kreislisten und Landeslisten gewählt wird. In Bremen wird in zwei Wahlgebieten (Stadt Bremen und Bremerhaven) nach starren Listen gewählt und in Hamburg wurde bis 2004 nach einer Liste gewählt. Dort wurde das Wahlrecht am 28.7.2007 geändert, „um den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung der Bürgerschaft“ zu verschaffen. Das neue Gesetz sieht 1 Stimme auf dem Landeslistenstimmzettel und 5 Stimmen auf dem Wahlkreislistenstimmzettel vor, die kumuliert (angehäuft) oder panaschiert (verteilt) werden können. In Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und allen neuen Bundesländern wird in Einer-Wahlkreisen gewählt, wobei in ungleichen Anteilen weitere Sitze über Landeslisten verteilt werden. Dabei haben die Wähler zum Teil eine Stimme, die sowohl für den Direktkandidaten als auch für die Landesliste gilt, oder zwei Stimmen, wie bei der Bundestagswahl. Bayern weicht etwas stärker von den anderen Ländern ab, es hat keine starre Liste und die Mandate werden in sieben Wahlkreisen vergeben, während in allen anderen Ländern das Land jeweils ein einziges Wahlgebiet bildet. In den Ländern mit personalisierter Verhältniswahl werden, außer in Hessen und in den neuen Bundesländern, wo das Verhältnis von Direktmandaten zu Listenmandaten 50:50 ist, immer mehr Direktmandate als Listenmandate vergeben. Dies führt sehr oft zu Überhangmandaten, die in allen Ländern, außer in Schleswig-Holstein, ausgeglichen werden, und zwar so lange, bis der Verhältnisausgleich wiederhergestellt ist. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel führte dies bei der Wahl 2000 zu einer Größe des Landtags von 231 Abgeordneten, obwohl das Land nur in 151 Wahlkreise eingeteilt war, und nur mindestens 50 weitere Abgeordnete über Landesreservelisten in den Landtag hätten einziehen müssen. Die größte Partei dort, die SPD, 67
Eine sehr gute tabellarische Übersicht über die Wahlsysteme auf der Landes- und auch der Kommunalebene ist unter ‚www.wahlrecht.de’ zu finden.
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hatte zum Beispiel 13 Überhangmandate. Beim Ausgleich dieser Mandate bekamen die CDU elf, die FDP vier und die Grünen zwei Ausgleichsmandate. Bei der Wahl 2005 gab es nur noch 128 Wahlkreise, in denen die Abgeordneten direkt gewählt wurden und mindestens 53 weitere Abgeordnete „über die Landesreservelisten“. Die Zahl der Überhangmandate schrumpfte auf sechs, jeweils drei für die großen Parteien SPD und CDU. Der gesamte Landtag hat nur noch 187 Sitze. Die Wahlsysteme auf der Landesebene haben sich in den letzten Jahren des öfteren verändert. Dort, wo die FDP in der Koalition mit den Unionsparteien war, hat sie in der Regel ein Wahlsystem analog des auf Bundesebene geltenden Zweitstimmensystems durchgesetzt. Außerdem wurden in verschiedenen Ländern die Verrechnungsverfahren von d'Hondt auf Hare-Niemeyer oder umgekehrt geändert. Alle Wahlsysteme auf Landesebene haben eine Zugangsbeschränkung in Form der 5%-Hürde, die zwar theoretisch bei der personalisierten Verhältniswahl durch den Gewinn von Direktmandaten ‘unterlaufen’ werden kann, in der Praxis kommt dies jedoch selten vor.
Die Wahlsysteme auf der Kommunalebene Kommunale Wahlen finden als Gemeinde-/Stadtrats- und Kreistagswahlen statt. Gemeinden als kleinste Einheiten der kommunalen Selbstverwaltung haben Pflichtaufgaben zu erfüllen wie das Melde- und Passwesen oder die Verwaltung des Grundbuches, sie haben auch eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten wie die Gemeindesiedlungspolitik. Mehrere Gemeinden bilden zusammen einen Landkreis. Die Landkreise haben Aufgaben, wie die Gesundheitsfürsorge, in der Regel auch Müllentsorgung und das Polizeiwesen. Das heißt, Kreise übernehmen Aufgaben, die über die finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten von Gemeinden hinausgehen. Wie aus Umfragen immer wieder ersichtlich ist, wird den Wahlen auf der Kommunalebene eine deutlich geringere Bedeutung beigemessen als den Wahlen auf Bundesebene. Dies drückt sich auch in einer niedrigeren Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen aus. Die Wahlsysteme auf der Kommunalwahlebene sind recht unterschiedlich, lassen sich aber doch in drei Haupttypen einteilen: In Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Schleswig-Holstein haben die Wahlberechtigten immer so viele Stimmen, wie Mitglieder des Gemeinderats zu wählen sind. Die Wähler können ihre Stimmen auf Bewerber verschiedener Wahlvorschläge verteilen (panaschieren). Außerdem können die Wähler (Schleswig-Holstein ausgenommen) einem Bewerber bis zu drei Stimmen geben (kumulieren).
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In Nordrhein-Westfalen, Berlin, Hamburg, Bremen und im Saarland haben die Wähler jeweils nur eine Stimme. Die kommunalen Abgeordneten werden aufgrund von starren Listen gewählt. In den östlichen Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen) wurde am Wahlsystem der ersten und letzten freien Kommunalwahl der DDR (6. Mai 1990) festgehalten. Jeder Wähler hat drei Stimmen, die er sowohl auf einen Kandidaten häufen (kumulieren), als auch auf verschiedene Kandidaten (auch unterschiedlicher Parteien) verteilen kann (panaschieren). In Niedersachsen wird nach dem gleichen System gewählt. Sperrklauseln gibt es auf kommunaler Ebene in einigen Ländern, aber nicht in allen. In Rheinland-Pfalz gibt es eine Besonderheit im Hinblick auf die Sperrklausel. Dort müssen Parteien und Wählergruppen eine Wahlzahl erreichen. Diese Wahlzahl ist die ganze Zahl, die sich aus der Gesamtzahl aller von den Parteien und Wählergruppen der Gemeinde errungenen Stimmen, geteilt durch 33, ergibt, also eine etwa 3,3%-Hürde. In den letzten Jahren haben viele Kommunalwahlgesetzte zwei nicht unerhebliche Veränderungen erfahren. Zum einen werden in den meisten Bundesländern Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte inzwischen direkt und nicht, wie zuvor in vielen Ländern üblich, durch die kommunale Vertretung gewählt. Zum anderen wurde das Wahlalter in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Hessen auf 16 Jahre gesenkt.
Das Wahlsystem bei Wahlen zum Europäischen Parlament Die geringste Wahlbeteiligung bei Wahlen beobachten wir bisher auf der Europawahlebene. Die Wahl zum Europaparlament ist in der Wahrnehmung der Wähler keine sehr wichtige Wahlentscheidung, weil das Wahlergebnis für die Machtverteilung auf der Bundesebene ohne Bedeutung ist. Die Wahlforschung spricht deswegen von einer Nebenwahl. Während die Entscheidungen, die im Gemeinderat fallen von etwa 70% der Wahlberechtigten und die im Landtag von 75 % für sie sehr wichtig oder wichtig gehalten werden, ordnen über 80% die Entscheidungen des Bundestags so ein. Nur 60% aller Befragten sind von der Wichtigkeit der Entscheidungen des Europaparlaments überzeugt (Forschungsgruppe Wahlen 2004). Eine niedrige Wahlbeteiligung ist deshalb nicht überraschend.68 68
siehe hierzu: Kornelius/Roth (2005: 98).
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Bis 1994 hatten Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien die gleiche Anzahl von Abgeordneten in das Europaparlament entsandt (je 81). Seit der letzten Europawahl (1994) ist die Anzahl der Mandate im Parlament neu geordnet. Dem nach der Einheit größer gewordenen Deutschland werden 99 von insgesamt 567 Sitzen im Europaparlament zugebilligt; die Deutschen stellen damit die größte Ländervertretung. In den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft wird von einem einheitlichen Wahlverfahren in allen Mitgliedsländern gesprochen, was jedoch bisher nicht realisiert wurde. Die bisherigen Wahlen zum Europäischen Parlament erfolgten bisher mehr oder weniger analog zu den Wahlverfahren in den jeweiligen Mitgliedsländern. Für die Bundesrepublik heißt dies, dass das Verfahren analog zu den Bundestagswahlen angewendet wird. Die Parteien oder sonstigen politischen Vereinigungen können eine einzige Liste für das gesamte Bundesgebiet aufstellen oder Listen für jedes einzelne Bundesland. Für die Verteilung der Sitze gelten die Listen einer Partei als verbunden, sie werden im Verhältnis zu den übrigen Wahlvorschlägen wie ein Wahlvorschlag behandelt. Von dieser Möglichkeit hat bisher nur die Union Gebrauch gemacht. Die Sitze werden auf die einzelnen Wahlvorschläge im Verhältnis der auf sie entfallenen Stimmen nach dem Verfahren der mathematischen Proportion Hare-Niemeyer verteilt. In einem zweiten Rechengang werden nach dem gleichen Verfahren die Sitze auf die einzelnen Landeslisten verteilt. Es gibt eine 5%-Hürde, und jeder Wähler hat eine Stimme. Obwohl als nicht besonders wichtig betrachtet und deshalb mit niedriger Wahlbeteiligung gekennzeichnet, werden die Wahlen zum Europäischen Parlament von den Wählern oft dazu benutzt, den etablierten Parteien ihre Unzufriedenheit zu zeigen. Unzufriedenheit mit den Parteien zeigt sich zum Teil in Wahlenthaltung, aber vor allen Dingen auch in der Wahl vieler kleiner und auch extremer Parteien.
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Anhang: Wahlsysteme der Bundesrepublik
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Sachregister
Abbrüche................................... 86, 130 ADM-Verfahren ................... 76f., 146f. Aggregationsniveau............. 93, 95, 149 ALLBUS .........................................76f. Anonymität........................ 83, 102, 109 Arbeiter ...... 25, 35ff., 55, 92, 126, 149, 173, 178, 188 ARD ........................................82, 157f. Ausfälle ................................... 68, 84ff. Ausgleichsmandate.................. 201, 207 Ausschöpfung........................ 65, 77, 85 Auswahlgesamtheit . 62, 64f., 67, 80, 88 Befragungsperson 66ff., 75ff., 82ff., 90, 130 Berufsgruppen ..................36ff., 83, 188 Bildungsgrad 57, 93, 99, 125, 128, 134, 140ff., 152, 196, 203 Briefwahl..................................... 66, 83 Briefwähler........................................ 66 Bundeskanzler .................58, 123f., 129 CATI ....................................... 128, 131 CDU/CSU .......35, 37ff., 50, 55, 81, 91, 110f., 113, 115, 120f., 135ff., 149, 158, 198, 200ff., 205, 207, 209 Columbia School .... 29ff., 42, 46, 171f., 180 Cross-pressure-Situation ....... 27, 31, 46 Dealignment ............ 174, 183, 190, 192 Die Grünen......39ff., 50, 110, 115, 120, 122, 135ff., 145, 179, 199ff., 207 Direktmandate ............... 199, 200f., 206 DIVO....................................... 152, 165 Dreiklassenwahlrecht .................. 18, 20 DVU ................................................ 203
Eigennutz-Axiom.............................. 52 Einkommensfrage .. 52, 127, 134f., 178, 196 EMNID ................................... 152, 165 Ermüdungseffekte........................... 130 Exit poll .............. 14, 66, 82f., 110, 157 Face-to-Face .63, 65, 74, 76ff., 85f., 88, 99ff., 116f., 123ff., 128, 148, 181 FDP........39ff., 50, 91, 110, 115, 120ff., 135ff., 149, 200, 202, 205, 207 Fehlerbereich .......................69, 71, 150 Fehlerintervall........................... 71f., 78 Feldzeit ................. 65, 74, 77, 86f., 113 Filterführung ........................... 128, 131 Forschungsgruppe Wahlen e.V. (FGW) .. 5, 39, 41, 55ff., 101, 116, 129, 158, 203, 208f. Geheimnummern .............................. 67 Gender gap........................................ 24 Geodeterminismus ............................ 22 Geographie.....................................21ff. Geschlossene Fragen..................... 131f. Gewerkschaften .......................36ff., 49 Gewichtung..............................47, 88ff. Gewichtung, Haushaltsgewichtung... 88 Gewichtung, sozialstrukturelle........ 88f. Grundgesetz .....................195, 198, 206 Hare-Niemeyer...... 200f., 205, 207, 209 Hochrechnung..14, 63, 78ff., 143, 157f. Index der politischen Prädisposition 30, 44 Infas ................................................ 157 Inferenzpopulation ............................ 64
D. Roth, Empirische Wahlforschung, DOI 10.1007/978-3-531-91975-1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
212 Inklusionswahrscheinlichkeit ..........88f. Institut für Demoskopie (Allensbach) ............................ 69, 152f., 156, 168 International Center for Political Research (ICPR) ......................... 171 Intervallskala ................................... 133 Issue voting ....................................... 52 Item nonresponse .............................. 84 Kandidaten 18, 24, 26, 31, 42, 44ff., 50, 52, 56, 92, 109, 111, 122, 124, 164, 176ff., 185, 199f., 204, 208, 210 Kandidatenorientierung ..44ff., 175, 182 Katholiken ...20, 28, 35, 37ff., 107, 168, 178 Kausalitätstrichter......................43f., 49 Kirche............................ 33, 36, 49, 107 Kirchennähe .............................. 83, 107 Klumpung.......................................... 75 Konfession .......................... 20, 28, 144 Konfliktlinienmodell .....31ff., 144, 174, 178, 181ff., 186, 188f., 193 Kontaktphase des Interviews... 100, 129 Kulturkampf ...................................... 35 Kumulation...................................... 140 Kumulieren...................... 197, 207, 208 Labour Party............................ 173, 174 Landesliste ............................200f., 206 Längsschnittanalyse .................. 22, 160 Last-Birthday-Methode ............... 75, 78 Last-Minute-Swing.......................... 174 Lebensstile ........................................ 36 Leistungsbeurteilung ............... 121, 129 Lerneffekte ...................................... 101 linksextrem.............................. 106, 110 Links-Rechts 22, 27, 117f., 120, 176ff., 183, 189 Logit-Modelle ................................. 142 Massenkommunikation ............. 12, 160 Medien allgemein11, 14f., 53, 113, 122, 142, 155, 157, 162, 173ff., 180f., 184, 203
Sachregister Medien, elektronische .......14, 151, 157, 166, 174 Mehrdimensionalität ......................... 97 Mehrfachanschlüsse.................... 67, 86 Methodendiskussion ....................... 160 Michigan School ........ 44, 52, 171, 173, 181f. Milieu.......................................... 36, 57 Mobilfunktelefone ............................ 67 Nichtwähler 20, 26, 28, 147, 160, 164ff. Nominalskala .................................. 133 Non-Attitudes ................................... 97 Non-Response............................. 84, 87 Normalverteilung ...........................71ff. Normalwahl .........46, 50, 156, 160, 164 NSDAP ....................19, 25, 93, 95, 146 Nuffield College ............................. 172 Offene Fragen ................................. 130 Ökologischer Fehlschluß ............ 93, 95 Ordinalskala............................ 107, 133 Overcoverage .............................. 65, 67 Panaschieren ......................... 197, 207f. Panel (Wiederholungsbefragung)27, 30, 48, 91, 155f., 159, 175, 181, 185 Parteiidentifikation (PI) ..42ff., 54, 56f., 120f., 155f., 160, 163ff., 171ff., 181f. Parteinähe ........108, 116, 129, 173, 175 Parteipräferenz .......................... 91, 139 PDS.....55, 110, 115, 120, 135ff., 199ff. Plazierungseffekte........................... 128 Politbarometer........ 87, 111f., 115, 117, 122f., 128, 135, 139ff., 158f. Position issues................................... 45 Problemlösungskompetenzen..... 50, 52, 178 Problemlösungskonzept .................... 44 Prognosen ................................... 11, 14 Protestanten..........................20, 35, 107 Protestwahl ................53, 160, 164, 203 Protestwähler .....................53, 168, 203
Sachregister Quote.........................................68f., 84 Random-Route-Verfahren ............. 75ff. Rangordnungen ............................... 129 Ratioskala........................................ 134 Realignment .................................... 183 Realisierung der Stichprobe ........ 12, 89 Recall ........................ 88, 90f., 106, 129 Rechtsextremismus.......... 166, 168, 203 Reihenfolgeeffekte .......... 117, 125, 128 Reliabilität .....................................134f. Repräsentative Wahlstatistik 19, 63, 66, 81, 151 Repräsentativität................................ 63 Republikaner 43, 58, 62, 110, 120, 167, 202f., 210 Sachthemen ......... 42, 44f., 50, 129, 160 Sample points ................................ 75ff. Schichtung.................................75f., 78 Schlußziffernverfahren........68, 78, 85f. Schwedenschlüssel ............................ 75 Screening-Verfahren ......................... 70 Sicherheitsgrad................................71f. Signifikanztest......................... 137, 192 Skalometer ...................115ff., 121, 134 Sozialdemokraten/SPD... 19f., 25, 35ff., 50, 55, 71, 110, 113, 115, 120, 122, 135ff., 149, 198, 200ff., 204ff. Soziale Erwünschtheit ............. 104, 106 Sozialstruktur ..... 21f., 49, 58, 149, 162, 167, 188f.9 Sperrklausel.......34, 72, 74, 138, 197ff., 207ff. Split-Half-Test................. 119, 131, 134 Stammwähler..................................... 41 Standardabweichung .......................71f. Standardfehler .................................71f. Stichprobenfehler .............................. 73 Stimmbezirke .............................. 75, 78 Telefondichte............................... 67, 78 Telefonische Befragung ....88, 96, 99ff., 116, 118f., 132 Theorie der kognitiven Dissonanz..... 31
213 Theorie der sozialen Kreise............... 29 Trichterung (funneling)................... 131 Überhangmandate ............201, 205, 207 Umfragen ....23, 25, 42, 74, 76f., 83, 90, 145, 147f., 151ff., 155, 158, 175f., 189, 203, 207 Undercoverage ............................ 65, 67 Urnenwahl......................66, 80, 83, 110 Urwähler ..................................... 18, 20 Valence issues................................... 45 Validität ............ 48, 96, 108, 134f., 164 Vertrauensintervall............................ 71 Verweigerungen................ 84, 86f., 125 Wahlabsichtsfrage 108f., 129, 146, 156, 165 Wahlbezirk...............65, 74ff., 92f., 198 Wahlebenen .........................64, 90, 105 Wählerwanderungsbilanzen ..... 27, 147, 160 Wahlkampf44, 48, 109, 149, 151, 153f., 166, 168, 173, 178, 188f. Wahlkampfstudien .............150f., 172ff. Wahlmänner...................................... 18 Wahlökologie.............................. 23, 28 Wahlsoziologie ............... 23, 165f., 168 Wahlverhalten, expressives............... 54 Wahlverhalten, prospektives..... 54, 168 Wahlverhalten, retrospektives........... 54 Wechselwähler.109, 151, 154, 169, 185 Weimarer Republik.... 18f., 28, 35, 153, 166 Zensusdaten ................................ 12, 69 Zentralarchiv für empirische Sozialforschung (ZA) ......... 148, 158 Zentrumspartei ...............20, 28, 35, 168 Zustimmungstendenz ........................ 99 Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) 82, 157f.